Die von den beiden konfessionellen Verbänden getragene Altbestandskommission kirchlicher Bibliotheken hat kurzgefasste Regeln für den Umgang mit Altbeständen herausgegeben (Abdruck: Bibliotheksdienst 2006/2).
http://www.zlb.de/aktivitaeten/bd_neu/heftinhalte2006/AltesBuch0206.pdf
Natürlich haben es beide Verbände nicht fertiggebracht, diese doch zentralen Empfehlungen auch auf ihren Websites zu dokumentieren.
Auszüge
Abgabe
21. Altbestand ist integraler Bestandteil der Geschichte, Tradition und Kultur der
jeweiligen kirchlichen Einrichtung. Diesen räumlichen und geschichtlichen
Zusammenhang zu erhalten ist vorrangig.
22. Wenn aus räumlichen, finanziellen oder konservatorischen Gründen oder
wegen fehlenden Fachpersonals Altbestand auf längere Sicht nicht verantwortlich
aufbewahrt oder erschlossen werden kann, kann eine Abgabe an
eine andere öffentlich zugängliche, bevorzugt kirchliche, unter Beachtung
regionalhistorischer Zusammenhänge des Bestandes auch lokale Einrichtung
erwogen werden.
23. Textidentische Exemplare, die sich durch Einband, handschriftliche Einträge etc.
unterscheiden, können nicht als Dublette bewertet und abgegeben werden.
24. Jeder Abgabevorgang ist zu dokumentieren. Die empfangende Institution ist
zur altbestandsspezifischen Dokumentation gehalten.
25. Gegenüber einer öffentlich zugänglichen Einrichtung kann die Abgabe auch
als Verkauf erfolgen.
Verkauf
26. Der Verkauf von gewachsenen Altbeständen in den Antiquariatshandel ist bei
Archivalien grundsätzlich, bei Büchern und Handschriften in der Regel ausgeschlossen.
27. Ein Verkauf von bibliothekarischem Altbestand kann geprüft werden, wenn
alle nachstehenden Bedingungen eintreffen:
a) wenn eine konservatorisch verantwortliche und gesicherte Unterbringung
nicht gewährleistet ist,
b) wenn eine Abgabe an andere öffentliche Einrichtungen nicht möglich ist,
c) wenn echte Dubletten vorliegen.
Die Realität sieht natürlich anders aus:
http://log.netbib.de/index.php?s=kirchenbib
Dort dokumentiert (siehe auch ergänzend weitere Suchbegriffe):
Verscherbelungen
* aus der Kirchenbibliothek Rendsburg
* aus der Klosterbibliothek Knechtsteden
* aus der Bibliothek der Sepulchrinerinnen zu Baden-Baden
* aus Bibliotheken bayerischer Kapuzinerkonvente durch die UB Eichstätt
* aus der Nordelbischen Kirchenbibliothek (siehe unten)
Hier dokumentiert:
*Ausverkauf des Altbestands der Redemptoristenhochschule Kloster Geistingen
http://archiv.twoday.net/stories/1891377/
Hier nochmals mein Beitrag in der FAZ vom 5. Juli 2002, S. 37
ÜBERSCHRIFT: Selbstherrlich, geschichtsvergessen
Geschützt von starken Kirchenmauern, trotzt ein spätgotisches Buchgewölbe in Isny (Allgäu) den Zeiten. Es birgt seit dem fünfzehnten Jahrhundert die heute denkmalgeschützte Predigerbibliothek der Nikolauskirche. Im bayerischen Metten überwältigt den Besucher der Abtei dagegen ein grandioser Bibliothekssaal, Wissenshort und barockes Welttheater zugleich. Alte Kirchenbibliotheken: Nur wenige sind solche Touristenattraktionen. Wer die Terra incognita der deutschen Altbestandsbibliotheken in der Trägerschaft katholischer oder evangelischer Institutionen durchmißt, stößt selten auf spektakuläre Bibliotheksräume, aber auf eine facettenreiche Vielzahl noch kaum erforschter Bücherstiftungen, die gelegentlich sogar ins Mittelalter zurückreichen.
Entscheidend aber waren die Impulse von Reformation und Gegenreformation, denn Bücher sollten - ob in lutherischen Predigerbibliotheken oder katholischen Landkapitelsbibliotheken - für die rechte Bildung und Ausbildung der Geistlichen sorgen. Die kirchlichen Büchersammlungen galten vielerorts zugleich als öffentliche Stadt- oder auch Schulbibliotheken, die der örtlichen weltlichen und kirchlichen Elite offenstanden. Ihre Geschichte ist freilich immer auch eine Geschichte herber Verluste, verursacht durch unsachgemäße Lagerung und mangelnde Wertschätzung durch die Verantwortlichen. Die "Vernichtung der Kirchenbibliothek zu Bernau" beklagte bereits 1793 die Berlinische Monatsschrift. Man hatte die meisten alten Bücher, darunter seltene Frühdrucke, einem örtlichen Kaufmann als Makulatur verkauft.
Noch heute sind die vielen kleinen Sammlungen gefährdet. Nicht nur Wurm- und Mäusefraß nagen an ihnen, Diebstähle und eigenmächtige Entfremdungen tragen ebenso zum Schwund bei. Soweit die Kirchenleitungen das Problem ernst nehmen, denken sie mehr und mehr daran, die vor Ort kaum benutzbaren Altbestände in zentralen Bibliotheken zusammenzuführen. Dort können sie, als eigenständige Einheiten bewahrt, fachgerecht erschlossen und von der Forschung als Quellen der Kirchen-, Kultur-, Bildungs- und Gelehrtengeschichte ausgewertet werden.
Was aber zählt die Tradition, wenn den Kirchen das Geld ausgeht? In Hamburg haben die neuen Heilsversprechungen der Unternehmensberater, die landauf, landab von den Kirchenverwaltungen angeheuert werden, bereits zu einem katastrophalen Aderlaß kirchlichen Kulturguts geführt. Seit dem letzten Jahr sind unersetzliche Altbestände der Nordelbischen Kirchenbibliothek in Hamburg (NEKB), zuständig für die lutherische Kirche in Schleswig-Holstein und Hamburg, ohne großes Aufsehen in den Antiquariatshandel gegeben worden. Die Kirchenleitung hatte den Ukas erlassen, den Gesamtbestand der Bibliothek mit Blick auf einen in einigen Jahren anstehenden Umzug zu halbieren. Dem Rat einer Unternehmensberatung folgend, die Umzugskosten in Höhe von 20 000 Euro aus "inaktiven" Beständen der Bibliotheken zu erwirtschaften, wurden Werke aus dem kostbaren Altbestand hastig ausgesondert und - rechtlich bedenklich - über die Firma eines Bibliotheksmitarbeiters diversen Hamburger Antiquariaten angeboten.
Die Kirchenleitung versucht nun, diesen im neueren kirchlichen Bibliothekswesen beispiellosen Traditionsbruch schönzureden oder als eine Art Betriebsunfall darzustellen. Man habe mit größter Sorgfalt darauf geachtet, daß Nordelbica und Bücher, die sonst nicht in Hamburg vorhanden seien, verschont blieben. Von einem gewissenhaften Abgleich kann freilich keine Rede sein. Das belegen nicht nur die exquisiten theologischen Sammelbände des 17. Jahrhunderts, die ein Hamburger Antiquar kürzlich preisgünstig feilbot. Ebenfalls ausgeschieden wurde zusammen mit einer Menge anderer lateinischer Drucke ein in Hamburg 1607 verlegtes Werk von Philipp Nicolai - es ist in der Staatsbibliothek nicht vorhanden!
Das der planlosen Aussonderungsaktion zugrunde gelegte Doublettendenken ist in der bibliothekarischen Fachdebatte ohnehin obsolet. Historische Provenienzen (Herkunftsgemeinschaften) müssen als Gesamtheiten, als beziehungsreiche Ensembles betrachtet werden. Selbst wenn sie keine Besitzeinträge oder handschriftlichen Marginalien aufweisen, spiegeln die im Handel aufgetauchten voluminösen Sammelbände aus Predigten und theologischen Drucken in deutscher Sprache individuelle Lektüreinteressen. Skandalöserweise vergriff man sich in Hamburg an mindestens einer historisch gewachsenen Sammlung, der Ottilie von Ahlefeldtschen Kirchenbibliothek aus Itzehoe (benannt nach einer Äbtissin des dortigen adeligen Klosters aus dem achtzehnten Jahrhundert). Angeblich aus konservatorischen Gründen wurde im letzten Jahr die "Auflösung" dieses regionalhistorisch und für die lutherische Buchkultur Schleswig-Holsteins bedeutsamen Bestands eingeleitet.
Die Inkompetenz, mit der die Landeskirche und der Bibliotheksleiter, pikanterweise Mitglied der Altbestandskommission des Verbands der evangelischen wissenschaftlichen Bibliotheken, vorgegangen sind, läßt Fachkollegen den Kopf schütteln. Hätte der Bibliothekar, versichert ein süddeutscher Kirchenmann, sich mit dem Verband kurzgeschlossen, hätte er die Zumutungen der vorgesetzten Behörde abwehren können. Ganz und gar nicht glücklich ist man in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg über die Veräußerungen, da man vorab nicht informiert war und daher auch nicht über Ankäufe verhandeln konnte. Die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, innerhalb der Arbeitsgemeinschaft "Sammlung Deutscher Drucke" zuständig für die Barockliteratur, wurde unverständlicherweise ebensowenig kontaktiert, hat aber vor kurzem eine stattliche Bestellung an einen der bedachten Händler aufgegeben, um Bücher der NEKB für die öffentliche Hand zu retten. Der Hamburger Kirchenhistoriker Johann Anselm Steiger, Spezialist für das siebzehnte Jahrhundert, warnte öffentlich vor einer "Erosion historischer Buchbestände". Er hat eine Spendenaktion für Ankäufe zugunsten der Staatsbibliothek und der Fachbereichsbibliothek gestartet. "Hier wird nicht nur der Hamburger Gedächtnisschatz aufs Spiel gesetzt. Es werden vielmehr auch die Interessen von Wissenschaft und Forschung in der Hansestadt empfindlich berührt", schreibt er in seinem im Internet nachlesbaren Rettungsaufruf.
Das Hamburger Exempel ist ein fatales Signal für die Bewahrung kirchlicher Bücherschätze in Zeiten finanzieller Engpässe. Historische Altbestände und in ihrer Gesamtheit denkmalwürdige Kirchenbibliotheken dürfen nicht kurzsichtig zur Disposition gestellt werden. Kulturgut ist immer das der Allgemeinheit gewidmete Gut, über dessen Erhaltung der jeweilige Eigentümer keinesfalls nach Gutdünken entscheiden kann. Die Heimlichkeit, mit der die Hamburger Veräußerungen ins Werk gesetzt wurden, beschädigt den guten Ruf der Kirchen als verantwortungsbewußte Treuhänder historischer Kulturgüter. Sind solche gefährdet, sollten alle interessierten Institutionen und Initiativen sowie Vertreter der Forschung die Möglichkeit haben, ohne Zeitdruck an einem "runden Tisch" Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Nur ein solches "Bündnis für Kulturgut" schützt wirksam gegen selbstherrliche Traditionsvergessenheit nach Art des Nordelbischen Kirchenamts.
KLAUS GRAF
Der Verfasser ist Historiker an der Universität Freiburg.
http://www.zlb.de/aktivitaeten/bd_neu/heftinhalte2006/AltesBuch0206.pdf
Natürlich haben es beide Verbände nicht fertiggebracht, diese doch zentralen Empfehlungen auch auf ihren Websites zu dokumentieren.
Auszüge
Abgabe
21. Altbestand ist integraler Bestandteil der Geschichte, Tradition und Kultur der
jeweiligen kirchlichen Einrichtung. Diesen räumlichen und geschichtlichen
Zusammenhang zu erhalten ist vorrangig.
22. Wenn aus räumlichen, finanziellen oder konservatorischen Gründen oder
wegen fehlenden Fachpersonals Altbestand auf längere Sicht nicht verantwortlich
aufbewahrt oder erschlossen werden kann, kann eine Abgabe an
eine andere öffentlich zugängliche, bevorzugt kirchliche, unter Beachtung
regionalhistorischer Zusammenhänge des Bestandes auch lokale Einrichtung
erwogen werden.
23. Textidentische Exemplare, die sich durch Einband, handschriftliche Einträge etc.
unterscheiden, können nicht als Dublette bewertet und abgegeben werden.
24. Jeder Abgabevorgang ist zu dokumentieren. Die empfangende Institution ist
zur altbestandsspezifischen Dokumentation gehalten.
25. Gegenüber einer öffentlich zugänglichen Einrichtung kann die Abgabe auch
als Verkauf erfolgen.
Verkauf
26. Der Verkauf von gewachsenen Altbeständen in den Antiquariatshandel ist bei
Archivalien grundsätzlich, bei Büchern und Handschriften in der Regel ausgeschlossen.
27. Ein Verkauf von bibliothekarischem Altbestand kann geprüft werden, wenn
alle nachstehenden Bedingungen eintreffen:
a) wenn eine konservatorisch verantwortliche und gesicherte Unterbringung
nicht gewährleistet ist,
b) wenn eine Abgabe an andere öffentliche Einrichtungen nicht möglich ist,
c) wenn echte Dubletten vorliegen.
Die Realität sieht natürlich anders aus:
http://log.netbib.de/index.php?s=kirchenbib
Dort dokumentiert (siehe auch ergänzend weitere Suchbegriffe):
Verscherbelungen
* aus der Kirchenbibliothek Rendsburg
* aus der Klosterbibliothek Knechtsteden
* aus der Bibliothek der Sepulchrinerinnen zu Baden-Baden
* aus Bibliotheken bayerischer Kapuzinerkonvente durch die UB Eichstätt
* aus der Nordelbischen Kirchenbibliothek (siehe unten)
Hier dokumentiert:
*Ausverkauf des Altbestands der Redemptoristenhochschule Kloster Geistingen
http://archiv.twoday.net/stories/1891377/
Hier nochmals mein Beitrag in der FAZ vom 5. Juli 2002, S. 37
ÜBERSCHRIFT: Selbstherrlich, geschichtsvergessen
Geschützt von starken Kirchenmauern, trotzt ein spätgotisches Buchgewölbe in Isny (Allgäu) den Zeiten. Es birgt seit dem fünfzehnten Jahrhundert die heute denkmalgeschützte Predigerbibliothek der Nikolauskirche. Im bayerischen Metten überwältigt den Besucher der Abtei dagegen ein grandioser Bibliothekssaal, Wissenshort und barockes Welttheater zugleich. Alte Kirchenbibliotheken: Nur wenige sind solche Touristenattraktionen. Wer die Terra incognita der deutschen Altbestandsbibliotheken in der Trägerschaft katholischer oder evangelischer Institutionen durchmißt, stößt selten auf spektakuläre Bibliotheksräume, aber auf eine facettenreiche Vielzahl noch kaum erforschter Bücherstiftungen, die gelegentlich sogar ins Mittelalter zurückreichen.
Entscheidend aber waren die Impulse von Reformation und Gegenreformation, denn Bücher sollten - ob in lutherischen Predigerbibliotheken oder katholischen Landkapitelsbibliotheken - für die rechte Bildung und Ausbildung der Geistlichen sorgen. Die kirchlichen Büchersammlungen galten vielerorts zugleich als öffentliche Stadt- oder auch Schulbibliotheken, die der örtlichen weltlichen und kirchlichen Elite offenstanden. Ihre Geschichte ist freilich immer auch eine Geschichte herber Verluste, verursacht durch unsachgemäße Lagerung und mangelnde Wertschätzung durch die Verantwortlichen. Die "Vernichtung der Kirchenbibliothek zu Bernau" beklagte bereits 1793 die Berlinische Monatsschrift. Man hatte die meisten alten Bücher, darunter seltene Frühdrucke, einem örtlichen Kaufmann als Makulatur verkauft.
Noch heute sind die vielen kleinen Sammlungen gefährdet. Nicht nur Wurm- und Mäusefraß nagen an ihnen, Diebstähle und eigenmächtige Entfremdungen tragen ebenso zum Schwund bei. Soweit die Kirchenleitungen das Problem ernst nehmen, denken sie mehr und mehr daran, die vor Ort kaum benutzbaren Altbestände in zentralen Bibliotheken zusammenzuführen. Dort können sie, als eigenständige Einheiten bewahrt, fachgerecht erschlossen und von der Forschung als Quellen der Kirchen-, Kultur-, Bildungs- und Gelehrtengeschichte ausgewertet werden.
Was aber zählt die Tradition, wenn den Kirchen das Geld ausgeht? In Hamburg haben die neuen Heilsversprechungen der Unternehmensberater, die landauf, landab von den Kirchenverwaltungen angeheuert werden, bereits zu einem katastrophalen Aderlaß kirchlichen Kulturguts geführt. Seit dem letzten Jahr sind unersetzliche Altbestände der Nordelbischen Kirchenbibliothek in Hamburg (NEKB), zuständig für die lutherische Kirche in Schleswig-Holstein und Hamburg, ohne großes Aufsehen in den Antiquariatshandel gegeben worden. Die Kirchenleitung hatte den Ukas erlassen, den Gesamtbestand der Bibliothek mit Blick auf einen in einigen Jahren anstehenden Umzug zu halbieren. Dem Rat einer Unternehmensberatung folgend, die Umzugskosten in Höhe von 20 000 Euro aus "inaktiven" Beständen der Bibliotheken zu erwirtschaften, wurden Werke aus dem kostbaren Altbestand hastig ausgesondert und - rechtlich bedenklich - über die Firma eines Bibliotheksmitarbeiters diversen Hamburger Antiquariaten angeboten.
Die Kirchenleitung versucht nun, diesen im neueren kirchlichen Bibliothekswesen beispiellosen Traditionsbruch schönzureden oder als eine Art Betriebsunfall darzustellen. Man habe mit größter Sorgfalt darauf geachtet, daß Nordelbica und Bücher, die sonst nicht in Hamburg vorhanden seien, verschont blieben. Von einem gewissenhaften Abgleich kann freilich keine Rede sein. Das belegen nicht nur die exquisiten theologischen Sammelbände des 17. Jahrhunderts, die ein Hamburger Antiquar kürzlich preisgünstig feilbot. Ebenfalls ausgeschieden wurde zusammen mit einer Menge anderer lateinischer Drucke ein in Hamburg 1607 verlegtes Werk von Philipp Nicolai - es ist in der Staatsbibliothek nicht vorhanden!
Das der planlosen Aussonderungsaktion zugrunde gelegte Doublettendenken ist in der bibliothekarischen Fachdebatte ohnehin obsolet. Historische Provenienzen (Herkunftsgemeinschaften) müssen als Gesamtheiten, als beziehungsreiche Ensembles betrachtet werden. Selbst wenn sie keine Besitzeinträge oder handschriftlichen Marginalien aufweisen, spiegeln die im Handel aufgetauchten voluminösen Sammelbände aus Predigten und theologischen Drucken in deutscher Sprache individuelle Lektüreinteressen. Skandalöserweise vergriff man sich in Hamburg an mindestens einer historisch gewachsenen Sammlung, der Ottilie von Ahlefeldtschen Kirchenbibliothek aus Itzehoe (benannt nach einer Äbtissin des dortigen adeligen Klosters aus dem achtzehnten Jahrhundert). Angeblich aus konservatorischen Gründen wurde im letzten Jahr die "Auflösung" dieses regionalhistorisch und für die lutherische Buchkultur Schleswig-Holsteins bedeutsamen Bestands eingeleitet.
Die Inkompetenz, mit der die Landeskirche und der Bibliotheksleiter, pikanterweise Mitglied der Altbestandskommission des Verbands der evangelischen wissenschaftlichen Bibliotheken, vorgegangen sind, läßt Fachkollegen den Kopf schütteln. Hätte der Bibliothekar, versichert ein süddeutscher Kirchenmann, sich mit dem Verband kurzgeschlossen, hätte er die Zumutungen der vorgesetzten Behörde abwehren können. Ganz und gar nicht glücklich ist man in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg über die Veräußerungen, da man vorab nicht informiert war und daher auch nicht über Ankäufe verhandeln konnte. Die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, innerhalb der Arbeitsgemeinschaft "Sammlung Deutscher Drucke" zuständig für die Barockliteratur, wurde unverständlicherweise ebensowenig kontaktiert, hat aber vor kurzem eine stattliche Bestellung an einen der bedachten Händler aufgegeben, um Bücher der NEKB für die öffentliche Hand zu retten. Der Hamburger Kirchenhistoriker Johann Anselm Steiger, Spezialist für das siebzehnte Jahrhundert, warnte öffentlich vor einer "Erosion historischer Buchbestände". Er hat eine Spendenaktion für Ankäufe zugunsten der Staatsbibliothek und der Fachbereichsbibliothek gestartet. "Hier wird nicht nur der Hamburger Gedächtnisschatz aufs Spiel gesetzt. Es werden vielmehr auch die Interessen von Wissenschaft und Forschung in der Hansestadt empfindlich berührt", schreibt er in seinem im Internet nachlesbaren Rettungsaufruf.
Das Hamburger Exempel ist ein fatales Signal für die Bewahrung kirchlicher Bücherschätze in Zeiten finanzieller Engpässe. Historische Altbestände und in ihrer Gesamtheit denkmalwürdige Kirchenbibliotheken dürfen nicht kurzsichtig zur Disposition gestellt werden. Kulturgut ist immer das der Allgemeinheit gewidmete Gut, über dessen Erhaltung der jeweilige Eigentümer keinesfalls nach Gutdünken entscheiden kann. Die Heimlichkeit, mit der die Hamburger Veräußerungen ins Werk gesetzt wurden, beschädigt den guten Ruf der Kirchen als verantwortungsbewußte Treuhänder historischer Kulturgüter. Sind solche gefährdet, sollten alle interessierten Institutionen und Initiativen sowie Vertreter der Forschung die Möglichkeit haben, ohne Zeitdruck an einem "runden Tisch" Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Nur ein solches "Bündnis für Kulturgut" schützt wirksam gegen selbstherrliche Traditionsvergessenheit nach Art des Nordelbischen Kirchenamts.
KLAUS GRAF
Der Verfasser ist Historiker an der Universität Freiburg.