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Streiflichter Exemplarische Einblicke in die Theologie Swedenborgs Thomas Noack | Swedenborg Verlag Thomas Noack Streiflichter Exemplarische Einblicke in die Theologie Swedenborgs ISBN 978-3-85927-400-6 Veröffentlicht im Swedenborg Verlag , Zürich 2011 Apollostrasse 2, CH - 8032 Zürich shop.swedenborg.ch Thomas Noack: thomasnoack.ch Das Umschlagbild zeigt Emanuel Swedenborg 1771 (Sammlung Göran von Wachenfeldt). In diesem Jahr erschien auch sein theologisch-apologetisches Hauptwerk VERA CHRISTIANA RELIGIO, aus dem der Text hinter dem Bildnis Swedenborgs entnommen ist. In der Kraft der Wahrheit bezeuge ich, dass ich vom ersten Tage jener Berufung an gar nichts, was die Lehren jener Kirche betrifft, von irgendeinem Engel empfangen habe, sondern vom Herrn allein, während ich das Wort las. Emanuel Swedenborg Inhaltsverzeichnis Zur Orientierung ............................................................................................................... 7 1. Stichwort Swedenborg Ein schneller Durchgang durch das Ganze ....................................................... 9 2. Zur Identität der neukirchlichen Theologie ..................................................... 31 3. Christlicher Monotheismus neutestamentlich begründet .......................... 84 4. Das Kreuz: Die Theologie eines Todes ........................................................... 116 5. Kleine Entsprechungskunde ............................................................................ 134 6. Kain und Abel Eine Auslegung von Genesis 4,1-16 in der Tradition Swedenborgs ...... 176 7. Das sind die Geburten Zum inneren Sinn der Toledot - Struktur der Genesis ................................. 233 8. Textkritik und neukirchliche Exegese ............................................................. 252 9. Sanctorum communio Ein ekklesiologischer Entwurf im Geiste Swedenborgs .............................. 264 10. Die kommende Kirche ....................................................................................... 314 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 336 S TREIFLICHTER 7 Zur Orientierung Emanuel Swedenborg war eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten, – und ist dennoch den meisten Zeitgenossen unbekannt. Das vorliegende Buch bietet ihnen Einblicke in sein umfangreiches Werk. Was dürfen sie hier erwarten? Um ein Bild zu gebrauchen: den Gang durch eine Ausstellung, der in etwa so abläuft: Ich führe sie in einem ersten Durchgang schnell durch die wichtigsten Räume und mache sie dabei mit Swedenborgs Leben und einigen seiner wesentlichsten Gedanken bekannt (1. Kapitel). Dabei erfahren sie unter anderem, dass der schwedische Bergrat und Naturphilosoph in seinem 57. Lebensjahr zum Propheten einer neuen Kirche und ihrer himmlischen Lehren berufen wurde. Deswegen gebe ich ihnen nach dem ersten Durchgang einen Überblick über das Wesen oder die Identität der neukirchlichen Theologie (2. Kapitel). Danach werden drei Ausstellungsräume und dort – um im Bilde zu bleiben – einige Vitrinen eingehender betrachtet. Der erste Raum thematisiert die Gotteslehre. Ich verweile dort mit ihnen beim christlichen Monotheismus (3. Kapitel) und der Kreuzestheologie (4. Kapitel). Diese Lehrgegenstände habe ich ausgewählt, weil dort eine Reformation oder Umbildung stattgefunden hat, die bis zu den Wurzeln der klassischen Dogmatik vorgestoßen ist. Danach gehen wir in einen anderen Raum, der sich der Auslegung der Bibel widmet, einem weiteren wichtigen Anliegen Swedenborgs. Ich gebe ihnen einen Überblick über die Methode der Exegese des geistigen Sinnes (5. Kapitel) und lege anschließend zwei Textzusammenhände der Genesis aus (6. und 7. Kapitel). Abschließend stelle ich mich einer Anfrage aus dem Blickwinkel der historischen Exegese (8. Kapitel), um dadurch anzudeuten, dass sich ein geistiges Erbe in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Fragestellungen weiterentwickeln muss. Wir lassen dann viele Räume aus und werfen abschließend einen Blick in den ekklesiologisch-eschatologischen Raum, denn Swedenborg verstand sich als Prophet einer neuen Kirche. 8 T HOMAS NOACK Ich stelle ihnen einen ekklesiologischen Entwurf in Geiste Swedenborgs vor (9. Kapitel) und schließe bei einer Vitrine, die sich der neuen bzw. kommenden Kirche widmet (10. Kapitel). Sie müssen die Räume nicht in der angegebenen Reihenfolge besichtigen. Ich empfehle ihnen aber auf jedem Fall den Einstieg beim ersten Kapitel, nach Möglichkeit in Verbindung mit dem zweiten. Danach wählen sie die Reihefolge ihren Vorlieben entsprechend bitte selbst aus. So erhalten sie einerseits einen Überblick und werden andererseits an bestimmten Punkten etwas mehr in die Tiefe geführt. Zürich, im Februar 2011 Thomas Noack S TREIFLICHTER 9 Stichwort Swedenborg Ein schneller Durchgang durch das Ganze 1. Stimmen über Swedenborg Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) gehört zu denjenigen Persönlichkeiten, über welche die Menschheit auch Jahrhunderte nach ihrem Tod noch nicht zu einem abschließenden Urteil gekommen ist. Goethe sah in ihm den »gewürdigten Seher unserer Zeiten«1. Dem steht seit eh und je das Wort Kants gegenüber, nach dem »Herr Schwedenberg« »der Erzphantast unter allen Phantasten« sei und sein Werk »acht Quartbände voll Unsinn« enthalte.2 Aufgrund seiner Visionen der geistigen Welt hat man den schwedischen »Fürsten unter den Jenseitskundigen«3 immer auch für geisteskrank erklärt. Der Direktor der Nervenklinik der Charité Berlin beispielsweise, Karl Leonhardt, bescheinigte dem Geisterseher eine »konfabulatorisch-phonemische Paraphrenie«4. Unsere Zeit kennt für Visionen nur psychopathologische Kategorien. Doch Swedenborg hat die Geistesgeschichte dennoch oft ohne, dass sein Name genannt wurde, nachhaltig beeinflusst, und gelegentlich hat der eine oder andere seinem Erstaunen über Swedenborg offen Ausdruck verliehen. So bekannte beispielsweise Anton von Webern gegenüber Arnold Schönberg: »Ich lese jetzt Swedenborg. Mir vergeht der Atem dabei. Das ist unerhört. 1 2 3 4 In den »Frankfurter Anzeigen« am Schluss der Rezension von Lavaters »Aussichten in die Ewigkeit« schrieb Goethe 1773: »Dazu wünschen wir ihm (Lavater) innige Gemeinschaft mit dem gewürdigten Seher unserer Zeiten, rings um den die Freude des Himmels war, zu dem Geister durch alle Sinnen und Glieder sprachen, in dessen Busen die Engel wohnten …«. Kant bezieht sich hier auf das exegetische Hauptwerk Swedenborgs »Arcana Caelestia«. Siehe Träume eines Geistersehers, 1766. »Man muß den schwedischen Naturforscher und Seher Emanuel Swedenborg … geradezu einen Fürsten unter den Jenseitskundigen der nachreformatorischen Zeit nennen.« (Alfons Rosenberg, Die Seelenreise, 1952, Seite 152). Karl Leonhard, Bedeutende Persönlichkeiten in ihren psychischen Krankheiten, 1992, Seite 264 10 T HOMAS NOACK Ich habe Kolossales erwartet, aber es ist noch mehr.«5 Und Carl Gustav Jung schrieb: »Ich bewundere Swedenborg als einen großen Wissenschafter und als großen Mystiker zugleich. Sein Leben und sein Werk sind für mich immer von großem Interesse gewesen, und ich habe etwa sieben dicke Bände seiner Schriften gelesen, als ich Medizinstudent war.«6 Die Urteile ließen sich vermehren. Jüngst hat sich der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2008, Jean Marie Gustave Le Clézio, in die Reihe derer eingefügt, die Swedenborg würdigten, indem er ihn in seiner Nobelvorlesung erwähnte und – wie man hört – ein Schauspiel über Swedenborg und Kant schreiben will. Doch all diese Stimmen können die eigene Urteilsbildung nicht ersetzen. Machen Sie sich also selbst auf den Weg in die Welt Swedenborgs! 2. Leben und Publikationen 2.1. Wir wollen ihn Emanuel nennen, Gott-mit-uns Bei seiner Geburt soll sein frommer Vater zu den Sternen aufgeschaut und ausgerufen haben: »Wir wollen ihn Emanuel nennen!«, was Gott-mit-uns bedeutet, während seine Mutter die Skala der Waage betrachtete, um zu sehen, wieviel das Baby wog. Diese Anekdote charakterisiert Emanuel Swedenborg als einen Menschen, in dem sich wissenschaftliche Nüchternheit und spirituelle Schau glücklich verbinden sollten. Der Sohn von Jesper Swedberg und Sara Behm wurde nach dem Julianischen Kalender am 29. Januar 1688 in Stockholm geboren. Nach dem heute gültigen Gregorianischen Kalender wäre das ein 9. Februar gewesen. Da die Familie 1719 geadelt wurde, ging Swedbergs Sohn als Swedenborg in das Gedächtnis der Menschheit ein. Jesper Swedberg war Pietist und geißelte als solcher den bloßen Hirnglauben der lutherischen Orthodoxie. Als Emanuel geboren wurde, war sein Vater Kaplan in Stockholm am Hof Karls XI. Doch schon 1692 musste die Familie nach Uppsala umziehen, 5 6 Brief von Anton von Webern an Arnold Schönberg vom 30. Oktober 1913 Die Neue Kirche: Monatblätter für fortschrittliches religiöses Denken und Leben, September 1947, Seite 86 S TREIFLICHTER 11 weil Jesper von seinem König an die dortige Universität zum Professor der Theologie berufen wurde. Zwei Jahre später wurde er zudem mit dem Amt des Dekans der Kathedrale von Uppsala betraut. Swedenborg erinnert sich Jahrzehnte später an seine Kindheit in diesem akademisch-pietistischen Umfeld: »Von meinem vierten bis zu meinem zehnten Lebensjahr war ich ständig mit Gedanken an Gott, das Heil und die geistigen Leiden der Menschen beschäftigt … Von meinem sechsten bis zu meinem zwölften Jahr bestand mein Vergnügen darin, mich mit Geistlichen über den Glauben zu besprechen.«7 1699 schrieb sich Swedenborg in die Universität von Uppsala ein. Seine Mutter war bereits 1696 gestorben und sein Vater siedelte 1703 mit seiner zweiten Frau, Sara Bergia, nach Brunsbo über, weil er zum Bischof von Skara ernannt worden war. Und so wurde der junge Student in die Obhut des Universitätsbibliothekars Erik Benzelius gegeben, der mit Swedenborgs Schwester Anna verheiratet war. Benzelius war ein begeisterter Cartesianer. Durch ihn öffnete sich für Swedenborg die Welt der Wissenschaften so nachhaltig, dass er ihn »wie einen Vater« liebte und verehrte.8 Lange rang er mit der Spannung zwischen der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, in die ihn sein zweiter Vater eingeführt, und dem Glaubensgehorsam, den ihm sein leiblicher Vater eingepflanzt hatte. 1709 schloss Swedenborg seine Studien ab und brach im darauf folgenden Jahr zu einer Bildungsreise auf. An Bord eines Segelschiffes fuhr er nach England, wobei sein Leben mehrmals ernsthaft in Gefahr war. Den Höhepunkt erreichte die abenteuerliche Überfahrt, als das Schiff im Hafen von London anlegte und wegen der in Schweden ausgebrochenen Pest unter Quarantäne gestellt wurde. Der junge Swedenborg nahm jedoch die Einladung schwedischer Freunde an, in ihr Boot zu steigen und an Land zu gehen. Dort wurde er sofort verhaftet und wäre um ein Haar ge7 8 Rudolf Leonhard Tafel, Documents Concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg, Band 2, 1890, Seite 279 A.a.O., Band 1, 1875, Seite 208 12 T HOMAS NOACK henkt worden. Nur dank der mitgeführten Empfehlungsschreiben und der Intervention einflussreicher Freunde entging er dem Tod durch den Strang. Dieser Zwischenfall trägt zum Verständnis der Christusvision von 1744 bei, in der Christus ihn fragte, ob er einen Gesundheitspass habe. London war ein Zentrum der Wissenschaft. Swedenborg mietete sich bei verschiedenen Handwerkern ein und lebte so nicht nur billiger als in den üblichen Studentenwohnungen, sondern nutzte auch die Gelegenheit, das Handwerk seiner jeweiligen Gastgeber zu lernen. Täglich las er in den Schriften Isaac Newtons und suchte in den Kaffeehäusern die Gesellschaft junger Wissenschafter und Mathematiker. Von London ging er nach Greenwich, wo er den Direktor des königlichen Observatoriums, John Flamsteed, aufsuchte und sogar Assistent des nicht sehr zugänglichen Mannes werden konnte. In Oxford lernte er Sir Edmund Halley kennen und weilte in der Bibliotheca Bodleiana. Weitere Stationen waren Leyden, wo er den Erfinder des Mikroskops, Anton van Leeuwenhoeck, besuchte, Utrecht und Paris. Bei seiner Rückreise nach Schweden legte er eine mehrmonatige Pause in Rostock ein, um seine poetischen Versuche zum Druck vorzubereiten und vierzehn Erfindungen auszuarbeiten. Im Juli 1715 war er wieder in Brunsbo. Doch sollten im Laufe seines langen Lebens noch zehn weitere, meist mehrjährige Auslandsreisen folgen. 2.2. Bergrat, Naturphilosoph und Staatsmann Nach Jahren im Ausland kehrte 1715 ein von den aufblühenden Wissenschaften begeisterter junger Mann in seine Heimat zurück. Doch von seinen hochfliegenden Träumen erfüllte sich nur einer. Er gründete Schwedens erste wissenschaftliche Zeitschrift und nannte sie »Daedalus Hyperboreus«, nach dem griechischen Erfinder, der als erster Mensch geflogen sein soll. Swedenborgs berufliche Laufbahn begann als Assistent von Christopher Polhem, der Schwedens führender Ingenieur war. Nachdem Polhem vom König den Auftrag erhalten hatte, ein Trockendock zu bauen, kam es in Lund zu einer folgenreichen Begegnung zwischen Karl S TREIFLICHTER 13 XII. und Polhems neuen Assistenten. Der König bewunderte Swedenborg als Herausgeber des »Daedalus Hyperboreus« und dieser wird später, in den Diensten Karls XII. stehend, seine Ingenieurskunst bei großen Schleusenbauten und beim Transport von Kriegsschiffen 25 km weit durch bergiges Gelände unter Beweis stellen. Der König ernannte Swedenborg 1716 zum außerordentlichen Assessor der Bergbaubehörde, welche die Geschicke des bedeutendsten Industriezweigs Schwedens bestimmte. Nach dem Tod Karls XII. wurde Ulrika Eleonore 1719 zur schwedischen Königin gekrönt und adelte noch im selben Jahr die Familien der schwedischen Bischöfe. Swedberg konnte sich fortan Emanuel Swedenborg nennen und wurde als ältester Sohn seiner Familie Mitglied des Ritterhauses, eines der vier Häuser des Reichstags, der zusammen mit der Königin das Land regierte. Der Staatsmann Swedenborg verfasste eine Reihe von Denkschriften. Graf Anders J. von Höpken urteilte später: »Die gründlichsten und am besten geschriebenen Denkschriften, welche auf dem Reichstag von 1761 in Finanzsachen vorgelegt wurden, waren die von ihm.«9 Die »Opera philosophica et mineralia«, 1734 in drei Bänden erschienen, bilden die reife Frucht der gelehrten Arbeit vieler Jahre. Die Bände tragen die folgenden Titel: 1. »Die Grundlagen der Natur« (Principia rerum naturalium), 2. »Über Eisen und Stahl« und 3. »Über Kupfer und Bronze«. Swedenborg denkt hier noch ganz mathematisch und mechanistisch. Im ersten Band befasst er sich mit Kosmologie, entwickelt eine Nebularhypothese und eine bemerkenswerte Atomtheorie, wobei er alles in einen theologischen Zusammenhang bringt. Die »Opera philosophica et mineralia« wurden in der gelehrten Welt gepriesen. In den »Acta Eruditorum« erschien eine anerkennende Besprechung. Swedenborg galt von nun an als einer der führenden europäischen Gelehrten. 9 Rudolf Leonhard Tafel, Documents Concerning the Life and Charakter of Emanuel Swedenborg, Band 2, 1890, Seite 408 14 T HOMAS NOACK 2.3. Auf der Suche nach der Seele und die Berufung Nach der Veröffentlichung der philosophischen und mineralogischen Werke wandte sich Emanuel Swedenborg einem anderen Thema zu: der Suche nach der Seele. Sie beschäftigte viele Philosophen seiner Zeit. Doch der schwedische Gelehrte wählte einen besonderen Weg. Denn er erforschte den menschlichen Organismus, weil dieser das empirisch zugängliche Reich der Seele ist. Die Früchte dieser Bemühungen waren die mehrbändigen Werke »Oeconomia regni animalis« 1740 und 1741 und »Regnum animale« 1744 und 1745, das er jedoch nicht mehr vollenden konnte, weil inzwischen eine unerwartete Wende eingetreten war. Schon seit seiner Kindheit unterstützte Swedenborg die gedankliche Konzentration durch die Atemtechnik der Hypoventilation. (GT 3464). Und so überrascht es nicht, dass er bereits mehrere Jahre vor der Öffnung seiner geistigen Augen von inneren Lichterscheinungen berichtet, die ihm die Gewisstheit gaben, richtige Gedanken zu denken: »… da ist ein erheiterndes Licht, ein beglückender, bestätigender Blitz … Ich weiß nicht, woher das kommt, es ist ein geheimnisvoller Strahl, der die heilige Stätte des Gehirns ergreift …«10 Neben diesen ersten Erlebnissen innerer Klarheit analysierte er seit 1736 auch seine Träume. Doch die Bedeutung dieser Vorboten der Erleuchtung erkannte er erst im nachhinein. Entscheidend waren schließlich zwei Visionen. Durch sie wurde der Naturforscher zum Seher. Im April 1744 – Swedenborg befand sich gerade in Delft – erlebte er nach inneren Kämpfen seine erste Christusvision. In den Aufzeichnungen lesen wir: »… es war ein Angesicht mit einem solchen Ausdruck von Heiligkeit und allem, was nicht beschrieben werden kann … Er sprach zu mir und fragte, ob ich einen Gesundheitspass hätte. Ich antwortete: ›Herr, das weißt Du besser als ich!‹ ›Nun, so tue es!‹, sagte 10 Emanuel Swedenborg, Oeconomia Regni Animalis, Londini et Amstelodami 1740, Nummer 19 S TREIFLICHTER 15 Er.«11 In seiner Jugend wäre er beinahe gehängt worden, weil er als Quarantänebrecher die Pest in England hätte einführen können. Nun soll er in die geistige Welt eingeführt werden und dort nicht die viel schlimmere Pest der Sünde einschleppen. In den folgenden Monaten verfasste er »De Cultu et Amore Dei«, eine poetische Paraphrase der biblischen Schöpfungsgeschichte. Im April 1745 erreichte die Vorbereitung auf das neue Amt in London mit der Berufungsvision ihr Ziel. Der geschulte Geist Swedenborgs sollte fortan den geistigen Sinn der heiligen Schrift auslegen und auf Grund von Gehörtem und Gesehenem die seelischen Zustände und Welten des Himmels und der Hölle rational fasslich beschreiben. Das Geschehen in London muss aus zwei Andeutungen Swedenborgs, einem Bericht von Carl Robsahm und einem Brief von Dr. Gabriel Beyer aus dem Jahr 1776 rekonstruiert werden. Die damit verbundenen Probleme können hier nicht dargestellt werden. Dr. Beyer schrieb: »Die Erzählung von der persönlichen Offenbarung des Herrn vor dem Assessor, der ihn in Purpur und majestätischem Schein in der Nähe des Bettes sitzen sah, während er dem Assessor Seine Aufträge gab, habe ich aus dessen eigenem Mund beim Mittagessen bei Dr. Rosén gehört, wo ich den Alten zum ersten Male sah. Ich entsinne mich, dass ich ihn fragte, wie lange es gedauert habe, worauf er antwortete: ungefähr eine Viertelstunde. Dann fragte ich ihn, ob nicht der starke Schein seinen Augen weh getan habe?, was er verneinte.«12 2.4. Der Buddha des Nordens Nach der Rückkehr aus London 1745 bezog Swedenborg sein neues Anwesen an der Hornsgatan in Stockholm. Hier wohnte nun bis zu seinem Tod der Mann, von dem Honoré de Balzac meinte: »Swedenborg wird vielleicht der Buddha des Nordens 11 12 Emanuel Swedenborg, Traumtagebuch 1743 - 1744, Zürich: Swedenborg Verlag, 1978, Seite 18 Ernst Benz, Emanuel Swedenborg: Naturforscher und Seher, 1969, Seite 207f 16 T HOMAS NOACK werden.«13 Vom Wohnsitz des Sehers hat nur das berühmte Sommerhaus die Zeiten überdauert. Es steht heute im Freilichtmuseum Skansen und macht die Besucher mit einem Gedicht des schwedischen Lyrikers Hjalmar Gullberg auf seine einstige hohe Bestimmung aufmerksam: »Ich bin ein Lusthaus, an dem man vorübergeht. Einst stand ich auf Söder in meines Herrn Garten. Seine Engel erfüllten mich mit Harmonien. Der Geisterwelt beliebte es, in meinen Räumen zu weilen. Einem mächtigen Forscher und großen Propheten diente mein einfaches Haus als Heimat. In mir sah er des Himmels Herrlichkeiten. Und hier verkündete er ein neues Jerusalem. Die Geister sind entschwunden, doch war ich das Gefäß. Nun bin ich meiner Einsamkeit überlassen. Damals war ich erfüllt von Harfe und Zimbeln, als es Gott gefiel, Swedenborg zu besuchen.« Von den Vorkommnissen, die Swedenborgs außersinnliche Sehergabe belegen, erregte die Schilderung des Brandes in Stockholm das größte Aufsehen. Immanuel Kant schrieb an Fräulein von Knobloch: »Die folgende Begebenheit aber scheint mir unter allen die größte Beweiskraft zu haben und benimmt wirklich allem erdenklichen Zweifel die Ausflucht.«14 Am Abend des 19. Juli 1759 war Emanuel Swedenborg bei William Castel in Göteborg zu Gast. Während des Essens wurde er plötzlich unruhig, ging oft hinaus und erzählte den Gästen, dass in Stockholm – 400 Kilometer von Göteborg entfernt – ein Feuer ausgebrochen sei und sehr um sich greife. Das Haus eines seiner Freunde liege schon in Asche und sein eigenes sei in Gefahr. Doch schließlich konnte er erleichtert berichten, dass der Brand drei Türen vor seinem Haus gelöscht worden sei. Wenige Tage später erreichte die Nachricht auch auf dem normalen Weg Göteborg und stimmte 13 14 Honoré de Balzac in Louis Lambert Brief von Immanuel Kant an Charlotte von Knobloch vom 10. August 1763 S TREIFLICHTER 17 mit den paranormalen Schilderungen völlig überein. Wichtiger ist jedoch Swedenborgs religiöses Werk. Es wurde in die wichtigsten Weltsprachen übersetzt und ist eine himmlische Schatzkammer. Hinter der nüchternen Sprache verbergen sich funkelnde Edelsteine aus der geistigen Welt. »Die himmlischen Geheimnisse« enthalten eine symbolische Auslegung der ersten beiden Bücher der Bibel. »Himmel und Hölle« begründete Swedenborgs Ruf als Seher jenseitiger Welten. »Die göttliche Liebe und Weisheit« und »Die göttliche Vorsehung« fassen die Weisheit der Engel über die Schöpfung und die Schicksalsgesetze zusammen. Helen Keller schrieb: Swedenborgs »göttliche Liebe und Weisheit ist ein Lebensquell, dem nahe zu sein ich stets glücklich bin.«15 »Die enthüllte Offenbarung« ist eine Auslegung der Johannesapokalypse. Dieses Buch mit den sieben Siegeln hätte Martin Luther am liebsten aus dem Neuen Testament ausgeschieden. Doch nach Swedenborgs »Apocalypsis revelata« handelt es von geistigen Kämpfen, die nach einer Zeit der Glaubenslosigkeit zu einer neuen Licht- und Lebenslehre führen werden. »Die eheliche Liebe« ist eine himmlische Theologie der Ehe, die das Wesen von Mann und Frau bis in das Wesen Gottes zurückverfolgt. »Die wahre christliche Religion« ist Swedenborgs letztes Werk und die reife Zusammenfassung seiner Theologie für eine neue Kirche. Der Seher starb am 29. März 1772 in London. Die Magd von Mr. Shearsmith, bei dem er logierte, berichtete, wie er ihr einige Tage vorher den Zeitpunkt seines Todes vorausgesagt habe und zwar so freudig, »als ginge er in die Ferien«.16 Seit 1908 ruhen seine sterblichen Überreste in einem Sarkophag in der Kathedrale von Uppsala. 15 16 Helen Keller, Light in my Darkness, 2000, Seite 144 Rudolf Leonhard Tafel, Documents Concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg, Band 2, 1890, Seite 546 18 T HOMAS NOACK 3. Ideen und Entdeckungen 3.1. Der Traum vom Fliegen »Eine Maschine zum Fliegen in der Luft« nannte Emanuel Swedenborg seinen 1716 veröffentlichten Entwurf. Der schwedische Ingenieur ahmte nicht mehr den Vogelflug nach. Stattdessen schlug er einen Hanggleiter vor. Die Royal Aeronautical Society schrieb 1910 in der Juliausgabe ihres Journals: Dies sei »der erste vernünftige Vorschlag für eine fliegende Maschine nach dem Flugzeugtyp«. Und in einer Analyse des Smithsonian National Air and Space Museum aus dem Jahr 1962 heißt es: »Swedenborgs Maschine ist bemerkenswert, weil er sich schon so früh einen Gleiter vorgestellt hat, … der einige Merkmale aufweist, von denen man gemeinhin annimmt, sie seinen erst bei den Erfindern des 19. Jahrhunderts vorhanden.« Der Kalender der Scandinavian Airlines von 1960 beschreibt das Fluggerät so: »Die Maschine besaß einen Stabilisator, einen Steuermechanismus, eine Kanzel für den Piloten, Landungsräder und einen propellerähnlichen Apparat zur Lieferung der Fortbewegungskraft. Die Antriebskraft war sein größtes Problem, denn er konnte nur auf menschliche Muskeln zählen. Seine Idee war, dass das Flugzeug durch Ziehen mit Seilen starten sollte.« Ein Modell in Originalgröße wurde 1897 auf diese Weise gestartet. Aus den Akten der Columbia University geht hervor: »Die Maschine erhob sich 15 m hoch und legte 30 m zurück, ehe sie abstürzte, – aber sie war geflogen.« Swedenborg war sich des Risikos bewusst. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Daedalus Hyperboreus« kündigte er an, »dass Lehrgeld zu zahlen sei, sobald die erste Probe gemacht werde, und man einen Arm oder ein Bein riskieren müsse.« 3.2 Vergessene Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften In seiner »Principia rerum naturalium« veröffentlichte Emanuel Swedenborg 1734 eine Theorie der kleinsten Teilchen. Sie geht von einem ersten natürlichen Punkt aus, der aus reiner Bewegung besteht. Dazu meinte Professor Tansley: »Wenn Bewegung die Grundlage aller Phänomene ist und diese Bewegung das erste S TREIFLICHTER 19 Seiende oder der erste Punkt im Sinne Swedenborgs ist, dann hat das zur Folge, dass Energie nicht etwas zur Materie Hinzugefügtes ist, sondern in ihrem Wesen liegt oder sogar Materie ist.«17 Diese Verbindung von Energie und Materie bekommt vor dem Hintergrund der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins besonderes Gewicht und lässt den Wert der intuitiven Einsichten Swedenborgs erahnen. Der Physiker Heinrich Schminke meinte daher: »Es ist aus heutiger Sicht fast unvorstellbar, dass ein Mann wie Swedenborg ohne Experimente und entsprechende Hilfsmittel zu solchen Erkenntnissen fähig war.«18 Der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius nannte fünf kosmologische Ideen, die zuerst von Swedenborg formuliert und dann von anderen Autoren aufgegriffen wurden: 1. »Die Planeten unseres Sonnensystems entstammen der Sonnenmaterie, – aufgegriffen von Buffon, Kant, Laplace und anderen.« 2. »Die Erde wie auch die anderen Planeten haben sich allmählich von der Sonne entfernt und eine längere Umlaufzeit bekommen, – eine Ansicht, die von G. H. Darwin wieder vorgetragen wurde.« 3. »Die Rotationszeit der Erde, also die Dauer des Tages, ist nach und nach länger geworden, – ebenfalls später von G. H. Darwin geäußert.« 4. »Die Sonnen sind im Gebiet der Milchstraße angeordnet – aufgegriffen von Wright, Kant und Lambert.« 5. »Es gibt noch größere Systeme, in denen die Milchstraßen integriert sind, – aufgegriffen von Lambert.«19 Swedenborgs Kosmologie stimmt mit der von Immanuel Kant und Pierre-Simon de Laplace überein. Nur veröffentlichte der schwedische Gelehrte seine Anschauungen schon 1734, während Kants berühmte »Theorie des Himmels« erst 1755 erschien und Laplace seine Nebularhy17 18 19 Transactions of the International Swedenborg Congress, London: The Swedenborgs Society, 1910, Seite 75 Heinrich Schminke, Emanuel Swedenborgs naturwissenschaftliche Studien als Vorstufe zum physikalischen Feldbegriff, in: »Emanuel Swedenborg 1688 – 1772: Naturforscher und Kundiger der Überwelt« bearbeitet von Horst Bergmann und Eberhard Zwink, 1988, Seite 29 Svante Arrhenius, Emanuel Swedenborg as a Cosmologist, in: »Emanuel Swedenborg: Opera quaedam aut inedita aut obsoleta de rebus naturalibus« Band II: »Cosmologica«, 1908, Seite XXX 20 T HOMAS NOACK pothese sogar erst 1796 veröffentlichte. Für Arrhenius war es daher »ganz offensichtlich, dass Kant seine Ideen von Swedenborg geborgt und sie in philosophischere Gewänder gekleidet hat.«20 Und Hans Hoppe forderte: »… so ist es um so mehr Pflicht historischer Gerechtigkeit den Mann nicht zu übersehen, der die Resultate Kants und Laplaces bereits vor ihnen abgeleitet hat: Emanuel Swedenborg!«21 Auf der Suche nach der Seele erforschte Swedenborg auch das Gehirn. Dabei wertete er die Entdeckungen von Anatomen seiner Zeit – beispielsweise Govert Bidloo – mit dem ihm eigenen Blick für das Wesentliche aus. Auf diese Weise nahm er einige Grundkonzepte der heutigen Gehirnphysiologie über die integrative Funktion des Nervensystems und die Lokalisation seelischer und körperlicher Funktionen im Gehirn vorweg. Eindrucksvoll ist auch seine Bemerkung: »Die Hypophyse ist die Drüse des Lebens oder die Drüse schlechthin, und ihre Tätigkeit kann man nur beobachten durch die Wirkung auf andere Drüsen.«22 Der Hirnanhangdrüse maß man erst seit dem 20. Jahrhundert solche Bedeutung bei. »Swedenborgs Beiträge auf dem Gebiet der Geologie sind von so einer Bedeutung und Reichweite, dass sie allein ausreichen würden, ihm einen ehrenvollen wissenschaftlichen Namen zu sichern.«23 Zu diesem Urteil kam der Paläontologe und Direktor des Naturhistorischen Reichsmuseums Stockholm Alfred Gabriel Nathorst. Der interessanteste paläontologische Beitrag ist die 20 21 22 23 A.a.O., Seite XXXIII Hans Hoppe, Die Kosmogonie Emanuel Swedenborgs und die Kantsche und Laplacesche Theorie, in: »Emanuel Swedenborg 1688 – 1772: Naturforscher und Kundiger der Überwelt« bearbeitet von Horst Bergmann und Eberhard Zwink, 1988, Seite 38 T. H. Schwedenberg, Die Swedenborg-Manuskripte: eine vergessene Einleitung in die Gehirnphysiologie, in: »Emanuel Swedenborg 1688 – 1772: Naturforscher und Kundiger der Überwelt« bearbeitet von Horst Bergmann und Eberhard Zwink, 1988, Seite 41 Alfred G. Nathorst, Emanuel Swedenborg as a Geologist, in: »Emanuel Swedenborg: Opera quaedam aut inedita aut obsoleta de rebus naturalibus« Band I: »Geologica et Epistolae«, 1907, Seite XLIX S TREIFLICHTER 21 Zeichnung eines Saurierskeletts. Das Fossil wurde 1733 im Kupferschiefer bei Glücksbrunn im Gebiet von SachsenMeiningen gefunden. Swedenborg veröffentlichte es in seinem Werk »De cupro« und bezeichnete das Tier als »felis marina«. Heute weiß man, dass es sich um einen Protosaurus handelt. Swedenborgs Darstellung war die dritte, die in der wissenschaftlichen Welt bekannt wurde. 3.3. Das Gesicht des unsichtbaren Gottes Vor 2000 Jahren stellte ein Mann namens Jesus die Frage: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mt 16,15). Oberflächlich betrachtet geht es um die Identität dieses Mannes. In Wahrheit jedoch klärt die Antwort vor allem die eigene Identität. Denn sie macht Menschen zu Christen oder eben nicht. Und auch innerhalb der christlichen Religion hängt die Beschaffenheit der Glaubensgemeinschaften und ihrer Lehren ganz von der Antwort auf diese Frage ab. So erweist sich die Bestimmung der fremden Identität als Aussage über die eigene Identität. Das gilt auch für die Theologie der neuen Kirche. Sie glaubt an die Gottheit Jesu Christi. Er ist »das Bild des unsichtbaren Gottes«. (Kol 1,15). Er ist der sichtbare Gott, in dem der unsichtbare wohnt wie die Seele im Leib. Dieser Glaube spricht sich besonders offen und klar im Johannesevangelium aus. Dort heißt es am Ende des Prologs: »Niemand hat Gott je gesehen, der einziggeborene Gott aber, der im Schoß des Vaters ruht, der hat ihn uns kundgetan.« (Joh 1,18). Und an anderer Stelle: »Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen.« (Joh 14,9). Jesus ist demnach Gott selbst in menschlicher Gestalt. Nun wird dieser Jesus aber oft »Sohn Gottes« genannt, so als seien er und sein Vater zwei Personen. Das hat zu der Ansicht geführt, dass Gott schon von Ewigkeit her einen Sohn gehabt haben muss, den er dann vor 2000 Jahren in die Welt gesandt hat. Doch »Sohn Gottes« meint nicht eine zweite göttliche Person von Ewigkeit her, sondern schlicht das durch Maria geborene Menschliche, durch das sich Gott selbst in die Welt gesandt hat. Denn Gott ist dem Wesen und der Person nach einer. Und dieser 22 T HOMAS NOACK eine Gott ist Jesus Christus. Der Mann aus Nazareth war nicht von Anfang an »das Bild des unsichtbaren Gottes«, sondern er musste sich diese hohe Würde erst erkämpfen. Er durchlief eine Entwicklung. Er »nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und den Menschen.« (Lk 2,52). Er war schwach, war versuchbar und lernte gleichwohl in alledem den Gehorsam. (Hebr 5,8). Deswegen sagte er: »Meine Speise besteht darin, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat und sein Werk vollende.« (Joh 4,34). Diese Speise ließ den Mann aus Nazareth zum Kyrios der Christen werden. Jesus verinnerlichte den Willen Gottes so vollständig, dass er diesen schließlich ganz verkörperte und so die sichtbare Gestalt des unsichtbaren Gottes wurde. Diesen Vorgang nennt das Johannesevangelium die Verherrlichung und meint damit die Vergöttlichung Jesu. Das Kreuz wurde zum Sinnbild des Christentums. Es ist jedoch ein grundlegender Irrtum zu glauben, das Leiden am Kreuz sei die Erlösung schlechthin gewesen. Stattdessen war es die letzte Versuchung Jesu und das Mittel zur Verherrlichung seines Menschlichen. Am Kreuz entstand nicht die Erlösung, wohl aber der Erlöser. Und am Ostermorgen zeigte er sich. Die Auferstehung war nicht die Wiederbelebung einer Leiche. Der Auferstandene war und ist vielmehr das Gesicht des unsichtbaren Gottes. Matthias Grünewald hat es dargestellt, das Gesicht Jesu, das im heiligen Schein der Gottessonne aufgeht. 3.4. Die Bibel antwortet uns in Bildern Die historische Forschung hat die menschliche Seite der Bibel und die geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung sichtbar gemacht. Aber wie steht es mit ihrer göttlichen Seite? Inwiefern ist der überlieferte Glaube berechtigt, die heilige Schrift stamme von Gott, sei von ihm inspiriert und daher heilig? Im Tempel ist das Allerheiligste immer im Innersten zu suchen. Daher ist auch das Göttliche des Wortes nach alter Tradition im inneren und innersten Sinn zu suchen. Mit der Bibel haben wir einen Schatz in irdischen Gefäßen. Ihre Geschichten und nicht S TREIFLICHTER 23 selten sehr menschlichen Vorstellungen müssen daher durchschritten und auf ihren göttlichen Sinn hin befragt werden. Denn das Wort ist in Entsprechungen geschrieben. Die frühen Christen lasen es pneumatisch. Im Lichte des noch frischen Christusereignisses entdeckten sie in ihrer heiligen Schrift – wir nennen es heute das Alte Testament – Christus und seinen Weg. Sie entdeckten im geschichtlichen Wort den göttlichen Logos. Als Beispiel dieses Zugangs seien die bekannten ersten Verse der Genesis ausgelegt: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und Finsternis lag auf den Angesichten des Abgrunds. Und der Geist Gottes schwebte über den Angesichten der Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag, während er die Finsternis Nacht nannte. Und es war Abend, und es war Morgen, der erste Tag.« (Gen 1,1-5). Der Anfang bezieht sich im pneumatischen Schriftverständnis auf die erste Zeit der Geburt aus Wasser und Geist oder der Schöpfung des spirituellen Bewusstseins. Himmel und Erde meinen den Menschen. Denn er ist ein Mikrokosmos bestehend aus dem Himmel seines inneren Menschen und der Erde seines äußeren Bewusstseins. Doch das sinnengebundene Weltbewusstsein ist in religiöser Hinsicht zunächst noch gehaltlos und leer. Die belebenden und ordnenden Mächte des Guten und Wahren sind dort noch nicht wirksam sind, so dass es grauenhaft finster in den Abgründen des verborgenen Sinnens und Trachtens zugeht. Unwissenheit, Stumpfsinn und ein völliges Desinteresse an religiösen Dingen herrschen dort. Zwar schwebt der Hauch Gottes schon über den formbaren Gewässern der Seele, aber noch kann er nicht alles belebend in sie eindringen. Das ist die Situation am Anfang. Doch dann spricht die Gottesmacht im Menschen: »Es werde Licht!« Und so dämmert es dem Weltenbürger allmählich, dass er vielleicht doch für Höheres geschaffen ist. Mitunter nach leidvollen Erfahrungen stellt sich ihm endlich die Frage nach dem Sinn 24 T HOMAS NOACK seines Daseins. Dieses erste Bewusstwerden darf nicht wieder in der Finsternis verloren gehen. Deswegen prägt es sich dem Betroffenen als etwas Besonderes ein, getrennt vom austauschbaren Allerlei, und bildet den ersten Tag seines neuen Lebens. Weitere werden folgen bis er wirklich zu einem Ebenbild Gottes herangebildet ist. 3.5 Der Mensch und die Frage nach dem Sinn seines Lebens Die Erschaffung Adams ist eines der ersten Themen der Bibel: »Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unser Bild nach unserer Ähnlichkeit!« (Gen 1,26). Der Mensch kann demnach ein Ebenbild Gottes werden. Er kann Göttliches aufnehmen und in seinem Leben verwirklichen. Damit stellt sich ihm aber die Frage: Wer oder was ist Gott? Wem oder was kann ich als Mensch ähnlich werden? Gott ist seinem Wesen nach ganz Liebe und Weisheit. Demnach ist Adam nur insoweit Mensch als in ihm etwas Liebe und Weisheit zu finden sind. Mensch sein heißt Mensch werden. Denn in den Augen seines Schöpfers und seiner Mitmenschen ist niemand aufgrund seiner äußeren Gestalt ein Mensch. Jeder ist nur aufgrund seiner inneren Gestalt ein wahrer Mensch. Adam soll ein Bild oder Aufnahmegefäß Gottes sein. Das ist die unsterbliche Bestimmung und Würde des sterblichen Menschen. Der innere und der äußere Mensch sind zu unterscheiden. Durch sein äußeres Wesen und dessen Sinnesorgane bewohnt Adam die natürliche Welt und nimmt ihre Formen und Bilder in sich auf. Durch sein inneres Wesen hingegen befindet er sich schon heute als Geist unter Engeln und Geistern. Intuitionen aus den Tiefen seiner geistigen Welt und Reflexionen erfüllen und begleiten ihn bei all seinen Tätigkeiten in der äußeren Welt. Das innere Wesen des Menschen ist vielschichtig. Emanuel Swedenborg unterschied die Seele (anima) und die Bewusstseinsprozesse im Gehirn (mens). In der Mentalsphäre (mens) unterschied er die Grundfunktionen des Wollens und des Denkens. Während die Anima das Humanum der göttlichen Liebe und Weisheit noch in seiner ursprünglichen Ganzheit aufneh- S TREIFLICHTER 25 men kann, zerfällt es in den Hemisphären des Gehirns in Wollen und Denken. Daher kann Adam im Wissen ein Riese und zugleich in der ethischen Praxis ein Zwerg sein. Doch der Sinn seines Daseins besteht darin, Denken und Wollen in Einklang zu bringen und so entweder ganz ein Engel oder ganz ein Teufel zu werden. Entscheidet sich Adam für den Weg zur himmlischen Ganzheit, dann erlebt er den Morgen einer neuen Geburt. Jesus sagte: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.«24 Diese Wiedergeburt ist der Prozess der allmählichen Reifung und des Erwachens des inneren Menschen. Gottes Geist ist dabei die treibende Kraft. Doch Adam muss mitwirken. Dazu sind ihm spirituelle Techniken an die Hand gegeben, die je nach Religion und Kultur verschieden sind. Swedenborg empfahl das Meditieren der heiligen Schriften, die Übung des Vertrauens, sinnvolles Tun, Engagement für Religion, Menschlichkeit und Werte sowie die innere Selbstbeschauung. Der Sinn des Lebens aller Geborenen besteht darin, noch einmal, diesmal aber geistig geboren zu werden. Philipp Otto Runge malte diesen neuen Morgen, die Geburt im Licht der Aurora. Den Menschen gibt es nur als Mann oder Frau. In seinem Werk »Die eheliche Liebe« hat Swedenborg die Dualität der Geschlechter und die Ehe gedeutet. Auch hier zeigt sich: Die Ganzheit Adams ist zerbrochen. Unsere Augen sehen nicht den Menschen, sondern lediglich einen Mann oder eine Frau. Die verlorene Einheit kann jedoch in der ehelichen Liebe wiedergefunden werden. Und dann erweist sich die Ehe als der Ort tiefer, religiöser Erfahrungen. 3.6 Das Leben nach dem Tod »Ich versank in einen Zustand, der meine körperlichen Sinnesorgane empfindungslos werden ließ, also beinahe in den Zustand eines Sterbenden. Doch mein inneres Leben und Denken blieben unversehrt, so dass ich wahrnehmen und im Gedächtnis behal24 Joh 3,3 und ähnlich 3,5 26 T HOMAS NOACK ten konnte, was genau geschieht, wenn man von den Toten auferweckt wird.« (HH 449). Dieser ungewöhnliche Erfahrungsbericht steht in »Himmel und Hölle«. Es ist die am meisten übersetzte und gelesene Schrift von Emanuel Swedenborg, den Alfons Rosenberg »einen Fürsten unter den Jenseitskundigen«25 nannte. Der Tod ist nicht das Ende, sondern die Geburt in ein anderes Leben: »Wenn der Körper seine Funktionen in der natürlichen Welt nicht länger erfüllen kann … dann sagt man, der Mensch sterbe … Dennoch stirbt nicht der Mensch, sondern er wird nur von seinem Körperlichen getrennt, das ihm in der Welt gedient hat. Der Mensch selbst lebt. Ich sagte, der Mensch selbst, denn er ist nicht Mensch durch seinen Körper, sondern durch seinen Geist, da es ja der Geist ist, der in ihm denkt und das Denken zugleich mit der Neigung den Menschen ausmacht. Hieraus geht hervor, dass der Mensch im Tod nur von der einen Welt in die andere hinübergeht.« (HH 445). Alle Engel waren einst Menschen, die schon im Leben vor dem Tod die ewigen Werte der Liebe und Weisheit gesucht und somit den Himmel in sich entwickelt hatten. Denn jeder kann nach seinem Tod nur in den Himmel kommen, den er in sich trägt. Das gilt auch für die Hölle. Wer sein Dasein dem Egoismus und der Ausbeutung anderer gewidmet hat, der wird auch nach seinem Tod in dieser Geistesart weiterexistieren, mit ähnlich gesinnten Geistern zusammenkommen und auf diese Weise seine innere Hölle auch äußerlich zu spüren bekommen. Wer hingegen Mitmenschlichkeit gelebt hat, der ist schon auf Erden ein Engel und wird nach seinem Tod die Lichtgestalt der Kinder Gottes annehmen. Himmel und Hölle sind Zustände im Menschen, die jedoch nach dem Tod als geistige Landschaften erlebt werden. Jede Nacht geschieht etwas Vergleichbares in unseren Träumen. Nur sind die jenseitigen Zustandswelten bei weitem klarer und realer. Mit Blick auf diese Jenseitsschau hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges zu Recht gesagt: »… von Swedenborg an denkt man in Seelenzuständen und nicht an eine Fest25 Alfons Rosenberg, Die Seelenreise, 1952, Seite 152 S TREIFLICHTER 27 setzung von Belohnungen und Strafen.«26 Doch die wenigsten Menschen sterben als ausgereifte Engel oder Teufel. Daher werden sie nach ihrem Tod so geführt, dass sie ihr Inneres allmählich nach außen kehren und auf diese Weise ihr ewiges Gesicht erst noch formen müssen. Diese Zustände zwischen Himmel und Hölle nennt Swedenborg im Unterschied zur geistigen Welt die Geisterwelt. Und die Ausbildung des himmlischen Gesichtes oder der höllischen Fratze ist das eigentliche Totengericht. Kein fremder Gott wird uns richten, denn jeder hört seinen Richter in der eigenen Brust. Jeder kann ein Engel werden, aber niemand muss ein Engel werden. Jenseits des Grabes fallen alle Masken und jeder Mensch wird wesentlich er selbst. 3.7. Die Vision von einer Krone aller Kirchen Der Seher von Patmos hatte die Vision von der Herabkunft einer Stadt aus dem Himmel: »Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel von Gott herabkommen, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut.« (Offb 21,2). Buchstäblich wird sich diese Schau nicht erfüllen. Im geistigen Sinn aber bedeuten Städte gedankliche Strukturen, in denen unser Geist zu Hause ist und sich bewegt. Lehrsysteme, Weltanschauungen, Philosophien, religiöse Sinnangebote sind solche Städte. Jerusalem war in neutestamentlicher Zeit die Stadt des Jahwetempels, die Stadt Gottes, und ist bis heute ein Brennpunkt der Religionen geblieben. Die heilige Stadt aus dem Himmel ist daher das Bild für eine neue Licht- und Lebenslehre, geoffenbart von oben, von Gott aus dem Himmel. Das Neue Testament spricht auch von der Wiederkunft Christi: »… sie werden den Menschensohn kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit.« (Mt 24,30). Auch diese Verheißung muss geistig gedeutet werden. Die Wolken des Himmels sind ein Bild für die heiligen Schriften, und die neue Offenbarung Christi in diesen Wolken bedeutet, dass man in den alten Überlieferungen einen inneren 26 Jorge Luis Borges, Das Buch von Himmel und Hölle, 1983, Seite 9 28 T HOMAS NOACK Sinn entdecken wird, der sich auf das spirituelle Wachstum beziehen und das Christentum zu einer geistigen Religion umgestalten wird. Emanuel Swedenborg beobachtete in der geistigen Welt das Gericht über das bisherige Kirchenwesen. Seine Schilderungen schloss er mit einer Prophezeiung über die Zukunft des konfessionellen Kirchentums ab: »Äußerlich betrachtet werden die Kirchen weiterhin gespalten sein und ihre Dogmen wie zuvor verkünden … Aber der Mensch der Kirche wird nachher freier sein, über die Angebote des Glaubens, die spirituellen Antworten des Himmels nachzudenken … Ich sprach mit den Engeln über den Zustand der Kirche nach dem Gericht. Sie sagten, dass sie die Zukunft nicht vorhersehen können, das könne nur der Herr, aber soviel wüssten sie, die geistige Sklaverei und Knebelung, in der sich die Menschen der Kirche bisher befanden, sei nun aufgehoben, so dass man das innere Wahre besser wahrnehmen und innerlicher werden könne, sofern man nur wolle, denn die Freiheit sei nun wieder hergestellt.« (JG 73f). Die Kirche der inneren Freiheit und des Lichtes nannte Swedenborg »neue Kirche«. In seinen Werken beschrieb er die Tempel in der geistigen Welt. Kompositionen aus Licht seien sie. Eines Tages erschien ihm auch die »nova ecclesia«. Ihre Wände bestanden aus zusammenhängenden Fenstern von Kristall. Im Inneren lag das Wort geöffnet und von einer Lichtsphäre umgeben: »Als ich dann nähertrat, sah ich eine Inschrift über dem Tor: Nunc licet. Das bedeutete, dass es nun erlaubt sei, mit Verstand in die Geheimnisse des Glaubens einzutreten.« (WCR 508). »Diese neue Kirche ist die Krone aller Kirchen, die es bisher auf Erden gab.« (WCR 786). 3.8. Das Parlament der Religionen Swedenborgs Ideen regten Charles Bonney an, ein Parlament der Religionen ins Leben zu rufen. Es tagte 1893 in Chicago im Rahmen der Weltausstellung und gilt heute als der Beginn des interreligiösen Dialogs. Zum 100. Jahrestag 1993 nahm dieses wieder in Chicago versammelte Parlament eine »Erklärung zum S TREIFLICHTER 29 Weltethos« an. Ohne die Unterschiede in den Lehren der Religionen verwischen zu wollen, geht sie von einem gemeinsamen Bestand an Werten aus, welche die Grundlage für ein Weltethos bilden sollen. Schon Emanuel Swedenborg sah das Wesentliche der Religionen im Tun des Guten: »Alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebens, und ihr Leben besteht im Tun des Guten.« (LL 1). Die Einheit der Religionen sollte nicht in der Vereinheitlichung ihrer Lehren gesucht werden. Das Christentum wird im Weltparlament der Religionen den Glauben an die Gottheit Jesu und sein Werk der Erlösung zur Sprache bringen. Und dieser Glaube wird wohl auch in diesem Parlament nicht ungeteilte Zustimmung finden. Doch der Glaube allein macht nicht selig. Denn das Wesentliche der Religionen besteht im Tun des Guten. Und in diesem Tun können wir uns trotz unterschiedlicher Lehren als die Kinder eines Gottes erleben. Alle Religionen sind Wege zu Gott und somit kann jeder Mensch selig werden, der seine Religion zu einer Sache seines Lebens macht: »Die göttliche Vorsehung des Herrn hat dafür gesorgt, dass jedes Volk eine Religion hat.« (GV 322). »Die Anerkennung eines Gottes und das Nichttun des Bösen, weil es gegen Gott ist, das sind die beiden wesentlichen Momente, die eine Religion zu einer Religion machen.« (GV 326). Auch die Christen untereinander sind gespalten, weil den Glaubensgemeinschaften die Reinhaltung ihrer Lehren wichtiger ist, als die Reinigung ihrer Herzen: »In der Christenheit unterscheiden sich die Kirchen nach ihren Lehren. Daher nennen sie sich römisch-katholische, lutherische, calvinische oder reformierte und evangelische Kirche usw. Man nennt sie so lediglich aufgrund ihrer Dogmen und Bekenntnisschriften. Ganz anders verhielte es sich, wenn man die Gottes- und Nächstenliebe zur Hauptsache des Glaubens machen würde. Dann nämlich wären die Lehren nur noch verschiedene Meinungen in den Geheimnissen des Glaubens. Und die wahren Christen würden sie dem Gewissen jedes einzelnen überlassen und in ihrem Herzen sagen: Ein wahrer Christ ist ohnehin nur, wer christlich, nämlich wie es der Herr gelehrt hat, lebt. So würde aus den verschiedenen 30 T HOMAS NOACK Kirchen eine einzige entstehen. All die Streitigkeiten, die nur aus der Lehre hervorgehen, würden verschwinden. Ja, der gegenseitige Hass würde sofort aufhören und das Reich des Herrn könnte auf Erden Wirklichkeit werden.« (HG 1799). S TREIFLICHTER 31 Zur Identität der neukirchlichen Theologie 1. Das Morgenrot des neuen Tages Im Matthäusevangelium ist von der »synteleia tou aionos« die Rede (Mt 24,3 usw.). Die drei kirchenamtlichen Bibelübersetzungen, das heißt die katholische Einheitsübersetzung (1980), die evangelische Lutherbibel (1984) und die reformierte Zürcher Bibel (2007), übersetzen diese Worte mit »das Ende der Welt« bzw. »… dieser Welt«. Darin spiegelt sich die herkömmliche Vorstellung eines Weltuntergangs. Doch nach Swedenborg ist etwas anderes gemeint: das Ende der Kirchen bzw. ihrer Theologien. Sie werden in den Gemütern der Menschen untergehen, das heißt ihre bisherige Bedeutung total verlieren. Dadurch wird zunächst zwar eine Zeit großer Glaubenslosigkeit zum Vorschein kommen, doch am Ende wird der Hunger nach einer neuen, den Geist ernährenden Religion siegen. Im vierzehnten Kapitel seines Werkes »wahre christliche Religion« legte Swedenborg diesen Ausdruck »synteleia tou aionos« aus. Er übersetzte ihn mit »consummatio saeculi«. In den deutschen Übersetzungen hat sich dafür »die Vollendung des Zeitlaufs« eingebürgert. Wir erfahren in diesem vierzehnten Kapitel das Folgende: »Gegenwärtig ist die letzte Zeit der christlichen Kirche« (WCR 757-759). Diese Endzeit »ist die Nacht, in der die früheren Kirchen zu ihrem Ende kommen« (WCR 760-763). Doch »auf diese Nacht folgt ein Morgen, und das ist die Ankunft des Herrn« (WCR 764-767).27 Die Morgenröte der aufgehenden Gottessonne, aus der uns der 27 Dieser Ansatz lag schon Swedenborgs Auslegung der Johannesapokalypse zugrunde, denn gleich zu Beginn seiner »enthüllten Offenbarung« schreibt er: »Die Offenbarung des Johannes handelt nicht von den aufeinander folgenden Zuständen der Kirche, noch weniger von den aufeinander folgenden Zuständen der Reiche (oder Staaten), wie bisher manche meinten, sondern sie handelt von A bis Z vom letzten Zustand der Kirche in den Himmeln und auf Erden, dann vom Jüngsten Gericht und schließlich von der neuen Kirche, dem neuen Jerusalem.« (EO 2). 32 T HOMAS NOACK Kyrios entgegenkommen wird, ist die Theologie Swedenborgs. Sie zeigte sich am Himmel des neu erwachenden Geisteslebens – wie die Morgenröte in der natürlichen Welt – noch vor dem eigentlichen Aufgang der Gottessonne. Und sie zeigte sich blutrot, denn das Neue muss im Kampf, in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Alten geboren werden. So gesehen ist Swedenborgs Theologie Schwellentheologie, man merkt ihr allenthalben den Übertritt vom Alten zum Neuen an. Diese Verortung bestimmt in formaler Hinsicht die Identität dieser Theologie. Aus ihr folgt, dass sie reformatorische Theologie sein muss, radikalreformatorische, denn das Übel wohnt bereits den antiken Wurzeln inne. 2. Anknüpfung an Traditionen Die Identität der neukirchlichen Theologie bestimme ich, indem ich sie von den beiden wichtigsten Dogmen der alten Kirche abgrenze. Denn die Eigenart einer Sache tritt immer erst durch den Vergleich mit dem Andersartigen einer anderen Sache hervor. Obwohl somit das besondere Profil der neukirchlichen Theologie hier im Zentrum meines Interesses steht, möchte ich aber auch auf ein paar Traditionen hinweisen, die diese Theologie in sich aufgenommen hat. Da ist erstens der breite Strom der Theologia perennis, der immerwährenden, der beständigen Theologie. Ihrem Wesen nach ist sie metaphysische Theologie. Gegenwärtig steht historische Theologie hoch im Kurs. Man weist darauf hin, dass »theos«, der Gegenstand der Theologie, in Jesus Christus in die Geschichte eingegangen ist. Und das ist eine wahre Aussage. Aber wenn der historische Aspekt zu einem Moloch wird, der die Göttlichkeit der Offenbarung, die Auferstehung Jesu, die Unsterblichkeit der Seele, Himmel, Hölle und am Ende auch Gott, Religion und sich selbst verschlingt, dann kommt aus der Wüste die Verachtete zurück, die nie tot war. Dann erwachen ihre großen Themen zu neuem Leben. Für Swedenborg war klar: »Gott ist das Sein (Deus est Esse)« (WCR 20). »Die göttliche Liebe und die göttliche Weisheit ist Substanz und ist Form.« (GLW 40). Er ist damit ein Ver- S TREIFLICHTER 33 treter, ja Erneuerer der Theologia perennis. Ich nenne zweitens das Apostolische Glaubensbekenntnis. In der Westkirche wird es durchweg anerkannt. In der römischkatholischen Kirche ist es ein Bestandteil der Taufliturgie und findet sich dementsprechend im Rituale Romanum. Die Reformatoren schätzten es. Luther nahm es in seinen kleinen und großen Katechismus auf. Im Konkordienbuch vom 1580, der maßgeblichen Sammlung lutherischer Bekenntnisschriften, begegnet es als erstes der »drei Haupt-Symbola« oder »Tria Symbola catholica sive oecumenica«. Und auch in der anglikanischen Kirche genießt es Ansehen.28 In der Ostkirche hingegen wurde es nie verwendet. Swedenborg nimmt mit seiner Trinitätslehre den Faden der apostolischen Kirche 29 auf, die noch keinen Sohn von Ewigkeit kannte, und verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das apostolische Glaubensbekenntnis. In seiner vordogmatischen Gestalt30 hat es den einfachen Gemeindeglauben bewahrt und konnte daher ganz im Unterschied zum nizänischen Glaubensbekenntnis von der neuen Kirche adoptiert werden. Swedenborg schreibt: »Die apostolische Kirche wußte nicht das Geringste von einer Personendreiheit, bzw. drei Personen von Ewigkeit her. Das geht deutlich aus ihrem Glaubensbekenntnis, dem sogenannten Apostolikum, hervor, worin es heißt: ›Ich glaube an Gott, den Vater, den 28 29 30 Vgl. in den 42 Artikeln der anglikanischen Kirche von 1552 den Artikel 7 und in den 39 Artikeln von 1562 den Artikel 8 (BSRK 508, 10-15); außerdem zitiert der anglikanische Katechismus von 1549 in der Form von 1662 das Apostolikum, vgl. BSRK 522, 34-36. Vgl. auch die Resolution 11 der Lambeth Conference von 1888. Beachte Swedenborgs Definition dieses Begriffs: »Wir haben unter der apostolischen Kirche nicht nur die Kirche zur Zeit der Apostel, sondern auch in den zwei oder drei darauffolgenden Jahrhunderten zu verstehen.« (WCR 174). Vgl. den Kirchenhistoriker Alfed Adam: »Im Apostolikum steht die vordogmatische Stufe der Christologie vor uns, nämlich die einfache Zusammenstellung der Hauptstücke des Glaubens, ohne daß die Brücke zur griechischen Begrifflichkeit gesucht wäre.« (Lehrbuch der Dogmengeschichte, 1985, Band 1, Seite 314) 34 T HOMAS NOACK Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria … und an den Heiligen Geist.‹ Hier geschieht keine Erwähnung irgendeines Sohnes von Ewigkeit her, sondern des vom Heiligen Geist empfangenen und von der Jungfrau Maria geborenen Sohnes.« (WCR 175) Auf diesen entscheidenden Unterschied zwischen den östlichen Glaubensbekenntnissen, denjenigen von Nizäa und Konstantinopel, und dem Romanum, der Vorstufe des Apostolikums, hat auch der Kirchengeschichtler Bernhard Lohse hingewiesen: »Zudem ist es eine Eigenart der östlichen Glaubensbekenntnisse gewesen, daß sie die Gottessohnschaft nicht wie [das] R[omanum] in schlichter Weise von der Jungfrauengeburt Christi her deuteten, sondern von seiner vorweltlichen Zeugung durch Gott-Vater verstanden.«31 Drittens sehe ich Swedenborg in der abendländischen Tradition der rationalen Durchleuchtung des Glaubens; ja, ich meine sogar, dass er die Vollendung dieser Traditionslinie ist. Ihr Motto ist die Formel: credo ut intelligam (ich glaube, um zu verstehen).32 Sie 31 32 Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, 1986, Seite 41. Vgl. auch Henning Schröer: »Man darf nicht übersehen, daß über eine vorzeitliche Zeugung des Sohnes durch den Vater nichts gesagt wird … die Hervorhebung der Geburt Jesu mag … einfach bedeutet haben, daß der ewige Logos erst ab diesem Zeitpunkt ›Sohn‹ heißen konnte.« (Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis, in: TRE III (1978) Seite 547). Adolf Harnack: »Aber noch ist eine Erläuterung zu dem Bekenntnis ›eingeborener Sohn‹ nöthig. In der Zeit nach dem Nicänum wird bei diesen Worten in der Kirche durchweg an die vorzeitliche, ewige Sohnschaft Christi gedacht und jede andere Auslegung gilt als Häresie. So hat auch Luther die Worte erklärt: ›wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren.‹ Allein diese Fassung verlangt, auf das Symbol übertragen, eine Umdeutung desselben. Es läßt sich nicht nachweisen, daß um die Mitte des 2. Jahrhunderts der Begriff ›eingeborener Sohn‹ in diesem Sinne verstanden worden ist; vielmehr läßt es sich geschichtlich zeigen, daß er nicht so verstanden worden ist. Wo Jesus Christus ›Sohn‹ heißt, wo ein ›geboren sein‹ von ihm ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichtlichen Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der geschichtliche Jesus Christus ist der Sohn.« (Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 1892, Seite 21). Die herausragenden Vertreter sind Augustin und Anselm von Canterbury. S TREIFLICHTER 35 betrachtet den Glauben als die Voraussetzung des Verstehens und sucht auf dieser Grundlage die lichte Erkenntnis des Geglaubten. Dass Swedenborg in dieser Tradition steht, belegen die bekannten Worte, die er als Inschrift in der geistigen Welt über dem Tor des Tempels der neuen Kirche sah: Nunc licet. Das bedeutet: »Nun ist es erlaubt, mit dem Verstand (intellectualiter) in die Geheimnisse des Glaubens einzudringen.« (WCR 508). Hierbei ist der Vorrang des Glaubens gegenüber der Vernunft selbstverständlich vorausgesetzt. An anderen Stellen thematisiert er die Rangfolge ausdrücklich: »Die Lehrgegenstände des Glaubens, wie auch das Wort [= die schriftlich fixierte Offenbarung], waren ohne die innere Wahrnehmung vielfach von der Art, dass man sie nicht glauben konnte. Die geistigen und himmlischen Dinge übersteigen nämlich das menschliche Fassungsvermögen unendlich, daher ja auch das Vernünfteln. Doch wer nicht glauben will, bevor er es erfasst, kann nie glauben.« (HG 1071). »Von der Vernunft auf die Glaubenslehre blicken bedeutet dem Wort oder seiner Lehre erst dann glauben, wenn man aufgrund vernünftiger Erwägungen überzeugt ist, dass es sich so verhält. Hingegen von der Glaubenslehre auf die Vernunft blicken bedeutet dem Wort und seiner Lehre erst glauben und sie dann durch vernünftige Überlegungen bekräftigen. Die erste Ordnung ist verdreht und bewirkt, dass man nichts glaubt. Die zweite ist richtig und bewirkt, dass man besser glaubt … Es gibt also zwei Prinzipien: das eine führt zu Torheit und Unsinn; das andere zu Einsicht und Weisheit.« (HG 2568). Viertens sei auf das sola- scriptura- Prinzip hingewiesen, das Swedenborg mit der Reformation verbindet. Es besagt, dass allein die Heilige Schrift Grundlage und Richtschnur der Glaubenslehre sein soll.33 Die Wendung »sola scriptura« geht auf Luther selbst 33 Augustin, der Lehrer des Abendlandes, forderte: »Crede, ut intelligas« (Sermo 43,7,9; 118,1; nach Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Band 1, 1995, Seite 237). Und Anselm formulierte das für die Scholastik wegweisende Programm »Fides quaerens intellectum« (Hauschild 1, Seite 556). Der Neukirchenpfarrer Adolf Ludwig Goerwitz (1885-1956) sah in Swedenborg sogar »die Vollendung der Reformation«, weil er auf der Grundlage des sola -scriptura -Prinzips auch die von Luther noch nicht hinterfragten altkirchlichen Konzile überwand: »Darum vollendete Swedenborg die Reforma- 36 T HOMAS NOACK zurück. In seiner Antwort von 1521 auf die von Papst Leo X . ausgestellte Bannandrohungsbulle schrieb er: »Ich will nicht als der gerühmt sein, der gelehrter als alle ist, sondern ich will, dass die Schrift allein Königin sei (solam scripturam regnare)«.34 Seit August Twesten (1789 - 1876) nennt man das Sola-scriptura das Formalprinzip und das Sola-gratia (die Rechtfertigungslehre) das Materialprinzip evangelischer Theologie. Das Schriftprinzip wendet sich gegen den Katholizismus, der neben der Schrift auch die Tradition (und das Lehramt) als Glaubensnormen anerkennt. Sowohl die Gesamtanlage seines Werkes als auch einzelne Stellen belegen, dass Swedenborg das reformatorische Schriftprinzip übernommen hat. Er studierte die Bibel in den Ursprachen, stellte sich Indices zusammen, begann mit einem umfangreichen exegetischen Werk und endete schließlich mit einem systematischtheologischen Werk. Dieser Entstehungsprozess seiner Theologie dokumentiert, was Swedenborg rückblickend so zusammenfasste: »Ich bezeuge, dass ich vom ersten Tage jener Berufung an gar nichts, was die Lehren jener Kirche betrifft, von irgendeinem Engel empfangen habe, sondern vom Herrn allein, während ich das Wort las (dum legi Verbum).« (WCR 779). Außerdem stellt er fest, dass man »die Lehren der Kirche« »nur aus dem Wort entnehmen kann«35. Das Wort ist somit »die einzige Quelle« der Theologiebildung.36 Die von der katholischen Kirche durch das Lehramt beanspruchte Auslegungshoheit über das Wort lehnt er 34 35 36 tion, indem er über die Beschlüsse der Bischöfe im 4. Jahrhundert hinweg zum Evangelium durchdrang und aus den Lehren Jesu Christi Selbst die Lehre der christlichen Kirche darlegte.« (Was lehrt die Neue Kirche?, Zürich, ca. 1939, Seite 38). »Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare«. Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum, 1521; WA 7, Sp. 98. Vgl. auch die Konkordienformel. Sie bekennt in ihrem »Summarischen Begriff«, allein die Heilige Schrift sei Richterin (iudex), Richtschnur (norma), Maßstab (regula) und Prüfstein (Lydius lapis), die anderen Schriften bzw. Traditionen hingegen seien ihr »niemals gleichzuordnen, sondern … unterzuordnen« (BSLK 769, 767f.). OE 95: »doctrinalia ecclesiae … non aliunde possunt haberi quam ex Verbo«. Vgl. WCR 621: »In der Christenheit schöpfen alle ihre Lehren aus dem Worte als der einzigen Quelle (ex unico fonte).« S TREIFLICHTER 37 ab (EO 825). Konzilen vertraut er nicht, nur dem Wort des Herrn, »das über den Konzilen steht« (WCR 489). Im Hinblick auf Luthers Bevorzugung des Literalsinns ist es mehr als bemerkenswert, dass auch Swedenborg, dessen Aufgabe immerhin die Enthüllung des geistigen Sinnes war, die Theologie auf dem Fundament des Buchstabensinnes aufbauen wollte: »Die Lehre muss aus dem buchstäblichen Sinne des Wortes geschöpft und bestätigt werden« (LS 53). So ist also auch das Neue selten oder nie absolut neu. Und dennoch muss es sich bei seiner Geburt aus dem Alten befreien, unter großen Mühen, und einen fundamentalen Gegensatz statuieren, um als Neues überhaupt erst einmal in Erscheinung treten zu können. Davon muss nun die Rede sein. 3. Die Prinzipien neukirchlicher Theologie oder fundamentale Dogmenkritik Wenn man das prinzipiell Andere der neukirchlichen Theologie herausarbeiten will, dann bieten sich als Ausgangspunkt einige kurze Texte Swedenborgs an, in denen er selbst die Prinzipien oder das Wesentliche seiner Theologie in größtmöglicher Verdichtung zusammenfasst. Die im Sinne dieses Anliegens brauchbarste Aussage finden wir am Ende des Werkes »über den Verkehr zwischen Seele und Körper«. Auf die Bitte einer nicht näher bezeichneten Person, darzulegen, was das Wesen seiner Theologie sei, antwortete Swedenborg: »Die Prinzipien (Principia ) meiner Theologie sind die beiden Sätze: 1. Gott ist Einer und 2. es besteht eine Verbindung zwischen der tätigen Liebe und dem Glauben.« (SL 20 aus dem Jahr 1769) 37 Kürzer geht es kaum noch, aber länger. In dem Werk »über die eheliche Liebe« finden wir eine Langfassung der obigen Kurzfas37 Die »zwei Zeugen« in der Johannesoffenbarung 11, 3 sind »die beiden wesentlichen Lehrstücke (duo Essentialia) der neuen Kirche«: 1. »Der Herr ist der Gott des Himmels und der Erde, und sein Menschliches ist göttlich« und 2. »Es gibt es Verbindung mit dem Herrn durch ein Leben nach den Zehn Geboten« (EO 490). Die »zwei Universalien der Kirche« (duo universalia ecclesiae) sind nach GV 328 »Gott anerkennen und gut leben«. T HOMAS NOACK 38 sung: »Die Lehrpunkte (Doctrinalia ) der Kirche, die unter dem neuen Jerusalem verstanden wird, sind folgende: 1. Gott ist Einer, in ihm gibt es eine göttliche Dreieinheit (Trinitas), und dieser eine Gott ist der Herr Jesus Christus. 2. Der seligmachende Glaube (fides salvifica ) besteht darin, an ihn zu glauben. 3. Vor dem Bösen muss man fliehen, weil es des Teufels und vom Teufel ist. 4. Das Gute muss man tun, weil es Gottes und von Gott ist. 5. Das alles muss vom Menschen wie von ihm selbst (ut ab ipso) getan werden, wobei er jedoch glauben soll, dass es vom Herrn bei ihm und durch ihn geschehe.« (EL 82 aus dem Jahr 1768) In dieser Langfassung stimmt der erste Lehrpunkt mit dem ersten Prinzip der Kurzfassung überein, und die Lehrpunkte zwei bis fünf sind Entfaltungen des zweiten Prinzips. Die beiden genannten Werke sind kurz nacheinander veröffentlicht worden, zuerst 1768 dasjenige »über die eheliche Liebe«, dann 1769 dasjenige »über den Verkehr zwischen Seele und Körper«. Was Swedenborg in dem zuerst veröffentlichten Werk noch etwas ausführlicher dargelegt hatte, das erfuhr in dem zweiten eine nicht mehr überbietbare Verdichtung. Swedenborg hatte das Neue seiner Theologie nun auf den Punkt gebracht. Es sei daran erinnert, dass 1769 auch »die kurze Darstellung der Lehre der neuen Kirche« erschienen war, ein Vorarbeit38 für die umfassende Dogmatik der neuen Kirche, die 1771 unter dem Titel »wahre christliche Religion, enthaltend die ganze Theologie der neuen Kirche« auf den Markt kam. Der dritte Text in dieser Sammlung ist die Glaubensformel am Anfang der »wahren christlichen Religion«. Swedenborg leitet sie mit den Worten ein: »Der Glaube (fides) des neuen Himmels und der neuen Kirche in seiner allgemeinen Form ist folgender«: 38 In KD 1 heißt es über dieses Werk: »Nachdem in einer Reihe von Jahren mehrere größere und kleinere Werke über das neue Jerusalem … von mir veröffentlicht worden sind … entschloss ich mich, die Lehre dieser Kirche in ihrer Fülle, somit vollständig erscheinen zu lassen; weil aber das ein Werk von einigen Jahren ist, so schien es mir geraten, (zunächst) eine Skizze davon herauszugeben …« S TREIFLICHTER 39 »Der Herr von Ewigkeit, welcher JHWH ist, kam in die Welt, um die Höllen zu unterjochen und sein Menschliches zu verherrlichen. Ohne dies hätte kein Sterblicher gerettet werden können, und diejenigen werden gerettet, die an ihn glauben.« (WCR 2, vgl. auch EO 67, NJ 293) Diese Glaubensformel wird in den liturgischen Feiern der Neuen Kirche als Glaubensbekenntnis verwendet. Sie ist in die Betrachtung einzubeziehen, weil sie der Ursprung des ganzen theologischen Lehrsystems ist. Swedenborg schreibt einmal: »Aus dem Glauben (ex fide) einer jeden Kirche strömt … ihre ganze Dogmatik (omne dogmaticum) hervor, daher kann man sagen, wie der Glaube, so die Lehre.« (WCR 177). Obwohl die Formulierungen der drei Texte unterschiedlich sind, sind sie doch alle Ausdruck derselben Sache. Die Grundstruktur ist überall zweiteilig: Im ersten Teil steht eine theologische, monotheistisch akzentuierte Aussage; im zweiten eine anthropologische, soteriologisch akzentuierte. Erstens vernehmen und bekennen wir: Gott ist Einer. Das ist das Bekenntnis zum Monotheismus, zum Eingottglauben. Dieser eine Gott ist der JHWH (»Jahwe«) des Alten bzw. der Kyrios Jesus Christus des Neuen Bundes. Wie diese beiden Namen für ein und denselben Gott stehen, wird im theologischen Lehrsystem zu erklären sein. Zweitens ist die Grundhaltung desjenigen, der sein Leben an diesen Gott bindet, diejenige des Glaubens. Doch was meint dieses Wort? Sind wir noch Vollhörer seiner Bedeutung? Aufgabe des theologischen Lehrsystems muss es sein, seinen vollen Klang wieder zu Gehör zu bringen. Wir ahnen schon: Die Kernaussagen drängen, einem Samen gleich, danach der weitverzweigte, voll entfaltete Baum einer systematischen Theologie (oder Dogmatik) zu werden. In den beiden Grundaussagen ist auch ein dogmenkritischer Unterton enthalten. Eine Grundüberzeugung Swedenborgs besteht nämlich darin, dass das theologische Prinzip, das im griechischen Osten bearbeitet wurde, leider zu äußerst problematischen Lehrsätzen geführt hat, die in der Konsequenz zu jener synteleia tou aionos geführt haben, von der oben die Rede war. Gleiches gilt 40 T HOMAS NOACK für das anthropologisches Prinzip, das im lateinischen Westen bearbeitet wurde. Swedenborg sah somit seine Aufgabe darin, das griechische und das lateinische Erbe zu überwinden und auf diese Weise die Grundlage für eine neue Theologie zu schaffen. 3.1. Die Überwindung des griechischen Erbes 3.1.1. Begriffsbestimmung Unter dem griechischen Erbe ist das Ergebnis der theologischen Reflexionen über die Person Jesu Christi zu verstehen. Dieses Erbe besteht aus zwei Dogmen, dem trinitarischen und dem christologischen. Die Trinitäts- oder Dreieinigkeitslehre will die Frage beantworten, wie die Einheit Gottes bzw. der Monotheismus angesichts der neutestamentlichen Rede vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist aussagbar ist. Im Zuge der Beantwortung dieser Frage wurde aus dem neutestamentlichen »Sohn« die zweite göttliche Person oder, mit Swedenborg gesprochen, der »Sohn von Ewigkeit« (filius ab aeterno, LH 19). Nachdem der Sohnbegriff zu einem Gottesbegriff innerhalb der Trinitätslehre geworden war, stellte sich die Frage nach der menschlichen Seite Jesu, des Sohnes. Das ist die Frage der Christologie, die klären will, wie sich Göttliches und Menschliches in der Person Jesu Christi zueinander verhalten. Das Ergebnis der trinitarischen und christologischen Streitigkeiten fasste Swedenborg so zusammen: Sie »zerteilten Gott in drei und den Herrn in zwei Teile« (WCR 174, siehe auch EO 263). Aus diesem Urteil ist Swedenborgs Ablehnung des griechischen Erbes bereits erkennbar, das heißt seine Ablehnung der drei Personen innerhalb der Trinitätslehre und der zwei Naturen innerhalb der Christologie. 3.1.2. Biblische Grundlagen Das Neue Testament enthält diese beiden Lehren oder Dogmen noch nicht, wohl aber zahlreiche Bausteine, die sinnvoll zu einem Lehrgebäude zusammengefügt werden müssen. Eine Auswahl dieser Steine präsentiere ich im Folgenden, wobei ich mich schon hier von der swedenborgschen Lösung des Problems leiten S TREIFLICHTER 41 lasse. Im Neuen Testament ist »Sohn Gottes« oder einfach nur »Sohn« neben Messias resp. Christus, Kyrios und Menschensohn einer der Hoheits- oder Würdetitel Jesu. Dem einen Gott des alten Bundes tritt nun sein Sohn an die Seite. Wie aber ist dieser mit dem Eingottglauben in Einklang zu bringen? Außerdem begegnet uns ebenfalls schon im Neuen Testament dieser Sohn in einer dreigliedrigen Formel, die als die noch unbefruchtete Einzelle der Trinitätslehre angesehen werden kann. Paulus beispielsweise schließt seinen zweiten Brief an die Korinther mit dem Segenswunsch: »Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen.« (2 Kor 13,13). Und das Matthäusevangelium endet mit dem Auftrag des Auferstandenen: »Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe.« (Mt 28,19f.).39 Swedenborg, der einen »von Ewigkeit geborenen Sohn« (Filius ab aeterno natus, WCR 83) für neutestamentlich nicht begründbar hielt, wies nachdrücklich auf diejenigen Stellen hin, die zeigen, dass unter dem Sohn Gottes »das Menschliche« zu verstehen sei, »durch das sich Gott in die Welt sandte« (WCR 92). So sprach der Engel Gabriel zu Maria: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.« (Lk 1,35; siehe OE 1069, WCR 82).40 Außerdem war »Sohn Gottes« bei den Juden eine Bezeichnung für den – wohlgemerkt irdischen – Messias (siehe LH 19). Das belegen die folgenden Stellen zur Genüge: »Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du 39 40 Die im Neuen Testament bereits vorhandene triadische (dreigliedrige) Struktur finden wir später auch in den christlichen Glaubensbekenntnissen, von denen vor allem das apostolische und das von Nizäa und Konstantinopel zu nennen sind. Eine eingehende Untersuchung, die hier nicht zu leisten ist , müsste sich auch der Beobachtung stellen, dass der Sohnestitel nicht nur mit der wundersamen Zeugung (Lk 1,35), sondern auch mit der Taufe (Mk 1,9-11), der Verklärung (Mk 9,2-8) und der Auferstehung von den Toten (Röm 1,3f.) verbunden ist. 42 T HOMAS NOACK der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.« (Joh 11,27). »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?« (Mt 26,63). »Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.« (Joh 20,31). Die Ablehnung eines präexistenten Sohnes bedeutet positiv, dass JHWH selbst herabgekommen ist (WCR 82), dass also in Jesus Christus JHWH selbst anwesend war. Swedenborg weist zur Begründung darauf hin, dass die Übersetzung von JHWH in der griechischen Bibel, in der Septuaginta, nämlich Kyrios (Herr), im Neuen Testament wie selbstverständlich auf Jesus Christus übergegangen ist. Jesus ist also JHWH oder genauer formuliert »JHWH in seinem Menschlichen« (WCR 81). In Stellen aus dem Alten Testament, die im Neuen zitiert werden, ist JHWH durch Kyrios ersetzt. Ein prominentes Beispiel ist das Schm'a Jisrael (Höre Israel) in Deuteronomium 6,4f, das Jesus in Mk 12,29f. zitiert (siehe dazu WCR 81). Im Hintergrund stehen die zur Zeit Jesu geläufige Praxis JHWH als Adonai (Herr) auszusprechen und wie gesagt die Septuaginta. Christologisch bedeutsam wird dieser Sachverhalt dadurch, dass Kyrios – das Ersatzwort für JHWH – schon im Neuen Testament auf Jesus übertragen wird. Ein frühes Beispiel ist der in 1 Kor 16,22 erhaltene aramäische Gebetsruf maranatha, der in Offb. 22,20 mit »Komm, Herr (Jesus)« übersetzt ist.41 Dazu passt, dass die Juden – und die ersten Jesusanhänger waren Juden – keinen von Ewigkeit her geborenen Sohnes, sondern JHWH selbst als ihren Retter und Erlöser erwarteten. Das geht aus ihren heiligen Schriften hervor, aus denen Swedenborg einige Stellen in WCR 83 zitiert, beispielsweise die folgende: »Ich, ich bin Jahwe, und außer mir gibt es keinen Retter.« (Jes 43,11). Schon der Name Jesus – hebräisch Jehoschua bzw. Jeschua – weist auf diesen 41 Weitere Beobachtungen bei Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel: Ihre Geschichte im frühen Christentum, 1963, Seite 117-120. Der »Tag Jahwes« wird im Neuen Testament als »Tag des Kyrios« auf Jesus bezogen (Vgl. 1 Kor 5,5; 1 Thess 5,2; 2 Thess 2,2; ausdrücklich christianisiert 1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14). Jesaja 40,3 wird in den Evangelien an herausragender Stelle auf den Kyrios Jesus bezogen (Mk 1,3 parr). Auf Joel 3,5 wird ausdrücklich in Apg 2,21 und Röm 10,13 Bezug genommen. In 2 Kor 12,8 haben wir einen eindeutigen Beleg für das Gebet zu Jesus als Kyrios. S TREIFLICHTER 43 Zusammenhang, denn er bedeutet »JHWH ist Rettung«. Und schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass Swedenborg, der normalerweise kaum aus der neutestamentlichen Briefliteratur zitiert, die folgenden zwei Stellen aus diesem Korpus außerordentlich oft anführt: »Denn in ihm (Christus) wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (Kol 2,9). »Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahre Gott und das ewige Leben.« (1 Joh 5,20).42 Obwohl der vorösterliche oder irdische Jesus »das Menschliche« war, »durch das sich Gott in die Welt sandte«, ging er einen Weg, der ihn für alle Ewigkeiten zur Gestalt Gottes machte, so dass er vollkommen zu Recht die alttestamentliche Gottesbezeichnung, den Kyriostitel, auf sich zog. Der Verfasser des Kolosserbriefes nennt ihn »das Bild des unsichtbaren Gottes« (1,15), und für Swedenborg ist er ganz im diesem Sinne »der sichtbare Gott«, »in dem der unsichtbare wohnt wie die Seele im Leib« (WCR 787).43 Dieser Weg ist vor allem mit einem Begriff verbunden, nämlich mit dem der Verherrlichung. Somit ist Swedenborgs Christologie als Verherrlichungs- oder Erhöhungschristologie zu charakterisieren im Unterschied zur altkirchlichen Zwei-Naturen-Lehre auf der Basis einer Präexistenzchristologie. Besonders im Johannesevangelium begegnet uns neben »hinaufsteigen« und »erhöhen« das Verb »verherrlichen« als Bezeichnung für den inneren Weg Jesu (Joh 7,39; 11,4; 12,16.23.28. 31.32; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1.4.5.10). Aber auch in anderen Schriften des Neuen Testaments begegnet uns immer wieder dieses Wort. Zwei Beispiele: »So verherrlichte sich auch der Christus nicht selbst, um Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm sprach: Mein Sohn bist du, ich habe heute dich gezeugt …« (Hebr 5,5). »Musste nicht Christus dieses leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26). Die neutestamentliche Bedeutung von »Herrlichkeit« wird ganz und gar vom Alten Testament bestimmt. Dort ist von »der Herrlichkeit JHWHs« die Rede. »Herrlichkeit« wird also von JHWH ausgesagt 42 43 Man könnte noch 2. Kor 5,19 anführen: »Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat«. Siehe auch WCR 339, 647. Noch Irenäus von Lyon lehrte im 2. Jahrhundert: »Der Vater ist das Unsichtbare (invisibile) des Sohnes, und der Sohn das Sichtbare (visibile) des Vaters.« (Adversus haereses, IV 6,6). 44 T HOMAS NOACK und meint das Majestätische seiner Erscheinung, im engeren Sinne seine Erscheinung als Licht (vgl. HG 5922). Das Neue Testament übernimmt diese Bedeutung, geht aber über das Alte insofern hinaus, als es »das Wort, das Träger der Gottesaussage geworden war, zugleich zum Träger der Christusaussage macht.« (ThWNT II,251). So spricht es von der Herrlichkeit des Erhöhten. Paulus (an)erkennt den »Herrn der Herrlichkeit« (1 Kor 2,8; 2 Kor 3,18), »die Herrlichkeit Gottes im Angesichte Jesu Christi« (2 Kor 4,6) und die »Herrlichkeit Christi, der Gottes Bild ist« (2 Kor 4,4). Zu beachten sind ähnliche Aussagen der Paulusschule (2 Thess 2,14; Tit 2,13), Jakobus 2,1 und die Formulierung des Hebräerbriefes, wonach der Sohn »der Widerschein der Herrlichkeit (Gottes) und der Ausdruck seines Wesens« ist (Hebr 1,3). Aus all dem zieht Swedenborg den Schluss: »Verherrlichen« bedeutet »göttlich machen« (HG 2632). Die Verherrlichungschristologie besagt also, dass der Herr sein Menschliches göttlich machte (WCR 105). 3.1.3. Dogmengeschichtlicher Überblick Wir wollen nun einen Blick auf diejenigen Entwicklungen werfen, die zum kirchlichen Dogma geführt haben. Dadurch wird der Hintergrund der neukirchlichen Theologie sichtbar und die Abgrenzungen und Neuformungen, die Swedenborg vorgenommen hat, werden als solche erkennbar. Die entscheidende Neuerung gegenüber dem älteren Gemeindeglauben44 war die Logoschristologie des zweiten und dritten Jahrhunderts. Sie identifizierte den neutestamentlichen Sohn mit dem auch in der Philosophie der Stoiker und des mittleren Platonismus bekannten Logos. Die neutestamentliche Legitimation dieser Gleichsetzung erblickte man im Prolog des Johannesevangeliums, der bekanntlich mit den Worten beginnt: »Im Anfang war der Logos«. Das Folgenschwere dieses Schrittes bestand jedoch darin, dass die mit dem Sohn verbundene Vorstellung einer 44 Ich denke hierbei an die Christus-Gott-Vorstellung beispielsweise eines Ignatius von Antiochien (um 110) und an den Monarchianismus, der die Einheit oder Alleinherrschschaft Gottes (monarchia) aussagen wollte. Diese eher traditionell-konservativen Vorstellungen hatten zwar ihre Schwächen, standen aber im Grundsatz der Wahrheit näher als die Logoschristologie und das kirchliche Dogma, das sich daraus ergab. Swedenborg setzte den alten Gemeindeglauben in mancherlei Hinsicht ins Recht. S TREIFLICHTER 45 Person nun auf den präexistenten, vor der Erschaffung aller Dinge bereits vorhandenen Logos übertragen wurde. Damit entstand eine personalistische Logoslehre, die sogenannte Logoschristologie. Die Idee eines »Sohnes von Ewigkeit« war im Prinzip geboren. Die weiteren Entwicklungen waren nur noch Ausgestaltung dieses Ansatzes.45 Justin der Märtyrer, ein christlicher Platoniker, gestorben 165 nach Christus in Rom, wollte in seinem »Dialog mit dem Juden Tryphon« zeigen, dass der Logos »ein weiterer Gott (theos heteros) ist gegenüber dem Gott, der das All gemacht hat, ein weiterer der Zahl nach, nicht der Gesinnung nach« (dial. 56,11). Diese Rede von einem »theos heteros« ist die Geburtsstunde des »von Ewigkeit her geborenen Sohnes« (WCR 83). Origenes (um 185 bis 253/54), der einflussreichste Theologe der griechischen Kirche, sprach dann ausdrücklich von einer ewigen Geburt des Sohnes: »Denn (diese) Zeugung ist ebenso ewig und immerwährend (aeterna ac sempiterna generatio) wie die Zeugung des Glanzes durch das Licht.« (De principiis I 2,4). Der Sohn war daher »niemals nicht« (De principiis IV 4,1). Der Sohn ist nach Origenes »der zweite Gott (ho deuteros theos)« (Contra Celsum V,39); er ist »der Zahl nach vom Vater verschieden« (In Ioannem X 37,246) und »ein anderer in Hinsicht auf das Sein und die Substanz des Vaters« (De oratione 15,1). Origenes steuerte zum trinitarischen Dogma vor allem seine Hypostasenlehre bei, das heißt die Verwendung von hypostasis zur Aussage der metaphysischen Selbständigkeit (des Personseins) von Vater, Sohn und Geist. Diese Dreihypostasenlehre brachte zwar gegen den modalistischen Monarchianismus die Dreiheit von Vater, Sohn und Geist wirkungsvoll zum Ausdruck, aber die Einheit blieb auf der Strecke. Im Grunde genommen konnte Origenes nur die Einheit der Gesinnung anbieten: Der 45 Vgl. das Urteil des Patristikers und dogmengeschichtlichen Klassikers Friedrich Loofs (1858 - 1928): »Im Speziellen hat ihre Christologie (= die Christologie der Apologeten) die Entwicklung verhängnisvoll beeinflußt. Sie haben, die Übertragung des Sohnesbegriffs auf den präexistenten Christus als selbstverständlich betrachtend, die Entstehung des christologischen Problems des 4. Jahrhunderts ermöglicht; sie haben den Ausgangspunkt des christologischen Denkens verschoben (von dem historischen Christus weg in die Präexistenz)« (Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 1968, Seite 97). 46 T HOMAS NOACK Vater und der Sohn sind zwar »hinsichtlich der Wesenheit zwei Wirklichkeiten (dyo te hypostasei pragmata), eins jedoch hinsichtlich der Einmütigkeit, der Übereinstimmung und der Selbigkeit des Willens.« (Contra Celsum VIII,12). Doch das ist eindeutig zu wenig. Swedenborg urteilte: »Der Begriff der Eintracht (unanimitas), stimmt nicht mit der Einheit Gottes überein, sondern mit einer Mehrheit (von Göttern), weil er auf der Übereinstimmung mehrerer (consensus plurium) beruht, von denen jeder aus sich und für sich beistimmt.« (WCR 25). So läuft das Dreihypostasenmodell also bestenfalls auf eine einmütige »Triarchie« (Herrschaft von Dreien) hinaus (WCR 171). Im geschichtlichen Verlauf wurde jedoch zunächst der Subordinatianismus der origenistischen Hypostasenlehre zum Problem. Subordinatianismus meint die stufenweise Unterordnung der Hypostasen, insbesondere derjenigen des Sohnes unter derjenigen des Vaters. Dadurch, das heißt durch die Idee der Oberherrschaft des Vaters, konnte zwar der Tritheismus einigermaßen versteckt werden, aber andererseits bestand die Gefahr, in dem untergeordneten Sohn lediglich ein Geschöpf zu sehen. Und genau diese potenzielle Gefahr wurde durch Arius zu einem wirklichen Anschlag auf die Grundfeste der antiken Kirche, nämlich auf den Glauben an die Göttlichkeit des Erlösers, denn Arius behauptete, »es war einmal, da er (der Sohn) nicht war«46, er behauptete also die Geschöpflichkeit des Erlösers. Ein Aufschrei der Entrüstung ging durch die antike Kirche, dabei war der Arianismus »nur« ein »aus den Fugen geratener Origenismus«.47 Zum Zwecke der Ausrottung dieser Ketzerei wurde im Jahre 325 von Kaiser Konstantin das berühmte Konzil von Nizäa einberufen. Und das, was dort geschah, die antiarianische Gegenwehr, machte – ungewollt natürlich – das Unheil erst komplett. Swedenborgs Urteil: »Indem sie sich bemühten, den Wolf zu meiden, stießen sie auf den Löwen.« (WCR 637). Der Wolf, das war der 46 47 Thaleia, Athanasius, Orationes contra Arianos, 1,11. Alte Kirche. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Adolf Martin Ritter, Seite 130. S TREIFLICHTER 47 Arianismus, der Löwe aber, das ist der »christliche« Tritheismus. Was war geschehen? In dem Bestreben, die scheußliche Konsequenz des Subordinatianismus auszurotten, die Geschöpflichkeit des Sohnes, verordnete man der Hypostasenlehre das homoousios, das alle Hypostasen (»Personen«) auf ein und dieselbe Stufe stellte. Aus dem Untereinander wurde ein Nebeneinander, – und damit war nun das tritheistische Problem geboren. Der geschichtliche Prozess war etwas komplizierter. Das »Dogma von Nizäa« ist »auf den Wider-Spruch zum Arianismus zu beschränken, darauf, daß der Gottessohn nicht dem geschöpflichen Bereich zugehöre, sondern gleichen göttlichen Ranges wie der Vater sei.« (HDThG 1,170). Das homoousios, das zum Schibboleth der Orthodoxie werden sollte, war zunächst nur ein Bestandteil der Absage an den Arianismus. Der positive Sinn war noch nicht klar. Schon die Übersetzung – wesensgleich oder wesenseins – zeigt die Uneindeutigkeit des homoousios. »Ist ausgesagt, dass das Wesen (die usia) des Sohnes identisch ist mit dem Wesen (der usia) des Vaters? Radikal weitergedacht könnte das heißen, dass der Sohn identisch mit dem Vater sei – das wäre die monarchianische Lösung ... Man konnte das Adjektiv aber auch anders interpretieren, nämlich so, dass das Wesen des Sohnes dem Wesen des Vaters ganz und gar gleich sei; dann bliebe die Eigenexistenz von Vater und Sohn gewahrt, ja man könnte sogar das Wesen (die usia) des Sohnes vom Wesen (der usia) des Vaters numerisch unterscheiden, obwohl beide vollkommen gleich sind.«48 Eine Klärung brachten schließlich »die drei großen Kappadokier«, Basilius von Cäsarea, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz. Bislang hatte man die Begriffe »Hypostase« (hypostasis) und »Wesen« (ousia) synonym verwendet. Basilius führte jedoch eine begriffliche Differenzierung ein: »Wesen« sollte sich auf das beziehen, was Vater und Sohn gemeinsam ist, das Allgemeine, während »Hypostase« das Besondere von Vater und Sohn bezeichnen 48 Franz Dünzl, Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, 2006, Seite 69. 48 T HOMAS NOACK sollte. Damit war die neunizänische Sprachregelung gefunden, die vom 2. ökumenischen Konzil 381 in Konstantinopel49 übernommen und dogmatisiert wurde: ein Wesen in drei Hypostasen (mia ousia, treis hypostaseis).50 Allerdings zeigen die Ausführungen des Basilius in seinen Briefen, dass hinter der Eleganz dieser Formel die dreipersönliche Gottesvorstellung und somit der Tritheismus lauerte. In seinem 38. Brief schrieb er: »Von all den Bezeichnungen haben die, die für eine Reihe (der Zahl nach) verschiedene Dinge passen, eine mehr allgemeine Bedeutung, wie z.B. das Wort Mensch. Der dieses Wort ausspricht, redet damit von der allgemeinen Natur, bezeichnet aber nicht irgendeinen Menschen, der mit diesem Namen eigens gekennzeichnet würde. So ist z.B. Petrus nicht mehr Mensch als Andreas, Johannes und Jakobus.« (38,2). »Wesen und Hypostase (ousia kai hypostasis) unterscheiden sich ebenso voneinander wie das Allgemeine vom Besonderen, wie z.B. das Lebewesen von einem individuellen Menschen.« (236,6). Demnach verbirgt sich hinter ousia die Vorstellung der Gattung und hinter hypostasis die eines individuellen Vertreters dieser Gattung. Wie Andreas, Johannes und Jakobus zur Gattung Mensch gehören, so Vater, Sohn und Geist zur Gattung Gott. Die Einheit Gottes entpuppt sich als »Gemeinschaft« (38,4). Dieses prinzipielle Defizit der Drei-Hypostasen-Trinität wurde im Verlauf der dogmengeschichtlichen Entwicklung durch allerlei Hilfskonstruktionen allmählich immer mehr kaschiert, doch es 49 50 Swedenborg spricht übrigens fälschlicherweise von »zwei nizänischen Konzilen« (duo concilia Nicaena, WCR 176). Von dem Konzil von 381 ist neben dem Bekenntnis auch ein ausführliches Lehrschreiben (Tomus) bezeugt, das zwar nicht mehr erhalten ist, dessen wesentlichen Inhalt aber die Konstantinopeler Nachsynode von 382 in ihrem Sendbrief an die Bischöfe des Westens folgendermaßen wiedergibt: »... (Der zu Nizäa festgestellte, evangeliumsgemäße Glaube) muß ... allen genügen, welche nicht das Wort des wahren Glaubens verkehren wollen; ist er doch sehr alt, entspricht dem Taufbefehl (wörtl.: der Taufe) und lehrt uns, zu glauben an den Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes, so nämlich, daß eine Gottheit, Macht und Wesenheit des Vaters, Sohnes und Hl. Geistes und ebenso gleiche Ehre, Würde und gleichewige Herrschafft geglaubt wird in drei ganz vollkommenen Hypostasen oder drei vollkommenen Personen ...« (HDThG 1,213). S TREIFLICHTER 49 konnte nie mehr beseitigt werden.51 Nach der Ausformung des trinitarischen Dogmas war nun also zu glauben, dass nicht JHWH selbst, sondern sein Sohn Fleisch geworden war, wobei man sich unter diesem »Sohn« eine göttliche Person vorzustellen hatte, nämlich die zweite innerhalb der ewigen oder immanenten Trinität. Vor diesem Hintergrund stellte sich nun natürlich die Frage, wie das Zusammensein der göttlichen Person des Sohnes mit der menschlichen Person des geschichtlichen Jesus von Nazareth zu denken sei. Die kirchliche Antwort liegt in Gestalt der Zwei-Naturen-Lehre (Dyophysitismus) vor. Das Konzil von Chalkedon sprach sich im Jahre 451 für die Personeinheit Christi in zwei Naturen aus. Im Chalkedonense heißt es: »… ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen (en dyo physesin) unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase (eis hen prosopon kai mian hypostasin)52 vereinigt …« (DH 302). Das Chalkedonense erhielt noch zwei bedeutsame Präzisierungen. Das Konzil von Konstantinopel im Jahre 553 unterstrich unter Beibehaltung der Zwei-Naturen-Lehre die Einheit, indem es betonte, dass die eine Hypostase des Chalkedonense als nummerisch eine Hypostase zu verstehen sei (DH 426).53 Auf diese Weise wollte man die »Monophysiten« in das dyophysitische Boot 51 52 53 Das belegt auf eindrucksvolle Weise übrigens auch die Ikonographie. Rochus Leonhardt geht auf zwei Typen von Trinitätsdarstellungen ein: 1. drei gleichgebildete Gestalten und 2. der Gnadenstuhl (Grundinformation Dogmatik: Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, 2008, Seite 234238). Zu beachten ist hier auch das synonyme Nebeneinander von Hypostase und Person. Das Insistieren auf einer einzigen Hypostase führte in der Folge zur Lehre von der Enhypostasie, derzufolge die Menschheit Jesu nie für sich, sondern nur und ausschließlich in der Person bzw. Hypostase des Sohnes existiere. Die Menschheit Jesu ist also anhypostatisch (ohne eigene Hypostase) zu denken. 50 T HOMAS NOACK holen, was aber misslang. Das nächste Konzil, dasjenige von Konstantinopel im Jahre 680 /81, unterstrich hingegen erneut die Zweiheit, indem es das Chalkedonense im Sinne des Dyotheletismus, das heißt der Zwei-Willen-Lehre, interpretierte. In Jesus Christus sind analog zu den zwei Naturen zwei Willen zu unterscheiden. Bemerkenswert ist die formale Ähnlichkeit der christologischen mit der trinitarischen Lehrformel. Jene lautete: ein Wesen in drei Personen. Und diese lautet: eine Person in zwei Naturen. In beiden Fällen fand man einen Begriff, mit dem man die Einheit, und einen, mit dem man die Unterschiedenheit aussagen wollte. Das altkirchliche Denken drang nicht zur Schau der Ganzheit und Vollkommenheit durch. Daher musste man sich damit begnügen, die Einheit und ihre Teilheiten zu einem Paradoxon zusammenzubinden. Daher auch fühlte man sich genötigt, einmal die Einheit zu betonen, ein anderes Mal die Zweiheit. 3.1.4. Neukirchliche Akzente Nach dem dogmengeschichtlichen Überblick ist nun eine profilierte Darstellung der neukirchlichen Lehre vom Kyrios möglich. Die Unterscheidung von Trinitätslehre und Christologie sollte in der traditionellen Form nicht unkritisch übernommen werden. Denn ihr liegt, wie es der dogmengeschichtliche Überblick gezeigt hat, die Vorstellung eines von Ewigkeit her gezeugten, rein göttlichen Sohnes zu Grunde, der erst in einem zweiten Schritt mit dem irdisch-menschlichen Jesus von Nazareth in eine Beziehung gebracht werden musste. Der neukirchlichen Theologie stehen stattdessen die zwei folgenden Wege offen. Sie kann die ganze Thematik entweder als integrale Trinitätslehre oder als Lehre vom Herrn bzw. Kyrios entfalten. Swedenborg hat sich den Begriff »Trinität« angeeignet (Überschrift WCR 163-188), er distanzierte sich lediglich von der Lehre einer Trinität oder Dreiheit von Personen (doctrina Trinitatis Personarum, KD 30). Den Begriff »Christologie« hingegen finden wir bei ihm nicht. Das hat einen einfachen Grund: Die im herkömmlichen Sinne christologische Thematik ist bei Swedenborg ein integraler Bestandteil S TREIFLICHTER 51 seiner Trinitätslehre. Denn der »Sohn«, im traditionellen Sinne die zweite göttliche Person der Trinität, ist bei Swedenborg »das Menschliche« (WCR 92) und begegnet uns zugleich als Bestandteil der göttlichen Trinität (WCR 164). Die herkömmliche Unterscheidung von Trinitätslehre und Christologie ist vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll, eher verwirrend. Daher ist die neukirchliche Trinitätslehre eine integrale, weil hier das »Humanum« des Sohnes ein integraler Bestandteil der trinitarischen Reflexion geworden ist. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die neukirchliche Gotteslehre insgesamt als die Lehre vom Herrn oder Kyrios abzuhandeln, wofür ich den Begriff Kyriologie vorschlage. Das Vorbild für diesen Weg ist Swedenborgs Werk »die Lehre des neuen Jerusalems vom Herrn«, das bekanntlich eine der »vier Hauptlehren« enthält. Man kann die beiden Wege auch verbinden und sagen: Die neukirchliche Theologie geht von einer integralen Trinitätslehre aus, deren Integral oder Ganzheitsmoment der Kyrios ist, weswegen sie auch als Kyriologie bezeichnet werden kann. Das muss nun eingehender dargelegt werden. Der in Abgrenzung vom nizänischen Glauben formulierte Grundsatz der neukirchlichen Trinitätslehre lautet: »Gott ist dem Wesen (essentia)54 und der Person (persona) nach Einer.« (WCR 2). Die neue Kirche lehrt somit im Unterschied zur dreipersönlichen Trinitätslehre von Nizäa und Konstantinopel eine einpersönliche. Ihre eine und 54 Von Tertullian, dem ersten lateinischen Kirchenschriftsteller, wurden dem lateinischen Westen ursprünglich die trinitarischen Begriffe »substantia« und »persona« in die Wiege gelegt (Adversus Praxean 12,6). Doch seit Augustin spricht man statt von »substantia« lieber von »essentia«: »Ohne Zweifel aber ist Gott eine Substanz (substantia) oder, wenn der Ausdruck besser ist, ein Wesen (essentia), – die Griechen sagen dafür ousia. Wie nämlich von weisesein Weisheit und von wissen Wissenschaft benannt ist, so ist von sein (esse) Wesen (oder Seinsheit, essentia) benannt.« (De trinitate V 2,3). Dementsprechend ist auch im 1. Artikel der Confessio Augustana die Rede vom »Dekret der nizänischen Kirchenversammlung über die Einheit des göttlichen Wesens und die drei Personen (de unitate essentiae divinae et de tribus personis)«. 52 T HOMAS NOACK einzige göttliche Person ist der Kyrios Jesus Christus 55, was dem urchristlichen Bekenntnis entspricht, wie es im Philipperbrief 2,11 überliefert ist. Zur Bezeichnung der Dreiheit verwendet Swedenborg nicht mehr den Begriff »persona«, sondern den Begriff »essentiale«, denn er formuliert: »Diese drei, Vater, Sohn und heiliger Geist, sind die drei Wesensschichten (essentialia) des einen Gottes.« (WCR 166). Während man sich auf der Grundlage des nizänischen Glaubens drei nebeneinander angeordnete Personen vorstellen musste, wie sie beispielsweise in der Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow zu sehen sind, kann man sich nun auf der Grundlage des neukirchlichen Glaubens drei Wesensschichten oder wesentliche Bestandteile (essentialia) einer einzigen Person vorstellen. Aus dem trinitarischen Nebeneinander ist ein trinitarisches Ineinander geworden. Der Kyrios ist das alles in sich vereinigende Integral der christlich-monotheistischen Kirche. »Wer von der Gottheit die Vorstellung dreier Personen hat, kann nicht die Vorstellung eines einzigen Gottes haben; auch wenn er mit dem Mund sagt, Gott sei einer, so denkt er sich doch drei. Wer aber von der Gottheit die Vorstellung dreier (ergänze: essentialia ) in einer Person (trium in una Persona) hat, der kann die Vorstellung eines Gottes haben, kann einen Gott aussprechen und einen Gott denken.« (HG 10821). »Wer von der Gottheit die Vorstellung Dreier in einer Person (Trium in una Persona) hat, kann die Vorstellung eines Gottes haben.« (NJ 289). »Eine sichere und feststehende Wahrheit ist, dass Gott Einer und sein Wesen (essentia) unteilbar ist, und dass es eine Trinität (trinitas) gibt. Wenn also Gott Einer ist und sein Wesen unteilbar ist, dann folgt daraus, dass Gott eine einzige Person ist. Und wenn eine einzige Person, dann folgt daraus, dass die Trinität in dieser (einen) Person vorfindbar ist (quod Trinitas sit in illa [sc. persona]).« (KD 44). »Der dreifaltige oder dreieinige Gott ist nicht der eine Gott, wenn er dreifaltig oder dreieinig in drei Personen ist, er ist nur dann der eine Gott, wenn das Dreifaltige oder Dreieinige in einer einzigen Person gedacht wird.« (EO 490). 56 55 56 Siehe die vollständige Fassung der universalen Form des Glaubens der neuen Kirche in WCR 2; ergänzend kann KD 44 hinzugenommen werden. Diese Formel findet sich auch in der Neuoffenbarung durch Jakob Lorber: »Wir halten dafür … daß Gott nur eine einzige Person ist, welche Person aber S TREIFLICHTER 53 Zum weitergehenden Verständnis der neukirchlichen Lehre vom Herrn muss man wissen, dass Herr drei Bedeutungen hat. Erstens »der Herr von Ewigkeit (dominus ab aeterno)« (LH 30), dann ist JHWH gemeint. Zweitens »der in der Zeit geborene Herr (dominus natus in tempore)« (EO 630), dann ist der irdische oder vorösterliche Jesus gemeint.57 Und drittens der Herr in Ewigkeit (dominus in aeternum), dann ist der erhöhte oder nachösterliche Jesus gemeint. Da der Auferstandene jedoch ältesten Traditionen entsprechend meist einfach nur »Herr« genannt wird (HG 14), ist die Langform unüblich und auch bei Swedenborg nur andeutungsweise belegt, siehe OE 468, WCR 599 und Psalm 110,4. Die drei differenzierenden Zusätze sind sehr eindrücklich in einem Engelwort am Ende der enthüllten Offenbarung vereint: Jesus Christus »ist JHWH, der Herr, von Ewigkeit (ab aeterno) der Schöpfer, in der Zeit (in tempore) der Erlöser und in Ewigkeit (in aeternum) der Neugestalter« (EO 962, KD 119). Die Bedeutungen 2 und 3 sind die im engeren Sinne christlichen. Sie liegen auch dem urchristlichen Schema der doppelten Beurteilung Jesu »nach dem Fleisch« und »nach dem Geist« zu Grunde (Röm 1,3f, siehe auch 1 Tim 3,16, 1 Petr 3,18).58 57 58 in Sich Selbst eigentlich sozusagen aus drei Göttern besteht. Tres in unum!« (RB 2,270,8). »Ich (Jesus) bin, als nun ein Mensch im Fleische vor euch, der Sohn und bin niemals von einem andern als nur von Mir Selbst gezeugt worden und bin eben darum Mein höchsteigener Vater von Ewigkeit. Wo anders könnte da der Vater sein als nur im Sohne, und wo anders der Sohn als nur im Vater, also nur ein Gott und Vater in einer Person?« (GEJ 8,27,2). EO 630 lautet : »Aus der ›Lehre des neuen Jerusalems vom Herrn‹ geht … hervor, dass JHWH, der Schöpfer, der Herr von Ewigkeit (Dominus ab aeterno) ist und dass der Herr, der Heiland und Erlöser, der in der Zeit geborene Herr (Dominus natus in tempore) ist, somit der Herr im Hinblick auf sein Göttlich-Menschliches.« Wolfhart Pannenberg hat darauf hingewiesen, dass aus dem Nacheinander der beiden Stadien »nach dem Fleisch« und »nach dem Geist« im Zuge der Ausbildung der Zweinaturenlehre ein Nebeneinander wurde: »Auf dem Wege zur Zweinaturenlehre hat … das Schema der doppelten Beurteilung der Person Jesu Christi ›nach dem Fleisch‹ und ›nach dem Geist‹ eine tiefgreifende Umbildung erfahren. Ursprünglich nämlich bezog sich diese doppelte Beurteilung auf die Abfolge zweier ›Stadien‹ der Geschichte Jesu, seines irdischen Weges bis zum Kreuz einerseits, der darauf folgenden Erhöhung durch seine 54 T HOMAS NOACK Wir betrachten nun den vorösterlichen Jesus. Er war der Sohn Gottes (Mk 1,1), das heißt »das Menschliche, durch das sich Gott in die Welt sandte« (WCR 92). Oder mit einer anderen Formulierung Swedenborgs gesagt: »Der Sohn ist das Menschliche des Herrn, das von dem Vater JHWH empfangen und von der Jungfrau Maria in der Zeit geboren wurde.« (LH 30). Er war keineswegs nur ein von Gott besonders inspirierter Mensch, vielmehr war er die Anwesenheit Gottes in der Welt. Innerhalb des Seele-LeibSchemas bedeutet das, die Seele Jesu war JHWH selbst: »Die Seele ist das Innerste und Höchste (intimum et supremum) des Menschen.« (WCR 8). »Dieses Innerste oder Höchste kann als Eingang (introitus) des Herrn beim Engel und Menschen und als seine eigentliche Wohnung (domicilium) bei ihnen bezeichnet werden.« (HH 39). Da die Seele bei Swedenborg also das Innerste und Höchste ist, muss in diesem Schema – wenn die Inkarnation nicht zu einer Inspiration verkommen soll – JHWH an die Stelle der Seele treten. Dementsprechend finden wir bei Swedenborg Aussagen wie die folgenden: Die »Seele« Jesu war »das Göttliche des Vaters (Ipsum Divinum Patris)« (LH 29). »Die Seele des Herrn war JHWH« (HH 86). »Könnte überhaupt noch deutlicher gesagt werden, dass der Herr Seele und Leben aus JHWH Gott hatte und – da das Göttliche nicht geteilt werden kann – dass das Göttliche des Vaters selbst seine Seele und sein Leben bildete?« (WCR 82). »Die Seele des Herrn war das Leben selbst oder das Sein selbst, das JHWH genannt wird« (HG 2025).59 59 Auferweckung von den Toten andererseits. Schon bei Ignatius ist aus diesem Nacheinander ein Nebeneinander geworden, das dann folgerichtig als Verbindung des Gottessohnes mit dem von Maria geborenen Menschen in ein und derselben Person dargestellt wurde.« (STh 2,427). Das anthropologische Schema bei Jakob Lorber ist etwas ausdifferenzierter. Swedenborg kennt als »das Innerste und Höchste« (WCR 8) nur die Seele (anima), wobei sein Seelenbegriff allerdings recht weit gefasst ist, denn immerhin kann er sagen, sie sei »das Sein des Lebens (esse vitae)« (HG 10823, NJ 287). Man kann daher sagen, dass bei Lorber innerhalb des sehr weit gefassten swedenborgschen Seelenbegriffs eine Differenzierung vorgenommen worden ist, nämlich diejenige zwischen Geist und Seele. Man kann aber auch sagen, dass die Neuoffenbarung durch Jakob Lorber zur swedenborgschen Seele noch den Geist hinzufügt. Dann muss man zeigen, dass der swedenborgsche und der lorbersche Seelenbegriff bis zu einem gewissen Grad deckungsgleich sind. Und tatsächlich sind beide Seelenbegriffe durch S TREIFLICHTER 55 Den Werdegang Jesu charakterisiert Swedenborg mit dem johanneischen Leitwort »verherrlichen«, wie es von Jesus beispielsweise in der folgenden Aussage verwendet wird: »Jetzt wird der Menschensohn verherrlicht, und Gott wird verherrlicht in ihm. Wenn Gott in ihm verherrlicht wird, dann wird auch Gott ihn in sich verherrlichen, und er wird ihn bald verherrlichen.« (Joh 13,31f.). Um dieses Leitwortes willen wird der gesamte Werdegang des vorösterlichen Jesus unter dem Stichwort Verherrlichungschristologie zusammengefasst. Diese Christologie ist nicht ein Appendix der Trinitätslehre, sondern ein integraler Bestandteil derselben. Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Göttlichen und dem Menschlichen wird in der neuen Kirche innerhalb der Trinitätslehre beantwortet. »Verherrlichen« bedeutet »göttlich machen (Divinum facere)« (NJ 300) und ist auf »das Menschliche« des vorösterlichen Jesus zu beziehen. Swedenborg kann diesen Vorgang auch so beschreiben: »Der Herr hat sein Menschliches verherrlicht, das heißt er hat das Menschliche aus der Mutter ausgezogen (exuerit) und das Menschliche aus dem Vater angezogen (induerit), welches das Göttlich-Menschliche ist« (OE 205).60 Dieses Ausziehen oder 60 die Idee des Aufnehmens miteinander verbunden. Swedenborg schreibt: »Die Seele ist nicht in sich selbst das Leben, sondern sie ist eine aufnehmende Form des Lebens von Gott (anima … non est vita in se, sed est recipiens vitae a Deo)« (SK 8). Und Lorber schreibt: »Die Seele ist das Aufnahmeorgan für alle endlos vielen Ideen des Urgrundes, aus dem sie wie ein Hauch (hebr. nephesch) hervorgegangen ist.« (EM 52,4). Ich muss in dieser Frage hier keine Entscheidung fällen. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang nur, dass die Neuoffenbarung durch Lorber aufgrund ihres ausdifferenzierteren anthropologischen Schemas jedenfalls die Möglichkeit eröffnet, die Anwesenheit JHWHs in Jesus mit dem Geist in Beziehung zu setzen. Daraus ist allerdings ein »christologischer Streit« um die Seele Jesu entstanden. Die Frage lautet: Muss man auch auf der Grundlage der Lorberschriften annehmen, dass die Seele Jesu göttlich (von oben) ist oder kann sie auch aus der Naturseelenentwicklung (von unten) stammen? Das bedeutet auch, »dass der Herr in Bezug auf sein verherrlichtes Menschliches weder Marias noch Davids Sohn ist«. (LH 35). Daher ist es nicht angemessen, Maria als Gottesmutter zu bezeichnen (vgl. WCR 102). Das Konzil von Ephesus im Jahr 431 sanktionierte den Titel Gottesgebärerin (theotokos) für Maria. 56 T HOMAS NOACK Ablegen (exuere) bedeutet nicht, dass irgendetwas von der Verherrlichung ausgenommen war. Im Gegenteil, es ist der Ausdruck der vollständigen Überwindung oder Entwindung Jesu aus dem Machtbereich des angeborenen Bösen. Denn Swedenborg schreibt auch: »Der Herr hat das natürliche Menschliche bis zum Letzten desselben (usque ad ultima ejus)61 verherrlicht, weswegen er mit dem ganzen Körper auferstanden ist« (GLW 221)62. Der Herr allein vollbrachte »eine Entsprechung alles Körperlichen mit dem Göttlichen (correspondentia omnium quae corporis cum Divino)« (HG 1414). Das leere Grab ist der Ausdruck des vollen Sieges. Das im Zuge der Verherrlichung ausgezogene Menschliche ist »das schwache (infirmum) Menschliche von der Mutter« (HG 4692) oder »das ganze Geerbte (hereditarium) von der Mutter« (HG 3036), »aus dem das Böse und Falsche« ständig anbrandet (HG 3036). Seine Verherrlichung oder Vergöttlichung errang Jesus durch ständige Versuchungen und Siege bis hin zum Kreuz, so dass er schließlich »alles Mütterliche im Grab« (De Athanasii Symbolo 161) ablegen und als derjenige auferstehen konnte, demgegenüber Thomas das erste, noch jungfräuliche Bekenntnis der Christenheit ablegte: »Mein Herr (kyrios) und mein Gott (theos)« (Joh 20,28). Das Ergebnis der Verherrlichung nennt Swedenborg »das Göttlich-Menschliche« (Divinum Humanum). Es ist das nun vollständig angezogene oder angeeignete »Menschliche aus dem Vater« (Humanum ex patre, NJ 295), es ist »das verherrlichte Menschliche« (Humanum glorificatum, HG 5256, EO 962). Mit dieser Kernformel der Verherrlichungschristologie – »Divinum Humanum« (das Gottmenschliche) – will Swedenborg »die vollständige Vereinigung (plena Unitio) des Göttlichen und des Menschli- 61 62 Aus HG 10125 geht hervor, dass »ultima« (das Letzte oder Äußerste) hier »die Knochen und das Fleisch« meint. Siehe auch HG 10125: »… Aus diesem Grund nahm der Herr sein ganzes Menschliches, das er verherrlicht, das heißt aus sich heraus göttlich gemacht hatte, in den Himmel mit, und nichts davon ließ er im Unterschied zu jedem anderen Menschen im Grab zurück «. S TREIFLICHTER 57 chen« im Herrn zum Ausdruck bringen (LH 34).63 Das Menschliche des nachösterlichen Herrn ist göttlich und somit ist es dem Menschlichen eines anderen Menschen nicht mehr gleichartig. »Aus dem Gesagten ist ersichtlich, wie groß der Irrtum derjenigen ist, die das Menschliche des Herrn, nachdem es verherrlicht worden ist, dem Menschlichen eines anderen Menschen gleichartig (simile) machen …« (HG 4727). Swedenborg widerspricht mit seiner Konzeption des Gottmenschlichen direkt dem Glaubensbekenntnis von Chalkedon aus dem Jahre 451 nach Christus, denn dort heißt es unter Verwendung des nizänischen »wesensgleich«: Unser Herr Jesus Christus »ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde« (DH 301). Und so lehnt Swedenborg schließlich auch die Zwei-NaturenLehre ab: »Dass sie (die meisten in der Christenheit) das Göttliche und das Menschliche des Herrn in zwei Naturen (in binas naturas) unterschieden und sagten, der Herr sei Gott aus der Natur des Vaters und Mensch aus der Natur der Mutter, kam daher, weil sie nicht wussten, dass der Herr, als er sein Menschliches völlig verherrlichte, das Menschliche aus der Mutter ablegte und das Menschliche aus dem Vater anzog« (OE 183). »… sie (die Christen) teilen den Herrn gleichsam in zwei Personen, die sie Naturen nennen (distinguunt Dominum in binas quasi personas, quas vocant naturas)« (OE 807). »Die christliche Kirche verehrt zwar in der Liturgie (in externo cultu) das Menschliche des Herrn als das Göttliche, vor allem im heiligen Abendmahl …, aber in ihrer Lehre macht sie sein Menschliches nicht zum Göttlichen, denn sie unterscheidet zwischen der göttlichen Natur und der menschlichen Natur (distinguunt enim inter naturam Divinam et naturam humanam)« (HG 4692). »… der Mensch hat das Göttliche vom Menschlichen im Herrn ge- 63 Zur Definition von »Divinum Humanum« diene auch OE 26: »Wir verwenden den Begriff ›das Göttlich-Menschliche‹, weil der Herr sein Menschliches göttlich gemacht hat, als er in der Welt war, er hat es nämlich mit dem Göttlichen, das seit der Empfängnis in ihm war, vereint (univit)«. 58 T HOMAS NOACK trennt und (ihn) in zwei Naturen (in binas naturas) unterschieden« (HG 10125).64 Man unterscheidet die immanente und die ökonomische Trinität, das heißt die von Ewigkeit her bestehende Wesenstrinität und die sich in der Heilsgeschichte manifestierende Offenbarungstrinität. Die neukirchliche Trinitätslehre ist im Kern eine des ökonomischen oder heilsgeschichtlichen Typs, denn Swedenborg schreibt: »Die Trinität bestand nicht vor der Erschaffung der Welt, sondern wurde für die Zeit nach der Menschwerdung Gottes vorgesehen und verwirklicht, und zwar im Herrn, unserem Gott, dem Erlöser und Heiland Jesus Christus.« (Überschrift WCR 170171).65 Gleichwohl lassen sich bei Swedenborg Ansätze zu einer immanenten Trinität erkennen. Zwar lehnt er die Vorstellung eines Sohnes von Ewigkeit ausdrücklich ab (WCR 83, LH 19), aber eigentlich lehnt er nur das Element der Person innerhalb dieser Vorstellung ab. Wenn das klar ist, dass Gott dem Wesen und eben auch der Person nach Einer ist (WCR 2), dann ist auch für die neukirchliche Theologie die Rede von einem Sohn von Ewigkeit wieder möglich. So kann Swedenborg schreiben: »Der Sohn Gottes von Ewigkeit war das göttliche Wahre im Himmel.« (HH 86.5)66. Und an einer anderen Stelle formuliert er das so: »Der Sohn von Ewigkeit war das Göttlich-Menschliche von Ewigkeit, und das war das hervorgehende Göttliche, aus dem der Himmel sein Dasein hat, also das Göttliche, das den Himmel formt.« (De Athanasii Symbolo 62). Der prominente neutestamentliche Hintergrund all dieser Formulierungen ist natürlich der Logos des Johannesevangeliums. Ihn berücksichtigt Swedenborg, indem er 64 65 66 Man beachte in diesem Zusammenhang auch Swedenborgs Äußerungen zur unio hypostatica in WCR 137 und EO 565. Einen ähnlichen Gedanken fand ich bei Jakob Lorber: »Da aber der Vater schon von Ewigkeit her wußte, was Er tun wird, so war ja der Gottmensch Jesus auch schon von Ewigkeit her ›im Vater‹, manifestierte Sich aber als ›Gottmensch‹ erst dann leibhaftig, da Sich der Vater Selbst offenkundig ausgesprochen hatte!« (Himmelsgaben Band 2, 27. April 1842, Abschnitt 10). In NJ 305 steht dieselbe Formulierung, jedoch mit einer Ausnahme: Statt »der Sohn Gottes« steht »das Göttlich-Menschliche«. S TREIFLICHTER 59 schreibt: »JHWH Gott kam als das göttliche Wahre, als der Logos, herab …« (WCR 85). Unter dem Logos ist das göttliche Wahre oder die göttliche Weisheit zu verstehen (WCR 85). Die traditionsgeschichtliche Analyse hat ergeben, dass der johanneische Logos über die alttestamentliche Sophia, das bedeutet Weisheit, bis zum Sprechen Gottes in Genesis 1 zurückreicht. Der Sohn von Ewigkeit ist so gesehen die Auswortung oder Ausformung des Unaussprechlichen, des Ewigen, des Namenlosen, er ist die Offenbarungsgestalt des unsichtbaren Gottes, die zugleich der Grund oder das Principium aller Dinge ist und somit eben auch der Grund der neuen Schöpfung. Wenn Swedenborg schreibt: »Das Wesen Gottes ist die göttliche Liebe und die göttliche Weisheit.« (Überschrift WCR 36-48), dann ist in dieser Aussage im Ansatz bereits wieder eine immanente Trinität enthalten.67 Swedenborg greift somit die Wahrheitsmomente der altkirchlichen Theologie auf. Es geht ihm bei seiner Neufassung der Trinitätslehre eigentlich nur um die Überwindung der äußerst missverständlichen Rede von drei göttlichen Personen.68 Aus alledem folgt, die neue Kirche verlässt das gemeinsame Fundament der alten Kirchen. Sie verlässt das Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum aus dem Jahre 381 nach Christus, »das bis in die Gegenwart hinein die ganze Christenheit eint wie kein zweites« (HDThG 1,209). Sie verlässt außerdem das Chalkedonense aus dem Jahre 451, das »für die orthodoxe, die katholische und die evangelische Kirche bis heute die verbindliche Lehrgrundlage bildet«69. Das neue Jerusalem wird auf einem neuen 67 68 69 Dieser Ansatz wird in den Neuoffenbarungen durch Jakob Lorber ausgebaut. Dort lesen wir beispielsweise : »Was und wer ist denn der Vater? Sehet und vernehmet: Die ewige Liebe in Gott ist der Vater! – Was und wer ist denn der Sohn? Was aus dem Feuer der Liebe hervorgeht, das Licht, welches da ist die Weisheit in Gott! Wie aber Liebe und Weisheit eines ist, so sind auch Vater und Sohn eins!« (GEJ 2,32,6). Daher kann Swedenborg ohne Bedenken schreiben: »Die Athanasische Glaubenslehre stimmt mit der Wahrheit überein, wenn man nur unter der Trinität der Personen eine Trinität der Person versteht, die im Herrn verwirklicht ist.« (Überschrift LH 55-61). Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Band 60 T HOMAS NOACK Fundament erbaut, auf der Erkenntnis der Einheit der Personen und Naturen im Kyrios Jesus Christus. 3.2. Die Überwindung des lateinischen Erbes 3.2.1. Begriffsbestimmung Das lateinische Erbe ist mit den Namen Augustin und Martin Luther verbunden. Inhaltlich stehen die Sünden- und Gnadenlehre Augustins, dem die Kirche den ehrenvollen Titel »doctor gratiae«, Lehrer der Gnade, verliehen hat, und die Rechtfertigungslehre Luthers zur Diskussion. Augustin führte das Thema Gnade als das eine neue große Dogma ein, »das die Lehrentwicklung der abendländischen Kirche vom griechischen Osten unterscheidet und an dem sich das Abendland in der Reformationszeit kirchlich spaltet.« (HDThG 1,446). Augustin fasste das spätantike Kulturerbe zusammen und wurde zur Grundlage für das frühmittelalterliche Geistesleben. Sein überragender Einfluss erstreckte sich bis in die Zeit der Reformation, indem Luther Augustin als kirchliche Autorität außerordentlich schätzte und sich bei seiner Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre an ihm orientierte.70 Gleichzeitig muss man sehen, dass sich Augustins Bedeutung auf die Westkirche beschränkte, im griechischen Osten hat er keine besondere Rolle gespielt. Daher können wir Augustin und selbstverständlich auch Luther als die beiden größten Repräsentanten des lateinischen Erbes ansehen. Anhand dieser beiden herausragenden Gestalten soll das Problem der abendländischen Gnadenlehre, des »allein aus Gnade« (sola gratia), dargestellt werden. In dem berechtigten Interesse, den Anfang oder das Principium des Heilsprozesses im Herrn zu 70 1, 1995, Seite 183. Siehe beispielsweise Bernhard Lohse: »Neben dem Ockhamismus hat die bei weitem größte Bedeutung für den jungen Luther sein Ordensvater Augustin gehabt. Luther selbst hat erklärt, daß er die Hochschätzung Augustins nicht seinem Orden (Augustiner-Eremiten, TN), sondern seinem eigenen Studium verdanke.« Lohse verweist auf WAB 1 Nr. 27,19-24 vom 19.10.1516 an Spalatin. (HDThG 2,3). S TREIFLICHTER 61 verankern, verstand man es nicht, den Menschen, der sich als freies, selbsttätiges Wesen empfindet, in diesen Prozess zu integrieren. 3.2.2. Biblische Grundlagen Die folgenden Bibelstellen richten unseren Blick auf einen scheinbar widersprüchlichen Befund. Der Erlanger Systematiker Friedrich Mildenberger hat ihn so beschrieben: »Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, wenn man einerseits den Menschen auffordert, sich für das Angebot des Evangeliums zu entscheiden, und ihm dann im zweiten Satz erklärt, dass er zu einer solchen Entscheidung nicht fähig ist.«71 Das sind zwar die Worte eines systematischen Theologen, gesprochen im Hinblick auf dogmatische Entwürfe, aber auch als Ausleger der Bibel kann den Finger auf diese Paradoxie der biblischen Botschaft legen. Wir wollen das tun, uns dabei aber auf das Neue Testament beschränken. Einerseits ruft es uns zur Tat auf. Nach Markus begann Jesus seine Verkündigung des Evangeliums Gottes mit den Worten: »Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um (tut Buße) und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15). Zwei Imperative! Der Mensch wird aufgefordert, umzukehren, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und der Guten Botschaft sein Vertrauen zu schenken. Die Bergpredigt beendet Jesus mit den Worten: »Jeder, der diese meine Worte hört und danach handelt, ist einem klugen Manne gleich, der sein Haus auf Fels gebaut hat.« (Mt 7,24). Hören und Handeln sind hier ebenso untrennbar miteinander verwoben wie in dem von Luther ungeliebten Jakobusbrief: »Seid aber Täter des Wortes, nicht bloss Hörer, die sich selbst betrügen.« (Jak 1,22). Im Bild vom Weltgericht (Mt 25,31- 46) spielt das Sola-fide keine Rolle, entscheidend sind die Werke. Und auch Paulus, der Kronzeuge der Rechtfertigungslehre, kennt das Gericht nach den Werken: »Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi erscheinen, damit ein jeder 71 Friedrich Mildenberger, Heinrich Assel, Grundwissen der Dogmatik: Ein Arbeitsbuch, 1995, Seite 150. 62 T HOMAS NOACK empfange, was seinen Taten entspricht, die er zu Lebzeiten getan hat, seien sie gut oder böse.« (2 Kor 5,10). »Denn nicht die, die das Gesetz hören, sind bei Gott gerecht, sondern diejenigen, die tun, was das Gesetz sagt, werden gerecht gesprochen werden.« (Röm 2,13). Nach dem Johannesevangelium gab der scheidende Jesus seiner Gemeinde ein neues Gebot mit auf den Weg: »Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger (Schüler) seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt.« (Joh 13,34). Darum gilt summa summarum: »Was nennt ihr mich Herr, Herr! und tut nicht, was ich sage?« (Lk 6,46). 72 Andererseits geht aus dem Neuen Testament ebenso deutlich hervor, dass der Mensch auf dem spirituellen Weg ganz und gar aus dem Herrn lebt. Aus eigener Kraft kommt er nicht wirklich voran, im Gehen bleibt er stehen. Johannes der Täufer sagte: »Keiner kann sich etwas nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist.« (Joh 3,27). Und Jesus belehrte seine Jünger mit dem Bildwort vom Weinstock und den Reben: »Bleibt in mir, und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich heraus keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr es nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.« (Joh 15,4f.) 73. Die geforderte Frucht ist nur aus dem Saft des göttlichen Geistes produzierbar, aus dem Pneuma. Bei Lukas finden 72 73 In HH 471 bietet Swedenborg eine Zusammenstellung von Bibelstellen, die zeigen sollen, »dass der Mensch nach seinen Taten und Werken gerichtet und belohnt wird«. Auch in WCR 483 bietet er eine Sammlung von Stellen, »die dem Menschen gebieten, Gottes Willen zu tun und zu glauben«. Die Verwurzelung der Werke »in Gott« taucht auch in dem johanneischen Wort über das Wesen des Gerichts auf: »Dies aber ist das Gericht: Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber tut, was der Wahrheit entspricht, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott (en theo) getan sind.« (Joh 3,19-21). S TREIFLICHTER 63 wir ein drastisches Wort über den Stand des Dieners: »So sollt auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch aufgetragen ist, sagen: Unnütze Knechte sind wir; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.« (Lk 17,10)74. Dogmengeschichtlich sind einige Äußerungen des Paulus sehr wirksam geworden: »Es liegt also nicht an jemandes Wollen oder Mühen, sondern an Gott, der sein Erbarmen zeigt.« (Röm 9,16). »Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, zu seinem eigenen Wohlgefallen.« (Phil 2,13). »So halten wir nun fest, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« (Röm 3,28). Eine erste Brücke über diese Schlucht möchte ich mit einem Wort aus der Offenbarung des Johannes bauen: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer immer auf meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich einkehren und das Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.« (Offb 3,20). Der Mensch kann hören und öffnen, er kann aufnehmen, er kann einlassen, er kann seinen Widerstand aufgeben. Aber was wäre das alles ohne die Anwesenheit des Herrn, ohne sein Bemühen um Einlass, ohne die Feier des gemeinsamen Mahles, aus der die Kräftigung zum Leben aus dem Geiste kommt? All das wäre eine Braut ohne Bräutigam, ein weißes Kleid ohne den Kuss aus dem Munde des Einen. Der Mensch ist die Schale, und allein der Herr tränkt sie. 3.2.3. Dogmengeschichtlicher Überblick Anhand der Sünden- und Gnadenlehre Augustins möchte ich das Problem im dogmatischen Erbe der lateinischen Kirche umreißen, das von einem neukirchlichen Standpunkt aus so formuliert werden kann: Wie verhalten sich die göttliche Einwirkung (operatio) und die menschliche Mitwirkung (cooperatio) zueinander? Bei der Beantwortung dieser Frage steht Augustins Konzeption 74 Bei Jakob Lorber lautet dieses Wort so: »Herr, nur Du hast das alles getan; wir aber waren aus unserm Selbstischen nur faule und unnütze Knechte!« (GEJ 6,144,5). 64 T HOMAS NOACK der Gnade im Mittelpunkt. Beginnen muss ich jedoch mit seiner Lehre von der Ursünde. Sie basiert auf einer Fehlübersetzung von Römer 5,12, in welcher der Adam des Paradieses als die umfassende Einheit verstanden wurde, »in dem alle gesündigt haben (in quo omnes peccaverunt)«. Heute übersetzt man die griechische Wendung, die in Augustins Bibel mit »in quo« wiedergegeben war, mit »weil«, so dass Römer 5,12 heute so lautet: »Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.« Für Augustin aber waren wir alle jener eine Adam und haben »in ihm« gesündigt. Das ist die Sünde in der Ursprungssituation unseres geschichtlichen Dasein, Augustin nennt sie »peccatum originale« (Ursünde oder Ursprungssünde). Adams Zustand vor dem Fall war durch den uneingeschränkten Gebrauch des liberum arbitrium gekennzeichnet, der freien Entscheidung des Willens für das Gute oder das Böse. Von ihm war das »posse non peccare« aussagbar, die Fähigkeit, nicht zu sündigen. Nach dem Fall aber ist von ihm nur noch das »non posse non peccare« aussagbar, die Unfähigkeit, nicht zu sündigen.75 Er unterliegt nun der »Notwendigkeit zu sündigen« (necessitas peccandi) 76. Und die Menschheit insgesamt ist nun »eine Masse der Verlorenheit« (massa perditionis) 77. Wir werden sehen, dass Swedenborg diesen anthropologischen Pessimismus in gewisser Weise teilt. Wir werden uns dann aber die Frage stellen müssen, 75 76 77 Das »posse non peccare« ist in De correptione et gratia 12,33 belegt : »Die erste Freiheit des Willens bestand also in der Fähigkeit, nicht zu sündigen (Prima ergo libertas voluntatis erat, posse non peccare)«. Und das »non posse non peccare« ist in De natura et gratia 49,57 belegt : »Deshalb aber ist uns die Fähigkeit, nicht zu sündigen, nicht eigen; und auch wenn wir den Wunsch hätten, die Unfähigkeit, nicht zu sündigen, zu erlangen, so könnte uns die Unfähigkeit, nicht zu sündigen, dennoch nicht zu eigen werden (Quia vero posse non peccare nostrum non est, et, si voluerimus non posse non peccare, non possumus non posse non peccare)«. Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 2: Die Dogmenbildung in der Alten Kirche, 1953, Seite 513. De gratia Christi et de peccato originali 2,29,34 S TREIFLICHTER 65 wie man von diesem sündhaften Haufen überhaupt noch eine Mitwirkung im Heilsgeschehen und somit einen freien Willen im religiösen, nicht bloß psychologischen Sinne aussagen kann. Augustin konzipierte die Gnade als den absoluten Anfang des Heilsprozesses. »Die Gnade ist voraussetzungslos und wird ohne Bedingungen gegeben: das ist der Kernsatz der augustinischen Gnadenlehre.«78 Die unbedingte Voraussetzungslosigkeit der Gnade kommt in ihrem Charakter als Geschenk zum Ausdruck. Die ebenso einprägsame wie berühmte Formulierung Augustins für diesen Sachverhalt lautet: »Gnade ist überhaupt keine Gnade, wenn sie nicht umsonst, das heißt ein Gnadengeschenk ist (Gratia vero, nisi gratis est, gratia non est)«79 Im Lateinischen liegt hier ein Wortspiel mit gratia und gratis (Gnade und umsonst) vor. Die unbedingte Voraussetzungslosigkeit der augustinischen Gnade zeigt sich auch darin, dass sie allen denkbaren ersten Schritten seitens des Menschen vorausgeht. So geht sie erstens dem Glauben voraus. Augustin schreibt gegen Ende seines Lebens rückblickend: »Ich dachte (früher) irrtümlich, dass der Glaube, durch den wir an Gott glauben, nicht ein Geschenk Gottes sei, sondern in uns durch uns selbst«80 Der Glaube also als Geschenk Gottes, gratis gegeben. So geht die Gnade zweitens auch jedem menschlichen Wollen voraus: »Gott selbst wirkt den Anfang, dass wir wollen, und wenn wir den Willen haben, vollendet er durch Mitwirken«81 »Denn wenn ›Es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen‹ nur deswegen gesagt ist, weil der Wille des Menschen allein nicht genügt, damit wir gerecht und richtig leben, es sei denn, uns würde durch das Erbarmen Gottes geholfen, dann kann man so argumentieren: Also liegt es nicht am Erbarmen Gottes, sondern am Wollen des Menschen, da das Erbarmen Gottes allein nicht genügt, wenn nicht die Zustimmung unseres Willens hinzukommt. Jedoch ist es klar, daß wir umsonst Wollen, wenn sich Gott nicht erbarmt; aber ich weiß nicht, wie man sagen könnte, 78 79 80 81 Alfred Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 1, 1985, Seite 271 Enchiridion 28,107; vgl. Retractationes I,9,4: gratia … gratis datur De praedestinatione sanctorum 3,7 De gratia et libero arbitrio 17,33 66 T HOMAS NOACK Gott erbarme sich umsonst, wenn wir nicht wollen. Wenn Gott sich nämlich erbarmt, wollen wir auch. Folglich fällt es auch unter das Erbarmen Gottes, daß wir wollen.«82 Die Gnade wird im Denken Augustins zu einem absolutistischen Gönner, für den die Menschen nur noch Spielfiguren sind im seinem Himmel-und-Hölle-Spiel. Der dunkle Schatten einer solchen Gnadenlehre ist die Prädestinationslehre. So ließ denn auch Augustin seine Gnadenlehre ganz in der Prädestinationslehre aufgehen.83 Gnade in ihrer vollkommenen Unverdientheit ist nichts anderes als Prädestination: »Zwischen Gnade und Prädestination besteht nur dieser Unterschied, daß die Prädestination die Vorbereitung der Gnade, die Gnade aber das Geschenk selbst ist (Inter gratiam porro et praedestinationem hoc tantum interest, quod praedestinatio est gratiae praeparatio, gratia vero iam ipsa donatio).«84 Im 16. Jahrhundert entbrannte erneut ein Streit um die Gnade. Im Mittelpunkt diesmal stand der Wittenberger Theologieprofessor und Augustiner Martin Luther. Im Zusammenhang seiner Lehre von der Rechtfertigung des Menschen sola gratia (allein aus Gnade), sola fide (allein durch den Glauben) begegnen uns erneut die augustinischen Elemente, der Geschenkcharakter der Gnade, die Aufhebung des freien Willens und die Prädestinationslehre. In seinem Selbstzeugnis von 1545 charakterisiert Luther die »Gerechtigkeit Gottes«, die passive, die rechtfertigende, als »das Geschenk der Gnade Gottes«: »Ich begann, die Gerechtigkeit Gottes als die zu verstehen, in der der Gerechte durch das Geschenk der Gnade Gottes lebt, nämlich aus Glauben, und dass die Meinung diese ist: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, nämlich die ›passive‹ Gerechtigkeit, durch welche uns der barmherzige Gott durch den 82 83 84 De diversis quaestionibus ad Simplicianum I q. II 12 »Die konsequente Betonung der Notwendigkeit des ›Geschenks des Beharrens‹ sowie auch die Auffassung über die Unfreiheit des Willens zeigen, daß Augustins Gnadenlehre mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit zur Prädestinationslehre weiterentwickelt werden mußte.« (Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, 1986, Seite 119f.). De praedestinatione sanctorum 10,19; HDThG 1,461 S TREIFLICHTER 67 Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: der Gerechte lebt aus Glauben.«85 Starke Gnade verursacht Auszehrung des freien Willens. Diesem Gesetz konnte sich auch Luther nicht entziehen. Es blieb dem Humanisten Erasmus von Rotterdam vorbehalten, »alle zweitrangigen Fragen beiseite zu lassen und ausschließlich das Problem von Gnade und Willensfreiheit zu erörtern, von dem auch Luther der Meinung war, daß es sich hier um den Kern der Dinge handle.« (HDThG 2,34). In der Auseinandersetzung mit Erasmus lehnt Luther jegliche Freiheit des Willens ab. Er verglich in Aufnahme und Abwandlung eines alten Bildes den menschlichen Willen mit einem Lasttier: »Wenn Gott darauf sitzt, will es und geht es, wohin Gott will … Wenn Satan darauf sitzt, will es und geht es, wohin Satan will, und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, es festzuhalten und in Besitz zu nehmen.«86 Und so ist es denn auch keine Überraschung mehr, dass Luther in »De servo arbitrio« »eine schroffe Prädestinationslehre« vertreten hat.87 Obwohl es infolge der Reformation zur Kirchenspaltung im lateinischen Westen gekommen ist, kann man doch einen Solagratia- Konsens im katholisch - evangelischen Erbe feststellen. Zu diesem Ergebnis kam schon Swedenborg (KD 19), und das hat auch die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« 85 86 87 Martin Luther, Vorrede zum 1. Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545), in: WA 54, 186, 5-13. Im »Selbstzeugnis« äußert Luther auch, dass er nach seiner Entdeckung Augustins Schrift »De spiritu et littera« gelesen und dort wider Erwarten gefunden habe, dass Augustin die Gerechtigkeit Gottes ähnlich versteht (HDThG 2,20). WA 18,635,17-22, zitiert nach HDThG 2,38. »Luther hatte vor allem in ›De servo arbitrio‹ einerseits vor der Beschäftigung mit den Geheimnissen der Gottheit gewarnt, andererseits jedoch eine schroffe Prädestinationslehre vertreten …« (HDThG 2,134). »Die Verbindung der Gnade mit dem Alles-Wirken Gottes bildet den Ausgangspunkt für die vor allem in ›De servo arbitrio‹ dargelegten Gedanken Luthers über die Prädestination.« (Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie: Ein Abriß, 1993, Seite 179). 68 T HOMAS NOACK klargestellt, die am 31. Oktober 1999 von Kardinal Cassidy, dem Präsidenten des Rates für die Einheit der Christen, und Bischof Krause, dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, unterzeichnet wurde. Diese Erklärung zählt zu den maßgeblichsten Fortschritten der Ökumene in der jüngsten Vergangenheit. Darin bekennen beide Kirchen gemeinsam: »Es ist unser gemeinsamer Glaube, daß die Rechtfertigung das Werk des dreieinigen Gottes ist. Der Vater hat seinen Sohn zum Heil der Sünder in die Welt gesandt. Die Menschwerdung, der Tod und die Auferstehung Christi sind Grund und Voraussetzung der Rechtfertigung. Daher bedeutet Rechtfertigung, daß Christus selbst unsere Gerechtigkeit ist, derer wir nach dem Willen des Vaters durch den Heiligen Geist teilhaftig werden. Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.« Der dogmengeschichtliche Überblick mündet in die Erkenntnis eines Gesetzes: Immer dann, wenn das ganze Gewicht auf das Werk Gottes gelegt wird, wird das Tun des Menschen unwichtig. Entweder Gnade oder Freier Wille, entweder Erlösung durch Jesus Christus oder Moralismus. Angesichts dieser anscheinend unentrinnbaren Alternative interessiert uns nun Swedenborgs Aufarbeitung des lateinischen Erbes. 3.2.4. Neukirchliche Akzente Swedenborg geht in Bezug auf den Menschen von ähnlichen Voraussetzungen aus wie die Erbsündenlehre. Der Mensch an sich ist nichts als böse. »Der Mensch aus sich (homo ex se) ist nichts als böse.« (HG 8480). »Der Mensch aus sich (homo ex se) ist eine Hölle.« (HG 9937). »Das Eigene (= die Ichstruktur) des Menschen (proprium hominis) ist nichts als böse.« (HG 8943). »Denn es ist sein Erbböses (malum hereditarium).« (HH 558). »Der ganze Mensch (totus homo) ist aus lauter Begierden und infolgedessen auch aus lauter Falschheiten zusammengesetzt.« (HG 59). »Der Mensch ist nichts als böse, er ist S TREIFLICHTER 69 eine Zusammenballung von Bösem (congeries malorum), sein ganzer Wille ist nur böse.« (HG 987). 88 Swedenborg hat die Idee einer »Erbsünde« im Prinzip übernommen. Das belegen Aussagen wie die folgende: »In der Kirche weiß man (in ecclesia notum est), dass jeder Mensch mit dem Hang zum Bösen geboren wird, weshalb er vom Mutterleib an nichts als böse ist.« (WCR 520). Swedenborg hat an der herkömmlichen Erbsündenlehre allerdings ein paar bedeutsame Korrekturen vorgenommen. Diese macht man sich am besten anhand des terminologischen Wechsels klar, der darin besteht, dass Swedenborg statt von »peccatum originale« (Ursünde) von »malum hereditarium« (Erbböse) spricht.89 Der Wechsel von »Sünde« auf »das Böse« hängt mit dem Tatcharakter von Sünde zusammen: »Sündigen bedeutet das Böse und Falsche mit innerer Beteiligung und aus dem Willen tun und denken« (HG 8925). Mit dem Erbbösen hingegen ist die Vorstellung des Tuns nicht unmittelbar verbunden: »Nur wenige wissen, was das Erbböse ist. Man meint, es sei das Tun des Bösen, es ist aber das Wollen und von daher das Denken des Bösen.« (HG 4317). Das Böse und die Sünde sind also unterschieden wie Potentialität und Aktualität.90 Deswegen 88 89 90 Dieser anthropologische Pessimismus kommt beim »modernen« Menschen natürlich nicht gut an. Er hört lieber, was ihm Arno Plack im Geiste Rousseaus sagt: Die Gesellschaft sei das Böse, sie entstelle den Menschen, mache ihn krank und aggressiv. Daher müsse sie so verändert werden, dass sich die ursprüngliche Natur des Menschen, »die ja nicht böse sein kann«, ungehinderter als jetzt entfalten kann (vgl. Die Gesellschaft und das Böse, 1977, Seite 339). Der Auslagerung des Bösen aus dem anthropologischen in den soziologischen Raum entspricht es, dass »böse« als Urteil über Menschen vermieden wird. Die Baseler Philosophieprofessorin Annemarie Pieper stellt fest: »Es fällt auf, dass wir in unseren alltagssprachlichen Urteilen über Menschen und Handlungen das Wort böse selten verwenden. Stattdessen sagen wir lieber, X habe falsch gehandelt, oder schreiben Z einen schlechten Charakter zu.« (Gut und Böse, 2002, 11). Von »peccatum orginale« spricht er nur, wenn er sich auf die Tradition bezieht. Möglicherweise ist selbst den Übersetzern Swedenborgs dieser Unterschied nicht genügend bewusst. In WCR 469 beispielsweise übersetzte Friedemann Horn Malum haereditarium mit Erbsünde. In HG 2308 unterscheidet Swedenborg das »malum hereditarium (das angeborene Böse)« vom »malum actuale (das tatsächliche Böse)«. Und in WCR 70 T HOMAS NOACK wird auch niemand aufgrund des angeborenen Bösen zur Verantwortung gezogen: »Niemand erduldet im anderen Leben wegen seines Erbbösen eine Strafe oder Qual, sondern wegen des Tatbösen (actualia mala), das er selbst begangen hat.« (HG 966).91 Der Wechsel von »originale« auf »hereditarium« ist ebenfalls leicht nachvollziehbar. Da der Adam der Genesis für Swedenborg nicht der erste Mensch war, sondern die älteste Kirche, konnte er die Sünde natürlich nicht auf eine Tat des ersten Menschen zurückführen. Gleichwohl lehrt auch Swedenborg, dass das angeborene Böse über die Eltern, die Großeltern usw. in einer langen Kette bis auf fernste Vorfahren zurückgeht. »Bezüglich des Erbbösen glaubt man heutzutage in der Kirche, dass es von dem ersten Elternpaar herkomme … Aber die Sache verhält sich nicht so. Das Erbböse hat seinen Ursprung vielmehr bei den eigenen Eltern, den Großeltern, den Urgroßeltern und so weiter.« (HG 4317, vgl. auch HG 3701). Swedenborg setzt also in der Gegenwart ein und geht von da aus zurück. Herkömmlicherweise setzt man in der Vergangenheit bzw. im Garten Eden ein, von wo aus die Ursünde durch alle Zeiten und Generationen weitergegeben wird. Doch auch Swedenborg kommt mit seiner Betrachtungsweise letztlich in einer Urzeit an, in der Zeit der ältesten Kirche.92 Dort ist die Verdorbenheit des menschlichen Willens entstanden. Seiner Exegese der Urgeschichte der Genesis entnehmen wir das folgende Bild. Am Ende der mythischen Zeit der ältesten Kirche wandelte sich der Wille (voluntas) in Begierde (cupiditas), siehe HG 105, 585, 652. Die obige Aussage, nach welcher der Mensch aus sich nichts als böse ist, muss man daher präzisieren. Sie betrifft 91 92 521 heißt es: Das Erbböse ist nicht »das Böse, das der Mensch tatsächlich (actualiter) begeht, sondern die Neigung (inclinatio) dazu«. Das könnte Konsequenzen im Hinblick auf die Praxis der Kindertaufe in der Neuen Kirche haben. Johann Adam Möhler (1796 -1838) hat im Paragrafen 79 seiner Symbolik eine Kritik der swedenborgschen Lehre vom Erbbösen vorgetragen. Da auch Swedenborg die Vererbung des Bösen von den Eltern auf die Kinder lehre, müsse auch er ihren ersten Ursprung letztlich in Adam sehen, und zwar unabhängig davon, ob Adam eine Person oder ein Kollektiv sei. Das oben Gesagte kann als Antwort auf Möhler gesehen werden. S TREIFLICHTER 71 genau genommen den menschlichen Willen, die Wallungen seines Verlangens (cupiditas): »Der Mensch ist nichts als böse, er ist eine Zusammenhäufung von Bösem, sein ganzer Wille ist weiter nichts als böse.« (HG 987). »Das Wollen des Menschen oder sein Wille ist nichts als böse.« (HG 999). Mit dem Wechsel von »Sünde« auf »das Böse« ist die Lokalisation des angeborenen Übels in der Hemisphäre des Wollens verbunden. In diesem Bereich ist der Mensch durch und durch korrumpiert. In dem anderen Bereich seines Humanums, dem der intellektuellen Ansprechbarkeit, ist der Mensch aber noch relativ intakt. Deswegen kann er über den Intellekt ein neues Denken aufnehmen und zu einem vom Verstand geformten Willen gelangen. Für diese Möglichkeit der Erneuerung hat Swedenborg den Begriff »reformatio« geprägt, Umgestaltung der menschlichen Persönlichkeit durch den Verstand. Deswegen gibt es das Wort, damit uns Gott auf diesem Wege im Wort entgegenkommen kann. Zur Erläuterung dieser Neugestaltung (reformatio) aus dem Verstand mögen die folgenden Stellen dienlich sein: »Im Menschen gibt es zwei Leben, das eine ist das des Willens, das andere das des Verstandes. Zu zwei Leben werden diese beiden, wenn kein Wille mehr da ist, sondern stattdessen Begierde (cupiditas). Dann ist es der andere oder intellektuelle Teil, der dann umgestaltet werden kann (potest reformari) und durch ihn kann dem Menschen später auch ein neuer Wille (nova voluntas) gegeben werden. So bringen diese beiden (der reformierte Verstand und der intellektuelle Wille) am Ende doch wieder ein einheitliches Leben zustande, nämlich dasjenige der geistigen Liebe (charitas) und des Glaubens.« (HG 652). »Das Böse, in das der Mensch hineingeboren wird, ist dem Willen seines natürlichen Menschen eingepflanzt. Und dieser Wille möchte den Verstand zu seinem Erfüllungsgehilfen machen, so dass er in Übereinstimmung mit ihm denkt. Deswegen (weil der Wille böse ist) kann der Mensch nur durch den Verstand als durch die Mittel-Ursache wiedergeboren werden.« (WCR 587). Swedenborg bestätigt die kirchliche Lehre, nach der allein der Herr die Wiedergeburt bewirkt: »In der Kirche weiß man, obgleich es nur wenige glauben, dass allein vom Herrn die gesamte Wiedergeburt oder das neue Leben und somit das Heil stammt.« (HG 72 T HOMAS NOACK 2343). »Die neue Schöpfung oder Wiedergeburt ist allein des Herrn Werk« (HG 88). Das Negativ des Solus Dominus ist die Aussage, dass der Mensch das Gute und Wahre nicht selber produzieren oder irgendwie durch sein Tun herstellen kann. »Alles Gute der Liebe und alles Wahre des Glaubens kommt vom Herrn, und rein gar nichts davon vom Menschen« (HG 9415). »Aus sich selbst kann niemand Gutes tun.« (HG 105). »Das wurde gesagt, damit man nicht glaube, der Mensch steige aus eigener Kraft zu Gott auf. Vielmehr geschieht es durch den Herrn.« (GLW 68). Während der Herr die Sonne des inneren Lebens ist, das aktive, gebende Lebenszentrum, ist der Mensch ganz und gar nur »ein aufnehmendes Gefäß des Lebens von Gott (receptaculum vitae a deo)« (WCR 470). Swedenborg betont stets die reine Rezeptivität des Menschen. Mit Blick auf den von Augustin hergestellten Zusammenhang von gratia und gratis (Gnade und umsonst) ist es bemerkenswert, dass auch nach Swedenborg dem Menschen alles umsonst gegeben wird: »Unter den ›Armen‹ werden im Wort die verstanden, die geistig so beschaffen sind, die nämlich wissen und mit ihrem Herzen bekennen, dass sie nichts Wahres und Gutes von sich aus haben, sondern dass ihnen alles umsonst (gratis) geschenkt wird« (HG 5008). »Die Gaben und Geschenke, so heißt es, wurden dem JHWH dargebracht, obgleich JHWH, das heißt der Herr, keine Gaben oder Geschenke annimmt, sondern sie jedem umsonst (gratis) gibt. Gleichwohl will er, dass sie vom Menschen wie von ihm selbst (sicut ab ipso) kommen, wenn er nur anerkennt, dass sie nicht von ihm, sondern vom Herrn sind« (HG 9938). Der Begriff »Gnade« steht bei Swedenborg allerdings nicht so sehr im Mittelpunkt wie in der Tradition. Zu seinem Bild vom Menschen, in dem Termini wie »receptaculum« (das Aufnehmende) oder »vas« (Gefäß) dominieren, passt der Begriff »Einfluss« (influxus) bedeutend besser.93 Dennoch begegnet uns bei ihm Gnade 93 »Der Mensch ist nichts anderes als ein Organ (organum) oder Gefäß (vas), welches das Leben vom Herrn aufnimmt (recipit).« (HG 3318). »Der Mensch ist nicht das Leben, sondern eine aufnehmende Form (receptaculum) des Lebens von Gott« (WCR 470-474). »Der Einfluss (influxus) vom Herrn geht durch den inneren Menschen in den äußeren« (NJ 47). S TREIFLICHTER 73 und zwar mit einer spezifischen Bedeutung, die sie im Wortpaar Gnade und Barmherzigkeit erhält. Gnade ist das unverdiente Angebot der göttlichen Weisheit für die gefallene Welt und Barmherzigkeit das unverdiente Angebot der göttlichen Liebe für sie. Weisheit oder Licht und Liebe oder Wärme sind in der Wahrnehmung der erlösungsbedürftigen Menschen reine Gnade und pure Barmherzigkeit.94 Was wäre das Gefäß, wenn es nichts gäbe, das ihm die Erfüllung seines Schreis nach Leben schenken könnte? Der Herr als die Fülle und ihm gegenüber der Mensch als die reine Empfänglichkeit, diese Anschauung schließt bei Swedenborg keineswegs die Vorstellung einer menschlichen Mitwirkung aus.95 »Was soll die göttliche Einwirkung (operatio) im Inneren sein ohne die Mitwirkung (cooperatione) des Menschen im Äußeren wie von sich aus (sicut ab illo)?« (EO 451). »Die neue Geburt oder Schöpfung wird unter Mitwirkung des Menschen (cooperante homine) allein vom Herrn bewirkt, und zwar durch die Nächstenliebe und den 94 95 »›Gnade‹ bezieht sich auf die geistigen Dinge (spiritualia), die Sache des Glaubens oder des Verstandes sind … ›Barmherzigkeit‹ hingegen auf die himmlischen Dinge (caelestia), die Sache der Liebe oder des Willens sind« (HG 598). Auch bei Jakob Lorber wird Gnade auf das Licht (das Geistige) bezogen: »Darum gebe ich aller Liebe zu Mir nach dem Grade ihrer Größe auch alsogleich den gerechten Anteil des Lichtes hinzu, und das ist ein Geschenk und heißt Gnade« (HGt 1,4,7). Bernhard Lohse beschreibt demgegenüber die Position Martin Luthers so: »Luther hatte zeitlebens, wenn auch nicht immer so schroff wie in ›De servo arbitrio‹, herausgestellt, daß Gott alles in allem wirkt, daß der Glaube nicht menschliche Leistung, sondern göttliche Gabe ist und daß deshalb die Bekehrung des Menschen allein Gottes Werk ist. Das radikale Sündenverständnis schloß für Luther die Vorstellung einer menschlichen Mitwirkung aus, obwohl Luther die Beteiligung des Menschen, sofern dieser eben dabei sein muß, und in genau eingegrenztem Sinne auch ein Zusammenwirken zwischen Gott und Mensch durchaus vertreten hat.« (HDThG 2,121). Vgl. hierzu Martin Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, BFChTh 50, 1962. Swedenborg stimmt dem ersten Teil dieser Aussage zu (Gott wirkt alles in allem), erst im zweiten, die Mitwirkung betreffenden Teil trennen sich die Wege. Aus reformatorischer Perspektive wird man Swedenborg Synergismus vorwerfen und in ihm, dem Sohn der evangelisch-lutherischen Kirche Schwedens, nur einen Semilutheraner erblicken können. 74 T HOMAS NOACK Glauben als die beiden Mittel.« (Überschrift WCR 576-578). »Der Glaube der neuen Kirche lehrt die Buße, Umbildung, Wiedergeburt und somit die Vergebung der Sünden unter Mitwirkung des Menschen (cooperante homine)«. (WCR 647). »Glaube, dass der Mensch in den Angelegenheiten des Glaubens wie aus sich selbst heraus (sicut a se ipso) wirkt und mitwirkt (operetur et cooperetur), und dass der Akt des Glaubens ohne diese Mitwirkung … nichts weiter ist als das zur Salzsäule erstarrte Weib Lots« (EO 484). Das Zusammenwirken des Menschen mit dem Kyrios ist ein komplexes Geschehen. Grundsätzlich sind zwei Komponenten zu unterscheiden, eine verneinende und eine bejahende. Die verneinende, das Fundament legende ist »die Umkehr oder Abkehr von den (spirituell) toten Werken« (Hebr 6,1). Das griechische Wort im Grundtext ist »metanoia« und bedeutet Sinnesänderung. Der Mensch muss seine Ich- und Weltsucht zunächst einmal als krankhaft anerkennen, er muss sich in Abstinenz üben und seine Lebensführung ändern. Das ist der erste Schritt, die sogenannte Buße, ein Wort, das in seiner eigentlichen Bedeutung allerdings kaum noch verständlich ist. »Die Buße ist das Erste der Kirche (primum ecclesiae) beim Menschen« (Überschrift WCR 510-511). »Das Sich-Distanzieren vom Bösen ist der Macht des Menschen überlassen (desistere a malis juri hominis relictum est). Und wenn er davon absteht, dann kommt die wechselseitige Verbindung des Wahren des Glaubens mit dem Guten der Liebe zustande, und zwar vom Herrn her und keineswegs vom Menschen« (HG 10067). »Das Sich-Distanzieren vom Bösen und Falschen« ist gleichbedeutend mit »Buße tun« (OE 165). Swedenborg verweist in diesem Zusammenhang auf die zweite Tafel der Zehn Gebote, die nur Verbote enthält (du sollst nicht …).96 Daraus schließt er, dass dem Menschen weniger die Fähig96 »Auf der anderen Tafel, die für den Menschen ist, heißt es nicht, dass er dieses oder jenes Gute tun soll, es heißt vielmehr, dass er dieses oder jenes Böse nicht tun soll.« (LL 58). »Auf der einen Tafel waren die Gebote der Liebe zum Herrn geschrieben, auf der anderen die Gebote der Liebe gegen den Nächsten. Drei Gebote beziehen sich auf die Liebe zum Herrn, und die sechs letzten auf die Liebe gegen den Nächsten; das vierte aber, welches heißt: ›Ehre Vater und Mutter‹, ist das vermittelnde Gebot, denn unter dem Vater wird der Vater im Himmel verstanden, und unter der Mutter die Kirche, die der S TREIFLICHTER 75 keit eigen ist, das Gute zu tun, denn das ist eine Schöpfung Gottes im Menschen, wohl aber die Fähigkeit, das Böse seiner egoistischen Wesensart nicht zu praktizieren. Dieser Ansatz prägt auch Swedenborgs Lebenslehre, denn ihre einleitenden drei Grundsätze lauten: 1. »Alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebens, und gelebte Religion besteht im Tun des Guten.« (LL 1-8). 2. »Niemand kann Gutes, das wirklich gut ist, aus sich heraus tun.« (LL 9-17). 3. »Inwieweit der Mensch aber vor dem Bösen flieht, und zwar weil es Sünde ist, insoweit tut er das Gute nicht aus sich, sondern aus dem Herrn.« (LL 18-31). Das Gute ist also nie ein unmittelbarer, sondern immer nur ein mittelbarer Entwurf. Deswegen ist die spirituelle Waschung die notwendige Voraussetzung für den Erwerb des leuchtenden Gewandes.97 Die bejahende Komponente besteht in der »Übung der Liebe« (exercitio charitatis, HG 5828, OE 822) auf der Grundlage eines entwickelten Glaubens. Die »charitas« ist im Unterschied zu »amor«, der himmlischen oder flammenden Liebe des Herzens, eine auf Überzeugungen oder Werte basierende, kühlere Liebe, eine geistige Liebe. Dieses dem verinnerlichten Glauben entspringende, reflektierte Wohlwollen drängt nach einer Tatgestalt, das heißt will sich in Werken oder werktätig verwirklichen (HG 997). Der Herr kommt dem äußeren Menschen durch das äußere Wort entgegen. Daher können wir in der äußeren Schriftoffenbarung den Beginn des Heilsweges erblicken, auf dem der Mensch zunächst allem Anschein nach aus eigener Kraft unterwegs ist. Schon Paulus schrieb der römischen Gemeinde: »Also kommt der Glaube aus dem Gehörten, das Gehörte aber durch das Wort Christi.« (Röm 10,17). Nach Swedenborg geschieht die Vorbereitung durch den Erwerb von Kenntnissen über Gott und die göttlichen Dinge: »Nach der göttlichen Ordnung soll sich der Mensch selber zur Aufnahme Got- 97 Nächste ist.« (OE 1026). Vgl. Offb 7,14 und 22,14. Die Reinigung als Voraussetzung für die höheren Stufen ist altes mystisches Wissen. Dionysius Areopagita kennt den dreifachen Aufstieg mit den drei Schritten Reinigung (katharsis), Erleuchtung (photismos) und Vollendung (teleiosis). Siehe Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Band 1, 2001, Seite 54. 76 T HOMAS NOACK tes vorbereiten, und je wie er das tut, geht Gott in ihn ein wie in seine Wohnstätte und sein Haus. Die Vorbereitung (praeparatio) erfolgt durch die Kenntnisse über Gott und über die geistigen Dinge der Kirche (per cognitiones de Deo et de spiritualibus quae ecclesiae) und somit durch Einsicht und Weisheit.« (WCR 89). Die Glaubensüberzeugungen wollen freilich nicht in sich selbst zirkulieren, sondern in den Geist und schließlich in die Tat der Liebe übergehen. So ist die bejahende Komponente am Ende als ein spirituelles Viergestirn beschreibbar, bestehend aus dem Kyrios, dem Glauben, der Nächstenliebe und den guten Werken: »Jeder Christ, der das Wort eifrig durchforscht, weiß, anerkennt und sieht, dass Gott, die Nächstenliebe und der Glaube die drei kirchlichen Universalien sind, weil sie die universellen Heilsmittel (media salutis) sind.« (WCR 722). Zu diesen dreien tritt abschließend die Erdung durch die Werke hinzu: »Nächstenliebe und Glaube sind in den guten Werken beisammen.« (Überschrift WCR 373-377). Das Begriffspaar Einwirkung und Mitwirkung (operatio und cooperatio) steht mit einem anderen Begriffspaar in einem inneren Zusammenhang, nämlich mit Einfluss und Ausfluss (influxus und effluxus). Und mit der Vorstellung eines Einflusses ist dann natürlich aufs Engste diejenige vom Menschen als einem »Organismus zur Aufnahme des Lebens (organum recipiens vitae)« (EO 875) verbunden. Das Humanum als solches wird in dieser Schau also auf die totale Rezeptivität beschränkt, wobei diese Beschränkung andererseits totale Offenheit bis hin zur Empfängnis des Göttlichen in der Gestalt des Göttlich-Menschlichen bedeutet.98 98 »Adam«, das hebräische Wort für Mensch, wird im sogenannten zweiten Schöpfungsbericht, Genesis 2, mit »Adamah«, dem hebräischen Wort für Erdboden, in Verbindung gebracht. Gleiches gilt für die lateinische Sprache, in der homo (Mensch) und humus (Erdboden) aufeinander bezogen sind. Mit dem Erdboden ist die Vorstellung des Aufnehmens untrennbar verbunden: »Der Erdboden (humus) ist das Aufnehmende (receptaculum) des Wahren« (HG 6135). Das heißt: Der Mensch kommt zu sich selbst, zur reinsten und höchsten Erkenntnis seiner selbst, wenn er sich in seiner totalen Rezeptivität erkennt. Zu homo (Erdling) und humus (Erdboden) muss noch humiliatio hinzugefügt werden, die verinnerlichte Anerkennung, ein irdischrezeptives Gebilde zu sein. Swedenborg fasst das Wesen der humiliatio so: »Die demütige Erniedrigung (humiliatio) besteht darin, dass das Erdgebilde Mensch anerkennt, dass es als solches nichts Lebendes und nichts Gutes S TREIFLICHTER 77 Zum Zusammenspiel von Einfluss und Ausfluss teilt uns Swedenborg das Folgende mit: »Ein allgemeingültiges Gesetz besagt, dass sich der Einfluss (influxus) nach dem Ausfluss (effluxus) richtet und dass, wenn der Ausfluss gehemmt wird, auch der Einfluss gehemmt wird. Durch den inneren Menschen findet der Einfluss des Guten und Wahren vom Herrn statt. Durch den äußeren soll der Ausfluss stattfinden, und zwar in das Leben, das heißt in die Übung der praxisorientierten Liebe (exercitio charitatis). Wenn dieser Ausfluss erfolgt, dann ist auch ein unaufhörlicher Einfluss vom Himmel vorhanden, das heißt durch den Himmel vom Herrn. Wenn aber dieser Ausfluss nicht erfolgt, wenn stattdessen im äußeren oder natürlichen Menschen ein Widerstand vorliegt, das heißt Böses und Falsches, welches das einfließende Gute zerreißt und auslöscht, dann folgt aus dem oben erwähnten allgemeingültigen Gesetz, dass sich der Einfluss nach dem Ausfluss richtet, dass sich also der Einfluss des Guten zurückzieht und somit das Innere, durch das dieser Einfluss hindurchgeht, verschlossen wird.« (HG 5828)99. 99 hat, sondern alles bei ihm Totes, ja Leichenartiges ist, und dass es dann auch anerkennt, dass vom Herrn alles Lebende und alles Gute kommt« (HG 1153). So verstanden ist die demütige Selbsterniedrigung »der Inbegriff der Kultivierung des Göttlichen (essentiale cultus Divini)« (HG 8275). Der scholastische Mystiker Meister Eckehart stellte einen ähnlichen Zusammenhang her: »›Mensch‹ in der eigenen Bedeutung des Wortes im Lateinischen bedeutet in einem Sinne den, der sich mit allem, was er ist und was sein ist, unter Gott beugt und fügt und aufwärts Gott anschaut, nicht das Seine, das er hinter, unter, neben sich weiß. Dies ist volle und eigentliche Demut; diesen Namen hat er von der Erde.« (EQ 145,31ff.). Auch bei Jakob Lorber erscheint die Demut, die dienende Gesinnung, als die dem Wesen des Menschen am meisten entsprechende Haltung und somit als der Inbegriff dessen, was der Mensch imstande ist, Gott zu geben: Die Demut ist »jedes Menschen Eigentum«. »Diese kann und darf Ich niemandem geben, sondern … nur lehren und begehren. Das ist der Acker, da Ich ernten will, da Ich nicht säe und den eigentlichen Samen streue in das Erdreich – und doch ernten will! Die Demut ist das einzige, das ihr Mir geben könnet, ohne es eigentlich vorher von Mir empfangen zu haben.« (HGt 2,11,10-12). Vgl. auch die schöne Formulierung: »Das Göttliche fließt nicht weiter ein, als der Mensch den Weg ebnet oder die Tür öffnet.« (WCR 34). Oder: »Es ist ein Gesetz der Ordnung, dass Gott insoweit an den Menschen herantritt und sich ihm nähert, inwieweit der Mensch seinerseits an Gott herantritt und sich ihm nähert, was er ganz wie von sich aus (sicut a se) tun soll. In der Mitte des Weges verbindet Gott sich dann mit ihm.« (WCR 89). 78 T HOMAS NOACK Das Gesetz vom Ein- und Ausfluss veranschaulicht uns auf seine Weise noch einmal, dass der Mensch aus sich nichts tun kann. Denn einen Ausfluss ohne einen Einfluss kann es nicht geben. Der Mensch kann nur »aus sich vom Herrn her (ex se a Domino)« (WCR 505) wirken. Andererseits braucht es aber bei gegebenem Einfluss auch den Ausfluss, weil nur dadurch das Göttliche zu einem Bestandteil der Erfahrungswelt des äußeren Menschen wird. Aus all dem geht nun hervor, dass Swedenborg zwar eine Mitwirkung seitens des Menschen lehrt, einen Synergismus, dass dieser aber die Alleinwirksamkeit des Herrn, das Solus Dominus, keineswegs aufhebt oder beeinträchtigt. Denn der Mensch wirkt zwar, aber nur »wie aus sich (sicut ex se)«. »Der Herr will, dass sich der Mensch aus sich heraus des Bösen enthält und Gutes tut, nur soll er glauben, dass die Fähigkeit, das zu tun, nicht von ihm, sondern vom Herrn stammt. Denn der Herr will, dass seitens des Menschen eine Aufnahme stattfindet, die aber nur möglich ist, wenn der Mensch wie aus sich (sicut ex se) tätig ist, obgleich er es in Wahrheit aus dem Herrn ist. Auf diese Weise wird der Mensch mit einem wechselseitigen Vermögen (reciprocum) ausgestattet, welches sein neuer Wille ist.« (OE 248). »Der Mensch soll nichts anderes empfinden, wahrnehmen und wissen, als dass das Leben in ihm sei und dass er somit aus sich heraus (ex se) denke und wolle und dann auch rede und handle. Gleichwohl soll er aber anerkennen und glauben, dass das Wahre seines Denkens und Redens und das Gute seines Wollens und Tuns in Wahrheit aus Gott kommt und somit nur dem psychologischen Anschein nach aus ihm selbst (quod vera … ac bona … sint ex Deo; ita sicut ex se)« (OE 1136). Swedenborg unterscheidet die »causa principalis«, die grundursächliche oder schlechterdings grundlegende Ursache, und die »causa instrumentalis«, die werkzeugliche oder verwirklichende Ursache.100 Und im Anschluss daran macht er darauf aufmerk100 In der Neuoffenbarung durch Jakob Lorber werden, den zwei Ursachen Swe- denborgs vergleichbar, »zwei Gefühle« unterschieden: »So wir aber diesen Umstand näher betrachten, so ergibt es sich, daß sich in den geschaffenen Wesen notwendig zwei Gefühle begegnen müssen, und zwar erstens und zunächst das Gefühl der göttlichen Ebenmäßigkeit oder des Urlichtes Gottes S TREIFLICHTER 79 sam, dass die verwirklichende Ursache ganz und gar unter dem Eindruck lebt, die grundlegende oder eigentliche Ursache zu sein. Das ist ein psychologisches Erleben, das aber nicht das tatsächliche Verhältnis abbildet. Solche Scheinwahrheiten gibt es überall in der phänomenologischen Welt. Das eindrücklichste Beispiel ist vielleicht der tägliche Aufgang der Sonne, der ebenfalls nicht das tatsächliche Verhältnis abbildet, gleichwohl aber unsere irdische Lebenswirklichkeit bestimmt. Diese beiden Ursachen verschmelzen im menschlichen Erleben gleichsam zu einer einzigen Ursache, weswegen es so schwer ist, das tatsächliche Verhältnis begrifflich aufzuklären101. Was in in ihnen und zweitens aus eben diesem Lichte aber dann auch notwendig das Gefühl des zeitgemäßen Werdens durch den Urwillen des Schöpfers. Das erste Gefühl stellt das Geschöpf unbedingt dem Schöpfer gleich und wie aus sich hervorgehend völlig unabhängig von dem ewigen Urgrunde, als gleichsam solchen in sich selbst fassend und bergend; das zweite aus diesem ersten notwendig hervorgehende Lebensgefühl aber muß sich dennoch als ein vom eigentlichen Urgrunde aus sich hervorgerufenes und erst in der Zeitenfolge als in sich selbst als frei manifestiertes und somit vom Haupturgrunde sehr abhängiges ansehen und betrachten.« (GEJ 1,1,16-17). 101 »Der erste Zustand aller, die umgebildet und geistig werden« besteht darin, »dass sie nicht glauben, sie werden vom Herrn umgebildet, sondern von sich selbst. Sie glauben folglich, das Wollen des Guten und das Denken des Wahren sei ganz und gar ihre eigene Leistung. In diesem Zustand werden sie vom Herrn vorläufig auch belassen, weil sie sonst nicht umgebildet werden könnten. Wenn man ihnen nämlich, bevor sie wiedergeboren sind, sagt, dass sie nichts Gutes aus sich tun und nichts Wahres aus sich denken können, dann würden sie entweder dem Irrtum verfallen, dass man auf den Einfluss in den Willen und in das Denken warten müsse, und wenn er ausbleibe, dann brauche man selber nichts unternehmen« oder sie würden anderen, ähnlich gelagerten Irrtümern verfallen (HG 2946). Weil also jeder Wanderer in das Reich des Lichts anfangs aufgrund seines noch völlig unwiedergeborenen Zustandes meint, er könne das Ziel aus eigener Kraft erreichen, wenn er nur nach den Geboten lebe, deswegen ist es so schwer, operatio und cooperatio rein nur begrifflich zu differenzieren. Auch die Neuoffenbarung durch Jakob Lorber betont, dass »kein Mensch aus sich etwas Gutes zu wirken vermag« und führt dann im Hinblick auf die Unterscheidung der beiden Wirksphären aus: »Wenn ein Mensch das nicht einsieht und begreift, so ist er für sich auch soviel wie nichts, und es ist bei ihm von einer Selbständigkeit noch lange keine Rede, weil er zwischen seinem eigenen Wirken und dem Wirken Gottes in ihm und durch ihn noch nicht unterscheidet und beides als ein und dasselbe fühlt und betrachtet; nur dann erst tritt der Mensch 80 T HOMAS NOACK Wahrheit übereinander auf zwei Ebenen vor sich geht, das kommt dem Menschen auf einer Ebene, nämlich auf seiner zur Erscheinung. »Wenn nun der Glaube vorhanden ist, dass alles Gute, das der Mensch wie aus sich (sicut ex se) tut, vom Herrn kommt, dann ist der Mensch die verwirklichende Ursache desselben (causa instrumentalis) und der Herr die grundlegende Ursache (causa principalis). Diese beiden Ursachen erscheinen dem Menschen als eine einzige, obwohl doch in Wahrheit die grundlegende Ursache alles ist überall in der verwirklichenden Ursache.« (WCR 442). Swedenborg überwindet somit das Nacheinander der klassischen Lösung, die von einer zuvorkommenden Gnade (gratia praeveniens) sprach, durch die Gleichzeitigkeit oder das zeitliche Ineinander auf verschiedenen Ebenen. So kann die neukirchliche Theologie unter Wahrung des Anfangs bei Gott den Menschen als tätiges Wesen integrieren. »Die grundlegende Ursache und instrumentale Ursache bilden gleichzeitig eine einzige Ursache (quod causa principalis et causa instrumentalis faciant simul unam causam)« (SL 11; vgl. auch OE 1122). »Die grundlegende Ursache und die instrumentale Ursache sind gleichzeitig als eine einzige Ursache tätig (causa principalis et causa instrumentalis unam causam simul agunt)« (WCR 473). Da der Mensch nach neukirchlicher Theologie an seinem spirituellen Geborenwerden mitwirkt (WCR 647), hat er einen »freien Willen in geistigen Dingen (liberum arbitrium in spiritualibus)« (WCR 479-482). Und selbstverständlich erledigt sich unter diesen Voraussetzungen auch die grausame Konsequenz der altkirchlichen Gnadenlehre, die Prädestinationslehre. »Die Prädestination ist eine Ausgeburt des Glaubens der heutigen Kirche, weil sie aus dem Glauben an das absolute Unvermögen und den unfreien Willen in geistigen Dingen entspringt …« (WCR 486). »Die göttliche Vorsehung kennt nur eine Prädestination zum Himmel« (GV 324). »Eine andere Prädestination als zum Himmel« wi- in den Kreis der Lebensselbständigkeit, so er es wahrnimmt, daß sein eigenes Lebenswirken ein eitel nichtiges ist und nur das göttliche Wirken in ihm allein gut ist.« (GEJ 6,144,4). S TREIFLICHTER 81 derspricht sowohl der göttlichen Liebe als auch der göttlichen Weisheit (GV 330).102 4. Resümee und Ausbau der neukirchlichen Theologie Der altkirchlichen Theologie wohnte von Anfang an der Keim des Todes inne. Die Wahrheit Christi war eigentlich schon untergegangen als die Geschichte der Kirche oder besser der Großkirche gerade erst begann. Swedenborgs Urteil ist eindeutig und in seiner Dramatik kaum zu überbieten: »Das Schicksal der christlichen Kirche gleicht dem Los eines Schiffes mit kostbarer Ladung, das gleich nach der Ausfahrt aus dem Hafen von furchtbaren Stürmen geschüttelt wurde und bald darauf Schiffbruch erlitt und auf den Meeresgrund sank, wo seine wertvollen Waren dem Wasser und den Fischen zum Opfer fielen.« (WCR 378) 103 Meine Ausführungen sollten gezeigt haben, worauf sich dieses Urteil stützt. Wir haben gesehen: Der Sündenfall der griechischen Ostkirche fand in der Lehre von Gott statt, das heißt in der Bearbeitung des Vater-Sohn-Verhältnisses. Der Sündenfall der lateinischen Westkirche hingegen in der Lehre vom Menschen, das heißt in der Bearbeitung des Gott-Mensch-Verhältnisses. »In dem einen Fall handelt es sich um das Verhältnis zwischen Christi göttlicher und menschlicher Natur, im anderen Fall um das Verhältnis zwischen Gottes Gnade und dem freien Willen des Menschen.«104 Bei aller Unterschiedlichkeit der Thematik ging es im Osten und im Westen jeweils um ein Verhältnis, wobei der eine 102 Gegen die Behauptung eines nur partiellen Heilswillens Gottes oder gar einer doppelten Prädestination sprach schon immer 1. Timotheus 2,3-4: »Das ist schön und gefällt Gott, unserem Retter, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.« Swedenborg weist aber auch auf Matthäus 5,45 hin: »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« Außerdem auf Matthäus 7,7-11 (siehe GV 330). 103 Siehe auch Ernst Benz: »Allen diesen Vorgängern gegenüber zeichnet sich Swedenborgs Kritik durch eine besondere Radikalität aus: nach seinem prophetischen Urteil hat der Verfall des Christentums bereits in der ältesten Epoche der christlichen Kirche eingesetzt.« (Emanuel Swedenborg: Naturforscher und Seher, 1969, Seite 473). 104 Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie: Ein Abriß, 1993, Seite 102. 82 T HOMAS NOACK Pol das Göttliche und der andere das Menschliche war. Und in beiden Fällen gelang es nicht, die Vereinigung bzw. Verbindung der beiden Pole zu denken. Ich unterscheide hier im Sinne Swedenborgs zwischen Vereinigung (unio) und Verbindung (conjunctio). Der erste Begriff ist auf das Vater-Sohn-Verhältnis zu beziehen, der zweite auf das GottMensch-Verhältnis. Swedenborg schreibt: »Der Begriff ›Vereinigung‹ beschreibt das Zusammensein des Menschlichen des Herrn mit dem Göttlichen, der Begriff ›Verbindung‹ hingegen das Zusammensein des Menschen mit dem Göttlichen (Quod unio dicatur de Humano Domini cum Divino, at conjunctio de homine cum Divino.« (NJ 304, vgl. auch HG 2004). Daher komme ich abschließend zu der folgenden These: Das Neue der neukirchlichen Theologie besteht darin, dass sie es erstmals geschafft hat, dass Göttliche und das Menschliche wahrhaft zusammenzudenken, und zwar sowohl in der Person des Kyrios als auch auf dem Gebiet der den Menschen betreffenden Erlösung, wo das Problem von göttlicher Einwirkung und menschlicher Mitwirkung zu lösen war. Die neukirchliche Theologie ist daher erstmals in der Lage die Religio, die Rückbindung des Menschlichen an das Göttliche, wahrheitsgemäß zu beschreiben. Daher ist sie der Spiegel, der Ort des Gewahrwerdens einer neuen Religion, die uns das Erwachen des menschlichen Bewusstseins in der vollendeten Gemeinschaft mit dem göttlichen bringen wird. Die große Synthese gelang, als das räumliche Nebeneinander der drei Personen durch das räumliche Ineinander innerhalb einer einzigen Person überwunden wurde, und als nach demselben Prinzip auch das zeitliche Nacheinander von göttlicher »operatio« und menschlicher »cooperatio« durch das zeitliche Ineinander oder die Gleichzeitigkeit dieser beiden Wirksamkeiten überwunden wurde. So sehe ich in Swedenborg mit der Idee des Ineinanders in der Hand den Schlüssel zu einer Theologie der Innerlichkeit. Diese Reformation im Kernbestand des antiken Erbes wirkt sich selbstverständlich auch auf all die übrigen Felder der Lehrbildung S TREIFLICHTER 83 umstrukturierend aus. Swedenborg bringt diesen Gedanken mit den folgenden Worten zum Ausdruck: »Von einer richtigen Gottesvorstellung hängt das ganze theologische System geradeso ab wie eine Kette von ihrem obersten Ring« (WCR 163).105 Daher wäre nun ausgehend von den oben genannten Prinzipien mit dem Umbau der gesamten Theologie zu beginnen. Doch die Bewältigung dieser Aufgabe muss künftigen Arbeiten vorbehalten bleiben. 105 Daher kann Swedenborg schreiben: »Wer nun die einzelnen dogmatischen Sätze einer Prüfung unterzieht, zum Beispiel die Lehre von Gott, von der Person Christi, von der Nächstenliebe, Buße, Wiedergeburt, Willensfreiheit und Erwählung, vom Gebrauch der Sakramente, von der Taufe und vom Heiligen Abendmahl, der wird deutlich sehen, daß all diesen Lehren die Vorstellung einer Dreiheit von Göttern anhaftet; und selbst wenn dies nicht offen zutage tritt, so fließen sie doch daraus hervor wie aus ihrer Quelle.« (WCR 177) 84 T HOMAS NOACK Christlicher Monotheismus neutestamentlich begründet 1. Ist das Christentum eine monotheistische Religion? Das Christentum versteht sich als monotheistische Religion. Doch das urchristliche Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Sohne Gottes, führte zur Vorstellung einer zweiten Person neben dem Vater und somit zu einer großen Verwirrung im monotheistischen Gottesbild. Der Monotheismus war bedroht, so dass angestoßen durch das Christusereignis intensive Denkbemühungen ausgelöst wurden, die den Glauben an nur einen Gott bei gleichzeitiger Anerkennung der Existenz eines göttlichen Sohnes des einen Gottes sichern und bewahren wollten.106 Das Ergebnis lag seit dem vierten Jahrhundert in Gestalt der christlichen Trinitätslehre vor. Doch schon bald nach der Ausformulierung dieser Lehre wurde sie vom Islam als Abkehr vom Monotheismus angesehen. Im Koran heißt es: »Wahrlich, ungläubig sind diejenigen, welche sprechen: ›Siehe, Allah, das ist der Messias, der Sohn der Maria‹. … Siehe, wer Allah Götter an die Seite stellt, dem hat Allah das Paradies verwehrt, und seine Behausung ist das Feuer. … Wahrlich, ungläubig sind, die da sprechen: ›Siehe, Allah ist ein dritter von dreien‹. Aber es gibt keinen Gott außer einem einzigen Gott. … Der Messias, der Sohn der Maria, ist nichts anderes als ein Gesandter« (Sure 5,72-75). Auch nach Swedenborg ist hinter der Dreieinigkeitslehre in den Gemütern der Gläubigen die Vorstellung von drei Göttern verborgen: »Eine Dreiheit göttlicher Personen von Ewigkeit oder vor der Weltschöpfung ist in den Vorstellungen des Denkens eine Dreiheit von Göttern, und diese 106 Der heilige Geist wurde nicht als Bedrohung des Monotheismus empfunden, weil »das Äquivalent für ›Geist‹ im Griechischen Neutrum ist (to pneuma), also eher die Vorstellung einer Gabe als die eines Subjekts evoziert, und die Rede vom Pneuma daher – anders als die Rede vom Sohn Gottes – nicht sofort und automatisch eine Anfrage an den Monotheismus bedeutete. Im Übrigen hatte ja bereits das Judentum völlig problemlos vom Geist (der ruah) Gottes sprechen können, ohne dabei die Einzigkeit Jahwes tangiert zu sehen.« (Franz Dünzl, Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, 2006, Seite 131). S TREIFLICHTER 85 kann auch nicht durch das Lippenbekenntnis eines (einzigen) Gottes aufgehoben werden.« (WCR 172). Um den Anspruch, eine monotheistische Religion zu sein, glaubhaft vertreten zu können, muss die Trinitätslehre von Grund auf reformiert werden. Da die Grundlage dieses Unternehmens die neutestamentlichen Texte sind, wollen wir sie in den Mittelpunkt stellen. Da sie jedoch noch keine fertige Lehre darstellen, sondern nur Bausteine dafür sind, wollen wir sie in einer systematischen Aufbereitung präsentieren, das heißt in einer an Swedenborgs Theologie orientierten Ordnung und mit entsprechenden Erläuterungen versehen. 2. Von den christologischen Hoheitstiteln zu den triadischen Formeln Schon im Neuen Testament zählt man von Eins bis Drei, vollzieht also den trinitarischen Grundschritt, der in der Folgezeit immer mehr zum Problem werden sollte. »Eins«, das ist der Sohn; »Zwei«, das sind der Vater und der Sohn und »Drei«, das sind der Vater, der Sohn und der heilige Geist. Die Eins begegnet uns im Neuen Testament in den Hoheitstiteln, die Jesus beigelegt107 bekommt. Die wichtigsten sind »Christus« oder »Messias« (z.B. Joh 1,41), »Sohn Gottes« (z.B. 1 Joh 4,15), 107 Dass Jesus Hoheitstitel »beigelegt« bekommt , soll nicht heißen , dass er sie nicht auch selbst verwendet hat . Eine ganze Reihe von Exegeten vertritt bis heute die Meinung, dass alle Jesus in den Evangelien beigelegten Hoheitstitel erst nachösterlichen Ursprungs sind. Ernst Käsemann schrieb: »Alle Stellen , in denen irgendein Messiasprädikat erscheint , halte ich für Gemeindekerygma« (Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I , 1960 , Seite 211). Und Eduard Lohse meint : »Jesus hat sich keinen der messianischen Hoheitstitel des Judentums beigelegt , sondern mit einer unvergleichlichen Vollmacht gesprochen und gehandelt« (Grundriß der neutestamentlichen Theologie, 1989 , Seite 43). Zum Gesagten siehe Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 111, der dieser Sicht am genannten Ort historisch dreierlei entgegenhält . Dem »Großen Evangelium Johannes«, geoffenbart durch Jakob Lorber, zufolge gebrauchte schon Jesus die Hoheitstitel, nicht zuletzt auch deswegen , weil sie in seiner Umgebung im Hinblick das unvergleichliche Phänomen Jesus diskutiert wurden. Jesus bezeichnet sich als »Christus« (GEJ 2,176,19), »Messias« (GEJ 6,4,5), »Sohn Gottes« (GEJ 6,2,14; GEJ 10,195,3), »Menschensohn« (GEJ 3,175,9) usw. 86 T HOMAS NOACK »Herr« (z.B. Röm 10,9) und sogar »Gott« (z.B. Joh 20,28; 1 Joh 5,20). »Christus« ist die griechische Übersetzung des hebräischen »Messias« (gräzisierte Form von »maschiach«), das »Gesalbter« bedeutet. Das Wort wurde vorexilisch nur für den König aus der Dynastie Davids in Jerusalem verwendet und später auf einen zukünftigen Heilskönig bezogen. Als Messias verkündete Jesus den Anbruch der Königsherrschaft Gottes (gr. »basileia tou theou«). Nach Swedenborg ist der Christustitel auf das Wahre oder das Königtum der Wahrheit zu beziehen und der Name »Jesus« (hebr. »Jeschua« = »Jahwe ist Rettung«) auf das Gute oder die große Rettungstat der göttlichen Liebe (WCR 114). Zum »Sohn Gottes« wollen wir uns weiter unten äußern. Durch die Anrede als »Herr« oder griechisch »Kyrios« wird Jesus mit dem Jahwe des Alten Testaments identifiziert. Denn in der Septuaginta wurde das Tetragramm des Gottesnamens Jahwe mit Kyrios wiedergegeben. Und im Neuen Testament werden Aussagen der Septuaginta mit Kyrios auf Jesus Christus bezogen.108 Das erlaubt den Schluss: Der Kyrios des Neuen Testaments ist die sichtbare Gestalt Jahwes (siehe auch WCR 81). Die Zwei begegnet uns in den zweigliedrigen Formeln: »… so haben doch wir nur einen Gott, den Vater. Von ihm stammt alles, und wir leben auf ihn hin. Und einer ist der Herr: Jesus Christus. Durch ihn ist alles, und wir sind durch ihn.« (1 Kor 8,6). »Ich gebiete dir bei Gott, von dem alles Leben kommt, und bei Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat und als Zeuge dafür eingetreten ist« (1 Tim 6,13). »Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei sei- 108 Diesbezügliche Beobachtungen bei Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitsti- tel: Ihre Geschichte im frühen Christentum, 1963, Seite 117-120. Der »Tag Jahwes« wird im Neuen Testament als »Tag des Kyrios« auf Jesus bezogen (Vgl. 1 Kor 5,5; 1 Thess 5,2; 2 Thess 2,2; ausdrücklich christianisiert 1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14). Jesaja 40,3 wird in den Evangelien an herausragender Stelle auf den Kyrios Jesus bezogen (Mk 1,3 parr). Auf Joel 3,5 wird ausdrücklich in Apg 2,21 und Röm 10,13 Bezug genommen. In 2 Kor 12,8 haben wir einen eindeutigen Beleg für das Gebet zu Jesus als Kyrios. S TREIFLICHTER 87 nem Reich« (2 Tim 4,1). Die Drei schließlich begegnet uns in den triadischen oder dreigliedrigen Formeln. Die berühmtesten sind der Gruß des Paulus am Ende des 2. Korintherbriefes und der sog. Taufbefehl am Ende des Matthäusevangeliums: »Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« (2 Kor 13,13). »18. Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. 19. Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, 20. und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« (Mt 28,18-20). Die triadischen Formeln sind noch keine Trinitätslehre, aber sie bringen doch zum Ausdruck, dass Vater, Sohn und Geist irgendwie zusammenhängend zu betrachten sind. Dreigliedrig sind dann auch die beiden wichtigsten Glaubensbekenntnisse der christlichen Kirche, nämlich das Apostolische Glaubensbekenntnis und das von Nizäa und Konstantinopel, die ihrer Bedeutung wegen ebenfalls an dieser Stelle genannt werden sollen. Das Apostolische Glaubensbekenntnis in seiner ökumenischen Fassung lautet: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; 88 T HOMAS NOACK er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche109, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen. Das Glaubenskenntnis von Nizäa und Konstantinopel110 lautet: Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. 109 Je nach Konfession sind unterschiedliche Übersetzungen im Gebrauch. Römisch-katholische Christen bekennen »die heilige katholische Kirche«, lutherische »die heilige christliche Kirche« und reformierte »die heilige allgemeine christliche Kirche«. 110 Swedenborg zitiert es auszugsweise in WCR 632: »Credo in unum Deum Patrem, Omnipotentem, Factorem Caeli et terrae; et in unum Dominum, Jesum Christum, Filium Dei unigenitum a Patre, natum ante omnia saecula, Deum de Deo, consubstantialem Patri, qui descendit de Caelis, et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria Virgine, et in Spiritum Sanctum, Dominum et Vivificantem, qui ex Patre Filioque procedit, qui cum Patre Filioque simul adoratur et glorificatur.« Swedenborg führt dieses Glaubensbekenntnis auf das Konzil von Nizäa 325 zurück. Das Konzil von Konstantinopel 381 erwähnt er weder hier noch anderwo in seinen Schriften. In WCR 176 spricht er von »den beiben Nizänischen Kirchenversammlungen (duo Concilia Nicaena)«. Meint er hier die Konzile von Nizäa 325 und Konstantinopel 381? Seine Kenntnis der Kirchen- und Dogmengeschichte ist noch verhältnismäßig grob. S TREIFLICHTER 89 Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tag auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn111 hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten. Und an die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche. Wir bekennen eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen. 111 Der Originaltext hat das »und dem Sohn« (filioque) nicht. Es wurde später in den Text eingefügt. Weil nicht alle Christen mit dieser Ergänzung einverstanden waren, kam es 1054 zur Kirchenspaltung zwischen West- und Ostkirchen. Die katholische und die evangelischen Kirchen halten an dem Zusatz bis heute fest, während die orthodoxen Kirchen die Ergänzung bis heute ablehnen. In ökumenischen Gottesdiensten wird der Zusatz darum meistens weggelassen. Swedenborg Kommentare zum »filioque«: »Der Herr wirkt aus sich vom Vater her (ex se a patre) … Unter dem Wirken ist hier das gleiche zu verstehen, wie unter dem Senden des Heiligen Geistes …« (WCR 153). »Angesichts dieser deutlichen Worte des Herrn wird der Irrtum der Christenheit offenbar, wenn sie meint, Gott Vater sende den Heiligen Geist zum Menschen, ebenso auch der Irttum der griechischen Kirche, welche lehrt, Gott Vater sende den Geist unmittelbar.« (WCR 153). 90 T HOMAS NOACK Zwischen dem Apostolischen Glaubensbekenntnis und dem von Nizäa und Konstantinopel besteht ein gravierender Unterschied. Bernhard Lohse weist auf die Differenz zwischen den östlichen Glaubensbekenntnissen und dem Romanum, der Vorstufe zum Apostolikum, hin: »Zudem ist es eine Eigenart der östlichen Glaubensbekenntnisse gewesen, daß sie die Gottessohnschaft nicht wie [das] R[omanum] in schlichter Weise von der Jungfrauengeburt Christi her deuteten, sondern von seiner vorweltlichen Zeugung durch Gott-Vater verstanden.«112 Diese Beobachtung hat auch Swedenborg gemacht: »Die apostolische Kirche wußte nicht das Geringste von einer Personendreiheit, bzw. drei Personen von Ewigkeit her. Das geht deutlich aus ihrem Glaubensbekenntnis, dem sogenannten Apostolikum, hervor, worin es heißt: ›Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria … und an den Heiligen Geist.‹ Hier geschieht keine Erwähnung irgendeines Sohnes von Ewigkeit her, sondern des vom Heiligen Geist empfangenen und von der Jungfrau Maria geborenen Sohnes.« (WCR 112 Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, 1986, Seite 41. Vgl. auch Henning Schröer: »Man darf nicht übersehen, daß über eine vorzeitliche Zeugung des Sohnes durch den Vater nichts gesagt wird … die Hervorhebung der Geburt Jesu mag … einfach bedeutet haben, daß der ewige Logos erst ab diesem Zeitpunkt ›Sohn‹ heißen konnte.« (Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis, in: TRE III (1978) Seite 547). Adolf Harnack: »Aber noch ist eine Erläuterung zu dem Bekenntnis ›eingeborener Sohn‹ nöthig. In der Zeit nach dem Nicänum wird bei diesen Worten in der Kirche durchweg an die vorzeitliche, ewige Sohnschaft Christi gedacht und jede andere Auslegung gilt als Häresie. So hat auch Luther die Worte erklärt: ›wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren.‹ Allein diese Fassung verlangt, auf das Symbol übertragen, eine Umdeutung desselben. Es läßt sich nicht nachweisen, daß um die Mitte des 2. Jahrhunderts der Begriff ›eingeborener Sohn‹ in diesem Sinne verstanden worden ist; vielmehr läßt es sich geschichtlich zeigen, daß er nicht so verstanden worden ist. Wo Jesus Christus ›Sohn‹ heißt, wo ein ›geboren sein‹ von ihm ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichtlichen Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der geschichtliche Jesus Christus ist der Sohn.« (Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 1892, Seite 21). S TREIFLICHTER 91 175). 3. Der Sohn Gottes Die neutestamentliche Rede von Jesus Christus als dem Sohne Gottes war wesentlich dafür verantwortlich, dass man neben dem einen Gott ein zweites göttliches Subjekt annahm. Deswegen wollen wir uns nun besonders diesem christologischen Titel zuwenden. Jesus (hebr. Je hoschua bzw. Jeschua) bedeutet »Jahwe ist Rettung«. Deswegen sagte der Engel des Herrn zu Josef: »Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.« (Mt 1,20f.). Schon der Name Jesus weist also auf Jahwe als den Retter Israels. Dass die Juden (und die neutestamentlichen Schriftsteller waren Juden) keinen von Ewigkeit her geborenen Sohn Jahwes, sondern Jahwe selbst als ihren Retter und Erlöser anerkannten, das geht deutlich aus ihren heiligen Schriften hervor. Swedenborg zitiert in WCR 83 zahlreiche Stellen, von denen hier nur die folgenden angeführt seien: »… Und keiner sonst ist Gott außer mir (Jahwe). Einen gerechten Gott und Retter gibt es außer mir nicht! Wendet euch zu mir und laßt euch retten, alle ihr Enden der Erde! Denn ich bin Gott und keiner sonst.« (Jes 45,21f.). »Ich, ich bin Jahwe, und außer mir gibt es keinen Retter.« (Jes 43,11). »Ich aber bin Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her: Einen Gott außer mir kennst du nicht, und es gibt keinen (andern) Retter als mich.« (Hosea 13,4). Daher war »Sohn Gottes« bei den Juden auch nicht mit der Vorstellung eines ewigen, göttlichen Sohnes bei Gott verbunden, sondern »Sohn Gottes« war schlicht eine Bezeichnung für den Messias (siehe LH 19). Das belegen die folgenden Stellen zur Genüge: »Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.« (Joh 11,27). »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist 92 T HOMAS NOACK du der Messias, der Sohn Gottes?« (Mt 26,63). »Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.« (Joh 20,31). »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1,1). »Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (MT 16,16). »Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.« (Joh 6,69; einige Handschriften haben: »der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes«). Sohn Gottes meint »das Menschliche, durch das sich Gott in die Welt sandte« bzw. »Jahwe Gott in seinem Menschlichen« (WCR 92).113 Swedenborg weist in diesem Zusammenhang auf die Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas hin: »Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, daß sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloß, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.« (Mt 1,18-20). »Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.« (Lk 1,35). Weil Jesus also die Frucht des heiligen Geistes bzw. der »Kraft des Höchsten« war, deswegen wurde er Sohn Gottes genannt, denn Jahwe selbst war sein Vater (siehe OE 1069, WCR 82). Besondere Stationen, an denen die Gottessohnschaft des irdischen (vorösterlichen) Jesus zur Sprache kommt, sind seine 113 Siehe auch Lorber: »Das Menschliche, das du an Ihm siehst, ist gleichsam der Sohn Gottes; aber in Ihm wohnt des Geistes Gottes Fülle!« (GEJ 4,77,6). »Sagte Ich: Dieser Mein Leib, der so wie der eurige aus Fleisch und Blut besteht und eigentlich dasjenige an Mir ist, was man den Sohn Gottes nennt, ist freilich bei euch nun hier und zu gleicher Zeit nirgend anderswo« (GEJ 10,195,3). S TREIFLICHTER 93 Taufe, seine Verklärung sowie seine Passion und das Kreuz. Von der Taufe heißt es: »In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, daß der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.« (Mk 1,9-11). Die dynamistischen Monarchianer (oder Adoptianer)114 sagten, dass der gottesfürchtige Mensch Jesus erst durch die Geistbegabung bei der Taufe zu Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit zum Sohn Gottes wurde. Da Swedenborg eine Entwicklung des durch die wunderbare Empfängnis in Jesus angelegten göttlichen Potentials sah (siehe WCR 89), kann man den dynamistischen Monarchianern ein gewisses Recht zuerkennen. Zwar wurde Jesus nicht erst durch die Taufe zum Sohn Gottes, das war er schon seit seiner Geburt, aber mit dem Beginn der öffentlichen Tätigkeit zur Befreiung der Menschheit aus Sünde und Tod könnte sehr wohl auch das Erreichen einer bestimmten Stufe seiner inneren Entwicklung verbunden gewesen sein. Jedenfalls schreibt Swedenborg zur Taube, die auf Jesus bei seiner Taufe herabkam das Folgende: »Die Taube ist ein sinnbildliche Vergegenständlichung (repraesentativum) der Reinigung und der Wiedergeburt durch das göttliche Wahre.« (LH 51). »Durch die Taube wird das Wahre und Gute des Glaubens beim Wiederzugebärenden (regenerandum) bezeichnet.« (HG 870). Von der Verklärung heißt es: »Noch während er redete, warf eine leuchtende Wolke ihren Schatten auf sie, und aus der Wolke rief eine Stimme: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören.« (Mt 17,5). »Da rief eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.« (Lk 9,35). Matthäus leitet die Schilderung der 114 Der Monarchianismus, abgeleitet von griechisch »monarchia« (Alleinherr- schaft), betonte die Einzigkeit Gottes. Man unterscheidet den dynamistischen Monarchianismus (oder Adoptianismus) und den modalistischen Monarchianismus (oder Modalismus). Der dynamistische Monarchianismus oder Adoptianismus akzentuierte, dass (seit der Taufe) eine göttliche Kraft (griech. dynamis) in Jesus wirkte, nämlich der Geist. 94 T HOMAS NOACK Verklärung mit dem Verb »metamorphoo« (umgestalten, siehe »Metamorphose«) ein. In dieser »Transformatio« auf einem »hohen Berg« (Mt 17,1) kündigte sich bereits vor Ostern die große Umgestaltung des stofflichen und sterblichen Leibes Jesu in den unsterblichen und göttlichen Auferstehungsleib an, das heißt die Verherrlichung oder Vergöttlichung Jesu. Swedenborg schreibt: Bei seiner Verklärung zeigte Jesus »wie sein verherrlichtes Menschliches (humanum ipsius glorificatum) beschaffen war« (LH 35; siehe auch WCR 104). »Aus seiner Verklärung (ex transformatione) vor Petrus, Jakobus und Johannes geht hervor, dass auch die Apostel den Herrn vor seiner Auferstehung nicht im verherrlichten Menschlichen (in Humano glorificato) mit den Augen des Körpers gesehen haben, sondern (sie sahen ihn) im Geist, was nach dem Erwachen wie im Schlaf erscheint.« (WCR 777). Auch in der Passionsgeschichte spielt die Bezeichnung Jesu als »Sohn Gottes« eine Rolle. Vor dem Hohen Rat (Synedrium) bedrängte ihn der Hohepriester mit den Worten: »Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes!« (Mt 26,63). Am Kreuz verdichtete sich für die Umstehenden der Eindruck, dass der Hingerichtete tatsächlich der Sohn Gottes gewesen sei: »Als aber der Hauptmann und die, die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und das, was geschah, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!« (Mt 27,54). In all diesen Berichten bezieht sich der Begriff »Sohn Gottes« auf den irdischen Jesus. Dieser vollzog jedoch eine ganz außergewöhnliche Entwicklung. Er wurde nämlich der schaubare Gott, »in dem der unschaubare wohnt wie die Seele im Leib« (WCR 787). Daher schließt die Anerkennung Jesu als Gottes Sohn in sich, dass er Gott ist, nicht einfach nur ein vorbildlicher Mensch. In der WCR verwendet Swedenborg in diesem Zusammenhang sogar die an das Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel erinnernde Formel »Gott von Gott«: Jesus sei »der Sohn S TREIFLICHTER 95 Gottes und so Gott von Gott (deus a deo)« (WCR 342).115 Wenn demnach die Benennung Jesu als »Sohn Gottes« seine Göttlichkeit impliziert, dann ist es nicht verwunderlich, dass er schon im Neuen Testament auch »Gott« genannt wird. Auf die folgenden Stellen ist hinzuweisen: »Thomas antwortete ihm (dem Auferstandenen): Mein Herr und mein Gott!« (Joh 20,28). »Wir wissen aber: Der Sohn Gottes ist gekommen, und er hat uns Einsicht geschenkt, damit wir (Gott) den Wahren erkennen. Und wir sind in diesem Wahren, in seinem Sohn Jesus Christus. Er ist der wahre Gott und das ewige Leben.« (1 Joh 5,20). »Niemand hat Gott je gesehen; der einziggeborene Gott116 (aber), der an der Brust des Vaters ruht, der hat (ihn uns) kundgetan.« (Joh 1,18). »… von dem Sohn aber [sagt er]: Dein Thron, o Gott, steht für immer und ewig« (Hebr 1,8). »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber …« (2 Kor 5,19 LUT).117 In der Apostelgeschichte heißt Jesus Christus »der Herr, unser Gott« (Apg 2,39; vgl. auch Apg 10,36). Die urchristliche Gemeinde rief aus: »Kyrios Jesus Christus« (Herr ist Jesus Christus, Phil 2,11). Dazu muss man wissen: Mit Kyrios wurde in der griechischen Bibel der ersten Christen (Septuaginta) der Gottesname Jahwe wiedergegeben. Swedenborg hat darauf hingewiesen, dass der Jahwe des Alten Testamentes im Neuen Testament stets Kyrios heißt (WCR 81, HG 2921 mit Beispielen). »Kyrios Jesus Christus« bedeutet also: Jesus ist Jahwe. Die Anwendung der Bezeichnung »Gott« auf Jesus ist auch in der Zeit der apostolischen Kirche nachweisbar. Zur Zeit des Kaisers Trajan (98 - 117) wurde Ignatius, Bischof von Antiochien, von Syrien nach Rom geschleppt und in der Arena von wilden Tieren zerrissen. Auf dieser Reise schrieb er sieben Briefe. Die Christen 115 Anderenorts lehnt Swedenborg die Formel »Gott von Gott« ab: »… daraus folgt, dass ein Gott von Gott (deus a deo) nicht denkbar ist« (WCR 23; siehe auch EO 961). 116 In manchen Übersetzungen steht hier noch »Sohn«. Die besten Textzeugen haben jedoch »Gott«. 117 Die Einheitsübersetzung hat: »Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat« (2 Kor 5,19). T HOMAS NOACK 96 in Rom bat er eindringlich keine Schritte zu seiner Rettung zu unternehmen; denn, so schrieb er: »Gestattet mir, ein Nachahmer des Leidens meines Gottes zu sein!«118 Dieser Ignatius bezeichnete Jesus mehrfach und ohne Scheu als Gott: »Ich preise Jesus Christus, den Gott«119. Noch eine Generation später mahnte der Prediger des 2. Klemensbriefes (um 140/50): »Brüder, über Jesus Christus müssen wir so denken wie über Gott«120. Selbst Außenstehende konnten nicht übersehen, dass die Christen Jesus als Gott verehrten. Caius Plinius der Jüngere lässt uns in einem berühmten Brief an Kaiser Trajan (um 112/3) wissen, dass die christliche Gemeinde Lieder sang für »Christus als Gott« (Christo quasi deo, Brief X,96). 4. Die Präexistenzverlagerung des Sohnes Namentlich mit den Logostheologen des zweiten Jahrhunderts setzte ein Prozess ein, durch den der Sohn in die Präexistenz verlagert wurde und im Laufe der Jahrhunderte immer ausgeprägter und krasser die Vorstellung dreier göttlicher Personen von Ewigkeit hervortrat. Swedenborg lehnte jedoch die Vorstellung eines Sohnes von Ewigkeit ab: »Man soll wissen, dass es keinen Sohn von Ewigkeit (filius ab aeterno), sondern nur einen Herrn von Ewigkeit gibt.« (LH 19). »In den christlichen Kirchen glaubt man heutzutage, Gott der Schöpfer des Alls habe einen Sohn von Ewigkeit gezeugt, und der sei herabgestiegen und habe das Menschliche angenommen, um die Menschen zu erlösen und selig zu machen. Das ist jedoch ein Irrtum und fällt von selbst in sich zusammen, sobald man nur bedenkt, dass Gott einer ist und es mehr als märchenhaft vor der Vernunft ist, dass dieser eine Gott einen Sohn von Ewigkeit her gezeugt habe und dass Gott der Vater zusammen mit dem Sohn und dem heiligen Geist, von denen jeder gesondert Gott sein soll, ein Gott sei.« 118 Ignatius »an die Römer« 6,3. 119 Ignatius »an die Smyrnäer« 1,1. Weitere Stellen: »unser Gott, Jesus, der Christus« (Epheser 18,2), »unser Gott Jesus Christus« (Römer 3,3). 120 2. Klemensbrief 1,1. Dieser fälschlich sogenannte »Brief« ist die älteste erhaltene christliche Predigt. S TREIFLICHTER 97 (WCR 82). Die Vorstellung eines Sohnes von Ewigkeit war in der frühen christlichen Kirche, der apostolischen, noch unbekannt; Swedenborg verweist zum Beweis auf das apostolische Glaubensbekenntnis (WCR 175). Sie wurde erst von den Logostheologen in die Diskussion eingeführt und setzte sich in den ökumenischen Konzilen des vierten Jahrhunderts endgültig durch. Swedenborg, dessen Kenntnisse der Dogmengeschichte im 18. Jahrhundert noch beschränkter waren, verweist immer nur auf die allerdings entscheidende Rolle des Konzils von Nizäa im Jahre 325 nach Christus (WCR 632, 637). Obgleich der »Sohn von Ewigkeit« keine urchristliche Glaubenslehre ist, kann man dieser sehr missverständlichen Formel, die beinahe zwangsläufig das Bild eines persönlichen Subjekts evoziert, dennoch einen wahren und guten Sinn abgewinnen . Man muss sich nur von dem anschaulichen, ikonographisch fest verankerten, aber eben leider in die Irre führenden Bild einer zweiten göttlichen Person verabschieden, dann ist man wieder für die neue und im Grunde uralte Lehre empfänglich, dass der ewige Sohn des ewigen Vaters die göttliche Weisheit oder Sophia oder das göttliche Wahre ist (WCR 50). Swedenborg kann formulieren: »Der Sohn Gottes von Ewigkeit war das göttliche Wahre im Himmel.« (HH 86).121 Er kann sich also die Formel »Sohn Gottes von Ewigkeit« aneignen. Dieser (nicht als Person gedachte) »Sohn« ist der göttliche Logos oder mit Jakob Lorber gesprochen »der große heilige Schöpfungsgedanke« bzw. »die wesenhafte Idee« (GEJ 1,1,6). Swedenborg kennt auch »ein göttliches Menschliches von Ewigkeit (Divinum Humanum ab aeterno)« (HG 6280), und in HG 6831 erwähnt er ein »göttliches Menschliches JHWHs 121 Siehe auch: »Das göttliche Gute ist dasjenige, das Vater, und das göttliche Wahre ist dasjenige, das Sohn genannt wird.« (HG 3704). Diesen Gedanken greifen die Offenbarungsschriften durch Jakob Lorber auf. Dort lesen wir beispielsweise : »Was und wer ist denn der Vater? Sehet und vernehmet: Die ewige Liebe in Gott ist der Vater! – Was und wer ist denn der Sohn? Was aus dem Feuer der Liebe hervorgeht, das Licht, welches da ist die Weisheit in Gott! Wie aber Liebe und Weisheit eines ist, so sind auch Vater und Sohn eins!« (GEJ 2,32,6). 98 T HOMAS NOACK vor der Ankunft des Herrn (Divinum Humanum Jehovae ante Adventum Domini)«. Obwohl also Swedenborg eine ökonomische, das heißt eine erst im Zuge der Heilsgeschichte verwirklichte Trinitätslehre vertritt (WCR 170), sind Elemente einer immanenten Trinitätslehre bei ihm durchaus auch vorhanden. Das Neue Testament enthält keinen einzigen Hinweis auf eine von Ewigkeit her bestehende göttliche Trinität.122 Die Formulierung »Sohn von Ewigkeit« oder eine vergleichbare sucht man in der christlichen Glaubensurkunde vergeblich. Daher müssen die Anhänger dieser Lehre die Existenz dieses Sohnes indirekt aus den neutestamtlichen Schriften beweisen. Eine tragende Rolle spielen hierbei der Prolog des Johannesevangeliums und die Rede von der Sendung des Sohnes, die seine Präexistenz zu belegen scheint. Beide Anknüpfungspunkte müssen jedoch nicht mit der Vorstellung einer zweiten göttlichen Person von Ewigkeit verknüpft werden. 5. Ist im Prolog des Johannesevangeliums von einem präexistenten Sohn die Rede? Wenden wir uns zunächst dem Prolog des Johannesevangeliums zu; der Text in Joh 1,1-18 lautet: »1. Im Anfang (oder in der ersten Ursache) war das Wort, und das Wort war bei Gott (oder auf Gott bezogen) und Gott123 war das Wort. 2. Dieses war im Anfang bei Gott. 3. Alles ist durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe wurde auch nicht eines (von dem), was geworden ist124. 4. In ihm 122 Das sog. »Komma Johanneum« wurde als nachträglicher Einschub des 4. Jahrhunderts entlarvt . In der Zeit der trinitarischen Konzile von Nizäa 325 und Konstantinopel 381 wurden in 1Joh 5,7f die eingeklammerten Textteile eingeschleust : »Und drei Zeugen gibt es (auf Erden): den Geist, das Wasser und das Blut, und diese drei stimmen überein (in Jesus Christus. Und drei sind es, die dies Zeugnis im Himmel verlautbaren: der Vater, das Wort und der Geist).« 123 »theos« ist vorangestelltes Prädikatsnomen wie »hell« in: Und hell war die Sonne. Die betonte Stellung von »theos« soll also verdeutlichen, dass das Wort, obgleich aus Gott hervorgegangen, dennoch Gott selbst ist, so wie auch die Lichthülle der Sonne die Sonne selbst darstellt. 124 »ho gegonen« kann mit dem Vorangehenden (wie hier) oder dem Folgenden verbunden werden. Zu dieser Frage siehe Rudolf Schnackenburg, Das Jo- S TREIFLICHTER 99 war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen125. 6. Ein Mensch trat auf, von Gott gesandt, sein Name war Johannes. 7. Dieser kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. 8. Er war nicht selbst das Licht, sondern sollte (nur) von dem Licht zeugen. 9. Es (das Wort) war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt.126 10. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, doch die Welt erkannte ihn nicht. 11. Er kam in das Eigene, doch die Eigenen nahmen ihn nicht auf. 12. Allen aber, die ihn aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, (das heißt) denen, die an seinen Namen glauben, 13. die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. 14. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (oder gezeltet), und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit wie (die) eines Einziggeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. 15. Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir kommt, ist vor mir gewesen, weil er vor mir war. 16. Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade um Gnade. 17. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber kam durch Jesus Christus. 18. Niemand hat Gott je gesehen, der einziggeborene Gott127 (aber), der Seiende an der Brust des hannesevangelium , 1. Teil, 1979, Seite 215-217. 125 Möglich ist auch: »Und die Finsternis hat es nicht überwältigt«. So Origenes und nach ihm die meisten griechischen Väter (Rudolf Schnackenburg, a.a.O., Seite 222). Tatsächlich geriet die Kreuzigung nicht zum Sieg der Finsternis über das Licht , sondern zum Gericht des Lichtes über die Finsternis. 126 »Umstritten ist die Beziehung des ›erchomenon‹ [kommend] am Ende des Verses. Soll man es mit ›en‹ [war] zu einer conjugatio periphrastica verbinden, oder gehört es als acc. masc. zu ›anthropon‹ (so die Vulgata)?« (Rudolf Schnackenburg, a.a.O., Seite 230). Aus dieser Streitfrage erklärt sich Lesart der katholischen Einheitsübersetzung: »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.« 127 Sogar in der Tafelbibel finden wir hier »der eingeborene Sohn«. Diese Übersetzung weckt jedoch die Vorstellung eines eingeborenen, das heißt inkarnierten Sohnes, womit sich der Sohn von Ewigkeit wieder eingeschlichen 100 T HOMAS NOACK Vaters, der hat (ihn) dargestellt.« Der Prolog des Johannesevangeliums ist der wichtigste neutestamentliche Bezugstext der Logostheologen, die die älteren Monarchianer verdrängt haben und den Anfang der Entwicklung hin zu einem Sohn von Ewigkeit markieren. Doch die Identifikation des Logos mit dem Sohn war ein Kurzschluss, wirkungsgeschichtlich betrachtet sogar ein verhängnisvoller, weil er die Personidee in die Präexistenz verlagert hat. Doch das Präexistente des (irdischen) Sohnes ist nicht der (ewige) Sohn, sondern der Logos. Zur Begründung dieser Interpretation ist zunächst auf die einfache und gleichwohl grundlegende Tatsache hinzuweisen, dass »Sohn« im Prolog nicht vorkommt. Es heißt eben nicht: »Im Anfang war der Sohn, und der Sohn war bei Gott und (ein) Gott war der Sohn.« Lediglich in Joh 1,18 lesen einige Handschriften »Sohn«, besser bezeugt ist jedoch die schwierigere Lesart (lectio difficilior) »Gott«. Die Variante »Sohn« ist gleichwohl interessant, zeigt sie doch, dass dieser Begriff seit dem 5. Jahrhundert128 und somit nach den trinitarischen Konzilen von Nizäa 325 und Konstantinopel 381 in den Prolog hineingeschaut wurde. Der Sohn glänzt also in der Präexistenz durch Abwesenheit. Stattdessen ist dort vom Logos die Rede, der wiederum im Evangelium wie verschwunden ist, weil nämlich der Logos nach seiner Fleischwerdung Jesus Christus genannt wird (siehe schon im Prolog 1,17). Zweitens ist auf die Verwendung von »einziggeboren« bzw. »einzigerzeugt«129 (monogenes) zu achten. Im Prolog begegnet dieses Wort zweimal, nämlich in den Versen 14 und 18; und im Evangelium ebenfalls zweimal, und zwar in Joh 3,16.18. Die Zusamhätte. Doch erstens sollte »monogenes« nicht mit eingeboren, sondern mit einziggeboren übersetzt werden und zweitens lesen die besseren Handschriften hier »Gott« statt »Sohn«. Jesus Christus ist demnach »der einziggeborene Gott«. Das entspricht der Theologie Swedenborgs. 128 Früheste Bezeugung im Codex Alexandrinus aus dem 5. Jhd. (siehe NestleAland). 129 Ich wähle diese Übersetzung und nicht »eingeboren«, um mich von der Vorstellung eines präexistenten und inkarnierten Sohnes zu distanzieren. S TREIFLICHTER 101 menschau dieser Stellen führt zu einem interessanten Schluss. Der »Einziggeborene vom Vater« (Joh 1,14) meint den Logos nach dem Ereignis seiner Fleischwerdung. Das folgt aus der parallelen Struktur: »seine Herrlichkeit« (doxa autou) ist parallel zu »eine Herrlichkeit wie (die) eines Einziggeborenen vom Vater« (doxa hos monogenous para patros); »autos« ist hier auf den fleischgewordenen Logos zu beziehen, dessen Herrlichkeit gesehen werden kann. Der einzige von Gott Geborene meint also den Fleischgewordenen. Auch der »einziggeborene Gott« (Joh 1,18) meint die fleischliche Daseinsgestalt des Logos. Denn erstens steht diese Formulierung dem unsichtbaren Gott (»niemand hat Gott je gesehen«) gegenüber, meint also offensichtlich den sichtbaren, fleischgewordenen Gott. Und zweitens ist Vers 18 auch als Überschrift zum anschließenden Evangelium zu verstehen, so dass der »einziggeborene Gott« nur der irdische Jesus sein kann. Dessen Logoshaftigkeit wird durch das Schlusswort des Prologs (»darstellen« oder »verkündigen«) noch einmal unterstrichen, denn sein Wirken soll als Exegese des unsichtbaren Gottes verstanden werden. Wichtig im Sinne unserer Argumentation ist also, dass »einziggeboren« im Prolog zwar mit deutlichem Bezug zum Logos auftaucht, aber nicht dessen Hervorgehen aus Gott vor aller Zeit meint, sondern dessen Fleischwerdung. Der »Einziggeborene« signalisiert den Fleischgewordenen. Außerhalb des Prologs begegnet »einziggeboren« im Johannesevangelium nur noch in Joh 3,16.18, dort in den Wendungen »der einziggeborene Sohn« (Joh 3,16; vgl. auch 1 Joh 4,9) und »der einziggeborene Sohn Gottes« (Joh 3,18). Diese Wendungen tauchen in der ersten längeren Rede Jesu auf; und – was noch wichtiger ist – »einziggeboren« taucht gerade dort das erste und letzte Mal im Evangelium auf, wo der »Sohn Gottes« das erste Mal im Munde Jesu begegnet. Im Prolog bezog sich »einziggeboren« auf den fleischgewordenen Logos, hier nun ist dieses Signalwort mit »Sohn Gottes« verbunden. Daraus ist zu schließen, der fleischgewordene Logos wird fortan im Evangelium Sohn Gottes genannt werden. Der Sohn Gottes ist mit anderen Worten niemand anderes als der Logos nach seiner Fleischwerdung. Es gibt demzufolge zwar einen 102 T HOMAS NOACK präexistenten Logos, aber keinen präexistenten Sohn, sondern nur den Sohn, welcher der irdische Jesus aus Nazareth ist. Die Stellen Joh 3,16.18 haben eine Brückenfunktion, indem sie eine Verbindung zwischen dem fleischgewordenen Logos des Prologs und dem Sohn Gottes herstellen und somit die Terminologie des Prologs durch die Sohn-(Gottes)-Terminologie des Evangeliums ersetzen und ablösen. Drittens muss gesehen werden, dass eine eigentümliche Spannung zwischen der von Anfang an vorhandenen (Joh 1,14) und somit offenbarungsfähigen (Joh 2,11) Herrlichkeit und der gleichwohl noch ausstehenden Verherrlichung besteht, wobei verherrlichen doch offensichtlich einen Vorgang meint, der erst zur Herrlichkeit führen wird. Diese Spannung muss so aufgelöst werden, dass die Herrlichkeit auf den göttlichen Logos, die Verherrlichung aber auf den irdischen Sohn zu beziehen ist. Wenn also der Sohn um seine Verherrlichung bitten muss (Joh 17,1), vom Logos aber Herrlichkeit schon von Anfang an ausgesagt wird, dann können Sohn und Logos nicht identisch sein. Der Prolog des Johannesevangeliums kann demnach nicht als Beweis für die Existenz einer zweiten göttlichen Person von Ewigkeit herangezogen werden. Viel sachgemäßer ist es, den Logos über die jüdische Weisheitsspekulation auf das Sprechen des Schöpfers von Genesis 1 zurückzubeziehen. Nach Swedenborg ist der Logos »das göttliche Wahre« bzw. »die göttliche Weisheit« (WCR 50). Auch die gegenwärtige Forschung bringt den Logos des Johannesevangeliums mit der jüdischen Weisheit in Verbindung, die ihrerseits die Brücke nach Genesis 1 schlägt.130 Das führt zu der Erkenntnis, dass das Wirken des Sohnes als Anfang der neuen Schöpfung zu interpretieren ist, weil er das 130 In der Forschung besteht ein gewisser Konsens darüber, dass der Prolog traditionsgeschichtlich von der jüdischen Weisheitslehre (Prov 8,22-31, Hiob 28, Bar 3,9-4,4, Sir 24 und Sap 6-9) her zu verstehen ist, von jener Weisheit also, die schon in alttestamentlicher Zeit mit dem Schöpferwort Gottes gleichgesetzt wurde (vgl. Jes 44,26f; 55,10f mit Sir 24,3-6 und die Parallelität vom Logos und Sophia in Weis 9,1f.). Siehe Hartmut Gese, Der Johannesprolog, in : ders., Zur biblischen Theologie, 1983, Seite 152-201. S TREIFLICHTER 103 schöpfungsmittlerische Tätigsein des Logos im Fleische ist. Die Vollendung der neuen Schöpfung wird später in der Johannesoffenbarung geschildert. Oft wird auch der Christushymnus des Philipperbriefes als Beleg für den Sohn von Ewigkeit in Anspruch genommen. Doch dieses Verständnis ergibt sich nicht zwingend aus dem Text. In Phil 2,6 - 11 heißt es: Christus Jesus, »6. der, obgleich er in Gestalt Gottes war, es nicht für eine [rasch zu ergreifende] Beute hielt, Gott gleich zu sein. 7. Sondern er entäußerte sich [seiner göttlichen Gestalt], nahm (Sklaven- oder) Knechtsgestalt131 an, wurde den Menschen gleich und der äußeren Erscheinung nach wie ein [gewöhnlicher] Mensch erfunden.132 8. Er erniedrigte (oder demütigte) sich und wurde gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. 9. Darum auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jeden Namen [erhaben] ist, 10. damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, 11. und jede Zunge bekenne: ›Kyrios ist Jesus Christus‹, zur Ehre (oder Herrlichkeit) Gottes, des Vaters.« (Phil 2,6-11). Leider erwähnt Swedenborg diesen Christushymnus nur ein einziges Mal. In »Dicta Probantia« zitiert er mit Lücken Phil 2,7-10, jedoch ohne Erklärungen; daher können wir sein Verständnis dieses Textes wohl nicht mehr ermitteln.133 131 Vgl. Jakob Lorber über Jesus vor seinem öffentlichen Auftreten : »Seine ewige , allerhöchste Freiheit bestürmte Er eben damit , daß Er Sich , wennschon endlos schwer, den Menschen wie ein sklavischer Knecht zu den niedrigsten Arbeiten gefangengab.« (JJ 300,8). 132 Siehe Jakob Lorber, JJ 300. 133 Phil 2,7-10 nach Swedenborg: »Jesus se ipsum exinanivit, formam servi accipiens, propterea Deus Ipsum exaltavit, et donavit Nomen super omne nomen, ut in Nomine Jesu genu se flectat, supracoelestium, terrestrium, et subterraneorum« (Dicta Probantia Veteris et Novi Testamenti collecta et breviter explicata ab Emanuele Swedenborg, 1845, Seite 42). Nach Swedenborg ist die Entäußerung (exinanitio) nicht auf die Menschwerdung zu beziehen: »Weil nun der Herr von Anfang an ein Menschliches von der Mutter hatte und dieses nach und nach auszog, deswegen hatte er, als er in der Welt war , zwei Zustände, nämlich den der Erniedrigung oder Entäußerung (status humiliationis seu exinanitionis) und den der Verherrlichung oder Vereinigung mit dem Göttlichen , das Vater heißt.« (LH 35). 104 T HOMAS NOACK Obwohl Paulus die Präexistenz Jesu Christi als Schöpfungsmittler kennt (1 Kor 8,6), die später im Johannesprolog ihren unvergleichlichen und krönenden Ausdruck fand, darf das nach allgemeiner Überzeugung vorpaulinische Christuslied Philipper 2,611 nicht im Sinne der nizänischen Präexistenzchristologie, das heißt eines »Sohnes von Ewigkeit«, verstanden werden. Die entscheidende Frage lautet: Wo war Christus Jesus »in Gestalt Gottes«? Die Anhänger der nizänischen Lehre sehen in der Partizipialkonstruktion »der in Gestalt Gottes (vorhanden) war« die älteste Bezeugung des Glaubens an die Präexistenz Jesu Christi. Doch es ist hier gar nicht gesagt, wo Christus Jesus »in Gestalt Gottes« war. Meines Erachtens auf Erden gewissermaßen als Konsequenz seiner Zeugung durch Gott. Zu diesem Verständnis passt dann auch der zweite Teil von Vers 6 sehr gut, der andererseits nur schwer verständlich ist, wenn man von der Präexistenzinterpretation ausgeht: Der Messias Jesus (Christus Jesus), der in göttlicher Gestalt unter uns war, hielt es dennoch nicht für eine rasch zu ergreifende Beute, Gott gleich zu sein, sondern wählte den Weg des Dienens, der in schließlich sogar an das Kreuz führte. Der erste Adam hingegen, der zwar nicht »Gestalt Gottes«, wohl aber »Bild Gottes« war, ergriff vorzeitig das Sein wie Gott (Gen 3,5) und verdarb damit sich selbst und die ganze Schöpfung. 6. Setzt die Sendung des Sohnes einen Sohn von Ewigkeit voraus? Die Sendung des Sohnes in die Welt scheint seine Präexistenz vorauszusetzen. Deswegen müssen wir hier auf die Sendungschristologie eingehen. Dazu vergegenwärtigen wir uns zunächst einige der zahlreichen neutestamentlichen Sendungsaussagen: »Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.« (Mt 10,40). »Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn errettet werde.« (Joh 3,17). »Jesus spricht zu ihnen: Meine Speise ist, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe.« (Joh 4,34). »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer aufnimmt, S TREIFLICHTER 105 wen ich senden werde, nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.« (Joh 13,20). »… als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die loskaufte, [die] unter Gesetz [waren], damit wir die Sohnschaft empfingen.« (Gal 4,4f.). Die Sendungsaussagen sind im Neuen Testament breit gestreut, besonders gehäuft begegnen sie uns aber im Johannesevangelium. Dort sind sie im Lichte des Prologs zu verstehen, das heißt: Das Präexistente des in der Welt tätigen Sohnes ist der Logos. Wie versteht Swedenborg die Sendungsaussagen? »Unter ›er ist vom Vater in die Welt gesandt worden‹ wird verstanden, dass er von JHWH, dem Vater, empfangen worden ist (conceptus sit). Dass nichts anderes unter ›gesandt werden‹ und ›gesandt vom Vater‹ verstanden wird, geht aus all den Stellen hervor, wo auch gesagt wird, dass er den Willen des Vaters und dessen Werke tue« (LH 20). »Der Herr hat oft erklärt, der Vater habe ihn gesandt, beziehungsweise er sein vom Vater gesandt worden … Er sagte dies, weil unter ›in die Welt gesandt werden‹ verstanden wird, sich herablassen (descendere) und zu den Menschen kommen. Dies aber geschah durch das Menschliche, das er durch die Jungfrau Maria annahm.« (WCR 92). »Mehrmals heißt es vom Herrn im Worte, er sei ›vom Vater gesandt‹ … aber überall bedeutet ›gesandt werden‹ im inneren Sinn ausgehen (exire)« (HG 2397). »Was aber ›ausgehen‹ (exire) bedeutet, ist auch klar, dass nämlich derjenige, der ausgeht, oder dasjenige, das ausgeht, dem angehört, von dem er oder es ausgeht.« (HG 2397). »Dass der Herr im Hinblick auf das göttliche Menschliche Engel heißt … geht aus vielen Stellen im Neuen Testament hervor, wo der Herr von sich sagt, dass er vom Vater gesandt worden ist, wobei ›gesandt werden‹ hervorgehen (procedere) und Gesandter in der hebräischen Sprachen Engel bedeutet.« (HG 6831). Dass Jesus sich als einen vom Vater Gesandten bezeichnet, kann demnach meinen, dass er sich in seiner Leiblichkeit als eine Wirkung versteht, die von Gott ausgegangen ist, dort also ihren Ursprung hat. Senden impliziert nicht vorrangig Präexistenz, sondern Beauftra- 106 T HOMAS NOACK gung. In diesem Sinne erscheint auch der Täufer als ein von Gott Gesandter (Joh 1,6 mit »apostellein«; Joh 1,33 mit »pempein«). Klar dürfte sein, dass mit diesen Verben nicht seine Präexistenz ausgesagt werden soll, sondern seine Beauftragung (vgl. in Joh 1,33 den finalen Infinitiv »zu taufen«). Auch die Jünger werden von Jesus als Beauftragte ausgesandt (Joh 4,38; 17,18 mit »apostellein« und Joh 13,16.20 mit »pempein«). Indem sich Jesus, der Sohn, als vom Vater gesandt zu erkennen gibt, bringt er seine vollkommene Willens- und Wirkgemeinschaft mit dem Vater zum Ausdruck, dass er also »nichts von sich selbst aus tut« (Joh 8,28). Das Leben des Gesandten ist ganz und gar das des Sendenden. So tut er den Willen des Sendenden (Joh 4,34; 5,30; 6,38; inhaltliche Bestimmung des Willens in Joh 6,39) und verrichtet somit sein Werk (Joh 4,34). Auch die Lehre bzw. Botschaft des Gesandten ist eigentlich die des Sendenden (Joh 7,16; 12,49; 17,8). Das vom Vater Gesandtsein bedingt Jesu intime Kenntnis des Vaters (Joh 7,29). Es wird auf dreierlei Weise verifiziert, erstens durch den Verweis auf die Werke (Joh 5,36), zweitens durch das Selbstzeugnis und das Zeugnis durch den Vater (Joh 8,18), drittens durch die Selbstlosigkeit Jesu (Joh 7,18). 7. Zur Christologie der Verherrlichung Swedenborg lehrt eine Christologie der Verherrlichung: »Der Herr verherrlichte sein Menschliches, das heißt er machte es göttlich, geradeso wie er den Menschen wiedergebiert, das heißt geistig macht.« (WCR 105). »Verherrlichen« bedeutet »göttlich machen« (HG 2632). Diese Christologie kann im Unterschied zur statischen und klassischen Zweinaturenlehre (»wahrer Gott und wahrer Mensch«) auch dynamische Christologie genannt werden, denn hier wird ein Prozess in der Person des Erlösers sichtbar, der das Urbild der seither möglichen Wiedergeburt ist. Das kultische Geschehen des Alten Bundes wurde durch die Schöpfertat des fleischgewordenen Logos im Neuen Bund nach innen verlagert und so in Christus zum Prozess der Verherrlichung und in den Christen zur Wiedergeburt. Jesus war der Anfang dieses Weges, »der Erstgeborene von den Toten« (Kol 1,18; Offb 1,5). Die S TREIFLICHTER 107 Christologie der Verherrlichung ist die Zusammenfassung dieses neuen, christlichen Weges. Der neutestamentliche Anknüpfungspunkt ist vor allem das Johannesevangelium. Der innere Entwicklungsgang des Erlösers wird mit den Verben »hinaufsteigen« (Joh 3,13; 6,62; 20,17), »erhöhen« (Joh 3,14f.; 8,28; 12,32.34) und besonders »verherrlichen« (Joh 7,39; 11,4; 12,16.23.28.31.32; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1.4. 5.10) zum Ausdruck gebracht. Die ersten beiden Verben sind solche der Bewegung im Raum. »Hinaufsteigen« ist hierbei mit der Stadt des Tempels verbunden (Joh 2,13; 5,1; 7,8.10.14; 11,55; 12,20), wobei Joh 7,8 doppelsinnig die Brücke zum Leidensweg Jesu schlägt. Der Aufstieg nach Jerusalem setzt sich in der Erhöhung durch das Kreuz fort, so dass Jesus nicht nur den Jahwetempel, sondern sogar Jahwe selbst erreicht. »Erhöhen« bezieht sich auf das Kreuz (beachte beispielsweise »muss« in Joh 3,14; 12,34) und entdeckt darin die Aufrichtung der Königsherrschaft (vgl. die Pilatusinschrift Joh 19,19-22) und die Erhebung in den Raum des Göttlichen (vgl. das Oben - Unten - Schema Joh 3,31; 8,23; 11,41). Derselbe Vorgang der Bewegung nach oben kann vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Kabod- Vorstellung als Verherrlichung beschrieben werden. Aus der verwendeten Terminologie ist also bereits ersichtlich, dass Jesu Verherrlichung seine Aufnahme in den Bereich des Göttlichen meint. Um das noch etwas deutlicher zu machen, sei darauf hingewiesen, dass die neutestamentliche Bedeutung des Wortes »doxa« (Herrlichkeit) auf das alttestamentliche Wort »kabod« (Herrlichkeit) zurückgeführt werden muss, denn »doxa« ist die beherrschende Septuagintaübersetzung von »kabod«, so dass dessen gesamte Sinnfülle in das griechische Äquivalent übergehen konnte. »Kabod« wird im Alten Testament von Gott ausgesagt und bedeutet das Wahrnehmbare seines Zur-Erscheinung-Kommens. Der an sich unsichtbare Gott offenbart sich nämlich als Feuer und Licht, umgeben von einer Wolke. Und da die Grundbedeutung von »kabod« Schwere ist, soll auch das Beeindruckende, das Wuchtige seiner Offenbarungsgestalt mitempfunden werden. Der »kabod« Jahwes lässt sich im »Zelt der Begegnung« (Ex 40,34f.) 108 T HOMAS NOACK und später im Tempel (1 Kön 8,11) nieder. Dieses Zusammensein von »kabod« und Zelt ist auch in Joh 1,14 anzutreffen, wo es heißt: »Und der Logos wurde Fleisch und zeltete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit«. Das Fleisch Jesu, seine sterbliche Daseinsgestalt, ist demnach das Zelt, in dem die Herrlichkeit des Jahwewortes in der Menschenwelt anwesend ist und das Gegenwärtigsein des unsichtbaren Gottes bezeugt (beachte auch Joh 2,21). Während »kabod« im Alten Testament auf Jahwe bezogen ist, geht das christliche Testament über die heiligen Schriften Israels hinaus, indem es »das Wort, das Träger der Gottesaussage geworden war, zugleich zum Träger der Christusaussage macht.« (ThWNT II,251). Das Christentum spricht von der Herrlichkeit des Erhöhten. Paulus (an)erkennt den »Herrn der Herrlichkeit« (1 Kor 2,8; 2 Kor 3,18), »die Herrlichkeit Gottes im Angesichte Jesu Christi« (2 Kor 4,6) und die »Herrlichkeit Christi, der Gottes Bild ist« (2 Kor 4,4). Zu beachten sind ähnliche Aussagen der Paulusschule (2 Thess 2,14; Tit 2,13), Jakobus 2,1 und die Formulierung des Hebräerbriefes, wonach der Sohn »der Widerschein der Herrlichkeit (Gottes) und der Ausdruck seines Wesens« ist (Hebr 1,3). Die Herrlichkeit des Erhöhten wird seiner zweiten Ankunft (Parusie) das Gepräge geben. Denn »sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 24,30; siehe auch 16,27; 25,31; 1 Petr 4,13). Die Verherrlichung ist ein Vorgang. Denn das Nomen »doxa« erscheint verbalisiert als »doxazein« (verherrlichen, verklären); als dieses Denominativum mit Herkunft von »doxa« ist es ein für das Johannesevangelium sehr bezeichnendes Verbum, welches besagen will, dass Jesus, der Sohn Gottes, in den »kabod« Gottes erhoben und aufgenommen bzw. in den »kabod« seines göttlichen Vaters verwandelt worden ist. Jesus war nicht von Anfang an verherrlicht, sondern wurde erst später verherrlicht; dies belegt allein schon der Hinweis auf Joh 7,39 (»… denn Jesus war noch nicht verherrlicht«). Die Verherrlichung geschah durch das Leiden Jesu. Belegstellen für diese Lokalisation sind Joh 12,16; S TREIFLICHTER 109 12,23 (beachte das Motiv der »Stunde«); 13,32 (Gott »wird ihn bald verherrlichen«); 17,1 (der Beginn des Verherrlichungsgebetes wiederum mit dem Motiv der »Stunde«) und überhaupt das gehäufte Vorkommen von »verherrlichen« ab Joh 11. Die Verherrlichungsaussage im Rahmen der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,4) könnte in Korrelation zum Tötungsbeschluss (Joh 11,53) zu verstehen sein; und die im Anschluss an den Weggang des Verräters (Joh 13,31) muss im Zusammenhang mit der dadurch unwiderruflich eingeleiteten Abwicklung der Passion gesehen werden, so dass auch von daher das Kreuz als die Stätte der Verherrlichung sichtbar wird. Gleichwohl scheint Joh 12,28 einen Stufenweg der Verherrlichung anzudeuten, denn dort sagt die Stimme vom Himmel: »Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn abermals verherrlichen.«134 Das Kreuz bleibt aber so oder so der paradoxe Kulminationspunkt der Verherrlichung, eine Hinrichtung wird zur Erhöhung. Die Christologie der Verherrlichung mag im vierten Evangelium besonders reich ausgebaut sein, denn sie entspricht dem johanneischen Darstellungsinteresse, gleichwohl ist sie aber nicht nur auf diesen Teil der neutestamentlichen Überlieferung beschränkt. In Apg 3,13 wird »verherrlichen« ähnlich wie im Johannesevangelium verwendet: »Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht«. Übereinstimmend mit dem Johannesevangelium ist Gott hier das Subjekt und Jesus das Objekt der Verherrlichung. Außerdem legt der Kontext von Apg 3,13 nahe, dass die Verherrlichung durch Kreuz und Auferstehung geschieht. Interessant im Rahmen der hochpriesterlichen Christologie des Hebräerbriefes ist die Aussage: »So verherrlichte sich auch der Christus nicht selbst, um Hoherpriester zu werden, sondern der [verherrlichte ihn], der zu ihm sprach: Mein Sohn bist du, ich habe heute dich gezeugt …« 134 Die Verklärungsszene Jesu bei den Synoptikern berichtet namentlich in der lukanischen Fassung vom Sichtbarwerden der Herrlichkeit Jesu vor dem Leiden (vgl. 9,32 mit 24,26). Markus und Matthäus verwenden »verwandeln« (metamorfoo). 110 T HOMAS NOACK (Hebr 5,5). Auch hier verherrlicht Gott den Christus, wobei dies im Modus des Gehorsam geschieht (siehe Vers 8; vgl. damit die Speise des Gotteswillens nach Joh 4,34). Es gibt weitere Stellen, die zwar nicht das Verb »verherrlichen« verwenden, aber ebenfalls einen Vorgang erkennen lassen, der zur Herrlichkeit führt. »Mußte nicht Christus dieses leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26). Der Geist Christi in den Propheten bezeugte »die Leiden Christi und die Herrlichkeiten danach« im voraus (1 Petr 1,11). Gott hat den Christus von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben (1 Petr 1,21). Jesus Christus empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit (2. Petr 1,17). »Er wurde … aufgenommen in die Herrlichkeit« (1 Tim 3,16). Und in Phil 3,21 ist vom »Leib seiner Herrlichkeit« (verherrlichten Leib) die Rede. Man muss demnach einen Unterschied machen zwischen dem vorösterlichen Sohn, »der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids«, und dem nachösterlichen Sohn, »der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,1-4). 8. Das Verhältnis von Vater und Sohn Nach johanneischer Theologie macht Jesus, der Sohn, den Vater sichtbar: »Niemand hat Gott je gesehen; der einziggeborene Gott (aber), der an der Brust des Vaters ruht, der hat (ihn) kundgetan.« (Joh 1,18). Das hier am Ende des Prologs stehende Verb »exegeomai« bedeutet eigentlich herausführen, wird dann aber wie das deutsche ausführen auch im Sinne von auseinandersetzen, darstellen und berichten gebraucht. Der Sohn führt den unsichtbaren Vater aus der Verborgenheit heraus und wird dadurch zur sichtbaren Textur des Vaters. Daher kann er sagen: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.« (Joh 14,9). Der Sohn ist das Bild des Vaters, so begegnet uns dieser Gedanke in der Briefliteratur: Nach 2 Kor 4,4 ist Christus »Gottes Bild«, nach Kol 1,15 »das Bild des unsichtbaren Gottes«. Dass unter dem Bild der Leib Christi zu verstehen ist, zeigt Kol 2,9, wonach in Christus »die S TREIFLICHTER 111 ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (somatikos)« wohnt.135 Auf der Linie der Bildtheologie liegt auch der Hebräerbrief, nach dem der Sohn »Abglanz der Herrlichkeit« Gottes und »Abdruck seines Wesens« ist (Hebr 1,3). Ähnlich äußerte sich auch Klemens von Rom, der nach einem Bericht bei Irenäus ein Schüler von Petrus und Paulus war 136 (vgl. Phil 4,3) und um 96 einen Brief an die Gemeinde in Korinth schrieb; darin heißt es: Durch Jesus Christus »schauen wir wie im Spiegel sein (Gottes) untadliges und allerhöchstes Antlitz«137. Noch in den 80er Jahren des 2. Jahrhunderts war dieser Glaube bei Irenäus von Lyon, einem Schüler Polykarps von Smyrna138, der seinerseits ein Schüler des Apostels Johannes war 139, zu finden. In seinem Hauptwerk »Entlarvung und Widerlegung der falschen Gnosis«, gewöhnlich »Adversus haereses« genannt, lesen wir: »Der Vater ist das Unsichtbare (invisibile) des Sohnes, und der Sohn das Sichtbare (visibile) des Vaters.«140 Dieser urchristliche Gedanke ist in der Theologie Swedenborgs wieder zentral geworden: »Diese neue (oder kommende) Kirche ist die Krone aller Kirchen, die bisher auf Erden bestanden haben, weil sie einen schaubaren Gott verehren wird, in dem der unschaubare wohnt wie die Seele im Leib.« (WCR 787). Dieser Glaube ist nur mit der Anschauung einer einzigen göttlichen Person realisierbar, und diese eine und einzige Person ist der Kyrios. Deswegen schreibt Swedenborg: »Gott ist dem Wesen und der Person nach Einer.« (WCR 2). Dieser Glaube, der nur eine göttliche Person kennt, ist trotzdem ein trinitarischer, nur sind 135 Für Swedenborg war Kol 2,9 eine wichtige Stelle, auf die er sich oft bezog 136 137 138 139 140 (siehe : General Index to Swedenborg's Scripture Quotations, London: The Swedenborg Society, 2006). Irenäus von Lyon, Adversus haereses, III 3,3. 1. Klemensbrief 36,2. Das griechische Verb »enoptrizomai« bedeutet »im Spiegel anschauen« oder auch einfach »anblicken«, so dass man auch übersetzen könnte: Durch Jesus »blicken wir sein (Gottes) … Antlitz an«. Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, IV 14,3-8; V 20,4-8. Tertullian, De praescriptione haereticorum, 32,2; Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, V 20,6. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, IV 6,6. 112 T HOMAS NOACK der Vater, der Sohn und der heilige Geist nicht mehr drei nebeneinander, sondern drei ineinander liegende Kreise mit einem gemeinsamen Mittelpunkt. Noch einmal Swedenborg: »Wer von der Gottheit die Vorstellung dreier (verschiedener) Personen hat, kann nicht (zugleich) die Vorstellung eines einzigen Gottes haben. Er mag zwar mit dem Munde einen Gott nennen, denkt aber dennoch drei. Wer hingegen von der Gottheit die Vorstellung von drei in einer Person hat, der kann die Vorstellung eines einzigen Gottes haben, einen Gott nennen und auch einen Gott denken.« (NJ 289).141 Diese einfache Vorstellung lässt uns mit den ersten Christen in Christus Jesus wieder »das Bild des unsichtbaren Gottes« erkennen. 9. Der heilige Geist Der heilige Geist ist keine dritte Person neben dem Vater und dem Sohn, sondern die »divina operatio« (göttliche Wirksamkeit) der einen göttlichen Person des Kyrios (WCR 138). Der Kyrios ist in der Kraft des heiligen Geistes erfahrbar. Paulus schrieb: »Der Kyrios ist der Geist« (2 Kor 3,17). Nach Ingo Hermanns Analyse ist damit gemeint: »Christus wird erfahrbar als Pneuma.«142 »das euch bekannte lebendigmachende Pneuma ist in Wirklichkeit Christus der Herr. Denn er ist es, den wir erfahren, wenn wir das 141 Ebenso auch Jakob Lorber: »Wir halten dafür ... daß Gott nur eine einzige Person ist, welche Person aber in Sich Selbst eigentlich sozusagen aus drei Göttern besteht. Tres in unum!« (RB II,270,8). »Ich bin, als nun ein Mensch im Fleische vor euch, der Sohn und bin niemals von einem andern als nur von Mir Selbst gezeugt worden und bin eben darum Mein höchsteigener Vater von Ewigkeit. Wo anders könnte da der Vater sein als nur im Sohne, und wo anders der Sohn als nur im Vater, also nur ein Gott und Vater in einer Person?« (GEJ 8,27,2). Schon bei dem Theosophen Jakob Böhme heißt es : »… daß aber in gemein gesagt wird, Gott sey dreyfaltig in Personen, das wird von den Unverständigen übel verstanden, auch wohl von theils Gelehrten : denn Gott ist keine Person, als nur in Christo« (Mysterium Magnum 7,5). Es gibt also nur eine einzige göttliche Person, den Kyrios, der aber in sich dreifaltig ist , das heißt bei dem drei »Wesensschichten« (essentialia, WCR 166ff.) zu unterscheiden sind. 142 Ingo Hermann, Kyrios und Pneuma: Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, 1961, Seite 49. S TREIFLICHTER 113 Pneuma in uns wirkend finden.«143 Hermann veranschaulicht das mit einem Bild: »Wie ich die Sonne in ihren Strahlen erfahre, so erfahre ich den Kyrios als das Pneuma. Das Pneuma ist das unaufhörliche Ausstrahlen des Erhöhten. Dieses Strahlen trifft auf den Menschen auf. Der nimmt die Strahlungsmacht – das Pneuma – wahr und weiß: das ist der Herr; wie er die Strahlungswärme der Sonnenstrahlen wahrnimmt und weiß: das ist die Sonne.«144 2 Kor 3,17 ist die Spitzenaussage. Parallelen sind in Röm 1,1-5; 1 Kor 15,45; 1 Kor 6,17 und Röm 8,9-11 zu finden. Und über alle diese Aussagen hinaus ist am Ende sogar das gesamte theologische Denken des Paulus von dem Bewusstsein der Identität von Kyrios und Pneuma durchdrungen. Hermann kommt daher zu einem in unserem Zusammenhang interessanten Schluss: »Weil der ›eigentliche‹, theologisch prägnante Sprachgebrauch des Paulus im Pneuma eine Gott und Christus eigene Potenz sieht, verbietet sich für eine Paulusinterpretation jede Hypostasierung des Pneuma in Richtung auf eine selbständige 3. trinitarische Person«145. Das Matthäusevangelium schließt mit den Worten: »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Aions.« (Mt 28,20). Der heilige Geist wird hier nicht genannt (wohl aber in Mt 28,19). Stattdessen wird den Jüngern das Mitsein des Auferstandenen zugesagt. Unter einem systematischen Gesichtspunkt kann man diese Beobachtung von Paulus her verstehen: Im Wehen des heiligen Geistes ist eben niemand anders als der Kyrios selbst wirksam. Im Johannesevangelium wird die Situation des Abschieds am ausführlichsten bedacht. Es geht um die Frage: »Wie ist der Abwesende anwesend?«146 Im Kontext der Abschiedsreden verheißt Jesus den 143 Ingo Hermann, a.a.O., Seite 49. 144 Ingo Hermann, a.a.O., Seite 50. 145 Ingo Hermann, a.a.O., Seite 140. Die hypostatische Verselbständigung des Geistes zu einem Dritten neben Vater und Sohn läßt sich als eine Folge der Hypostasierung des Sohnes betrachten (siehe Geoffrey Lampe, God as Spirit: The Bampton Lectures 1976, Oxford 1977, Seite 210 vgl. 132f. Den Hinweis verdanken wir Wolfhart Pannenberg, STh 1,293). 146 Jean Zumstein, Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, 1999, Seite 116. 114 T HOMAS NOACK Seinen »einen anderen Beistand«; der wird »bei euch« sein »in Ewigkeit (gr. Aion)« (Joh 14,16). Die Nähe zur matthäischen Zusage ist unübersehbar. In beiden Fällen ist vom Mitsein (»bei euch«) und einer zeitlichen Erstreckung unter Verwendung des Wortes »Aion« die Rede. Im Matthäusevangelium ist diese Zusage aber mit Jesus verbunden. Im Johannesevangelium ist sie dagegen mit dem anderen Beistand verbunden. Doch der wird sogleich mit Jesus identifiziert. Jesus sagt nämlich: »Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen; ich komme zu euch.« (Joh 14,18; siehe auch 14,19). Wir kommen also wieder zu demselben Ergebnis: Der heilige Geist ist die Anwesenheit des Kyrios.147 Die Andersartigkeit des nachösterlichen Beistandes erklärt sich aus der Verherrlichung (vgl. Joh 7,39 mit 16,7). Vor seiner Verherrlichung war Jesus als das fleischgewordene Wort gewissermaßen der Leib der Wahrheit (Joh 14,6); nach seiner Verherrlichung ist er hingegen als »Geist der Wahrheit« (Joh 14,17; 15,26; 16,13) und insofern als ein anderer Beistand anwesend. Denn der Auferstandene darf nicht als eine wunderbar wiederbelebte Leiche angesehen werden. Der durch das Konzept der Verherrlichung gegebene Anschluss an die alttestamentliche Kabodvorstellung deutet in eine ganz andere Richtung. Der Verherrlichte ist der in die Herrlichkeit Jahwes Aufgenommene: der Kyrios. Als solcher kann er den Seinen nach Ostern wahrlich ein anderer Beistand sein als vor seiner Verherrlichung. Der heilige Geist ist also die Sphäre der Wirksamkeit des Kyrios.148 147 Peter Stuhlmacher: »Der Paraklet ist der als Geist vor Gott und unter den Menschen wirkende Christus.« (Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 2, 1999, Seite 261f.). Jean Zumstein: »Der nachösterliche Paraklet ist in gewisser Weise der Doppelgänger des vorösterlichen Jesus.« (Kreative Erinnerung, 1999, Seite 56). 148 Wilfried Joest wehrt sich dagegen, die Wirklichkeit des heiligen Geistes »unpersönlich, als bloße von Gott ausgehende Kraft zu verstehen« (Dogmatik, Band 1, 1995, Seite 337). Zwar werde vom heiligen Geist so gesprochen, als sei er eine Kraft, ein Raum oder Kraftfeld und eine Gabe, aber gleichzeitig wird von ihm auch in personhafter Weise gesprochen, so dass man sagen muss: In dem, »was von Gott ausgeht«, ist »Gott selbst »in Person« gegenwärtig« (a.a.O., 1,308f.). Diese Gegenwehr von Joest ermöglicht uns die Ver- S TREIFLICHTER 115 Auch Swedenborg hebt die Identität von Kyrios und Pneuma hervor: »Der heilige Geist ist das vom Herrn ausgehende Göttliche (Divinum Procedens a Domino), und dieses ist der Herr selbst.« (LH 46). »Durch den heiligen Geist wird eigentlich das göttliche Wahre bezeichnet, somit auch das Wort. In diesem Sinne ist der Herr selbst sogar der heilige Geist.« (WCR 139). »Unter dem Paraklet wird das göttliche Wahre verstanden, das der Herr war, als er in der Welt war, und das (nun) vom Herrn ausgeht, nachdem er sein Menschliches verherrlicht hat und aus der Welt gegangen ist. Darum sagt er, dass er den Paraklet senden und (gleichzeitig) dass er selbst kommen werde.« (HG 9199). Biblische Begründungen für die Identität von Kyrios und Pneuma sieht Swedenborg in Joh 14,16-18 (HG 9199, WCR 139) und Mt 28,18-20 (LH 46, WCR 139). Mit dem Neuen Testament können wir abschließend sagen: Das Christentum ist tatsächlich eine monotheistische Religion, weil sich die Rede vom Vater, vom Sohn und vom heiligen Geist im Sinne einer einpersönlichen Trinitätslehre interpretieren lässt. deutlichung der eigenen Aussage: Der heilige Geist ist keine unpersönliche Kraft. Allerdings ist er auch keine dritte Person. Vielmehr ist er die Anwesenheit und Wirksamkeit der einen göttlichen Person des Kyrios. Zwar muss man den Geist des Kyrios vom Kyrios selbst als der persönlichen Mitte seiner Allwirksamkeit unterscheiden, dennoch gilt: Überall, wo der heilige Geist erfahren wird, da wird niemand anders als der Kyrios selbst erfahren. Daher ist der Geist keine unpersönliche Auswirkung eines im übrigen »in Distanz bleibenden Gottes« (a.a.O., 1,309). Vielmehr ist er die wirksame Anwesenheit des Christengottes; und daher wird dieses im Glauben erfahrbare Sein im Kraftfeld des Geistes als das Aufgehobensein in der warmherzigen Nähe Jesu erlebt. 116 T HOMAS NOACK Das Kreuz: Die Theologie eines Todes 1. Eine unerhörte These Das Leiden am Kreuz war nicht die Erlösung. Swedenborg schrieb: »Das Leiden am Kreuz (passio crucis ) war die letzte Versuchung, die er als der größte Prophet auf sich genommen hat und war das Mittel zur Verherrlichung seines Menschlichen , das heißt zur Vereinigung mit dem Göttlichen seines Vaters , es war aber nicht die Erlösung (et non Redemptio).« »Dass man glaubt, das Leiden am Kreuz sei die Erlösung schlechthin gewesen , ist ein fundamentaler Irrtum der Kirche« (WCR 114). Zusammen mit dem Glauben an die drei Personen des einen göttlichen Wesens und die zwei Naturen der einen Person des Erlösers hat dieses Dogma die ganze Kirche, will sagen die ganze christliche Theologie, verwüstet (WCR 378). Angesichts solcher Worte kann man den Aposynagogos 149 (»Rausschmiss«) der neuen Kirche aus der alten verstehen. Denn das Kreuz ist zum Symbol der Erlösung geworden.150 Doch auch die neue Kirche, deren Symbol die Gottessonne des Auferstandenen ist, steht auf dem Boden bestimmter Schichten des Neuen Testaments, und auch ihre Theologie hat eine soteriologische Dimension. Aber sie unterscheidet klar zwischen Kreuz und Erlösung. »Erlösen bedeutet von der Verdammnis befreien, vom ewigen Tod erretten, der Hölle entreißen und die Gefangenen und Gebundenen der Hand des Teufels entwinden.« (WCR 118). »Die Erlösung bestand in der Unterjochung der Höllen und der Neuordnung der Himmel und so in der Vorbereitung einer neuen geistigen Kirche.« (WCR 115). Das ist unter Erlösung zu verstehen. Außerdem ist sie kein punktuell- einmaliges Ereignis, denn – so Swedenborg – »der Herr vollbringt auch heute (im 18. Jahrhundert) eine Erlösung, 149 Aposynagogos ist ein Begriff aus dem Johannesevangelium ( 9,22; 12,42; 16,2 ) und bezeichnet den Ausschluss von Christen aus dem Synagogenverband. 150 Daher bezeichnet der »Katechismus der katholischen Kirche« den Kreuzestod als »Erlösungstod« (Seite 185ff.) . S TREIFLICHTER 117 die im Jahr 1757 mit dem Jüngsten Gericht begann « (WCR 115). Daher darf man die Erlösung nicht exklusiv mit der Kreuzigung in eins setzen . Doch welche Bedeutung bleibt dann noch für das Kreuz übrig? 2. Swedenborgs Theologie des Kreuzes Cicero bezeichnete die Kreuzigung als »die grausamste und scheußlichste Todesstrafe (crudelissimum taeterrimumque supplicium)« (In Verrem II 5,165). Das war die Bedeutung des Kreuzes bis zu jenem »ersten Tag der Woche« (Mk 16,2), der die Welt für immer verändern sollte. Damals begann die geistige Durchdringung des leeren Grabes. Aus Tränen wurden Tautropfen des Himmels. Alles erschien in einem neuen Licht. Jesus verstand sich selbst als Prophet und wurde auch vom Volk als solcher angesehen (Mk 6,4; Lk 7,16; Mt 21,11; Joh 7,40 ).151 Daher deutete er seinen Tod im Horizont des Schicksals der Propheten : »Doch ich muss heute und morgen und am folgenden Tag wandern ; denn es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkomme.« (Lk 13,33; vgl. Lk 11,49ff.; Mt 23,37 ). In Mt 12,40 vergleicht Jesus sein Schicksal mit dem des Propheten Jona. Daraus schließt Swedenborg: »Der Herr stellte, weil er das (göttliche) Wort selbst war, durch sein Leiden am Kreuz als der Prophet schlechthin das Judentum (zeichenhaft) dar, insofern es das Wort entweihte.« (WCR 129). Die Kreuzigung ist demnach im Kontext der prophetischen Zeichenhandlungen zu verstehen . Durch diesen Tod sollte Jesus nach dem Willen des Judentums in Übereinstimmung mit Deuteronomium 21,22f. (siehe Gal 3,13; Apg 5,30; 10,39; 13,29) als ein von Gott Verfluchter dargestellt werden. Doch tatsächlich wurde das Kreuz zum mit propheti- 151 In WCR 114 schreibt Swedenborg: »In der Kirche ist bekannt, dass der Herr zwei Ämter auf sich vereinigte, das priesterliche und das königliche.« Muss man angesichts des Auftretens Jesu als Prophet nicht auch von einem prophetischen Amt sprechen ? In der Kirche ist eigentlich die Lehre vom dreifachen (nicht zweifachen) Amt Christi bekannt. Luther jedoch geht in »Von der Freiheit eines Christenmenschen« von 1520 nur auf das Priestertum und das Königtum Christi ein. 118 T HOMAS NOACK scher Vollmacht verkündigten Gerichtsurteil über das Judentum , das – wie es die Kreuzestafel (Mt 27,37) anzeigte – seinen eigenen Messias ausrotten wollte. Auch nach dem Bericht des Johannesevangeliums geriet das Gericht über Jesus zum Gericht Jesu über sein Volk .152 So ist das Kreuz ein prophetisches Zeichen sondergleichen , das den tatsächlichen Zustand des Judentums zur Zeit Jesu offenbarte, den Zustand der Entweihung des Wahren , der die eigentliche Ursache der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus und somit des Endes des antiken Judentums war. Diese Deutung des Kreuzes als Gerichtsurteil über das Gottesvolk ist noch keine soteriologische. Swedenborg trägt aber noch eine weitere vor, die heilsgeschichtliche Konsequenzen hat. Das Leiden Jesu am Kreuz war nämlich auch »die letzte Versuchung« und »das Mittel zur Verherrlichung seines Menschlichen« (WCR 126). Da Versuchungen nichts anderes sind als »Kämpfe gegen die Höllen« (LH 12), kann das Leiden am Kreuz auch als »der letzte Kampf und Sieg« (HG 10655) dargestellt werden. Von den Versuchungen Jesu ist im Neuen Testament kaum die Rede. Wir können nur auf die vierzig Tage in der Wüste (Mk 1,12f.) und zwei Stellen im Hebräerbrief (2,18; 4,15) hinweisen. Nach Swedenborg gehören außerdem der Kampf in Gethsemane (Mk 14,32-42) und das Leiden am Kreuz (Mk 15,22-38) als die letzten Versuchungen dazu (LH 12). Das Alte Testament christlich gelesen gewährt dagegen einen umfassenderen Einblick in die inneren Kämpfe Jesu. Zu verweisen ist auf die Psalmen und die Propheten (LH 12). Ein eminenter Text in dieser Hinsicht, schon in neutestamentlicher Zeit als solcher erkannt, ist das Lied vom leidenden Gottesknecht (Jes 52,13-53,12; siehe 152 Eine Schlüsselfunktion hat Joh 19,13b. Dieser Teilvers kann bedeuten: »er ( Pilatus) setze sich auf den Richterstuhl«. Er kann aber auch bedeuten: »er ( Pilatus) setze ihn (Jesus) auf den Richterstuhl« oder »er ( Jesus) setzte sich auf den Richterstuhl«. Unterschwellig soll gesagt werden: Der Angeklagte sitzt auf dem Richterstuhl, und die Ankläger stehen vor ihrem eschatologischen Richter und sprechen sich selbst das Urteil, indem sie sagen: »Wir haben keinen König außer dem Kaiser!« (Joh 19,15). S TREIFLICHTER 119 LH 15). Die beständigen Kämpfe und Siege und insbesondere der brutalste am Kreuz bewirkten »die Verherrlichung« Jesu . Indem Swedenborg diese Idee zum zentralen Interpretament des Kreuzestodes machte, knüpfte er im Neuen Testament vor allem an das Johannesevangelium an .153 Das johanneische Auge erkannte mit dem geistigen Scharfblick des Adlers im äußeren Geschehen das innere Geheimnis Gottes und so im Aufstieg nach Jerusalem , der Stadt des Jahwetempels , und in der Erhöhung am Kreuz die Aufnahme Jesu in den Bereich des Göttlichen . Als zentrales Deutewort der sinnenfälligen Akte des Hinaufsteigens und des ErhöhtWerdens des Menschensohnes wählte Johannes »verherrlichen (doxazein)«. Um die Bedeutung dieser Wortwahl verstehen zu können , muss man sich den alttestamentlichen Hintergrund vergegenwärtigen . In der Septuaginta, der griechischen Bibel der ersten Christen , ist Doxa – das Substantiv, von dem das Verb »doxazein« abgeleitet ist – die beherrschende Übersetzung des hebräischen Wortes Kabod (Herrlichkeit). Der Kabod ist die Erscheinungsform Jahwes. Er lässt sich im »Zelt der Begegnung« (Ex 40,34f.) und im Tempel Salomos (1 Kön 8,11) nieder, um die Einwohnung Gottes in der Welt anzuzeigen . Dementsprechend heißt es im Prolog des Johannesevangeliums : »Und der Logos wurde Fleisch und zeltete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit«. (Joh 1,14). Das »Fleisch«, das heißt Jesus in seiner Leiblichkeit, ist also der Tempel des neuen Bundes (Joh 2,21), in dem sich der Kabod Jahwes niedergelassen hat. Doch Johannes verwendet nicht nur das Substantiv »Herrlichkeit«, sondern mit Vorliebe auch das Verb »verherrlichen«. Damit deutet er auf einen Vorgang, nämlich den der Verherrlichung oder der Aufnahme Jesu in den Kabod oder die Herrlichkeit seines Vaters . Er deutet 153 Der Weg Jesu wird im Johannesevangelium mit den Verben »hinaufsteigen« (3,13; 6,62; 20,17), »erhöhen« (3,14f.; 8,28; 12,32.34) und besonders »verherrlichen« (7,39; 11,4; 12,16.23.28.31.32; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1.4.5. 10) in Verbindung gebracht. Außerhalb des Johannesevangeliums sei auf Lk 24,26 hingewiesen: »Mußte nicht Christus dieses leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« 120 T HOMAS NOACK also auf die Vergöttlichung Jesu , der so der Kyrios oder Adonai des neuen Bundes wurde, der schaubare Gott, »in dem der unschaubare wohnt wie die Seele im Leib« (WCR 787). Swedenborgs Auslegung ist daher völlig sachgemäß : »Verherrlichen heißt göttlich machen.« (NJ 294). Und da die Verherrlichung durch das Leiden am Kreuz geschah (Joh 12,16.23; 13,32; 17,1), ist also diese »Passio crucis« das Mittel zur Verherrlichung bzw. Vergöttlichung Jesu gewesen. Durch die Auferstehung wurde der im Kampf am Kreuz errungene Sieg (zumindest für die Anhänger Jesu) öffentlich. Die Auferstehung war keineswegs die Antizipation des Ausgangs der Menschheitsgeschichte, die Vorwegnahme der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Geschichte (siehe W. Pannenberg), sondern ein einmaliges Ereignis , das so keinem anderen Sterblichen widerfahren wird (HG 5078). Für sie besteht die Auferstehung in der Wiedergeburt, »denn wenn der Mensch wiedergeboren wird, dann wird er aus einem Toten ein Lebender, er steht also (von den geistig Toten ) auf« (HG 6554). Obgleich sich die Verherrlichung von einem Sünder nicht wiederholen lässt, wurde sie zur Voraussetzung der Wiedergeburt, die Swedenborg deswegen »das Abbild (imago repraesentativa) der Verherrlichung des Herrn« nennt (HG 6827). Kreuz und Auferstehung überwanden den kultischen Gottesdienst und gaben den inneren Weg zum Herzen Gottes frei und somit auch zu einer neuen Religion . Das wurde dadurch angedeutet, dass beim Tod Jesu der Vorhang im Tempel zerriss und den Blick in das Allerheiligste freigab (siehe Mk 15,38 usw. und Swedenborgs Deutung in HG 4772, 9670 , OE 220, 400 154). Das entsprechende Bild bei Johan154 Vgl. auch Jakob Lorber JJ Vorrede 3 und GS 2,13,13 und Leopold Engel GEJ 11,74,24 . Peter Stuhlmacher: »Mit Jesu Kreuzestod auf Golgatha zerreißt der im Tempelgebäude das Allerheiligste von der Tempelhalle abtrennende und nur am Großen Versöhnungstag vom Hochpriester zu durchschreitende Vorhang (vgl. Lev 16,2-15) von oben bis unten und gibt das Allerheiligste frei. Das bedeutet : Der Sühnetod Jesu als des leidenden Gerechten bzw. Gottesknechts eröffnet die prosagoge eis ton theon [den Zugang zu Gott] (vgl. Röm 5,2) ohne weitere priesterlich-kultische Vermittlung.« ( Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 148 ). S TREIFLICHTER 121 nes ist der Lanzenstich des Soldaten in die Seite (eine Anspielung auf Gen 2,21) und das Herz Jesu (Joh 19,34 und OE 329). Dass die Lanze nicht nur den Brustraum durchbohrte, sondern auch das Herz Jesu als das Allerheiligste des neuen Tempels , ergibt sich daraus , dass nicht nur Wasser, sondern auch Blut aus der Wunde floss. Auch wenn der Tod Jesu nicht das Ereignis der Erlösung war, sondern das Mittel zur Verherrlichung Jesu , kommt ihm doch eine soteriologische Bedeutung zu , jedoch eine nur mittelbare. Pointiert gesagt: Das Kreuz brachte zwar nicht die Erlösung, wohl aber den Erlöser hervor. Swedenborg formulierte das so: »Obgleich nun aber die Erlösung und das Leiden am Kreuz zwei verschiedene Dinge sind, so bilden sie doch im Hinblick auf das Heil ein Ganzes, denn der Herr wurde durch die Vereinigung mit seinem Vater, die durch das Leiden am Kreuz vollbracht wurde, zum Erlöser in Ewigkeit.« (WCR 127). Durch die am Kreuz zum Abschluss gebrachte Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen kann das Heil nun »bis zum menschlichen Geschlecht gelangen« (HG 2854, 7828). Daher lautet »der Glaube des neuen Himmels und der neuen Kirche in seiner allgemeinen Form « folgendermaßen : »Der Herr von Ewigkeit, welcher JHWH ist, kam in die Welt, um die Höllen zu unterjochen und sein Menschliches zu verherrlichen . Ohne dies 155 hätte kein Sterblicher gerettet werden können , und diejenigen werden gerettet, die an ihn glauben.« (WCR 2 ). Die Unterjochung der Höllen (das ist die Erlösung) und die Verherrlichung des Menschlichen (durch die Kreuzigung) dienen also beide, obwohl sie unterschieden werden müssen , demselben Ziel , nämlich der Rettung (Salvatio) des menschlichen Geschlechts . Das Kreuz hat demnach eine indirekt soteriologische Bedeutung. 155 »Absque eo« kann auch »ohne ihn« bedeuten. Vermutlich ist hier aber nicht die Person , sondern das Werk gemeint , denn im Fortgang steht für die Person eine Form von Ipse (qui credunt in Ipsum). 122 T HOMAS NOACK 3. Abgrenzung von der Satisfaktionstheorie Die kirchliche Lehre, von der Swedenborg sich abgrenzt, fasst er selbst so zusammen: »In der Kirche glaubt man, dass der Herr vom Vater gesandt worden sei, damit er für das menschliche Geschlecht sühne (expiaret), dass das durch die Erfüllung des Gesetzes und das Leiden am Kreuz geschehen sei, dass er somit die Verdammnis auf sich genommen und genuggetan hat (satisfecerit) und dass ohne diese Sühne, Genugtuung (satisfactione) und Versöhnung (propitiatione) das menschliche Geschlecht des ewigen Todes gestorben wäre.« (LH 18; siehe auch LH 15, HG 2854, WCR 132). Bei der hier von Swedenborg dargestellten Lehre handelt es sich um die Genugtuungstheorie Anselms von Canterbury (1033 /34 1109), die er in seiner Schrift »Cur Deus homo« (Warum Gott Mensch geworden ist) entwickelt hat: Da die Menschen Gott den geschuldeten Gehorsam verweigerten, haben sie seine Ehre (honor) verletzt. Sie muss wiederhergestellt werden. Doch die Bestrafung würde die Menschen vernichten , und die der Sünde angemessene Genugtuung (satisfactio) können sie nicht erbringen . Deswegen wurde Gott (das heißt sein Sohn) Mensch. Denn nur Gott kann die Genugtuung leisten , und nur der Mensch darf sie leisten , weswegen es notwendig war, dass ein Gott- Mensch (deus - homo) sie leistete, und zwar durch den freiwillig übernommenen Tod am Kreuz . Die reformatorische Theologie übernahm die Satisfaktionstheorie. Nach der Augsburgischen Konfession IV werden die Menschen gerechtfertigt »propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satisfecit« (um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat). Auch in der katholischen Kirche ist sie seit dem Konzil von Trient die offizielle Lehre.156 156 Im Dekret über die Rechtfertigung (13. Januar 1547) heißt es von Jesus Christus, dass er »durch sein heiligstes Leiden am Holz des Kreuzes … Gott , dem Vater, für uns Genugtuung leistete (satisfecit)« (DH 1529). »Die durch die Sünde Gott zugefügte Beleidigung muß wiedergutgemacht werden. Das geschieht durch die satisfactio, die der fundamentale Begriff der ganzen Erlösungslehre ist.« ( Johannes Brinktrine, Die Lehre von der Menschwerdung S TREIFLICHTER 123 Doch die Sozinianer 157 des 17. Jahrhunderts und die protestantische Theologie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts distanzierten sich von dieser Lehre. Außerdem wurde, nachdem man sich von der Vorstellung getrennt hatte, dass der göttliche Zorn besänftigt werden musste, der Blick dafür frei , dass nach Paulus Gott das Subjekt (nicht das Objekt) der Versöhnung ist: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich« (2 Kor 5,19). Das sind bemerkenswerte Annäherungen an Swedenborg. Jedoch wird eine an Paulus orientierte Theologie die Erlösung bzw. Versöhnung wohl immer exklusiv im Ereignis des Kreuzestodes Jesu erblicken müssen (Röm 5,10). Der schwedische Theologe und Bischof Gustaf Aulén hat drei Typen des Versöhnungsgedankens unterschieden.158 Sie sind uns eine Hilfe bei der theologischen Einordnung Swedenborgs. Der klassische Typ der alten Kirche fasst das Versöhnungswerk als Kampf- und Siegestat Gottes über die Mächte des Verderbens auf, über Sünde, Tod und Teufel , die den Menschen zuvor gefangen hielten. Ist im klassischen Typ das Kampfmotiv bestimmend, so im abendländischen oder lateinischen das Rechtsmotiv. Dieser durch Anselms Genugtuungstheorie repräsentierte Typ sieht die Versöhnung als satisfaktorische Kompensation , die Gott gegeben wird. Die Liebe Gottes ist hier seiner vergeltenden Gerechtigkeit ganz und gar untergeordnet. Darauf reagiert seit der Aufklärung der humanisierende Typ. Für ihn ist Gottes Vaterliebe konstitutiv, so dass Gott nicht mehr der Versöhnte, sondern nur noch der Versöhnende sein kann. Swedenborgs Erlösungslehre ist dem klassischen Typ zuzuordnen (siehe oben WCR 115 und 118). Mit dem humanisierenden Typ seiner Zeit verbindet ihn jedoch die Hervorhebung der Liebe resp. Barmherzigkeit Gottes und Erlösung, 1959, Seite 210). 157 Die Sozinianer – benannt nach den italienischen Humanisten Lelio Sozzini (1525 -1562) und Fausto Sozzini (1539 -1604) – waren eine Mitte des 16. Jahrhunderts in Polen entstandene , den Antitrinitariern zuzurechnende religiöse Bewegung (»Polnische Brüder«). 158 Gustaf Aulén, Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: Zeitschrift für Systematische Theologie 8 (1931) 501-538. T HOMAS NOACK 124 (HG 2854). 4. Wie verhält sich Swedenborgs Deutung des Kreuzes zum Neuen Testament? Wir gingen von Swedenborgs Unterscheidung (siehe »distincta« in WCR 126 ) von Kreuz und Erlösung aus und zeigten , dass seine Interpretation des Kreuzes dennoch neutestamentliche Zeugnisse aufnimmt. Aber die Schriftensammlung des Neuen Bundes ist vielstimmig. Was können wir zu den Stellen sagen , die als Hauptzeugen für den Sühne- bzw. Erlösungstod Jesu am Kreuz genannt werden ? Diese Stellen sind zum Teil den Briefen entnommen . Nun anerkennt die neue Kirche als Gottes Wort im neuen Bund aber nur die Worte und Offenbarungen Jesu Christi , so dass der neutestamentliche Kanon der neuen Kirche nur noch aus den vier Evangelien und der Offenbarung des Johannes besteht (HG 10325 ). Stellen aus den Briefen legte Swedenborg daher kaum aus.159 Maßgeblich ist allein die Verkündigung Jesu . Und ihr Zentrum war jedenfalls nicht das Kreuz , sondern die »basileia tou theou«, die Gottesherrschaft oder das Eingehen in das Reich Gottes (Mt 5,3.10; 6,33; Mk 9,47; Joh 3,3 ). Die Herrschaft Gottes über das Böse (vgl. Mt 6,13: »erlöse uns von dem Bösen«) trat schon vor Kreuz und Auferstehung in Erscheinung, denn Jesus sagte: »Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist ja (dadurch) die Herrschaft Gottes (schon) zu euch gelangt.« (Lk 11,20). Die Erlösung fand also schon vor der Kreuzigung statt. Das Kreuz erlangte seine Bedeutung als Brennpunkt des Heils erst nach Ostern , aus der nachösterlichen Perspektive.160 Daher wird eine auf den Worten Jesu aufbauende Theologie 159 Einen Überblick über den Sachverhalt vermittelt der General Index to Swe- denborg's Scripture Quotations, London 2006. 160 Siehe Wolfhart Pannenberg: »Man darf sich die tiefgehenden Differenzen zwischen der Redeweise des Apostels [ Paulus] und der Jesu selbst von der Gegenwart des Heils für den Glaubenden nicht verbergen. Diese Differenzen lassen sich aber als dadurch bedingt verstehen , daß das öffentliche Wirken des Apostels von dem irdischen Auftreten Jesu , durch dessen Botschaft das Heil der Gottesherrschaft für den Glaubenden schon Gegenwart wurde, S TREIFLICHTER 125 die Identifikation von Kreuz und Erlösung nicht nachvollziehen können , auch wenn sie in bestimmten Schichten der Überlieferung verankert ist. Obwohl vom Grundsatz her für die neue Kirche allein die Worte Jesu maßgeblich sind, werden die Briefe dadurch nicht bedeutungslos. Denn erstens beruft sich Paulus immerhin auf eine »Offenbarung Jesu Christi « (Gal 1,12; siehe auch Gal 1,16; 1 Kor 9,1; 2 Kor 4,5f.). Zweitens ist anzunehmen , dass in den Briefen der Apostel , das heißt der von Christus Gesandten , der Geist Christi fortwirkt. Drittens sind in den Briefen zum Teil sehr alte Traditionsstücke zu finden ; die Abendmahlsworte beispielsweise sind in 1 Kor 11,23 -25 und den synoptischen Evangelien überliefert. Und im Hinblick auf die Evangelien muss gesagt werden : Zwischen den ursprünglichen Worten Jesu und dem , was von ihnen in die Evangelien gelangt ist, standen Gewährsleute (Tradenten ) und am Ende die Evangelisten , die keineswegs nur Sammler waren , sondern Theologen , die das ihnen zu ihrer Zeit noch zugängliche Material nach ihrem Verständnis und für ihre Adressaten redigierten . So entspricht beispielsweise die Idee der Synoptiker, den Stoff geographisch als Wanderung Jesu von Galiläa nach Jerusalem zu ordnen , weniger der historischen Wirklichkeit als vielmehr der nachösterlichen Perspektive, der das Kreuz als das Ziel dieser Wanderungen erscheinen musste.161 Daher bleibt für die neue Kirche zwar der oben formulierte Grundsatz gültig, aber die Anwendung desselben ist mit mehr Problemen behaftet als Swedenborg zu seiner Zeit erkennen konnte. durch die Ereignisse der Kreuzigung und Auferstehung Jesu getrennt war.« (STh 2,445). 161 Das zeigt nicht zuletzt der Vergleich des synoptischen Ordnungsschemas mit dem Johannesevangelium , nach dem Jesus mehrmals in Jerusalem war. Interessante Einblicke in den Überlieferungsprozess und die Wandlungen , die die ursprünglichen Jesusworte durchmachten bis sie in die neutestamentlichen Evangelien gelangten , eröffnet das Große Evangelium Johannes, das Jakob Lorber zwischen 1851 und 1864 als Offenbarung Jesu Christi durch das innere Wort empfing. 126 T HOMAS NOACK Das Neue Testament spricht von der Erlösung durch das Blut Christi . Im Bericht über die Einsetzung des Abendmahls heißt es : »Denn das ist mein Blut des Bundes , das für viele ausgegossen wird zur Vergebung der Sünden.« (Mt 26,28 ; siehe auch die Kelchworte in Mk 14,24; Lk 22,20; 1 Kor 11,25).162 In der Apokalypse lesen wir: »Ihm, der uns liebt und uns durch sein Blut von unseren Sünden erlöst163 hat …, ihm sei die Herrlichkeit und die Herrschaft in alle Ewigkeit.« (Offb 1,5f.). »Würdig bist du , das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen , denn du bist geschlachtet worden und hast erkauft mit deinem Blut für Gott Menschen aus jedem Stamm und jeder Sprache, aus jedem Volk und jeder Nation.« (Offb 5,9). Dieselben Gedanken finden wir auch in den Briefen : »Ihn hat Gott hingestellt als Sühne (hilasterion )164 durch den Glauben an sein Blut« (Röm 3,25). »Ihr wisst doch , dass ihr nicht mit Vergänglichem , mit Gold oder Silber, freigekauft (oder erlöst) wurdet aus eurem nichtigen , von den Vätern überlieferten Wandel , sondern mit dem wertvollen Blut Christi , des makellosen und unbefleckten Lammes.« (1 Petr 1,18f.). Der natürliche oder »historische« Sinn dieser Worte weist auf »das Leiden am Kreuz« (WCR 704 , OE 329 ). Der mit dem Blut Christi gefüllte Kelch des Abendmahls (Mt 26,27f.) ist zugleich auch der Gethsemane- Kelch des bevorstehenden Leidens (Mt 162 Gegen die vorschnelle Deutung des Todes Jesu »für uns« im Sinne einer Sühnefunktion weist Wolfhart Pannenberg darauf hin , dass im Bericht über die Einsetzung des Abendmahls »das ›für viele‹ beim Kelchwort gerade nicht mit der Vorstellung des Sühnopfers , sondern mit der des Bundesopfers verknüpft« ist . »Man wird also vorsichtig sein müssen gegenüber der Neigung, das ›für uns‹ des Todes Christi auch dort , wo es ohne nähere Erläuterung auftritt , allzu selbstverständlich im Sinne des Sühnegedankens zu nehmen. Die Wendung ›für uns‹ bedeutet zunächst ganz allgemein ›zu unseren Gunsten‹, um unseretwillen.« (STh 2,463). 163 In Swedenborgs Grundtext stand »lousanti« statt »lysanti«, so dass er »waschen« statt »erlösen« auslegt (siehe EO 19). 164 In der Septuaginta und bei Philo von Alexandrien bezeichnet Hilasterion öfters die Kapporet (den Sühnedeckel auf der Bundeslade); siehe Ex 25,17ff.; Lev 16,2ff.; Philo, De Cherubim 25 und De Vita Mosis 2,95ff. In Lev 16 ist von einem Versöhnungsritual die Rede , bei dem der Hohepriester Opferblut gegen die mit dem Sühnedeckel zugedeckte Lade sprengt . S TREIFLICHTER 127 26,39; Mk 14,36; Joh 18,11; WCR 704), weswegen klar ist, dass der unmittelbare Sinn der Worte von der Erlösung durch das Blut auf das Leiden am Kreuz zu beziehen ist. Daher meint Swedenborg: Wer aufgrund von Joh 1,29; Mt 26,28; Offb 12,7.11 »einfältig (simpliciter) glaubt, dass der Herr um unserer Sünden willen das Kreuz erlitten hat, und durch dieses und durch sein Blut uns aus der Hölle erlöst hat« (OE 778), der begeht keine Sünde, aber er gehört dann eben zu dem »Einfältigen (simplices)«, die über die historisch bedingte »Erscheinungsform des Wahren (apparentia veri )« nicht hinaus kommen (OE 778). Die Aufgabe der Theologie hingegen ist es , in den von Traditionen geprägten , begrenzten und zeitbedingten Bildern und Vorstellungsmustern immer wieder neu höhere, geistigere Sinnpotentiale und Deutungsmöglichkeiten zu entdecken und zu systematisieren . In diesem Sinne stellt Swedenborg ein Angebot dar, um zu einem geistigeren Verständnis der alten Überlieferungen zu gelangen . Demnach können wir unter dem erlösenden , uns befreienden Blut »das vom Herrn ausgehende göttliche Wahre« (OE 329 , 701) verstehen . Das Blut des Neuen Bundes (1 Kor 11,25; Lk 22,20 ) ist das Blut des Neuen Testaments , das heißt die Christuswahrheit darin (WCR 706 , EO 379 ). Deswegen schrieb Johannes : »Die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh 8,32). Wir dürfen daher unter dem erlösenden , uns von der Sünde frei machenden Blut die Wahrheit verstehen , die Jesus Christus selbst ist bzw. der Pfingstgeist in uns . Auch den stellvertretenden Sühnetod kann man aus dem Neuen Testament begründen . Im Johannesevangelium heißt es : »Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt (airo).« (Joh 1,29 ). Das Verb »airo« bedeutet sowohl tragen (z.B. ein Kleidungsstück) als auch wegnehmen . Den synoptischen Evangelien entnehmen wir: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld165 für viele.« (Mk 10,45). Und in den Briefen ist zu lesen : »Denn ich habe euch vor allen 165 Swedenborg liest hier »redemptio (Erlösung)« (OE 328). 128 T HOMAS NOACK Dingen weitergegeben, was auch ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäß den Schriften« (1 Kor 15,3)166. »Den , der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde167 gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.« (2 Kor 5,21). »Er selbst hat unsere Sünden getragen am eigenen Leib ans Holz hinauf, damit wir den Sünden absterben und der Gerechtigkeit leben ; durch seine Striemen wurdet ihr geheilt.« (1 Petr 2,24). Hinter all diesen Stellen steht mehr oder weniger offensichtlich der leidende Gottesknecht von Jes 52,13 53,12 168. Swedenborg deutet diesen wichtigen Text des Alten Testaments im Hinblick auf die Versuchungen des Herrn (ausführlich in LH 15). Jesus trug unsere Sünden , indem er »den Leib der Sünde« (to soma tes hamartias : Röm 6,6), unseren sterblichen Leib trug. Das »Lösegeld« von Mk 10,45 gab Jesus , »damit sie (die Menschen) von der Hölle freigemacht und befreit werden« (OE 328). »Denn das Leiden am Kreuz war der letzte Kampf und der vollständige Sieg, durch den er die Höllen unterjocht und sein Menschliches verherrlicht hat.« (OE 328). Swedenborg versteht also die gemeinhin für den Sühnetod in Anspruch genommenen Stellen in dem uns schon bekannten Sinne: das Kreuz als Ort der Versuchung, des Kampfes und des Sieges . 166 Dazu Wolfhart Pannenberg: »Wenn Christus ›für unsere Sünden gestorben‹ ist, wie es in der Paulus als überlieferte Formel weitergegebenen Wendung 1. Kor 15,3 heißt, dann heißt das zweifellos ›zur Sühne für unsere Sünden‹.« (STh 2,464). 167 »Hamartian epoiesen (er machte zur Sünde)« kann »er machte zum Sündopfer« oder »er machte zum Sünder« bedeuten (siehe Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 296). 168 »Das Lamm Gottes« in Joh 1,29 ist mit dem »Lamm« in Jes 53,7 zu vergleichen . Das »Lösegeld« in Mk 10,45 greift die »Tilgung der Schuld« in Jes 53,10 auf und die Wendung »für viele« bezieht sich auf die »Vielen« in Jes 53,11. In 1 Kor 15,3 nimmt der Verweis auf die Schriften sicher auch den Gottesknecht von Jes 53 in den Blick . Bei »für uns zur Sünde gemacht« in 2. Kor 5,21 ist ebenfalls an Jes 53 zu denken . Und »durch seine Striemen wurdet ihr geheilt« in 1 Petr 2,24 nimmt Jes 53,5 auf. S TREIFLICHTER 129 5. Wie verhält sich Lorbers Deutung des Kreuzes zu derjenigen Swedenborgs? Von Swedenborg kommend entdeckt man in den Schriften Jakob Lorbers 169 zunächst einige wichtige Gemeinsamkeiten . Die Erlösung wird auch bei Lorber vom klassischen Kampfmotiv (Gustaf Aulén : Christus Victor) her verstanden : »Die Erlösung aber besteht erstens in Meiner Lehre, und zweitens in dieser Meiner Menschwerdung, durch welche die so überwiegende Macht der alten Hölle gänzlich gebrochen und besiegt ist.« (GEJ 6,239,5; 1,166,10 ). »Ich , der Allerheiligste, mußte Mich mit der Unheiligkeit der menschlichen oder geschöpflichen Schwachheit bekleiden, um Mich der Hölle wegen ihrer Besiegung als ein starker Held nahen170 zu können.« (GEJ 6,240,3 ). Dabei kann die Formulierung bei Lorber mit derjenigen bei Swedenborg deckungsgleich werden : »Fürs zweite ist es (das Werk Meiner Erlösung) die Unterjochung der Hölle unter die Kraft Meiner Liebe, die früher nur in der Macht der zornergrimmten Gottheit stand und somit entfernt war von allem Einflusse Meiner Liebe« (Die Erlösung: HiG 3, Seite 18). In WCR 115 wird die »Unterjochung der Höllen « als ein Aspekt des komplexen Erlösungsgeschehens genannt. Im Lorbertext ist die Unterscheidung von Liebe und Gottheit zu beachten , die uns gleich noch beschäftigen wird. Auch die Deutung des Kreuzes bei Lorber ähnelt derjenigen Swedenborgs . Die »volle Einung der Fülle der Gottheit mit dem Menschen Jesus« ist »erst durch den Kreuzestod vollends erfolgt« (JJ Vorrede 2 ). »Nun bin Ich [Jesus ] wohl eins mit Ihm [dem Geiste Gottes ] im Geiste, aber im Leibe noch nicht; doch Ich werde auch da völlig eins werden, aber erst nach einem großen Leiden und gänzlicher und tiefst demütigender Selbstverleugnung Meiner Seele.« (GEJ 6,90,12 ). »Ich werde nun auch dieses Menschliche ... 169 Jakob Lorber (1800–1864), der im 19. Jahrhundert Offenbarungen durch das innere Wort empfangen hat, stimmt mit Swedenborg in vielen Punkten überein. Gerade deswegen ist es aber auch notwendig, die Eigenständigkeit dieses Schrifttums herauszuarbeiten. 170 Auch Swedenborg begründete die Menschwerdung mit dem Gedanken der Anwesenheit auf dem Schlachtfeld ( WCR 84 ). 130 T HOMAS NOACK noch auf dieser Welt ... ganz in Mein Urgöttliches verkehren und sodann auffahren zu Meinem Gott, der in Mir ist« (GEJ 6,231,6 ). Das Kreuz erscheint demnach auch in den Schriften Lorbers als »die Vereinigung des Menschlichen des Herrn mit dem Göttlichen Seines Vaters « (WCR 126) bzw. als Verherrlichung. Diese offenkundigen Gemeinsamkeiten sind nun aber in eine Gesamtschau eingebettet, die der Deutung des Kreuzes bei Jakob Lorber ein vollkommen eigenständiges Gepräge gibt. Grundlegend ist die Unterscheidung von Gottheit und Liebe: »Die Gottheit war von Ewigkeit her die alle Unendlichkeit der Unendlichkeit durchdringende Kraft und war und ist und wird sein ewig die Unendlichkeit Selbst. In der Mitte Ihrer Tiefe war Ich von Ewigkeit die Liebe und das Leben Selbst in Ihr« (HGt 1,5,2). Wir behalten die Verbindung von Gottheit und Kraft einerseits und Liebe und Leben andererseits (siehe Swedenborg: GLW 1 ) im Auge. Durch den Sündenfall Adams und Evas 171 entstand ein »Kampf« (oder Konflikt) zwischen der Liebe und der Gottheit: »Und siehe, da gab es einen heißen Kampf zwischen der durch die Reue und Trauer der Geschaffenen Sich wieder erbarmenden ewigen Liebe und zwischen der alles zerstören wollenden , ergrimmten Gottheit zur Sühnung Ihrer unbestechbaren Heiligkeit.« (HGt 1,9,9 ). Das erinnert an den Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bei Anselm von Canterbury, zumal uns auch dessen Gedanke der Genugtuung bei Lorber begegnet: »Großer, allmächtiger Gott … Ziehe zurück Deinen großen Zorn172 … und höre … die Worte Deiner ewigen Liebe … lasse Gnade vor Recht ergehen , und lasse genugtun die Liebe Dir, und fordere Sühnung für Deine verletzte und gekränkte Heiligkeit, und Deiner Liebe wird kein 171 In den Schriften Jakob Lorbers tauchen Adam und Eva als Personen auf, während Swedenborg diese »Personen« der biblischen Urgeschichte als Kirchen deutete . 172 Es kann hier nur angemerkt werden, dass der »Zorn « bei Lorber geistig gedeutet wird: »So ihr leset von einem Zorne Gottes, da sollet ihr darunter verstehen den ewig stets gleichen und festen Ernst Seines Willens; und dieser Ernst des Willens in Gott ist aber ja eben der innerste Kern der allerreinsten und allermächtigsten Liebe« (GEJ 4,141,3; vgl. auch GEJ 9,30,3). Nach HGt 2,231,31 sind »die geschaffenen Dinge« der Zorn Gottes. S TREIFLICHTER 131 Opfer zu groß sein , das Du von Ihr fordern möchtest zur ewigen Sühnung Deiner Heiligkeit! « (HGt 1,9,18 ). Aufgrund solcher Aussagen wird man sagen dürfen , dass hier eine Neuinterpretation der Satisfaktionstheorie gewagt wird, die nach Swedenborg überraschend kommt. Sie bewegt sich allerdings nicht wie die Theorie Anselms in Rechts - , sondern in Seinskategorien , denn durch die Erlösung wurde der Grundstein für eine neue Schöpfungsordnung gelegt (GEJ 4,109,3f.). Welche Bedeutung hat der Konflikt zwischen Gottheit und Liebe nun im Hinblick auf das Kreuz ? Dort kam es zur Versöhnung zwischen Gottheit und Liebe, zur Verherrlichung der aus Liebe zur Schöpfung »schwach gewordenen Liebe« (HGt 1,9,14). Oben wiesen wir darauf hin , dass die Gottheit die Kraft ist. Wenn sich nun die Liebe aus Solidarität mit der von Gott abgefallenen Schöpfung von der Gottheit trennt, um das Unmögliche zu bewerkstelligen , die Wiedervereinigung des Verfluchten mit der Heiligkeit Gottes oder die »Wiederbringung aller Dinge«, dann kann die Liebe in dieser Gottesferne nur als der Schwache bezeichnet werden , denn sie hat sich ja von der Kraft getrennt und ist somit kraftlos geworden . Und tatsächlich gibt es einen Text Lorbers mit dem Titel »Der ›sehr Schwache‹« (HiG 3 , Seite 75ff.). Er gewährt uns einen Einblick in den Tod Jesu . Die Versuchung Jesu in Gethsemane bringt er uns mit den folgenden Worten nahe: »Sehet, da erst [in Gethsemane] erwachte vollends die große Blindheit Meiner Liebe und sah mit dem entsetzlichsten Grauen zwischen Sich und Gott die unendliche Kluft; allda bereute Ich im Ernste, daß Ich Gott verließ und zum toten Werke Meiner eitlen Lust Mich gewendet habe« (HiG 3, Seite 79 ). Doch in dieser »unendlichen Entfernung von Gott« geschah das , was geschieht, wenn man sich auf einem Kreis von einem Punkt am weitesten entfernt: Man erreicht in dieser Entfernung wieder den Ausgangspunkt. Daher sprach Gott in Gethsemane zur ihrer schwach gewordenen Liebe: »Noch sind zwischen Mir und Dir die Extreme der Unendlichkeit nicht berührt; daher senke Dich hinab in die äußerste Tiefe des Todes , welcher ist die äußerste Grenze im Gegensatze zu Meiner Heiligkeit, damit Ich Dich da 132 T HOMAS NOACK wieder erfassen kann , da der ewige Kreis Meiner Heiligkeit sich schließt.« (HiG 3, Seite 79). Am Kreuz ereignete sich die coincidentia oppositorum (der Zusammenfall der Gegensätze). Die Gottheit und die Liebe vereinigten sich wieder. Dieses Versöhnungsgeschehen betrifft nun aber keineswegs nur die Gottheit und die Liebe, sondern darin involviert ist die ganze materielle Schöpfung: »Der leibliche Tod Jesu ist die tiefste Herablassung der Gottheit in das Gericht aller Materie und somit die eben dadurch mögliche vollends neue Schaffung der Verhältnisse zwischen Schöpfer und Geschöpf.« (JJ Vorrede 3). In den Schriften Lorbers wird die Welt vor der Erlösung mit einem Automaten verglichen : »Ein Automat ist tot, und seine Bewegung ist nichts als eine künstliche Richtung des Mechanikers.« (HiG 3, Seite 77 ). Durch ihre Menschwerdung zog die Liebe alle Mängel und Gebrechen des an sich toten Automaten an sich . Sie bekleidete sich gleichsam mit denselben . Das kann man als Interpretation Lorbers von Joh 1,29 auffassen : »Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt (durch die Menschwerdung wie ein Kleidungsstück) trägt.« Da jedoch die Liebe das Leben ist, war nun also im Tod das Leben anwesend und der Tod mit dem Leben konfrontiert. Das führte dazu , dass die tote, gerichtete Schöpfung von innen heraus lebendig werden konnte. Jesus wurde »der Erstgeborene von den Toten«. Und im tätigen Glauben kann nun auch die Schöpfung vom Tod ins Leben übergehen . Ich entdeckte in den Schriften Lorbers zahlreiche und wesentliche Übereinstimmungen mit den Lehren Swedenborgs . Aber mindestens ebenso interessant sind die Unterschiede, die über Swedenborg hinausgehenden , eigenständigen Sichtweisen . Daher sollten diese beiden klassischen Neuoffenbarungen nicht um jeden Preis harmonisiert werden . Im Falle der Interpretation des Kreuzes sehe ich , dass wesentliche Anliegen Swedenborgs in die Schriften Lorbers Eingang gefunden haben . Die Eigenständigkeit der Neuoffenbarung durch Lorber zeigt sich dann aber darin , dass das Kreuzesgeschehen in ein Zeit und Ewigkeit umfassendes Gottes- und Schöpfungsdrama eingezeichnet ist, das der Bibelexeget Swedenborg so nicht kennt. Die Mächtigkeit seiner Sehe S TREIFLICHTER 133 durfte aber in der grausamsten und scheußlichsten Todesstrafe der Antike die Glorificatio eines Sterblichen erkennen . Und darin lag der Keim zur Auferstehung der gesamten Schöpfung. 134 T HOMAS NOACK Kleine Entsprechungskunde 1. Ohne Erleuchtung ist jede Regel wertlos Obwohl die Entsprechungen in Swedenborgs Werk einen zentralen Platz einnehmen, hat es der Meister versäumt, ein Lehrbuch der Entsprechungskunde zu schreiben. Ansätze dazu existieren durchaus. Sie fallen aber in die Zeit vor der Erleuchtung. Im Jahre 1741 zum Beispiel schrieb Swedenborg eine Abhandlung mit dem merkwürdigen Titel »Hieroglyphischer Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheimnissen mittels Vorbildungen und Entsprechungen«. Darin formulierte er Regeln der Entsprechungskunde, was zeigt, dass der Wissenschaftler Swedenborg den Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheimnissen in einem Regelwerk suchte. Erst dem Seher Swedenborg wird klar, dass ohne Erleuchtung die Entsprechungen zwischen Materie und Geist nicht erkannt werden können. Er schreibt deswegen: »Niemand kann den geistigen Sinn anders, als allein durch den Herrn wahrnehmen, und nur dann, wenn er im echten Wahren aus ihm ist.« (LS 26). Es muss merkwürdig erscheinen, dass Swedenborg, der doch gerade der Offenbarer des geistigen Sinnes ist, mit diesen Worten seine Offenbarungstätigkeit selbst wieder einschränkt. Demnach sind in den Bibelkommentaren Swedenborgs die inneren Wahrheiten einesteils offenbart, andernteils bleiben sie nach wie vor dem verborgen, der nicht »im echten Wahren aus der Herrn ist.« Wie dieser Widerspruch lösbar ist, geht aus der folgenden Bemerkung hervor: »Der Zusammenhang [der Wahrheiten des inneren Sinnes] kann aus der Erklärung der einzelnen Wörter nicht hervorleuchten. Denn sie erscheinen [bei der Wort-für-Wort-Erklärung] als etwas Abgehacktes, und der zusammenhängende Sinn verliert sich. Dies ist freilich nicht der Fall, wenn man alles zugleich als einheitliche Vorstellung anschaut oder man es als einheitliches, intuitiv erfaßtes Gedankenbild wahrnimmt, wie es bei denen geschieht, die im inneren Sinn und zugleich im himmlischen Licht vom Herrn sind.« (HG 2343b). Die großen Bibel- S TREIFLICHTER 135 kommentare sind zwar eine Augensalbe, aber im Grunde genommen bleibt es dabei: Die Wahrheit wird im Geiste erkannt. Wer den inneren Sinn wirklich verstanden hat, muss aus den Wort-für-Wort-Erklärungen Swedenborgs eigenständig ein einheitliches Ganzes formen können. Wer hierbei stottert oder Wortunsinn produziert hat die Wahrheit nicht gesehen. Wenn es bei Swedenborg eine Theorie der Entsprechungskunde gibt, dann ist es die Gradlehre in dem Werk »Die Göttliche Liebe und Weisheit«. Dort erfahren wir aber, dass sich die Entsprechungen dem bloßen Gehirndenken nicht erschließen. Vielmehr werden die höheren Grade der Erkenntnis nur durch die Tätigkeit nach dem Worte Gottes aufgeschlossen: »Der Mensch kommt bei seiner Geburt zuerst in den natürlichen Grad. Dieser wächst kontinuierlich durch Kenntnisse und den dadurch erworbenen Verstand bis zur höchsten Stufe, Vernunft genannt. Dadurch wird jedoch der zweite oder geistige Grad noch nicht aufgeschlossen. Das geschieht erst durch die Liebe zum Nutzenschaffen aus einem Verständnis heraus, aber wohlgemerkt durch eine geistige Liebe zum Nutzenschaffen, das heißt durch die Liebe zum Nächsten. Auch dieser Grad kann kontinuierlich bis zu seiner höchsten Stufe wachsen, und zwar durch Erkenntnisse des Wahren und Guten, das heißt durch geistige Wahrheiten. Dadurch wird jedoch der dritte oder himmlische Grad noch nicht aufgeschlossen. Das geschieht erst durch die himmlische Liebe zum Nutzenschaffen, das heißt durch die Liebe zum Herrn.« (GLW 237). Die höheren Erkenntnisgrade sind Lebensgrade! Sie bleiben dem kalten Gehirndenken verborgen. Verbindet es sich aber mit der Wärme des Herzens, dann öffnet sich dem Geiste die reiche Welt der Entsprechungen. Hierbei wird der geistige Grad durch die geistige Liebe (Nächstenliebe bzw. Liebtätigkeit) und der himmlische Grad durch die himmlische Liebe geöffnet. Ohne Fortschritte in der Wiedergeburt bleibt dem bloßen Kopfdenker die Schatzkammer des Geistes ewig verschlossen. Mühsam tastet er sich mit dem Blindenstab der Logik voran und findet doch nur hier und da ein Körnchen Wahrheit von geringem Nährwert. Die Grundregel der Entsprechungskunde lautet daher: Der äußere 136 T HOMAS NOACK Mensch muss eine Entsprechung des inneren Menschen werden, dann wird er verstehen, was Entsprechungen sind. Bloße Verstandesakrobatik muss in der heiligen Gottesgelehrsamkeit Schiffbruch erleiden. Diese Gedanken zeigen, dass Regeln der Entsprechungskunde nur einen beschränkten Wert haben. Dennoch ist die Kenntnis derselben nicht nutzlos. Wie die folgende Übersicht zeigt, ist auch der Seher Swedenborg im Besitz gewisser Regeln. Zwar hat er sie nie systematisch zusammengestellt, aber dennoch gebraucht er sie ständig. Die Kenntnis der Regeln nimmt in der Entsprechungsdeutung den Platz ein, den die Kenntnis der Muttersprache bei einem Schriftsteller einnimmt. Zwar ist die Sprache nicht alles, aber ohne die Sprache ist alles nichts. Ebensowenig können nackte Entsprechungsregeln das geistige Licht ersetzen; wenn dieses Licht aber vorhanden ist, dann kann es durch die Technik der Entsprechungskunde in eine vollendete Form gebracht werden; ähnlich einem Diamanten, der erst durch den Brillantschliff zu einem Lichtfeuer wird. Das gesamte Universum ist in der Seele verborgen. Daher korrespondieren die Erscheinungen der Außenwelt mit den entsprechenden Realitäten in der Innenwelt. Doch mit welchen Realitäten? Die beiden folgenden Abschnitte enthalten die Antwort unter den Überschriften: 1.) Die Korrespondenz besteht zunächst mit dem Gefühl. 2.) Der innere Sinn ist die Vorstellungswelt der Engel. 2. Die Korrespondenz besteht zunächst mit dem Gefühl Das Originalwort Swedenborgs für »Entsprechung« lautet »correspondentia«. Es beschreibt den Zusammenhang zwischen den Welten. Diesen Zusammenhang kann Swedenborg auch als »communicatio per correspondentias« (HH 207), also als eine Form der Kommunikation bezeichnen. Daher ließe sich »correspondentia« gut mit »Korrespondenz« übersetzen, wenn der Leser darunter mehr als einen »Briefwechsel« verstünde. »Correspondentia« hat eine aktive Komponente, die bei der Übersetzung mit »Entsprechung« leider verloren geht. Das kann der Le- S TREIFLICHTER 137 ser selbst überprüfen. Besteht nicht ein Unterschied zwischen den Aussagen »Die natürliche Welt entspricht der geistigen« und »Die natürliche Welt korrespondiert mit der geistigen«? Die erste Aussage beschreibt einen Zustand, die zweite einen Vorgang. Das ist bei der Lektüre des Originallateins genauso. Die »correspondentia« ist ein aktives Wechselverhältnis. Dieses Wechselverhältnis besteht zwischen der natürlichen und der geistigen Welt, weswegen Swedenborg »correspondentia« folgendermaßen definiert: »Die ganze natürliche Welt korrespondiert mit der geistigen, weswegen alles, was in der natürlichen Welt aus der geistigen entsteht, eine korrespondierende [Erscheinung] genannt wird. Man muß [nämlich] wissen, daß die natürliche Welt aus der geistigen entsteht und besteht, ganz so wie die Wirkung aus ihrer bewirkenden Ursache.« (HH 89). Diese Definition betont das Aktive in »correspondentia«. Denn sie setzt bei der Entstehung der einen Welt aus der anderen an. Weil die eine Welt aus der anderen entsteht, »korrespondieren« die Welten miteinander. Und weil nur gleichartige Partner korrespondieren können, »entsprechen« die Welten einander. Beide Aspekte sollten gesehen werden. Deutlich werden in der Definition aber auch die beiden Partner der Korrespondenz: die natürliche und die geistige Welt. Seit Swedenborg kann man wissen, dass die natürliche und die geistige Welt nicht so sehr außerhalb, sondern vielmehr innerhalb des Menschen anzutreffen sind. Der Mensch selbst ist ein kleines Universum, bestehend aus »Himmel und Erde« (Gen 1,1). Daher korrespondieren sein Äußeres und sein Inneres ständig miteinander. Die Außenbilder erwecken die »entsprechenden« Innenbilder, durch deren Anschauung der Geist zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen kann. Die Wahrheit selbst kann freilich nicht von außen eingeführt werden, denn dann wäre jeder Mensch mit zwei gesunden Augen weise, sondern sie ruht im Geiste und wartet auf ihre Entdeckung. Sie ist der »Schatz im Acker« der Seele (Mt 13,44). Auch die Ereignisse draußen korrespondieren, und zwar mit den Stimmungen in der Seele. Wem ist nicht das Gefühl bei einer Waldwanderung vertraut?! Oder bei einem Spaziergang am Meeresstrand?! Wer 138 T HOMAS NOACK kennt die Stimmung nicht, die ihn beim Anblick des Sternenhimmels befällt?! Findet da nicht eine lebendige Korrespondenz des Innenlebens mit den Außenereignissen statt?! Der nüchterne Weltbürger wird solche Stimmungen für Anwandlungen eines Schwarmgeistes halten. Der Tieferdenkende hingegen macht sich auf die Suche nach der korrespondierenden Erscheinung im eigenen Geistesuniversum. Könnte der Sternenhimmel nicht mit der unendlichen Tiefe des eigenen Geistes korrespondieren?! Könnte das sonderbare Gefühl nicht ein nächtlicher Lockruf sein, die Tiefen des inneren Universums zu erforschen?! In den Gefühlen sind bereits Ahnungen enthalten, die jedoch erst noch zu klaren Vorstellungen reifen müssen. Die Zwiesprache des Geistes mit seiner stofflichen Umgebung ist vorläufig nur wenigen bewusst. Sie findet aber ständig statt und heißt »Korrespondenz«. Auch die Erzählungen der Heiligen Schrift korrespondieren mit Vorgängen im Menschen. Die Korrespondenz geschieht durch das gefühlsmäßige Angesprochensein. Deswegen kann Swedenborg schreiben: »Des innere Sinn ist von der Art, daß allein schon das Gefühl (ipsa affectio), das in den Worten [der Heiligen Schrift] verborgen ist, den inneren Sinn bestimmt (constituit).« (HG 1492). Je nach der Reinheit des inneren Erlebens versteht man mehr oder weniger vom inneren Sinn, denn »das Leben des Herrn fließt durch den inneren Sinn in den Buchstabensinn ein in Übereinstimmung mit dem Gefühl des Lesers.« (HG 2311). Reine Gefühlswelten können die himmlische Botschaft rein aufnehmen; unreine Gefühlswelten verkehren den himmlischen Inhalt mehr oder weniger. Deswegen ist es wichtig, himmlisch empfinden zu lernen. Primär geschieht die Korrespondenz des Gotteswortes mit der Seele also durch das Gefühl, in zweiter Linie dann aber auch durch das Erfassen der Vorstellung des inneren Sinnes. Beide Wege müssen gesehen werden. Bei Swedenborg liest sich das so: »In den Einzelheiten des Wortes ist sowohl ein Gefühl als auch eine Sache enthalten. Jene, die das Wort im inneren Sinn nach dem Gefühl wahrnehmen, achten überhaupt nicht auf die Worte, denn die gehören zum Sachbereich, sondern bilden sich ihre Vorstellungen aus den Gefühlen und deren Verknüp- S TREIFLICHTER 139 fung.« (HG 2157). Oder an einer anderen Stelle: »Im inneren Sinn des Wortes ist zweierlei enthalten: Geistiges und Himmlisches. Das Geistige besteht darin, daß die Sachverhalte, denen der buchstäbliche Sinn nur als Träger (objecto) dient, unabhängig (abstracte) vom Buchstaben aufgefaßt werden … Das Himmlische besteht darin, daß man allein die Gefühlsseite (affectio) dessen wahrnimmt, was im inneren Sinn vorkommt.« (HG 2275). Der Bibelleser kann die Wahrnehmung der Gefühlsseite eines Textes selbst üben. Dazu zwei Beispiele. Nach dem Mord an Abel spricht der Herr zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel? Worauf Kain entgegnet: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« Wer erkennt die emotionale Bewegung in diesem Text nicht? Die Frage »Wo ist dein Bruder Abel?« erkundigt sich weder nach dem Aufenthaltsort Abels noch zeigt sie Unkenntnis Gottes über den wahren Sachverhalt an. Wie jeder nachempfinden kann, korrespondiert sie mit dem mulmigen Gefühl nach vollbrachter Untat. Die »Frage« bezeichnet emotional betrachtet das beklemmende Gefühl im Angesichte des Frevels; ein Gefühl, das den behaglichen Frieden der Sünde empfindlich stört. Entsprechend emotional ist die Entgegnung Kains: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« Sie drückt Unwillen, Entrüstung, ja, zornige Auflehnung aus. Diesen emotionalen Kontext gilt es zu beachten, wenn man im zweiten Schritt die Vorstellungen des inneren Sinnes erkennen will. Kain bezeichnet das Glaubensdenken, das sich der Liebesbindung (Abel) entledigen will. Angesprochen sind die Orthodoxen, die Anbeter der »reinen Lehre«, denen die Notwendigkeit des brüderlichen Miteinanders zunehmend lästig wird und die daher bereit sind, die brüderliche Liebe auf dem Altar der Rechtgläubigkeit zu schlachten. Sie fühlen sich in ihrem Eigendünkel nur noch für die Reinhaltung der Lehre zuständig und vergessen darüber ihren Bruder Abel. In ihrem Geiste sprechen sie: Was habe ich mit Abel zu schaffen? Bin ich der Hüter meines Bruders? Betrachten wir zum Schluss Abrahams Fürbitte für den Gerechten in Sodom (Gen 18,23-33). Bekanntlich bittet er den Herrn, er 140 T HOMAS NOACK möge Sodom verschonen, wenn 50 Gerechte darin gefunden werden. Nach der Zusage bittet Abraham für 45 Gerechte, dann für 40, 30, 20 und schließlich nur noch für 10 Gerechte. Jedesmal erhält er die Zusage. Betrachten wir nun die Bitten Abrahams genauer. Er beginnt mit den Worten: »Wirst Du auch den Gerechten mit dem Gottlosen vertilgen? Es möchten vielleicht fünfzig Gerechte sein inmitten der Stadt. Wirst Du dennoch vertilgen und nicht verschonen den Ort um der fünfzig Gerechten willen, die in seiner Mitte sind? Es sei ferne von Dir, so zu tun, sterben zu lassen den Gerechten mit dem Gottlosen, und daß so der Gerechte sei wie der Gottlose. Ferne sei es von Dir. Wird der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?« Die zweite Bitte beginnt mit den Worten: »Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu meinem Herrn zu reden, wiewohl ich Staub und Asche bin.« Die dritte Bitte lautet: »Vielleicht möchten vierzig darin gefunden werden.« Die vierte Bitte beginnt mit den Worten: »Möchte doch mein Herr nicht zürnen, daß ich Rede.« Die fünfte Bitte beginnt mit den Worten: »Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit meinem Herrn zu reden.« Und schließlich die sechste Bitte: »Möchte doch mein Herr nicht zürnen, daß ich nur noch diesmal rede.« Allen Bitten gemeinsam ist das Gefühl der Unterwürfigkeit. Das Gespräch beginnt nicht mit einer Forderung, sondern mit einer vorsichtig formulierten Frage. Einsicht in den eigenen Zustand (»wiewohl ich Staub und Asche bin«) und Zurückhaltung kennzeichnen die emotionale Haltung des Bittenden gegenüber dem höchsten Gottwesen. Auf der anderen Seite fällt das gefühlsmäßige Engagement des Bittenden für die Bewohner der Stadt auf. Er erkennt zwar, das seine Bitten an die Grenze des Vertretbaren gehen (»Möchte doch mein Herr nicht zürnen«), fühlt sich aber dennoch getrieben das Ungebührliche vorzutragen. Schmerz um die Lage der Bedrängten erfüllt sein Herz und zugleich tiefes Mitgefühl aus Liebe und Barmherzigkeit. Wer diese Stimmungslage aus dem Text wahrgenommen hat, wird in dem Bittenden leicht unseren Erlöser erkennen, den die Not der Menschheit nicht kalt lässt, der sich vielmehr getrieben fühlt auch noch den letzten Hoffnungsschimmer in Rettung umzu- S TREIFLICHTER 141 münzen. Tatsächlich behandelt unser Text das Eintreten des Herrn für das menschliche Geschlecht. 3. Der innere Sinn ist die Vorstellungswelt der Engel Fragt man, was der innere Sinn sei, dann diene als Antwort: Der innere Sinn ist die Vorstellungswelt der Engel. Denn: »Der innere Sinn ist das Wort des Herrn in den Himmeln.« (HG 1887). Oder: »Die Engel des geistigen Reiches befinden sich im geistigen Sinn des Wortes; die des himmlischen Reiches in seinem himmlischen Sinn.« (LS 63). Die Kunst, Gottes Wort zu verstehen, besteht demnach darin, seine Ohren für die Stimme der Engel zu öffnen. Während der Mensch das Wort liest, sind Engel gegenwärtig, die mit den Menschen kommunizieren: »Wenn der Mensch das Wort liest«, »dann ruft der geistige Engel das Geistige und der himmlische Engel das Himmlische hervor.« (LS 65). Die Stimme der Engel bleibt freilich unhörbar, wenn man nicht selbst ein Engel wird. Mit seinem ganzen Wesen – Verstand und Wille muss man danach trachten, das Engelhafte zu verwirklichen. Dann öffnet man sich für die Weisheit der Engel und hört ihre Worte. Zwar bleibt man als Mensch der natürlichen Welt bis an sein Lebensende im natürlichen Grad, aber die geistige Stufe des Verstehens ist erschlossen, wenn man das Verständnis des Wahren tatsächlich lebt (vgl. LS 68). Wer auf diese Weise sein Inneres öffnet, der bekommt Ohren, mit denen er hören kann und hört die Stimme der Engel, sprich: den inneren Sinn des Wortes. Die Welt der Engel ist der natürlichen Welt sehr ähnlich. Die Gegenstände, die den Engeln in den Himmeln erscheinen, »gleichen großenteils den Dingen auf Erden, nur ist ihre Form vollkommener und ihre Menge größer.« (HH 171). Und dennoch ist die Welt der Engel ganz anders! Sie hat einen »geistigen Ursprung«, »während die Menschen in der Welt natürlich sind, und alles bei ihnen einen natürlichen Ursprung hat.« (LS 70). Die Welt der Engel ist eine Vorstellungswelt. Die Gegenstände ihrer Welt sind »Vorbildungen« und »Erscheinungen« (HH 175); sie sind Gegenstand gewordene Bedeutungen. Die Welt der Engel existiert nicht unabhängig vom Engel, wie wir es von der materi- 142 T HOMAS NOACK ellen Welt gewohnt sind. Die Materiewelt existiert auch ohne unser Zutun (vielleicht sogar besser); die Welt des Geistes nicht. Ähnlich wie die Traumwelt auch nur dann produziert werden kann, wenn eine Seele träumt, braucht die geistige Welt einen sie erzeugenden Geist, denn sie ist ja nichts anderes als die geistige Welt dieses Geistes. Die Objekte dieser Welt »entstehen samt und sonders aus dem Herrn, gemäß den Entsprechungen mit dem Inneren der Engel.« (HH 173). Deswegen ist die geistige Welt ein Spiegel des Geistes, der sich diese Welt »ausgedacht« hat: »Der Engel sieht (zwar ebenso wie der Mensch) Gegenstände um sich herum, aber er weiß, daß sie Vergegenständlichungen (repraesentationes) seiner selbst sind. Ja, wenn das Innerste seines Verständnisses geöffnet wird, erkennt er sich und sieht sein Bild in den Gegenständen fast so wie in einem Spiegel.« (GLW 63). Die Welt eines Engels ist durch und durch subjektiv (= von einem Subjekt abhängig); objektiv im naturwissenschaftlich exakten Sinn ist sie auf keinen Fall; »real«, »wahr«, und »unwandelbar« ist sie nur insoweit als der Geist am Herrn, der die Wahrheit selbst ist, Anteil hat. Wenn die jenseitige Seele nur in einem sehr lockeren Verband mit dem Gottesgeist steht, dann kann es passieren, daß sich die »Vorbildungen« und »Erscheinungen« der geistigen Welt dieser unreifen Seele im wahrsten Sinne des Wortes in Luft auflösen, denn ohne den Herrn hat nichts Bestand. In der Engelswelt ist alles Gestalt gewordene Bedeutung. Eine Blumenwiese »bedeutet« in diesem Sinne die lieblichen Gedanken, die der Engel jetzt oder einst gedacht hat. Sie wären schlichtweg nicht da, wenn der Engel niemals lieblich gedacht hätte. Nichts ist einfach nur Sache, Gegenstand oder Objekt. Alles Äußere meint Inneres. Die Welt des Engels ist die Summe all seinen Gedanken, die er je gedacht, und all seiner Taten, die er je verwirklicht hat. Dieses Weltverständnis wendet der Engel wie selbstverständlich auf die Darstellungen der Heiligen Schrift an. Dass dabei alles Historische belanglos wird, dürfe nun klar sein. Der Entsprechungsinterpret sollte dieses Weltverständnis wenigstens in seinen Grundzügen kennen. Vielleicht fällt es ihm dann leichter, die S TREIFLICHTER 143 Heilige Schrift mit den Augen eines Engels zu lesen. Aus dem Gesagten folgt auch, dass bei der Übertragung in den inneren Sinn von allen Eigentümlichkeiten der Natur abgesehen werden muss, insbesondere von Raum und Zeit: »Zeiten und Räume gehören bloß zur Natur. Wenn daher der Buchstabensinn des Wortes von der Natur in den Himmel übergeht, verschwindet die natürliche Vorstellung jener Dinge ganz und wird zu einer geistigen Vorstellung, die jenen Dingen entspricht.« (HG 2837). Vor den Engeln verschwindet jegliche Vorstellung von Materie, Raum und Zeit. Stattdessen denken sie in Kategorien von Zustand und Wandlung. (nach HG 488). Gleiches gilt für Zahlenangaben, Maße und Personen. Abschließend ein Beispiel dafür, wie die geistigen Engel den geistigen und die himmlischen Engel den himmlischen Sinn herausziehen: Zum Gebot »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« erklärt Swedenborg: »Der Mensch versteht unter ›Vater‹ und ›Mutter‹ den Vater und die Mutter auf Erden, sowie alle, welche die Stelle des Vaters und der Mutter vertreten. Unter ›ehren‹ versteht er: sie in Ehren halten und ihnen gehorchen. Der geistige Engel hingegen versteht unter ›Vater‹ den Herrn und unter ›Mutter‹ die Kirche. Unter ›ehren‹ versteht er: lieben. Der himmlische Engel schließlich versteht unter ›Vater‹ die göttliche Liebe des Herrn und unter ›Mutter‹ seine göttliche Weisheit und unter ›ehren‹ das Gute aus dem Herrn tun.« (LS 67). Selbstverständlich wird der äußere Sinn durch den inneren Sinn nicht aufgehoben. Die Fassade eines Hauses hört ja auch nicht auf zu existieren, wenn man das Innere des Hauses betritt. Ja, man kann überhaupt in das Innere eines Hauses nur dann gelangen, wenn man durch das Äußere hindurchgeht. Ebenso findet den inneren Sinn nur derjenige, der den äußeren Sinn verwirklicht. Wer dann den inneren Sinn gefunden hat, hat freilich mehr, als die Fassade vermuten ließ. Und dennoch gilt auch jetzt noch, dass das Innere eines Gebäudes ohne das Äußere schlecht denkbar wäre. Die äußeren Vorstellungen sind die Perlentore, die der Entsprechungsjünger durchschreiten muss, wenn er das Innere des Tempels erschauen will. 144 T HOMAS NOACK Das Tor zum Himmel ist dein Herz. Wer diese Wahrheit verschmäht, wird den Licht- und Lebenssinn der Heiligen Schrift nie erahnen, geschweige denn finden. Wir wollen nun die Höhen der Entsprechungskunde verlassen und uns den Niederungen der mehr methodischen Textdeutung zuwenden. Zunächst widmen wir uns der Themenkunde, dann der Symbolkunde. Die erste Frage lautet also: Wie findet man das Thema des inneren Sinnes einer ganz bestimmten Textstelle? Dazu einige Hinweise unter den Überschriften: 1.) Die Themen des inneren Sinnes sind der Herr und sein Reich. 2.) Das Thema einer Schriftstelle geht aus dem Zusammenhang hervor (Kontextregel). 3.) Ein Exkurs: Die Aussage muss dem Thema angepasst werden. 4. Die Themen des inneren Sinnes sind der Herr und sein Reich Wer einen Text in einer fremden Sprache liest, empfindet es als Hilfe, wenn er schon vor der Lektüre ungefähr weiß, wovon im Text die Rede sein wird. Fehlen ihm dann Vokabel- und Grammatikkenntnisse, dann kann er dennoch den Zusammenhang einigermaßen erfassen. Die Entsprechungssprache ist für den modernen Menschen eine solche Fremdsprache. Deswegen will ich dem Anfänger eine Übersicht der Themen geben, die im inneren Sinn behandelt werden. Mit dieser Liste kann er jeden beliebigen Bibeltext einem Thema des inneren Sinnes zuordnen. zwar reicht dieses Zuordnungsverfahren allein nicht zur Entzifferung des inneren Sinnes aus, aber kombiniert mit weiteren Methoden kann es eine Hilfe sein. Im Grunde kennt das Wort Gottes nur ein Thema: Jesus Christus. Denn er ist das Wort selbst (Joh 1,1-18). Geistig betrachtet sind das Schriftwort und das fleischgewordene oder lebendige Wort ein und dasselbe. Auch das Alte Testament ist in diesem Sinne christlich, denn sein Ursprung ist ebenfalls das Wort, das am Anfang bei Gott war und später Fleisch wurde. Der Christusbezug des Alten Testaments ist keineswegs auf jene paar Zitate beschränkt, die im Neuen Testament als Schriftbeweis verwendet werden. Da nun das schriftliche Wort Gottes mit dem lebendigen Wort Gottes identisch ist, ist Jesus Christus allein das große S TREIFLICHTER 145 Thema der gesamten Heiligen Schrift. Dieses Thema zieht ein zweites nach sich: das Reich Gottes oder die Verwirklichung des Wortes in der Seele. Stationen dieses Themas sind: die Verheißungen in den Vätergeschichten, die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft, die Landnahme, das davidisch-salomonische Großreich, die Zeit der Reichsteilung, das messianische Reich der Propheten, die Reich-Gottes-Idee Jesu, das Neue Jerusalem des Apokalyptikers. Der innere Sinn all dieser Geschichten ist Herrschaft Gottes in der Seele. Der Herr und sein Reich, das sind die beiden zentralen Themen des inneren Sinnes. Bei Swedenborg liest sich das so: »Im inneren Sinn des Wortes wird das ganze Leben des Herrn in der Welt beschrieben.« (HG 2523). »Im inneren Sinn werden alle Lebenszustände des Herrn in der Welt beschrieben, wie er damals sein Menschliches göttlich machte.« (HG 7014). Der innere Sinn handelt »vom Herrn, seinem Reich und der Kirche, folglich vom Guten und Wahren« (HG 4923. auch: HG 49, 155, 1247, 2953) oder »von der Verbindung des Herrn mit dem Himmel [Engel] und von der Aufnahme seines Göttlichen in ihr Menschliches« (HG 2249). Diese Themendualität schlüsselt Swedenborg noch weiter auf. In dem Werk »Gedrängte Erklärung«173 findet man eine 17 Punkte umfassende Themenliste, die Swedenborg mit den Worten einleitet: »Im Wort des Alten Testaments beziehen sich alle prophetischen und historischen [Bücher] sowie die Psalmen Davids auf folgende 17 Punkte zurück.« Es handelt sich um eine vollständige Liste. Da deren Sprache allerdings sehr »theologisch« ist und die nur stichwortartig formulierten Punkte das Verständnis zusätzlich erschweren, biete ich neben dem Original eine eigene Formulierung an, die den Bezug der 17 Punkte zum Wiedergeburtsprozess verdeutlichen soll. 1 Die Ankunft des Herrn. Das erwachende Bewusstsein der Seele von der göttlichen 173 Emanuel Swedenborg, Gedrängte Erklärung des innern Sinnes der propheti- schen Bücher des Alten Testaments und der Psalmen Davids, Zürich: Swedenborg Verlag, (o. J.), Seite 121f. 146 T HOMAS NOACK Liebe und Weisheit als Lebensmöglichkeit in ihr. 2 Die allmähliche Verwüstung der Das allmähliche Erlöschen der Kirche. Wahrheit im Bewusstsein des äußeren Menschen. 3 Die gänzlich verwüstete Kirche und ihre Verwerfung. Das totale Erlöschen der Wahrheit im Bewusstsein des äußeren Menschen und seine Hinwendung zum Bösen und Falschen als Lebensprinzipien. 4 Die Verwerfung des Herrn von Seiten der Kirche. Die Verwerfung der göttlichen Liebe und Weisheit durch den äußeren Menschen. 5 Die Versuchungen des Herrn im allgemeinen. Die Anfechtung des inneren Menschen durch den äußeren. 6 Seine bis zur Verzweiflung gehenden Versuchungen. Die völlig hoffnungslose Lage des inneren Menschen angesichts der gewaltsamen Durchsetzung der Interessen des äußeren Menschen. 7 Die Kämpfe des Herrn mit den Höllen. Die Kämpfe des inneren Menschen gegen das Böse und Falsche im äußeren Menschen. 8 Seinen Sieg über sie bzw. ihre Unterjochung. Der Sieg des inneren Menschen über das Böse und Falsche im äußeren Menschen und dessen Unterordnung unter den Liebewillen des inneren Menschen. 9 Das Leiden am Kreuz (die letzte Versuchung). Die härtesten Anfeindungen gegen die allumfassende Gottesliebe im innersten Menschen. 10 Die Verherrlichung des Menschlichen des Herrn bzw. seine Vereinigung mit dem Göttlichen. Der Prozess der Wiedergeburt bzw. die Verbindung des äußeren Menschen mit dem inneren. 11 Die neue Kirche anstelle der früheren. Das vergeistigte Verständnis der Wahrheit anstelle des bloß äußeren Wissens. S TREIFLICHTER 147 12 Die neue Kirche und zugleich den neuen Himmel. Das vergeistigte Verständnis der Wahrheit und die dementsprechende Liebe zum göttlichen Urwesen in Jesus Christus. 13 Die Erniedrigung des Herrn vor dem Vater. Der innere Mensch als Aufnahmeorgan der himmlischen Liebe (die echte Demut). 14 Zustand der Vereinigung mit seinem Göttlichen. Der Zustand der Wiedergeburt. 15 Das von ihm gehaltene letzte Gericht. Die letzte Entscheidung der Seele für oder gegen den göttlichen Einfluss. 16 Lobpreisung und Verehrung des Die himmlische Seligkeit durch Herrn. die tätige Umsetzung der göttlichen Liebe und Weisheit. 17 Die Erlösung und Seligmachung Die Befreiung vom Egoismus durch den Herrn. und die Seligmachung durch das unerschütterliche Vertrauen auf die Macht der göttlichen Liebe und Weisheit. Abschließend zwei Beispiele. Wer kennt nicht die Erzählung von Jericho, deren Mauern durch den Schall der Posaunen zum Einsturz gebracht wurden (Jos 6)? Wie jeder sehen kann, ist von einem gewaltigen Sieg die Rede. Also versuchen wir es mit Punkt 8: Der Sieg über das Höllische. Mit dieser Einordnung gewinnen wir die Umrisslinien des inneren Sinnes: Jericho muss etwas Höllisches bezeichnen. Nun gilt es, sich vom Allgemeinen zum Besonderen vorzutasten. Dazu benötigen wir freilich Methoden, die wir noch nicht kennen. Hier bietet sich der Blick auf den Zusammenhang an (Kontextregel). Das Ereignis findet zu Beginn der Landnahme statt. Die Überwindung Jerichos ist somit ein fundamentaler Akt auf dem Weg zur Wiedergeburt. Den Feinschliff der Deutung muss die Symbolkunde besorgen. Mit deren Techniken müssen wir die Bedeutungen von Stadt, Mauer und Posaune klären. So gelangen wir schließlich zur Enthüllung des inneren Sinnes: Die Mauern von Jericho bezeichnen das schier unüberwindliche Bollwerk der Selbstrechtfertigungen, welche die 148 T HOMAS NOACK eigenen egoistischen Interessen schützen sollen. Die Posaunen hingegen bezeichnen die Kraft der Wahrheitserkenntnis aus dem göttlichen Wort. Wer diesen Posaunenschall in sein geistiges Ohr dringen lässt, erlebt den Zusammenbruch seiner bis dahin unerschütterlichen Überzeugungen. Betrachten wir schließlich die Opferung Isaaks (Gen 22,1-19). Hier gibt bereits die Einleitung den entscheidenden Zuordnungshinweis: »Nach diesen Dingen geschah es, daß Gott Abraham versuchte«. Demnach kommen nur die Punkte 5, 6 oder 9 in Betracht, die von Versuchungen handeln. Punkt 5 scheidet aus, weil er zu allgemein ist. Übrig bleiben die Punkte 6 und 9, in jedem Fall schwere Versuchungen. Weiterführend ist die Wahrnehmung der emotionalen Gestimmtheit des Textes. Isaak ist der Sohn der Verheißung, den Abraham innigst liebt. Die Forderung Gottes: »Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak. . . und opfere ihn« muss Abraham unsäglichen Schmerz bereiten. Der Sohn der Verheißung ist das Menschliche, durch das sich Gott ältesten Prophezeiungen zufolge (vgl. HG 2818) in die Welt senden wollte. Dieses Menschliche ist Jesus von Nazareth. Unser Text handelt daher von der Bereitschaft Jesu alles bloß Menschliche völlig aufzuopfern, um das GöttlichMenschliche anziehen zu können. Diese Bereitschaft führte ihn bis ans Kreuz. Auch davon handelt unser Text. 5. Das Thema einer Schriftstelle geht aus dem Zusammenhang hervor Die Entzifferung des inneren Sinnes gleicht zuweilen der Arbeit eines Altertumswissenschaftlers an einem halbzerstörten Textfund. Manche Partien sind gut erhalten, andere weniger gut, einiges fehlt ganz. Eines aber steht fest: Ursprünglich war der jetzt so verstümmelte Text ein sinnvolles Ganzes. Daher lassen sich die Lücken teilweise wieder schließen, zumal wenn man die Gattung des Textes kennt (z.B. Kriegsbericht) und den Inhalt einigermaßen erahnen kann. Mit der Erforschung des inneren Sinnes verhält es sich ähnlich. Zwar ist Gottes Wort äußerlich betrachtet lückenlos überliefert, aber schriebe man seine Kenntnis des inneren Sinnes nieder, so S TREIFLICHTER 149 wäre der Text wahrlich sehr lückenhaft. Deswegen müssen wir das Unbekannte aus dem Bekannten erschließen. Das ist möglich, weil für den inneren Sinn noch mehr als für den äußeren gilt: er ist ein zusammenhängendes Ganzes (HG 2654). Denn die Wahrheiten werden mehr und mehr eins, je tiefer man sie versteht. Das Teil wird aus dem Ganzen erkannt. Diese Regel, Kontextregel genannt, verwendet auch Swedenborg hin und wieder. Das zeigen beiläufige Bemerkungen, wie »aus dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden läßt sich ersehen« (HG 270) und »aus der Sachfolge erhellt« (HG 2816). Im inneren Sinn ergibt sich das nachfolgende Thema notwendig aus dem vorangegangenen: »Der innere Sinn ist von der Art, daß er ständig auf das Folgende und den Schluß blickt.« (HG 1318). Ein Beispiel. Angenommen ihnen ist die Bedeutung Davids bekannt und sie wollen die Salomos, seines Thronfolgers, erschließen. Die Bedeutung Davids muss ihnen aber wirklich bekannt sein, denn irgendeinen Anknüpfungspunkt benötigt die Kontextregel. Bildlich gesprochen: Einen Rock mit Löchern kann man stopfen. Besteht aber der Rock nur aus Löchern, dann kann man ihn nicht stopfen, weil er schlichtweg nicht vorhanden ist. Der Rock bezeichnet die Kenntnis der Wahrheit. Ihnen ist also die Bedeutung Davids wohlvertraut. Er bezeichnet den Messias, was selbst Leuten, die den inneren Sinn leugnen offensichtlich sein muss, wenn sie Jeremia 30,9, Hosea 3,5 oder Ezechiel 34,23f lesen. Salomo ist dann ganz einfach der nächstfolgende Zustand des Messias. Dieser ergibt sich beinahe von selbst, wenn man den ersten Zustand, dargestellt durch David, kennt. Der Name »David«, abgeleitet aus der hebräischen Wurzel »dwd«, bedeutet »Geliebter« oder »Liebling«. David wird daher als ein Mann nach dem Herzen Jahwes eingeführt (1 Sam 13,14). »Herz« bedeutet bekanntlich Liebe. Demgegenüber fällt auf, dass Salomo vor allem wegen seiner Weisheit gerühmt wird (vgl. das salomonische Urteil 1 Kön 3,16-28 und 1 Kön 5,9-14). Wir sind also auf einen Liebe-Weisheit-Dualismus gestoßen. Das allein sagt freilich noch nicht so viel, denn – wie wir noch sehen werden – überall im 150 T HOMAS NOACK Wort besteht eine »Ehe des Guten und Wahren«. Wir müssen noch genauer bestimmen. David ist der Mann des Kampfes. Sprechend ist sein Kampf mit Goliath geworden, aber auch sei Aufstieg unter der beständigen Anfeindung durch Saul. Zudem lehrt uns ein Blick in den Psalter, dass die Davidpsalmen, nämlich 3 bis 41 und 51 bis 72, überwiegend Klagen enthalten. Es fällt daher nicht schwer in David den menschgewordenen Messiaskönig vor seiner Verherrlichung zu erkennen. Bekanntlich kämpfte der Herr, solange er in der Welt war, gegen die Höllen und besiegte sie. (WCR 116). Wenn David der Herr vor seiner Verherrlichung ist, dann ist Salomo der Herr nach seiner Verherrlichung. Salomo ist der triumphierende Herr nach Tod und Auferstehung und das Weiterwirken des Herrn in der Kirche aller Völker. Swedenborg bestätigt uns diese Ansicht: »David stellt den in die Welt kommenden Herrn dar und Salomo den Herrn nach seiner Ankunft. Und weil der Herr nach der Verherrlichung seines Menschlichen Gewalt über Himmel und Erde hatte, deswegen erschien sein Darsteller, Salomo, in Pracht und Herrlichkeit und war in der Weisheit, über allen Königen der Erde, und baute auch den Tempel. Überdies erlaubte er die gottesdienstlichen Kulte mehrerer Völker und führte sie ein, wodurch die verschiedenen Religionen in der Welt dargestellt wurden.« (GV 245). 6. Die Aussage muss dem Gegenstand angepasst werden Wenn die Themenkunde behandelt wird, dann muss kurz davon die Rede sein, dass die Aussage immer themenbezogen bzw. dem Gegenstand angepasst sein muss. Das ist eigentlich klar, wenn man zunächst an Subjekt und Prädikat im syntaktischen Sinne denkt. Der Wind weht, das Meer wogt und die Wälder rauschen. Das kann man sagen. Problematisch ist schon: »Der Wind singt ein Lied.« Zwar kann der Wind nicht singen, aber in den Ohren eines Poeten kann er es vielleicht doch. Unsinnig ist hingegen die Aussage: »Der Wind rennt durch die Felder«. Möglich ist nur: »Der Wind fegt oder pfeift über die Felder hinweg«. Das Prädikat folgt also dem Subjekt. S TREIFLICHTER 151 Schon in dem eingangs erwähnten »Hieroglyphischen Schlüssel« unterscheidet Swedenborg drei Klassen – später wird er von Graden reden – und fordert, dass die Gegenstände der verschiedenen Klassen »durch andere, einer jeden Klasse eigentümliche Begriffe ausgedrückt werden.« Diese Regel beachtet er auch in seinem religiösen Werk sehr genau: »Die Beschaffenheit des Gegenstandes bestimmt die Beschaffenheit der Aussage.« (HG 721). »Aus dem Gegenstand folgt die Aussage.« (HG 386). »Die Dinge verhalten sich ganz so wie ihre Gegenstände, denn den Gegenständen gehören sie an, weil sie aus ihnen hervorgegangen sind,« (HG 801). Ebenso anderswo: HG 103, 568, 650 usw. Dieser Regel folgend erklärt Swedenborg meist nur den inneren Sinn der Nomina, nicht der Verben. Ein Blick in die »Himmlischen Geheimnisse« kann jeden davon überzeugen. Die Anwendung der Regel ist aber nicht nur auf die Subjekte und Objekte im grammatischen Sinne beschränkt. Selbstverständlich meint Swedenborg auch die satzübergreifenden Gegenstände eines ganzen Sachzusammenhangs. So ordnet er dem himmlischen Menschen andere Begriffe zu als dem geistigen. Adäquate Aussagen für den himmlischen Menschen sind Liebe (amor), Weisheit (sapientia) und Innewerdung oder Wahrnehmung (perceptio). Vom geistigen Menschen hingegen kann man nur Liebtätigkeit (Charitas), Einsicht (intelligentia) und Bewusstsein oder Gewissen (Conscientia) aussagen. Dementsprechend bezeichnen die Bäume im Garten Eden (Gen 2,9) Innewerdungen, »weil vom himmlischen Menschen gehandelt wird.« (HG 103). Wäre vom geistigen Menschen die Rede, dann würden Bäume Erkenntnisse bedeuten, »weil der Mensch der geistigen Kirche nur Wahrnehmungen durch die Erkenntnisse aus der Lehre oder dem Wort hat.« (HG 2722). Also keine unmittelbare Wahrnehmung der Wahrheit. Somit kann man streng genommen von einer Wahrnehmung der Wahrheit beim geistigen Menschen nicht sprechen. Deswegen gibt es bei ihnen so viele Dispute. Oder zum Stichwort »Same der Schlange« im Sündenfallbericht (Gen 3,15) bemerkt Swedenborg: »Der Same ist das Hervorbringende und das Hervorgebrachte oder das Erzeugende und das Gezeugte und da hier von der Kirche 152 T HOMAS NOACK gehandelt wird, ist es der Unglaube.« (HG 254). Immer wieder verweist Swedenborg auf den in Rede stehenden Gegenstand und wählt die angemessenste Ausdrucksweise. Nach der Themenkunde nun die Symbolkunde. Wie erschließen sich mir die Bilder und Begriffe der Heiligen Schrift? Ich habe die Antwort in vier Abschnitte unterteilt: 1. Die Heilige Schrift erklärt sich selbst. 2. Die Nutzwirkung ist der geistige Sinn. 3. Jedes Symbol hat positive und negative Bedeutung. 4. Die Bilder der Alltagssprache als Fundgrube der Entsprechungskunde. 7. Die Heilige Schrift erklärt sich selbst Schon Luther meinte, die Heilige Schrift sei »ihr eigener Ausleger«. Das gilt auch für den inneren Sinn. Denn die geistige Bedeutung eines Wortes findet man, wenn man mehrere Stellen auswertet, die dieses Wort enthalten. Meist findet man sogar einige Stellen, die den geistigen Sinn dieses Wortes besonders leicht erkennen lassen. Dazu zwei Beispiele. Das Schwert bedeutet das kämpfende Wahre, denn im Psalter heißt es: »Gürte, du Held, dein Schwert um die Hüfte; kleide dich in Hoheit und Herrlichkeit! Zieh aus mit Glück, kämpfe für Wahrheit und Recht!« (Ps 45,4-5). Wir beobachten die Verknüpfung des Schwertes mit dem Kampf für Wahrheit und Recht. Das Schwert ist das Mittel des Kampfes. Wie heißt dieses Mittel? Wer es noch nicht weiß, kann es der folgenden Stelle relativ leicht entnehmen: »Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. Er macht meinen Mund zu einem scharfen Schwert« (Jes 49,1-2). Da aus einem Mund noch nie ein scharfes Schwert gekommen ist, wohl aber ein scharfes Wort, das heißt ein kämpfendes, ein streitbares, ein argumentierendes Wort, muss das Schwert aus dem Mund ein solches Wort bezeichnen, somit Argumente im Kampf für Wahrheit und Recht. Ganz ähnlich lauten Aussprüche der Johannesoffenbarung. Aus dem Mund dessen, der auf dem weißen Pferd saß, »kam ein scharfes Schwert«. (Offb 19,15; ebenso 1,16 und 2,16). Auch hier bezeichnet das Schwert aus dem Mund selbstverständ- S TREIFLICHTER 153 lich die Wahrheit. Wir erhalten sogar noch einen Hinweis, der selbst Blinden die Augen öffnen muss. Denn der auf dem weißen Pferd Sitzende ist »das Wort Gottes« (Offb 19,13). In der johanneischen Sprache ist damit eindeutig Jesus Christus gemeint (vgl. den Prolog des Johannesevangeliums). Das Schwert Christi aber ist die Wahrheit. Als weiteres Beispiel diene der Berg. Berge bezeichnen die erhabenen Zustände der Liebe zu Gott; Hügel bezeichnen die Liebe zum Nächsten. Berge und Hügel sind somit auch Bilder für den Himmel, denn das Himmlische des Himmels ist die Liebe. Schon geringe geistige Einsicht reicht aus, um diese Bedeutung aus den folgenden Worten der Heiligen Schrift entnehmen zu können: »Die Berge werden dem Volk Frieden bringen und Gerechtigkeit die Hügel.« (Ps 72,3). Da Berge und Hügel weder Frieden noch Gerechtigkeit bringen können, ist hier entweder kompletter Unsinn ausgesagt oder ein Bild verwendet. Sicherlich kennen sie das Gefühl tiefen Friedens, das sich bei einer Bergwanderung einstellen kann, wenn sie die Tiefen der Welt überwunden haben, ihr Blick frei geworden ist und sie die Unendlichkeit der Schöpfung Gottes schauen können. Nur eine Frage müssen sie sich beantworten und sie haben das Bild des Berges enthüllt: Was verleiht ihnen das Gefühl des Friedens, des Geborgenseins und der Gerechtigkeit? Ist es nicht die Liebe und das Geliebtwerden? Auch bei Ezechiel finden wir eine Stelle, die den inneren Sinn nur leicht verhüllt darreicht: »Auf dem Berge meiner Heiligkeit, auf dem Berg der Höhe Israels, spricht der Herr JHWH, allda wird dienen mir das ganze Haus Israels, sie alle im Lande.« (Ez 20,40). Hier müssen sie lediglich die Frage beantworten, wo der wahre Gottesdienst stattfindet? Die Antwort ist die Enthüllung des Bildes. Die samaritanische Frau am Jakobsbrunnen – eine Szene aus dem Johannesevangelium – stellt diese Frage: »Unsere Väter haben auf diesen Berg (Garizim] Gott angebetet; ihr (Juden] aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss.« Darauf antwortet Jesus: »Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet … die Stunde kommt, und sie ist (in meiner Person] schon 154 T HOMAS NOACK da, zu der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Die Alternative eines äußeren Ortes – Garizim oder Jerusalem – stellt sich für Jesus, den lebendigen Tempel Gottes (Joh 2,21), nicht. Er verweist auf die innere Anbetung im Geist der Liebe und in der Wahrheit des Glaubens. Der Brauch, Gottesdienste auf Bergen zu feiern, kann somit nur ein Sinnbild sein für den inneren Gottesdienst der Erhebung der Seele zum Herrn. Der Berg ist diese innere Erhebung. Oft reicht also eine Bibelkonkordanz aus, um den inneren Sinn finden zu können. Die Zusammenschau von Stellen aus verschiedenen Büchern der Heiligen Schrift, somit aus verschiedenen Jahrhunderten, mag im Lichte der historisch-kritischen Methode sehr bedenklich sein, denn gleiche Worte können zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen haben. Dieser Einwand ist jedoch bei der Suche nach dem inneren, und somit überzeitlichen Sinn belanglos, denn im inneren Sinn haben die Worte eine »konstante Bedeutung« (HG 2333). Sie haben – wie Swedenborg betont – »immer die gleiche« »innere Bedeutung«, »sowohl in der historischen als auch in den prophetischen Büchern, obwohl sie von verschiedenen Verfassern und zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden.« (HG 2607). Diese Aussage zeigt, dass Swedenborg die historische Fragestellung durchaus kennt, obwohl die historische Bibelwissenschaft damals erst begann, andererseits ist sie für die Wissenschaft der Entsprechungen nebensächlich. Die Feststellung, dass die Wörter eine »konstante Bedeutung« haben, ist auch deswegen wichtig, weil sie jenen das Schwert aus der Hand nimmt, die behaupten, die Entsprechungswissenschaft sei ein Rückfall in die allegorischen Willkürauslegungen vergangener Zeiten. Wenn den Bildern und Worten der Heiligen Schrift eine konstante Grundbedeutung innewohnt, kann von exegetischem Wildwuchs keine Rede sein. 8. Die Nutzwirkung ist der geistige Sinn Die Idee der Nutzwirkungen nimmt in Swedenborgs Theologie S TREIFLICHTER 155 einen zentralen Platz ein. Sie lässt sich auch auf das Studium der Entsprechungen anwenden, denn die Gegenwart des Geistes in der Materie ist der Nutzen. Daher ist er der geistige Sinn einer materiellen Erscheinung. Diese These lässt sich leicht veranschaulichen, wenn man zunächst Produkte betrachtet, die der menschliche Geist erzeugt hat. Die kunstvoll verarbeitete Materie einer Schreibmaschine ist keineswegs nur ein Haufen Metall, sondern Träger eines Sinnes, einer geistigen Struktur, die ursprünglich – ledig aller Materie – im Geiste des Erfinders ruhte. Erst allmählich fand das Gedankenbild durch geeignete Materialien der Außenwelt einen »entsprechenden« Ausdruck. Was ist nun das Geistige des Tastenwunders »Schreibmaschine«? Es ist weder die Form, noch das Gewicht oder die Farbe oder ähnliches; die Gegenwart des Geistes in der Form ist die Funktion oder der Nutzen, den die Schreibmaschine verrichten kann. Er besteht darin, Texte zu schreiben. Dieser Nutzen ist zwar in der ganzen Form, ja in jeder Schraube enthalten, und doch nirgends greifbar. Ein Affe sieht nur das Metallgebilde; den innewohnenden Nutzen sieht er nicht. Nur der Geist erkennt das Seinige in der Form. Deswegen sagten wir ganz zu Beginn unserer Ausführungen, dass ohne Erleuchtung alle Entsprechungsregeln wertlos sind. Nur der Geist Gottes erkennt das Seinige im an sich toten Buchstaben, und in der Folge derjenige Geist, der am Urgeiste Gottes Anteil hat. Was ich hier nun sehr handgreiflich dargestellt habe, bringt auch Swedenborg zum Ausdruck: »Der Einfluß des Himmels geht in die Funktionen und Nutzwirkungen der Glieder ein. Weil die Nutzwirkungen aus der geistigen Welt stammen, nehmen sie durch die Stoffe der natürlichen Welt eine Form an, durch die sie wirken. Daher rührt das Entsprechungsverhältnis.« (HH 96). Die Nutzwirkungen stammen aus der geistigen Welt, sind also das Geistige in der Materie. Sie begründen das Entsprechungsverhältnis. Zwar ist in der natürlichen Welt alles natürlich und in der geistigen alles geistig, aber die gleichartige Funktionalität der Erscheinungen hier und dort verbindet das an sich Getrennte: »Dinge, die einander entsprechen, sind auf gleiche Weise tätig 156 T HOMAS NOACK mit dem Unterschied, daß das eine natürlich, das andere geistig ist.« (GLW 399). »Die Entsprechung der natürlichen mit den geistigen Dingen oder der Welt mit dem Himmel wird durch Nutzwirkungen hervorgerufen.« (HH 112). Die Schreibmaschine ist ein simples Beispiel. Wer den inneren Sinn der Naturerscheinungen verstehen will, muss seine Gemütskräfte schon mehr anstrengen. Wer beim Anblick eines Gartens nur den Garten an sich beachtet, bleibt beim Augenschein stehen. Wer den Garten aber zum Anlass nimmt, über Höheres nachzudenken, wandelt auf den Spuren des geistigen Sinnes. Man kann die Früchte des Gartens betrachten, sodann an den Lebensgenuss denken, den der Garten schenkt, und schließlich im Garten ein Bild der himmlischen Seligkeit erblicken. Und schon versteht man, wieso die Heilige Schrift von einem Garten in Eden spricht (vgl. HG 2143). Oder wieso Jesaja schreiben kann: »Der Herr wird dich immer führen, auch im dürren Land macht er dich satt und stärkt deine Glieder. Du gleichst einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser niemals versiegt.« (Jes 58,11). Die ganze Kunst der Deutung besteht darin, die höheren Empfindungsebenen seines Gemüts zu öffnen. Die Naturwissenschaften sind eine Vorbereitung auf die Entsprechungswissenschaft, denn je gründlicher man die natürliche Beschaffenheit kennt, desto eher findet man die Entsprechung. Deswegen spielt Ägypten – das Reich der Wissenschaften – in der Entwicklung Israels eine zentrale Rolle. Auch Swedenborg kam durch die Wissenschaften zu den Entsprechungen. Später nannte er die natürlichen Wahrheiten das Fundament oder die Gefäße der geistigen Erkenntnis. Auch unser Zeitalter der Naturwissenschaft dürfte eine Vorstufe des kommenden Zeitalters der geistigen Erkenntnis sein. Gelegentlich kann man beobachten, wie Swedenborg den inneren Sinn eines Begriffes mittels der Nutzwirkungen oder wesentlichen Eigenschaften aufschließt: »Das Brot bezeichnet das Himmlische, weil Brot allgemein alle Speise und somit im inneren Sinn alle himmlische Speise bezeichnet.« (HG 2165). Das Brot ist S TREIFLICHTER 157 Inbegriff der Speise – man denke an »Unser täglich Brot« oder »Brot für die Welt« – und daher im inneren Sinn dasjenige, was die Engel ernährt, also die Liebe des Herrn. »Die Lehre heißt ›Ackerboden‹ aufgrund des Samens … weil der Ackerboden die Lehre ist, deswegen wird auch jeder, der einen Samen des Glaubens aufnimmt, ›Ackerboden‹ genannt.« (HG 368). Der Ackerboden ist dasjenige, was den Samen aufnimmt und aufschließt. »Der Same ist das Wort Gottes.« (Lk 8,11). Daher ist zunächst die Lehre, das heißt die systematische Aufbereitung des Wortes Gottes, der Ackerboden, denn jede Lehre versucht, das Wort Gottes aufzunehmen und begreifbar zu machen. Im weiteren Sinne ist dann der Mensch ein Ackerboden. »Das Angesicht bezeichnete bei den Alten das Innere, weil durch das Angesicht das Innere hervorleuchtet.« (HG 358). Im Angesicht zeigt sich das innere Wesen eines Menschen am unmittelbarsten. Daher heißt es im Priestersegen. »Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.« (Num 6,24-26). »Der Fuß ist das Natürliche. Der Schuh das, was die Fußsohle und Ferse bekleidet, daher das noch weiter unten befindliche Natürliche, somit das eigentlich Körperliche.« (aus HG 2162 und 1748). »Die Kleidung bezeichnet das Wahre, weil das Wahre das Gute umgibt.« (HG 2425). Das Wahre ist lediglich eine Funktion des Guten oder – wie Swedenborg sagt – »die Form des Guten« (HH 107). Es bekleidet das Gute lediglich. Daher die Kleidervorschriften der Heiligen Schrift und daher die Redeweise »ein Amt bekleiden«. Die Sterne sind die Erkenntnisse des Guten und Wahren bei den Geistigen, weil die Sterne die Nacht erleuchten und die Geistigen verglichen mit den Himmlischen nur ein nächtliches Licht haben. (nach HG 2849). »Weg wird im Wort von den Wahrheiten ausgesagt, weil sie zum Guten führen oder aus dem Guten hervorgehen,« (HG 2234). »Nachteulen und Raben bezeichnen grobe und dichte Falschheiten; Nachteulen, weil sie in der Finsternis der Nacht leben; Raben, weil sie von schwarzer Farbe sind.« (HG 866). »Die Berge sind die erhabensten Stellen der Erde. Deswegen bezeichnen Berge das Himmlische, welches 158 T HOMAS NOACK auch das Höchste heißt. Im entgegengesetzten Sinn heißen im Wort solche Leute Berge, welche hochmütig sind, somit die Selbstliebe. Auch die Urkirche wird im Wort durch Berge bezeichnet, weil sie über die Erde emporgehoben und daher gewissermaßen dem Himmel, dem Ursprung aller Dinge, näher sind.« (HG 795). Das Wesentliche des Berges ist seine Erhabenheit über alles Irdisch-Niedrige. »Wenn aus dem äußeren Sinn der innere wird, verliert sich zuerst die Vorstellung des Berges, und zurück bleibt die Vorstellung von Erhabenheit, wodurch Heiligkeit veranschaulicht wird.« (HG 1430). »Die Höhle ist eine Wohnung auf dem Berg, aber eine dunkle. Und weil Wohnungen jeglicher Art Gutes bedeuten, so bezeichnet die Höhle als dunkle Wohnung das dunkle Gute wie es in den Versuchungen ist.« (HG 2463). Auch Bräuche, die mit bestimmten Gegenständen verbunden sind, können Aufschluss über den inneren Sinn geben: »Steine bezeichnen das Wahre, weil die Grenzen (termini: Grenzbestimmungen) der ältesten Menschen durch Steine kenntlich gemacht wurden und weil sie Steine als Zeugen aufrichteten.« (HG 1298). Noch heute sind viele Denkmäler aus Stein. Auf diese Weise kann man auch die innere Bedeutung von Personen und Orten der Heiligen Schrift ermitteln. Die »Nutzwirkungen« der biblischen Personen sind ihre wesentlichen Handlungen und die der biblischen Ortschaften sind die wesentlichen Vorfälle, die dort geschehen sind. Mose ist derjenige, der Israel aus Ägypten geführt hat und dem Volk am Sinai die Weisung Gottes übergab. Daher bezeichnet er die erlösende Macht des göttlichen Gebotes. Babel oder Babylon ist der Ort der großen Sprachverwirrung, bezeichnet daher die Perversion der göttlichen Lehre und ist das Zerrbild Jerusalems, der Lehre Gottes. 9. Jedes Symbol hat positive und negative Bedeutung Die Symbole haben einen positiven und negativen Sinn je nach Kontext, einen, wie Swedenborg sagt, »echten (genuinus) und entgegengesetzten Sinn« (HG 1142, 1154, 2455 usw.). In dem Ausspruch Christi »Ihr seid das Salz der Erde« (Mt 5,13) bedeutet Salz etwas Positives, denn angesprochen sind die Schüler Chri- S TREIFLICHTER 159 sti. Hingegen in der Aussage »Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zu einer Salzsäule« (Gen 19,26) bedeutet es etwas Negatives, denn Lots Frau verstößt gegen die ausdrückliche Anweisung Gottes. Die Christen sind »das Salz der Erde«, weil das Salz »die Neigung zum Wahren« (HG 2455) bedeutet. Mit dem Interesse an der Wahrheit soll die Erdenmenschheit gewürzt werden. Die (echten) Christen sind dieses Salz, denn ihre Neigung ist Christus, die Wahrheit in Menschengestalt. Dagegen stellt die zur Salzsäule erstarrte Frau Lots den Verlust dieser Neigung dar (HG 2455). Die Wasser der Sintflut bezeichnen die Überschwemmung des Geistes mit falschen Vorstellungen. Die lebendigen Wasser Christi hingegen bezeichnen das Erfülltwerden mit der Wahrheit durch den Heiligen Geist (Joh 7,38). Berge bezeichnen in der Regel die erhabenen Zustände der Liebe, können aber auch ein Bild des Hochmuts sein (vgl. HG 795), so, wenn der Herr spricht: »Ich will Berge und Hügel zur Wüste machen« (Jes 42,15). Eine Wüste bezeichnet normalerweise etwas Negatives, nämlich die Verwüstung des Guten und Wahren, kann aber auch einen positiven Sinn haben. So heißt es von der Frau in der Offenbarung des Johannes: »Die Frau aber floh in die Wüste, wo Gott ihr einen Zufluchtsort geschaffen hatte.« (Offb 12,6). Hier bezeichnet die Wüste offenbar den Ort der Bewahrung. Die Frau ist das Gottesvolk. Wüste bedeutet, dass – vom Standpunkt der Welt aus beurteilt – einer neuen Kirche keine Überlebungschance eingeräumt wird. Diese Verkennung ist aber gerade der Schutz vor weltlichen Nachstellungen. So gibt es zahllose Beispiele. Das Bild an sich ist wertneutral. Erst im Kontext erhält es ein Vorzeichen, das der Exeget beachten muss. 10. Die Bilder der Alltagssprache als Fundgrube der Entsprechungskunde Die gewöhnliche Redeweise ist reich an Bildern und somit ein Reservoir des Entsprechungswissens. Diese Tatsache erklärt Swedenborg so: »Das Inwendige einer Sache ist manchmal auch in den Worten der menschlichen Rede enthalten, weil es der Geist des Menschen ist, der denkt und den Sinn von Worten der Rede wahrnimmt. Der Geist des Menschen befindet sich auch in 160 T HOMAS NOACK einer gewissen Gemeinschaft mit den Geistern und Engeln, die in den Urbegriffen (principiis) der Worte sind.« (HG 3869). Die Entsprechungssprache ist allen Engeln geläufig. Aber auch schon vor dem Tod hat der Mensch eine gewisse Gemeinschaft mit den Engeln und daher eine gewisse Kenntnis ihrer Sprache, was der Bildreichtum der Alltagssprache beweist, den jeder ohne weiteres versteht. Swedenborg macht sich diesen Umstand hin und wieder für seine Deutungen des inneren Sinnes nutzbar. »Warm ums Herz werden« bedeutet lieben, folglich entspricht das Herz der Liebe. Daher auch die Redewendung »jemanden an sein Herz drücken« oder »seinem Herzen Luft machen« und ähnliches. Die Wärme bezeichnet nicht nur physikalische Wärme, sondern auch Herzenswärme. Kälte ist hingegen auch ein Bild für Gleichgültigkeit, Gefühlsarmut und Empfindungslosigkeit. Augen bezeichnen den Verstand, daher rühren Wendungen wie »seine Augen überall haben« oder »wie Schuppen von den Augen fallen«. Und wenn wir etwas verstanden haben, ist uns »ein Licht aufgegangen«. Die Ohren bezeichnen den Willen und somit den Gehorsam (vgl. HG 2542). »Jemanden übers Ohr hauen« heißt betrügen, also gegen seinen Willen zu etwas veranlassen. »Jemanden in den Ohren liegen« bedeutet, ihn durch andauerndes Bitten belästigen. Ein ungehorsames Kind kann »nicht hören«. Bäume bezeichnen Einsichten. Wer »den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht«, erkennt in der Wissensfülle das offensichtliche Ganze nicht mehr. Der Wald, auch das Dickicht, bezeichnet geistige Zusammenhänge, oft undurchsichtig. »Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen« bedeutet einen alten Menschen soll man in seiner gewohnten Umgebung lassen. Hier ist der Baum ein Bild für den Menschen hinsichtlich seiner Kenntnisse. In seiner gewohnten Umgebung kennt er sich aus; in einer fremden Umgebung würde er nicht mehr Wurzeln schlagen können. Weil Bäume Einsichten und Vorstellungen bezeichnen, ist dafür gesorgt, dass »die Bäume nicht in den Himmel wachsen«. In seiner Vorstellung wäre man zwar gerne der reichste Mann der Welt oder Miss Universum, aber alles hat seine Grenze. Diese Himmel bleiben dem Normalbürger unerreichbar. Die massenhafte Abhol- S TREIFLICHTER 161 zung der Wälder berührt unseren Geist vielleicht auch deswegen so eindringlich, weil er darin ein Bild des Kahlschlags der geistigen Erkenntnis erblickt. Wo man nur noch die Materie und das Geld anbetet, wird die Erde (= der äußere Mensch) wieder »wüst und leer« (Gen 1,2). Der Wind bezeichnet das Wirken des Geistes, weswegen in den alten Sprachen Wind und Geist ein- und dasselbe Wort ist. »Sich den Wind um die Ohren wehen lassen« bedeutet daher Lebenserfahrung gewinnen. Der Wind ist hier die im Leben wirksame Kraft. Sie zeigt sich in allen Lebensverhältnissen, doch nirgends kann man sie festnageln, nur verstehen kann man sie, wenn man sich »den Wind um die Ohren wehen lässt«, das heißt sich dem Leben willig (Ohren!) öffnet. Der Sturm bezeichnet ein aufgewühltes Gemüt. Wolken bezeichnen eine gewisse Verschattung des Lichtes. »In den Wolken schwebt man«, wenn man sich phantastischen Vorstellungen hingibt und somit nicht auf dem Boden der Tatsachen steht. Wer die Wahrheit nicht beachtet »baut auf Sand« und »fällt aus allen Wolken«. Wein ist Wahrheit, weswegen »in vino veritas« ist. »Jemandem reinen Wein einschenken« bedeutet, ihm die reine, ungetrübte Wahrheit sagen. Deswegen behielt die katholische Kirche sich selbst den Abendmahlswein vor, weil sie ihren Schafen nicht gestattete, das reine Wort Gottes zu lesen. Stattdesen mussten sie sich mit dem Brot der Frömmigkeitspraxis begnügen. Doch der Durst nach Erkenntnis wird immer mächtiger. Niemand lässt sich mehr morsche Dogmen vorsetzen. Und weil der Papst das ahnt, rührt er sich auf der »cathedra petri«, dem Stuhle der Unfehlbarkeit, kaum noch. Das Bett bezeichnet das Lehrsystem, in dem der Geist verharrt. »Wie man sich bettet, so schläft man auch« heißt deswegen wie man sein Leben gestaltet, so muss man es auch ertragen. Das Bett ist die Ruheposition des Geistes und der Schlaf das irdische Leben. Die meisten verbringen ihr Traumleben im Bette des Materialismus und wollen am liebsten nie erwachen. Schade um diese Nachtlarven! Nur wenige haben sich in das Bett einer Hochreligion gelegt und sehnen sich nach dem kommenden Tag, an dem die Sonne endlich alle Schatten des irdischen Lebens aufhellen und die anscheinend so zufällig gewürfelten 162 T HOMAS NOACK Lebensverhältnisse erleuchten wird. Dann werden wir die Handschrift des Geistes in allen Buchstaben unserer Lebensbahn lesen können. Wir wollen uns nun mit einer wichtigen Struktur in der Heiligen Schrift beschäftigen, der von Swedenborg so genannten »Ehe des Guten und Wahren«. Wenn man nämlich weiß, dass sich alles im Wort entweder auf Gutes oder Wahres bezieht, kann man bei den zahlreichen Wiederholungen in der Heiligen Schrift eine erste, grundsätzliche Zuordnung vornehmen. 11. Die Doppelstruktur in der Heiligen Schrift In der Heiligen Schrift besteht »eine Ehe des Guten und Wahren« (WCR 248-253). D.h. sie enthält Wiederholungen von Motiven und viele Wortpaare, wobei sich der eine Bestandteil dem Guten (und Bösen) und der andere dem Wahren (und Falschen) zuordnen lässt. Dabei muss man natürlich wissen, dass die Begriffe »Gutes« und »Wahres« bei Swedenborg eine sehr weite Bedeutung haben. Diese Eigenschaft der Heiligen Schrift können wir zum Zwecke ihrer Deutung nutzen, indem wir nämlich einfach zuordnen und somit erste Aufschlüsse über den inneren Sinn gewinnen. Der Ursprung der Doppelstruktur ist das Wesen Gottes, das ja selbst Liebe und Weisheit ist und selbstverständlich die innere Struktur des Wortes Gottes prägt. Eine andere Betrachtungsweise sieht in der bereits oben dargestellten Themendualität – der Herr und sein Reich – den Ursprung der Doppelstruktur. So gesehen bezieht sich der geistige Sinn hauptsächlich auf die Kirche und der himmlische auf den Herrn (WCR 248). Die beiden Betrachtungsweisen ergänzen einander, denn die Dualität in Gott führt zum Dual in der Schöpfung, das sich der Herr in seiner Braut, der mater ecclesia bereitet hat. In Gott ist die Weisheit das Weibliche, weil die Liebe durch die Weisheit all ihre Gedanken verwirklicht. Außerhalb Gottes ist es die Kirche, weil sich der Herr durch die Kirche Kinder heranzieht. Das Gute und Wahre sind die Universalien der Schöpfung: »Alles im Weltall, was der göttlichen Ordnung gemäß ist, bezieht sich S TREIFLICHTER 163 auf Gutes und Wahres« (NJ 11). Und da die Heilige Schrift die göttliche Ordnung selbst ist, ist sie geradezu der Inbegriff der dualen Einheit des Guten und Wahren. Betrachten wir zur Verdeutlichung die Urgeschichte, Genesis 1 bis 11. Dabei werden wir erkennen, dass die Doppelstruktur keine Randerscheinung, sondern ein durchgehendes Gestaltungsprinzip ist und somit eine wichtige Verstehenshilfe. Die Urgeschichte behandelt das Schicksal der Ältesten und der Alten Kirche. Schon das ist eine Dualität von Liebe und Weisheit, denn die Urkirche bezeichnet das Himmlische der Liebe und die Alte Kirche das Geistige des Glaubens. Doch die Doppelstrukturen gehen noch viel weiter. Alle Vorkommnisse werden zweimal erzählt, und zwar: 1.) Die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 und 2. Der erste Bericht beschreibt die Wiedergeburt (= Schöpfung) des geistigen Menschen, daher die Gottesbezeichnung Elohim (Gottheit) verwendet wird. Der zweite Bericht beschreibt die Vollkommenheit des himmlischen Menschen, daher der Name Jahwe auftaucht. Elohim weist stets auf Geistiges und Jahwe auf Himmlisches. Die Gegenwartstheologie sieht in der Verwendung der beiden Gottesnamen einen Hinweis auf zwei verschiedene Quellen, aus denen neben anderen die Mosebücher zusammengesetzt sein sollen. Diese These wird mit Macht vertreten, obwohl bislang keine einzige Quelle in Form einer Handschrift tatsächlich gefunden wurde. Swedenborgs Erklärungen könnten den historisierenden Ansatz überflüssig machen. 2.) Die Sündenfallgeschichte wird doppelt erzählt, in Genesis 3 und 4. Im ersten Bericht versündigt sich der Mensch gegen den Herrn und im zweiten gegen seinen Nächsten. Daher bezieht sich der erste Bericht auf Himmlisches (bzw. dessen Verkehrung) und der zweite auf Geistiges. Die Schlange im Garten Eden beschreibt den stärker werdenden Sinnesreiz, der den Tod der himmlischen Liebe heraufbeschwört. Der Brudermord beschreibt den Tod der geistigen bzw. Nächstenliebe. Die Ursünde ist der Abfall vom Herrn, die Folgesünde das Desinteresse am Mitmenschen. 3.) Es gibt zwei Genealogien mit übrigens 164 T HOMAS NOACK sehr ähnlichen Namen: die Nachkommen Kains und die gesegnete Linie Adam-Seth. Die Kainskinder bezeichnen die Entfaltung des kalten Verstandesprinzips. Seth ist der Ersatz für Abel (= Hauch), der die opferbereite Liebe darstellt. Die Sethlinie bezeichnet daher die Verwirklichung der Liebe unter den Bedingungen der Sünde. Die erste Linie bezieht sich auf Geistiges und die zweite auf Himmlisches. 4.) Die Sintfluterzählungen ist in sich dermaßen zweigeteilt, dass sie der modernen Theologie als Musterbeispiel für die Verarbeitung zweier Quellen dient. Zweimal wird erzählt: Das Verderben der Menschen (6,5 und 6,11-12), der Entschluss zur Vernichtung (6,7 und 6,13), der Auftrag zum Besteigen der Arche (7,1-3 und 6,18-21), das Besteigen der Arche (7,7 und 7,13), das Kommen der Flut (7,10 und 7,11), das Umkommen der Geschöpfe (7,22f und 7,20f), das Ende der Flut (8,2b.31 und 8,3b-5) und die Verheißung des Nichtwiederkehrens der Flut (8,21b-22 und 9,17). Diese Zweiteilung wird jedoch auch ohne Quellenscheiderei verständlich, wenn man weiß, dass im geistigen Sinn die Spaltung des menschlichen Geistes in Bewusstsein und Unbewusstes beschrieben wird. Oder – wie Swedenborg sagt – die Trennung des Verstandesmäßigen vom Willensmäßigen, das gegenwärtig das Meer des Unbewussten darstellt. Der Mensch verdarb sein Wollen so sehr, dass es untergehen musste. Heute ist der Geist des Menschen nur noch aus Begierden und dem Unvermögen, einsichtig zu werden, zusammengesetzt. Von einem echten freien Wollen kann keine Rede mehr sein. Weil also der Sintflutbericht die Trennung des Geistigen vom (verdorbenen) Himmlischen zum Thema hat, ist er ein Doublettenstück par exellence. 5.) Schließlich wird auch die Ausbreitung der Menschen über die Erdoberfläche zweimal erzählt: in der Völkertafel (Genesis 10) und in der Turmbauerzählung (Genesis 11). Der erste Bericht bezieht sich auf Willensausrichtungen und der zweite auf Verstandes- bzw. Sprachgestaltungen. Demnach kann man in der gesamten Urgeschichte die Zweigliedrigkeit des Wortes nachweisen. Die Doppelstrukturen sind aber nicht nur in den großen Erzählzusammenhängen beobachtbar, sondern gehen bis in die Einzel- S TREIFLICHTER 165 heiten der Wortwahl und Satzgestaltung. Häufig findet man Wortpaare. Darin ist der Bezug des einen Wortes auf Geistiges und des anderen auf Himmlisches genau festgelegt, so dass man geradezu von Signalwörtern für Geistiges oder Himmlisches sprechen kann: »Wer im inneren Sinn ist, kann sofort – aus einem einzigen Wort – wissen, wovon die Rede ist; mehr noch kann er es aus der Verknüpfung mehrerer Wörter wissen. Denn wenn von etwas anderem die Rede ist, sind sofort andere Wörter da oder dieselben in anderer Verknüpfung. Es gibt nämlich besondere (Signal]wörter für das Geistige und besondere für das Himmlische bzw. für das Verständige und für das Wollende.« (HG 793; vgl. auch 621). Diese Wortpaare kann jeder selbst beobachten. Einige häufig vorkommende Beispiele sind: »Bruder und Genosse, arm und dürftig, Wüste und öde, Leere und Leerheit, Feind und Widersacher, Sünde und Missetat, Zorn und Grimm, Völkerschaft und Volk, Freude und Fröhlichkeit, Trauern und Weinen, Gerechtigkeit und Gericht. Die Bedeutung dieser Ausdrücke scheint jeweils gleich zu sein, in Wirklichkeit ist dies jedoch nicht der Fall. Bruder, arm, Wüste, Leere, Feind, Sünde, Zorn, Völkerschaft, Freude, Trauern und Gerechtigkeit beziehen sich auf das Gute, bzw. – im entgegengesetzten Sinn – auf das Böse. Die Ausdrücke Genosse, dürftig, öde, Leerheit, Widersacher, Missetat, Grimm, Volk, Fröhlichkeit, Weinen und Gericht beziehen sich hingegen auf das Wahre und – im entgegengesetzten Sinn – auf das Falsche.« (WCR 250). Besonders ausgeprägt sind diese Doppelstrukturen in der Poesie des Alten Testaments. Sie gelten als die Eigenart der hebräischen Poesie, die weder Versmaß noch Endreim kennt und daher den Gedankenreim anwendet. Das ist sicherlich richtig. Jedoch ist der tiefere Sinn dieser auffallenden Erscheinung die Ehe des Guten und Wahren. Bei Jesaja ist die Wiederholung des Gedankens sehr auffallend: »Bei den Propheten, vor allem bei Jesaja, sind fast überall zwei Ausdrücke für jeden Sachverhalt vorhanden. Der eine schließt dann das Geistige, der andere das Himmlische in sich.« (HG 590; vgl. auch 2212). Deswegen möchte ich zwei Texte aus dem Prophetenbuch Jesaja vorstellen. Der Schrägstrich 166 T HOMAS NOACK gliedert die Wiederholung des Gedankens. Zunächst ein Wehruf über ungerechte Richter. Im inneren Sinn ist von der Verwüstung der Kirche die Rede: »Weh denen, die unheilvolle Gesetze erlassen / und unerträgliche Vorschriften machen / um die Schwachen vom Gericht fernzuhalten / um den Armen meines Volkes ihr Recht zu rauben, / um die Witwen auszubeuten / und die Weisen auszuplündern. / Was wollt ihr tun, wenn die Strafe naht, / wenn das Unwetter von fern heraufzieht? / Zu wem wollt ihr flüchten, um Hilfe zu finden, / wo euren Reichtum verstecken? / Ihr werdet euch unter Gefangenen (am Boden) krümmen / und werdet unter Erschlagenen liegen. / Doch bei all dem läßt sein Zorn nicht nach, / seine Hand bleibt ausgestreckt.« (Jes 10, 1-4) . Das zweite Beispiel ist das Lied vom Weinberg. Es handelt von der Sorge des Herrn für seine Kirche. Was tut der Herr nicht alles, damit der Mensch endlich die erwünschte Frucht bringt?! Doch der Mensch will von sich selbst nicht lassen: »Ich will ein Lied singen von meinem geliebten Freund, / ein Lied vom Weinberg meines Liebsten. / Mein Freund hatte einen Weinberg / auf einer fruchtbaren Höhe. / Er grub ihn um und entfernte die Steine / und bepflanzte ihn mit den edelsten Reben. / er baute mitten darin einen Turm / und hieb eine Kelter darin aus. / Dann hoffte er, daß der Weinberg süße Trauben brächte, / doch er brachte nur saure Beeren.« (Jes 5,1-2). Der Weinberg bezeichnet die geistige Kirche. Der geliebte Freund bzw. der Liebste ist der Herr, dessen Fürsorge dahin geht, den Menschen der Kirche mit dem Guten und Wahren zu erfüllen. Ständig wechselt das Lied vom Geistigen zum Himmlischen und umgekehrt, was man jedoch nur erkennen kann, wenn man die Signalwörter des Geistigen und Himmlischen kennt. So ist der Weinberg ein Wort des Geistigen, die fruchtbare Höhe hingegen ein Wort des Himmlischen. Die Steine sind ein Wort des Geistigen, hier des Falschen, das entfernt werden muss; die edelsten Reben dagegen sind ein Wort des Himmlischen. Der Turm als Aussichtspunkt bezieht sich auf das Wahre, das die Dinge von einer höheren Warte betrachtet; die Kelter wiederum steht für das Gute, das aus dem Wahren hervorgebracht wird usw. Ständig wird dem Betrachter des geistigen Sinnes die S TREIFLICHTER 167 wechselseitige Einheit des Guten mit dem Wahren und des Wahren mit dem Guten vor Augen geführt. Und er kann daraus tiefe Einsichten über den göttlichen Einfluss in seine Seele gewinnen. Auch die Vokale des hebräischen Textes sollen Hinweise geben, ob von geistigen oder himmlischen Dingen die Rede ist. Man lese z.B. HG 793 und WCR 278. Ich konnte das jedoch bisher aus Zeitgründen noch nicht nachprüfen. Das Wissen um die Bezogenheit des Guten auf das Wahre und umgekehrt ist bei der Auslegung des inneren Sinnes von Nutzen. Zugleich ist das ein Weg, die Quellentheorien zu überwinden, die ohnehin auf schwachen Füßen stehen. Denn welchen Sinn haben die vermuteten Quellen, wenn es auch andere Möglichkeiten gibt, die Erscheinungen im Text zu erklären? Manche Motive werden auch mehr als zweimal erzählt, was jedoch keineswegs gegen die Verbindung des Guten und Wahren im Wort spricht, denn die Motivforschung ist ein ganz anderes Gebiet. Die Verbindung des Guten und Wahren beschreibt die Struktur des Wortes. Die Motivforschung vergleicht Geschichten ähnlichen Inhalts. Das Motiv der Gefährdung der Ahnfrau taucht in der Genesis gleich dreimal auf; zweimal ist es von Abraham (Gen 12 und 20), einmal von Isaak (Gen 26) ausgesagt. Auch Swedenborg sieht das: HG 2498. Aus der Fülle der Motive nur einige weitere Beispiele: die Unfruchtbarkeit der Mutter; Bruderpaare, meist mit Konflikt; Berufungen; Traumoffenbarungen und Theophanien; Rettung durch einen charismatischen Führer; Begegnung am Brunnen und zahlreiche weitere Motive. 12. Scheinbarkeiten und Widersprüche in der Heiligen Schrift Gottes Wort ist der menschlichen Vorstellungskraft angepasst. Daher redet es in menschlicher Weise von göttlichen Dingen: »Obwohl die Glaubenslehre in sich göttlich ist und somit die Fassungskraft der Menschen wie auch der Engel übersteigt, ist das Wort nach menschlicher Fassungskraft in vernunftgemäßer Weise eingegeben (dictata) worden. Das ist wie mit Eltern, die ihre Kinder belehren und dabei alles nach deren geistigen Fähigkeiten auseinandersetzen, obgleich sie selbst inwendiger und 168 T HOMAS NOACK höher denken. Verhielten sie sich nicht so, wäre es ein Lehren ohne Lernerfolg oder wie Samen auf Felsen werfen.« (HG 2533). Dessen muss man sich bewusst sein, sonst qualifiziert man das Wort wegen seiner schlichten, ja naiven Vorstellungen ab. Auf der Suche nach dem göttlichen Sinn gilt es die menschliche Redeweise geistig zu durchdringen. Gottes Wort ist eine Schule des geistigen Denkens. Deswegen ist der Mensch aufgefordert, sich des allzu Irdischen seines Denkens bewusst zu werden. Nicht verwerfen soll er das Wort, wenn es ihm hier und da ein Stein des Anstoßes ist, denn nicht das Wort liegt falsch, sondern das menschliche Denken ist verkehrt. Betrachtet man mit diesem Bewusstsein die Arbeit mancher Literaturkritiker, dann muss man sagen: sie befolgen gerade die umgekehrte Regel. Sie versuchen das Wort nach ihrem Sinn zurechtzubasteln, anstatt es – so wie es ist – stehen zu lassen und ihren eigenen Sinn nach dem Sinn im Worte auszurichten. Eine Grundregel der geistigen Deutung lautet nämlich: Suchet nicht das Wort im Sinne, sondern den Sinn im Worte! Wem das Wort wichtiger ist als seine eigene Meinung über das Wort, hat alle Chancen, mit Hilfe des Wortes sein eigenes Denken zu überwinden. Scheinbarkeiten und Widersprüche wollen uns Anlass sein, dieses Wagnis einzugehen. Einer der Bereiche der angepassten Redeweise ist die Vermenschlichung Gottes. Zwar ist Gott der eigentliche Mensch, sonst hätte er den Menschen ja nicht »nach seinem Bilde« (Gen 1,27) schaffen können, aber so menschlich-allzumenschlich, wie die Heilige Schrift ihn darstellt, ist er denn doch nicht: »Von JHWH wird im Wort oft Erbitterung, aufbrausender Zorn und Wut ausgesagt. Aber das sind menschliche Eigenschaften; sie werden JHWH lediglich zugeschrieben; weil es so scheint:« (HG 357). Traut man den Worten der Heiligen Schrift, dann ist die menschliche Eigenschaft des Zornes dem Herrn sehr vertraut, denn sie plagt ihn auch (Ex 32,11, Num 32,14). Es bedarf paradoxerweise gerade der Fürsprache eines Menschen, um den Herrn vor einem Zornausbruch zu bewahren (Ex 32,11ff). Tatsächlich lässt er daraufhin von seinem voreiligen Entschluss ab und bereut die geplante Untat (Gen 6,6, 1 Sam 15,11). Eine rechte Freude über S TREIFLICHTER 169 sein Tun will sich bei ihm offenbar nicht einstellen. Ständig missrät ihm etwas. Da kann man seine Zorneswallungen gut verstehen. Aber er ist ja selbst Schuld daran, denn obgleich er sich ja kennen müsste und wissen sollte, wie maßlos er sich erregen kann, ist er selber derjenige, der die Menschenkinder versucht (Gen 22,1, Ex 20,20, Dtn 8,2). Vielleicht sind sie ja auch nur sein Spielzeug. Denn wie ein richtiger kleiner Despot hat er sich auf dem Staubkorn Erde einen Gegenstand seiner närrischen Liebe geschaffen, das auserwählte Volk, Israel. Ganze Völker müssen aus Liebe zu Israel über die Klinge springen (Dtn 7,1). Sie werden einfach ausgerottet. Dieser Gott ist kein Gott der Liebe, sondern der Vorliebe (Mal 1,2f). Irgendetwas stimmt mit diesem Gott nicht! Will man ihn nicht verwerfen, dann muss man wohl zwischen dem Gott an sich und dem Gottesbild des Alten Testaments unterscheiden. Dieses Bild ist zeitgenössisch; es besteht – wie wir heute sagen würden – fast nur aus Projektionen. Der Mensch sieht eben immer nur sich selbst, und die reine Gotteserkenntnis muss ihm förmlich untergeschoben werden. Die Projektionen müssen abgetragen werden wie die Staubschicht von einem alten Gemälde. Auch das gehört zur Arbeit eines Exegeten. Dabei kommt ihm die Heilige Schrift selbst zur Hilfe, denn obgleich das Gottesbild teilweise recht beschränkt ist, gibt es immer wieder Einstreuungen, die zu denken geben, ja, im Widerspruch zum bisherigen Befund stehen. Wir sprachen soeben von der Reue Gottes. Nun kann man aber auch lesen: »Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht, denn er ist nicht ein Mensch, daß ihn etwas gereuen könnte.« (1 Sam 15,29). Damit ist Reue als menschlicher Affekt und – sobald von Gott ausgesagt – als Projektion entlarvt. Ebenso sieht es mit allen Religionsvorschriften aus, die des wahren Gottes samt und sonders unwürdig sind. Denn welchen Sinn soll es haben, zur Ehre Gottes Tiere zu schlachten? Kann der wahre Gott wirklich ein Wohlgefallen an all den Brand- und Schlachtopfern haben? Heute würde ihm wahrscheinlich der Tierschutzbund einen Strich durch die Rechnung machen, der ja seine Stimme auch dann erhebt, wenn weit weniger als die Ehre 170 T HOMAS NOACK Gottes auf dem Spiel steht, ein neues Kosmetikum zum Beispiel. Aber auch im Alten Testament hinterfragt man bereits den Opferkult: »Hat der Herr an Brandopfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern.« (1 Sam 15,22). Das Opfer von Tieren ist eine äußere und zudem rohe Handlung, deren innerer Sinn das Opfer des Herzens ist, die Hingabe der Seele an den Herrn. Hätte man dieses Wort Ernst genommen, dann hätte man den Opferkult schon viel früher überwinden können. Das Festhalten an ihm ist also nicht im Herrn, sondern im Menschen begründet. Selbst im Christentum spielt der Opfergedanke noch immer eine zentrale Rolle, und zwar in der Kreuzestheologie. Wollte Gott wirklich das blutige Opfer seines Sohnes? Auch die Beschneidung, das Zeichen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk, wird schon im Alten Testament in ihrer tieferen Bedeutung erkannt, dort nämlich, wo von der Beschneidung des Herzens die Rede ist: »Beschneidet euch für den Herrn und tut weg die Vorhaut eures Herzens, ihr Männer von Juda und ihr Leute von Jerusalem, auf daß nicht um eurer Bosheit willen mein Grimm ausfahre wie Feuer und brenne, so daß niemand löschen kann.« (Jer 4,4; vgl. auch Dtn 10,16 und 30,6). Der gesamte Kultgottesdienst erweist sich somit als Anpassung Gottes an das Bewusstsein der gefallenen Welt. Sie kann die Anbetung Gottes eben nicht besser verstehen. Swedenborg beobachtet die Vermenschlichungen Gottes natürlich auch. Gleichzeitig gibt er Hinweise, wie man sie durchdringen kann: »Der Herr verflucht niemand, zürnt niemand, führt niemand in Versuchung, straft niemand.« Wenn dies dennoch hin und wieder im Wort gesagt wird, dann »damit man glauben kann, daß der Herr das gesamte Weltgeschehen bis in alle Einzelheiten hinein regiere und ordne, sogar das Böse, die Strafen und die Versuchungen. Und wenn man diese höchst allgemeine Vorstellung einmal aufgenommen hat, dann kann man auch lernen, wie der Herr regiert und ordnet, daß er nämlich das Übel der Strafe und der Versuchung zum Guten wendet. Die Ordnung des Leh- S TREIFLICHTER 171 rens und Lernens im Wort geht von ganz allgemeinen Vorstellungen aus, weswegen der Buchstabensinn mit solchen höchst allgemeinen Anschauungen angefüllt ist.« (HG 245). Obwohl die buchstäbliche Aussage streng genommen falsch ist, ist die allgemeine Vorstellung, die darin transportiert wird, richtig. Dem geistigen Erkennen bleibt es vorbehalten, den Rahmen richtig auszufüllen. Mitunter muss man einfach das Tun des Herrn als Folge des eigenen menschlichen Fehlverhaltens verstehen. Das ist ja typisch für Projektionen, dass man andere und letztlich Gott für das eigene Unglück verantwortlich macht: »Oft begegnet einem im Wort die Vorstellung, daß JHWH verderbe. Aber im inneren Sinn versteht man darunter, daß der Mensch sich selbst verderbe, denn JHWH oder der Herr verdirbt niemanden.« (HG 2395). Noch heute glauben viele, die Hölle sei das Verdammungsurteil Gottes. Das ist falsch! Die Hölle ist vielmehr die letzte (bittere) Konsequenz der menschlichen Freiheit. Nicht Gott will die Hölle, der Mensch will sie. Aber nicht nur die negativen menschlichen Eigenschaften werden auf Gott übertragen, sondern auch die positiven. Und doch stellen auch sie nur eine Annäherung an das göttliche Wesen dar und sind sonach auch nur Scheinbarkeiten. Ein Beispiel ist »die Barmherzigkeit des Herrn«: »Niemand kann wissen«, was sie ist, »weil sie das ganze menschliche Verständnisvermögen unendlich übersteigt. Aber was menschliche Barmherzigkeit ist, kann ein Mensch wissen: Sie besteht darin, etwas zu bereuen und Seelenschmerz zu empfinden. Wenn der Mensch nun nicht eine Vorstellung von der Barmherzigkeit (des Herrn] aus einer bekannten Regung erhielte, dann könnte er keinen Gedanken fassen und nicht unterwiesen werden.« (HG 588). Neben den Scheinbarkeiten findet man auch zahlreiche Widersprüche. Sie sind Swedenborg immer wieder ein willkommener Anlass, auf die Existenz eines verborgenen, inneren Sinnes hinzuweisen. Heute versucht man diese literarischen Brüche meist zu klären, indem man verschiedene Quellen annimmt. Es gibt allerdings auch schon wieder andere Ansätze, namentlich im englischsprachigen Raum. 172 T HOMAS NOACK Einige Unstimmigkeiten will ich dem Leser vorstellen: 1.) Am ersten Tag sprach Gott: »Es werde Licht!« (Gen 1,3). Doch erst am vierten Tag kann er sich entschließen, Sonne und Mond zu erschaffen. Frage: Welches Licht hat drei Tage lang geleuchtet? Das muss selbst für die Menschen des Altertums ein gellender Widerspruch gewesen sein. 2.) Nach biblischer Zählung ist Kain der dritte Mensch und der erste ordentlich Geborene. Mit seinem Weib – woher sie kommt wird nicht gesagt – zeugt er Henoch. Und dann baut er eine Stadt. Für fünf Menschen? (vgl. HG 403). 3.) Die Sintflut: Vierzig Tage lang regnet es (Gen 7,12 und 17), aber hundertfünfzig Tage lang nehmen die Wasser auf Erden zu (7,24). Nach 6,19f soll Noah von allen Tieren je ein Paar in die Arche nehmen, nach 7,2f jedoch von allen reinen Tieren je sieben Paare und von allen unreinen Tieren je ein Paar (vgl. HG 717). In 7,8f ist dann aber ausdrücklich gesagt, dass von den reinen und unreinen Tieren je ein Paar in die Arche geht. Die Zahlenangaben passen also überhaupt nicht zueinander. Das gilt übrigens auch für andere Zahlenangaben in der Heiligen Schrift, wie z.B. Jahreszahlen. Offensichtlich war der Kalender noch nicht erfunden. 4.) Nach der Sintflut pflanzt Noah einen Weinberg und trinkt sich erst 'mal einen an. Nackt und im Vollrausch liegt er in seinem Zelt. Ham entdeckt die Blöße seines Vaters. Doch offenbar ist Noah nach seinem Erwachen noch etwas umnebelt, denn nicht Ham, sondern Kanaan wird wegen des Frevels verflucht. (vgl. HG 1093). 5.) Die Völkertafel in Genesis 10 setzt die Existenz von Babel bereits voraus (10,10), doch erst ein Kapitel später, in der berühmten Geschichte vom Turmbau, wird Babel gebaut (vgl. HG 1283). Die Reihe solcher Widersprüche ließe sich fortsetzen. Sie sind Stolpersteine, die zum Nachdenken anregen sollen. Wer freilich von der Göttlichkeit der Bibel kaum noch überzeugt ist, wird durch solche Beobachtungen vollends aus der Bahn gebracht. Hier gilt das Wort: »Wer da hat (den Glauben nämlich], dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat.« (Lk 19,26). All das zeigt, dass die Heilige Schrift nicht nur das reine Gotteswort ist, sondern der Mensch ein Wörtchen mitzureden hatte. Die S TREIFLICHTER 173 Heilige Schrift ist gewissermaßen in sich ein Dialog zwischen Gott und Mensch. Diesen Dialog gilt es wahrzunehmen, um das göttliche Kind von den Windeln zu befreien. Denkanstöße gibt es genug; es sind die Widersprüche in der Schrift, an denen jeder zugrunde geht, der sie mit den Milchzähnen seiner Logik zerkleinern will. 13. Sonstige Hilfsmittel der Entsprechungskunde Die Kenntnis der Ursprachen erleichtert das Studium des inneren Sinnes, denn alles Geistige hat seine Grundlage im Natürlichen. Erst wenn man den ursprachlichen Sinn der verwendeten Begriffsbilder kennt, ist der Weg zur Erforschung des inneren Sinnes geebnet. Außerdem ist jede Übersetzung eine Interpretation. Das wäre freilich noch hinnehmbar, wenn die Übersetzer den natürlichen und geistigen Sinn verstünden. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Daher schleichen sich Übersetzungsfehler ein, die den Zugang zum inneren Sinn zusätzlich erschweren. Ein Beispiel: In der Turmbauerzählung heißt es: »wajehi benos'am mikkedem« (Gen 11,2). Luther (Revision 1984) übersetzt: »Als sie von Osten aufbrachen«. Hermann Menge übersetzt: »Als sie nun nach Osten hinzogen«. Martin Buber übersetzt: »Da wars wie sie nach Osten wanderten«. Leonard Tafel (Swedenborgianer) übersetzt: »Und es geschah, daß sie von Osten auszogen«. Und die englische Revised Standard Version hat: »And as men migrated from the east«. Dieser Überblick zeigt, dass sich die Übersetzer nicht einig sind, wohin die Reise geht: »nach Osten« oder »von Osten«? Im hebräischen Urtext steht »mikkedem«, was eindeutig »von Osten« bedeutet. Wenn sich dennoch immerhin drei von sechs Übersetzungen für »nach Osten« entscheiden, dann hat das wohl seinen Grund in der geographischen Situation. Das babylonische Weltreich lag östlich von Kanaan, also zog man »nach Osten«. So einfach ist das! Da die Turmbauerzählung jedoch noch zu den »gemachten Geschichten« (HG 1020) gehört und lediglich eine geistige Realität beschreibt, darf man dem Urtext getrost Vertrauen schenken und mit »von Osten« übersetzen. Nur das ergibt geistig betrachtet Sinn, denn der Osten bezeichnet den Herrn und 174 T HOMAS NOACK die Entfernung von Osten bedeutet die Abkehr vom Herrn. »kadmah« – ein Wort derselben Wurzel wie »kedem« (Osten) – bedeutet Ursprung. Wer mit der Tücke von Übersetzungen nicht vertraut ist, wird sich bei den fehlerhaften Lesarten die Zähne ausbeißen und den geistigen Sinn nur deswegen nicht finden, weil der Buchstabensinn verdorben ist. Ebenso gibt es zahlreiche weitere Fehler. Eine gewisse Abhilfe schafft der Vergleich verschiedener Übersetzungen. Dann findet man wenigstens die neuralgischen Punkte. Die Kenntnis der Ursprachen gibt ferner einen Einblick in die Mehrdeutigkeit der Begriffe. Swedenborg verweist gelegentlich darauf: z.B. HG 841, 908, 996, 1179, 2455, und 2525f. Auch die Namen der Personen und Orte haben eine Bedeutung. Martin Buber setzt daher dort, wo der Name eingeführt wird, neben dem hebräischen Namen die deutsche Übersetzung. So steht neben Isaak »Er lacht« (Gen 17,19), neben Esau »Rauher« (Gen 25,25), neben Jakob »Fersehalt« (Gen 25,26) und neben Israel »Fechter Gottes« (Gen 32,29). Ebenso bei Orten: Neben Babel steht »Gemenge« (Gen 11,9) und neben Bethel »Haus der Gottheit« (Gen 28,19). Abschließend noch einige Lehrbücher und Nachschlagewerte. Das beste Lehrbuch der Entsprechungskunde sind für mein Empfinden »die himmlischen Geheimnisse«. Hier wird der Schüler Gottes sogleich mit der Deutung eines großen Erleuchteten vertraut gemacht. Ohne theoretische Vorrede werden die ersten beiden Bücher Mosis Vers für Vers und Wort für Wort ausgelegt. Freilich ist das Studium dieses Werkes nicht einfach. Am besten wählt man sich eine Geschichte seines Interesses aus und studiert die innere Bedeutung eingehend. Das Verständnis für Entsprechungen wird wachsen, wenn man dies häufiger macht. Eine Theorie der Entsprechungskunde ist – wenn überhaupt – in den Werken »Himmel und Hölle« (87-115) und »Die Göttliche Liebe und Weisheit« (Gradlehre: 173-281) enthalten. Ferner gibt es Entsprechungslexika. In deutscher Sprache: William L. Worcester, »Die Sprache der Gleichnisse« und der »Index« S TREIFLICHTER 175 in der »Erklärten Offenbarung«. In englischer Sprache ist das Angebot reichhaltiger. In den beiden folgenden Werken sind sehr viele Originalstellen ausgewertet: »A Dictionary of Bible Imagery«174 und das »Dictionary of Correspondences, Representatives and Significatives«175. Swedenborg selbst hat keine Entsprechungslexika geschrieben, wohl aber einige Indizes hinterlassen, die sich in diesem Sinne verwenden lassen. Es gibt davon aber keine deutschen Übersetzungen. Bleibt mir nur noch übrig, jedem viel Erfolg beim Studium der Sprache Gottes zu wünschen, denn Gott der Herr will nicht auf Dauer tauben Ohren predigen. Möge der Geist Gottes doch endlich in der Seele erwachen. Der Weg ist geebnet, nun muss er nur noch beschritten werden. 174 Alice Spiers Sechrist, A Dictionary of Bible Imagery, New York: Swedenborg Foundation, 1981 175 Dictionary of Correspondences, Representatives and Significatives, A Compila- tion Of Abstracts … By The Swedenborg Society, New York: Swedenborg Foundation, 1988 176 T HOMAS NOACK Kain und Abel Eine Auslegung von Genesis 4,1 bis 16 in der Tradition Swedenborgs 1. Das exegetische Programm Bei meiner Lektüre der »himmlischen Geheimnisse« fiel mir vor Jahren die folgende Bemerkung Swedenborgs auf: »Es genügt, vom Allgemeinsten eine nur allgemeine Vorstellung zu geben.« (HG 771). Da ich damals noch der Meinung war, Swedenborg hätte den inneren Sinn erschöpfend ausgelegt, verhalf mir diese vergleichsweise nebensächliche Bemerkung zu der Einsicht, dass uns Swedenborg in den »Arcana caelestia« wohl einen Weg weist, aber nicht bis zum Ziel führt. An einem Wegweiser soll sich der Wanderer nicht festklammern, vielmehr soll er sich von ihm weg weisen lassen. Mit anderen Worten, der Schüler Swedenborgs ehrt seinen Meister nicht, wenn er dessen Auslegung immer nur wiederkäut. Vielmehr soll er im Geiste seines Lehrers weiterdenken. Daraus entwickelte sich im Laufe der Jahre das exegetische Programm einer Auslegung in der Tradition Swedenborgs. Dieses Programm kann an dieser Stelle zwar nicht mit einem Schlag verwirklicht werden. Aber erste Schritte sind immerhin möglich. Bei meiner Lektüre des hebräischen Urtextes von Genesis 4,1 bis 16 und der Auslegung in HG 338 bis 398 machte ich zwei grundlegende Beobachtungen, die für die Entwicklung einer eigenständigen Auslegung im Geiste Swedenborgs von Bedeutung sind. Erstens: Swedenborg gilt als Offenbarer des inneren Sinnes. Doch nicht alles, was er zu Genesis 4,1 bis 16 zu sagen hat, dringt bis in die geistige Dimension vor. Viele Äußerungen können als Beiträge zu einer historischen Exegese angesehen werden, auch wenn diese Form der Exegese und ihre Methoden damals erst im Entstehen waren. Der innere Sinn ist nur dann ein innerer, wenn er sich innerhalb der Grenzen des äußeren Sinnes bewegt. Daher braucht die geistige Auslegung die natürliche oder historische wie ein Haus den Boden. Swedenborg ist S TREIFLICHTER 177 dementsprechend auch als »historisch-kritischer« Exeget zu würdigen, und das seit dem 18. Jahrhundert gewonnene historische Wissen muss bei der Auslegung des geistigen Sinnes berücksichtigt werden. Swedenborg selbst spricht diese Einsicht mit den Worten aus: »Der buchstäbliche Sinn des Wortes ist die Grundlage (basis), die Hülle (continens) und die Stütze (firmamentum) seines geistigen und himmlischen Sinnes.« (LS 27-36). »Der buchstäbliche Sinn ist gleichsam der Leib, und der innere Sinn ist gleichsam die Seele dieses Leibes.« (NJ 260). Zweitens: Swedenborgs Auslegung von Genesis 4,1 bis 16 liest sich wie sein Kommentar zur altprotestantischen Orthodoxie, das heißt zur Problematik des Verhältnisses von Glaube (Kain) und Nächstenliebe (Abel). Swedenborgs Auslegung des inneren Sinnes bleibt also im Bezugssystem einer bestimmten Dogmatik bzw. dogmatischen Diskussion angesiedelt. Ich schließe daraus das Folgende: Wenn die im Grunde unausschöpflichen, göttlichen Tiefen des inneren Sinnes in eine äußere Sprache übertragen werden, dann ist damit unausweichlich eine Begrenzung verbunden. Das heißt, jeder Ausleger des inneren Sinnes muss sich für eine Terminologie entscheiden176; in diesem Wort ist das lateinische Wort für Grenze (terminus) enthalten. Das terminologische System ermöglicht es dem Exegeten des inneren Sinnes die unendliche Fülle desselben in eine fassliche Gestalt zu bringen. Das bedeutet nun aber, dass auch andere Terminologien möglich sind und entwickelt werden können. Ich werde dementsprechend im Folgenden vereinzelt die gewohnte Sprache verlassen und den inneren Sinn in neue Begriffe gießen. Da ich aber noch kein neues System entwickelt habe, kann das nur vereinzelt geschehen. Die Suche nach den verborgenen Schätzen der himmlischen 176 Auch die tiefenpsychologische Auslegung biblischer Texte vollzieht sich im Rahmen einer Terminologie, oftmals ist es die von C. G. Jung. Aufgrund solcher Beobachtungen meine ich, dass man ein bestimmtes terminologisches System nicht für das einzig richtige halten darf. Das gilt auch für die Sprache Swedenborgs. Sie kann durch ein anderes Begriffssystem abgelöst werden. 178 T HOMAS NOACK Weisheit beginnt mit einer Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16. Sie ist eigentlich ein Ergebnis der exegetischen Arbeit und müsste daher am Ende stehen. Dennoch ist es gerechtfertigt, sie an den Anfang zu stellen. So kommt zum Ausdruck, dass der Text der Ausgangspunkt unserer Wahrnehmungen ist. 2. Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16 1. Und der Mensch erkannte Eva seine Frau, und sie empfing und gebar Kain und sprach: »Ich habe einen Mann erworben, den Jahwe«. 2. Und sie fuhr fort, seinen Bruder Abel zu gebären. Und Abel wurde ein Hirt der Herde, Kain aber wurde ein Knecht des Bodens. 3. Und es geschah am Ende der Tage, da brachte Kain von der Frucht des Bodens Jahwe eine Gabe dar. 4. Und auch Abel brachte dar, – von den Erstgeburten seiner Herde und zwar von ihrem Fett. Und Jahwe schaute auf Abel und auf seine Gabe hin. 5. Aber auf Kain und seine Gabe schaute er nicht hin. Da entbrannte Kain sehr (im Zorn) und sein Angesicht senkte sich. 6. Und Jahwe sprach zu Kain: »Warum entbrennst du (im Zorn), und warum senkt sich dein Angesicht? 7. Ist es nicht so?: Wenn du Gutes tust, so geschieht Erhebung. Wenn du aber nicht Gutes tust, dann ist die Sünde ein lagernder (Schlangendämon) vor der Tür. Und nach dir ist sein Verlangen, du aber sollst|willst über ihn (= den Dämon oder Abel?) herrschen.«177 8. Und Kain sprach 177 Dem Vers 4,7 geht der Ruf voraus, der dunkelste der Genesis zu sein (vgl. Seebass 152). In meiner Übersetzung spiegelt sich daher in besonderer Weise mein Verständnis dieser Stelle. Aber selbst die (dem eigenen Verständnis angepasste) Übersetzung läßt noch ein wenig die Schwierigkeiten des hebräischen Textes erkennen. Daher zwei Erläuterungen: Erstens: »Die Sünde« ist im Hebräischen (wie im Deutschen) ein Femininum. »Der Lagernde« hingegen ist ein Maskulinum. Daher kann man nicht übersetzen: »Die Sünde lagert«. Andererseits ist »die Schlange« von Genesis 3 im Hebräischen ein Maskulinum. Deswegen habe ich mich für die Übersetzung »die Sünde ist ein lagernder Schlangendämon« entschieden. Zweitens: Die maskulinen Suffixe in der zweiten Vershälfte können sich nur auf den Lagernden oder auf Abel beziehen. Ich konnte mich zwischen den beiden Möglichkeiten nicht entscheiden, eventuell ist die Doppeldeutigkeit gewollt. Im ersten Fall ist zu lesen: »Und nach dir (Kain) ist sein Verlangen (= das Verlangen des lagernden Schlangendämons), du aber sollst herrschen über ihn (= über den lagernden Schlangendämon).« Im zweiten Fall ist zu lesen: »Und S TREIFLICHTER 179 zu seinem Bruder Abel: »…«178 Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn. 9. Und Jahwe sprach zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und er sprach: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« 10. Und er sprach: »Was hast du getan? Horch! Das (vergossene) Blut deines Bruders schreit zu mir vom Boden. 11. Und nun, verflucht bist du vom Boden, der sein Maul aufgerissen hat, um das Blut deines Bruders von deiner Hand zu nehmen. 12. Wenn du (nun) den Boden beackerst, wird er dir seine Kraft nicht mehr geben. Unstet und flüchtig wirst du sein auf Erden.« 13. Und Kain sprach zu Jahwe: »Zu groß ist meine Verkehrtheit, als dass sie aufgehoben werden könnte. 14. Siehe, du vertreibst mich heute vom Angesicht des Bodens, und dein Angesicht wird mir verborgen sein. Unstet und flüchtig werde ich auf Erden sein, und es wird so kommen, dass jeder, der mich findet, mich erschlagen will.« 15. Aber Jahwe sprach zu ihm: »Ebendarum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfach Rache erleiden.« Und Jahwe versah Kain mit einem Zeichen, damit jeder, der ihn findet, ihn unerschlagen lasse. 16. Dann zog Kain vom Angesicht Jahwes fort und wohnte im Lande Nod, östlich von Eden. 3. Die Einheit und ihr Thema Genesis 4,1 bis 16 wird hier als eine Einheit angesehen. Diese Sicht ist jedoch umstritten, denn die Verse 1, 2 und 16 wurden ganz oder teilweise abgesondert und zur Kainitengenealogie der Verse 17 und 18 gezogen.179 Für eine Exegese in der Tradition nach dir (Kain) ist sein Verlagen (= Abels Verlangen), du aber willst herrschen über ihn (= über Abel).« 178 Was Kain zu Abel sprach, ist im masoretischen Text (der in den Urtextausgaben abgedruckt wird) nicht überliefert. Der samaritanische Pentateuch, die (griechische) Septuaginta, die (syrische) Peschitta und die (lateinische) Vulgata lesen hier jedoch noch: Laß uns auf das Feld gehen! 179 Siehe Horst Seebass, Genesis I: Urgeschichte (1,1 - 11,26), NeukirchenVluyn 1996, Seite 144. Die Kainitengenealogie sähe dann so aus: »1. Und der Mensch erkannte Eva seine Frau, und sie empfing und gebar Kain und sprach: Ich habe einen Mann erworben, den Jahwe. 2. Und sie fuhr fort, seinen Bruder Abel zu gebären. Und Abel wurde ein Hirt der Herde, Kain aber wurde ein Knecht des Bodens. 16. Und Kain zog vom Angesicht Jahwes fort 180 T HOMAS NOACK Swedenborgs schließt sich daran (und überhaupt an die Genealogien in der Urgeschichte) eine grundsätzliche Frage an. Ist die Erzählung von Kain und Abel eine Einfügung in ein genealogisches Gerüst, das ursprünglicher als die (sekundäre) Erzählung ist? Oder sind die genealogischen Listen der heutigen Urgeschichte nur das Überbleibsel einer ursprünglich viel umfangreicheren Erzählung? Swedenborg ging bekanntlich von der Existenz eines Alten Wortes aus (siehe auch Jakob Lorbers »Haushaltung Gottes«), aus denen die Urgeschichten der Genesis entnommen wurden (WCR 279d). Wenn die swedenborgsche Exegese gewillt ist, diese Denkmöglichkeit aufzugreifen, dann dürfte die in der zweiten Frage enthaltene These die wahrscheinlichere sein.180 Nach der äußeren Abgrenzung der Einheit wende ich mich der inneren bzw. der Gliederung zu. Die Verse 1 und 2 bilden den Eingang (die Exposition). Die Verse 3 bis 5 beschreiben den Kult oder das Gottesverhältnis von Kain und Abel. Die Verse 6 und 7 enthalten eine zurechtweisende Jahwerede (die Stimme des Gewissens). Der Vers 8 schildert den Brudermord. Die Verse 9 bis 12 entfalten die schlimmen Folgen der Tat. Die Verse 13 bis 15 und wohnte im Lande Nod, östlich von Eden. 17. Und Kain erkannte seine Frau, und sie empfing und gebar Henoch. Und er wurde der Erbauer einer Stadt und nannte den Namen der Stadt nach dem Namen seines Sohnes Henoch. 18. Und dem Henoch wurde Irad geboren, und Irad zeugte Mehujael, und Mehujael zeugte Metuschael, und Metuschael zeugte Lamech.« 180 Damit begeben wir uns auf das Feld der Pentateuchkritik (sie will das Werden der fünf Bücher Mose aufhellen). Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts besaß das klassische Wellhausen-Modell (nach dem Theologen und Orientalisten Julius Wellhausen benannt) eine so allgemeine Gültigkeit, dass es wie selbstverständlich sogar in die kirchenamtlichen Bibelausgaben aufgenommen wurde (siehe die Einheitsübersetzung oder die Stuttgarter Erklärungsbibel). Doch heute befindet sich die Pentateuchforschung in einer Totalrevision aller ihrer Hypothesen. Das eröffnet zumindest theoretisch die Möglichkeit, die spärlichen Hinweise Swedenborgs zu einem umfassenden Erklärungsmodell weiterzuentwickeln, ohne sogleich als hoffnungslos veraltet angesehen zu werden. Das Alte Wort Swedenborgs führt dann zu der Annahme, dass für die Urgeschichten eine Quelle sui generis vorauszusetzen ist. Eine solche Quelle kann man auch aufgrund der altorientalischen Vergleichstexte zu den biblischen Urgeschichten vermuten. S TREIFLICHTER 181 handeln demgegenüber von der Bewahrung des Brudermörders. Der Vers 16 bildet den Ausgang (den Schluss). Die Verse 6 bis 7 und 9 bis 15a sind Rede. Daher fallen die Handlungen in Vers 8 (der Brudermord) und 15b (die Bezeichnung Kains durch Jahwe) besonders auf. Das Zentrum der Erzählung ist der Brudermord (Vers 8). Das Ziel der Erzählung ist jedoch die Bewahrung und Unantastbarkeit des Brudermörders (Vers 15b). Dem Thema von Genesis 4,1 bis 16 nähern wir uns an, indem wir die Stellung dieser Einheit im engeren Umfeld betrachten. Auch Swedenborg wendet die Kontextanalyse an, was Bemerkungen wie »aus dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden wird ersichtlich« (HG 270) oder »aus der Sachfolge (ex rerum serie) geht hervor« (HG 2816) belegen. Zuerst weise ich auf gedankliche Verbindungen der Erzählung von Kain und Abel mit Genesis 2 und 3 hin, und dann auf Verbindungen mit Genesis 5. Adam und Eva machen die Erfahrung des Guten und Bösen, für die sie sich entschieden hatten (Genesis 2,9 und 3,6), in den Gestalten von Kain (das Böse) und Abel (das Gute). Die Erzählung von Kain und Abel stellt sonach die Entwicklung im Anschluss an die Entscheidung des Urelternpaares, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, anschaulich dar. Kam es bereits im Gottesgarten zum Bruch im (vertikalen) Verhältnis zu Jahwe, so kommt es nun, jenseits von Eden zum Bruch im (horizontalen) Verhältnis der Menschen untereinander. Erst zerbricht die Liebe zum himmlischen Vater, dann die geschwisterliche Liebe. Kain bringt den Tod in die menschliche Erfahrungswelt. Damit erfüllt sich die Warnung von Genesis 2,17: »Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht essen, denn an dem Tag, an dem du davon ißt, wirst du (ab)sterben.« Adam stellt die ursprüngliche, gottgewollte und somit unverdorbene seelisch-geistige Beschaffenheit des homo sapiens (des weisen Menschen) dar. Als aber dieses Geisteslicht im Erdenkleid den Weg der Erfahrung durch die fünf Körpersinne betrat, da begann es abzusterben. Kain löscht Abel aus. Am Ende bleibt nur noch die Finsternis des nackten Weltbewusstseins übrig. Zu beachten ist ferner, dass die Verfluchung der Scholle voran- 182 T HOMAS NOACK schreitet. Dem Adam wurde gesagt: »… verflucht sei der Mutterboden deinetwegen. Mit Schmerzen sollst du von ihm essen181 alle Tage deines Lebens, (denn) Dornen und Disteln läßt er dir wachsen und (doch) musst du das Grünzeug des Feldes essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen …« (Genesis 3,17-19). Doch immerhin, dem Adam brachte die »adamah« noch Frucht hervor. Dem Kain aber wurde gesagt: »… verflucht bist du vom Mutterboden, der sein Maul aufgerissen hat, um das Blut deines Bruders von deiner Hand zu nehmen. Wenn du (nun) den Mutterboden beackerst, wird er dir seine Kraft (seinen Ertrag) nicht mehr geben.« (Genesis 4,11-12). Die »adamah« wird unfruchtbar, weil der befruchtende Geist sie nicht mehr durchdringt, obwohl er (in der Gestalt des Blutes Abels) in ihr versickert.182 Die Erzählung von Kain und Abel mündet in dem Stammbaum Kains, das heißt in die ungesegnete Linie der »Kinder der Tiefe« (HGt 1,57,43). Dem wird in Genesis 5 der Stammbaum Seths als ergänzender Gegensatz gegenüber gestellt. Von einer ergänzen181 Wörtlich: »Mit Schmerzen soll du ihn (den Mutterboden) essen«. Doch auch Swedenborg übersetzt: »in magno dolore edes de ea« (in großem Schmerz wirst du von ihm essen). 182 Auf weitere im wesentlichen sprachliche Zusammenhänge zwischen Genesis 2,4b bis 3,24 und Genesis 4,1 bis 16 möchte ich wenigstens in Form einer Fußnote hinweisen. In Genesis 3,9 spricht Jahwe Elohim zum Menschen: »Wo bist du?«, in Genesis 4,9 spricht Jahwe zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?«. In Genesis 3,13 spricht Jahwe Elohim zur Frau: »Was hast du da getan?«, in Genesis 4,10 spricht Jahwe zu Kain: »Was hast du getan?«. In Genesis 3,16 spricht Jahwe Elohim zur Frau: »Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird (will) über dich herrschen«, in Genesis 4,7 spricht Jahwe zu Kain: »Nach dir wird sein (gemeint ist der Dämon oder Abel) Verlangen sein, du aber sollst (oder willst) über ihn (gemeint ist der Dämon oder Abel) herrschen«. In Genesis 3,17 spricht Jahwe Elohim zu Adam: »der Boden sei verflucht um deinetwillen«, in Genesis 4,11 spricht Jahwe zu Kain: »verflucht bist du vom Boden«. Nach Genesis 3,23 soll der Mensch den Boden bebauen; genau diese Tätigkeit übt Kain aus, er ist »ein Bebauer des Bodens« (Genesis 4,2). In Genesis 3,24 heißt es: »Er trieb den Menschen aus«, in Genesis 4,14 spricht Kain zu Jahwe: »Du hast mich heute vom Angesicht des Bodens vertrieben«. In Genesis 3,24 sollen die Cherubim »östlich (miq-qedem) vom Garten Eden« lagern, in Genesis 4,16 liegt das Land Nod »östlich (qidmat) von Eden«. S TREIFLICHTER 183 den bzw. zusammengehörigen Gegenüberstellung spreche ich, weil die sieben Namen von Genesis 4 in Genesis 5 ähnlich- oder gleichlautend enthalten sind.183 Der Stammbaum in Genesis 5 stellt die gesegnete Linie der »Kinder der Höhe« (HGt 1,147,2) dar. Der in Kain und Abel aufgebrochene Gegensatz des Bösen und des Guten zieht also in der Konsequenz zwei Nachkommenschaften und dementsprechend zwei Welten nach sich. Seitdem gibt es unten und oben oder den äußeren, weltzugewandten und den inneren, gottzugewandten Menschen. Das Motiv von Genesis 4,1 bis 16 ist der Brudermord. Es ist in der Literatur weit verbreitet.184 Am bekanntesten ist die Sage von Romulus und Remus. Sie ähnelt auch darin der Erzählung von Kain und Abel, dass Romulus nach der Tötung seines Bruders zum Gründer einer Stadt (Rom) wurde. Auch Kain erbaute nach der Ermordung Abels eine Stadt (Hanoch). Nach Swedenborg stellen Städte Lehren dar (HG 402). Sieht man in Kain eine (mythische) Personifikation der objektbezogenen Verstandeskräfte und in Abel ein Personifikation der auf weniger Konkretes bezogenen Gefühlskräfte, dann sagt uns der Brudermord, dass die (äußeren) Verstandeskräfte nur dann Lehren, Philosophien, Ideologien, Weltanschauungen oder allgemein gesagt Systeme konstruieren oder erbauen können, wenn sie es schaffen, sich aus der Dominanz der Gefühle zu lösen, so dass diese in der Sphäre des neuen Herrn zu einem Nichts werden. Swedenborg formuliert in HG 337 so etwas wie einen Titel zu Genesis 4,1 bis 16: »Die Entartung (de degeneratione) der ältesten 183 Zum Stammbau von Genesis 4 gehören die sieben Glieder Adam, Kain, He- noch, Irad, Mehujael, Metuschael, Lamech (danach Aufspaltung in die Dreiheit Jabal, Jubal, Tubal-Kain). Zum Stammbaum von Genesis 5 gehören die zehn Glieder Adam, Set, Enosch, Kenan, Mahalalel, Jered, Henoch, Metuschelach, Lamech, Noah (danach Aufspaltung in die Dreiheit Sem, Ham, Jafet). Genesis 5 unterscheidet sich dadurch von Genesis 4, dass am Anfang Set und Enosch hinzugekommen sind, in der Mitte Mahalalel und Henoch vertauscht sind (Henoch wird dadurch zum 7. Glied) und am Ende zusätzlich Noah erscheint (der Begründer der nachsintflutlichen Menschheit). 184 Belege findet man beispielsweise bei Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, 1988, Band 1, Seite 111ff., Band 2, Seite 247ff. 184 T HOMAS NOACK Kirche bzw. die Verfälschung ihrer Lehre«. Der Urmensch schlug aus der ursprünglichen Art, als er sein (primitives) Gegründetsein in der Gefühlwahrnehmung (Abel) verließ, um die Objektwahrnehmung (Kain) zu kultivieren. So verließ er die himmlischen und geistigen Sphären und wurde mehr und mehr ein Bürger der Raumzeitwelt. Da aber nur die Gefühlskräfte das Bewusstsein aus dem Ursprung unversehrt erhalten können, kam es, als Abels Blut im Boden dieser Welt versickerte, zur allmählichen Auflösung des Wissens um die hohe Herkunft des homo sapiens. Das nennt Swedenborg die Verfälschung der Lehren oder Überlieferungen der Urkirche. 4. Die Auslegung der einzelnen Verse Zu Genesis 4,1: In den deutschen Übersetzungen185 der heiligen Schrift ist »ha-adam« entweder mit »Adam« (als Eigenname) oder mit »der Mensch« (gemeint ist der erstgeschaffene Mensch) wie185 Die folgenden deutschen Übersetzungen der heiligen Schrift wurden heran- gezogen: 1. Übersetzungen in der Tradition Swedenborgs: 1.1. Die deutsche Übersetzung von ESL (siehe unten) in »himmlische Geheimnisse«, Tübingen 1845ff. (ESD). 1.2. »Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Tafel«, Frankfurt am Main 1880 (LEO). 1.3. »Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Tafel, revidiert von Professor Ludwig H. Tafel«, Philadelphia 1911 (LUD). 2. »Wörtliche« Übersetzungen (der Schwerpunkt bei diesem Übersetzungstyp ruht ganz bei der Ursprache): 2.1. »Elberfelder Bibel«, revidierte Fassung von 1991 (ELB). 3. »Mittlere« Übersetzungen (dieser Übersetzungstyp sucht einen mittleren Weg zwischen Ursprache und Zielsprache bzw. einer wörtlichen und einer verständlichen Übersetzung): 3.1. »Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers«, revidierte Fassung von 1984 (LUT). 3.2. Die »Zürcher Bibel« in der revidierten Fassung von 1931 (ZUR). 3.3. Die »Einheitsübersetzung«, Stuttgart 1980 (EÜ). 3.4. »Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt von Hermann Menge«, Stuttgart 1949 (MEN). 4. »Freie« Übersetzungen (bei diesem Übersetzungstyp hat sich das Interesse ganz auf die Zielsprache verlagert): 4.1. »Gute Nachricht Bibel«, revidierte Fassung 1997 der »Bibel in heutigem Deutsch«, Stuttgart 2000 (GNB). 4.2. »Hoffnung für alle – die Bibel«, Basel 2002 (HFA). Außerdem wurden die folgenden lateinischen Übersetzungen berücksichtigt: 1. »Biblia Sacra sive Testamentum Vetus et Novum … a Sebastiano Schmidt«, Argentoratum (Straßburg) 1696 (SS). 2. Emanuel Swedenborgs lateinische Übersetzung der Bücher »Genesis« und »Exodus« in »Arcana Caelestia« (ESL). S TREIFLICHTER 185 dergegeben. Von der Möglichkeit, »ha-adam« mit »der Mann« zu übersetzen, macht keine der herangezogenen deutschen Bibeln Gebrauch, obwohl der Mann und seine Frau zum erwarteten Verständnis eines ersten Menschenpaares besser passt als der Mensch und seine Frau. Swedenborg hat »homo« (der Mensch) im Unterschied zu Sebastian Schmidt, dessen lateinische Bibelübersetzung er immer vor sich hatte und wo er »Adam« las. Der Mensch und seine Frau versinnbildlichen »die älteste Kirche« (HG 338). Dazu zwei Bemerkungen. Erstens: »Ha-adam« kann kollektiv (die Urmenschheit) oder individuell (der Urmensch) verstanden werden. Swedenborg hat sich in seiner Auslegung der Urgeschichte für das kollektive Verständnis der »Personennamen« entschieden (siehe seine Bemerkung zu Noah in HG 1025). Zweitens: Das kollektive Verständnis Adams (»haadam« gleich die älteste Kirche) hat aber noch etwas von Raum und Zeit an sich und steht somit in einer gewissen Spannung zu dem, was Swedenborg sonst zum inneren Sinn sagt: »Vor den Engeln, die im inneren Sinn sind, verschwindet alles, was zur Materie, zu Raum und Zeit gehört.« (HG 488, vgl. auch 813, 3254). Das bedeutet, Swedenborgs Verständnis von »ha-adam« als Sinnbild für die Urkirche ist erst der Anfang der Enthüllung des inneren Sinnes. Oder, um es noch einmal mit den Eingangsworten zu sagen: Swedenborg ist nur ein Wegweiser, der uns zwar den Weg weist, aber in seinen Schriften das himmlische Ziel noch nicht vollständig offenbart. So lädt er uns ein, eigene Fortschritte in der Erforschung der geistigen Sinnwelten zu machen. Dabei sollte uns allerdings bewusst sein, dass wir die Grenze des Sagbaren nicht schnell und auch nicht beliebig weit voranschieben können. Je weiter wir nach innen vorstoßen, desto subtiler werden die Schwingungen des inneren und innersten Sinnes. Bis in welche Höhe kann unser Herz diese Schwingungen noch wahrnehmen? Und ab wann versagt uns die Sprache ihren Dienst am Heiligtum? Wir werden also nur behutsam vorgehen können. Auf dem Weg nach innen streifen wir das Zeitliche ab und begeben uns mehr und mehr in die Beobachtung der Zustände. Swe- 186 T HOMAS NOACK denborg schreibt: »Wenn man die Vorstellung von Zeit entfernt, dann bleibt diejenige des Zustandes der Dinge, die zu jener Zeit waren.« (HG 488). In diesem Sinne meint die älteste Kirche nicht nur eine religionsgeschichtliche Epoche, sondern auch den Zustand der Kindheit. Swedenborg charakterisiert die älteste Kirche oft als eine himmlische (HG 281), wobei himmlisch in seiner Terminologie auf die Liebe zum himmlischen Vater hindeutet (HG 1001). »Ha-adam« hat etwas mit dem naiven (das heißt kindlichen) Urzustand des menschlichen Wesens zu tun. Soeben aus der göttlichen Macht in die Freiheit des eigenen Lebens entlassen, ist es noch ganz im Urvertrauen geborgen und schaut doch schon mit großen Augen in die verlockende Weite der Welt hinaus. Sie wird ihn magisch anziehen und nötigen, sein Wesen auf allen Ebenen zu gebären, nicht selten unter großen Schmerzen. »Ha-adam« kann uns sonach die Geschichte des Individualgeistes auf dem Weg der Personwerdung erzählen. Die Geburten sind die stufenweisen Verwirklichungen der aus der Macht des Allmächtigen freigestellten Potenz. Während »ha-adam« und seine »chawwah« (Eva) noch aus der Hand Gottes hervorgingen, sie sind also nicht Geborene, sondern Geschaffene, Kreationen des göttlichen Geistes, beginnt nun mit Kain und Abel die Kette der Geburten. Was hat es zu bedeuten, dass gleich mit dem Auftakt des eigenen Gebärens ein Gegensatz, eine Dualität erzeugt wird? Der Mensch »erkannte« seine Frau. Wie sinnentstellend »freie« Bibelübersetzungen sein können, zeigt am Beispiel dieser Stelle die »Gute Nachricht Bibel«; dort heißt es: »Adam schlief mit seiner Frau« (Gen 4,1). »Schlafen« (nicht wach sein) ist beinahe das Gegenteil von »erkennen« (hellwach sein).186 Die nichtwörtlichen Bibelübersetzungen geloben zwar »die selbstverständliche Treue zum Original« (GNB 345), aber mit der Preisgabe der sprachlichen Form können diese Übersetzer immer nur den 186 Ich übersetze »jada‘« zwar nicht mit »schlafen«, aber natürlich muss man hier an die Gemeinschaft des Mannes mit der Frau denken. Nach HG 4914 (zu Gen 38,26) hat »erkennen« die Bedeutung »conjungi« (sich verbinden bzw. verbunden werden; vgl. conjugium = Ehe). S TREIFLICHTER 187 Sinn in die Zielsprache übertragen, den sie selbst im Kopf haben. Die Übersetzer der GNB denken an den Beischlaf, aber indem sie mit dieser Vorstellung im Kopf das hebräische »jada‘« mit »schlafen« verständlicher wiedergeben wollen, erschweren sie dem Bibelleser den Weg in das innere Heiligtum des Wortes. Denn nun kann er beispielsweise nicht mehr so leicht den Zusammenhang zwischen dem Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen und der Geburt vom Kain (das Böse) und Abel (das Gute) in Folge der Erkenntnis, die der Mensch nun in seine Frau einbildet (oder einführt), entdecken. Das Aneignen (Essen) der einen Erkenntnis wirkt sich auch auf die andere, erzeugende Erkenntnis aus. Franz Delitzsch (1813 - 1890) macht darauf aufmerksam, dass »erkennen« im Sinne von Genesis 4,1 nie »von den Thieren« vorkommt, »denn was beim Thiere naturnothwendiger Instinct ist, das ist beim Menschen freies, sittlich verantwortliches Thun«.187 Das Erkennen seines weiblichen Gegenübers ist als geistiger Akt der spezifisch menschliche Akt des Erzeugens, denn der Mensch ist der Fackelträger des Geistes, der geistige Samen durch seine Natur ausgebären soll. Wir müssen uns von der Meinung des Sensualismus oder Empirismus ganz und gar befreien, wonach der Erkennende nur aufnimmt, nämlich Eindrücke durch die Sinne. Wir können Genesis 4,1 nur verstehen, wenn wir sehen, dass das Erkennen ein Akt des Gebens ist. Das geht aus dem Dreiklang der Verben »erkennen«, »empfangen«, »gebären« deutlich hervor. Da die Folge des Erkennens das Empfangen ist, muss das Erkennen selbst ein Geben sein. Von »ha-adam« geht demnach ein geistiger Impuls aus, der von seiner Frau empfangen und verwirklicht wird. »Ha-adam« (der geistbegabte Erdling) ist ein zwiespältiges Wesen. Gott und Welt, Geist und Materie stoßen in ihm zusammen. »Ha-adam« erkennt das, und diese Erkenntnis durchläuft wie eine Schockwelle seine Natur und erzeugt den ersten unversöhnlichen, fundamentalen Konflikt, dargestellt durch Kain und Abel. 187 Franz Delitzsch, Commentar über die Genesis, Leipzig 1872, Seite 162. 188 T HOMAS NOACK Swedenborg übersetzt »ischschah« mit »mulier« (Weib) oder »uxor« (das ehelich mit dem Mann verbundene Weib).188 Geistig bedeutet »ischschah« »das Eigene« (proprium) und »die Kirche« (ecclesia). Man kann sich fragen, welcher Zusammenhang zwischen diesen beiden Begriffen besteht, zumal Swedenborg sagt: »Das Eigene ist nichts als nur etwas Böses und Falsches.« (HG 215). Doch die Antwort ist einfach. Das Eigene oder das Ichwesen des Menschen ist an und für sich so etwas wie ein Spiegelbild Gottes, und in einem solchen Bild ist eben alles spiegelverkehrt. Also ist das Bild Gottes als solches etwas durch und durch Verkehrtes. Alles weitere hängt nun davon ab, ob sich der Mensch in das Spiegelbild so sehr verliebt, dass er meint, es sei das Urwesen, oder ob er den Schein durchschauen und erkennen kann, dass sein Ichwesen nur ein Reflex des Urwesens im Bewusstsein des äußeren Menschen ist. Im ersten Fall wird das Ich zum Idol, zum Megastar der Diesseitsparty mit leider tödlichem Ausgang. Im zweiten Fall bleibt das Ichwesen mit dem Urwesen verbunden und wird zur Kirche, das heißt zum Raum der Ruhe des siebten Tages. »Ha-adam« erkannte in »chawwah« Kain (die Selbstverblendung) und Abel (den Atem Gottes), beide erkannte er in dem, was ihm eigen war. Und so nahmen sie durch »chawwah« Gestalt an und wurden Geborene aus dem Samen der Erkenntnis des Adam. »Die Mutter aller Lebendigen« (Gen 3,20) bringt als erste Geburt den Todbringer Kain zur Welt, sie sprach: »Qaniti – Erworben (oder erschaffen) habe ich einen Mann, den Jahwe.« »Qajin« (Kain), den Namen ihres Sohnes, bringt die Urmutter mit »qanah« in Verbindung. Das Verb bedeutet sowohl »erwerben« als auch »erschaffen« (Seebass 148). Swedenborg entscheidet sich für »acquirere« (erwerben) und deutet den Freudenruf der »Mutter aller (geistig) Lebendigen«, also der Urkirche, dahingehend, dass 188 Eine Übersicht der Übersetzung von »ischschah« in Genesis 1 bis 4,16 durch Swedenborg (siehe ESL): Er übersetzt »ischschah« mit »mulier« in Genesis 2,22; 3,1.2.4.6.12.13.15.16. Mit »uxor« übersetzt er das Wort in Genesis 2,23.24.25; 3,8.17.20.21; 4,1. S TREIFLICHTER 189 einige anfingen, den Glauben (Kain) für »etwas Selbständiges (res per se)« zu halten (HG 340). Sie überließen sich dem Eindruck, dass man durch das Glaubenswissen etwas zum Glaubensleben hinzuerwerben könne. »Qajin«, der oder das Erworbene, stellt die Sphäre des Habens dar oder die Verblendung des in die Eigenmächtigkeit entlassenen Menschen, der zuerst sich selbst und dann auch alles Seiende besitzen will. In Genesis 14,19.22 bezeichnet das Partizip »qoneh« den Schöpfergott. Wenn man von daher »qaniti« in Genesis 4,1 mit »ich habe erschaffen« übersetzt, dann bedeutet das, dass sich die Urmutter, die zum allerersten Mal ein lebendiges Wesen geformt und geboren hat, als Göttin versteht. »Ihr werdet sein wie Gott« (Gen 3,5), »chawwah« (Eva) ist zur Göttin geworden, denn sie hat Leben erschaffen. Allerdings ist sie auch einem Wahn verfallen. Das Werkzeug hält sich nämlich für die Ursache. Das Organ erliegt der Täuschung, dass die schöpferische Macht nicht nur in ihm wirksam, sondern ihm auch eigen sei. Dazu Swedenborg: »Der Mensch empfindet es nicht anders, als dass er aus seinem eigenen Leben heraus lebt, denn das Werkzeugliche empfindet das Ursprüngliche als ihm eigen. Es vermag hier nicht zu unterscheiden, denn die ursprüngliche Ursache (causa principalis) und die werkzeugliche Ursache (causa instrumentalis) wirken nach einem in der gelehrten Welt bekannten Lehrsatz als eine Ursache zusammen.« (WCR 473). Dementsprechend wird sich Kain als Herr gebärden. Swedenborg (siehe ESL) versteht »et-jahwe« als Akkusativ, so dass wir im Anschluss an Swedenborg übersetzt haben: »Ich habe einen Mann erworben, den Jahwe.« Ein Blick in die deutschen Bibeln zeigt jedoch, dass wir damit von der üblichen Praxis abweichen. In der Elberfelder Bibel heißt es: »Ich habe einen Mann hervorgebracht mit dem Herrn.« In der Lutherbibel heißt es: »Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn.« In der Zürcher Bibel heißt es: »Ich habe einen Sohn bekommen mit des Herrn Hilfe.« Und in der (katholischen) Einheitsübersetzung heißt es: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben.« Das heißt, die gegenwärtig maßgeblichen Interpreten sehen in »et« die Präposi- 190 T HOMAS NOACK tion »mit« (bzw. »mit Hilfe von«). Die Einheitsübersetzung glättet dieses Verständnis sprachlich ein wenig und so wird dann aus »mit« »von«. Was spricht demgegenüber für unsere Übersetzung in der Tradition Swedenborgs? Erstens der sprachliche Befund: Horst Seebass sagt klar, dass »die philologisch einfachste Auffassung die eines doppelten Akkusativs« ist (148). Und Franz Delitzsch bemerkt: »… häufig findet sich nach einem ersten Acc. ein zweiter näher bestimmender mit ›et‹ 6,10; 26,34; Jes 7,17, während ›et-jahve‹ als adverbialer Satztheil in der Bed. ›mit jahve‹ sonst nicht vorkommt …« (162). Der sprachliche Befund weist demnach ziemlich deutlich auf Swedenborgs Übersetzung. Daher sollte man sich für sie entscheiden, wenn man in ihr auch einen Sinn entdecken kann, womit wir nun zweitens beim inhaltlichen Befund sind. Delitzsch weist auf einen interessanten Zusammenhang hin. Beim Verständnis von »et-jahwe« als Akkusativ würde Eva »das männliche Kind … für den Messias … oder den menschgewordenen Jahve halten« (162). Sie knüpft an ihn »die Hoffnung auf Erfüllung der Verheißung vom Weibessamen [siehe Genesis 3,15].« (163)189. Nach Swedenborg ist Kain ein Sinnbild für »die Lehre des von der Liebe getrennten Glaubens« (HG 325). Die Identifikation dieses Glaubens mit dem von einer Frau geborenen Jahwe, das heißt mit dem Messias, bedeutet so gesehen, dass der bloße Glaube als Erlöser verkündet wird. Swedenborg sieht allerdings noch einen anderen Zusammenhang. Der Gottesname Jahwe wird in der hebräischen Bibel vom Verb »sein« her erhellt (Exodus 3,14). Demnach schälten sich bereits in der Urkirche die Glaubenslehren als etwas selbständig Seiendes her189 Diese Deutung fand ich auch bei Jakob Böhme: »Höre und besiehe das schö- ne Kind in Adams und Evas Willen, was ihr Begehren vor und nach dem Falle war: Sie begehrten das irdische Reich, als dann Eva durchaus nur irdisch gesinnet war. Denn als sie Cain gebar, sprach sie: ›Ich habe den Mann, den Herrn‹, sie gedachte, es wäre der Schlagentreter, er würde das irdische Reich einnehmen und den Teufel verjagen, sie dachte nicht, daß sie sollte ihres falschen, irdischen, fleischlichen Willens sterben, und in einem heiligen Willen geboren werden. Einen solchen Willen führte sie auch in ihren Samen ein, desgleichen auch Adam.« (Mysterium Magnum 26,23). Eva glaubte demnach, den Schlagentreter von Genesis 3,15 geboren zu haben. S TREIFLICHTER 191 aus (»res per se«, HG 340). Zu Genesis 4,2: Die Kirchenväter sahen in Abel eine Vorbildung oder Präfiguration Christi.190 Diese Deutung ist auch noch beim Swedenborg der von J. F. I. Tafel sogenannten »Adversaria«191 vorhanden, wo es heißt: »Die beiden erstgeborenen Söhne Adams bilden die beiden Fürsten oder Führer vor, Kain offensichtlich den Fürsten der Welt mit seinem Haufen, Abel hingegen den Fürsten des Himmels bzw. den Messias ohne Nachkommenschaft.« (WE 90).192 In den »himmlischen Geheimnissen« hat Swedenborg jedoch die personale Hülle abgestreift und präsentiert uns ein abstraktes Verständnis (vgl. »in sensu abstracto« in HG 2232). Das geistige Verständnis ist beim Swedenborg der »himmlischen Geheimnisse« zugleich ein abstraktes, das sagt er ausdrücklich: »Im inneren Sinn wird alles von den Personen entfernt (in sensu interno abstrahuntur omnia a personis)« (HG 5434; vgl. auch EO 78). Und so wird aus Abel, der Präfiguration 190 Spuren des frühchristlichen Verständnisses Abels: Die Abel-Christus- Typologie ist von Ambrosius »in der Schrift ›De Cain et Abel‹ zum erstenmal in voller Breite dargelegt worden. Ihm folgten … Augustinus, Leo d. Gr., Maximus von Turin, Paulinus von Nola, Gregor d. Gr., Isidor, Hrabanus Maurus, Rupert von Deutz und andere (siehe PL 219,243).« (Hans Martin von Erffa, Ikonologie der Genesis, Band 1, 1989, Seite 359). In einer ehemals Johannes Chrysostomus zugeschriebenen Schrift De sacrificiis Caini, de donis Abelis usw. heißt es: »weil Abel als erster für die Gerechtigkeit gekämpft hat, war er als erster würdig, für seine Frömmigkeit zu leiden: so wurde er zu einem Vorbild Christi (imago Christi)«. Bei dem Benediktinermönch Radbert von Corbie (Paschasius Radbertus) liest man zusammenfassend: »Darum ist Abel der erste als Vorbild Christi (figura Christi) und sehr gerechter Prophet, zum Beispiel wenn man liest, er habe Gottvater ein Lamm dargebracht und geopfert; er zeigte ihm, daß er mit seinem Glauben und seinen Werken ein künftiges Lamm sei, das zum Heil der ganzen Welt Gottvater im lieblichen Geruch als Schlachtopfer darzubringen sei. Darum ist auch Abel, der im Glauben an Christus festblieb, so wie der Rebschoß an der Rebe, getötet worden als Vorbild (figura) jenes, und wurde zum Setzling aus der Rebe und zum treuen Zeugen« (Erffa 1,359f.). 191 Swedenborg gab diesem Werk den Titel »Explicatio in Verbum Historicum Vet. Test.«. In Ermangelung einer deutschen Übersetzung dieses umfangreichen Werkes verwende ich das Sigel »WE« (nach dem englischen Titel The Word Explained) und folge auch der dortigen Nummerierung der Abschnitte. 192 Auch bei Jakob Lorber ist Abel die erste Christusvorbildung (HGt 1,11.25). 192 T HOMAS NOACK des Messias, die »tätige Liebe« (HG 341), denn die Person Christi ist geradezu die Verkörperung oder der Inbegriff dieser Liebe (vgl. Joh 13,34). Abel war »ein Hirt der (Kleinvieh)herde« (Gen 4,2). Um zu einem hohen Verständnis dieser Tätigkeitsbeschreibung aufsteigen zu können, darf man nicht bei Vorstellungen wie »Hirtenromantik« oder »Schäferidylle« stehen bleiben. Denn der Hirte bezeichnete in der altorientalischen Vorstellungswelt den (göttlichen) König und Gott selbst: In »altorientalischen Königstitulaturen« ist »das Wort ›Hirte‹ eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen«. »Die Insignien der ägyptischen Könige, die sog. Geißel und das Zepter, waren ursprünglich die Abzeichen des Hirten, nämlich Fliegenwedel und Hirtenstab. Auch der griechische Mythos weiß um die Wesensverwandtschaft zwischen Hirt und König, wenn er den Königssohn Paris auf den Hängen des Ida seine Herde weiden läßt. Da nach alter Vorstellung der König der irdische Repräsentant Gottes ist, so wird auch dieser im Bild des Hirten geschaut. In der mesopotamischen wie in der griechischen Kunst findet sich das Bild des Hirten, der ein Lamm oder Kalb auf der Schulter trägt; so wurde auch der griechische Gott Hermes als Kriophoros [Schafträger] dargestellt.«193 Auch in der Heiligen Schrift bezeichnet »weiden« das fürsorgliche Wirken des Regenten und wird von Jahwe, der das Volk hütet (Ps 23; Jes 40,11) und von Königen und Herrschern ausgesagt (Ez 37,24). Und selbstverständlich denken wir auch an den Messias, den Christus; er ist der von Gott gesalbte König der Menschenherde. Er ist das Vollbild des guten Hirten (Joh 10), die eschatologische Verwirklichung der alten Hoffnung auf einen solchen Hirten. Nachdem dieser Menschheitshirte nun erschienen ist, können alle anderen Hirtengestalten der Vergangenheit nur noch als Präfigurationen des einen guten Hirten angesehen werden. Und so ist auch Abel ein Schattenbild des Christus und zum Herrscher bestimmt, zum 193 Manfred Lurker, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, 1990, Seite 173. Siehe auch den Begriff des Hirtenkönigs in Bezug auf Ägypten bei Jakob Lorber (GEJ IV,202,16; 204,9, 206,14). S TREIFLICHTER 193 »Hirten der Herde«. Die hohe, geistige Bedeutung Abels steht nun im Gegensatz zur Bedeutung seines Namens. Denn »hebel« – so müsste sein Name eigentlich in der Umschrift lauten – bedeutet »Hauch«, »ein Nichts«, »Täuschung«, »Wahn«.194 Wir können uns einen Zugang zum Verständnis dieses merkwürdigen Missverhältnisses bahnen, wenn wir uns daran erinnern, dass auch heute ein großer Streit darüber herrscht, ob das Seelische eine Ausdünstung des Gehirns oder doch eine andere, immaterielle Entität sei. Ist die Seele also »ein Nichts«? Ist die Rede von einer Seele eine »Täuschung«, ein »Wahn«? Dass die zweite Geburt Evas den Namen »hebel« bekommt, bedeutet, dass die Seele im Bewusstsein der gefallenen Menschheit an Substanz verliert. Denn die Wirklichkeit der Schlange, die physikalischen Wellen und Schwingungen drängen sich in den Vordergrund, so dass die Seele und ihre Wirklichkeit mehr und mehr zu einem Nichts wird. Und tatsächlich stehen in der Erzählung von Kain und Abel ausschließlich Kain und seine Sichtweise im Mittelpunkt. Abel kommt nicht zu Wort, nur Kain spricht in Genesis 4,1 bis 16. Außerdem ist die Verwendung von »Bruder« in Genesis 4,1 bis 16 aufschlussreich, denn damit ist immer nur Abel gemeint, nie Kain. Das heißt, dass die Bezugsperson, die im Mittelpunkt steht und das Umfeld determiniert, Kain ist. Für Kain ist Abel, das heißt die Herrschaft des Geistes über die Materie, ein leeres Geschwätz, und zwar einfach deswegen, weil es den Geist als ein selbständiges Wesen in seinen Augen gar nicht gibt.195 Kain war »ein Bearbeiter des Bodens« (»obed adamah«, Gen 4,2). Swedenborg übersetzte die hebräische Wendung »obed adamah« 194 So lesen wir zum Beispiel im Psalm 39,6: »Siehe, nur handbreit hast du meine Tage gemacht, wie nichts ist meine Lebenszeit vor dir. Nur ein Hauch (hebel) ist der Mensch.« Und in Kapitel 7,16 sagt Hiob: »Ich mag nicht mehr – nicht ewig will ich leben! Laß ab von mir! Meine Tage sind nur noch ein Hauch (hebel).« 195 Viktor Mohr bringt Abel mit »ahab« (lieben) in Verbindung. Siehe H. E. Sponder, Haushaltung Gottes durch Jakob Lorber, Lexikaler Anhang, 1979, Seite 36. 194 T HOMAS NOACK mit »colens humum«. Das Verb »colere« und das dazugehörige Substantiv »cultus« (Kult) gehören in den gottesdienstlichen Zusammenhang (siehe beispielsweise »colere Dominum« in HG 7724). Auch das hebräische Verb »abad«, das im »obed adamah« enthalten ist, bedeutet einesteils »arbeiten« und »dienen«; andernteils aber, auf Gott bezogen, ist es die Bezeichnung für das Gottesverhältnis und für den Kult oder den Dienst an einem Heiligtum. Daher kann mit »obed adamah« zwar einesteils »ein Ackerbauer« gemeint sein (siehe »agricola« in der Vulgata), andernteils kann im »obed adamah« aber auch die Bedeutung »Anbeter des Irdischen« mitschwingen. Die »adamah« wird so gesehen zu einem Kultobjekt, das heißt zum Gegenstand einer Verehrung, die eigentlich nur Gott zukommen soll. Kain ist dann nicht nur ein Bebauer, sondern ein Diener der »adamah«. Und indem er sich immer mehr der Machtsphäre des Erdreiches (»adamah«) ausliefert, wird er am Ende ganz und gar zu einem Knecht und Sklaven des irdischen Reiches.196 Wer also bei seinen Meditationen der heiligen Schrift auf den »sensus spiritualis« (das geistige Empfinden) achtet, der wird im »obed adamah« nicht nur den Dienst am Boden, sondern auch die Verknechtung durch den Boden oder das Irdische wahrnehmen. Daher schrieb Swedenborg: »Von denen, die auf das Leibliche und Irdische sehen, sagte man (einst), dass sie den Boden beackern« (HG 345). In der Nachkommenschaft Kains wird der kulturelle oder äußerliche Fortschritt der Menschheit zur Sprache kommen (siehe Genesis 4,20 bis 22). Der innere Sinn ist nuancenreich. Im »obed adamah« können wir auch den Bibelausleger erkennen, der ausschließlich die buchstäbliche Grundlage der heiligen Schrift bearbeitet und dem der Geisthauch des Wortes (Abel) als leeres Geschwätz erscheint, als das Gerede der Schwärmer. Solche Leute sind Grundlagenvereh196 Kain übt eine Arbeit aus, die nicht ihn frei macht, sondern versklavt. Je mehr der Mensch dem Irdischen dient, je mehr er sich von der Sorge um das Irdische beherrschen läßt, desto unfreier wird er, desto mehr wird er vom Irdischen beherrscht. Daher kann Jesus sagen: »Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde.« (Joh 8,34). S TREIFLICHTER 195 rer oder sogar Fundamentalisten. Sie erschlagen mit ihren Worten die Seele des Wortes (Abel). Daher sieht Swedenborg in Kain den bloßen Glauben, der sich von der geschwisterlichen Liebe verabschiedet hat (die Orthodoxie). Kain ist die sterile Glaubenswissenschaft, die nur noch die historischen Zusammenhänge beackert und die Seele des Wortes auf dem Feld ihrer theologischen Wissenschaft erwürgt. Aber auch Kain darf am Leben bleiben, und für Abel wird ein Ersatz (Set) gefunden, aus dem schließlich das lebendige Wort (Jesus Christus) hervorgehen wird. Während die Tätigkeit Abels in der Urgeschichte bisher keine Rolle spielte, hat die Tätigkeit Kains dort bereits eine Geschichte. Am Anfang des sogenannten zweiten Schöpfungsberichts heißt es: »und (noch) gab es keinen Menschen, um den Boden zu bebauen« (Gen 2,5). Die Bestimmung des Menschen besteht darin, dem Boden bzw. der Grundlage seines Daseins einen Dienst zu erweisen, nämlich den Dienst der Verbindung des äußeren Menschen mit dem inneren und innersten. Diesem Sinn seines Daseins darf der »adam« zunächst im Garten Eden nachkommen, das heißt im Wonneland seiner kindlichen Liebe zu seinem himmlischen Vater. Denn weiter heißt es: »Und Jahwe Elohim nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, um ihn zu bebauen und ihn zu behüten.« (Gen 2,15). Doch der Mensch konnte sich in diesem Zustand der vollkommenen Geborgenheit in Jahwe Elohim (in der göttlichen Liebe und Weisheit) nicht halten, deswegen muss er seinen Auftrag nun jenseits von Eden verwirklichen (im sog. Diesseits). »Und Jahwe Elohim ließ ihn aus dem Garten Eden gehen, um die Scholle zu beackern, von der er genommen war.« (Gen 3,23). Kain ist dieser Ackermann jenseits von Eden, der den Staub kultivieren und dem Höchsten von daher etwas darbringen will. Zu Genesis 4,3: »Und es geschah am Ende der Tage (miqqez jamim)«, so habe ich den Grundtext in Übereinstimmung mit der neukirchlichen Tradition übersetzt. Nicht unbeabsichtigt weckt diese Verdeutschung die Vorstellung einer Endzeit, »es geschah in der Endzeit (am Ende der Tage)«. Die hebräische Wendung 196 T HOMAS NOACK »miqqez jamim« wird von Swedenborg jedoch ganz wörtlich mit »a fine dierum« übersetzt. Die möglichst wörtliche deutsche Übersetzung lautet »vom Ende von Tagen«. Diese für unsere Ohren etwas fremde Formulierung meint einfach nur »nach dem Verlauf einer geraumen Zeit«197. Auch nach Swedenborg meint die hebräische Wendung »ein Fortschreiten in der Zeit« (»progressus temporis«, HG 347). Swedenborg enthüllt hier also nicht den inneren Sinn, sondern beschreibt einfach nur den natürlichen Wortsinn. Solche Beobachtungen machen wir bei der aufmerksamen Lektüre der »himmlischen Geheimnisse« oft. Der Enthüller des inneren Sinnes ist oft nur ein guter Kenner der hebräischen Sprache. Das Wesen Kains braucht eine gewisse Zeit, um sich auch nach außen hin so darstellen zu können, wie es innerlich beschaffen ist. Zeiten bezeichnen Zustände, die durchlebt werden müssen, um das Wesen vollständig zu verwirklichen oder um alles, was nur potentiell ist endlich aktuell in Erscheinung treten zu lassen. Die Endzeit ist so gesehen die Zeit der Vollendung, das heißt der vollendeten Darstellung des verborgenen Wesens auf der Ebene der äußeren Handlungen. Die Endzeit ist die Zeit der Apokalypsis bzw. der Enthüllung (des bis dato verborgenen Wesens). Den Gedanken eines »Fortschreitens in der Zeit«, das zur sukzessiven Enthüllung des bösartigen Antriebs führt, äußert Swedenborg auch im eschatologischen Kapitel der »Wahren Christlichen Religion«: »Es hat auf der Erde mehrere Kirchen gegeben, und sie alle sind im Verlauf der Zeit (successu temporis) zu ihrem Ende gelangt (consummatae sunt).« (WCR 753). So braucht es also eine gewisse Zeit bis das bloße Fürwahrhalten oder die religiöse Rechthaberei ihr wahres Gesicht vor aller Welt enthüllt. Der Buchstabenglaube oder der Fundamentalismus ist der Vater des Fanatismus und der Glaubenskriege. Gleiches gilt für die säkula- 197 Nach Delitzsch meint die hebräische Wendung »nach Verlauf geraumer Zeit« (Seite 163). Nach Gesenius bedeutet »miqqez« »m. folg. Zeitbestimmung: n. Verlauf von« (719). Der Plural »jamim« kann auch »einige Zeit« bedeuten (Gesenius 294). S TREIFLICHTER 197 ren Verwandten, die Ideologien. Sie würgen skrupellos die zarte Stimme des Gewissens im Dienste der hemmungslosen Selbstverwirklichung ihrer eigenen Interessen ab. Früchte stehen in der Bildersprache der heiligen Schrift für die Hervorbringungen oder Produkte des menschlichen Geistes. Früchte stehen für seine Werke. Psalm 1 ist die Seligpreisung des Mannes, dessen Freude die Tora (Weisung) Jahwes ist. Dieser Mann »ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen (Einflüsse aus der Gnadenquelle des göttlichen Lichtes), der seine Frucht bringt (seine Werke hervorbringt) zu seiner Zeit (in den dafür vorgesehenen Zuständen seines äußeren Lebens)« (Ps 1,3). Nach Jesus zeigt sich im (äußeren) Wirken das (innere) Wesen: »So bringt jeder gute Baum gute Früchte, der faule Baum aber bringt schlechte Früchte … Darum sollt ihr sie an ihren Früchten erkennen.« (Mt 7,17.20). Die Verbindung von »Frucht« und »Boden« in Genesis 4,3 lenkt unsere Betrachtungen auf die Tatsache, dass Werke immer nur auf der Grundlage von Bedingungen, Umständen und Situationen verwirklicht werden können. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Werken und empirischen Gegebenheiten. Im Falle Kains wird das irdische Geschäft von der Hochmacht des Geistes allerdings nicht durchdrungen, denn Kain stellt die Eigenmächtigkeit des Menschen dar. Die Früchte seines Bodens sind ausschließlich Produkte seiner eigenen Klugheit, leblose Konstrukte, leeres Stroh. Nach Swedenborg sind es »Werke des Glaubens ohne Liebe« (HG 348). Solche Werke heißen zwar auch Früchte, im Gegensatz zu den Früchten von oben fehlt ihnen aber der Saft aus der Wärme und dem Licht der Sonne.198 Daher schrieb Swedenborg: »Früchte des Glaubens ist (eigentlich) eine leere und sinnlose Redensart.« (KD 49). Zwar ist mit Abel die Bedeutung von Hauch und Nichtigkeit verbunden, doch im Grunde sind die »Werke des Glaubens ohne Liebe« null und nich- 198 Manfred Lurker sieht in der Frucht eine Verbindung von innen (Sonne) und außen (Erde): »Als Symbiose aus Erdtiefe und Lichthöhe ist die Frucht das Produkt irdischen Gedeihens und sichtbares Zeichen göttlichen Segens.« (Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, 1990, Seite 130). 198 T HOMAS NOACK tig. Swedenborg übersetzt »minchah« hier in Genesis 4,3 mit »munus« (»Gabe«, siehe Swedenborgs Übersetzung zwischen HG 323 und 324).199 Oft übersetzt er das hebräische Wort aber auch nicht, so dass wir im lateinischen Text entweder »mincha« oder »minchah« finden.200 Einen Grund für diese uneinheitliche Praxis konnte ich nicht entdecken. »Mincha« bedeutet nach Swedenborg »Gabe« (»munus«, HG 4262), gemeint ist die vegetabilische Opfergabe, das Speiseopfer. Daher findet der Leser der deutschen Übersetzung der »himmlischen Geheimnisse« hinter »mincha« manchmal in Klammern »Speisopfer«201. Die Opfergabe (»munus«) ist ein Bestandteil der Kultfeier (»cultus«). Daher bezeichnet sie Pars pro toto den Kult oder das Gottesverhältnis Kains (HG 349). Auch diese Deutung Swedenborgs ist keine Enthüllung des inneren Sinnes, sondern einfach nur ein Schluss vom Teil auf das Ganze. Die Erzählung von Kain und Abel und ihren Opfergaben spielt in der Zeit der Ältesten Kirche. Doch von dieser Kirche sagt Swedenborg: Sie »wusste nichts von Opfern (de sacrificiis)« (HG 2180).202 Dieser Widerspruch lässt sich meines Erachtens wie folgt auflösen. Die Erzählung vom Brudermord aus der Zeit der Ältesten Kirche ist mit Vorstellungen gestaltet, die aus einer spä199 »Munus« als Übersetzung für »minchah« konnte ich auch in HG 3079 (für Jesaja 66,20), HG 9293 (für Maleachi 3,3.4), HG 2906 (für Maleachi 3,4) und in HG 9293 (für Psalm 72,10) entdecken. 200 Siehe »mincha« in HG 440, 1462, 2177, 2276, 2280, 2342, 2588, 3654, 3881, 4262, 5620, 7356, 7602, 7978, 8159, 8540, 9207, 9295, 9298, 9475, 9993, 9995, 10079, 10137, 10140, 10176, 10177, 10206, 10248, 10262, 10300, 10603. Siehe »minchah« in HG 4581, 5144, 6280, 6377, 7356, 7602, 7906, 7978, 8159, 9475, 9992, 10129. 201 Siehe HG 2276, 3654, 7356, 7602, 9207, 9295, 9298, 9475, 10176, 10177, 10206 (Himmlische Geheimnisse, orthographisch und typographisch revidierter Nachdruck der Basler Ausgabe von 1867-69, Zürich 2000). 202 »Die Alten (antiqui) vor Eber wussten nichts von Opfern (de sacrificiis)« (HG 10042). Nach HG 349 wurden im Judentum (Ecclesia Judaica) »Opfer (sacrificia) aller Art« »Gaben (munera)« genannt. Demnach wäre »Gabe« der Oberbegriff, jedes Opfer wäre als Gabe zu verstehen. S TREIFLICHTER 199 teren Zeit stammen. Zu Genesis 4,4: Abel brachte »von den Erstgeburten203 seiner Herde« dar. Manfred Lurker weist auf die weite Verbreitung des Erstlingsopfers hin: »Der Brauch eines Primitialopfers ist von vielen Naturvölkern her bekannt. Jägerstämme opfern das erste erlegte Wild oder einen Teil von ihm zu Beginn der Jagdsaison … In Ägypten wurde die erste, vom König selbst geschnittene Ähre dem Fruchtbarkeitsgott Min geweiht … Die vorislamischen Araber haben während des Frühlingsfestes Erstlinge der Herden geopfert. Das griechische aparchae (Erstling, Erstlingsopfer) läßt erkennen, dass auch im ägäischen Raum der Brauch bekannt war, durch die Darbringung eines Teiles das Ganze zu weihen. Der Philosoph Aristoteles vertrat in seiner ›Nikomachischen Ethik‹ die Auffassung, dass das Primitialopfer die älteste Form des Opfers überhaupt sei.«204 Von Swedenborg erfahren wir: »Nach den Ordnungen der alten Kirche sollten die Erstgeborenen Gott geheiligt werden.« (HG 8080). Heute glauben viele Menschen an die glückbringende Eigenschaft des Geldes. Daher nimmt der archaische Glaube an die Besonderheit des Erstgeborenen eine dieser Vorstellungswelt entsprechende Gestalt an. Das Symbol dieses Kultes ist der Bankier Dagobert Duck, der seinen sagenhaften Reichtum auf seinen ersten selbstverdienten Taler gründet und ihm magische Kräfte zuspricht (das Motiv des Glückstalers). Im Glauben der alten Kirche stellte die Erstgeburt den Herrn und die Mächte seiner unmittelbaren Umgebung dar (HG 352). Indem Abel die Erstgeburten seines Reichtums dem Herrn darbringt, weiht er das Ganze dem Herrn, denn das Erste ist der Inbegriff des Ganzen. Abel gehört als Ganzer dem Herrn, weil er seine Habe im Prinzip (= in Gestalt des Ersten) dem Herrn übergeben hat. So wird Abel zur ersten Vorbildung Christi, der sich als Gan203 Es besteht ein Zusammenhang zwischen »erstgeboren« und »segnen«. »Be- kor« (Konsonantenfolge »bkr«) bedeutet »erstgeboren«, »berak« hingegen (Konsonantenfolge »brk«) bedeutet »segnen«. Beide Worte werden im Hebräischen aus denselben Konsonanten gebildet. 204 Manfred Lurker, Wörterbuch der biblischen Bilder und Symbole, 1990, Seite 97f. 200 T HOMAS NOACK zer der Urmacht seines Vaters darbrachte, indem er seinen menschlichen Eigenwillen ganz und gar Gott übergab. So wurde Christus »der Erstgeborene von den Toten« (Offb 1,5), wobei die Toten diejenigen sind, die im Machtbereich des Eigenwillens gefangen und erstarrt sind. Kain ist zwar der Erstgeborene von Adam und Eva (HG 338) und auch derjenige, der zuerst seine Gabe darbringt, aber Abel ist der Darbringer des Erstgeborenen. Daher entbrennt ein Rangstreit, denn beide sind irgendwie Erste. Swedenborg sah darin die Rivalität von Glaube (Dogmatik) und Liebe (Ethik) in der Kirche: »Der Glaube … ist zwar das Erste der Zeit nach, die Liebe aber … ist es dem Endzweck nach. Sie ist also das Vorzüglichere und damit in Wirklichkeit das Erste und Erstgeborene. Was nur zeitlich vorhergeht, ist bloß dem Schein nach das Erste, nicht aber in Wirklichkeit.« (WCR 336). Ebenso ist die irdische Geburt zwar zeitlich die erste, aber die zweite Geburt oder die Wiedergeburt ist in Wahrheit die erste, denn sie ist die beabsichtigte. Ebenso war das Volk Israel zwar zeitlich das erste Volk Gottes, aber zugleich war es eine Vorbildung des neuen Gottesvolkes, das sich um den Messias sammelte. Die Blüte ist das Erste im zeitlichen Entwicklungsgang, aber die Frucht ist das Ziel und somit das Erste in der Absicht. Die Blüte sollte anerkennen, dass sie um der Frucht willen da ist, wenn sie das nicht tut, dann wird die schöne Blüte zum Brudermörder. »Von den Erstgeburten seiner Herde« brachte Abel »die fetten Stücke« dar. Unser Blick wird vom Allgemeinen (die Erstgeburten) auf das Besondere (die fetten Stücke der Erstgeburten) gelenkt. Diesen Sinn scheint hier die hebräische Kopula »we« zu haben, die wir deswegen mit »und zwar« übersetzt haben.205 Eine Auswirkung auf die Übersetzung hat auch die eigentümliche Punktation (= Vokalisation) von »cheleb« (»Fett«) im masoretischen Text. Sie setzt »cheleb« in den Plural. Daher »stritt bereits der Talmud darüber, ob es sich um Fettstücke … oder um fette 205 Wir folgen damit Franz Delitzsch, der hier ein »we« »der erklärenden An- knüpfung des Besonderen an das Allgemeine« sieht (Seite 163). S TREIFLICHTER 201 Tiere … handelte.« (Seebass 151). Swedenborg übersieht den Plural oder trennt sich bewusst von den Punktatoren und interpretiert die Konsonantenfolge »chlb« als Singular, so dass wir bei ihm lesen: »et de pinguedine eorum« (= und vom Fett der Erstgeborenen). Wir halten den Plural jedoch für die bessere Lesart, zugleich aber folgen wir Swedenborg darin, dass hier das fettreiche Gewebe gemeint ist, nicht die fetten Tiere. Diese Vorüberlegungen führen dann zu der folgenden Übersetzung: »Auch Abel, (ja) auch er, brachte (Jahwe eine Gabe) dar, (eine Gabe) von den Erstgeburten seiner Herde und zwar von ihrem Fett.« Um den Plural von »cheleb« in der deutschen Übersetzung auftauchen zu lassen, könnte man statt »von ihrem Fett« »von ihren fetten Stücken« wählen. Soweit zur Übersetzung. Sie ist wichtig, aber nur ein erster Schritt. Das Ziel sind die Gipfelerlebnisse der Innensinnerfassung. Sie werden dem, der geduldig das Gebirge der göttlichen Wortoffenbarung besteigt, am Ende gegeben. Die große Synthese des geistigen Verständnisses läßt sich mit Worten der äußeren Sprache nicht mehr mitteilen. So können die Eingeweihten die »Arcana Caelestia« nicht verraten. Aber bis zu einem gewissen Grade können wir uns verbal austauschen und gegenseitig ein Stück weit mitnehmen. In diesem Sinne weise ich darauf hin, dass uns nicht selten bereits ein Blick in ein umfangreicheres hebräisches Lexikon wichtige Winke gibt, die wir dankbar aufgreifen können. Vom Hebraisten Wilhelm Gesenius (1786 1842) erfahren wir in seinem Wörterbuch das Folgende: »Cheleb« bedeutet »eigentlich das fettreiche, die Eingeweide bedeckende Netz«, dann »Fett« und schließlich »bildlich das Beste, Vorzüglichste«206. Insbesondere die in »cheleb« enthaltene Bedeutung »das Beste« lässt uns aufhorchen. Demnach gibt Abel das Beste von den Erstgeburten seiner Herde. Wenn wir bedenken, dass 206 Wilhelm Gesenius' hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearbeitet von Frants Buhl, unveränderter Neudruck der 1915 erschienenen 17. Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1962, Seite 231. Die Abkürzungen wurden im Interesse der leichteren Lesbarkeit durch die Vollform ersetzt. 202 T HOMAS NOACK schon die Erstgeburten etwas Besonderes sind, dann sehen wir auch, dass Abel das Beste vom Besten gibt, gewissermaßen »die Creme de la Creme«. Doch damit sind die Zugänge zu einem tieferen Verständnis, die uns allein schon ein gutes Wörterbuch eröffnet, noch nicht erschöpft. Mit Gesenius kommen wir zumindest im vorliegenden Fall fast so weit wie mit Swedenborg. Denn wir erfahren, dass »nach den Arabern«207 »cheleb« der »Sitz der Gefühle« ist. Deshalb heißt es in Psalm 17,10: »Sie verschließen ihr cheleb«, das heißt sie »sind fühllos« (siehe Gesenius 231). Hier hat »cheleb« beinahe die Bedeutung von Herz (das Herz als »Sitz der Gefühle«), und dementsprechend finden wir in der Zürcher Bibel die Übersetzung: »Ihr Herz haben sie verschlossen«. Einmal auf diese Fährte gebracht, entdecken wir dann auch, dass »ch-lb« die Konsonanten des hebräischen Wortes für »Herz« enthält, nämlich »lb«.208 Diese Gedanken bringen uns ganz in die Nähe von Swedenborg, denn nach ihm bezeichnet Fett »das Himmlische«, wobei »das Himmlische« in seiner Terminologie alles bezeichnet, »was zur Liebe gehört« (»caeleste est omne quod est amoris«, HG 353). Abel ist also derjenige, der das darbringt, was im Menschen dem Herrn gehört (das sind die Erstgeburten), nämlich die Kraft des Herzens oder die Macht der Liebe (das ist das Fettreiche). Abel ist sonach derjenige, der sich mit ganzer Liebe dem Herrn hingibt. Daher wundern wir uns nun nicht mehr, wenn es im Folgenden 207 Arabisch ist ebenso wie Hebräisch eine semitische Sprache. 208 Vgl. die Ausführungen von M. Kahir zum Wortstamm »Keleb«: »Nimmt man … K als Vorsatzlaut und leb als Wurzel, ergibt sich die Bedeutung: k = die Kraft, leb = des Herzens, der Liebe! Und das ist wieder das göttliche Schöpfungswort, dem alles Geschaffene das Leben verdankt. Findet sich auch diese Lautverbindung im Hebräischen vor? Ja, und zwar als das aspiriert gesprochene ›cheleb‹ = das Beste, Vorzüglichste! Wir sehen damit, daß die alten Wortbildner chaleb, die Kraft der Liebe, wirklich als das Beste und den höchsten Aspekt der Gottheit auffaßten. Wie jedes ursprünglich geistige Wort erhielt auch cheleb später von den ›Kindern der Fleischtöpfe Ägyptens‹ einen rein materiellen Sinn unterlegt. Das Wort nahm die Bedeutung ›das Fetteste, das Beste vom Eingeweidefett‹ an und der einstige Sinn verlor sich gänzlich.« (Das verlorene Wort, 1960, Seite 277). S TREIFLICHTER 203 heißt: »Und Jahwe schaute auf Abel und auf seine Gabe hin. Aber auf Kain und seine Gabe schaute er nicht hin.« (Gen 4,4.5). Den Exegeten des äußeren oder historischen Sinnes muss die Annahme des einen und die Ablehnung des anderen Opfers als reine Willkür Jahwes erscheinen. Denn ein Grund ist auf der Ebene des Buchstabens nicht erkennbar. Horst Seebass schreibt: »Wenn man bedenkt, dass noch keine Opferanordnung ergangen war, kann man zwar Unterschiede zwischen den Opfern Kains und Hebels, aber keine hinreichende Begründung für die Ablehnung des Opfers finden« (151). Der Buchstabe ist der Schatten des Wortes, und als solcher zeigt er uns die Wahrheit nur in einem dunklen, allgemeinen Umriss. »Der innere Sinn« hingegen ist »das Licht des Himmels« (HG 3438, 4783), und als solcher führt eben nur er uns in die geistige Organik des Wortes ein und lässt uns Zusammenhänge erkennen, die bei der ausschließlich buchstäblichen Untersuchung des Wortes im Dunkeln bleiben. Der Erforscher der geistigen Organik des Wortes kann sich die Annahme der einen und die Ablehnung der anderen Gabe aus vielen Hinweisen, die wir besprochen haben, verständlich machen. Dazu gehören die Bedeutungen der Namen »Kain« und »Abel«, der Akkusativ Jahwe (Gen 4,1), die Tätigkeiten Abels als »Hirt der Herde« und Kains als »Knecht des Bodens« (Gen 4,2) und die »Erstgeburten« oder genauer ihr »Fett« (Gen 4,4). Zu Genesis 4,5: »Und es entbrannte dem Kain (der Zorn) sehr«. Swedenborgs lateinische Übersetzung der Genesis ist eine sehr wörtliche. Er übersetzt jedes hebräische Wort eins zu eins, das heißt für ein hebräisches Wort steht in der lateinischen Übersetzung auch nur ein lateinisches Wort. Das jedenfalls ist die Regel oder die allgemeine Tendenz. Hier aber übersetzt Swedenborg die Verbform »wajjichar« mit »et accensa est ira« (und der Zorn ist entzündet worden), das heißt mit einer Verbform und zusätzlich einem Nomen. Diese Ausnahme von der Regel ist gut begründet, denn das hebräische Verb »charah«, das ursprünglich wohl »brennen« bedeutete, wird im Alten Testament nur vom Zorn ausgesagt (siehe Gesenius 258). Der Zusatz »ira« (Zorn) hebt also nur das hervor, was im Verb schon enthalten ist. Die auf diese 204 T HOMAS NOACK Übersetzung folgende Auslegung des inneren Sinnes ist vor diesem Hintergrund nur eine Ausschöpfung des den Worten bereits innewohnenden Sinnes. Wo der Zorn entbrennt, da weicht die Liebe zurück (siehe HG 357). Dass die Lieblosigkeit das Regiment übernimmt, wird auch der Fortgang der Erzählung zeigen, nämlich der Brudermord (siehe HG 357). Die Auslegung des inneren Sinnes ergibt sich wieder einmal ganz zwanglos aus der genauen Erfassung des Textes. Infolge des Zornes senkte sich Kains Angesicht. Swedenborg sagt: »Das Angesicht bezeichnete bei den Alten das Innere, weil durch das Angesicht das Innere hervorleuchtet.« (HG 358). Das Hebräische belegt diese Interpretation. »Panim« ist das hebräische Wort für »Angesicht«. Nominale Weiterbildungen der Wurzel sind »penimah« mit der Bedeutung »inwendig« und »penimi« mit der Bedeutung »innerer«. Das Angesicht meint demnach »das Innere«, allerdings nur insoweit es sich äußert bzw. dem Äußeren zuwendet. Denn das Verb »panah« bedeutet »sich zuwenden«.209 Manche Sprachforscher leiten »panim« (Angesicht) überdies von »Peh«, das »Mund« bedeutet, her (THAT 2,436). Sollte diese (unsichere) Herleitung stimmen, dann würde sie ihrerseits zeigen, dass das Angesicht ein Ort der Äußerung des Inneren ist. Auf dem Angesicht kommt das Innere zum Vorschein, weswegen es schon den alten Weisen als »Spiegel der Seele« galt (vgl. Sirach 13,25). Kains Angesicht »fiel« oder »senkte sich«. Die Übersetzung von Seebass »und sein Angesicht verfiel« (143) wirkt wie eine Verlegenheitslösung. Einerseits soll der Sinn des hebräischen Verbs »napal« (fallen) möglichst direkt wiedergegeben werden, andererseits erfasst Seebass den Sinn offenbar nicht, sondern verschleiert ihn eher. Dabei ist die Aussage leicht nachvollziehbar. Denn der sich senkende Blick unterbricht die zwischenmenschliche Verbindung (den Blickkontakt). Wenn wir nun noch den Kontext bedenken, wonach vom fallenden Gesicht im Anschluss an den entbrennenden Zorn die Rede ist, dann sind wir bei Swedenborgs 209 Das deutsche Wort »Antlitz« bedeutet »das Entgegenblickende«. S TREIFLICHTER 205 Deutung. Der gesenkte Blick stellt die Lieblosigkeit oder die zwischenmenschliche Kälte sehr anschaulich dar. (HG 358). Wenn wir die Grundbedeutung von »napal«, nämlich »fallen«, noch offenkundiger in unsere Überlegungen einbeziehen wollen, dann können wir sagen: Kain wird gewissermaßen von der Schwerkraft seines eigenen Wesens angezogen. Er fällt in den Abgrund seiner unwiedergeborenen Natur. Er verfällt dem todbringenden Hass. Zu Genesis 4,6: Jahwes Sprechen bezieht Swedenborg auf »das Gewissen« (HG 359), das nach seinem Verständnis »eine innere Stimme« (dictamen internum, NJ 139) ist. Damit stimmt er mit der christlichen Tradition und Kant überein, die das Gewissen als Stimme Gottes im Menschen gedeutet haben. Swedenborg spricht hier im Zusammenhang der ältesten Kirche von »Gewissen«. Darin kann man eine sprachliche Inkonsequenz erblicken, denn andernorts sagt er, dass die älteste Kirche kein »Gewissen«, sondern ein »Innewerden« oder eine »innere Wahrnehmung« (perceptio) hatte (HG 597, 393). Doch abgesehen von dieser terminologischen Inkonsequenz steht fest, dass sich Jahwe in Kain noch immer bemerkbar machen kann, und zwar um eine »Selbstbesinnung über seinen Zustand«210 herbeizuführen. Das zweimalige »Warum« in Vers 6 greift das in Vers 5 geschilderte Geschehen auf. Kain wird damit die Möglichkeit gegeben, die Vorgänge, die sich in und an ihm ereignen, zu betrachten und zu bewerten. Kain steht in der Gefahr, von den in ihm wirkenden Affekten ergriffen und fortgerissen zu werden. Jahwes Einsprache eröffnet ihm demgegenüber die Chance, doch noch den Affekten zu entkommen, die ihn zu ihrem Spielball machen wollen. Jahwe als der Seiende will, dass auch Kain ein freies Subjekt wird. Zu Genesis 4,7: Diesem Vers geht der Ruf voraus, der dunkelste der Genesis zu sein (Seebass 152). Beschränken wir uns zunächst auf die erste Vershälfte. Ein Blick in einige deutsche Bibeln zeigt, dass unterschiedliche Übersetzungen möglich sind. 210 August Dillmann, Die Genesis, Leipzig 1886, Seite 93. 206 T HOMAS NOACK Die Elberfelder Bibel hat den folgenden Text: »Ist es nicht (so), wenn du recht tust, erhebt es sich? Wenn du aber nicht recht tust, lagert die Sünde vor der Tür.« Das Pronomen »es« steht für »Gesicht«. Aber erhebt sich das Gesicht Jahwes 211 oder Kains? Ganz anders versteht Hermann Menge den Urtext, denn in seiner Übersetzung lesen wir: »Wird nicht, wenn du recht handelst, dein Opfer angenommen? lagert (oder: lauert) nicht, wenn du böse handelst, die Sünde vor der Tür«. Von der Erhebung eines Gesichtes ist hier gar nicht die Rede. Stattdessen soll es um die Annahme des Opfers von Kain gehen. Wiederum eine ganz andere Variante fand Swedenborg in der lateinischen Bibel von Sebastian Schmidt. Dort las er: »Nonne si bene feceris (munus tuum pro peccato,) erit remissio : si vero non bene feceris, ad ostium peccatum est cubans quis?« Die deutsche Übersetzung dieser Lesart lautet: »Ist es nicht so, wenn du sie (= deine Gabe für die Sünde) gut darbringst, dann wird Vergebung erfolgen? Wenn du sie aber nicht gut darbringst, ist dann nicht die Sünde eine Lagernde vor der Tür?« Nach Schmidt geht es also um »Vergebung«. Der Grund für diese Vielfalt ist die Mehrdeutigkeit des hebräischen Wortes »se’et«, das Erhebung, Annahme oder Vergebung bedeuten kann. Eine weitere Schwierigkeit in der ersten Vershälfte besteht darin, dass das weibliche Substantiv »Sünde« mit dem männlichen Partizip »robez« (der Lagernde) verbunden ist. Daher kann man nicht übersetzen: »die Sünde lagert«. Zwei Hinweise können zur Lösung des Problems beitragen. Erstens ist im Akkadischen »rabisum« als Wort für einen Dämon belegt.212 Zweitens ist »nachasch«, die »Schlange« von Genesis 3, ein männliches Substantiv. Daher könnte Genesis 4,7 Genesis 3 aufnehmen, so dass sich die folgende Übersetzung ergäbe: »Wenn du aber nicht Gutes tust, dann ist die Sünde ein lauernder Schlangendämon vor der Tür.« 211 So zum Beispiel im aaronitischen Segen: »Jahwe erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden!« (Numeri 6,26). 212 Seebass zitiert Speiser mit den Worten: »… well known in Akkadian as rabi- sum, a term for ›demon‹. These beings were depicted both as benevolent, often lurking at the entrance of a Building to protect or threaten the occupants.« (Seebass 144). S TREIFLICHTER 207 Betrachten wir nun die zweite Vershälfte. Der hebräische Text ist zweideutig. Denn die männlichen Suffixe (= die Personalendungen) sind sowohl auf den Lagernden (»robez«) als auch auf Abel beziehbar. Daher ist im ersten Fall zu lesen: »… und nach dir (Kain) ist sein Verlangen (das Verlangen des lagernden Dämons), du (Kain) aber sollst ihn (den Dämon) beherrschen.« Im zweiten Fall hingegen ist zu lesen: »… und nach dir (Kain) ist sein (Abels) Verlangen, du (Kain) aber willst Herr über ihn (Abel) sein.« Ein so wenig eindeutiger Vers lenkt unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf die Entscheidungen, die Swedenborg als Übersetzer und Ausleger der Genesis getroffen hat. Swedenborg wurde bereits als Student in Uppsala in die hebräische Sprache eingeführt. Und bevor er »die himmlischen Geheimnisse« schrieb, nahm er das Studium dieser Sprache wieder auf und vertiefte seine Kenntnisse. Swedenborg besaß mehrere hebräische Bibeln und lateinische Übersetzungen derselben, außerdem hebräische Wörterbücher, wenigstens eine hebräische Grammatik und sonstige Literatur zum Alten Testament. Mit diesen Hilfsmitteln erarbeitete er sich, soweit es der Forschungsstand seiner Zeit erlaubte, eine klare Vorstellung vom Buchstabensinn, den wir heute den historischen Sinn nennen.213 Hinzu kommt bei jedem Übersetzer das Gespür für das Gemeinte. Dieses Gespür wird besonders dann entscheidend, wenn der Urtext mehrdeutig ist. Dieser hier nur angedeutete kenntnisreiche Hintergrund, über den Swedenborg verfügte, führte im vorliegenden Fall zu der folgenden Übersetzung: »Annon si benefacis, elevatio? et si non benefacis, ad januam peccatum cubans; et ad te desiderium ejus, et tu dominaris ei.« (Tafels Übersetzung dieser Übersetzung Swedenborgs: »Nicht wahr? wenn du Gutes thust, so ist Erhebung; und wenn du nicht Gutes thust, so liegt die Sünde vor der Thür, und zu dir ist sein Verlangen, und du herrschest über dasselbe.«214). Aus dieser Übersetzung und der Auslegung von Vers 213 Einzelheiten bei Alfred Acton, An Introduction to the Word Explained, 1927, Seite 124 - 125. 214 Diese Übersetzung ist dem ersten Band der Übersetzung der himmlischen 208 T HOMAS NOACK 7 in HG 361 bis 365 können wir nun Swedenborgs Verständnis des berüchtigten dunkelsten Verses der gesamten Genesis entnehmen. Demnach meint »se’et« hier »Erhebung« (elevatio). Swedenborg übernahm nicht die Übersetzung »Vergebung« (remissio), die er bei Sebastian Schmidt vorfand. Die »Erhebung« ist auf das Gesicht Kains zu beziehen. Das geht hinreichend deutlich aus HG 363 hervor. Der biblische Autor will dem Senken oder dem Fall des Gesichtes (= des Inneren) die Erhebung desselben gegenüberstellen. Bevor der Erzähler zum Brudermord kommt, schaltet er einen Augenblick der Besinnung ein. Dadurch nimmt er dem Geschehen das Unausweichliche. Kain war seiner Natur (= der Beschaffenheit seiner Geburt) nicht zwingend ausgeliefert. Er hatte noch immer das »liberum arbitrium«, das heißt die »freie Wahl« zwischen der Sünde vor seiner Tür und der Stimme Gottes. Obwohl sich sein Inneres schon bedrohlich gesenkt oder verfinstert hatte, stand ihm noch immer die Möglichkeit offen, sein Gesicht wieder zu erheben. Die Sünde ist nicht nur ein persönliches Fehlverhalten, das jederzeit korrigierbar ist, sondern eine überindividuelle Macht, die um so größer und unbeherrschbarer wird, je mehr wir ihr nachgeben. Wir sahen bereits: Die hier vorliegende hebräische Konstruktion soll uns wahrscheinlich die Sünde als einen Dämon oder als die Schlange von Genesis 3 ansichtig werden lassen. Ob auch Swedenborg diese Verständnismöglichkeit gesehen hat, ist aufgrund seiner Übersetzung nicht entscheidbar, weil das Lateinische das männliche und das weibliche Partizip nicht unterscheidet. Einen schwachen Hinweis darauf, dass Swedenborgs Feinsinn hier die Komponente »Dämon« wahrgenommen haben könnte, liefert uns seine Aussage in HG 364, dass »Sünde« in der Sprache der Bibel »für den Teufel« stehen kann. Bleibt noch die Frage, auf wen die Suffixe in der zweiten Vershälfte zu beziehen sind. Aus Swedenborgs Auslegung geht herGeheimnisse von Immanuel Tafel entnommen, die in Tübingen 1845 erschienen ist. S TREIFLICHTER 209 vor, dass er die zweite der oben genannten Lesarten für die richtige hielt (siehe HG 361, 370, 372). In der Tradition Swedenborgs müssen wir also unter Zuhilfenahme von verdeutlichenden Einschüben in Klammern übersetzen: »… und nach dir (Kain) ist sein (Abels) Verlangen, du (Kain) aber willst über ihn (Abel) herrschen.« Man muss »die himmlischen Geheimnisse« allerdings schon sehr genau lesen, um erkennen zu können, dass dies das Verständnis Swedenborgs vom Urtext war. Daher ist es verzeihlich, dass selbst der Übersetzer und der Revisor der Neukirchenbibel den Vers 7 gemessen an Swedenborgs Entscheidungen nicht vollkommen richtig ins Deutsche übertragen haben. Bei Leonhard Tafel lesen wir: »Wenn du aber nicht Gutes thust, lauert die Sünde vor der Thür und begehrt nach dir, aber du sollst darüber herrschen.« Und bei Ludwig H. Tafel lesen wir: »Wenn du aber nicht Gutes tust, lagert die Sünde vor der Tür, und verlanget nach dir aber du sollst darüber herrschen.« Beide Swedenborgianer geben also hier gegen Swedenborg der ersten Lesart den Vorzug. Der Vers 7 des 4. Kapitels der Genesis ist offenbar wirklich der dunkelste dieses Buches und als solcher voller Tücken. Doch was ist vermutlich gemeint? Ich kann nicht ausschließen, dass die Doppeldeutigkeit gewollt ist, aber im komplexen Gewirr der Bedeutungsfäden möchte ich an dieser Stelle das Verständnis Swedenborgs verdeutlichen. Nach ihm handelt die Erzählung von einem Herrschaftskonflikt. Wir sahen bereits, dass mit Abel als »Hirte« die Vorstellung von einem Herrscher verbunden ist. Doch Kain will sich von Abel nicht beherrschen lassen. Deswegen wird ihm entgegen gehalten: »Nach dir (Kain) ist sein (nämlich Abels) Verlangen, du aber willst Herr über ihn sein.« Und deswegen wird Kain nach dem Mord unwillig ausrufen. Ich paraphrasiere: »Bin ich etwa der Hüter meines Bruders? Der erhebt doch selbst den Anspruch ein Herrscher zu sein! Warum also sollte ausgerechnet ich den behüten, der selbst das wachsame Auge des Herrschers (= der Hirt) sein will?« Wer ist in Wahrheit in der Kirche zum Herrscher berufen? Die Dogmatik (= der Glaube) oder die Ethik (= die geschwisterliche Liebe)? Das Gerangel um die Vorherrschaft ist in der Kirchen- 210 T HOMAS NOACK und Theologiegeschichte allenthalben zu beobachten. Auch in den Körperschaften der Neuen Kirche, die sich im Anschluss an Swedenborg gebildet haben, ist die Orthodoxie (= die rechte swedenborgsche Lehre) zum dominierenden Prinzip geworden. Und dementsprechend ist auch in der Neuen Kirche der Stein der eigenen Wahrheit rechthaberisch erhoben worden. Auf der Strecke ist Abel geblieben, blutüberströmt, erschlagen mit tausend Worten. Wie sähe eine Kirche aus, in der Abel der gute Hirte sein kann, in der er das Hirtenamt ausüben kann? Kains Mund bringt Einwände über Einwände gegen die Gemeinde der geschwisterlichen Liebe hervor: In einer Kirche muss doch Ordnung herrschen! Wo soll das hinführen, wenn jedes Schaf seine eigene Glaubenswahrheit suchen und womöglich auch noch finden darf? Doch Abels Kirche würde die Vielfalt der Glaubensmeinungen nicht als ein Zeichen des Zerfalls der Einheit fürchten, sondern sich an dieser bunten Blumenwiese erfreuen, denn sie zeigt den Frühling des geistigen Lebens an. Aber Abel wird von Kain mundtot gemacht, sein Blut versickert noch immer im Boden und schreit zu Gott. Zu Genesis 4,8: »Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel: ›…‹«. Was Kain zu Abel sagte, ist im masoretischen Text (dem sogenannten »Urtext«) nicht überliefert. Eine Reihe alter Textüberlieferungen – nämlich der samaritanische Pentateuch, die Septuaginta, die Peschitta und die Vulgata – haben jedoch: »Lass uns auf das Feld gehen!« Swedenborg hält sich an den masoretischen Text. Die Formel »A sagte zu B«, die eigentlich eine direkte Rede erwarten lässt, meint nach ihm hier »den Zug der Zeit« (tractus temporis, HG 366). Swedenborg führt diesen Gedanken nicht weiter aus, aber vermutlich meint er: Kain, der ja die sich verselbständigende Glaubenslehre (Dogmatik) verkörpert, verwickelt Abel mit der Zeit immer mehr in das theologische Streitgespräch. Kain zieht Abel also gewissermaßen auf sein »Feld«, das heißt auf das Feld der dogmatischen Auseinandersetzungen. Die Folge ist der Brudermord. Denn Abel oder das Tatchristentum ist, indem es sich »im Verlauf der Zeit« ganz und gar auf das Feld Kains ziehen lässt, schon verloren, weil es durch die Totalisie- S TREIFLICHTER 211 rung des Diskutierens nicht mehr zu sich selbst kommen kann. Deswegen heißt es weiter: »Es geschah bei ihrem Sein auf dem Feld«. Wo sonst kann der Brudermord geschehen? Abel kann nur auf dem Feld Kains, in der Domäne des »obed adamah« erschlagen werden, und zwar mit harten Fakten und spitzen Argumenten. Das Feld bezeichnet »die Lehre« und somit auch die Diskussionen auf dem Feld von Forschung und Lehre (HG 368). »Adam« (Mensch) und »adamah« (Erdreich) hängen in der Bildersprache der Bibel eng zusammen. Auch im Lateinischen finden wir diesen Zusammenhang von »Homo« (Mensch) und »Humus« (Erdreich). Die Aufgabe des »Erdlings« (= des Menschen) ist die Kultivierung der Erde, ihre Vergeistigung. Der Mensch ist das Nadelöhr, durch das alles aus dem Erdreich hindurch muss, um in das Himmelreich zu kommen. Der Begriff »Feld« ist im Zusammenhang dieser Kulturtätigkeit des geistbegabten Erdlings zu sehen. In der Bibel begegnen uns die Begriffe »Erde« (»arez«), »Erdreich« (»adamah«) und »Feld« (»sadeh«). Swedenborg gibt einige Hinweise zum tieferen Verständnis dieses Trios. Er schreibt: »Die Erde ist die Grundlage (wörtlich: das Enthaltende) des Erdreichs, und das Erdreich ist die Grundlage des Feldes (oder des Ackers)« (»terra est continens humi, et humus est continens agri«, HG 620, vgl. auch HG 377). Die drei Begriffe bauen also im Sinne der erwähnten Kulturtätigkeit aufeinander auf: Ohne die Erde kein Erdreich, und ohne das Erdreich kein Feld (= kein kultiviertes Erdreich). Im geistigen Verständnis ist »das Erdreich« ein Bild für die Empirie, das heißt für die Erfahrung des Irdischen durch die fünf Sinne. Die Empirie oder das Bild der Erde im Bewusstsein des äußeren Menschen ist die Grundlage für die Tätigkeit des Geistes. Der kann nämlich die Empirie mit der Saat seiner Gedanken befruchten; und wenn das geschieht, dann wird aus dem Erdreich ein Acker, auf dem die Früchte von Himmel und Erde heranreifen können. Im Trio »Erde«, »Erdreich« und »Feld« sind »Feld« bzw. »Acker« am engsten mit dem Samen oder der Saat verbunden.215 215 Einige Stellen zur Verbindung von Acker und Saat bei Swedenborg: »Die 212 T HOMAS NOACK Diese gedankliche Verknüpfung dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wenn wir das Folgende verstehen wollen: »Da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn.« Abel wird ausgerechnet dort erschlagen, wo die Erde zum Leben erweckt werden soll, auf dem Acker, der nun jedoch nicht die Samenkörner Kains, sondern die Blutstropfen Abels aufnehmen wird. Achten wir auf die Feinheiten der Sprache! »Kain erhob sich«. So wird der Aufstand Kains, seine Überheblichkeit dargestellt, als ein Akt des sich Erhebens. Zugleich bedeutet das Verb »qum« aber auch »zustande kommen«, »Bestand haben« und »gelten«. Die Seele der Glaubenswissenschaft (Kain) ist die Glaubenspraxis (Abel). Theologie ist Denken aus Glauben, das heißt sie muss das Glaubensleben (Abel) voraussetzen. Sie kann den Glauben, insofern er eine innere Festigkeit, ein Gegründetsein in der Erfahrung des lebendigen Gottes ist, nicht erzeugen. Sie kann nur über die vorgegebene Wirklichkeit des Glaubens nachdenken. Den Brudermord kann man als die Befreiung der Glaubenswissenschaft (Kain) aus der Abhängigkeit vom Glaubensleben der Kirche (Abel) interpretieren. Durch diesen Akt der Erhebung mag sich die Theologie als etwas Selbständiges geltend machen, aber welchen Preis muss sie dafür bezahlen? Ich will denselben Gedanken noch einmal etwas handgreiflicher formulieren. Die Glaubenswissenschaft kann natürlich im Interesse ihrer Wissenschaftlichkeit die Auferstehung Jesu in Frage stellen oder auch leugnen. Denn die wissenschaftlich saubere Exegese des Neuen Testaments liefert keinen wirklich hieb- und stichfesten Beweis für diesen unerhörten Vorgang, der das Fundament der Kirche und das Wesentliche des Glaubens ist. Aber wenn die Theologie der Kirche auf diese Weise wissenschaftlich korrekt Lehre heißt Acker, weil er (wie die Lehre) den Samen aufnimmt« (»doctrina vocatur ›ager‹ ex semine«, HG 368). »›Acker‹ bedeutet Kirche, weil sie wie ein Acker die Samen des Guten und Wahren aufnimmt« (HG 3766). »›Erdreich‹ (humus) bezeichnet die Kirche aus einem ähnlichen Grund wie ›Acker‹ (ager), nämlich wegen der Aufnahme verschiedener Samen, ihrem Wachstum und Ertrag« (HG 10570). Wegen der Empfänglichkeit für die Aussaat ist »Acker« gleichbedeutend mit »gutes Erdreich« (HG 3577). S TREIFLICHTER 213 ins Gesicht schlägt, dann schwächt das zwar das Glaubensleben, vielleicht stirbt es sogar, zugleich aber wird dadurch auch die theologische Arbeit unfruchtbar. Der Boden, der das Blut Abels verschluckt, wird am Ende auch den Brudermörder entkräftet zurücklassen, weil er (= der Boden des Wortes) ihm (= dem Exegeten) seine Kraft nicht mehr geben wird. Die wissenschaftliche Exegese wird unfruchtbar, wenn sie sich nicht in den Dienst der Kirche stellt, wenn sie sich nicht dem guten Hirten unterordnet. Eine Theologie, die irgendwo jenseits des Glaubens Bestand haben will, wird am Ende nur eins sein: »unstet und flüchtig«. Zweimal werden wir in Vers 8 daran erinnert, dass Abel der Bruder Kains ist. Dadurch kommt die Ungeheuerlichkeit um so krasser zu Vorschein, dass sich die Glaubenswissenschaft gegen das Glaubensleben erhebt. Beide Glaubensgestalten sind doch Brüder! Das Wesen des Brudermords haben wir uns ein wenig verdeutlicht. Unklar bleibt allerdings das Wie. Das hebräische Verb »harag« bedeutet anscheinend nur höchst allgemein »töten« (Gesenius 187), so dass die Phantasie des Bibelinterpreten die Einzelheiten ergänzen kann und sogar muss, wenn das Bild anschaulich werden soll. Die deutschen Bibelübersetzungen bevorzugen »schlagen«, entweder in Form von »totschlagen« oder »erschlagen«.216 Auch der Swedenborgianer Leonhard Tafel wählte »erschlagen«, während sich der Revisor seiner Neukirchenbibel Ludwig H. Tafel für »erwürgen« entschied und damit aus der Reihe fällt. Swedenborg hat »occidere«. Das kann »totschlagen« bedeuten, wird aber von ihm wohl einfach nur im Sinne von »töten« verwendet, denn das 5. Gebot (»Du sollst nicht töten«) übersetzt er mit »Non occides« (WCR 309). Eine Besonderheit beobachten wir beim Verfasser des 1. Johannesbriefes, nach dem Kain seinen 216 »Totschlagen« finden wir in der Zürcher Bibel (1931), in der Lutherbibel (1984), in der »Gute(n) Nachricht Bibel« (1997), in der »Hoffnung für alle« (2002) und in der Bibelübersetzung von Hermann Menge. »Erschlagen« finden wir in der Elberfelder Bibel (1991) und in der katholischen Einheitsübersetzung. T HOMAS NOACK 214 Bruder »schlachtete« (1 Joh 3,12). Dieses Wort finden wir in der Johannesoffenbarung in Verbindung mit »Lamm« (5,6.12; 13,8). Sieht der Verfasser dieses neutestamentlichen Briefes also in Abel bereits eine Präfiguration Christi, des Lammes Gottes? Wir haben uns für »erschlagen« entschieden, weil wir in der Tradition Swedenborgs in Kain eine Personifikation des rechten Glaubens der Orthodoxie sehen, wo man sich mit Worten zu erschlagen pflegt. Schließlich noch ein Blick auf die Ikonographie. Anna Ulrich weist auf »die Vielfalt der Werkzeuge« hin: »Betrachtet man die Darstellungen der Tötung Abels, so fällt die Vielfalt der Werkzeuge auf, die Kain benutzt: vom Stein über die Keule bis zu Ackergeräten; vom Messer bis zum Eselskinnbacken. Es gibt Darstellungen, auf denen Kain mit Abel ringt, ihn erwürgt oder durch einen Biß tötet.«217 Zu Genesis 4,9: »Wo ist dein Bruder Abel?« Eine harmlose Frage. Jahwe erkundigt sich einfach nur nach dem Aufenthaltsort des Bruders von Kain. Auch nach dem Sündenfall stellte Jahwe eine solche Frage, damals an Adam: »Wo bist du?« (Gen 3,9). Doch die harmlose Wo-Frage hat es in sich. Sie deckt nämlich den Zustand desjenigen auf, der nun eine Antwort geben muss. Gerhard von Rad (1901 - 1971) weist auf einen Unterschied dieser beiden Wo-Fragen hin: »… die Frage Gottes an den Menschen lautet jetzt nicht ›Wo bist du?‹, sondern ›Wo ist dein Bruder?‹. Die Verantwortung vor Gott ist die Verantwortung für den Bruder; ›die Gottesfrage stellt sich jetzt als soziale Frage‹.«218 In Genesis 3 kam es zum Bruch im Verhältnis des Menschen zu Gott (= im vertikalen Verhältnis), in Genesis 4 ist es nun zum Bruch im zwischenmenschlichen Verhältnis (= im horizontalen Verhältnis) gekommen. Kain muss vor Gott nun das verantworten, was er seinem Bruder (an)getan hat. Das erinnert an die Schilderung des Gerichtes im Matthäusevangelium (25,31-46). Die Szene mündet in die 217 Anna Ulrich, Kain und Abel in der Kunst: Untersuchungen zur Ikonographie und Auslegungsgeschichte, 1981, Seite 137. 218 Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose: Genesis, Göttingen und Zürich 1987, Seite 77. S TREIFLICHTER 215 Worte: »Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan.« Und: »… was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch mir nicht getan.« Kain hat somit im Grunde Gott oder das Göttliche in sich (ab)getötet. Und tatsächlich wird die kainitische Menschheit auch noch den töten, den Abel nur im voraus, schwach darstellte, nämlich Jesus Christus, den Sohn Gottes. Kain will sich durch seine Antwort nicht verraten. Auf die Frage: »Wo ist dein Bruder?« erwidert er: »Ich weiß es nicht.« Das ist eine unverdächtige Reaktion. Aber es ist auch eine freche Lüge. Franz Delitzsch schrieb: »Welch schauriger Fortschritt von der schamhaft ängstlichen Flucht und Entschuldigung der Ureltern nach ihrem Falle zu diesem frechen Trotze, dieser unverschämten Verleugnung, dieser lieblosen Rohheit!« (167). Dieses verdorbene Wesen Kains bricht im zweiten Teil seiner Antwort hervor. »Bin ich der Hüter (oder Bewacher) meines Bruders?« Kain verrät sich nun doch. Denn diese heftige Gegenwehr zeigt, dass er aus seinem argen Bewusstsein in die »arglose Alltagsfrage« (Seebass 154) etwas Arges hineinspiegelt. Er spricht nämlich, ohne dass das irgendeinen Grund in der Wo-Frage hat, plötzlich von hüten oder bewachen. Damit gibt er zu erkennen: Ich weiß, dass Abel etwas Böses widerfahren ist (denn ich habe ihn ja selbst umgebracht). Der Ausruf »Bin ich der Hüter meines Bruders?« bringt die ganze Geringschätzung und Verachtung zum Vorschein, die Kain gegenüber Abel empfindet. Nach Swedenborg bedeutet er, dass Kain seinen Bruder Abel »für nichts hielt« (nihili faceret, HG 370). Abel ist etwas so Nichtswürdiges, dass man es nicht wie ein kostbares Kleinod sorgsam behüten muss. Der »Hüter« spielt auf den Beruf Abels an (Hirt = Hüter der Herde). Daher können wir Kains dreiste Antwort so umschreiben: »Soll ich, der Ackerbauer, der Hüter eines Hirten sein, dessen Tätigkeit nun einmal von Natur aus voller Gefahren ist, auf die er sich mit seiner Berufswahl eingelassen hat.« (siehe Seebass 154). Abel ist also selbst schuld, wenn ihm etwas zustößt. Der 216 T HOMAS NOACK Zusammenhang von Hirt (»ro‘eh«) und Hüter (»schomer«) ist im Alten Testament gut bezeugt: »Der Israel zerstreut hat, wird es (wieder) sammeln und wird es hüten (uschemaro) wie ein Hirt (kero‘eh) seine Herde!« (Jer 31,10). »Und Jakob sagte: Du sollst mir gar nichts geben; wenn du mir diese (eine) Sache zugestehst, dann will ich wieder deine Schafe weiden (er‘eh) (und) hüten (eschmor).« (Gen 30,31; vgl. Hos 12,13). In 1. Samuel 17,20 steht das Partizip Wächter, Hüter für den Hirten: »Da machte sich David des Morgens früh auf und überließ die Schafe einem Hüter (schomer).« Und im Neuen Testament lesen wir: »Und Hirten (poimenes) waren in derselben Gegend im Freien und hüteten (phylassontes phylakas = hielten Wache) des Nachts bei ihrer Herde.« (Lk 2,8). Nach Swedenborg drückt sich in dem unwilligen Ausruf: »Bin ich der Hüter meines Bruders?«, noch einmal die Rebellion Kains gegen den Dienst, das heißt gegen die Unterordnung unter Abel aus. Diesen Dienst vergleicht er mit dem der Türhüter (»scho‘arim«) und der Hüter der Schwelle (»schomere hasaf«)219: »›Hüter sein‹ bedeutet dienen, gleichsam wie die Türhüter und die Hüter der Schwelle in der jüdischen Gemeinde« (HG 372). Was könnte Swedenborg mit dieser ungewöhnlichen gedanklichen Verbindung meinen? Der Glaube (Kain) als Schwellenwächter hat die Aufgabe darauf zu achten, dass nur diejenigen Gedanken in das Innere hineingelassen werden, die der freien Tatentfaltung des Geistes in seiner Gemeinschaft dienen. Der Hüter der Schwelle weist die Fremden zurück, nur die Freunde des Hausherrn, die mit seinem Leben inniglich verbunden sind, lässt er hinein. Diesen unter- oder vorgeordneten Dienst soll der Glaube dem geistigen Leben leisten. Stattdessen aber schwingt er sich zum Herrn auf und würgt das innere Leben durch seine rechthaberische Tyrannei ab. »Schamar«, das wir bisher immer mit »hüten« übersetzt haben, kann auch »beobachten«, »Acht geben«, (den Bund oder die Gebote 219 Biblische Belegstellen zu Torhüter (»scho‘er«) bei Gesenius 815 und zu »Hüter der Schwelle« (»schomere hasaf«) bei Gesenius 549. S TREIFLICHTER 217 Gottes) »halten« und »verehren« bedeuten. Wenn der Glaube seine Position als Schwellenwächter willig annimmt, dann richtet er sich innerlich auf seinen Herrn aus. Er beobachtet ihn. Er gibt Acht auf seine Winke. Er hält sich an die Weisungen seines Herrn. Mit einem Wort: Er verehrt ihn. Doch der selbstherrliche Glaube ruft empört aus: Bin ich der Verehrer meines Bruders? Zu Genesis 4,10: Die zweite Frage Jahwes oder die zweite Äußerung des Gewissens nach der schrecklichen Tat lautet: »Was hast du getan?« Swedenborg legt sie hier nicht aus. Aber dieselbe Frage kommt auch in Genesis 20,9 und 31,26 vor, und dort geht er bei seiner Auslegung von den Affekten oder Emotionen aus, die gleichsam das Leben dieser Worte sind (siehe HG 2546 und 4132). Daher achten wir besonders auf die Exegeten, die ebenfalls vom affektiven Gehalt ausgehen. Nach August Dillmann (1823 - 1894) ist »Was hast du getan?« in Genesis 4,10 »eine Frage des Entsetzens«.220 Und auch nach Gerhard von Rad bringt der Ausruf »Gottes Entsetzen über diese Tat« zum Ausdruck (77). Aus der »Was hast du getan?« Frage von Genesis 31,26 hört Swedenborg den Stimmungston der »Entrüstung« heraus (HG 4132). Ein anderer Ansatzpunkt für die Deutung von Sprache ist die Suche nach einem »Sitz im Leben«, das heißt nach einer Situation, in der typischerweise so und nicht anders gesprochen wird. In diesem Sinne erkennt Horst Seebass in den Versen 10 bis 12 »eine Reihe juristischer Vorstellungen«. So sei »Was hast du getan?« eine »Formel«, die man vor einem »Gerichtsverfahren zur Behaftung des Täters« verwandte (155). Kains Tat erscheint nun im Lichte der göttlichen Wahrheit als das, was sie ist, nämlich als ein himmelschreiendes Unrecht. Und sie wird anschließend mit den Folgen konfrontiert, in die sie verwickelt wird. In diesem Sinne wird Kain gerichtet. Die Frage »Was hast du getan?« kann man auch auf der Subjektstufe deuten. Dann lautet sie: »(Mein Gott), was habe ich getan?« Die Frage leitet die Bewusstwerdung der Tatfolgen ein. Die Deutung auf der Subjektstufe ist auch nach Swedenborg angemessen, weil er das Spre220 August Dillmann, Die Genesis, Leipzig 1886, Seite 95. 218 T HOMAS NOACK chen Jahwes mit dem Gewissen in Verbindung bringt und das Gewissen die innere Stimme Gottes ist. Hier spricht also die höhere Ebene im Subjekt zu der niederen Ebene im Subjekt. »Horch! Das vergossene Blut deines Bruders schreit zu mir vom Boden.« So haben wir die zweite Vershälfte übersetzt. Das hebräische Wort »qol« bedeutet zwar eigentlich »Stimme«, so übersetzt es Swedenborg. Aber im Alten Testament ist auch der Gebrauch von »qol« als Interjektion belegt (Gesenius 707), und dann bedeutet es »horch!«. Wir haben uns hier gegen Swedenborg für »horch!« entschieden, weil für »schreien« im Urtext eine Pluralform steht, die sich nur auf den Plural »Blut« beziehen kann, nicht aber auf den Singular »Stimme«. Damit ist schon die nächste Beobachtung genannt: »Blut« steht im Urtext im Plural. Nach Franz Delitzsch ist das der »Pl(ural) des Products«. Er bedeutet »als solcher das aus dem Innern des Leibes, wo es heimisch ist, tropfen- oder flußweise zur Erscheinung kommende Blut und zwar immer gewaltsam verströmtes Menschenblut«, das ist »ein fester Sprachgebrauch« (167)221. Auch Swedenborg gibt eine Erklärung für den Plural von »Blut«: »Blut im Plural heißt es, weil die Gesamtheit des Ungerechten und Abscheulichen aus dem Hass Entspringt, wie die Gesamtheit des Guten und Heiligen aus der Liebe« (HG 374). Das Blut steht sonach für das gewaltsam produzierte (Plural des Produkts), das heißt für das vergossene Blut. Oder, um Swedenborg aufzugreifen: Abels Blutlache steht für alle Gewalttaten, die sich die Menschen gegenseitig zufügen. Das Blut steht für die Bluttat oder, wenn wir von der Tat auf die Gesinnung schauen, für den »Hass« (HG 374). Nach diesen Überlegungen könnten wir den Vers auch so übersetzen: »Was hast du (nur) getan? Horch! Die Bluttat an deinem Bruder, sie schreit zu mir vom Boden (empor).« Das Geschrei der zahllosen Blutstropfen klagt Kain vor Gott an 221 Vgl. auch Horst Seebass: »Der Pl. von dam ›Blut‹ steht nur für vergossenes Blut und ganz überwiegend für die Blutschuld (KBL3).« (Seite 155). KBL ist die Abkürzung für das »Lexicon in Veteris Testamenti Libros« von Ludwig Koehler und Walter Baumgartner. S TREIFLICHTER 219 (siehe »anklagen« in HG 374 und 375). So wird er zu einem Angeklagten. Durch das Jammergeschrei wird er in den Zustand eines Beschuldigten versetzt, denn jede Tat begründet einen Zustand. Das Geschrei der Blutlache ist also ein archaisches Bild für diesen »Schuldzustand« (HG 376) Kains. Das Blut sickert in den Boden ein. Die Bluttat durchtränkt und durchdringt ihn, sie erfüllt ihn ganz und gar. Dadurch wird die Gewalt ein Teil dieses Bodens, ein Bestandteil seines Wesens. Gleiches gilt für die Schuld. Denn mit dem Blut dringt auch sie in den Boden ein. Er ist nun als der Boden des Brudermörders wie dieser schuldbeladen. So waren die Erzählungen der Alten beschaffen. An dem für unser Empfinden unschuldigen Boden klebt nun das Blut Abels und damit die Schuld Kains. Daher klagt der Boden seinen Herrn, gemeint ist Kain, vor Gott an, denn aus allen seinen Furchen dringt das Gejammer des unschuldig vergossenen Blutes zu Gott empor. Im geistigen Sinn meint der Boden den geistigen Boden oder die geistige Grundlage Kains, das heißt dasjenige gedankliche System, das seiner Gedankenproduktion oder seiner geistigen Fruchtbarkeit zugrunde liegt. Dieser fundamentaltheoretische Boden ist im Falle Kains »eine Abspaltung« (schisma) oder »eine von der Kirche abweichende Lehre« (haeresis) (HG 377). Konkret denkt Swedenborg an die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Diese Lehre hat das geistige Leben (Abel) in der Kirche im Grundsatz ausgelöscht. Denn wo sind die christlichen Meister, die den Weg der geistigen Wiedergeburt gegangen sind und Schüler aufnehmen können? Kains Acker ist ein Friedhof geworden, aber anscheinend hört nur Gott das Stöhnen Abels, das schwache, das aus diesem Blutacker emporsteigt. Zu Genesis 4,11: »Und nun« leitet die Schilderung der Folgen ein. »Verflucht bist du vom (min) Boden«. Die Präposition »min« ermöglicht verschiedene Übersetzungen. Erstens: »Verflucht bist du vom Boden (her)«. So verstanden vollzieht der Boden selbst die Verfluchung. Das passt zu Vers 10, wo das Blut vom Boden her zu Jahwe schreit. Zweitens: »Verflucht bist du wegen des Bodens«. So verstanden vollzieht zwar Jahwe die Verfluchung (siehe 220 T HOMAS NOACK die direkte Anrede), aber »wegen« oder »infolge« des Bodens. Drittens: »Verflucht bist du vom Boden weg«. So verstanden wird Kain vom Boden weggetrieben oder verbannt. Das passt zu seinen Worten in Vers 14: »Siehe, du vertreibst mich heute von den Angesichten des Bodens«. Und viertens ermöglicht der komparativische Gebrauch von »min« die Übersetzung: »Verfluchter bist du als der Boden«. In den deutschen Bibeln überwiegt die dritte Variante.222 Die Swedenborgianer Leonhard Tafel und Ludwig H. Tafel sind jedoch zurückhaltender. Sie übersetzen »min« möglichst neutral mit »von« und greifen somit kaum sinnklärend in den Text ein. In der Tradition Swedenborgs muss man der zweiten Variante den Vorzug geben: »Verflucht bist du wegen (oder infolge) des Bodens«223. Auch die erste kann man gelten lassen. Doch die so beliebte dritte und erst recht die vierte scheiden aus. Zur Begründung diene das Folgende: In Genesis 3,17 wurde der Boden verflucht. Als »Knecht des Bodens« (Genesis 4,2) ist Kain demnach in der Sphäre des Verfluchten tätig. Somit steht er vor der Entscheidung: Wird er den Fluch überwinden und aufheben können? Oder wird ihn die verfluchte »adamah« nach unten ziehen? Die Antwort: Kains Angesicht fällt nach unten und wendet 222 Eindeutig der dritten Variante zuzuordnen sind die folgenden Übersetzun- gen. Die Einheitsübersetzung: »So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden«. Die Zürcher Bibel: »Und nun – verflucht bist du, verbannt vom Ackerland«. Die Übersetzung von Hermann Menge: »Und nun – verflucht sollst du sein, (hinweggetrieben) vom Ackerboden«. Die Elberfelder Bibel: »Und nun, verflucht seist du von dem Ackerboden hinweg«. Die Verdeutschung von Buber und Rosenzweig: »Und nun, verflucht seist du hinweg vom Acker«. Die Gute Nachricht Bibel: »Du hast den Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch und musst das fruchtbare Ackerland verlassen.« Die Übersetzung »Hoffnung für alle«: Darum bist du von nun an verflucht: Weil du in diesem Land einen Mord begangen hast, musst du von hier fort.« Nur die Lutherbibel ist nicht eindeutig der dritten Variante zuzuordnen. Dort lesen wir: »Und nun: Verflucht seist du auf der Erde«. Die Übersetzung von »min« mit »auf« ist sprachlich nicht korrekt, weswegen wir die Lutherbibel keiner der oben genannten Lesarten zuordnen können. 223 Einen ersten Hinweis gibt vielleicht schon Swedenborgs Übersetzung. Sie lautet: »maledictus tu de humo«. Warum hat er »min« nicht mit »ab« (von) übersetzt? Die Präposition »de« bedeutet jedenfalls auch »wegen«. S TREIFLICHTER 221 sich von oben ab. Kain kann den Fluch also nicht aufheben. Stattdessen wird er nun selbst ein Verfluchter, einer, der sich von oben, wo Jahwe ist, abgewendet hat und nach unten auf das Irdische blickt (siehe »aversus« in HG 378 und »deorsum spectare« in HG 379)224. Diese Verfluchung Kains geschieht »wegen« oder »infolge« des Bodens, in dessen Machtbereich sich Kain befindet. Außerdem spricht für die zweite Variante der innere Sinn. Denn der Boden meint die geistige Grundlage, das heißt im Falle Kains die schismatische oder häretische Lehre der Gerechtmachung des Menschen durch den Glauben allein (HG 377). Kain ist demnach wegen dieser Irrlehre ein Verfluchter. Der Boden »hat sein Maul aufgerissen«. Das Verb »pazah« ist nicht das gewöhnliche Wort für »öffnen«. Das ist »patach«, das in der hebräischen Bibel auch in Verbindung mit Mund belegt ist (Gesenius 667), so dass man sich fragen kann, warum in Genesis 4,11 »aufreißen« (pazah) und nicht »öffnen« (patach) steht. Die Antwort besteht möglicherweise darin, dass sich mit »pazah« die Nebenbedeutung von »törichter, übereilter Rede« verbindet (Gesenius 653). Diese Beobachtung passt jedenfalls gut mit Swedenborgs Auslegung zusammen, wonach der Boden hier die törichte Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein meinen soll. Das Aufreißen bedeutet das Lehren dieser Häresie (HG 378). Dadurch verschwindet das Blut Abels, weswegen es heißt, dass der Boden sein Maul aufriss, um das Blut Abels zu nehmen oder zu verschlucken. So löscht die Lehrtätigkeit die Liebtätigkeit aus (HG 378). Zu Genesis 4,12: »Wenn du den Boden bebaust, wird er dir seine Kraft nicht mehr geben.« Das heißt, die Lehre von der Gerechtsprechung des Menschen, der bestimmte dogmatische Satzwahrheiten für wahr hält, erzeugt kein geistliches oder spirituelles Leben. Die Kultivierung (»excolere«, HG 380) dieses theologischen Grundsatzes erweist sich für das Leben der Kirche als unfruchtbar. In den Ohren echter Kainiten ist dieser Satz selbst224 »Arur« (verflucht) ist das Gegenteil von »baruk« (gesegnet). Diese beiden Begriffe bilden im Hebräischen ein Gegensatzpaar (siehe THAT 1,236-240). 222 T HOMAS NOACK verständlich eine Ungeheuerlichkeit. Denn die Rechtfertigungslehre gilt diesen Brudermördern als »articulus stantis et cadentis ecclesiae«, das heißt als »der Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt«. Doch der Absolutismus dieser törichten Lehre leert die Kirchen. Die Menschen suchen Spiritualität, doch geboten wird ihnen von den Schwarzröcken nur das leere Stroh einer falschen Kreuzestheologie. Und so wandert das Glaubensvolk aus und sucht woanders die Quelle des Lebens. »Koach« bedeutet Kraft, hier die Kraft des Erdreichs, die es nicht aus sich heraus hat, sondern aus dem Saatgut des göttlichen Geistes, der im Erdreich die Materie oder den mütterlicher Stoff vorfindet, um daraus die ihm entsprechende Leiblichkeit zu formen. »Koach« ist hier die mütterliche oder seelische Kraft, etwas aus etwas zu gestalten. »Koach« ist die Erzeugungsfähigkeit und dann auch der Ertrag dieser ausformenden und gebärenden Kraft. Die Mutter Erde wird unfruchtbar. Was für ein Fortschritt! In Genesis 3,17-18 hieß es demgegenüber nur: »… so sei der Erdboden verflucht um deinetwillen. Mit Mühsal sollst du davon essen alle Tage deines Lebens, Dornen und Disteln wird er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen!« Immerhin, die »adamah« brachte damals noch etwas hervor. Nun aber wird sie unfruchtbar (»sterilis«, HG 380). Denn sie hat das Blut Abels aufgenommen. Das Blut gilt als der Sitz des Lebens (Num 17,11). Doch der Lebenssaft Abels befruchtet die »adamah« des Brudermörders nicht. Denn er ist das Blut einer Bluttat. Und indem dieses Blut den Boden durchtränkt, wird die Gewalttat die Seele oder das Wesen der »adamah« Kains. Sein Studium der Schriften kann fortan nur noch den Tod gebären. Sein Studium der Schriften bleibt unfruchtbar, weil es keine Werke hervorbringen will und daher auch nicht kann. Werke sind aber die Früchte des Studiums der alten, heiligen Texte. Steril wird dieses Studium, wenn es nur noch um historische Fragen geht und dabei vergessen wird, dass die biblische Exegese keine reine Wissenschaft sein, sondern dem kirchlichen Leben dienen soll. Mit dem Mord an seinem Bruder hat Kain seinen eigenen Glaubensboden unfruchtbar gemacht. Der Glaube hat den Liebeshauch vernichtet, S TREIFLICHTER 223 so dass nun auch die Glaubensgrundlagen nicht mehr fruchtbar werden können. Die stabreimartige Verbindung »na‘ wanod« (»unstet und flüchtig«)225 kommt im gesamten Alten Testament nur hier vor. Swedenborg bringt in HG 382 zwar einige Vergleichsstellen, sie enthalten aber nicht die oben genannte Verbindung und teilweise auch nicht die darin verborgenen Verben, sondern nur sinnverwandte. Dennoch kann Swedenborg den folgenden Sinn ermitteln: Unstet und flüchtig sein bedeutet »nicht wissen, was wahr und gut ist«. Kain gerät demnach durch den Brudermord in geistige Orientierungslosigkeit. Das Verb »nua‘« bedeutet »(sch)wanken«, »haltlos« bzw. »heimatlos sein«. Und das Verb »nud« hat eine ähnliche Bedeutung, denn es bedeutet »(sch)wanken«, »ziellos« bzw. »heimatlos sein«. Die Glaubenswissenschaft ist nach dem Brudermord nicht mehr im Glaubensleben verankert. Daher verliert Kain den Boden unter den Füßen und gerät ins Wanken, das heißt er wird in seiner scheinbar festgefügten Meinung unsicher. Die stabreimartige Wiederholung zeigt an, dass sich diese Verunsicherung sowohl auf den Standpunkt (das Wahre) als auch auf den Zielpunkt (das Gute) auswirkt. »Flüchtig« wird die Glaubenswissenschaft, weil sie nach dem Brudermord ihren Halt im kirchlich-spirituellen Leben verliert und nun den Angriffen von außen ausgeliefert ist und ihnen entgehen möchte. So befindet sich die Glaubenswissenschaft ständig auf der Flucht vor glaubensfremden Argumenten in der Angst, von ihnen erschlagen zu werden. Zu Genesis 4,13: »Da sagte Kain zu Jahwe: ›Zu groß ist meine Verkehrtheit, als dass sie aufgehoben werden könnte.‹« Für das hebräische »awon« steht in den deutschen Bibeln meist »Strafe«.226 Die katholische Einheitsübersetzung hat »Schuld«. Und 225 Die Verdeutschung von Buber und Rosenzweig ahmt den Stabreim mit den Worten »schwank und schweifend« nach. 226 »Strafe« steht in der Elberfelder Bibel (in der Anmerkung wird auf die Alter- native »Schuld« hingewiesen), in der Lutherbibel (1984), in der Zürcher Bibel (1931), in der Übersetzung von Hermann Menge (in Klammern steht »oder: Sündenschuld), in der Gute Nachricht Bibel (1997) und in der Hoffnung für T HOMAS NOACK 224 Leonhard und Ludwig Tafel haben »Misset(h)at«. Die deutschen Interpreten der hebräischen Partitur betonen demnach mehrheitlich den Anschluss an Vers 12. Dort war von der Straffolge die Rede, und darauf reagiert Kain nun mit den Worten: »Zu groß ist meine Strafe, als dass ich sie tragen könnte.« (Elberfelder Bibel). Werfen wir einen Blick auf Swedenborg! In der lateinischen Bibel von Sebastian Schmidt fand er »delictum« (Vergehen) vor. Er selbst wählte aber »iniquitas« (Unebenheit, Ungerechtigkeit). Das hebräische »awon« meint den ganzen Zusammenhang vom Vergehen über die Schuld bis zur Strafe. Denn nach Rolf Knierim wurzelt der Begriff »im dynamistischen Ganzheitsdenken«. Zur gängigen Übersetzungspraxis schreibt er: »Angesichts der durch das Ganzheitsdenken bestimmten einheitlichen Verwendung des Begriffs ›awon‹ für die verschiedenen Stadien eines UntatGeschehensablaufes (Tat – Folgesituation – Vollendung) wird die herkömmliche, auch lexikographische Übersetzungspraxis problematisch. Sie übersetzt ›awon‹ je nach dem Kontext mit ›Vergehen‹ – ›Schuld‹ – ›Strafe‹. Zunächst einmal können ›Schuld‹ und ›Strafe‹ nur noch als freie Interpretationen der Grundbedeutung angesehen werden. Darüber hinaus drohen die Implikationen der Einheitlichkeit eines Geschehensablaufes und die Einheitlichkeit desselben hebr. Begriffes in verschiedenen Kontexten durch die Verschiedenheit der Übersetzung verlorenzugehen.« (THAT 2,245). Die hier angesprochene Grundbedeutung des Verbums »awah«, von dem »awon« abgeleitet ist, ist »beugen«, »krümmen«, »verkehren«, »verdrehen«. Daher haben wir uns, einem Vorschlag von Rolf Knierim folgend, für »Verkehrtheit« als Übersetzung von »awon« entschieden. Bevor wir diese Überlegungen abrunden können, müssen wir noch etwas zum Verb »nasa’« sagen. Wieder ist nämlich eine Vorliebe in den deutschen Bibeln zu beobachten. Dort steht mehrheitlich »tragen«.227 Swedenborg entschied sich jedoch für alle (2002). 227 »Tragen« steht in der Elberfelder Bibel (1991), in der Lutherbibel (1984), in der Zürcher Bibel (1931), in der Übersetzung von Hermann Menge und in S TREIFLICHTER 225 »auferre« (wegtragen). Daher finden wir in den neukirchlichen Bibeln von Leonhard Tafel und Ludwig Tafel »wegnehmen«. Auch das Verb »nasa’« deckt einen ganzen Zusammenhang ab. Es bedeutet »aufheben«, »tragen« und »wegtragen«. In Verbindung mit Sünde kann es auch »vergeben« bedeuten. Der Übersetzer, der in seiner Zielsprache keine Worte vorfindet, die alle Aspekte in sich vereinen, muss wohl oder übel einen Aspekt herausgreifen und dadurch beim Leser den Eindruck erwecken, dieser eine Gesichtspunkt sei der richtige. In diesem Sinne haben wir in der Tradition Swedenborgs eine bestimmte Teilbedeutung hervorgehoben. Wir hören aus den Worten Kains Resignation oder Verzweiflung (»desperatio«, HG 383) heraus, die er in die Worte kleidet: »Meine Verkehrtheit ausgehend von dem, was ich getan habe, bis zu den letzten Tatsachen, die sich daraus ergeben werden, ist einfach viel zu groß, als dass das je wieder aufgehoben oder rückgängig gemacht werden könnte.« Kain schafft eine neue Wirklichkeit, der die Menschheit fortan nicht mehr wird entkommen können. So groß, so umfassend ist diese neue, kainitische Wirklichkeit. Auch Jahwe muss sie respektieren. Zu Genesis 4,14: Mit Swedenborg zerlegen wir den Vers in vier Abschnitte. Erstens: »Siehe, du vertreibst mich heute vom Angesicht (von der Oberfläche) des Bodens«. Zweitens: »Und vor deinem Angesicht werde ich verborgen sein«. Oder: »Und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen«. Mit Swedenborg bevorzugen wir die erste Übersetzung.228 Drittens: »So dass ich unstet der Einheitsübersetzung. Die Hoffnung für alle (2002) hat »ertragen«. 228 Bei Sebastian Schmidt fand Swedenborg »me abscondere cogar« (ich muss mich verbergen) vor. Er selbst übersetzte aber die hebräische Verbform mit »abscondar« (ich werde verborgen). Das Verb »nistar« bedeutet »sich verbergen« und »verborgen sein« (Gesenius 553). Horst Seebass übersetzt es in Genesis 4,14 mit »werde ich … verborgen sein« und kommentiert diese Übersetzung mit den Worten: »str impf. ni. heißt zwar überwiegend ›sich verbergen‹, aber das gibt hier keinen Sinn.« (144). Das bestätigt Swedenborgs Übersetzung. Die meisten deutschen Bibeln haben jedoch »ich muss mich verbergen« (siehe die neukirchlichen Bibeln von Leonhard und Ludwig Tafel, die Lutherbibel, die Zürcher Bibel, die Einheitsübersetzung, die Übersetzung 226 T HOMAS NOACK und flüchtig sein werde auf Erden«. Viertens: »Und dann wird es geschehen, dass jeder, der mich findet, mich totschlagen wird«. Diese vier Abschnitte lassen sich zu zwei Gruppen vereinen. Denn die ersten zwei Abschnitte enthalten Verben der Trennung (vertreiben und verbergen). Und die zweiten zwei Abschnitte beginnen mit einem Perfekt consecutivum, das heißt mit einer hebräischen Verbform, die eine folgernde Funktion hat. Hier bringen diese Verbformen die Folgen der zuvor genannten Trennungen (»separari«, HG 385) zum Ausdruck. Die erste Trennung bezieht Swedenborg auf das Wahre (HG 386), die zweite auf das Gute (HG 387). Zur Vertreibung vom Boden sei erläuternd gesagt: Kain wird von seiner Glaubensgrundlage geschieden. Denn das Verweilen bei einem Glauben ist weniger eine Sache des Denkens; gedanklich lässt sich nämlich sehr viel begründen und plausibel machen. Die Bindung an einen Glauben ist vielmehr eine Sache des Gefühls oder jenes Hauches, den Abel darstellt. Nach der Auslöschung Abels wird auch die innere Verbundenheit mit dem bis dahin Geglaubten schwächer und verschwindet schließlich ganz und gar. Und die zweite Trennung, das Verbergen des Angesichtes ist ein Zeichen dafür, dass der veräußerlichte Glaube den Zugang zum Inneren oder den eigentlichen Lebensgeheimnissen total verloren hat. Der kainitische Glaube empfindet tiefe Abscheu und einen unaussprechlichen Widerwillen gegenüber dem Guten des Lebens. Daher ist ihm das Angesicht Jahwes unerträglich. Swedenborg schreibt: »Manche sind der Meinung, dass Gott sein Angesicht vom Menschen abwende« (HH 545), doch der Mensch wendet sich selbst vom Herrn ab »und wendet sein Gesicht jener Hölle zu, mit der er in der Welt verbunden gewesen war« (HH 548). In Vers 5 war davon die Rede, dass sich Kains Angesicht senkte. Zwischen dieser Fallbewegung und dem Verbergen des Angesichtes Jahwes besteht ein innerer Zusammenhang. Denn wenn wir uns unter dem Angesicht Jahwes die Sonne vorstellen, dann verschwand es schon, als Kain seinen Blick senkte und nur noch den Boden anvon Hermann Menge und die Elberfelder Bibel). S TREIFLICHTER 227 starrte. Für den kainitischen Glauben ist Gott ein »Deus absconditus«, ein verborgener Gott. Schauen wir auf die Folgen der beiden Trennungen. Die erste Konsequenz ist die Orientierungslosigkeit oder die Unwissenheit in Bezug auf das Wahre und Gute (HG 388). Und die zweite ist die Anfälligkeit für alles Böse und Falsche (HG 389).229 Zu Genesis 4,15: »Aber Jahwe sprach zu ihn: ›Ebendeswegen230 soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfach Rache erleiden.‹« Hier ist besonders »das Erstaunliche zu würdigen, dass Jahwe sich nach seinem eindeutigen Urteil über Kains Tat so außerordentlich für Kain einsetzen kann.« (Seebass 159). Doch Swedenborg gibt eine sehr einleuchtende Erklärung. Sie ergibt sich nach all dem Gesagten beinahe von selbst aus seiner Interpretation Kains. Kain oder »der isolierte Glaube« (»fides separata«, HG 394) darf um des Heils des Menschengeschlechtes willen nicht auch noch zerstört werden. Daher fügt Jahwe es so, dass die Überlieferungen des Glaubens sakrosankt werden (»sacrosanctum«, HG 395). Und dann dürfen sie als geheiligte oder hochheilige Überlieferungen nicht mehr angetastet werden. Die Sieben weist auf etwas Hochheiliges hin (HG 395). Daher meint »siebenfache Rache«: Wer die dem profanen oder menschlichen Zugriff entzogenen und dadurch geheiligten Glaubenslehren der Kritik und den Manipulationen des Intellekts oder der eigenen Klugheit unterwirft, der handelt sich damit die Strafe eines Schänders heiliger Dinge ein. Denn der äußere Verstand erhebt sich über alles sogenannte Heilige, verliert je länger er am Werk ist um so mehr jegliche Achtung gegenüber den Traditionen der Väter und Mütter des 229 Zu den Merkwürdigkeiten der Urgeschichte gehört, dass sie zuweilen mehr Menschen voraussetzt als vorhanden sein können. Nach dem Brudermord gibt es nur drei Menschen aus Erden: Adam, Eva und Kain. Dennoch sagt Kain: »Und es wird geschehen, dass jeder, der mich findet, mich erschlagen wird.« Vor welchen Menschen fürchtet sich Kain eigentlich? Swedenborg verstand die Personen der Urgeschichte nicht als Individuen, sondern als Kollektive. 230 Der masoretische Text hat »laken« (daher, fürwahr). Einige alte Übersetzungen setzen hingegen »lo ken« (nicht so) voraus. 228 T HOMAS NOACK Glaubens und am Ende hat er das ganze Erbe aufgelöst und steht vor dem Nichts seiner schändlichen Leistung. Deswegen will Jahwe, dass Kain nicht dem menschlichen Gericht und dem menschlichen Urteil ausgeliefert wird, obwohl er ein Brudermörder ist und auch bleibt. Der Verstand hat schon Recht, wenn er vermutet, dass mit den »heiligen« Texten etwas nicht stimmt, aber das gibt ihm dennoch nicht das Recht, diese alten Zeugen einer großen Wahrheit vor das Gericht seiner eigenen Be- und Verurteilung zu zerren. Die Heiligung oder Tabuisierung bestimmter Traditionen ist die Folge eines Urfrevels. Nach dem Verlust der lebendigen Gottesbeziehung (Abel) musste eine Ersatzstabilisierung gefunden werden. Und das ist die Heiligung des Brudermörders. Doch aufgrund seiner Herkunft neigt der solcherart Geheiligte zur Verhärtung, Dogmatismus genannt. Diese Sklerose erinnert ihn an den einstigen Mord, an die Auslöschung des Lebens, der er seinen Aufstieg verdankt. Die zweite Hälfte des Verses lautet in einer möglichst wörtlichen Übersetzung: »Und Jahwe setzte dem Kain ein Zeichen, damit jeder, der ihn findet, ihn nicht totschlage.« Für das hebräische »ot« (»Zeichen«) fand Swedenborg bei Sebastian Schmidt »miraculum« (Wunder) vor. Denn »setzen« in Verbindung mit »ot« und Jahwe als Subjekt »wird nur in poetischen Texten und so verwandt, daß die Zeichen entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen.« So meinen Ex 10,2, Ps 78,43, Jer 32,20 und Ps 105,27 rückblickend die den Exodus begleitenden Wunder; Jes 66,19 hingegen meint ein zukünftiges (siehe Seebass 159). Daher könnte auch hier ein Jahwes Zusage beglaubigendes Wunder (»miraculum«) gemeint sein. Swedenborg entschied sich aber gegen die Übersetzung von Schmidt für »signum« (Zeichen). Allerdings interessiert ihn nicht so sehr die Art des Zeichens, sondern dessen Funktion. Es dient nämlich der Unterscheidung (distinguere, HG 396) und infolgedessen der Erhaltung (conservare, HG 396) des Glaubens. Es ist also ein Zeichen des Schutzes. Die Glaubensüberlieferungen werden von den übrigen unterschieden, indem sie mit einer Aura des Heiligen umgeben werden. Das dient ihrer möglichst unversehrten Bewahrung durch die Zeiten S TREIFLICHTER 229 hindurch. Zu Genesis 4,16: »Und Kain ging vom Angesicht Jahwes weg«. Damit vollzieht er die Ankündigung von Vers 14: »Vor deinem Angesicht werde ich verborgen sein«. Er trennt sich also nun wirklich »vom Guten des Glaubens der Liebe« (HG 398). Zu beachten ist, dass sich Kain von Jahwe trennt, nicht Jahwe von Kain. Denn der Mensch ist es, der in seiner Verfinsterung die Nähe seines Gottes nicht mehr ertragen kann und das Weite sucht. Diese Flucht vor der zu großen Nähe Gottes beinhaltet aber auch einen Neuanfang. Das Verb »jaza’« deutet das insofern an, als es auch den Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung anzeigen kann.231 Diesen Aspekt hervorhebend, können wir das Versstück so übersetzen: »Kain zog vom Angesicht Jahwes aus«. Oder: »Kain ging vom Angesicht Jahwes hervor«. Und tatsächlich wird Kain durch seinen Auszug aus dem Angesicht (= dem Inneren) Jahwes zum Begründer der äußeren Kultur (Genesis 4,2022). »Und er ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden«. Wie lässt sich das unstete und flüchtige Dasein Kains mit seinem neuen, festen Wohnsitz »im Land Nod« vereinbaren? Die Antwort ist einfach. Das Land Nod ist nämlich in der Bildersprache der Bibel genau dieser neue Zustand des geistigen Elends und der Heimatlosigkeit (Gesenius 491), es ist »das Land der Ruhelosigkeit« (v. Rad 78). »Nod« greift »na wa-nod« (unstet und flüchtig) auf (HG 398). Dieser elende Zustand des Menschen, der seine Heimat bei Gott verloren hat, erinnert mich an das berühmte Wort Augustins: »… denn du hast uns auf dich hin erschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir« (»… quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te«, Confessiones I,1,1). Das Land Nod liegt »östlich von Eden«. Eden, der Wonnegau der Liebe, liegt demnach von Nod (bzw. Kain) aus gesehen im Westen 231 Darauf lassen die folgenden Verwendungen schließen: »v. d. neugeborenen Kinde«, »sichtbar w.«, »v. d. Sonne u. d. Gestirnen: aufgehn«, »v. Pflanzen: aus der Erde kommen«, »entspringen (v. Flusse)« (Gesenius 310f.). 230 T HOMAS NOACK und somit in der Gegend des Sonnenuntergangs. Nach Gesenius bedeutet »qidmah« neben »östlich von« auch »gegenüber« (701). Das wirft ein Licht auf Swedenborgs Interpretation. Er übersetzt nämlich: »gegen den Osten Edens hin« (versus orientem Edenis). Und das bedeutet: Kain wohnte »dicht neben (juxta) dem verständigen Gemüt, wo früher die Liebe herrschte« (HG 398). Das heißt: Der Glaube ist nun zwar separiert oder als etwas Besonderes von der Liebe unterschieden, aber er ist immer noch »gegenüber« dem ursprünglichen Wonnegau vor der Entzweiung angesiedelt. »Juxta« (dicht neben) ist mit »jungere« (Verbinden) verwandt. Für Swedenborg scheint hier also noch eine gewisse Verbindung zwischen dem Land Nod und dem »Osten Edens« zu bestehen. Im Fortgang der Urerzählungen der Bibel (Genesis 1 bis 11) wird die Entfernung vom Osten (»qedem«) oder von der Urzeit (ebenfalls »qedem«) immer größer werden. Die Erzählung von Babel und seinem Turm leitet das Geschehen mit den Worten ein: »Und es geschah bei ihrem Aufbruch von Osten« (Genesis 11,2). Dort wird der Absturz in das rein analytisch-zerlegende Denken erzählt. So weit unten ist Kain noch nicht angekommen. Er wohnt noch in einem Land, das »östlich von Eden« liegt. 5. Eine Synthese des inneren Sinnes Wir haben Genesis 4,1 bis 16 Vers für Vers besprochen und nicht selten sogar den Sinngehalt einzelner Worte untersucht. Nun wollen wir das Ganze zusammenfassen, indem wir den inneren Sinn als eine Art Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16 darbieten. Dieses Vorgehen ist nicht unproblematisch, denn es erweckt den Eindruck als ließen sich die Korrespondenzen so einfach in einen äußeren Wortlaut umgießen. Dennoch wollen wir dem Leser, der uns bis hierhin gefolgt ist, mit dieser Übersetzung die eigenständige Synthese oder Zusammenschau des inneren Sinnes ein wenig erleichtern. 1. Die älteste Kirche brachte eine Glaubenslehre hervor und meinte, damit etwas selbständig Seiendes kreiert zu haben. 2. Außerdem brachte sie die Nächstenliebe hervor. Diese leitete die Menschen zum geschwisterlichen Verhalten in der Gemein- S TREIFLICHTER 231 schaft an. Die Glaubenslehre hingegen beschäftige sich nur mit den theoretischen Grundlagen. 3. Beide Tätigkeiten galten als gottesdienstlich. Und so brachte die Dogmatik dem Gottesleben ihre Lehrsätze dar. 4. Die Nächstenliebe aber brachte ihm das Heilige und Himmlische dar. Diese Gaben waren dem Gottesleben angenehm. 5. Aber das bloße Glaubenswissen konnte ihm nicht angenehm sein. Doch das erregte den Zorn der Glaubenswissenschaft, die sich daraufhin sich selbst zuwandte und vom Gottesleben abkehrte. 6. Da meldete sich jedoch die Stimme des Gewissens und sagte: »Warum erregt das deinen Zorn? Und warum wendet sich dein Inneres von mir ab? 7. Ist es nicht so? Wenn du dich zum Guten durchringen könntest, dann würde sich dein Inneres wieder erheben. Wenn du dich aber gegen das Gute entscheidest, dann lauert die Sünde wie ein Dämon vor der Tür deines Willens. Bedenke doch! Die Nächstenliebe hat ein inniges Verlangen nach dir, du aber willst sie beherrschen und nicht anerkennen, dass sie deine Seele ist und dich lenken und leiten will.« 8. Aber der Glaube hörte nicht auf die Stimme des Gewissens, sondern verwickelte die Nächstenliebe in dogmatische Streitgespräche. Und auf diesem Feld des Disputs erhob er sich dann über sie und schlug sie brutal mit theologischen Argumenten tot. 9. Doch sofort meldete sich wieder die Stimme des Gewissens und fragte: »Wo ist denn die Nächstenliebe geblieben?« Der Glaube aber reagierte unwillig, indem er sprach: »Das weiß ich doch nicht. Bin ich etwa der Aufpasser meines Bruders?« 10. Doch die innere Stimme ließ sich durch diese dreiste Antwort nicht zum Schweigen bringen. Und so wurde der Dogmatik der ganze Umfang ihrer mörderischen Überheblichkeit bewusst: »Mein Gott, was habe ich da angerichtet! Mein eigener Grund und Boden ist von einer Bluttat durchtränkt, von einem himmelschreienden Unrecht. 11. Bereits die Grundlage meiner Wissenschaft stellt eine Abkehr von Gott dar. 12. Damit ist mein ganzes Tun unfruchtbar geworden. Denn wenn ich nun die heiligen Texte bearbeiten werde, dann wird daraus keine Nahrung für das Gottesleben in der Seele hervorgehen. Vollkommen orientierungslos werde ich umherirren.« 13. Verzweifelt sprach der 232 T HOMAS NOACK Glaube zum Herrn des Lebens: »Zu groß ist meine Verkehrtheit, als dass sie je wieder aufgehoben werden könnte. 14. Nun werde ich von allem Wahren und Guten der Kirche für immer getrennt sein. Orientierungslos werde ich umherschweifen und allen Angriffen schutzlos ausgeliefert sein.« 15. Doch die innere Stimme sagte: »Nein! Deine Angst geht mit dir durch. Du bist zwar nun, weil du den inneren Lebenshauch ausgelöscht hast, eine äußere Wissenschaft geworden. Aber selbst in dieser Verkehrtheit bewahrst du immerhin noch ein göttliches Urwissen auf. Deswegen soll jeder, der dich erschlägt, meine göttliche Hand zu spüren bekommen.« Und so zeichnete Jahwe das Glaubenswissen als etwas Besonderes aus, damit die Menschen dieses Erbe unangetastet lassen. 16. Danach entfernte sich der Glaube von der Wahrnehmung des inneres Wesens Jahwes und ließ sich in der Ruhelosigkeit des äußeren Weltwissens nieder, blieb aber immerhin noch auf das innere Leben bezogen, denn davon handeln ja, zumindest theoretisch die Glaubenslehren. S TREIFLICHTER 233 Das sind die Geburten Zum inneren Sinn der Toledot - Struktur der Genesis 1. Vorbemerkung: Toledot und Genesis Die Toledot- Formeln gehören nicht gerade zur Lieblingslektüre des Bibellesers , doch sie sind das Skelett, das tragende Gerüst. Der Rest, all die schönen Geschichten , sind demgegenüber nur das Fleisch . Im Folgenden geht es um diese die Genesis strukturierenden Formeln , um »(we)’ellä toledot«, was auf Deutsch bedeutet »(und) das sind die Geburten«. Dass diese unscheinbaren Formeln den Blick auf etwas Wesentliches freigeben, können wir schon daraus entnehmen , dass der griechische Name des Buches, um das es hier geht, Genesis , Geburt bedeutet, also dieselbe Bedeutung hat wie »toledot« (Geburten ). Das Buch Genesis und die Toledot- Formeln scheinen demnach zusammen zu gehören . Daher wollen wir einige Beobachtungen mitteilen , die uns helfen sollen , zum inneren Verständnis der Toledot- Struktur der Genesis vorzudringen . 2. Die Toledot-Formeln der Genesis 2.1. Zur Bedeutung des Wortes »toledot« Das hebräische »toledot« hat die Grundbedeutung »Zeugungen« (HAL 1566), denn es ist von »jalad« abgeleitet, das »gebären« oder »erzeugen« bedeutet (HAL 393). Uns interessiert der Sinn des Wortes »toledot« in den sogenannten Toledot-Formeln der Genesis. In den deutschen Bibeln ist »toledot« in Genesis 2,4 mit »Entstehungsgeschichte« (ELB)232 bzw. »Geschichte der Entstehung« (ZUR) übersetzt, in 5,1; 10,1; 11,10.27; 25,12; 36,1.9 mit »Generationenfolge« (ELB), »Nachkommen« (ZUR) bzw. »Geschlecht« (LUT) sowie in 6,9; 25,19; 37,2 mit »Generationenfolge« (ELB), »Geschichte von Noahs /Jakobs Geschlecht« (LUT) bzw. 232 Deutsche Bibelübersetzungen werden von mir mit drei Großbuchstaben bezeichnet. ELB : Die Elberfelder Bibel, revidierte Fassung 1985. ZUR: Zürcher Bibel 2007. LUT: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (revidierte Fassung von 1984). EIN: Die Einheitsübersetzung 1980. 234 T HOMAS NOACK »Geschichte« (ELB, ZUR). Die genaue Auswertung dieser Varianten lässt erkennen , dass Genesis 2,4 einen Sonderfall darstellt: Die Übersetzer verstehen »toledot« hier im Sinne von »Entstehungsgeschichte«; die Möglichkeit, »toledot« auch hier im Sinne von »Zeugungen« zu verstehen , wird nicht in Erwägung gezogen oder abgelehnt. Für das weitere Vorkommen der ToledotFormel ist entscheidend, ob auf sie ein Stammbaum bzw. eine Genealogie (5,1; 10,1; 11,10.27; 25,12; 36,1.9) oder eine Geschichte bzw. ein Erzählzusammenhang (6,9; 25,19; 37,2) folgt. Wenn ein Stammbaum folgt, dann ist Generationenfolge eine angemessene Übersetzung. Wenn dagegen eine Geschichte folgt, dann kann man »toledot« auch so übersetzen. Die Bedeutung des Wortes ist also aufgrund der Kontexte, in denen es verwendet wird, reich an Nuancen . Swedenborg wählte als Übersetzung für »toledot« überall »nativitates« (Geburten); bei seiner Neigung zu einer möglichst konkordanten233 Übersetzung als Grundlage für seine exegetische Arbeit ist das nicht weiter verwunderlich . Gleichzeitig war er sich aber auch bewusst, dass »toledot« je nach Kontext 234 besondere Bedeutungen annimmt. So sah er in den »Geburten der Himmel und der Erde« (Gen 2,4) »die Formungen (formationes) des himmlischen Menschen« (HG 89 ). Im »Buch der Geburten (sefär toledot)« (Gen 5,1) hingegen bezieht sich »toledot« auf die nachfolgende »Aufzählung (recensio)« (HG 470). Die Toledot- Formel zu Beginn der Sintfluterzählungen (Gen 6,9) leitet »die Beschreibung der Um- 233 Eine konkordante Übersetzung will nach Möglichkeit ein - und dasselbe Wort der Grundsprache durch ein - und dasselbe Wort in der Zielsprache wiedergeben. Außerdem sollen wurzelverwandte Wörter in der Grundsprache nach Möglichkeit durch wurzelverwandte Wörter in der Zielsprache wiedergegeben werden (so wird aus »’adam« und »’adama« bei Swedenborg »homo« und »humus«). Diese sehr weitgehende Konkordanz zwischen dem Grundtext und dem Übersetzungstext ist freilich (auch bei Swedenborg) nicht immer durchführbar. 234 Dass der Kontext den Sinn der Wörter, Satzteile und Sätze beeinflusst , gehört zu den von Swedenborg immer wieder vorgetragenen Erkenntnissen (siehe beispielsweise HG 270, 1318, 2816). S TREIFLICHTER 235 formung oder Wiedergeburt (reformationis 235 seu regenerationis) einer neuen Kirche« ein (HG 611). Oft gibt Swedenborg »Ableitungen (derivationes)« als Bedeutung von »toledot« an (HG 1145, 1330, 1360, 3263, 3279, 4641, 4646, 4668), manchmal auch »Ursprung und Ableitung (origo et derivatio)« (HG 1330, bzw. dasselbe in der Mehrzahl in HG 1360). »Im äußeren oder buchstäblichen Sinn sind Geburten die Zeugungen (generationes) des einen vom anderen (oder: die aufeinanderfolgenden Generationen)« (HG 1145). Allerdings folgt auf die Toledot-Formel nicht immer eine Genealogie, sondern manchmal eine Erzählung. Deswegen bedeutet die die Josefsgeschichte einleitende Toledot- Formel (Gen 37,2) einfach »das, was folgt (illa quae sequuntur)«, und Swedenborg merkt an: »Dass solches hier mit › Geburten‹ gemeint ist, geht auch daraus hervor, dass im Folgenden keine genealogischen Geburten (nativitates genealogicae) erwähnt werden, denn es ist die Rede von Josef, seinen Träumen, den Anschlägen seiner Brüder gegen ihn und seiner Wegführung nach Ägypten.« (HG 4668). Die Grundbedeutung von »toledot« ist Geburten, doch darf man das nicht zu eng verstehen. Wie die Grundfarbe eines Gegenstandes von der Umgebung verändert wird, vom Sonnenlicht und den Farben der anderen Gegenstände, so ist auch die Bedeutung eines Wortes vom Kontext abhängig. Die Toledot-Formel leitet Geburtenketten ein . Oft folgt auf diese Formel »nur« eine Genealogie, das heißt der biblische Erzähler belässt es beim Gerüst und füllt es nicht oder nur minimal mit Fleisch. Manchmal folgt aber auch eine Erzählung, die narrativ den Sinn der Namen entfaltet. Das ist dann das Fleisch oder die Botschaft der Genesis ; das hebr. Wort für Fleisch (bas'ar) hängt möglicherweise mit dem gleichlautenden Verb »bs'r« zusammen, das »Botschaft bringen« bedeutet. Für die Weisheit der Engel sind aber auch schon die Abfolgen der bloßen Namen in den Genealogien inhaltsreiche Geschichten. 235 Zu beachten ist, dass Swedenborg mit Bezug auf Gen 2,4 den Begriff »forma- tio« verwendet (HG 89), hier aber mit Bezug auf Gen 6,9 »reformatio« wählt. 236 T HOMAS NOACK 2.2. Die Gliederung der Genesis durch die Toledot-Formeln Die (we)’ellä- toledot-Formeln gliedern die Genesis.236 Sie begegnen uns in 2,4; 6,9; 10,1; 11,10.27; 25,12.19; 36,1.9 und 37,2. Das sind zehn Stellen. Sie lauten : »Das sind die Geburten der Himmel und der Erde« (2,4). »Das sind die Geburten Noahs« (6,9). »Und das sind die Geburten der Söhne Noahs, Sem, Cham und Japhet« (10,1). »Das sind die Geburten Sems« (11,10). »Und das sind die Geburten Terachs« (11,27). »Und das sind die Geburten Ismaels« (25,12). »Und das sind die Geburten Isaaks« (25,19). »Und das sind die Geburten Esaus , das ist Edom« (36,1). »Und das sind die Geburten Esaus , des Vaters von Edom« (36,9). »Das sind die Geburten Jakobs« (37,2). Außerdem begegnet uns in 5,1 die Formel : »Das ist das Buch der Geburten (sefär toledot) des Menschen«. Die Genesis beginnt nicht mit einer Toledot- Formel. Die erste derartige Formel erscheint erst in 2,4 . Sie ist – wie alle folgenden – als Überschrift zu verstehen.237 Entscheidend im Hinblick auf die Frage nach der Gliederung ist die Beobachtung, dass »’ellä toledot« (das sind die Geburten) viermal ohne das Bindewort »und« vorkommt, sechsmal hingegen mit diesem Bindewort.238 236 Siehe Thomas Hieke : »Die konsequente Beachtung der Toledot-Formel als Struktursignal und Leseanweisung erweist sie als wesentliches Gliederungsmerkmal des Buches Genesis.« (Die Genealogien der Genesis, 2003, Seite 241). 237 Ein Blick in die gängigen Bibelübersetzungen zeigt , dass Gen 2,4a ( das ist die erste Toledot-Formel) als Schluss der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,12,4a) verstanden wird ( siehe ELB, ZUR, LUT, EIN ). Swedenborg verstand sie jedoch also Überschrift (siehe »nunc« in HG 89). Zur Unterschrift wurde Gen 2,4a durch die historisch-kritischen Arbeiten seit dem 18. Jahrhundert . Als Charakteristikum der Priesterschrift musste Gen 2,4a dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht ( Gen 1,1-2,4a ) zugeschlagen werden. (Siehe: Thomas Hieke, Genealogien, 2003, Seite 47f.). 238 Ich schließe mich hier der Sehweise von Friedrich Weinreb an, für den das Fehlen oder Vorhandensein des unscheinbaren Wörtchens »und« entscheidend ist (Schöpfung im Wort: Die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung, 2002, Seite 138f.). Dass auch andere Gliederungen anhand der Toledot-Formeln möglich sind, entnehme ich Thomas Hieke (Die Genealogien der Genesis, 2003, Seite 242): Man kann von zehn Toledot-Abschnitten ausgehen. Oder man kann mit Konrad Schmid sagen: »Die Toledot-Struktur über- S TREIFLICHTER 237 Wo das »und« fehlt, liegt ein starker Einschnitt vor; wo es vorhanden ist, ein schwacher.239 Eine gesonderte Betrachtung erfordert die Formel in 5,1, die ebenfalls kein »und« hat, durch die Verwendung von »Buch« aber eine Formel sui generis ist. Daraus ergibt sich , dass die Genesis aus einem »Vorwort«240 (1,1-2,3) und vier Kapiteln (2,4 - 6,8; 6,9 -11,9; 11,10 -36,43; 37,150,26) besteht. Das Vorwort handelt von der Schöpfung und versteht sie als Voraussetzung der anschließenden Geburtenfolge. Das erste Kapitel reicht von der ersten ’ellä-toledot-Formel 2,4 bis 6,8. In diesem Kapitel steht nun aber die besondere ToledotFormel von 5,1: »Das ist das Buch der Geburten des Menschen«. In meinem Urteil über diese Auffälligkeit folge ich im Grundsatz Thomas Hieke, er schreibt: »Gen 5,1a dient als Titel und Themenangabe der gesamten Toledot-Struktur des Buches Genesis.« 241 Diese Einschätzung führt mich zu der Vorstellung einer zweifachen Gliederung der Genesis . Auf der einen Betrachtungsebene, die ich in diesem Aufsatz wähle, lässt man sich von den großen Einschnitten der ’ellä-toledot-Formeln leiten und gelangt zu der Gliederung: ein Vorwort und vier Kapitel (siehe oben). Auf der anderen Betrachtungsebene lässt man sich von der außerordentlichen Formel in 5,1 leiten und gelangt zu den zwei Teilen: Vorbericht (1,1- 4,26) und »das Buch der Geburten« (5,1- 50,26). Im Vorbericht geht es um Himmel und Erde (1,1; 2,4), zunächst um die Schöpfung von Himmel und Erde, dann um die Geburten zieht die Genesis in je einem Fünferschema für die Ur- wie für die Erzvätergeschichte.« (Erzväter und Exodus, 1999, Seite 265). F. H. Breukelman (Bijbelse Theologie I,2, 1992, Seite 14ff.) nimmt vier Hauptteile an: 5,1-11,26 (Adam), 11,27-25,11 (Terach), 25,12-35,29 (Ismael/Isaak), 36,1-50,26 (Esau /Jakob). 239 Swedenborg weist mehrfach auf die gliedernde Bedeutung bestimmter hebräischer Ausdrücke und des »und« hin (siehe HG 4987, 5578, 7191). 240 Diese Terminologie übernehme ich von Thomas Hieke, Genealogien , 2003, Seite 86. 241 Thomas Hieke, Genealogien , 2003, Seite 86. »Buch der Geburten« heißt in der Septuaginta »biblos geneseos«. Diese Wendung kommt im Alten Testament kein zweites Mal vor, aber das Neue Testament beginnt mit genau diesen Worten ( Mt 1,1). So stehen sich der erste Adam und der zweite Adam ( Jesus Christus) gegenüber. 238 T HOMAS NOACK von Himmel und Erde. Im anschließenden »Buch der Geburten« geht es dann um die menschlichen Geburten von Adam bis Jakob (Israel). Das sind 22 Generationen ; so viele Buchstaben hat auch das hebräische Alphabet. Wenn man für die Namen all dieser 22 Personen die entsprechenden Zahlen schreibt, dann ergibt das in der Summe genau 7000, wobei man für Abram Abraham und für Jakob Israel schreiben muss. Die 7000 ist die Sabbatzahl , das heißt in Israel kommt Gott zur Ruhe.242 Kehren wir nun aber zu der zuerst vorgeschlagenen Gliederung zurück. Das zweite Kapitel reicht von der zweiten ’ellä-toledotFormel 6,9 bis 11,9. Das dritte Kapitel reicht von der dritten ’ellätoledot-Formel 11,10 bis 36,43. Das vierte Kapitel beginnt mit 37,1 und endet – zumindest innerhalb der Genesis – mit 50,26. Zwei Probleme müssen hier erwähnt werden : 1. Die vierte ’ellätoledot-Formel steht erst in 37,2. Dennoch beginnt dieses Kapitel »nicht mit der Toledot-Formel, sondern mit einer Siedlungsnotiz, die als Äquivalent zu einer analogen Ortsangabe bei Esau (Gen 36,6-8) aufgefasst werden kann.«243 2. Da es keine fünfte ’ellä-toledot-Formel gibt, stellt sich die Frage nach dem Ende dieses Kapitels . Thomas Hieke lässt es mit dem letzten Vers der Genesis enden und begründet das mit dem dort geschilderten Tod Josefs.244 Friedrich Weinreb dagegen folgt der Geburtenkette ein wenig weiter, bis Mose (der Offenbarung am Sinai ) und gelangt auf dieser Grundlage zu interessanten Einsichten , die ich unten vorstellen werde. 242 Diese Entdeckung ist auf der Homepage von Rüdiger Heinzerling (www.ruediger-heinzerling.de) veröffentlicht (zuletzt besucht am 6.7.2008). 243 Thomas Hieke, Genealogien , 2003, Seite 192. 244 Siehe Thomas Hieke: »Zieht man in Analogie zu den bisherigen Toledot- Abschnitten die Todes- bzw. Begräbnisnotiz heran , so endet die Toledot Jakobs in Gen 49,33. Dazu sind jedoch die folgenden Beschreibungen des feierlichen Begräbnisses mit heranzuziehen (Gen 50). Eine strukturelle Ähnlichkeit ist bei der Toledot Terachs ( Gen 11,27-25,11) zu beobachten: Sie endet nicht mit der Todesnotiz Terachs (11,32), sondern mit dem Tod des Hauptprotagonisten Abraham (25,7-11). Somit ist auch hier das Ende der Toledot Jakobs mit dem Tod der Hauptperson Josef (50,26) erreicht.« (Die Genealogien der Genesis, 2003, Seite 192f.). S TREIFLICHTER 239 Innerhalb dieser vier Hauptkapitel sind die we’ellä-toledotFormeln (die Nebentoledotformeln ) zu finden , die mit dem Bindewort »und« (hebr. we) beginnen und somit keinen so großen Einschnitt markieren wie die ’ellä-toledot-Formeln (die Haupttoledotformeln ). Das erste Kapitel hat keine Nebentoledotformel . Im zweiten Kapitel steht in 10,1 »und das sind die Geburten der Söhne Noahs, Sem, Cham und Japhet«. Das dritte Kapitel weist die meisten Nebentoledotformeln auf. In 11,27 steht »und das sind die Geburten Terachs«, mit der die sog. Abrahamerzählungen (11,27-25,11) beginnen 245. Danach folgen zwei Nebentoledotformeln, in denen es um die beiden Söhne Abrahams geht. In 25,12 steht »und das sind die Geburten Ismaels«. Ismael war der Erste aufgrund der Geburt (der Erstgeborene). Und in 25,19 steht »und das sind die Geburten Isaaks«. Isaak war der Erste aufgrund der Bedeutung (der Sohn der Verheißung). Mit der Nebentoledotformel in 25,19 beginnen die Isaakerzählungen (25,19-35,29), man nennt sie auch gern »Jakobsgeschichte«. Wiederum schließen sich zwei (bzw. drei) Toledotformeln an , in denen es um die beiden Söhne geht, diesmal um die beiden Söhne Isaaks. Esau , der in den Nebentoledotformeln 36,1.9 genannt wird, war der Erste aufgrund der Geburt. Jakob hingegen , der in der Haupttoledotformel 37,2 genannt wird, war der Erste aufgrund der Bedeutung. Das vierte Toledot-Kapitel enthält innerhalb der Genesis keine Nebentoledotformeln . Erst in Numeri 3,1 steht »und das sind die Geburten Aarons und Moses«. Und in Ruth 4,18 steht »und das sind die Geburten des Perez«. 245 Aufgrund der einleitenden Toledotformel und auch aufgrund des Inhalts müsste man eigentlich von Teracherzählungen oder von der Familiengeschichte Terachs sprechen. Thomas Hieke geht auf das Problem einer scheinbar fehlenden Toledot-Formel mit Abram bzw. Abraham ein , die man in 12,1 erwarten könnte, und stellt in diesem Zusammenhang fest: »Dieser Abschnitt [12,1-25,11] enthält auch die Nachkommen Lots, des Sohnes Harans (Gen 19,30-38), und die Nachkommen Nahors (Gen 22,20-24 mit Hinweis auf Rebekka, die in Gen 24 eine wichtige Rolle spielt). Somit umfasst Gen 12,1-25,11 nicht nur die Abrahamgeschichten, sondern auch die Geschichte von Nahor und Lot ben Haran, also die Geschichten aller Nachfahren Terachs.« (Die Genealogien der Genesis, 2003, Seite 125f.) 240 T HOMAS NOACK Die folgende Übersicht fasst das Gesagte zusammen und veranschaulicht auf diese Weise die anhand der Toledotformeln gewonnene Gliederung der Genesis: 1,1-2,3 2,4-6,8 6,9-11,9 11,10-36,43 37,1-? Vorwort: Die Schöpfung von Himmel und Erde Erstes Toledot-Kapitel: Die Geburten der Himmel und der Erde 2,4-4,26 Die Geburten der Himmel und der Erde bringen den Menschen hervor. 5,1-6,8 Das Buch der Geburten des Menschen Zweites Toledot-Kapitel: Die Geburten Noahs 6,9-9,29 Die Sintflut und der Bund mit Noah 10,1-11,9 Die Söhne Noahs oder die Völker Drittes Toledot-Kapitel: Die Geburten Sems 11,10-26 Stammbaum Sems 11,27-25,11 Die Geschichte Terachs (»Abrahamgeschichten«) 25,12-18 Stammbaum Ismaels 25,19-35,29 Die Geschichte Isaaks (»Jakob-EsauGeschichten«) 36,1-8.9-43 Zwei Stammbäume Esaus Viertes Toledot-Kapitel: Die Geburten Jakobs 37,1-50,26 Die Geschichte Jakobs (»Josefgeschichte«) Die Gliederung der Genesis mit Hilfe der Toledot-Formeln lässt die Frage aufkommen , wie sich diese Gliederung zu der üblichen verhält, die zum Beispiel dem Kommentar von Horst Seebass zugrunde liegt. Demnach sind die »Urgeschichte« (1,1-11,26), die »Vätergeschichte« (11,27-36,43) und die »Josephsgeschichte« (37,1-50,26) zu unterscheiden. Geht man noch eine Stufe weiter nach unten , dann ergibt sich die folgende Gliederung: 1. Die Urgeschichte (1,1-11,26). 2. Die Vätergeschichte unterteilt in : 2.1. Der Abraham-Zyklus (11,27-25,11), 2.2. Zwischentext: Die Ismaeliten (25,12-18), 2.3. Der Isaak-Zyklus (25,19-35,29), 2.4. Zwischentext: Esau /Edom, seine Gruppierungen und frühen Könige (36,1-43). 3. Die Josephsgeschichte unterteilt in : 3.1. Der Jakob/Israel-Zyklus (37,1- 50,14), 3.2. Schluss der Genesis: Die Söhne Israels (50,15-26). Man kann die Toledot- und die klassi- S TREIFLICHTER 241 sche Gliederung zur Deckung bringen . Das Vorwort und die ersten beiden Toledot-Kapitel heißen in der klassischen Gliederung »Urgeschichte«, wobei man dann allerdings sagen muss, dass die Urgeschichte mit dem Turmbau zu Babel (11,1-9) endet. Das dritte Toledot-Kapitel beinhaltet die »Vätergeschichte«, die allerdings schon mit dem Stammbaum Sems beginnt. Es geht hier also um die semitische Linie. Das vierte Toledot-Kapitel beinhaltet die »Josephsgeschichte«. 2.3. Die Einzeichnung der Generationen in das Toledot-Schema Da »toledot« »Generationenfolge« (ELB) bedeutet, liegt es nahe, den vier Toledot-Kapiteln die zu ihnen gehörenden Generationen zuzuordnen . Das ist nicht ganz einfach , aber Friedrich Weinreb hat hierzu einen interessanten Vorschlag gemacht. Ihm zufolge decken die vier Kapitel die Generationen »bis zur Offenbarung am Sinai«246, das heißt bis Mose ab. Das Ende des vierten Toledot- Kapitels lässt sich wie gesagt nicht einfach durch das Auftreten einer fünften ’ellä-toledot-Formel bestimmen , denn diese gibt es nicht. Thomas Hieke nahm daher als alternatives Kriterium den Tod der Hauptperson Josef in Gen 50,26 an.247 Friedrich Weinreb hingegen macht einen anderen Vorschlag, indem er die Geschichte bis zur Offenbarung des Jahwenamens am Sinai (siehe Ex 6,3) als das Thema benennt, das durch die vier ToledotKapitel abgedeckt wird. Unter dieser Voraussetzung muss er nun zeigen , wie sich die 26 Geschlechter von Adam bis Mose möglichst ungezwungen auf die vier Kapitel verteilen . Die Namen dieser 26 Generationen sind die folgenden : Adam , Set, Enosch , Kenan , Mahalalel , Jered, Henoch , Metuschelach , Lamech , Noah , Sem , Arpachschad, Schelach , Eber, Peleg, Regu , Serug, Nahor, Terach , Abram (Abraham), Isaak , Jakob (Israel), Levi , Kehat, Amram , Mose. Die Aufteilung dieser 26 Namen auf die vier Kapitel erfolgt im wesentlichen über die Stammbäume, die für die einzelnen Kapi246 Friedrich Weinreb, Schöpfung im Wort, 2002, Seite 143. 247 Thomas Hieke, Genealogien , 2003, Seite 192f. 242 T HOMAS NOACK tel zentral sind. Für das erste Toledot- Kapitel (2,4 - 6,8 ) ist das der Stammbaum in Gen 5. Er reicht von Adam bis Noah und umfasst somit 10 Generationen.248 Für das zweite Toledot-Kapitel (6,9 - 11,9 ) ist das der Stammbaum Sems in Gen 10,21-31. Er reicht von Sem bis Peleg und umfasst somit 5 Generationen . Für das dritte Toledot-Kapitel (11,10 -37,1) muss man von dem Stammbaum in Gen 11,10 -27 ausgehen. Er beginnt erneut mit Sem und endet (wenn wir uns wie im Falle von Gen 5 entscheiden) mit Terach. Eine erste Schwierigkeit an dieser Stelle besteht in der Überschneidung mit dem vorher genannten Stammbaum Gen 10,21-31. Weinreb zählt die dort bereits genannten Personen hier nicht noch einmal und erhält somit aus dem Stammbaum für das dritte Toledot- Kapitel 4 Namen (Regu , Serug, Nahor, Terach). Doch es taucht noch eine zweite Schwierigkeit auf, die sofort sichtbar wird, wenn wir uns den Stammbaum betrachten , der für das vierte Toledot- Kapitel (ab 37,2) herangezogen werden muss , nämlich der Stammbaum Levis in Ex 6,16-27. Ihm entnehmen wir die 4 Generationen von Levi bis Mose. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die drei Erzväter Abram, Isaak und Jakob in den vier hier maßgeblichen Stammbäumen nicht vorkommen , so dass zu fragen ist: Wer gehört zum dritten und wer zum vierten Kapitel ? Weinreb schlägt Abram und Isaak zum dritten und Jakob zum vierten Kapitel , so dass das dritte Kapitel 6 Generationen und das vierte 5 Generationen umfasst. Gegen insbesondere die Zuordnung Jakobs zum vierten Kapitel kann man einwenden , dass – zumindest nach der üblichen Sprechweise – das dritte Toledot-Kapitel die Vätergeschichten , das heißt die Geschichten von Abram, Isaak und Jakob erzählt. Jakob müsste demnach zum dritten Kapitel gehören. Andererseits könnte das aber auch ein Missverständnis sein , denn die sogenannte Josefsgeschichte beginnt bekanntlich mit den Worten : »Dies ist die Geschichte Jakobs« (37,2 ZUR). Wenn wir also Wein- 248 Man kann einwenden , dass dieser Stammbaum auch die Söhne Noahs und somit auch Sem nennt . Berücksichtigt werden jedoch nur die Personen, die im Stammbaum als zeugend aufgeführt werden. S TREIFLICHTER 243 reb folgen wollen , dann werden die 26 Generationen von Adam (Mensch) bis Mose (das Wort) durch die vier Toledot- Kapitel in 10-5-6-5 Generationen strukturiert. Setzt man für diese Zahlen die entsprechenden hebräischen Buchstaben ein249, dann liest man JHWH (Jahwe). In der Geschlechterfolge ist also von Anfang an Jahwe enthalten oder wirksam (Jahwe taucht in der hebräischen Bibel erstmals in Gen 2,4 auf) und drängt zu seiner Offenbarung durch Mose, der den Herrn in seiner Offenbarung durch das Wort darstellt (vgl. HG 6752 ).250 3. Zur Interpretation des Toledot-Gerüstes 3.1. Vier Epochen der alttestamentlichen Kultgemeinde Die vier großen Toledot-Kapitel werden mit den folgenden Formeln eingeleitet: 1. »Das sind die Geburten der Himmel und der Erde« (2,4), 2. »Das sind die Geburten Noahs« (6,9), 3. »Das sind die Geburten Sems« (11,10) und 4. »Das sind die Geburten Jakobs« (37,2). Welche Ordnung liegt diesen vier Namen zugrunde? Die Zahl Vier deutet auf eine Zerlegung in Zwei mal Zwei. Es ist zu vermuten , dass die Kapitel eins und zwei ein gemeinsames Thema haben und dass auch die Kapitel drei und vier ein gemeinsames haben. Und tatsächlich werden die ersten beiden Kapitel oft unter dem Stichwort »Urgeschichte« zu einer Einheit verbunden , und die Kapitel drei und vier thematisieren die Vorgeschichte Israels im engeren Sinne. Mit Swedenborg, das heißt durch die Sensibilisierung für den inneren Sinn , können wir 249 Nach Friedrich Weinreb sind die hebräischen Buchstaben »in erster Linie Zahlen« ( Schöpfung im Wort, 2002, Seite 69). 250 Auf der Grundlage dieser Deutung kommt Weinreb zu einer interessanten Erklärung der Überschneidungen der Generationen im dritten ToledotKapitel mit dem zweiten , mit dem es Sem, Arpachschad, Schelach, Eber und Peleg gemeinsam hat. Das dritte Kapitel entspricht dem Verbindungsbuchstaben Waw, der »und« bedeutet, daher bindet es das vorhergehende Kapitel ein (siehe Schöpfung im Wort, 2002, Seite 145). Man kann Weinrebs Gedanken noch weiterführen. Denn die Zuordnung Jakobs zu den Kapiteln drei oder vier stellt ein Problem dar. Jakob wird im dritten geboren, sein ToledotKapitel ist aber das vierte. Somit integriert das dritte auch den Kopf des vierten Kapitels. 244 T HOMAS NOACK außerdem erkennen , dass es ist den ersten beiden Kapiteln um die Schöpfung oder um die grundlegende Ordnung (den Kosmos) geht. Das erste Kapitel behandelt die erste oder die Urschöpfung aus der Hand Gottes. Das zweite Kapitel behandelt die zweite oder die Neuschöpfung aus der Hand Noahs , das heißt die Arche, die mit Mensch und Tier gefüllt ebenfalls ein Schöpfungsraum ist. Es waltet hier dasselbe Verhältnis wie im Falle der zweimaligen Anfertigung der Gebotstafeln . Die ersten wurden von Jahwe gemacht, die zweiten von Mose (HG 10603). In den Kapiteln drei und vier rückt dann in der nachsintflutlichen (geschichtlichen) Welt für den biblischen Erzähler die semitische Linie in den Mittelpunkt und ihre Fokussierung auf Israel. Mit Swedenborg kann man in den vier Kapiteln vier Epochen der Kultgemeinde des alten Bundes (vor der Menschwerdung Jahwes ) erkennen. Das erste Toledot- Kapitel (2,4 - 6,8) beschreibt demnach die »Urkirche« oder »älteste Kirche« (Swedenborgs »ecclesia antiquissima«) (HG 89, 1330), die bei Swedenborg auch »himmlischer Mensch« heißt (HG 199). Die einleitende ToledotFormel dieses Kapitels (2,4 ) nennt »Himmel« und »Erde« als Vater und Mutter der ersten irdischen Form (’adam von ’adama) einer Gottesvergegenwärtigung auf unserer Erde. Dieser Merismus 251 ist für viele Deutungen offen. Von Swedenborg haben wir gelernt, dass der Himmel den inneren Menschen und die Erde den äußeren meint (HG 89 ). Man kann darin aber auch den Gegensatz von Geist und Materie (Transzendenz und Stofflichkeit) erblicken. Adam , der geistbegabte Erdling, entwickelte sich genau am Ort des Zusammenstoßes dieser Gegensätze, die eigentlich voreinander fliehen wollen. Die Urkirche war der Sabbat (der Ruhetag) des Geistes in der Materie, dargestellt durch den Garten Eden. Das zweite Toledot- Kapitel (6,9 -11,9 ) beschreibt die »alte Kirche« (Swedenborgs »ecclesia antiqua«) oder – wie wir heute sa251 Der Merismus ist ein Stilmittel der biblischen Lyrik , der eine Gesamtheit durch zwei gegensätzliche Begriffe ausdrückt . So bezeichnen »Himmel und Erde« den Kosmos (das geordnete Weltganze). S TREIFLICHTER 245 gen – die Religionen des alten Vorderen Orients. Während die Urkirche in der Sprache der Bibel »Adam« (Mensch) hieß , erhielt die zweite geistige Großmacht, die gleichzeitig die erste geschichtlich fassbare ist, den Namen »Noah« (Trost, 5,29), denn in den Überlieferungen dieser »Kirche«, die ein Erbe der Urkirche waren , fand die Menschheit Trost angesichts des Verlustes der ursprünglichen Gemeinschaft mit Gott. In den Schrift- und Kultbildern näherte man sich dem Unsagbaren und gelangte so zu einer tiefen Weisheit. Doch am Ende schwand der Geist und zurück blieb eine große Verwirrung (Gen 11,1-9 ). Interessant ist, dass es in der berühmten Turmbaugeschichte, die das Ende dieser Kirche markiert, heißt: »so wollen wir uns einen Namen machen« (11,4 ). »Name« heißt auf Hebräisch »schem«; das ist gleichzeitig der Name des Sohnes Noahs , der über dem dritten Toledot- Kapitel (11,10 - 37,1) steht. Denn mit »’ellä toledot schem« (das sind die Geburten Sems) beginnt in 11,10 dieses dritte Kapitel . Was im geistestollen Endzustand der alten Kirche nicht gelang, nämlich eine die Zeiten überdauernde Bedeutung zu erlangen , das sollte nun in der dritten Epoche Wirklichkeit werden , und zwar durch den Auszug Abrams aus Ur in Chaldäa; Chaldäa meint »einen Kult, in dem innen nichts Wahres vorhanden ist« (HG 1368 ). Die einleitende Toledot- Formel (11,10 ) nennt jedoch keinen der Erzväter, sondern Sem , der nach 10,21 »der Vater aller Söhne Ebers (der Stammvater der Hebräer)« ist. Daher heißt diese Kultgemeinde »die zweite alte Kirche (alterius ecclesiae antiquae)« (HG 1329) oder »die hebräische Kirche (eccelesia hebraea)« (HG 1850). Sie war die Brücke zwischen der ursprünglichen altorientalischen Weisheit und Israel. Das vierte Toledot- Kapitel (ab 37,1) ist nach Jakob benannt und thematisiert das Werden der Kultgemeinde Israels . Sie wird von Swedenborg die dritte alte Kirche genannt (HG 1285, 1330). Sie war nur noch »die (äußere) Darstellung einer Kirche (Ecclesiae repraesentativum), aber nicht mehr eine darstellende Kirche (Ecclesia repraesentativa)« (HG 4844). Der Unterschied ist sprachlich nicht groß, aber inhaltlich um so größer, denn: »Eine darstel- 246 T HOMAS NOACK lende Kirche liegt vor, wenn ein innerer Gottesdienst im äußeren vorhanden ist; die Darstellung einer Kirche hingegen ist gegeben, wenn kein innerer, sondern nur noch ein äußerer Gottesdienst da ist.« (HG 4288). 3.2. Die Botschaft von Eins plus Vier Die Gliederung der Genesis auf der Grundlage der ’ellä- toledotFormeln führte zu dem Ergebnis , dass dieses erste Buch der Bibel aus einem Vorwort und vier Kapiteln besteht. Die Eins -VierStruktur wiederholt sich im Pentateuch (in den 5 Büchern Mose), denn er besteht aus der Genesis und den vier Gesetzesbüchern. Dass die Genesis ein Vorwort ist, kann man damit begründen , dass es in diesem Buch das Volk Israel, Mose und das Gesetz noch nicht gibt. Die Eins - Vier- Struktur zeigt sich auch im Neuen Testament, denn vor den vier Evangelien steht der fleischgewordene Logos , der gewissermaßen die Genesis oder der Geburtsgrund der vier Evangelien ist. Man kann auch auf die Szene am Kreuz hinweisen , die von dem Untergewand und den vier Teilen der Kleider Jesu berichtet (Joh 19,23f.; Deutung in OE 64, HG 9093). In allen diesen Beispielen steht die Eins für das Innere (den Kern ) und die Vier für das dementsprechende Äußere. So steht die Entfaltung des ursprünglichen Gottesimpulses in Geburten (die Genesis ) vor dem Gesetz . So steht der lebendige Logos vor dem Zeugnis über ihn in den Evangelien . So steht die innere Wahrheit (das Untergewand Jesu) vor ihrer geschichtlichen Ausgestaltung (die vier Teile). Und so steht nun auch innerhalb der Genesis das »In principio« (bereschit) von Gen 1,1 vor den vier großen Toledot der Geburtenkette. Es geht auch hier, in diesem Vorwort, um das geistige Prinzip , das seiner Ausprägung in den vier Geburtenlinien zugrunde liegt. Friedrich Weinreb verdanken wir weitere Beobachtungen. Adam , das hebräische Wort für Mensch , besteht aus den Zahlen 1- 4 - 40 (Aleph - Daleth - Mem). Die Verbindung von 1 und 4 (die 40 ist die 4 auf einer anderen Ebene) ist also die Wesensformel für den Menschen . Das hebräische Wort für Wahrheit »’ämät« besteht aus den Zahlen 1- 40 -400 (Aleph - Mem - Taw). Es beruht somit S TREIFLICHTER 247 ebenfalls auf der 1- 4 -Struktur. Mensch und Wahrheit (oder Glaube) sind also ganz eng miteinander verwandt. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch kann überhaupt nur Mensch sein als ein Glaubender, als einer der »’ämät«, die geistigen Grundlagen der kosmischen Ordnung, verwirklicht. Entfernt man aus den 1- 4 Formeln die 1 (das Aleph), dann bleibt im Falle des Menschen 4 40 übrig, das ist das hebräische Wort für Blut, und im Falle der Wahrheit bleibt 40 - 400 übrig, das ist das hebräische Wort für Tod. Ohne die göttliche Eins bleibt also von den hohen Gebilden Mensch und Wahrheit nur das Stoffliche zurück, das biologische Leben und der Buchstabe, der tötet, nachdem der Geist entwichen ist. Das schärft unsere Augen noch einmal dafür, dass die vier Geburtenfolgen der Genesis nichts wären ohne den Schöpfungsbericht (Gen 1) und den Ruhetag (Gen 2,1-3). In Genesis 1 ist das folgende Toledot- Geschehen bereits angelegt, aber noch nicht ausgesprochen . Das drückt sich in der hebräischen Bibel darin aus, dass Genesis 1 (ohne den Ruhetag Gen 2,1-3 ) aus genau 434 Worten besteht. Das ist exakt der Zahlenwert für den Singular (die Eins ) von »toledot«, also »toled« (400-30-4).252 Noch weitere Beobachtungen verdanken wir Weinreb, der jüdischen Weinrebe, die in unvergleichlicher Weise aus der Überlieferung (Kabbala) schöpfte. In Genesis 2 ist mehrmals , teils offensichtlich , teils weniger offensichtlich , das Zahlenverhältnis 14 enthalten . Zu Adam (1-4-40) ist das Wesentliche schon gesagt worden . Doch auch der geheimnisvolle »Dunst« (2,6), welcher der Formung des Adam aus dem Staub der Adama (1- 4- 40 -5) vorausgeht, besteht genau aus den Zahlen 1- 4. Er erweist sich damit als die Urgestalt der 1- 4-Bauweise. Die Zahlensumme des Baumes des Lebens (233 ) verhält sich zur Zahlensumme des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen (932 ) wie 1 zu 4. Und natürlich muss man auch den einen Fluss nennen , der sich in vier Hauptarme teilt.253 Zwischen dem Menschen und den 252 Friedrich Weinreb, Schöpfung im Wort, 2002, Seite 140. 253 Die Zahlen der Namen der vier Flüsse ergeben die Summe 1345 , welche die Quersumme 4 hat . 248 T HOMAS NOACK wesentlichen Elementen seiner Umgebung besteht sonach eine eigentümliche Entsprechung.254 Die Eins bezeichnet das Göttliche. Die Vier hingegen steht für das Weltliche bzw. die totale Verwirklichung eines Prinzips in der Welt. Somit ist die Vier eine Ganzheitszahl , was sich auch darin zeigt, dass die Summe der Zahlen von Eins bis Vier Zehn oder das Ganze ergibt. Viele Beispiele belegen , dass wir die Ganzheit in vier Aspekten erfahren . So erschließt sich uns die Ganzheit des Raumes durch die vier Himmelsrichtungen und die Ganzheit der Zeit in den vier Tages - und Jahreszeiten . Die Ganzheit der Welt bildete sich für die alten Weisen aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Ganzheit des leiblichen Mikrokosmos lässt sich auf einen genetischen Code (DNA ) zurückführen , in dem es vier Basen gibt: Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin . Und die Ganzheit des seelischen Mikrokosmos wird oft in einer vierfaltigen Typenlehre erfasst. Bekannt sie die vier Temperamente Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker oder Carl Gustav Jungs Typologie ebenfalls basierend auf der Vier. Nach Swedenborg hat Vier die Bedeutung von »conjunctio« (Verbindung, HG 5313, 9493). Vier ist die Verdopplung der Urdualität des Guten und Wahren , die »die Universalien der Schöpfung« (EL 85) sind. Die Verdopplung resultiert aus dem Mischcharakter der Welt, in der Göttliches und Widergöttliches im Streit liegen . Dementsprechend müssen nicht nur das Gute und Wahre, sondern auch die Pole Wärme und Kälte auf der einen und Licht und Finsternis auf der anderen Seite unterschieden werden . Das 1 - 4 - Prinzip deutet auf die Einsenkung der göttlichen oder transzendenten Eins in die materielle Weltwirklichkeit hin . »Gott ist der eigentliche Mensch« (GLW 11), sagt Swedenborg. Daher streben alle Formen zur menschlichen Form hin und sind um so vollkommener, je näher sie dieser Urform aller 254 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist ferner, dass sowohl die Er- schaffung des Menschen in Vers 7 als auch die Erschaffung der Frau in den Versen 21b bis 22a in 16 Wörtern geschildert werden. In beiden Fällen ist also die Zahl 4 das bestimmende Prinzip. S TREIFLICHTER 249 Formen kommen . Die Bibel ist offenbar auf eine sehr tiefsinnige Weise ein Bild dieser Urform. 3.3. Die Erstgeburt und die erwählte Geburt Nicht immer ist der Erstgeborene auch der erwählte Sohn der Verheißung. Swedenborg prägte aus der ihm eigenen Fähigkeit, komplexe Sachverhalte auf einfache Formeln zu bringen , die diesen Unterschied beschreibenden Begriffe »primum tempore« (das Erste im Hinblick auf die Zeit) und »primum fine« (das Erste im Hinblick auf das angestrebte Ziel oder den Zweck ). So schreibt er: »Der Glaube, unter dem man auch das Wahre versteht, ist zwar das Erste der Zeit nach (primum tempore), die Liebe (charitas ) aber, unter der man auch das Gute versteht, ist es dem Endzweck nach (primum fine). Dieses Erste im Hinblick auf das Ziel (primum fine) ist in Wahrheit das Erste, das Erstrangige (primarium ) und somit auch der Erstgeborene. Was nur zeitlich das Erste ist, das ist nicht in Wahrheit das Erste, sondern nur dem Anschein nach.« (WCR 336; vgl. auch EO 17 ). Das also ist die Ordnung des Geistes . Diese grundlegende Erkenntnis Swedenborgs eröffnet uns das Verständnis einer Merkwürdigkeit in den Geburtensträngen der Genesis. Denn weder Isaak , noch Jakob (Israel ) waren die Erstgeborenen . Der Erstgeborene Abrams war Ismael , und der Erstgeborene Isaaks war Esau . Doch die Verheißung verwirklichte sich über die zweite Geburt. Die Zurücksetzung der zeitlich ersten Geburt können wir auch anhand von Kain , dem Erstgeborenen Adams , anhand von Ruben , dem Erstgeborenen Jakobs und anhand von Manasse, dem Erstgeborenen Josefs beobachten . So ist es auch in der Entwicklung jedes Menschen. Seine erste Geburt ist die natürliche. Seine zweite Geburt aber ist die geistige Wiedergeburt (regeneratio). Die erste Geburt scheint die allein bedeutsame zu sein ; viele Zeitgenossen werden die Rede von einer Wiedergeburt für ein Pfaffenmärchen halten , dem keinerlei Bedeutung beizumessen ist. Und doch ist die zweite Geburt die wesentliche. Sie will sich aber scheinbar nicht ereignen , weswegen man das Gerede von ihr mit einem gewissen Recht in 250 T HOMAS NOACK Frage stellt. Dem entspricht in den Geburtenerzählungen der Genesis die Unfruchtbarkeit der Erzmütter. Sarah , die Frau Abrahams , Rebekka, die Frau Isaaks , Rachel , die geliebte Frau Jakobs, sie alle waren unfruchtbar. Die Geburt ihrer Söhne, durch die sich das göttliche Geistwirken entfalten sollte, stand auf Messers Schneide. Isaak , der erste der unmöglichen Söhne, wäre beinahe gar nicht geboren worden und später beinahe getötet worden , sein Name findet sich in keinem Stammbaum . Wir können daraus entnehmen , dass sich die Wiedergeburt beinahe gar nicht ereignet. Und doch erzählt die Bibel , dass das Unmögliche oder äußerst Unwahrscheinliche immer wieder geschieht. Das ist ein großer Trost für die pilgernde Kirche, die oftmals nahe daran ist, die Hoffnung aufzugeben. Doch im Lichte der Bibel ist es sehr wahrscheinlich , dass das Unwahrscheinliche passiert. All das erzählen die Toledot- Geschichten der Genesis , wenn man auf ihren geistigen Sinn achtet. In den Toledot- Abschnitten spiegelt sich das Recht der Natur und das Recht des Geistes. Denn (zeitlich) zuerst werden immer die Stammbäume der Erstgeborenen genannt, der Stammbaum Ismaels (25,12-18) und derjenige Esaus (36,1-8.9-43). Erst an zweiter Stelle stehen die Toledot Isaaks (25,19 - 35,29) und Jakobs (37,1 - 50,26). Aber diese Geschichten von Isaak und Jakob sind die bedeutsamen , auf denen das gesamte Gewicht des biblischen Erzählers liegt. So sind die Zweiten also auch im Erzählduktus der Genesis die Ersten , und die scheinbar Ersten haben das Nachsehen . 4. Dem Weisen genügt wenig »Sapienti pauca sufficiunt« (dem Weisen genügt wenig)255, lautet ein Sprichwort. Dem Engel genügen die Namen in den Genealogien, sie erkennen in ihnen die Fülle göttlicher Gedanken . Denn der Name ist der Ausdruck des Wesens einer Sache. Gott müsste also nicht viele Worte machen , die Genealogien würden ausreichen . Sie sind das Herzstück der Genesis. Doch für alle, die noch 255 Paulinus von Aquileia , Exhort. 30 (226 B). Alcuin., Ep. 82 (125,24). 136 (210,8). 154 (249,17). 155 (251,6). S TREIFLICHTER 251 nicht in die »Sapientia angelica« (die Weisheit der Engel ) eingeweiht worden sind, hat der göttliche Geist einige zusätzliche Geschichten gegeben , an die sich der Schüler der Gottesweisheit üben kann. 252 T HOMAS NOACK Textkritik und neukirchliche Exegese 1. Welchen Urtext soll die neue Kirche auslegen ? Swedenborg enthüllte den inneren Sinn des Wortes auf der Grundlage von Urtextausgaben der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments , die in der Zwischenzeit durch bessere ersetzt worden sind. Swedenborg legte daher zuweilen einen Text aus , der gar nicht der Urtext war. Die neue Kirche sollte bei ihrer Exegese von den wissenschaftlichen Grundtextausgaben von heute ausgehen . Sie sollte sich einen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen ihnen und den von Swedenborg benutzten verschaffen und seine Schriftauslegung gegebenenfalls korrigieren . Die Umstellung der neukirchlichen Exegese auf die heutigen Grundtextausgaben könnte als Angriff auf den Offenbarungscharakter der Schriften Swedenborgs aufgefasst werden . Denn was bedeutet es , wenn der erleuchtete Swedenborg einen geistigen Sinn in einer Bibelstelle entdeckte, die so gar nicht im Urtext stand? Doch fundamentalistische Abschottung gegenüber den Erkenntnissen der Textkritik ist nicht die richtige Antwort und entspricht auch nicht der Arbeitsweise Swedenborgs , der auf der Suche nach Weisheit immer auch die Empirie (experientia) einbezog. Was ich im Folgenden am Beispiel des textkritischen Problems veranschaulichen möchte, ist Teil einer umfassenderen Aufgabe. Im Grunde genommen geht es darum , die neukirchliche Exegese in allen Bereichen an den Kenntnisstand unserer Zeit heranzuführen . 2. Swedenborgs Bibeln und die Urtextausgaben von heute Swedenborg besaß mehrere hebräische Bibeln und griechische Neue Testamente, das heißt mehrere Urtextausgaben . Außerdem besaß er mehrere lateinische Übersetzungen der Bibel .256 Bei der 256 Swedenborgs »hebräische Bibeln waren: Bib. Heb. cum interpret. Pagnini et Montani (1657); Bib. Heb. Punctata cum Nov. Test. Graec. ed. Manasse Ben Israel (1639); Bib. Heb. cum vers. Lat. Schmidii (1740); Bib. Heb. cura Reinecii (1739). Über das zuletzt genannte Werk schreibt C. F. Nordenskjöld S TREIFLICHTER 253 Beurteilung seiner Bibeln ist es ratsam , die hebräische Bibel und das Neue Testament getrennt zu betrachten . Die hebräischen Bibeln Swedenborgs und unserer Zeit enthalten den masoretischen Text. Wir gehen also im Prinzip heute von demselben Text aus wie Swedenborg. Der masoretische Text wurde aus uns nicht mehr bekannten Quellen um 100 nach Christus (nach der Katastrophe des Jahres 70 nach Christus) zusammengestellt. Seit dieser Zeit dürfen wir mit einem ziemlich konstanten Konsonantentext rechnen. Die Punktation (Vokalisierung) und Akzentuation ist hingegen das erst im Laufe des 9. /10. Jahrhunderts erreichte Ergebnis jahrhundertelanger Studien, Versuche und Vorarbeiten . Swedenborg würdigte die Masoreten als Instrument der göttlichen Vorsehung zur bis in die Einzelheiten der Buchstaben hinein unveränderten Bewahrung des Textes der hebräischen Bibel (siehe LS 13, De Verbo 4). Die von Swedenborg viel benutzte Biblia Hebraica von Christian Reineccius enthielt den Text der Antwerpener Polyglotte (1569 1572). 257 Bereits 1901 hatte Rudolf Kittel (1853 - 1929) auf »die Notwendigkeit und Möglichkeit« einer neuen hebräischen Bibel hingewiesen .258 Den ersten beiden Auflagen seiner Biblia Hebrai( New Jerusalem Magazine 1790, Seite 87): ›Swedenborgs Exemplar dieses Werks ist mit Bemerkungen und mit lateinischen Übersetzungen mehrerer hebräischer Wörter angefüllt , wie auch mit einigen Beobachtungen zum inneren Sinn. Das Buch ist viel benutzt. Ich füge es der Sammlung von Manuskripten hinzu.‹« ( Alfred Acton, An Introduction to the Word Exlained, 1927, Seite 125f.). Der griechische Text des NT war Swedenborg u. a. in Gestalt der griechischen und lateinischen Ausgabe des Neuen Testaments von Johann Leusden, Amsterdam 1741 zugänglich. Von seinen lateinischen Übersetzungen der Bibel ( Vulgata 1647; Castellio 1726 und 1738; Tremellius und Junius 1596 und 1632; Schmidius 1697) bevorzugte er die des Straßburger Theologen Sebastian Schmidt. Meine Quellen sind Alfred Acton (s.o.) und das Dokument »Swedenborg's library« (siehe www.swedenborg.org oder The New Philosophy, January 1969). 257 Ich konnte bisher nicht abklären , auf welcher Grundlage der hebräische Text der Antwerpener Polyglotte erstellt wurde . Zum allgemein anerkannten Text wurde die zweite Rabbinerbibel von Jakob ben Chajim ( Bombergiana), die 1524/25 erschien. 258 In seiner Programmschrift »Über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Ausgabe der hebräischen Bibel. Studien und Erwägungen« (1901) 254 T HOMAS NOACK ca lag noch der Text der zweiten Rabbinerbibel von Jakob ben Chajim zu Grunde. Die Textbasis der dritten Auflage von 1929 war jedoch erstmals der Codex Leningradensis259 aus dem Jahre 1008 nach Christus , der die älteste vollständig erhaltene Handschrift des masoretischen Textes ist. In dieser Tradition steht auch die gegenwärtige Urtextausgabe, die Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS ). Und auch die Biblia Hebraica Quinta (BHQ), die bis 2010 vollständig vorliegen und dann an die Stelle der BHS treten soll , wird den Codex Leningradensis abdrucken . Der Unterschied zwischen der BHS und den hebräischen Bibeln Swedenborgs besteht weniger im Text als vielmehr in seiner Darbietung in Verbindung mit einem textkritischen Apparat. Er befindet sich am Ende jeder Seite der BHS und verzeichnet vom Codex Leningradensis abweichende Lesarten . Swedenborg konnte in seiner Biblia Hebraica von Everardus von der Hooght (1740) zwar schon am Ende Variantenverzeichnisse260 finden , die ersten wirklich kritischen Ausgaben erschienen aber erst nach seinem Tod. Zu nennen sind die Ausgabe von Benjamin Kennicott (1718 - 1783) 261 und die Variantensammlung von Giovanni hatte er dargelegt, dass eine von augenscheinlichen Irrtümern, Schreibfehlern und Verstößen aller Art »kritisch gereinigte Ausgabe des hebräischen Bibeltextes ein Bedürfnis für Schule, Universität und Privatstudium« sei (Seite 2f.). 259 Der Codex Leningradensis (oder Codex Petropolitanus) wurde im Jahre 1008 nach Christus in Kairo als Abschrift des Textes des Aaron Ben Mosche Ben Ascher geschrieben. Er ist die älteste vollständig erhaltene Handschrift der hebräischen Bibel in der Originalsprache. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts befindet er sich in Sankt Petersburg in der Russischen Nationalbibliothek. 260 Am Ende der »Biblia Hebraica secundum Editionem Belgicam Everardi van der Hooght …« (1740) konnte Swedenborg die folgenden zwei Verzeichnisse finden: »Eigentümliche Besonderheiten im Text der Ausgaben von ( Joseph ) Athias, ( Daniel) Bomberg, (Christoph) Plantin und anderer. Beobachtet von Everardus van der Hooght (Praecipua diversitas lectionis inter editiones Athiae, Bombergi, Plantini, et Aliorum. Observata ab Everardo van der Hooght)«. »Die verschiedenen Lesarten , die am Rand notiert , wegen Platzmangel aber weggelassen wurden , sind hier nun gesondert angefügt worden, aus den heiligen Büchern (Variantes lectiones notatae in Marginae ob spatii angustiam omissae, separatim hic subjunctae sunt, ex Hagiographis)«. 261 »Benjamin Kennicott … veranstaltete eine umfangreiche und bis heute ge- S TREIFLICHTER 255 Bernardo de Rossi (1742 - 1831)262. Allerdings darf man die Bedeutung dieser gelehrten Arbeiten nicht überschätzen. Mit Ernst Würthwein ist festzuhalten: »Der wirkliche Ertrag für die Herstellung des ursprünglichen Textes ist bei beiden Variantensammlungen sehr gering … Es fehlt … an wirklich bedeutsamen Sinnvarianten …« 263 Solche tauchen erst da auf, wo man beispielsweise mittels des samaritanischen Pentateuchs , der Funde von Qumran oder der Septuaginta Einblicke in die vormasoretische Gestalt des Textes erhalten kann . Sehr viel anders ist die Situation im Neuen Testament. Swedenborg arbeitete auf der Grundlage des Textus receptus . Was heißt das ? Die erste griechisch - lateinische Ausgabe des Neuen Testaments wurde 1516 von Erasmus von Rotterdam (1466 od. '69 bis 1536 ) veröffentlicht (Novum Instrumentum omne, Basel 1516 ). Ihr lagen Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts zu Grunde, die den byzantinischen Reichstext (auch Mehrheitstext genannt) enthielten , das heißt »den spätesten und schlechtesten der verschiedenen Textformen, in denen das Neue Testament überliefert ist«264. Auch die nachfolgenden Herausgeber eines griechischen Neuen Testaments blieben bei diesem Text. Für ihn wurde die Bezeichnung »Textus receptus « gebräuchlich, seitdem ihn die Buchdrucker Bonaventura und Abraham Elzevier 1633 mit den folgenden Worten anpriesen: »Du hast hier einen Text in der Hand, der von allen angenommen ist und in dem nichts ver- brauchte Variantensammlung: Vetus Testamentum Hebraicum cum variis lectionibus, 2 Bände, Oxford 1776-1780 … In dem umfangreichen Apparat werden Abweichungen von über 600 hebräischen Handschriften, 52 Ausgaben und 16 samaritanischen Kodizes notiert, soweit sie den Konsonantentext betreffen.« (Ernst Würthwein, Der Text des Alten Testaments, 1988, Seite 48). 262 »Keine Ausgabe, sondern lediglich eine Variantensammlung ist das Werk von J. B. de Rossi. Es bietet ausgewählte und wichtigere Lesarten aus 1475 Handschriften und Ausgaben«. Der Titel: »Variae Lectiones Veteris Testamenti, ex immensa MSS …«, 4 Bände, Parma (1784/88). (Ernst Würthwein, Der Text des Alten Testaments, 1988, Seite 49). 263 Ernst Würthwein, Der Text des Alten Testaments, 1988, Seite 49. 264 Kurt und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, 1982, Seite 14. T HOMAS NOACK 256 ändert oder verdorben wiedergegeben wird (Textum ergo habes , nunc ab omnibus receptum : in quo nihil immutatum aut corruptum damus)«. Dieser Textus receptus (von allen angenommene Text) wurde erst im 19. Jahrhundert durch einen besseren ersetzt. Gleichwohl hätte Swedenborg beispielsweise für seine Auslegungen der Apokalypse kritischere Editionen des griechischen Neuen Testaments heranziehen können , nämlich die von Johann Albrecht Bengel (1687 - 1752) aus dem Jahr 1734 oder die zweibändige von Johann Jakob Wettstein (1693 - 1754) aus den Jahren 1751 und '52. Sie druckten zwar noch den Textus receptus ab, wiesen aber auf unterschiedliche Lesarten in den Handschriften hin . Heute arbeitet die Exegese mit der 27. Auflage des Novum Testamentum Graece, herausgegeben von Nestle und Aland (NA27). Für den darin abgedruckten Text hat sich die Bezeichnung »Standardtext« eingebürgert. Im Unterschied zum Alten Testament wird keine bestimmte Handschrift abgedruckt, sondern eine Rekonstruktion oder Annäherung an den Urtext. Sie wurde von einem Komitee auf der Grundlage der vorhandenen Handschriften geschaffen. Dieser Komiteetext weicht an vielen Stellen vom alten Textus receptus ab. 3. Swedenborgs »wissenschaftliche« Arbeitsweise Jakob Böhme verglich das ihn überwältigende Offenbarungsgeschehen mehrmals mit einem »Platzregen«: »Was der trifft, das trifft er.«265 Demgegenüber war Swedenborg keineswegs ein von der Sturmgewalt des Geistes Getriebener. Auch als Erleuchteter blieb er der methodisch vorgehende Gelehrte. Die äußerliche Aneignung von Kenntnissen und das innere Licht verbanden sich bei ihm in seltener Einmütigkeit. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit bereitete er sich auf seinen Beruf als Offenbarer des geistigen Sinnes über mehrere Jahre hinweg vor. Schon als Student in Uppsala hatte er Hebräisch 265 Jakob Böhme, Theosophische Sendbriefe, hrsg. von Gerhard Wehr, 1996, 12. Sendbrief, Absatz 10. S TREIFLICHTER 257 gelernt, nun , nach der Berufungsvision von 1745 vollendete er seine Kenntnisse dieser Sprache, bevor er 1748 mit der Arbeit an den Himmlischen Geheimnissen begann . So war er in der Lage, den inneren Sinn auf der Grundlage des Urtextes zu enthüllen .266 Außerdem erstellte er zwischen 1746 und 1748 Bibelindizes , die sechs Kodizes füllen . Diese umfangreiche Konkordanz war, wie Rudolph Leonhard Tafel bemerkte, »die Fundgrube, die Swedenborg für Bibelstellen bei der Ausarbeitung seiner theologischen Werken heranzog, die er von 1747 bis 1771 schrieb und veröffentlichte.« 267 Ferner studierte er »Werke, die den buchstäblichen Sinn in Bezug auf historische, geographische und ähnliche Details dieser Art klärten.« 268 Obwohl die Urtextausgaben Swedenborgs noch keinen textkritischen Apparat hatten , gibt es immerhin wenigstens eine Stelle in seinen exegetischen Werken , die textkritischer Natur ist. In EO 95 heißt es : »Die Worte › du aber bist reich (dives tamen es)‹ 266 In EO 707 bezieht er sich zur Klärung des Wortsinns auch einmal auf die arabische Sprache. 267 Rudolph Leonhard Tafel, Documents concerning the Life and Charakter of Emanuel Swedenborg, Band 3, London 1890, Seite 969. 268 Alfred Acton, An Introduction to the Word Explained, Bryn Athyn 1927, Seite 125. Acton nennt auf Seite 125 die folgenden Werke: »Wir sollten hier erwähnen , dass zu den in Swedenborgs Bibliothek vorhandenen Büchern die folgenden gehörten: ›Palestina Illustrata‹ von Adrian Relandus (Norimb. 1716), ein Werk über die Geographie des heiligen Landes, das nach den Worten eines sachkundigen Kritikers nie überholt sein wird; Brugensis. ›Loca Insig. Correctionis in Bib. Latinis‹ (1657); Löwe, ›Speculum Religionis Judaicae‹ (1732); und eine anonyme Abhandlung mit dem Titel ›Conformité des Coûtumes des Indiens au Celles des Juifs‹ (1704) … Swedenborgs Bibliothek beinhaltete auch die folgenden hebräischen Bücher: Buxtorf, ›Lexicon Chaldaicum et Talmudicum‹ (1639), ein Werk mit einer großen Fülle von Informationen über die jüdische Tradition; Robertson, ›Thesaurus Linguae Sanctae‹ (London 1680), das sowohl ein Lexikon als auch eine Konkordanz ist; Stockius ›Clavis Linguae Sanctae Veteris Testamenti‹ (1744); Alberti, ›Lex Heb.‹ (1704); Tarnovius, ›Grammat. Heb. Biblica‹ (1712).« Auf Seite 120 weist Acton auf bestimmte »Bemerkungen« hin. »Sie legen es nahe, dass Swedenborg mit dem Studium der Kirchengeschichte begann. Unter den Büchern, die sich in seiner Bibliothek zum Zeitpunkt seines Todes befanden, war Mosheim's ›Institutionum Historiae Ecclesiasticae.‹, Helmst. 1764.« 258 T HOMAS NOACK werden noch hinzugefügt, aber in Klammern , weil sie nämlich in einigen Handschriften (codicibus ) fehlen.« Diese Mitteilung bezieht sich wahrscheinlich auf die zweisprachige (griechische und lateinische) Ausgabe des Neuen Testaments von Johann Leusden aus dem Jahr 1741 , die Swedenborg benutzte. Denn dort stehen im 9. Vers des 2. Kapitels der Apokalypse tatsächlich die griechischen Worte »plousios de ei« und die lateinischen »sed dives es« in Klammern . Swedenborg macht hier also (nach seinem Verständnis ) eine textkritische Beobachtung.269 Beobachtungen und Überlegungen dieser Art führen mich zu der Überzeugung, dass Swedenborg die textkritischen Möglichkeiten der modernen Urtextausgaben vollumfänglich in seine Urteilsbildung einbezogen hätte. 4. Der etwas andere Urtext Was bisher nur allgemein dargestellt wurde, soll nun an einigen Beispielen veranschaulicht werden . Da ich im Folgenden ausschließlich auf Unterschiede zwischen dem heutigen Urtext und demjenigen Swedenborgs hinweise, sei zuvor versichert, dass dennoch die Gemeinsamkeiten bei weitem überwiegen. Das gilt vor allem für das Alte Testament, aber in hohem Maße auch für das Neue, zumal die meisten Varianten den Sinn kaum verändern . In der hebräischen Bibel stößt man auf wirklich bedeutsame Varianten nur, wenn man sich vom masoretischen Text in begründeten Einzelfällen löst. Weil ich aber in dieser Hinsicht noch kaum Untersuchungen angestellt habe, verzichte ich auf Beispiele. Nur eine Ausnahme sei gestattet. In Jesaja 7,11 sind die Konsonanten Schin - Aleph - Lamed- He im masoretischen Text so 269 Aus dem Apparat von NA27 geht jedoch hervor, dass »plousios ei« in keiner Handschrift fehlt. Die Analyse der Verwendung der Klammern bei Johannes Leusden zeigt, dass sie keine textkritische Funktion haben , sondern der syntaktischen Gliederung dienen. Was in Klammern steht kann beim ersten Lesen ausgeblendet werden, um den größeren Zusammenhang besser erfassen zu können. In der Offenbarung tauchen Klammern noch einmal in 17,8 auf. S TREIFLICHTER 259 punktiert (vokalisiert), dass das hebräische Wort für Bitte (scheala) zu lesen ist. Aus dem textkritischen Apparat der BHS ist jedoch zu entnehmen , dass in drei sehr alten griechischen Übersetzungen Hades (Unterwelt) zu finden ist. Demnach lasen die Übersetzer im Grundtext das hebräische Wort für Totenwelt (scheola), das sich aus einer etwas anderen Vokalisation der oben genannten Konsonanten ergibt. Interessant ist nun , dass Swedenborg zu Jesaja 7,11 schrieb: König Ahas wurde die Wahl gelassen , ob er das Zeichen »aus dem Himmel oder aus der Hölle (ex inferno) haben wollte« (OE 706). Swedenborg schloss sich demnach wohl der Lesart Totenwelt (scheola) an. Er entschied sich also gegen die Punktation (Vokalisation ) der Masoreten . Entscheidungen gegen die Punktation fallen leichter als solche gegen den Konsonantentext. Im Neuen Testament gibt es mehr Beispiele für größere Unterschiede, weil der Textus receptus durch den Standardtext von NA27 ersetzt wurde. Ich habe drei Stellen aus der Apokalypse ausgewählt, weil sie von Swedenborg ausgelegt wurde und ich sie eingehender studiert habe. Offb 8,13 lautet nach der Enthüllten Offenbarung von Swedenborg: »Und ich sah und hörte einen Engel , der in der Mitte des Himmels flog und mit lauter Stimme sagte: Wehe, wehe, wehe denen , die auf der Erde wohnen , wegen der übrigen Stimmen der Posaune der drei Engel , die noch blasen werden (Et vidi et audivi unum Angelum volantem in medio Caeli, dicentem voce magna, Vae, vae, vae habitantibus super terra ex reliquis vocibus tubae trium Angelorum futurorum clangere).« Offb 8,13 nach NA27: »Und ich sah und hörte einen Adler (henos aetou), der in der Mitte des Himmels flog und mit lauter Stimme sagte: Wehe, wehe, wehe denen , die auf der Erde wohnen , wegen der übrigen Stimmen der Posaune der drei Engel , die noch blasen werden.« Im Urtext stand »Adler«; der »Engel« ist vermutlich durch die ähnliche Stelle Offb 14,6 in 8,13 hineingekommen . Nach Swedenborg bedeutet der im Urtext nicht vorhandene Engel von 8,13 im höchsten Sinne den Herrn und von daher auch »etwas vom Herrn Ausgehendes (aliquid a Domino)« (EO 415). Und was er- 260 T HOMAS NOACK gibt sich, wenn man den im Urtext tatsächlich vorhandenen Adler im Hinblick auf den inneren Sinn auslegt? Swedenborg schreibt im Zusammenhang seiner Auslegung von Offb 4,7: »›Fliegende Adler‹ bedeuten Erkenntnisse (cognitiones), aus denen sich das Verständnis (intellectus ) bildet, denn wenn sie fliegen , dann erkennen und sehen sie. Sie haben nämlich scharfe Augen , so dass sie Gegenstände genau betrachten können ; und die Augen deuten auf das Verständnis.« (EO 244). Obwohl ein Adler etwas anderes ist als ein Engel , ändert sich interessanterweise am inneren Sinn nicht viel . Denn nach wie vor geht es um »etwas (aliquid) vom Herrn Ausgehendes«. Das unbestimmte Etwas bekommt durch die ursprüngliche Lesart allerdings einen genau bestimmten Inhalt. Das vom Herrn Ausgehende ist seine alle Zeiten durchdringende Sehkraft oder Erkenntnis (siehe »vorhersagen« in EO 415). Die ursprüngliche Lesart passt demnach bestens zu dem Sinn , den Swedenborg trotz des minderwertigen Textes erkennen konnte. Ich will nicht behaupten , dass das immer so ist, aber der tiefere Sinn muss jedenfalls nicht zwangsläufig durch die Unebenheiten in der Überlieferung unzugänglich werden. Auch das folgende Beispiel zeigt, wie derselbe Geist verschiedene Kleider tragen kann , ohne dass er dadurch ein anderer wird. Offb 22,14 lautet nach der Enthüllten Offenbarung von Swedenborg: »Selig, die seine Gebote halten, damit ihre Macht im Baum des Lebens ist und sie durch die Tore in die Stadt eingehen (Beati facientes mandata Ipsius, ut sit potestas illorum in Arbore vitae, et portis ingrediantur in Urbem ).« Offb 22,14 nach NA27: »Selig, die ihre Gewänder waschen (hoi plynontes tas stolas auton), damit ihre Macht im Baum des Lebens ist und sie durch die Tore in die Stadt eingehen.« Im Urtext stand »Gewänder« statt »Gebote«. Obwohl sich die Lesarten deutlich unterscheiden , ändert sich am inneren Sinn nichts , denn Gewänder bezeichnen Wahres (EO 328 ). Es hat fast den Anschein , als sei die Variante »Gebote« die Ersetzung des Bildes (Gewänder) durch die Sache (Gebote). Offb 22,19 lautet nach der Enthüllten Offenbarung von Swedenborg: »Und wenn jemand von den Worten des Buches dieser S TREIFLICHTER 261 Weissagung (etwas) wegnimmt, so wird Gott seinen Teil wegnehmen von dem Buch des Lebens und aus der heiligen Stadt und von dem, was in diesem Buch geschrieben steht. (Et si quis abstulerit e verbis Libri prophetiae hujus , auferet Deus partem ejus e Libro vitae, et ex Urbe sancta, et scriptis in Libro hoc).« Offb 22,19 nach NA27 : »Und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung (etwas) wegnimmt, so wird Gott seinen Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens und aus der heiligen Stadt und von dem, was in diesem Buch geschrieben steht.« Statt »Buch des Lebens« stand im Urtext »Baum des Lebens«. Nach NA27 ist »Buch des Lebens« in keiner einzigen griechischen Handschrift zu finden . Aus dem Apparat meiner Handausgabe der Vulgata (1994) geht aber hervor, dass in einigen lateinischen Kodizes »libro« (Buch ) statt »ligno« (Holz oder Baum) steht. Man vermutet, dass »libro« als Schreibfehler aus »ligno« entstanden ist. Aber wie kam der lateinische Schreibfehler in das griechische Neue Testament Swedenborgs ? Als Erasmus von Rotterdam 1515 und 1516 an seinem griechischen Neuen Testament arbeitete hatte er für die Offenbarung nur eine einzige griechische Handschrift zur Verfügung, die er von seinem Freund Johannes Reuchlin geliehen hatte, weil er in Basel keine griechische Handschrift der Offenbarung auftreiben konnte. Dieser Handschrift fehlte das letzte Blatt mit den letzten fünfeinhalb Versen (Offb 22,16b-21). Da Erasmus der erste sein wollte, der ein griechisches Neues Testament herausgab und er wusste, dass in Spanien ebenfalls an einer Ausgabe des Neuen Testaments gearbeitet wurde, nahm er sich nicht die Zeit eine andere griechische Handschrift zu besorgen, sondern behalf sich mit einer Rückübersetzung des fehlenden Textes aus der lateinischen Bibel. Swedenborg hatte von dem an sich unverantwortlichen Verfahren des Humanistenfürsten offenbar keine Kenntnis . Die kühne Tat des Erasmus hat noch ein merkwürdiges Nachleben in der deutschen Übersetzung der Enthüllten Offenbarung. Obwohl im lateinischen Originaltext der Apokalypsis Revelata im 19. Vers des 22. Kapitels der Offenbarung eindeutig »e Libro vitae« (aus dem Buch des Lebens) steht, finden wir bei Immanuel 262 T HOMAS NOACK Tafel in der Übersetzung des Bibeltextes »vom Baum des Lebens«. Und in der Auslegung des 19. Verses in EO 958 finden wir, was die Verwirrung komplett macht, sowohl »Baum« als auch »Buch«, obwohl im lateinischen Originaltext immer nur »Liber« (Buch) steht. Dieses Durcheinander ist schon in der Ausgabe von 1831 vorhanden und hat sich bis heute (Ausgabe von 2004) erhalten . An einigen Stellen wurden Abweichungen vom Urtext im Textus receptus erkannt, die trinitätstheologisch von Bedeutung sind. Da die Neugestaltung der Trinitätslehre die Grundlage der neukirchlichen Theologie ist, möchte ich auf diese Unterschiede zwischen NA27 und dem von Swedenborg benutzten Textus receptus abschließend hinweisen . Der interessanteste Fall dürfte das sogenannte Comma Johanneum sein : 1 Joh 5,7f. lautete in Swedenborgs NT von Leusden 1741 noch so: »7. Denn drei sind die Bezeugenden im Himmel : der Vater, das Wort und der Heilige Geist , und diese drei sind eins. 8. Und drei sind die Bezeugenden auf Erden : der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind auf das eine (hin).« Diese Verse aus dem 1. Johannesbrief wurden mit einer deutlich erkennbaren Absicht manipuliert, denn im Urtext standen nur die folgenden Worte: »7. Denn drei sind die Bezeugenden , 8. der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind auf das eine (hin).« Der Einschub sollte die nizänische Trinitätslehre im NT verankern . Er taucht erstmals in einer Schrift des Spaniers Priscillian (gest. 385/6) auf. Er findet sich in keiner lateinischen Handschrift vor dem 6. Jahrhundert und in keiner griechischen vor dem 14. Jahrhundert.270 1592 wurde er in die Sixto- Clementina (Vulgata) aufgenommen . Ab der dritten Auflage von 1552 stand das Comma Johanneum auch im Neuen Testament des Erasmus von Rotterdam . Swedenborg zitierte den Einschub ahnungslos in WCR 164 . In Joh 1,18 fand Swedenborg »der einziggeborene Sohn « vor. NA27 hat jedoch (der) »einziggeborene Gott«. Der ursprüngliche Text unterstützt die swedenborgsche Ablehnung der nizänischen Vorstellung eines Sohnes von Ewigkeit her. Im Prolog des Johan270 Georg Strecker, Die Johannesbriefe, Göttingen 1989, Seite 280. S TREIFLICHTER 263 nesevangeliums ist nur vom Logos und von Gott die Rede. Von einem Sohn ist dort nirgends die Rede. Die Identifikation des Logos mit dem Sohn vollzogen erst die Logostheologen . Sie trugen damit die Vorstellung einer zweiten göttlichen Person in die Präexistenz hinein und schufen so die Konstellation für das Dogma des 4. Jahrhunderts . 5. Die Weiterentwicklung der neukirchlichen Exegese Die Heranführung der neukirchlichen Exegese an den Kenntnisstand unserer Zeit sollte nicht als Angriff auf den Offenbarungscharakter der Schriften Swedenborgs aufgefasst werden . Paulus gab uns das Bild vom »Schatz in irdenen Gefäßen « (2 Kor 4,7). Und auch Swedenborg verwendete es , indem er schrieb: »Das erworbene Wissen (scientifica) und die Erkenntnisse (cognitiones ) sind nicht das Wahre oder die Wahrheiten, sondern nur die aufnehmenden Gefäße (vasa recipientia)« (HG 1469 ). Aussagen dieser Art zeigen uns , dass wir zwischen der historisch bedingten Ausdrucksform einer Wahrheitserfassung und dem darin wirksamen Geist unterscheiden dürfen . Damit ist uns die Möglichkeit gegeben , die historischen Bedingtheiten der »scientifica« und »cognitiones« Swedenborgs zu untersuchen . Außerdem ist damit der neuen Kirche die Freiheit gegeben , Gefäße zu entwerfen , die dem 21. Jahrhundert angehören . Die neukirchliche Exegese sollte im Interesse ihrer ureigensten Weiterentwicklung die Erkenntnisse der historischen Bibelwissenschaft einbeziehen. Sie muss dabei nicht alle Wege und Irrwege dieser Forschungsrichtung wiederholen. Sie sollte im Gegenteil ihren eigenen Weg finden , aber sie darf sich dem Wissen unserer Zeit nicht verschließen. Die neukirchliche Exegese sollte sich ihr Proprium, nämlich die Suche nach einem geistigen Sinn, bewahren. Sie sollte der Auflösung in einen reinen Historismus widerstehen. Aber diese Eigenart kann sie sich auch in der Hinwendung zum Besten der historischen Forschung bewahren. In diesem Sinne plädiere ich dafür, das Zeitalter der Swedenborgorthodoxie zu beenden und ein »Swedenborgupdate« zu entwickeln . T HOMAS NOACK 264 Sanctorum communio Ein ekklesiologischer Entwurf im Geiste Swedenborgs 1. Thema Kirche »Gemeinschaft der Heiligen« ist ein Kerngedanke der Ekklesiologie der Reformation und Emanuel Swedenborgs. Deswegen wollen wir unter dieser Überschrift unsere Kirchenlehre im Geiste des schwedischen Theologen entwickeln. Dieser schätzte das Apostolische Glaubensbekenntnis sehr. Daher glaubte er an die »sanctam ecclesiam catholicam«. Je nach Konfession sind unterschiedliche Übersetzungen im Gebrauch. Römisch-katholische Christen bekennen »die heilige katholische Kirche«, lutherische »die heilige christliche Kirche« und reformierte »die heilige allgemeine christliche Kirche«. Unmittelbar auf »sanctam ecclesiam catholicam« folgt »sanctorum communionem«. Das ist eine nachträgliche Einfügung in den Text, die sich zuerst um 400 bei Bischof Niketas von Remesiana in Serbien nachweisen läßt. Diese Formel hatte von Anfang an einen doppelten Sinn. Einerseits bezeichnete sie die Kirche als »Gemeinschaft der Heiligen«. Andererseits gab es schon früh und besonders im ostkirchlichen Sprachgebrauch eine Deutung des Genitivs als »Gemeinschaft am Heiligen«. Dabei war vor allem an die Teilhabe an der Eucharistie gedacht. Dieser Gedanke trat jedoch im lateinischen Mittelalter, in der Reformation und daher auch bei Swedenborg hinter der personalen Deutung zurück.271 Bei Swedenborg entdecken wir zahlreiche Bausteine zu einer Lehre von der Kirche, aber noch keine umfassende Gesamtdarstellung. In der wahren christlichen Religion, dem Hauptwerk, das im Titel immerhin ankündigt, die gesamte Theologie der neuen Kirche zu enthalten272, finden wir kein Kapitel über die Kirche. Nur die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl werden 271 Siehe Wolfhart Pannenberg, STh 3,117f. 272 Der vollständige Titel der WCR lautet: »Vera christiana religio continens universam theologiam novae ecclesiae …« S TREIFLICHTER 265 behandelt. In dem kleinen Werk über das neue Jerusalem hingegen ist ein Kapitelchen über die Kirche vorhanden. Daher können wir sagen: Die Lehre von der Kirche ist bei Swedenborg zumindest ein Thema, wenngleich ihre systematische Ausarbeitung noch in den Anfängen steckt. Dieser Befund entspricht dem Stand der theologischen Reflexion im 18. Jahrhundert. Denn als Swedenborg einige Gedanken über die Kirche niederschrieb, hatte die Betrachtung dieses Gegenstandes noch keine lange Geschichte. Zwar gab es schon in den Werken der Kirchenväter vielerlei Einzelaussagen über die Kirche, aber »erst im 15. Jahrhundert, also im Zeitalter des Konziliarismus und nach den Erfahrungen des abendländischen Schismas mit der Gefangenschaft der Päpste in Avignon, entstanden selbständige Traktate über den Kirchenbegriff.« (STh 3,34). Daher waren die reformatorischen Ansätze zur Ekklesiologie im 16. Jahrhundert noch sehr jung. Sie gaben den Anstoß dafür, »daß auch in der katholischen Kontroverstheologie der Kirchenbegriff zum Thema der Auseinandersetzung wurde.« (STh 3,34). Doch erst seit dem 19. Jahrhundert gibt es auf katholischer Seite Lehrdokumente, »die über einzelne Aspekte hinaus ein Gesamtbild von Kirche entwerfen«273. Und in unserer Zeit kann das Thema Kirche sogar als das zentrale, theologische angesehen werden, jedenfalls insofern das allseitige, ökumenische Bedürfnis zum intensiven Nachdenken über das Wesen und die Gestalt der Kirche anregt. Der evangelische Dogmengeschichtler Bernhard Lohse meinte: »Kein Zweifel … besteht, daß die Einheit der Kirche heute in ähnlicher Weise das zentrale Thema der Kirchen- und Dogmengeschichte ist, wie es in vergangenen Epochen die Trinitätslehre, die Christologie oder die Sünden- und Gnadenlehre oder auch die Frage der Rechtfertigung des Menschen war.«274 Unser ekklesiologischer Entwurf aus einer swedenborgschen Perspektive knüpft wie sich zeigen wird an reformatorische Grundsatz273 Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik: Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg 2003, Seite 572. 274 Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, 1986, Seite 238. 266 T HOMAS NOACK entscheidungen an und steht somit dem Kirchenverständnis der Reformation näher als dem des Katholizismus. 2. Die »basileia tou theou« des irdischen Jesus Das Zentrum der Verkündigung Jesu war die »basileia tou theou« 275, die Königsherrschaft oder das Königreich Gottes (»basileia« bedeutet beides). Die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft knüpfte an vorhandene Vorstellungen und Erwartungen an, sprengte aber gleichzeitig ihren allzu beschränkten Rahmen. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. ist Jahwe in Israel als König Israels und der himmlischen Mächte angerufen worden (Jes 6,5). Davon zeugt auch der Ruf »Jahwe malak« (»Jahwe ist König geworden« oder »Jahwe (und kein anderer) ist König«) der Jahwe-König-Hymnen276. Vom 6. Jahrhundert v. Chr. an wird angesichts der von Israel erlittenen geschichtlichen Katastrophen und der sich darin scheinbar dokumentierenden Schwäche seines Gottes der Anbruch der uneingeschränkten Gottesherrschaft mehr und mehr zum Ausdruck israelitischer Zukunftserwartung (Jes 52,7-9). Im Judentum der Zeit Jesu war die Hoffnung auf die Herrschaft Jahwes im Tempelkult und in der synagogalen Liturgie allgegenwärtig.277 Jesus kleidete also seine Botschaft, indem er die »basileia tou theou« verkündigte, in eine seit Jahrhunderten geprägte Sprache ein. Gleichzeitig stieß er aber auch die Überwindung allzu engsinniger, mit ihr verbundener Konnotationen an; zu nennen sind die veräußerlichte Thoraobservanz und die politischen Erlösungsphantasien278. 275 »Will man das Zentrum der Verkündigung Jesu mit einem einzigen Aus- druck beschreiben, muß man von Gottes Herrschaft (basileia tou theou) reden.« (Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 67). »Basileia tou theou« und »ton ouranon« (pl. der Himmel) sind im wesentlichen gleichwertig, weil die Juden für »theos« neben anderen Umschreibungen auch »ouranos« brauchten. 276 Das sind die Psalmen 47, 93, 96, 97, 98, 99. 277 Zum Gesagten siehe Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 68 - 70. 278 Eine schöne Illustration finden wir bei Jakob Lorber: »Die gute Maria und Meine ganze irdische Verwandtschaft stellte sich unter dem Messias auch S TREIFLICHTER 267 Das Besondere der Verkündigung Jesu war das, was er schon in seiner Antrittspredigt in der Synagoge von Nazareth zum Ausdruck brachte: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.« (Lk 4,21). In Jesus von Nazareth wurde die Zukunft oder die eschatologische Erwartung Gegenwart. Auf zwei Basileiaworte sei in diesem Zusammenhang besonders hingewiesen. Jesus sagte: »Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja (dadurch) die Herrschaft Gottes (schon) zu euch hingelangt.« (Lk 11,20). Dass also in Jesus jemand in der Welt oder in der Finsternis da war, der die bösen Geister beherrschen und austreiben konnte, genau das war das für jedermann erkennbare Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft. Jesu Werk machte aus der erwarteten Zukunft aktuelle Gegenwart. Ebenfalls im Lukasevangelium ist die Antwort Jesu auf die Frage überliefert: »Wann kommt die Herrschaft (oder das Reich) Gottes?« »Die Herrschaft Gottes kommt nicht mit Beobachtung (in äußerlich sichtbarer Weise). Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist sie! oder: Dort ist sie! Denn siehe, die Herrschaft Gottes ist (schon) mitten unter euch.« (Lk 17,20f.). Die Exegese hält die Übersetzung »mitten unter uns« für die richtige, und sie passt ja auch gut zu Lk 4,21 und 11,20. Wiederum wird gesagt, »daß die Gottesherrschaft bereits in Jesus selbst und dem, was sich um ihn herum begibt, gegenwärtig wird«279. Jesus spiritualisierte die Erwartung der Gottesherrschaft. Er erlöste sein Volk nicht von der verhaßten Fremdbeherrschung durch die Römer, dafür erlöste er die an ihn Glaubenden aber von den Dämonen in ihnen. Swedenborg setzte Jesu Gottesreich mit der Kirche gleich, und Lukas 17,21 (»entos hymon estin«) deutete er in dem Sinne, dass noch gleichfort einen Besieger der Römer und anderer Feinde des gelobten Landes vor; ja, die Besten hatten von dem verheißenen Messias nahe dieselbe Vorstellung, wie in dieser Zeit viele aus der Zahl sonst ehrenhafter Menschen sich eine ganz verkehrte Vorstellung vom Tausendjährigen Reiche machen. Aber es war noch nicht an der Zeit, ihnen eine andere Vorstellung zu geben.« (GEJ 1,10,3) 279 Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 71. 268 T HOMAS NOACK dieses Reich im Menschen ist: »Unter ›Reich Gottes‹ versteht man im allgemeinen Sinne den gesamten Himmel, im weniger allgemeinen die wahre Kirche des Herrn und im besonderen jeden, der einen wahren Glauben hat bzw. durch ein Leben des Glaubens wiedergeboren ist. Deswegen heißt er auch ›Himmel‹, weil in ihm der Himmel ist, sodann ›Reich Gottes‹, weil in ihm das Reich Gottes ist. Das lehrt der Herr selbst bei Lukas 17,20f.« (HG 29).280 Swedenborg zitiert anschließend die Stelle und übersetzt den uns interessierenden Teil so: »regnum Dei intra vos est«. Das muss nach den vorangegangenen Ausführungen mit Luther wie folgt übersetzt werden: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch«. Diese Lesart begegnet uns auch in den Offenbarungen durch Jakob Lorber (siehe GEJ 8,18,4; 9,67,20). Für sie kann man das Argument anführen, dass die »basileia tou theou«, wenn sie nicht »unter Beobachtung (auf äußerlich sichtbare Weise)« kommt, auch keine äußerlich sichtbare, sondern nur eine innerlich erfahrbare Wirklichkeit sein kann, die allerdings im irdischen Jesus schon einmal mitten unter uns war, ihre vollkommene Verwirklichung aber gleichwohl erst in der neuen Schöpfung finden wird. Swedenborg identifiziert also Reich Gottes und Kirche (siehe oben HG 29, WCR 572). Doch angesichts des von ihm ebenfalls geäußerten Urteils, dass die ursprüngliche, christliche oder apostolische Kirche vollständig untergegangen ist (WCR 378), kann die Gleichsetzung jedenfalls nicht die Kirchen betreffen, die Geschichte gemacht haben. Die Identitätsaussage ist vielmehr idealtypischer Natur, das heißt sie ist auf das Wesen der Kirche zu beziehen. Bezogen auf die Wirklichkeit der Kirchen kann sie hingegen nur die Bestimmung sein, die den Kirchen zugrunde liegt, aber immer wieder auch zur Wahrnehmung der Differenz zwischen der Gottesherrschaft und dem Ort ihrer angeblichen Verwirklichung Anlaß gibt.281 Die Bestimmung der Kirche ist es, der 280 Ebenso WCR 572: »Unter dem Reich Gottes ist sowohl der Himmel als auch die Kirche zu verstehen, da das Reich Gottes auf Erden die Kirche ist.« 281 Auch nach Wolfhart Pannenberg »ist das Reich Gottes mit der Kirche nicht S TREIFLICHTER 269 Ort der Herrschaft Gottes zu sein. 3. Kyrios und Pneuma: Das unsichtbare Göttliche der Kirche 3.1. Der Kyrios und die Kirche Der Kyrios ist das Gegenüber der Kirche. Unser Wort »Kirche« kommt von dem griechischen »kyriake« her, was »dem Herrn zugehörig« bedeutet. In Verbindung mit »ekklesia« ergibt sich daraus »die dem Herrn zugehörige Gemeinde«, in Verbindung mit »oikia« erhält man »Haus des Herrn«. Schon diese Herkunft des Wortes »Kirche« weist darauf hin, dass sie ihr Wesen und ihre Bestimmung ganz und gar vom Herrn her empfängt. Beziehungen machen die Beteiligten überhaupt erst zu dem, was sie im Beziehungsgefüge sind. So wird in der Ehe der Mann durch die Frau zum Ehemann und die Frau durch den Mann zur Ehefrau. Und durch Kinder wird der Mann zum Vater und die Frau zur Mutter. In gleicher Weise ist die Kirche nicht aus sich heraus Kirche, sondern nur durch ihre Beziehung zum Kyrios. Die umgekehrte Lesung dieses Verhältnisses ist natürlich auch richtig: Kyrios oder Herr wird Gott durch die Kirche, insofern sie der Bereich in der Menschenwelt ist, der sich seiner Herrschaft freiwillig übergeben hat. Doch diese Lesung will ich nicht weiter entfalten. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur wichtig, dass die Kirche das, was sie ist, nämlich »die dem Herrn zugehörige Gemeinde«, ausschließlich dadurch ist, dass der Kyrios ihr Gegenüber ist. Das ergibt sich auch aus der Art und Weise, wie das Neue Testament den hellenistischen Begriff »ekklesia« übernommen hat. Er bedeutet einfach nur »Volksversammlung«. Doch diese Bedeutung ist den Schreibern der neutestamentlichen Schriften zu wenig qualifiziert. Deswegen nehmen sie oft eine genauere Bestimmung vor, indem sie den Genitiv »tou theou« (des Gottes) anfügen, so dass klar wird, um was für eine Versammlung es sich handelt. Es handelt sich um »die Gemeinde des (einen) Goteinfach identisch« (STh 3,42). Für ihn ist sie aber das »Zeichen des Gottesreiches« (STh 3,45). 270 T HOMAS NOACK tes« (Apg 20,28; 1 Kor 1,2; 10,32; 11,22; 15,9; 2 Kor 1,1; Gal 1,13; 1 Thess 2,14; 1 Tim 3,5). Es handelt sich um die Sammelbewegung (Mt 12,30), die der eine Gott bewirkt, indem Jesus im Glauben als der Kyrios anerkannt wird. Swedenborg spricht vom Kyrios als dem Gegenüber der Kirche, durch das sie überhaupt erst »kyriake« wird, in Formulierungen wie »die Kirche des Herrn« (HG 637) oder »die Ehe des Herrn und der Kirche« (WCR 248). Außerdem lesen wir bei ihm: »Der Herr allein ist das Alles der Kirche.« (HG 768). »Das Göttliche des Herrn ist es, was beim Menschen die Kirche ausmacht, denn nichts gilt als ›Kirche‹, als nur das, was Eigentum des Herrn (proprium Domini) ist.« (HG 2966). In einer anderen, ergänzenden Betrachtungsweise ist der Kyrios selbst die Kirche. So sehr er einesteils ihr Gegenüber ist, so sehr ist er andernteils selbst die Kirche. Denn in Jesus Christus konnte Gott mächtig werden, weil Jesus seinen menschlichen Willen ganz und gar zu einem Gefäß des göttlichen Willens gemacht hatte (Joh 4,34; 5,30; 6,38). Durch diese Öffnung nach oben hin wurde er der Ort der Einwohnung Gottes in der Menschenwelt. Im Neuen Testament wird daher der Begriff »Tempel« auf ihn bzw. seine Leiblichkeit bezogen (Joh 2,21; Offb 21,22). Nach dem Kolosserbrief »wohnt« in Christus »die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (Kol 2,9). Swedenborg zufolge bezeichnet »Tempel« »im höchsten Sinn das Göttlichmenschliche des Herrn« (OE 220), weswegen »der Herr sich selbst den Tempel nannte, der zu Jerusalem war (Joh 2,19.21)« (HH 187). 3.2. Gutes und Wahres: Das Kirchliche im Menschen Das vom Herrn ausgehende Kirchenbildende im Menschen ist das Gute und Wahre: »Zweierlei macht die Kirche und daher den Himmel beim Menschen aus: das Wahre des Glaubens und das Gute des Lebens.« (EL 72). »Die Ehe des Guten und Wahren ist die Kirche und der Himmel beim Menschen« (NJ 24). »Was den Himmel beim Menschen bildet, bildet auch die Kirche; denn wie Liebe und Glaube den Himmel bilden, so bilden sie auch die Kirche.« (NJ 241). Das Gute und das Wahre sind nach Swedenborg S TREIFLICHTER 271 »die Universalien der Schöpfung (universalia creationis)« (EL 84), auf die sich »alles im Universum, was der göttlichen Ordnung gemäß ist«, bezieht und zurückführen lässt (NJ 11). Wir werden später sehen, dass Swedenborg diese eher philosophische Sichtweise282 mit der kirchlichen verbindet, wonach der heilige Geist das Kirchenbildende im Menschen ist. Doch zunächst halten wir fest, dass es das Gute und Wahre ist. Obwohl also das Gute und Wahre die Kirche im Menschen bildet, kann in einer anderen Betrachtung das Wahre mehr mit der Kirche und das Gute mehr mit der Religion in Verbindung gebracht werden. Denn die Identität einer kirchlichen Gemeinschaft wird durch die Theologie und das Bekenntnis bestimmt, weswegen wir sie Glaubensgemeinschaft oder Konfession nennen. Religion hingegen ist eine Sache des Lebens und besteht im Tun des Guten (vgl. LL 1). Swedenborg beschreibt das Verhältnis von Kirche und Religion so: »Das Wahre der Kirche und das Gute der Religion, sagte ich, weil man Kirche und Religion unterscheiden muss. Die Kirche heißt Kirche wegen der Lehre (oder Theologie), und die Religion heißt Religion wegen des Lebens nach der Lehre. Jeder Teil der Lehre heißt Wahres, und auch ihr Gutes (die Ethik) ist (eigentlich nur) Wahres, weil sie es ja bloß lehrt. Aber jeder Teil des Lebens nach dem, was die Lehre lehrt, heißt Gutes, auch ist das Tun des Wahren der Lehre Gutes. So also muss man Kirche und Religion unterscheiden. Gleichwohl kann, wo zwar eine Lehre aber kein Leben vorhanden ist, weder von Kirche noch von Religion gesprochen werden, denn die Lehre betrachtet das Lebens als mit sich eins, ganz so wie das Wahre und das Gute, der Glaube und die Nächstenliebe, die Weisheit und die Liebe, der 282 Bei Platon, beispielsweise im Philebos oder im Phaidron, finden wir die Trias des Wahren, Schönen und Guten. Swedenborg reduziert sie auf das Gute und Wahre. Jedoch kann das Schöne durchaus wieder einbezogen werden, denn »die Schönheit ist die Gestalt des Wahren aus dem Guten (pulchritudo est forma veri ex bono)« (HG 10540). Das Wahre und das Gute streben nach einer gefäßhaften Darstellung im Äußeren. Die Wohlgeformheit (Schönheit) ist das Kennzeichen der vollkommenen Verwirklichung des Guten und Wahren. 272 T HOMAS NOACK Verstand und der Wille. Wo daher eine Lehre aber kein dementsprechendes Leben vorhanden ist, da ist auch keine Kirche vorhanden.« (EO 923). 3.3. Das Pneuma und die Kirche 3.3.1. Die Identität von Kyrios und Pneuma Das Kirchliche im Menschen ist der Kyrios. Die Wirksamkeit des erhöhten Herrn in der nachösterlichen Gemeinde wird im Neuen Testament »heiliger Geist« genannt. Aus der Notwendigkeit, anlässlich des Heilsgeschehens die Begriffe Vater, Sohn und heiliger Geist exponiert zu gebrauchen, ist bekanntlich die Trinitätslehre entstanden, die zu der Vorstellung dreier göttlicher Personen im Sinne dreier Individuen geführt und damit den Glauben an die eine und einzige göttliche Person des Kyrios verdunkelt hat.283 Vor diesem Hintergrund muss gezeigt werden, dass der 283 Swedenborgs Ablehnung der klassischen Trinitätslehre ist keine Ablehnung der göttlichen Trinität (siehe WCR 164), sondern nur der Vorstellung von drei göttlichen Personen. Zur Diskussion steht nicht die Trinität, die zum Geoffenbarten gehört, sondern der Personbegriff , und zwar auch nur in seiner Anwendung auf den Vater, den Sohn und den heiligen Geist. Swedenborg verwendet den Personbegriff nach wie vor, jedoch nur noch zur Aussage der Einheit Gottes: »Gott ist dem Wesen (essentia) und der Person (persona) nach Einer.« (WCR 2). Swedenborg lehnt demnach die Dreiheit der Personen ab, aber entfaltet stattdessen die Dreiheit der Person, das heißt der einen göttlichen Person des Kyrios. In ihm sind drei Wesensschichten (»essentialia«, WCR 166) zu unterschieden. Die Vorstellung von drei göttlichen Personen weicht also der Vorstellung von drei göttlichen Wesensschichten in der einen göttlichen Person des Kyrios. Zur Definition von Person schreibt Swedenborg: »Person beinhaltet einen Unterschied und eine Verschiedenheit von einer anderen (Person) (persona involvit aliquod distinctum et differens ab altera).« (De Athanasii Symbolo, 168). Das liegt auf der Linie der klassischen Definition von Boethius: »Person ist die individuelle Substanz einer vernünftigen Natur (persona est naturae rationalis individua substantia)«. (Liber contra Eutychen et Nestorium, cap. 3,74). Thomas von Aquin erklärt: »Jedes Individuum von vernünftiger Natur heißt Person (Omne individuum rationalis naturae dicitur persona)« (Summa theologiae I, 29, 3 ad 2). Da Swedenborg statt von »persona« von »essentiale« und die nicaenische Theologie jedenfalls nicht von »prosopon« (Person) sondern von »hypostasis« (Hypostase) spricht, könnte man erwägen Hypostase als Übersetzung von »essentiale« zu wählen. WCR 166 würde dann so lauten: »Diese drei, Vater, Sohn und heiliger Geist sind die drei Hypostasen des einen Gottes, die eben- S TREIFLICHTER 273 heilige Geist keine weitere Person neben dem Kyrios ist, sondern die »divina operatio« (göttliche Wirksamkeit) der einen göttlichen Person des Kyrios (WCR 138). Der Kyrios ist in der Kraft des heiligen Geistes erfahrbar. Paulus schrieb: »Der Kyrios ist der Geist« (2 Kor 3,17). Nach Ingo Hermanns Analyse ist damit gemeint: »Christus wird erfahrbar als Pneuma.«284 »das euch bekannte lebendigmachende Pneuma ist in Wirklichkeit Christus der Herr. Denn er ist es, den wir erfahren, wenn wir das Pneuma in uns wirkend finden.«285 Hermann veranschaulicht das mit einem Bild: »Wie ich die Sonne in ihren Strahlen erfahre, so erfahre ich den Kyrios als das Pneuma. Das Pneuma ist das unaufhörliche Ausstrahlen des Erhöhten. Dieses Strahlen trifft auf den Menschen auf. Der nimmt die Strahlungsmacht – das Pneuma – wahr und weiß: das ist der Herr; wie er die Strahlungswärme der Sonnenstrahlen wahrnimmt und weiß: das ist die Sonne.«286 2 Kor 3,17 ist die Spitzenaussage. Parallelen sind in Röm 1,1-5; 1 Kor 15,45; 1 Kor 6,17 und Röm 8,9-11 zu finden. Und über alle diese Aussagen hinaus ist am Ende sogar das gesamte theologische Denken des Paulus von dem Bewusstsein der Identität von Kyrios und Pneuma durchdrungen. Hermann kommt daher zu einem in unserem Zusammenhang interessanten Schluss: »Weil der ›eigentliche‹, theologisch prägnante Sprachgebrauch des Paulus im Pneuma eine Gott und Christus eigene Potenz sieht, verbietet sich für eine Paulusinterpretation jede Hypostasierung des Pneuma in Richtung auf eine selbständige 3. trinitarische Person«287. Das Matthäusevangelium 284 285 286 287 so eine Einheit bilden wie Seele, Leib und Wirksamkeit beim Menschen.« Damit ist freilich der Unterschied des neukirchlichen zum nicaenischen Glauben noch nicht gänzlich aufgehoben, denn Swedenborg vertritt eine ökonomische Trinitätslehre (WCR 170). Ingo Hermann, Kyrios und Pneuma: Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, München 1961, Seite 49. Ingo Hermann, a.a.O., Seite 49. Ingo Hermann, a.a.O., Seite 50. Ingo Hermann, a.a.O., Seite 140. Die hypostatische Verselbständigung des Geistes zu einem Dritten neben Vater und Sohn läßt sich als eine Folge der Hypostasierung des Sohnes betrachten (siehe Geoffrey Lampe, God as Spirit: 274 T HOMAS NOACK schließt mit den Worten: »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Aions.« (Mt 28,20). Der heilige Geist wird hier nicht genannt (wohl aber in Mt 28,19). Stattdessen wird den Jüngern das Mitsein des Auferstandenen zugesagt. Unter einem systematischen Gesichtspunkt kann man diese Beobachtung von Paulus her verstehen: Im Wehen des heiligen Geistes ist eben niemand anders als der Kyrios selbst wirksam. Im Johannesevangelium wird die Situation des Abschieds am ausführlichsten bedacht. Es geht um die Frage: »Wie ist der Abwesende anwesend?«288 Im Kontext der Abschiedsreden verheißt Jesus den Seinen »einen anderen Beistand«; der wird »bei euch« sein »in Ewigkeit (gr. Aion)« (Joh 14,16). Die Nähe zur matthäischen Zusage ist unübersehbar. In beiden Fällen ist vom Mitsein (»bei euch«) und einer zeitlichen Erstreckung unter Verwendung des Wortes »Aion« die Rede. Im Matthäusevangelium ist diese Zusage aber mit Jesus verbunden. Im Johannesevangelium ist sie dagegen mit dem anderen Beistand verbunden. Doch der wird sogleich mit Jesus identifiziert. Jesus sagt nämlich: »Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen; ich komme zu euch.« (Joh 14,18; siehe auch 14,19). Wir kommen also wieder zu demselben Ergebnis: Der heilige Geist ist die Anwesenheit des Kyrios.289 Die Andersartigkeit des nachösterlichen Beistandes erklärt sich aus der Verherrlichung (vgl. Joh 7,39 mit 16,7). Vor seiner Verherrlichung war Jesus als das fleischgewordene Wort gewissermaßen der Leib der Wahrheit (Joh 14,6); nach seiner Verherrlichung ist er hingegen als »Geist der Wahrheit« (Joh 14,17; 15,26; 16,13) und insofern als ein anderer Beistand anwesend. Denn der Auferstandene darf nicht als eine wunderbar wiederbelebte Leiche The Bampton Lectures 1976, Oxford 1977, Seite 210 vgl. Seite 132f. Den Hinweis verdanken wir Pannenberg STh 1,293). 288 Jean Zumstein, Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, Seite 116. 289 Peter Stuhlmacher: »Der Paraklet ist der als Geist vor Gott und unter den Menschen wirkende Christus.« (Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 2, Göttingen 1999, Seite 261f). Jean Zumstein: »Der nachösterliche Paraklet ist in gewisser Weise der Doppelgänger des vorösterlichen Jesus.« (Kreative Erinnerung, Zürich 1999, Seite 56). S TREIFLICHTER 275 angesehen werden. Der durch das Konzept der Verherrlichung gegebene Anschluss an die alttestamentliche Kabodvorstellung deutet in eine ganz andere Richtung. Der Verherrlichte ist der in die Herrlichkeit Jahwes Aufgenommene: der Kyrios. Als solcher kann er den Seinen nach Ostern wahrlich ein anderer Beistand sein als vor seiner Verherrlichung. Der heilige Geist ist also die Sphäre der Wirksamkeit des Kyrios.290 Einige Äußerungen Swedenborgs zur Identität von Kyrios und Pneuma: »Der heilige Geist ist das vom Herrn ausgehende Göttliche (Divinum Procedens a Domino), und dieses ist der Herr selbst.« (LH 46). »Durch den heiligen Geist wird eigentlich das göttliche Wahre bezeichnet, somit auch das Wort. In diesem Sinne ist der Herr selbst sogar der heilige Geist.« (WCR 139). »Unter dem Paraklet wird das göttliche Wahre verstanden, das der Herr war, als er in der Welt war, und das (nun) vom Herrn ausgeht, nachdem er sein Menschliches verherrlicht hat und aus der Welt gegangen ist. Darum sagt er, dass er den Paraklet senden und (gleichzeitig) dass er selbst kommen werde.« (HG 9199). Biblische Begründungen für die Identität von Kyrios und Pneuma sieht Swedenborg in Joh 14,16-18 (HG 9199, WCR 139) und Mt 28,18-20 (LH 46, WCR 139). 290 Wilfried Joest wehrt sich dagegen, die Wirklichkeit des heiligen Geistes »unpersönlich, als bloße von Gott ausgehende Kraft zu verstehen« (Dogmatik, Band 1, Göttingen 1995, Seite 337). Zwar werde vom heiligen Geist so gesprochen, als sei er eine Kraft, ein Raum oder Kraftfeld und eine Gabe, aber gleichzeitig wird von ihm auch in personhafter Weise gesprochen, so dass man sagen muss: In dem, »was von Gott ausgeht«, ist »Gott selbst »in Person« gegenwärtig« (a.a.O., 1,308f). Diese Gegenwehr von Joest ermöglicht uns die Verdeutlichung der eigenen Aussage: Der heilige Geist ist keine unpersönliche Kraft. Allerdings ist er auch keine dritte Person. Vielmehr ist er die Anwesenheit und Wirksamkeit der einen göttlichen Person des Kyrios. Zwar muss man den Geist des Kyrios vom Kyrios selbst als der persönlichen Mitte seiner Allwirksamkeit unterscheiden, dennoch gilt: Überall, wo der heilige Geist erfahren wird, da wird niemand anders als der Kyrios selbst erfahren. Daher ist der Geist keine unpersönliche Auswirkung eines im übrigen »in Distanz bleibenden Gottes« (a.a.O., 1,309). Vielmehr ist er die wirksame Anwesenheit des Christengottes; und daher wird dieses im Glauben erfahrbare Sein im Kraftfeld des Geistes als das Aufgehobensein in der warmherzigen Nähe Jesu erlebt. 276 T HOMAS NOACK 3.3.2. Die pneumatologische Grundlage der Kirche Die Lehre von der Kirche und die vom heiligen Geist sind seit jeher eng miteinander verknüpft. Nach der lukanischen Pfingstgeschichte (Apg 2,1ff.) begründet der heilige Geist die Gemeinschaft der Glaubenden, »denn diese Erzählung veranschaulicht jedenfalls, daß der Geist allen Jüngern gemeinsam gegeben wurde und damit die Kirche ihren Anfang genommen hat.« (STh 3,25). »In den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen wurde seit dem 2. Jahrhundert die Kirche in enger Verbindung mit dem heiligen Geist genannt, sozusagen als ›Ort seines Wirkens‹.« (STh 3,33). Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass Swedenborg den heiligen Geist nicht im Zusammenhang seiner Lehre von der Kirche nennt. Das Erscheinungsbild beherrschend ist vielmehr die Aussage, dass das Gute und Wahre das Kirchenbildende im Menschen ist (siehe oben EL 72, NJ 24, 241). Doch genau hinter dieser Beschreibung verbirgt sich der heilige Geist, denn Swedenborg schreibt: »Die göttliche Liebe und Weisheit, die aus dem Herrn als Sonne hervorgehen und im Himmel Wärme und Licht spenden, sind das hervorgehende Göttliche; dies ist der heilige Geist.« (GLW 146)291. Auch nach Swedenborg wird die Kirche demnach durch das Pneuma konstituiert. Dieses Wehen des heiligen Geistes ist die »divina operatio« (die göttliche Wirksamkeit, WCR 138ff.), die auf das Engste mit dem Kyrios verbunden ist (WCR 139). Die Identifikation des heiligen Geistes mit der Wirksamkeit des erhöhten Herrn ist wohl auch der Grund dafür, dass die Kirche bei Swedenborg vordergründig betrachtet christologisch begründet ist. Aber das schließt eben nicht aus, sondern vielmehr ein, dass die »divina operatio« des Kyrios, also sein Geist, das nachösterlich Kirchenbildende in der Menschenwelt ist. Das belegt auch die folgende Aufschlüsselung der Wirksamkeit (operatio) des Geistes: »Die göttliche Kraft (virtus) und Wirk291 Beachtenswert ist auch die folgende Verbindung des einfließenden Lebens mit dem heiligen Geist: »Das Leben, das einfließt, ist Leben, das vom Herrn ausgeht, das auch Geist Gottes heißt, im Wort der heilige Geist, von dem gesagt wird, dass er erleuchtet und lebendig macht, ja dass er im Menschen wirkt.« (EO 875). S TREIFLICHTER 277 samkeit (operatio), die unter dem heiligen Geist verstanden wird, ist im allgemeinen die Umbildung und Wiedergeburt, und diesen gemäß die Erneuerung, Belebung, Heiligung und Rechtfertigung, und diesen gemäß die Reinigung vom Bösen und die Vergebung der Sünden, und zuletzt die Seligmachung.« (WCR 142). Auch in der Neuoffenbarung durch Jakob Lorber ist der Anfang der Kirche im Menschen der heilige Geist: »Auf der Erde gibt es nur eine wahre Kirche, und diese ist die Liebe zu Mir in Meinem Sohne, welche aber ist der heilige Geist in euch und gibt sich euch kund durch Mein lebendiges Wort, und dieses Wort ist der Sohn, und der Sohn ist Meine Liebe und ist in Mir und Ich durchdringe Ihn ganz, und Wir sind eins, und so bin Ich in euch, und eure Seele, deren Herz Meine Wohnstätte ist, ist die alleinige wahre Kirche auf der Erde. In ihr allein ist ewiges Leben, und sie ist die alleinseligmachende.« (HGt 1,4,9). Die Liebe zwischen Sohn und Vater überträgt sich in die Seele als heiliger Geist. Er ist in der Seele gewissermaßen die ecclesia in principio, das heißt die erste und grundlegende Äußerung der Kirche oder des Kirchlichen in der Seele. 4. Wort und Sakrament: Das sichtbare Göttliche der Kirche 4.1. Anknüpfung an die Reformation In der Augsburgischen Konfession von 1530 lesen wir: »Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen (congregatio sanctorum), bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden (in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta).« (CA VII). Wort und Sakrament gelten von daher in der evangelisch-lutherischen Kirche als »notae ecclesiae«, das heißt als Kennzeichen der Kirche.292 Auch Swedenborg als Mitglied der lutherischen Reichskirche Schwedens stand in dieser Tradition. Wort und Sakrament sind für ihn die sichtbaren Quel292 In der reformierten Tradition gilt vielerorts die Kirchenzucht neben Wort und Sakrament als dritte »nota ecclesiae«. T HOMAS NOACK 278 len des spirituellen Lebens. Er schrieb: »Die Kirche, sagt man (dicitur), ist da, wo der Herr anerkannt wird und wo das Wort ist« (NJ 242). Daraus geht hervor, dass das Wort ein Kennzeichen der Kirche ist. Nimmt man noch die ausführlichen Würdigungen von Taufe und Abendmahl in der »Wahre[n] Christlichen Religion« hinzu, dann ist man bei den beiden »notae ecclesiae« von CA VII. 4.2. Das Wort Gottes Die Würdigung des Wortes als A und O des geistlichen Lebens weist Swedenborg als einen Sohn der Reformation aus, deren geschichtliche Bedeutung er in der Wiederentdeckung des Wortes sah: »Als das Wort von den Papisten fast vollständig verworfen worden war, kam es daher infolge einer Fügung der göttlichen Vorsehung des Herrn zur Reformation, die das Wort gleichsam aus dem Versteck hervorzog und wieder dem Gebrauch übergab.« (WCR 270; siehe auch Invitatio 24). Die Heraushebung des Wortes verbindet Swedenborg mit Luther, was die beiden Reformatoren jedoch trennt ist ihre Einstellung zur geistigen Schriftdeutung. Luther verwarf sie »in geradezu tragischer Verkennung der wahren Zusammenhänge«293, er sagte: »Weil ich jung war, da war ich gelehrt. (…) Da ging ich mit Allegorie, Tropologie und Analogie um und machte lauter Kunst. (…) Ich weiß, daß das ein lauter Dreck ist, den ich nun habe fahren lassen. (…) Der Literalsinn, der tut's. Da ist Leben, Trost, Kraft, Lehr und Kunst inne. Das andere ist Narrenwerk, wiewohl es hoch gleißt«.294 Allein der Buchstabensinn zählt, alles andere ist nach Luther »lauter Dreck« und »Narrenwerk«. Demgegenüber hat die katholische Kirche jedenfalls im Grundsatz nie die Existenz eines geistlichen Sinnes geleugnet (DH 3792, 3828). Henri de Lubac (1896 - 1991) und im Anschlus an ihn Rudolf Voderholzer (geb. 1959) haben sehr aufschlussreiche Studien zum Verständnis der alten, schon im Christusereignis wurzelnden geistigen Schriftauslegung vor293 Rudolf Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn, 1998, Seite 45. 294 WA TR 5,45,10 Nr. 5285. Zitiert nach: Rudolf Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn, 1998, Seite 82. S TREIFLICHTER 279 gelegt. Das Wort der heiligen Schriften des alten und des neuen Bundes ist die sichtbare Gegenwart des unsichtbaren Kyrios. Das ist johanneische Theologie: Der Kyrios ist das Wort, und das Wort ist der Kyrios (Joh 1,1.14). Deswegen konnte in der Menschheitsgeschichte ein äußeres Wort auf Schriftrollen und Codices entstehen, durch das der Kyrios in der physischen Welt anwesend ist. Das ist ein Mysterium, besonders im Horizont der ausschließlich historischen Bibelwissenschaft. Gleichwohl bezeugt Swedenborg: »Der Herr in der Kirche ist das Wort« (OE 790). »Wenn daher das Wort geöffnet wird, erscheint der Herr« (OE 612). Nicht ohne Grund entfaltet Swedenborg in der wahren christlichen Religion seine Theologie des Wortes unmittelbar im Anschluss an die Gotteslehre. Denn das Wort ist der für die Kirche auf Erden sichtbare Kyrios. Mehr noch: Das Wort vergegenwärtigt den Kyrios nicht nur, es dient auch der Vereinigung mit ihm. Die heilige Schrift ist das für uns als äußerliche Menschen greifbare Mittel, das uns mit den himmlischen Hierarchien und ihrem König verbindet. Lebendige, spirituelle Erfahrungen führten Swedenborg zu der Erkenntnis, »dass das Wort hinsichtlich des Sinnes seiner schriftlichen Erscheinungsform (quoad Sensum literae ejus) das göttliche Mittel der Verbindung (medium conjunctionis)295 mit dem Kyrios und der Eingliederung in die Gesellschaften der Engel des Himmels ist (consociationis cum Angelis Caeli).« (WCR 235). Das äußere Wort ist dem äußeren Menschen als die fundamentale Heilsgabe schlechthin in seine Hände gegeben worden, über die er Tag und Nacht (in allen Zuständen seines Lebens) nachsinnen soll, um am Ende eine Frucht zu bringen, die bleibt (Psalm 1; Joh 15,16). Als »medium conjunctionis« verbindet das sichtbare Wort die pilgernde Kirche mit dem unsichtbaren Kyrios und seinen Engeln. Aufgrund des Gesagten können wir die Formulierung wagen: Das 295 Zum Wort als »medium conjunctionis« äußert sich Swedenborg ausführlich in HH 303-310. 280 T HOMAS NOACK Wort ist das Sakrament der Gegenwart des Kyrios. Denn konstitutiv für den Begriff des Sakraments ist erstens der Ursprung bei Jesus Christus und zweitens seine »Funktion als zeichenhafter Ausdruck des Christusmysteriums, das Jesus Christus und seine Kirche vereint« (STh 3,402). Beide Kriterien treffen auf die heilige Schrift zu. Sie entspringt wie ein Strom lebendigen Wassers dem göttlichen Logos und dient als zeichenhafter Ausdruck seiner Gegenwart der Vereinigung mit ihm. Das Wort steht in einer inneren Verbindung mit dem heiligen Geist. Darauf deutet schon die Tatsache, dass unter dem heiligen Geist eigentlich »das göttliche Wahre« zu verstehen ist (WCR 139). Das äußere Wort der Bibel ist ein Bedeutungsfeld, innerhalb dessen Göttliches gesucht und gefunden werden kann. Das Göttliche des Wortes ist das innere Sinnverständnis, das in der Korrespondenz (im wechselseitigen Gespräch) zwischen dem heiligen Geist im Menschen und dem äußeren Schriftwort vor ihm empfangen werden kann. Der »sensus internus« ist das Bewusstsein des göttlichen Wahren, das im Spannungsfeld zwischen dem inneren Pol der Wirksamkeit des heiligen Geistes und dem äußeren Pol der Erforschung der heiligen Schrift entsteht. Dieses innere Sinnerwachen ist die kirchenbildende Wirkung, die vom heiligen Geist hervorgebracht wird. Vor diesem Hintergrund kann man mit Luther sagen, dass die Kirche »creatura verbi« (WA 6,560) ist. Das ist auch ein zentraler Gedanke Swedenborgs, denn er schreibt: »Die Kirche ist aus dem Wort abgeleitet (ecclesia est ex Verbo)« (LH 15). »Die Kirche entsteht durch das Wort, und ihre Beschaffenheit beim Menschen richtet sich nach seinem Verständnis des Wortes.« (WCR 243ff.). Aus dem Wort als der Quelle der Kirche entwickelt sich als nächste Stufe die Lehre. Man muss zwischen Wort und Lehre unterscheiden. Denn das Wort ist noch keine systematische Darstellung der kirchlichen Lehre, aber es ist der Grund, aus dem jede Generation immer wieder neu, ihren Fähigkeiten gemäß die Lehre entwickeln muss: »Die Lehre aus dem Wort konstituiert die S TREIFLICHTER 281 Kirche (doctrina ex Verbo facit ecclesiam)« (OE 786).296 Der »fons vitae« (Lebensquell) aller Spiritualität aber ist das Wort, dort begegnet die Braut ihrem Bräutigam. 4.3. Die Sakramente: Taufe und Abendmahl 4.3.1. Zu den Sakramenten im allgemeinen Im Neuen Testament kommt der Begriff »Geheimnis« (to mysterion) mehrfach und zwar sowohl im Singular als auch im Plural vor. Christus ist »das Geheimnis Gottes« (Kol 2,2; vgl. auch Eph 3,4). »In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.« (Kol 2,3). Seit der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert werden auch die Taufe und das Abendmahl als Mysterien oder Sakramente bezeichnet (STh 3,381). Augustin führte die wirkungsgeschichtlich wichtige Deutung der Sakramente als Zeichen ein: »sacramentum, id est sacrum signum (Sakrament, das heißt heiliges Zeichen)«297 Seine berühmte Sakramentsdefinition lautet: »Das Wort tritt zum Element hinzu, und das Sakrament entsteht; so ist es gleichsam ein sichtbares Wort (Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum, etiam ipsum tanquam visibile verbum)«.298 Swedenborg hat diese Definition zur Kenntnis genommen: »Die scharfsinnigsten Denker der Kirche haben deshalb gelehrt, es werde erst dadurch zum Sakrament, daß das Wort zu den Elementen hinzutritt (dum accedit Verbum ad Elementum fiat Sacramentum).« (WCR 699)299. Doch obgleich er den augustinischen Ansatz für scharfsinnig hält, distanziert er sich von ihm, indem er bemängelt, dass »dieser Ursprung der Heiligkeit des Abendmahls« »keinem Verständnis zugänglich« ist 296 Dass die Lehre die Kirche ist, ist ein Gedanke, der auch bei Jakob Lorber hervortritt: »Ich habe euch aber auch schon sattsam gezeigt, welchen Verlauf in den künftigen Zeiten diese Meine Lehre, die da ist eine wahrhaft von Mir Selbst neu gegründete Kirche, unter den Menschen nehmen wird.« (GEJ 9,39,8). 297 De civ. Dei X,5, zit. nach STh 3,382. 298 Tract. in Joh. 80,3; zit. nach Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchenund Dogmengeschichte, Band 1, 1995, Seite 240. 299 Siehe auch EO Lehren der protestantischen Kirche und Religion im Auszug VII: »nam cum accedit Verbum ad elementum, fit Sacramentum«. 282 T HOMAS NOACK und auch nicht »in den Elementen oder Symbolen (in elementis seu symbolis ejus)« erscheint, sondern nur »ins Gedächtnis« aufgenommen wird (WCR 699). Swedenborg eigener Ansatz arbeitet mit dem Konzept der Entsprechungen: »Daher kommt es, dass die zwei Sakramente Entsprechungen des Geistigen mit dem Natürlichen sind, woher auch ihre Kraft und Macht kommt.« (Invitatio 45)300. Zum Verständnis der Sakramente gehört die Vorstellung von zwei Ebenen. Im Vordergrund stehen Elemente und Handlungen, die der sichtbaren Welt angehören und dem äußeren Menschen zugänglich sind; zugleich aber verweist das Sichtbare auf das Unsichtbare und Eigentliche. Diese beiden Ebenen, die sichtbare und die unsichtbare, gehören zum Wesen der Sakramente. Pannenberg schreibt: »Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort ›Sakrament‹ zusammenfassend eine Reihe von gottesdienstliche Handlungen, und zwar genauer symbolische oder ›realsymbolische‹ Handlungen, oder auch – wie im Fall der Ehe – den durch eine solche Handlung geheiligten Lebensvollzug.« (STh 3,369)301. 300 Siehe auch Invitatio 59: »(Es soll gezeigt werden), dass den Entsprechungen eine sehr große Kraft innewohnt, weil in ihnen Himmel und Erde (mundus) oder Geistiges und Natürliches eins sind, und dass daher das Wort in reinen Entsprechungen geschrieben ist. Deswegen geschieht durch das Wort die Verbindung des Menschen mit dem Himmel und auf diese Weise mit dem Herrn, und so ist er im Ersten und zugleich im Letzten. Daher sind auch die Sakramente durch die Entsprechungen eingesetzt worden, denn dadurch wohnt ihnen göttliche Macht inne.« Der lateinische Grundtext lautet: »Quod maxima vis insit correspondentiis (ostendatur); quia in illis caelum et mundus, seu spirituale et naturale, una sunt; et quod ideo Verbum per meras correspondentias conscriptum sit; quare [per] illud est conjunctio hominis cum caelo, ita cum Domino; estque sic Dominus in primis et simul in ultimis. Ideo Sacramenta per correspondentias instituta sunt, quibus ideo Divina potentia inest.« 301 Realsymbol (Karl Rahner): Die katholische Theologie unterscheidet zwischen Vertretungssymbol und Realsymbol. Ein Vertretungssymbol vertritt etwas Abwesendes; es weist auf etwas hin, dass unabhängig von ihm existiert (Beispiel: Baustellenschild). In einem Realsymbol hingegen realisiert sich das, was symbolisiert wird; es läßt das, was es bezeichnet, zugleich anwesend sein. Ein Beispiel für ein Realsymbol ist der menschliche Leib. Der Mensch ist nicht sein Körper, aber dieser ist das ihn verwirklichende und vergegenwärtigende Zeichen seiner selbst; sein Geist findet Ausdruck und S TREIFLICHTER 283 Konstitutiv für das Sakrament ist die Einsetzung durch Jesus Christus. Der theologischen Tradition zufolge unterscheidet die göttliche Einsetzung die sogenannten Sakramente von sonstigen kirchlichen Handlungen (STh 3,306). Swedenborg geht mit den Reformatoren noch davon aus, dass Taufe und Abendmahl durch Jesus Christus eingesetzt worden sind302: »Daß die Taufe befohlen wurde (mandatus sit), sieht man deutlich an der Taufe des Johannes im Jordan, zu der sich nach Matthäus 3,5f. und Markus 1,4f. ganz Judäa und Jerusalem einfand, ebenso auch daran, daß nach Matthäus 3,13-17 der Herr, unser Heiland, selbst von Johannes getauft wurde, und überdies daran, daß er nach Matthäus 28,19 den Jüngern befahl, alle Völker zu taufen. Wer sieht nicht, daß es mit dieser Einsetzung (in illa Institutione) etwas Göttliches auf sich hat, …« (WCR 668). Interessanterweise argumentiert Swedenborg nicht vorrangig mit dem sogenannten Taufbefehl. Die göttliche Einsetzung des Abendmahls spricht Swedenborg in HG 10519, OE 376, EO 219 und NJ 210 an. »Das heilige Abendmahl wurde vom Herrn eingesetzt (a Domino instituta est), damit durch dasselbe eine Verbindung (conjunctio) der Kirche mit dem Himmel und so mit dem Herrn bestehe. Darum ist es das Heiligste des Gottesdienstes.« (NJ 210). Die katholische Kirche kennt sieben Sakramente: die Taufe, die Firmung, die Eucharistie, die Buße, die Krankensalbung, das Weihesakrament und die Ehe. »Die Siebenzahl der Sakramente setzte sich erst im 12. Jahrhundert als theologische Lehrmeinung durch und wurde 1274 auf dem Konzil zu Lyon offizielle Lehre der Kirche.« (STh 3,370). Die Reformation reduzierte diese Zahl jedoch auf zwei, nämlich Taufe und Abendmahl, weil die geforderte Einsetzung durch Jesus Christus nur für diese beiden Handrealisiert sich in der Leiblichkeit, durch die er überhaupt erst zu sich selbst finden kann. Rahners Realsymbol kann mit Swedenborgs »repraesentatio« verglichen werden. 302 Wolfhart Pannenberg: »In der gegenwärtigen theologischen Diskussionslage stößt die strenge reformatorische Fassung des Sakramentsbegriffs mit ihrer Forderung des Nachweises einer Einsetzung durch Jesus selbst sogar im Fall der Taufe und des Herrenmahls auf Schwierigkeiten.« (STh 3,373). 284 T HOMAS NOACK lungen »unzweifelhaft biblisch begründet zu sein schien« (STh 3,307). »Im Hinblick auf Beichte und Absolution, deren Einsetzung durch Christus Luther wegen Mt 18,15ff. für gesichert hielt (WA 6,546), erschien wegen des fehlenden Zeichens die Zählung als Sakrament als zweifelhaft (572).« (STh 3,372). Swedenborg schloss sich der Reformation an und anerkennt auch nur »zwei Sakramente« (WCR 667), die Taufe und das Abendmahl, zu denen er sich in NJ 202ff. und WCR 667ff. ausführlich äußert. Zwei Sakramente fassen das ganze Wesen des christlichen Lebens zusammen. Denn Jesus Christus war das Ende der Vorbildungen303 oder vorbildenden Religionen mit ihren Tempeln, Altären, Opfern, Riten usw. Nach Paulus war Christus »das telos des Gesetzes« (Röm 10,4), wobei »telos« sowohl Ende als auch Ziel bedeutet. Die Repräsentationen oder Vergegenwärtigungen des noch nicht anwesenden Gottes verloren naturgemäß ihre Bedeutung als der in allen kultischen Handlungen nur vorläufig Dargestellte selbst leibhaftig in Erscheinung trat. Dennoch gab der Kyrios dem in seiner Person eröffneten inneren Gottesdienst auch eine, allerdings auf wenige Elemente beschränkte äußere Form, die das Mysterium der Wiedergeburt symbolisch darstellen sollen. Im Mittelpunkt des äußeren Gottesdienstes der christlichen Kirche stehen daher das Wort und die beiden Sakramente der Taufe und des Abendmahls. Das Ende der Vorbildungen durch Jesus Christus und die gleichzeitige Zusammenfassung und Reduktion des Kultes auf die beiden Sakramenten beschreibt Swedenborg folgendermaßen: »Bekanntlich hat der Herr die inneren Mysterien (interna) seines Reiches und der Kirche aufgeschlossen. Sie waren freilich schon den alten Weisen (antiquis) bekannt … Das alles wußten (also schon) die Menschen der alten Kirche, aber sie wurden durch äußere Dinge (externa), die kultische Vergegenwärtigungen (repraesentativa) waren, zu diesen 303 Swedenborgs Wort ist »repraesentativum«. Im Hinblick auf die folgenden Ausführungen zu den Sakramenten sei angemerkt, dass »repraesentativum« sowohl in die gedankliche Nähe von Zeichen (»signum repraesentativum externum«, WCR 140) als auch von Symbol (»in repraesentativo et symbolico«, HG 3478) rücken kann. S TREIFLICHTER 285 inneren Mysterien geführt (ducebantur … ad illa). Weil aber dieses Wissen bei den Juden ganz und gar verlorengegangen war, deswegen hat der Herr es wieder gelehrt, zugleich aber die kultischen Formen (repraesentativa) abgeschafft, weil der größte Teil von ihnen auf ihn bezogen war und das Bild (imago) nun einmal verschwindet, sobald das Abbild (des unsichtbaren Gottes) (effigies) selbst erscheint. So hat er eine neue Kirche gegründet, die nicht mehr wie die frühere durch Darstellungen des Mysteriums (repraesentativa) zum Inneren geführt wird, sondern ohne sie die Geheimnisse des Gottesreiches (illa) weiß. Anstelle der alten Kultformen hat er nur einige äußere gottesdienstliche Handlungen (externa) angeordnet, nämlich die Taufe und das Abendmahl; die Taufe, damit man durch sie an die Wiedergeburt erinnert werden soll, und das Abendmahl, damit man dadurch an den Herrn erinnert werden soll, und zwar an seine Liebe zum menschlichen Geschlecht und an die erwidernde Liebe des Menschen zu ihm.« (HG 4904). »Ebenso wie viele andere Dinge wurden diese Waschungen den Kindern Israels darum aufgelegt und befohlen, weil die bei ihnen gegründete Kirche eine vorbildende Kirche war. Diese aber war von der Art, daß sie die christliche Kirche der Zukunft wie im Bilde darstellte. Als der Herr in die Welt kam, schaffte er deshalb diese samt und sonders äußerlichen Vorbildungen ab und gründete eine Kirche, bei der alles innerlich war. So hob der Herr die Abbilder (figuras) auf und enthüllte die Urbilder (effigies) selbst, so wie jemand einen Vorhang wegzieht oder die Tür öffnet und dadurch das Inwendige nicht nur sichtbar, sondern auch zugänglich macht. Von all jenen Vorbildungen behielt der Herr nur zwei bei, die alles zur inneren Kirche Gehörige wie in einer Zusammenfassung (in uno complexu) enthalten sollten, nämlich die Taufe anstelle der Waschungen und das Heilige Abendmahl anstelle des Lammes, das zwar jeden Tag, mit vollständigem Ritus aber nur am Passahfest geopfert wurde.« (WCR 670). Die Sakramente sind ein Entgegenkommen Gottes an den auf Äußerliches fixierten Menschen. Der Übergang von der Kultkirche zur Geistkirche war nicht mit einem Mal vollziehbar. Deswegen konnte der Kult der vorbildenden 286 T HOMAS NOACK Religion nicht gänzlich aufgegeben werden. Er konnte aber auf zwei alles zusammenfassende Handlungen reduziert werden. Der gemeinsame Ort dieser beiden sakramentalen Vollzüge ist der Gottesdienst, den Swedenborg »cultus« nennt. Im Hinblick auf das Abendmahl schreibt er: »Dieses äußere Symbol (externum hoc symbolicum) ist angeordnet worden, weil sich der größte Teil des menschlichen Geschlechts im äußeren Gottesdienst befindet und deswegen ohne etwas Äußeres kaum etwas Heiliges bei diesen Menschen wäre. Wenn sie nun also in der Liebe zum Herrn und in der tätigen Liebe gegenüber ihren Nächsten leben, dann haben sie Inneres bei sich ohne allerdings zu wissen, dass es genau das Innere des Gottesdienstes ist, um das es eigentlich geht (ipsissimum internum cultus). So werden sie in ihrem äußeren Gottesdienst in dem Guten bestärkt, das durch das Brot bezeichnet wird.« (HG 2165). 4.3.2. Taufe und Abendmahl als Initiationsriten Taufe und Abendmahl können als Initiationsriten verstanden werden, das heißt als Riten, durch die jemand in eine Gemeinschaft eingeführt wird (initiare = Zugang gewähren, einweihen). Der initiatische Charakter der Taufe ist in der christlichen Welt bekannt, denn überall wird sie als grundlegender Akt für den Eintritt in die Kirche anerkannt, und auch nach Swedenborg symbolisiert sie »die Einführung (initiationem) in die Kirche« (HG 4255). Auch die Eucharistie ist eine Initiation; nach katholischer Darstellung ist sie nach Taufe und Firmung der dritte und letzte Schritt der Eingliederung in Christus und seine Kirche. Swedenborg sieht in ihr jedoch »die Einführung (introductio) in den Himmel« (WCR 721)304. Während also die Taufe die grundlegende »Einführung (introductio) in die Kirche« (WCR 721) darstellt und auch vollzieht und dem Getauften dadurch ein spirituelles Zuhause gibt, ist die Mahlgemeinschaft mit dem Kyrios die Einweihung in die inneren Mysterien der Gemeinschaft mit ihm. 304 Zum Abendmahl als Einführung in den Himmel siehe auch GS 2,7f. Nach der Speisung am Tisch des Herrn heißt es: »Nun ist die große Installation geschehen.« (GS 2,8,31). S TREIFLICHTER 287 Das Abendmahl ist also die Vertiefung der Taufe, beide Sakramente aber sind Initiationsriten oder »zwei Pforten zum ewigen Leben (duae Portae ad vitam aeternam)« (WCR 721). 4.3.3. Die Taufe Nach Thomas von Aquin bewirken die Sakramente des neuen Bundes das, was sie darstellen (efficiunt quod figurant: 62,1 ad 1; siehe STh 3,384 und 386). Das (ver)führt jedoch zu der Ansicht, dass die Taufe als solche bereits »das Ereignis der Wiedergeburt« (STh 3,266) sei. Pannenberg schreibt: »In der Taufe ereignet sich die Wiedergeburt des Menschen durch den Heiligen Geist.« (STh 3,264). Jeder Getaufte wäre demnach ein Wiedergeborener. Nun ist es zwar aufgrund von Joh 3,5 richtig, die Taufe mit der Wiedergeburt in Verbindung zu bringen, aber diese sakramentale Handlung sollte nicht als Vollzug, sondern nur als »Symbol der Wiedergeburt« (HG 9032) angesehen werden.305 Das Symbol als solches bewirkt die Wiedergeburt noch nicht. Nur ein ihm entsprechendes Leben führt zu diesem Ziel. Swedenborg schreibt: »Die Taufe ist das Symbol der Wiedergeburt (symbolum regenerationis) des Menschen vom Herrn durch Wahres und Gutes des Glaubens. Durch die Taufe geschieht die Wiedergeburt nicht, sondern (nur) durch das durch die Taufe bezeichnete Leben, in das die Christen, die das Glaubenswahre in Gestalt des Wortes haben, anschließend eintreten.« (HG 2702). Swedenborg charakterisiert die Taufe häufig als »signum et memoriale«, das heißt als ein Zeichen der beständigen Erinnerung an etwas, nämlich an die Bestimmung des Geborenen zur Wiedergeburt: »Niemand kommt durch die Taufe (als solche) in den Himmel oder zum Glauben. Denn die Taufe dient nur als Zeichen der beständigen Erinnerung (signum et memoriale) daran, dass der Mensch wiedergeboren werden soll …« (HH 329). Von »signum« und »memoriale« ist im Zusammenhang der Taufe auch in 305 Statt von einem Symbol der Wiedergeburt könnten wir auch von einer Vor- bildung derselben sprechen: »Die Taufe bildete die Wiedergeburt des Menschen vor (repraesentabat), durch die der natürliche Mensch in die Kirche eingeführt (introducitur) und ein geistiger wird.« (OE 569). T HOMAS NOACK 288 NJ 206, OE 356, EO 776 und WCR 676 die Rede. Nach EO 776 ist die Taufe ein »Zeichen für den Himmel (signum pro caelo)« und ein »Erinnerungsmal für den Menschen (memoriale pro homine)«. »Memoriale« hebt einen Aspekt hervor, der schon im Zeichen selbst vorhanden ist, das heißt »signum« meint Gedenkzeichen. Diese Bedeutung von »signum« wird in HG 8066 sichtbar: »Das ist aus der Bedeutung von Zeichen ersichtlich, insofern es eine beständige Erinnerung (perpetua recordatio) ist, denn was als Zeichen und als Erinnerungsmal (memoriali) dient, das ist der beständigen Rückerinnerung (perpetuam reminiscentiam) wegen da.« Durch die Taufe ist dem Geborenen eine Bestimmung für seinen Lebensweg mitgegeben worden, und zwar die, noch einmal, dann aber geistig geborenen zu werden. Denn die erste Geburt endet im physischen Tod, sie kann aber durch die zweite Geburt veredelt werden, so dass sie schließlich im Himmel endet. Die Taufe ist als Waschung eine rituelle Reinigung: »Unter jener Waschung (lavationem), die als Taufe bezeichnet wird, ist eine geistige Waschung zu verstehen, nämlich die Reinigung (purificatio) vom Bösen und Falschen, somit die Wiedergeburt.« (WCR 670). Als »Reinigung (purificatio)« versteht Swedenborg die Taufe auch in OE 724 und WCR 144, nach WCR 510 ist »die geistige Waschung« der Taufe »eine Abspülung der Sünden (ablutio a peccatis)«.306 Die Reinigung ist der negative Aspekt der Taufe, dieser Sicht zufolge nimmt sie etwas weg, und zwar die Sünden. Den positiven oder gebenden Aspekt der Taufe behandelt Swedenborg in seiner Lehre vom dreifachen Nutzen derselben (WCR 677ff.): »Der erste Nutzen der Taufe ist die Einführung in die christliche Kirche, damit zugleich aber auch die Einreihung unter die Christen in der geistigen Welt.« (WCR 677). »Der zweite Nutzen der Taufe besteht darin, dass der Christ den Herrn Jesus Christus, den Erlöser und Heiland, erkennt und anerkennt und ihm nachfolgt.« (WCR 681).307 »Der dritte als Endzweck beabsich306 Vgl. auch Jakob Lorber: »Meine Kirche auf Erden ist ein Reinigungsbad« (HGt 1,2,5). 307 Zum zweiten Nutzen der Taufe passt die urchristliche Taufpraxis gut: »In S TREIFLICHTER 289 tigte Nutzen der Taufe besteht darin, dass der Mensch wiedergeboren wird.« (WCR 684). Swedenborg übernimmt die erst seit Ende des zweiten Jahrhunderts nachweisbare kirchliche Praxis der Säuglingstaufe308: »Weil die Taufe (nur) zum Zeichen und zum Gedenken (in signum et in memoriale) daran dient, deswegen kann der Mensch (schon) als Kind getauft werden, und wenn nicht als Kind, dann eben als Erwachsener.« (NJ 206, vgl. auch WCR 682). Weil Swedenborg die Taufe nur als ein Zeichen der lebenslangen Erinnerung an die Bestimmung aller Geborenen, noch einmal geboren zu werden, versteht, deswegen kann er die Praxis der Kindertaufe übernehmen. Der Glaube kann den Säuglingen oder kleinen Kindern selbstverständlich noch nicht durch den Taufakt übertragen werden: »Eine Täuschung ist es, dass der Glaube durch die Taufe sogar den Kindern gegeben wird (quod fides per baptismum etiam sit infantibus), wo doch der Glaube durch die Erkenntnisse des Wahren und Guten und ein ihnen gemäßes Leben erworben werden muss.« (OE 781). Deswegen wird man die Kindertaufe ablehnen müssen, wenn »man die Taufe nur als Ausdruck und öffentliche Bekundung der Hinwendung eines Menschen zum Glauben versteht« (STh 3,290). In den Anfängen der christlichen Kirche schloss die Taufe die Hinwendung zum Glauben ab: »Das Verhältnis von Taufe und Glaube stellte sich in der Missionspraxis und Theologie der alten Kirche zunächst so dar, daß der Glaube vorangeht und die Taufe folgt. Das zeigt schon die Geden Anfängen der christlichen Taufpraxis dürfte dem Gebrauch der trinitarischen Taufformel die Taufe auf den Namen Jesu vorausgegangen sein (Röm 6,3; Gal 3,27; vgl. 1.Kor 1,13-15). Besonders die Apostelgeschichte bezeugt diese Form der Taufe (Apg 2,38; 8,16; 10,48; 19,3-5).« (STh 3,268f.). Auch das Kreuzeszeichen erinnert an den zweiten Nutzen: »… in der Taufe empfängt das Kind an Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, d. h. das Zeichen der Einweihung (signum inaugurationis) in die Anerkennung und Verehrung des Herrn.« (WCR 682). 308 »Die Säuglingstaufe wurde zwar im dritten Jahrhundert von Cyprian und Origenes schon als alter apostolischer Brauch bezeichnet, ist aber vor Hippolyt von Rom – also vor Ende des zweiten Jahrhunderts – nicht sicher bezeugt.« (STh 3,287f.). 290 T HOMAS NOACK schichte von der Taufe des äthiopischen Kämmerers durch Philippus (Apg 8,37), und das dürfte auch der ursprüngliche Sinn ihrer Bezeichnung als sacramentum fidei bei Tertullian sein: Von seiten des Täuflings war die Taufe Zeugnis und Bekenntnis seines Glaubens. Das setzte die Unterrichtung über den Inhalt des Glaubens voraus, wie sie im altkirchlichen Katechumenat stattfand.« (STh 3,287). Sein Verständnis der Taufe als »signum et memoriale« ermöglicht es Swedenborg, die Säuglingstaufe zu übernehmen. Niemand wächst in einem ideologischen Vakuum auf. Durch die Taufe ihrer Kinder können christliche Eltern zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Kinder im Wasser und im Geiste der christlichen Wahrheit aufwachsen lassen wollen. 4.3.4. Das Abendmahl Das Abendmahl ist das Sakrament der Vereinigung. Es vereinigt vertikal mit Jesus Christus und horizontal untereinander. Dazu schreibt Pannenberg: »Dabei ist grundlegend, daß die Christen durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus, die ein jeder für sich in Gestalt von Brot und Wein empfängt, zur Gemeinschaft untereinander verbunden werden in der Einheit des Leibes Christi« (STh 3,324). Gegen seine Bedeutung als Sakrament der Vereinigung auch untereinander ist das Abendmahl zum Zeichen des gespaltenen Zustandes der Kirche geworden. Auf dem Weg zur Überwindung dieses Zustandes muss sich die Einsicht durchsetzen: »Es ist nicht Mahl der Kirche, sondern das Mahl des Herrn seiner Kirche.« (STh 3,362). Swedenborg deutet das Abendmahl ebenfalls als Vereinigung, hebt aber nur den vertikalen Aspekt hervor: »Daraus geht hervor, dass der Mensch, wenn er das Brot nimmt, das der Leib ist, mit dem Herrn durch das Gute der Liebe zu ihm und von ihm verbunden wird (conjungatur); und wenn er den Wein nimmt, der das Blut ist, dann wird er mit dem Herrn durch das Gute des Glaubens an ihn und von ihm verbunden (conjungatur). Man muss aber wissen, dass die Verbindung (conjunctio) mit dem Herrn durch das Sakrament des Abendmahls nur bei denen geschieht, die im Guten der Liebe und des Glaubens an den Herrn und von dem Herrn sind. Das heilige Abend- S TREIFLICHTER 291 mahl ist das Siegel dieser Verbindung (sigillum illius conjunctionis).« (HG 10522). Dieselbe Formulierung gebraucht Swedenborg in NJ 213; nur der letzte Satz ist dort ein anderer, er lautet: »Bei diesen erfolgt durch das heilige Abendmahl die Verbindung (conjunctio), bei den anderen hingegen findet (nur) eine Gegenwart (praesentia) statt, nicht die Verbindung (conjunctio).« Swedenborg will hier also deutlicher als in HG 10522 zum Ausdruck bringen, dass die Wirkung des Abendmahls vom Zustand dessen abhängt, der das Brot und den Wein empfängt. Das Abendmahl ist also nicht automatisch das Siegel der Verbindung (HG 10522), sondern bewirkt je nach dem inneren Zustand entweder die Vereinigung mit dem Herrn oder nur dessen Gegenwart.309 »Die Reformatoren haben die im katholischen Eucharistieverständnis enthaltene Komponente einer Darbringung an Gott entschieden abgelehnt … Sie verstehen das Abendmahl ausschließlich als Handeln Gottes an der Gemeinde … Die Ablehnung des Meßopfergedankens ist die dogmatisch gewichtigste Differenz des reformatorischen Abendmahlsverständnisses gegenüber dem der katholischen Tradition.« 310 Auch Swedenborg hat den katholischen Meßopfergedanken abgelehnt. Das bedeutet freilich nicht, dass man den Opfergedanken vom Abendmahl vollkommen fernhalten muss. Im Gegenteil, dieses Sakrament ist an die Stelle des vorbildenden Opferkults getreten: »Als daher die Opfer (sacrificia) abgeschafft wurden, und an ihre Stelle für den äußeren Gottesdienst etwas anderes trat, wurde verordnet, daß Brot und Wein gebraucht werden sollten.« (HG 2165). Das heilige Abendmahl trat »an die Stelle der Altäre oder der Brandopfer und Schlachtopfer« (HG 2811). Es »trat an die Stelle der Opfer und der 309 Zur Verbindung mit dem Herrn durch das Abendmahl siehe auch HG 4211: Das heilige Abendmahl »ist das Äußere der Kirche, welches das Innere in sich schließt, und durch das Innere den Menschen, der in der Liebe und Liebtätigkeit ist, mit dem Himmel verbindet (conjungit), und durch den Himmel mit dem Herrn«. Und NJ 220: »Daher fließt das Heilige aus dem Himmel in die Menschen der Kirche ein, wenn sie heilig zum Sakrament des Abendmahls gehen (siehe HG 6789). Daher kommt die Verbindung (conjunctio) des Herrn (siehe HG 1519, 3464, 3735, 5915, 10521, 10522).« 310 Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 577. 292 T HOMAS NOACK Gastmähler aus dem Geheiligten« (HG 4211).311 Nach der Theologie des Hebräerbriefes ist Jesus Christus gewissermaßen das eschatologische Opfer, das die Opfer des alten Bundes nur wie ein Schatten darstellen konnten. Mit dem In-Erscheinung-Treten des eschatologischen Opfers war der vorbildende Opferkult notwendigerweise überwunden und das neue Symbol der Gemeinschaft mit Gott wurde das Abendmahl. Interessanterweise kann Swedenborg den Kreuzestod trotz seiner kritischen Bemerkungen zur herkömmlichen theologia crucis mit der Kategorie des Opfers erfassen: Der Herr »brachte sich als Opfer (sacrificium) für die Sünden der ganzen Welt dar.« (WCR 727). Die vollständige Hingabe oder Selbstaufopferung des Herrn am Kreuz begründete die vollständige Selbstmitteilung des Herrn im Abendmahl, der sich seiner Gemeinde in diesem Sakrament rückhaltlos mit Fleisch und Blut gibt. Die katholische Kirche hat die Eucharistie untrennbar streng mit dem Weihesakrament verbunden. Das 4. Laterankonzil von 1215 wertete die Bedeutung des Priesters auf, indem es erklärte, dass nur er kraft seiner Weihewürde imstande sei, Opfer und Wandlung zu vollziehen. In den Beschlüssen des Konzils heißt es: »Und dieses Sakrament [das Abendmahl] kann freilich nur ein Priester vollziehen, der gültig geweiht wurde entsprechend den Schlüsseln der Kirche, die Jesus Christus selbst den Aposteln und ihren Nachfolgern gewährte.« (DH 802). Das gilt übrigens nicht für die Taufe (siehe Fortgang von DH 802). Auch Papst Johannes Paul II. insistierte auf den Zusammenhang von Weihesakrament und Eucharistie (DH 4720-4723). Diese Auffassung entmündigt nicht nur das Volk Gottes innerhalb der katholischen Kirche, sondern verhindert auch die gemeinsame Feier des Abendmahls innerhalb des vielgliedrigen Leibes Christi, so dass das kräftigste Zeichen der Einheit, nämlich die Versammlung 311 »Zudem umfaßt das Heilige Abendmahl und schließt in sich den ganzen Gottesdienst, der in der Israelitischen Kirche eingesetzt war. Die Brandopfer und anderen Opfer, aus denen der Gottesdienst dieser Kirche hauptsächlich bestand, wurden nämlich mit einem Wort ›Brot‹ genannt. Darum ist auch das Heilige Abendmahl ihre Erfüllung (complementum).« (NJ 214). S TREIFLICHTER 293 aller Christen am Tisch des Herrn, nicht aufgerichtet werden kann. Aus swedenborgscher Perspektive ist die exklusive Bindung der Eucharistie an das geweihte Priestertum ein wesentliches Instrument zur Herstellung und Aufrechterhaltung des Abhängigkeitsverhältnisses der Gläubigen von der katholischen Kirche bzw. ihrer »heiligen« Herrschaft (Hierarchie). Für die neue Kirche besteht kein Grund diese strenge Bindung zu übernehmen. Denn Jesus Christus hat das Abendmahl in die Hände seiner Jünger gelegt (vgl. »jedesmal wenn ihr …«, 1 Kor 11,25f.). In den Jüngern sieht die neue Kirche nicht die ersten Bischöfe, sondern die Gemeinde. Daher dürfen die Gemeinden der neuen Kirche, immer wenn sie sich im Namen Christi versammeln, auch das Herrenmahl feiern, auch wenn kein ordinierter Priester anwesend ist. »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.« (Mt 18,20). Da ist also der »mitten unter ihnen«, der im eigentlichen Sinne Brot und Wein austeilt. 5. Die Gemeinschaft der Heiligen Die Kirche ist in Gestalt von Menschen da. Auf dieser Stufe meint Kirche einen inneren Zustand im Menschen und eine äußere Gemeinschaft bestehend aus Menschen. Bei Swedenborg lesen wir: »Jene Gemeinschaft (communio), die als Kirche bezeichnet wird, besteht aus den Menschen, und nur den Menschen, in welchen die Kirche ist.« (WCR 510; siehe auch LS 78). Im Kirchenbegriff Swedenborgs sind demnach zwei Ebenen zu unterscheiden. Kirche meint erstens einen inneren Zustand und zweitens eine äußere Gemeinschaft. 5.1. Die Kirche als Zustand im Menschen Vor der Kirche als Gemeinde thematisiert Swedenborg die Kirche als einen Zustand im Menschen (LS 78, WCR 510). Jeder Mensch ist »eine Kirche in kleinster Gestalt« (HH 57). Das hat seinen Grund in der Schöpfung des Menschen. Aus Genesis 1,26f. schließt Swedenborg, »dass der Mensch ein aufnehmendes 294 T HOMAS NOACK Organ Gottes ist« (WCR 34).312 Als Bild Gottes sollte er das göttliche Wesen in der kreatürlichen Welt verwirklichen, und zwar in Gestalt der Herrschaft über die Tiere. Bekanntlich versagte der erste Adam aber, so dass Gott den zweiten Adam aus dem Tod neu erschaffen hat313, nämlich Jesus Christus, durch den er seine Herrschaft (»basileia tou theou«) verwirklicht hat und noch weiter verwirklichen wird. Dieser Jesus wurde durch seine Verherrlichung das Bild Gottes (2 Kor 4,4; Hebr 1,3), und dadurch auch der Anfang oder das Prinzip der Kirche. Die neutestamentliche Grundlage der Kirche im Menschen ist »die Vereinigung (unio) des Göttlichen und des Menschlichen im Herrn« (OE 54), die das Johannesevangelium als Verherrlichung beschreibt (WCR 128). Aufgrund dieser »unio (mystica)« konnte Jesus seinen Leib öffentlich als den (neuen) Tempel Jahwes bekanntmachen (Joh 2,21). Dadurch erwies sich der alte Steintempel in Jerusalem als eine Vorbildung (ein Typos) des kommenden Geisttempels, so dass der Jerusalemer Tempel mit dem Erscheinen des lebendigen Tempels überflüssig und im Jahre 70 n. Chr. dauerhaft zerstört wurde. Von der ursprünglichen Anwendung auf den Herrn ging die Vorstellung lebendiger Tempel auf die mit ihm durch den Glauben Verbundenen über. Das geht aus den Korintherbriefen des Apostels Paulus hervor: »Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« (1 Kor 3,16). »Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist … ?« (1 Kor 6,19). »Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes« (2 Kor 6,16). Während Jesus zum Tempel wurde, weil das Göttliche des unsichtbaren Gottes in ihm wohnte, werden die, die »in Christus« sind, zu Tempeln, weil der heilige Geist in ihnen wirksam wird.314 312 Siehe auch EL 132: »Der Mensch ist ein Aufnahmegefäß (receptaculum) Gottes, und ein Aufnahmegefäß Gottes ist ein Bild Gottes (imago Dei).« 313 Hier ist an die paulinische Adam-Christus-Typologie zu erinnern (1 Kor 15; Röm 5). Röm 5,14 nennt Paulus Adam den »typos tou mellontos«, das »Vorbild auf den kommenden (Christus)«. 314 Die Betonung des Einzelnen als Baustein für das Ganze tritt besonders im Johannesevangelium hervor: »Im ekklesialen Denken der Johannesschule S TREIFLICHTER 295 Swedenborg thematisiert den Ort der Kirche im Menschen unter den Stichworten »Aufnahmegefäß (receptaculum)« und »Wohnung (habitaculum)«.315 Das kann man aus den beiden folgenden Belegen ersehen: »Die Ordnung aber verlangt, daß sich der Mensch zur Aufnahme Gottes tauglich mache, daß er sich zu einem Gefäß (receptaculum) oder zu einer Wohnung (habitaculum) gestalte, darin Gott eingehen und wie in seinem Tempel wohnen kann.« (WCR 105). »Der Herr hat beim Menschen zwei Aufnahmegefäße (receptacula) und Wohnungen (habitacula) für sich erschaffen und gebildet, Wille und Verstand genannt, den Willen für seine göttliche Liebe und den Verstand für seine göttliche Weisheit.« (GLW 358). Mit der Vorstellung des Aufnahmegefäßes ist die des Einflusses (influxus) eng verbunden (WCR 34, 39).316 Der Ort der Kirche im Menschen ist demnach ein Gefäß, in welches das vom Herrn ausgehende Kirchliche einfließen kann. hält sich zwar der Gottesvolkgedanke durch (vgl. Apk 7,4-8 mit Joh 10,16; 11,52; 15,5), aber der Akzent verlagert sich von einem kollektiven Kirchenbegriff auf den Kreis der erwählten Kinder Gottes und Freunde Jesu. Dieser neue Kirchengedanke hebt so auffällig auf jeden einzelnen Gläubigen ab (vgl. 10,3.14-15.27; 15,4-5), daß ›die Existenz von Kirche eine Funktion der Christusgemeinschaft der einzelnen Glaubenden‹ geworden zu sein scheint (J. Roloff, Die Kirche im NT, 299; kursiv bei R.). Die Äußerungen zur Bruderliebe zeigen aber, daß die Gemeinde für Johannes mehr war und ist als nur eine Versammlung einzelner Glaubender (vgl. 1Joh 4,7-21; 3Joh 5-8 und Joh 17,20-23).« (Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 2, 1999, Seite 266). 315 Neben »receptaculum (Aufnahmegefäß)« spricht Swedenborg auch von »vas (Gefäß)«: »Damit man sich aber eine noch vollständigere Vorstellung davon bilden kann, (sei hinzugefügt:) Das Natürliche ist das Aufnehmende (receptaculum), das aufnimmt, oder das Gefäß (vas), dem das Geistige eingegossen wird. Und das Geistige ist das Aufnehmende (receptaculum), das aufnimmt, oder das Gefäß (vas), dem das Himmlische eingegossen wird.« (HG 880). »Der ist nichts anderes als ein Organ (organum) oder Gefäß (vas), das das Leben vom Herrn aufnimmt, denn aus sich lebt der Mensch nicht.« (HG 3318). 316 Wenn von einem Einfluss die Rede ist, dann taucht wie von selbst die Vorstellung von Wasser auf, das einfließt. In der heiligen Schrift wird der Geist durch Wasser, das ausgegossen wird, dargestellt (Jes 44,3; Joel 3,1; Joh 7,38f.). 296 T HOMAS NOACK Die Kirche im Menschen wird in seinem Verstand und in seinem Willen aufgerichtet, indem dort Glaube und Liebe einziehen. Demnach ist das menschliche Gemüt (mens) »das Aufnahmegefäß des göttlichen Einflusses« (WCR 34) oder der Ort der Kirche. Die hervorgehobene Stellung des Gemüts in Swedenborgs System ist ein Fortwirken seiner Gehirnforschung in seinem theologischen Werk.317 Das Paar Glaube (oder Verstand) und Liebe (oder Wille) kann noch um zwei Elemente erweitert werden. Oberhalb des Paares ist der Herr zu ergänzen (WCR 362), unterhalb desselben die guten Werke (WCR 373).318 Dass der Mensch zu einer Kirche wird, wenn sein Wille und sein Verstand zu Empfängern der Liebe und des Glaubenswahren werden, zeigen die folgenden Stellen: »Jede Kirche wird aus denen gebildet, die selbst Kirchen sind, und nicht aus anderen, wenn sie auch geboren sind, wo die Kirche ist. Das kann man deutlich daraus erkennen, dass Liebe und Glaube die Kirche machen, die Liebe und der Glaube aber müssen im Menschen sein, somit auch die Kirche.« (OE 159). »Es wird gesagt, die Kirche beim Menschen, weil die Kirche im Menschen ist. Denn die Kirche ist Kirche aufgrund der tätigen Liebe und des Glaubens, und die sind im Menschen. Wenn sie da nicht sind, dann ist die Kirche nicht beim Menschen. Man glaubt, die Kirche sei da, wo das Wort und der Herr bekannt sind, aber die Kirche besteht nur aus solchen, die das Göttliche des Herrn von Herzen anerkennen und die Wahrheiten 317 Zur Verbindung von Gehirn und Gemüt: »Daraus kann man erkennen, dass Verstand und Wille, die mit einem Worte Gemüt (mens) genannt werden, ebenso auch Einsicht und Weisheit, in den Gehirnen (cerebris) ihren Sitz haben und hier in ihren Anfängen sind« (OE 775). »Zwei Hemisphären des Gehirns (sind) die eine Wohnung des Gemüts« (EL 316). »Wille und Verstand, die Aufnahmegefäße der Liebe und Weisheit, sind in den Gehirnen (in cerebris), und zwar im ganzen wie in jedem Teil derselben, und von da aus im Körper, ebenfalls im ganzen wie in jedem Teil.« (GLW 362). »Da sich nun alle Teile des menschlichen Körpers in einem derartigen Gleichgewichtszustand befinden, so auch alle Teile des Gehirns und folglich auch alle Teile des Gemüts in demselben, die auf Wille und Verstand Bezug haben.« (WCR 478). 318 Wenn man diese vier Größen graphisch darstellt, dann ergibt sich das Bild einer Raute oder eines Rhombus. S TREIFLICHTER 297 vom Herrn durch das Wort lernen und tun. Die anderen bilden die Kirche nicht.« (OE 388). »Das geht … aus der Bedeutung des Ackers hervor, insofern er im allgemeinen Sinn die Kirche ist … und im besonderen die Kirche beim Menschen, somit auch der Mensch, in dem die Kirche ist, das heißt der das Wahre und das Gute aufnimmt.« (HG 6158). »Es ist allgemein bekannt, daß die Kirche von der Beschaffenheit ihrer Lehre abhängt, und daß die Lehre aus dem Wort abgeleitet wird. Dennoch ist es im Grunde nicht die Lehre, sondern die Lauterkeit und Reinheit der Lehre, also das Verständnis des Wortes, worauf sich die Kirche gründet. Jene besondere Kirche aber, die sich beim einzelnen Menschen findet, wird nicht durch die Lehre begründet und errichtet, sondern durch den Glauben und ein dementsprechendes Leben. Ebenso ist es auch nicht das Wort, das beim einzelnen Menschen die Kirche begründet und ausmacht, sondern der Glaube entsprechend den Wahrheiten und das Leben entsprechend dem Guten, das der Mensch daraus schöpft und auf seine Situation anwendet.« (WCR 245). Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass die Kirche insbesondere dann im Menschen entsteht, wenn sein Wille und sein Verstand eine Einheit werden. Zu dieser Ehe des Guten und Wahren schreibt Swedenborg: »Es sind zwei Vermögen des Lebens bei jeglichem Menschen, welche Verstand und Wille heißen; der Verstand ist Aufnahmegefäß des Wahren, und somit der Weisheit, und der Wille ist Aufnahmegefäß des Guten, und infolgedessen der Liebtätigkeit. Diese zwei Vermögen sollen eins ausmachen, damit der Mensch ein Mensch der Kirche sei, und sie machen eins aus, wenn der Mensch seinen Verstand aus den reinen Wahrheiten bildet, was dem Anschein nach wie von ihm selbst geschieht, und wenn sein Wille mit dem Guten der Liebe erfüllt wird, was vom Herrn geschieht; daraus hat der Mensch ein Leben des Wahren und ein Leben des Guten, das Leben des Wahren im Verstand, und das Leben des Guten im Willen, und wenn diese vereinigt sind, so machen sie nicht zwei, sondern ein Leben aus. Dies ist die Vermählung des Herrn mit der Kirche, und dann auch die Vermählung des Guten und Wahren beim 298 T HOMAS NOACK Menschen.« (WCR 249). Nach dem Gemüt muss die Seele als Ort der Kirche im Menschen genannt werden, denn sie ist »der innerste Mensch« und somit »das nächste Aufnahmegefäß des Lebens von Gott«: »Die Seele ist der Mensch selbst, weil sie der innerste Mensch (intimus homo) ist. Darum ist ihre Form vollständig und vollkommen menschlich. Sie ist jedoch nicht das Leben selbst, sondern das nächste Aufnahmegefäß (receptaculum) des aus Gott hervorgehenden Lebens, somit eine Wohnung (habitaculum) Gottes.« (EL 315). Die Seele ist nach WCR 8 »das Innerste und Höchste des Menschen«. Daher ist auch in den folgenden Stellen die Seele gemeint: »Bei jedem Engel und Menschen gibt es eine innerste oder höchste Stufe, ein Innerstes oder Höchstes, in welches das Göttliche des Herrn zuerst oder zunächst einfließt ... Dieses Innerste oder Höchste kann als Eingang des Herrn beim Engel und Menschen und als seine eigentliche Wohnung (domicilium) bei ihnen bezeichnet werden.« (HH 39). »Das Innerste des Menschen ist wo der Herr bei ihm wohnt (habitat).« (HG 2973). Die Seele ist demnach sowohl »das nächste Aufnahmegefäß« als auch die Wohnung oder Kirche des Kyrios. Im Unterschied zum Gemüt nimmt die Seele den Einfluss unmittelbar von Gott auf: »Die menschliche Seele nimmt, weil sie eine geistige Substanz höherer Art ist, den Einfluss unmittelbar von Gott auf. Das menschliche Gemüt hingegen nimmt, weil es eine geistige Substanz niedrigerer Art ist, den Einfluss von Gott mittelbar durch die geistige Welt auf. Der Leib schließlich nimmt, weil er aus Substanzen der Natur besteht, die man Materie nennt, den Einfluss von Gott mittelbar durch die natürliche Welt auf.« (SK 8).319 Manchmal bezeichnet Swedenborg die Seele und das Herz als den Ort der Kirche im Menschen im Sinne seiner Entsprechungslehre (OE 220, 745).320 Bei Jakob Lorber hingegen werden die Seele und das 319 Nach HG 8690 erfolgt »der unmittelbare Einfluss« »ins Innerste des Men- schen (in intima hominis)«. Nach EL 183 ist die Seele »das Innerste des Menschen (intimum hominis)«. In demselben Abschnitt (EL 183) wird der unmittelbare Einfluss den Seelen der Menschen zugeordnet. 320 Vereinzelt spricht Swedenborg von der Seele und dem Herz als dem Ort der S TREIFLICHTER 299 Herz tatsächlich als Orte der Einwohnung Gottes im Menschen verstanden (HGt 1,4,9). In der Natur eines Gefäßes liegt es, dass es nur dann etwas aufnehmen kann, wenn es zuvor leer geworden ist. Bei Meister Eckehart finden wir diesen Gedanken: »Kein Gefäß kann zweierlei Trank in sich fassen. Soll es Wein enthalten, so muß man notgedrungen das Wasser ausgießen; das Gefäß muß leer und ledig werden. Darum: sollst du göttliche Freude und Gott aufnehmen, so mußt du notwendig die Kreaturen ausgießen … Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll, das soll und muß leer sein.« (EQ 114). Doch bei Swedenborg finden wir diesen Gedanken der Mystik nicht. Obgleich er die Begriffe »Gefäß (vas)« und »Aufnahmegefäß (receptaculum)« nicht selten verwendet, taucht die Vorstellung des Leerwerdens als Voraussetzung des Erfülltwerdens mit dem Göttlichen bei ihm nicht auf. Swedenborg spricht zwar hin und wieder von einem leeren Gefäß (siehe »vas vacuum« in HG 2429, 3068, 10578, 10640, WCR 356), aber der Gesichtspunkt ist dann nicht der der Mystik, dass sweden- Kirche im Menschen. Jedoch deutet er diese Redeweise anschließend im Sinne seiner Entsprechungslehre: »Der Tempel bedeutet im höchsten Sinn das Göttlich-Menschliche des Herrn und im bezüglichen Sinn den Himmel und weil den Himmel, so bedeutet er auch die Kirche, denn die Kirche ist der Himmel des Herrn auf Erden, und weil der Tempel den Himmel und die Kirche bedeutet, so bedeutet er auch das vom Herrn ausgehende göttlich Wahre. Der Grund ist, weil dieses den Himmel und die Kirche macht, denn die, welche dasselbe mit Seele und Herz, d. h. im Glauben und in der Liebe aufnehmen, bilden zusammen den Himmel und die Kirche.« (OE 220). »Es wird gesagt, die es [das göttliche Wahre] mit Herz und Seele aufnehmen, und darunter wird verstanden, mit Liebe und Glauben, wie auch mit Willen und Verstand: durch die Seele wird nämlich im Wort, wo Seele und Herz genannt wird, der Glauben bezeichnet und der Verstand, und durch Herz die Liebe und der Wille; denn unter Seele wird im letzten (oder Buchstaben-) Sinn das Atmen des Menschen bezeichnet, das auch Geist (spiritus) genannt wird; daher sagt man auch hauchen für atmen, und seinen Geist aufgeben oder seine Seele hingeben, wenn der Mensch stirbt. Daß die Seele auch den Glauben und den Verstand bedeutet, und das Herz die Liebe und den Willen, kommt von der Entsprechung her; denn der Glaube und der Verstand entspricht dem Hauchen und dem Atmen der Lungen, und die Liebe und der Wille entspricht der Bewegung und dem Pulsschlag des Herzens« (OE 745). 300 T HOMAS NOACK borgisch gesprochen das Eigene, das Böse und Falsche ausgegossen worden ist, so dass das nun leere Gefäß für das Göttliche, das Gute und Wahre empfänglich geworden ist. Der Gesichtspunkt ist vielmehr der eines Mangels; die Leere ist Ausdruck der Abwesenheit von etwas Göttlichem. Leer ist das Gefäß gerade dann, wenn es mit dem eigenen Bösen und Falschen vollgestopft ist. Grundlegend für diese Sicht ist der Schöpfungsbericht, dort heißt es: »Und die Erde war wüst und leer« (Gen 1,2). Dazu schreibt Swedenborg: »Der Mensch vor der Wiedergeburt heißt ›terra vacua et inanis (leere und gehaltlose Erde)‹, auch ›humus (Erdboden, hebr. adamah)‹, dem nichts Gutes und Wahres eingesät ist; ›vacuum (leer)‹ ist es, wo nichts Gutes, und ›inane (gehaltlos)‹, wo nichts Wahres ist.« (HG 17). Die Leere ist für Swedenborg also das Tohuwabohu, das Chaos vor der Schöpfung, das als solches die Abwesenheit des Göttlichen bezeugt. Den mystischen Gedanken des Leerwerdens als Voraussetzung der Erfüllung mit dem Göttlichen formuliert Swedenborg nicht. Eine Ausnahme könnte allerdings die »exinanitio (Ausleerung)« des Kyrios sein, die Swedenborg im Anschluss an Jesaja 53,12 behandelt (WCR 104, LH 35, 59). Unter der Ausleerung oder Entäußerung ist das Ausziehen des Menschlichen, das der Herr von seiner irdischen Mutter empfangen hat, gemeint: »Weil nun der Herr von Anfang an ein Menschliches von der Mutter hatte und das nach und nach auszog, deswegen hatte er, als er in der Welt war, zwei Zustände, nämlich den der Erniedrigung oder Entäußerung und den der Verherrlichung oder Vereinigung mit dem Göttlichen, das ›Vater‹ genannt wird.« (LH 35). Wenngleich Swedenborg also im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Wiedergeburt des Menschen nicht vom Leerwerden des Gefäßes spricht, so kennt er dennoch einen Akt der Vorbereitung zur Aufnahme des Göttlichen, einen Akt, der den Menschen in die Kirche einführt bzw. zu einer »Kirche in kleinster Gestalt« macht. Das ist der Akt der Reinigung. Den Grundgedanken formuliert er beispielsweise in seiner Auslegung von Genesis 24,31 (»Und ich habe das Haus gefegt«): »›Fegen (verrere)‹ bedeutet vorbereiten und erfüllt werden. Denn vom Menschen S TREIFLICHTER 301 wird nichts anderes verlangt, als dass er ›das Haus fegt‹, das heißt die Begierden des Bösen und die daher stammenden Einbildungen des Falschen von sich weist. Tut er das, dann wird er mit dem Guten erfüllt, denn das Gute fließt vom Herrn her ununterbrochen ein, aber eben nur in das Haus oder den Menschen, der von dem gereinigt ist (purgatum), was den Einfluss verhindert bzw. das einfließende Gute zurückweist, verkehrt oder erstickt.« (HG 3142). An anderer Stelle schreibt er: »Hieraus ergibt sich das allgemeine Gesetz, dass man insoweit das Gute tut, als man das Böse flieht.« (LL 21). Und unmittelbar im Anschluss an seine Aussage, dass das menschliche Gemüt »ein Aufnahmegefäß des göttlichen Einflusses« ist, betont er: »Doch fließt das Göttliche nicht weiter ein, als der Mensch den Weg ebnet oder die Tür öffnet.« (WCR 34). Die Akte der Reinigung sind die Taufe (siehe oben) und die Buße (WCR 510). Am Ende ist der Wiedergeborene eine Kirche: »Die Kirche im besonderen ist der Mensch, der eine Kirche wird, denn die Kirche ist im Menschen und ist der wiedergeborene Mensch.« (HG 9334). Die Thematisierung der Kirche als Zustand im Menschen verbindet Swedenborgs Ekklesiologie mit der Mystik, denn diese stellt das Heilsgeschehen ebenfalls als ein Geschehen im Menschen dar. Man denke nur an Meisters Eckharts Lehre von der Sohngeburt in der Seele. Swedenborg verwendet das Wort »mysticus« zwar nur selten, weil es mit der Vorstellung des Dunklen behaftet ist und daher nicht zum Programm des Aufklärers des Himmels passt, gleichwohl übersetzt er den Grundgedanken einer »unio mystica« aber in die Sprache seines theologischen Systems (HG 1013, 2004, EO 565). Swedenborg setzt sein Denken also selbst mit dem der Mystik in Beziehung. Und so bedenkt er in seiner Lehre von der Kirche auch die mystische Innendimension dieses Begriffs, indem er der Kirche als Gemeinde die Kirche als einen Zustand im Menschen vorangehen lässt. In der Geschichte des Protestantismus ist die Mystik immer wieder mehr oder weniger deutlich abgelehnt worden. Schon Martin Luther sprach in der Auseinandersetzung mit den von ihm sogenannten »Schwärmern« ein Nein zur Mystik. Gleichzeitig finden T HOMAS NOACK 302 wir bei ihm aber auch ein »heimliches Ja«321 zu ihr. Luther scheint sogar eine Renaissance der Mystik als reformatorisches Anliegen betrachtet zu haben, denn immerhin gab er 1516 und 1518 die »Theologia Deutsch«, einen Traktat der deutschen Mystik, heraus. Diese und andere Berührungen Luthers mit der Mystik können seiner Kirche eine Brücke zur mystischen Seite des Glaubens sein, der im reformatorischen Sinne des Wortes vor allem Vertrauen (fiducia) ist. Doch die Mystik wurde immer wieder von einflussreichen evangelischen Theologen abgelehnt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts behaupteten Albrecht Ritschl und Adolf von Harnack die Unvereinbarkeit von mystischen Gedanken und Erfahrungen mit dem evangelischen Glauben. Den Höhepunkt erreichte die protestantische Ablehnung der Mystik jedoch in der dialektischen Theologie nach dem ersten Weltkrieg. Für Emil Brunner war sie »ein schlechthin antichristliches Phänomen urmenschlicher Selbstvergötzung, demgegenüber es nur eine Alternative gibt: die Mystik oder das Wort«.322 Die neue Kirche kann demgegenüber die grundlegenden Aussagen der Mystik sehr viel leichter in ihre Theologie integrieren, weil eben Swedenborg die Kirche vor ihrem In-ErscheinungTreten als Gemeinde als einen Zustand im Menschen beschreibt. Daraus kann eine spezifisch neukirchliche Mystik erwachsen, zumal der Ruf nach Mystik heute wieder sehr verbreitet ist. Denn kaum ein anderer Satz Karl Rahners wird so häufig zitiert wie der folgende: »Man hat schon gesagt, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei.«323 5.2. Die Kirche als Gemeinschaft aus Menschen Paulus bezeichnet die Kirche als »ekklesia tou theou« (1 Kor 1,2; 321 Martin Luther: Das heimliche Ja des Reformators, in: Walter Nigg, Heimliche Weisheit, Zürich 1959. 322 Emil Brunner, Die Mystik und das Wort: der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben, dargestellt an der Theologie Schleiermachers, 1924 (stark verändert 19282). 323 Karl Rahner, Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge, in: ders., Schriften zur Theologie 14, Einsiedeln 1980, Seite 148-165, hier: Seite 161. S TREIFLICHTER 303 11,16; 12,28; Gal 1,13 usw.). Er kann sie aber auch »Volk Gottes« (vgl. 2 Kor 6,16; Röm 9,25-26) oder auch das »Israel Gottes« (Gal 6,16) nennen.324 Alle diese sprachlichen Formeln weisen die Kirche als eine Gemeinschaft aus. Denn die Wortbedeutung von »ekklesia« ist Volksversammlung und bei »Volk Gottes« und »Israel Gottes« ist der Gemeinschaftscharakter offensichtlich. Hinzu kommt die nur in den Paulusbriefen vorkommende Bezeichnung »der Leib Christi« (1 Kor 12,12-31; Röm 12,4-8; Kol 1,18.24; 2,1619; 3,15; Eph 1,23; 4,4-16; 5,23).325 Auch sie bestimmt die Gemeinde als ein aus vielen Gliedern zusammengesetztes Ganzes. Die Beschreibung der Kirche als Versammlung der Glaubenden ist für den reformatorischen Kirchenbegriff grundlegend geworden. Luther berief sich auf die Formel »sanctorum communio« im apostolischen Glaubensbekenntnis.326 Und im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 heißt es: »Es wird gelehrt, daß alle Zeit eine heilige christliche Kirche müsse sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen (congregatio sanctorum), bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente in Übereinstimmung mit dem Evangelium gereicht werden.« (CA VII). Auch Swedenborg spricht von der Kirche als von einer »communio« (GLW 25, GV 325, EO 603, WCR 510), einer »communio sanctorum« (WCR 15, 307, 416) und einer »congregatio« (HG 4292). In WCR 636 zitiert Swedenborg das apostolische Glaubensbekenntnis und somit auch die darin vorkommende Wendung »sanctorum communionem«. Swedenborg schließt sich also dem reformatorischen Kirchenverständnis an. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass der Begriff »societas« in der Kirchenlehre Swedenborgs keine besondere Rolle spielt, obwohl er ihn in anderen Zusammenhängen häufig verwendet. Wenn die Kirche als »communio« oder »congregatio« beschrieben 324 Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 357. 325 Peter Stuhlmacher, a.a.O., Seite 357. 326 Wolfhart Pannenberg (STh 3,117) nennt als Belege WA 2, 190, 20-25 und WA 30/1, 189, 6ff. (= BSLK 655f.). 304 T HOMAS NOACK wird, dann liegt es nahe, sie als einen Verein zu verstehen, das heißt als einen Zusammenschluss von Gläubigen zum Zwecke der Verwirklichung eines bestimmten Vereinszwecks.327 Demgegenüber muss man jedoch darauf hinweisen, dass Vereine die Kirche nie vollständig und allumfassend darstellen können. Denn erstens sind Dimensionen des Gesamtkomplexes Kirche schon vor jedem Zusammenschluss vorhanden, den Gläubige bewerkstelligen können. Der Glaube ist bereits eine Antwort auf das Vorhandensein von Kirche, so dass die Kirche nicht oder jedenfalls nicht in jeder Hinsicht das Produkt einer Gruppe von Gläubigen sein kann. Dem entspricht, dass die Kirche in der heiligen Schrift »Mutter« genannt; sie bringt nämlich den Glauben hervor und ist nicht ihrerseits eine Hervorbringung des Glaubens (HG 289, WCR 306). Zweitens übersteigt das Wesen der Kirche als »Leib Christi« das, was einem Verein zu realisieren möglich ist. Denn bei der Realisierung des Leibes Christi geht es um die Inkorporation in ein geistiges Gebilde. Die sakramentale Darstellung dieser Inkorporation ist das Herrenmahl. Indem die Gemeinde das Fleisch und Blut Christi aufnimmt, wird sie ihrerseits in das Fleisch und Blut Christi, das heißt in seinen Leib aufgenommen. Nun ist das Abendmahl zwar »nur« ein zeichenhafter Vollzug, dessen innerer Sinn ist aber die Inkorporation in das sehr reale Gewebe der göttlichen Liebe und Weisheit (vgl. Swedenborgs Konzept des homo maximus). Diese geistige oder metaphysische Lebensgemeinschaft übersteigt das Wesen eines bloßen Vereins bei weitem.328 Die Kirche als Gemeinschaft organisiert sich als Leib Christi. Nur in den Paulusbriefen heißt die Gemeinde der Leib Christi (vgl. 327 Pannenberg schreibt: »Die Formel, die Kirche sei Gemeinschaft der Glauben- den, kann für sich genommen im Sinne eines nachträglichen Zusammenschlusses von schon Glaubenden aufgefaßt werden.« (STh 3,58). 328 Vgl. Wilfried Joest: Die Bezeichnung der Kirche als Leib Christi besagt, »daß diese Versammlung mehr, ja etwas anderes ist als der Zusammenschluß von Individuen um ein gemeinsames Anliegen, und sei es das der Erinnerung an jesus Christus und der Weitergabe seiner Lehre. Sie ist Lebenseinheit mit dem durch seinen Geist gegenwärtigen Christus.« (Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2: Der Weg Gottes mit den Menschen, 1996, Seite 541). S TREIFLICHTER 305 1 Kor 12,12-31; Röm 12,4-8; Kol 1,18.24; 2,16-19; 3,15; Eph 1,23; 4,4-16; 5,23). Die Frage nach der Herkunft und somit auch des geistigen Hintergrundes der Leib-Christi-Vorstellung bei Paulus ist noch immer nicht restlos geklärt. Es lässt sich aber eine dreifache Wurzel erkennen: die Abendmahlstradition, die sog. Adam-Christus-Typologie und die von Paulus übernommene Anschauung von Jesus als dem von Gott für uns in den Tod gegebenen und auferweckten Menschensohn-Messias. Dazu die folgenden Erläuterungen: Nach biblischer und frühjüdischer Tradition repräsentiert der himmlische Menschensohn von Dan 7 das Volk der Heiligen des Höchsten, das heißt das Israel der Endzeit (vgl. Dan 7,13-14.22.27). Nach 4. Esra 6,54 und Pseudo-Philo, LibAnt 32,15 ist das Gottesvolk Israel aus dem Leibe Adams hervorgegangen. Der christliche Ursprung ist jedoch die Abendmahlstradition. Nach 1 Kor 10,16-17; 11,24 erhält die am Tisch des Herrn versammelte Gemeinde bei jeder Feier des Herrenmahls neu Anteil an dem Leib Christi.329 Swedenborg verwendet die Formulierung »Leib Christi«. Er knüpft damit an Paulus und die kirchliche Lehre an (WCR 113, 372, 379; EO 839). Die Kirche ist der Leib Christi (WCR 372). Swedenborg deutet den Leib Christi als »das göttliche Gute und das göttliche Wahre« (WCR 372). »Die Seele und das Leben dieses Leibes mit all seinen Gliedern ist der Herr« (WCR 379). Die paulinische Leib-Christi-Vorstellung verbindet Swedenborg mit seiner homo maximus Idee: »In der Kirche ist bekannt, dass sie der Leib Christi ist. Bisher hat man aber nicht gewusst, wie sie das ist. Aufgrund der Leiblichkeit ist der ganze Himmel vor dem Herrn wie ein einziger Mensch. Und der ist in Gesellschaften unterschieden, von denen jede ein bestimmtes Glied oder Organ und Eingeweide in dem Menschen darstellt. In diesem Menschen oder Leib ist der Herr die Seele oder das Leben. Denn der Herr inspiriert die Menschen; und sobald er gegenwärtig ist, ist er das durch den Himmel wie die Seele durch ihren Körper. Ähnlich 329 Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1997, Seite 357 - 359. 306 T HOMAS NOACK verhält es sich mit der Kirche auf Erden, denn sie ist der äußere Mensch. Deswegen wird jeder durch den Tod mit den Seinigen in jenem Körper verbunden.« (Invitatio 28; vgl. auch WCR 372, 379, 608). Der Kyrios ist hier die Seele des himmlischen Leibes; im Neuen Testament ist er das Haupt330. Schon im Neuen Testament ist der Leib Christi nicht nur eine Metapher, denn immerhin werden ihm ständig neue Menschen durch Taufe und Abendmahl eingegliedert. Aufgrund seiner Visionen kann Swedenborg jedoch das ganze metaphysische Ausmaß des Leibes Christi erkennen. Er ist die Gesamtheit des Himmels, organisiert als homo maximus. Swedenborg bezog die Vorstellung vom himmlischen Großmenschen auf den Leib Christi des Neuen Testaments. Das schließt nicht aus, dass auch Vorstellungen der jüdischen Mystik eingeflossen sind.331 Die Kirche ist als ein Leib organisiert, aber sie ist zugleich auch ein Organ im Gesamtorganismus der Menschheit. Sie übernimmt dort eine bestimmte Funktion, nämlich die des Herzens (HG 637). Sie ist der Ort, wo das spirituelle Leben in das gesellschaftliche einfließen soll. Die Kirche empfängt das Leben aus der Höhe und verteilt es in die Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Herr deutet diese Funktion mit den Worten an: »Ihr seid das Salz der Erde« (Mt 5,13), das heißt die Kraft, die den Menschen auf seine ewige Bestimmung hinweist und die spirituellen Lebensprozesse anregt. »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt 5,14), 330 »In Kol 1,18; 2,19 wird Christus das Haupt (des Leibes) der Kirche … ge- nannt, und in Eph 1,22; 4,15; 5,23 wird dies aufgenommen. Mit der Rede vom Haupt setzen Kolosser- und Epheserbrief einen ekklesiologischen Akzent, der in den unbestritten echten Paulusbriefen noch fehlt.« (Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 2, 1999, Seite 30). Swedenborg greift die Idee vom Herrn als dem Haupt der Kirche in EL 125 und GLW 24 auf. 331 So sehr Swedenborg seine Idee des »homo maximus« mit der Leib Christi Vorstellung des Apostels Paulus verbindet, so wenig ist damit der Zusammenhang mit dem adam qadmon der Kabbala ausgeschlossen, auf den Bernd Roling hinweist. Siehe: Bernd Roling, Erlösung im angelischen Makrokosmos: Emanuel Swedenborg, die Kabbala Denudata und die schwedische Orientalistik, in: Morgen-Glantz: Zeitschrift der Christian Knorr von RosenrothGesellschaft 16 (2006) Seite 385 - 457. S TREIFLICHTER 307 das den Menschen aus der Finsternis der nur sinnlichen Wahrnehmung befreit. 5.3. Kirche als religionsgeschichtliche Epoche Der Begriff »Kirche« hat bei Swedenborg aber noch eine weitere Bedeutung, die über den kongregationalen Sinn hinausgeht. Swedenborg unterschied nämlich fünf »Kirchen«: die älteste Kirche, die alte Kirche (die Religionen des Alten Vorderen Orients), die jüdische Kirche (das alte Israel und das nachexilische Judentum), die christliche Kirche (Christentum) und die neue oder kommende Kirche (siehe WCR 760, HG 4706, 10248, GV 328). Zweierlei ist an diesem Konzept bemerkenswert: Erstens, unter »ecclesia« ist eine Epoche zu verstehen. Das zeigt die chronologische Aufeinanderfolge der einzelnen Kirchen und die Tatsache, dass die Epochen durch ein allgemeines Gericht abgeschlossen wurden.332 Zweitens, dem, was Swedenborg »ecclesia« nennt, entspricht in unserem Sprachgebrauch eher der Begriff »Religion«. Das heißt, »Kirche« im Sinne Swedenborgs meint eine religionsgeschichtliche Epoche, und dementsprechend meint »nova ecclesia« eine neue, seit dem Jüngsten Gericht von 1757 333 im Entstehen befindliche religionsgeschichtliche Epoche. 6. Amt und Gemeinde Die Gemeinden der neuen Kirche können sich die reformatorische Einsicht vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen zu eigen machen.334 Jedes Gemeindeglied kann demnach alle Ge332 Nach JG 46 gab es vor dem Jüngsten Gericht von 1757 zwei Gerichte dieser Art, nämlich die Sintflut und das mit der Menschwerdung Gottes einhergehende. Diese Epocheneinteilung nach den drei großen Gerichten weicht insofern von der oben genannten ab, als die alte und die jüdische Kirche als eine Kirche betrachtet werden, denn die jüdische Kirche war (wie auch die alttestamentliche Forschung gezeigt hat) nur ein Sonderfall der alten Kirche. 333 Diesem Einschnitt entspricht in der Geschichtswissenschaft der Übergang von der Frühen zur Späten Neuzeit oder zur Moderne. Das einschneidende Ereignis dazwischen ist die Französische Revolution von 1789. 334 Martin Luther: »Hinc omnes in Christo sumus sacerdotes et reges, quicumque in Christum credimus (Daher sind wir alle, die wir in Christus sind, Priester und Könige, wir alle, die wir an Christus glauben)« (De libertate christia- 308 T HOMAS NOACK meindefunktionen ausüben. Zwei Grundsätze sind jedoch zu beachten, die in der Natur der Sache liegen: Erstens kann jedes Gemeindeglied bestimmte Funktionen naturgemäß nur im Rahmen seiner Möglichkeiten ausüben. So kann beispielsweise die Lehrtätigkeit nur im Rahmen der erworbenen Kenntnisse der Lehre ausgeübt werden, die aber andererseits bei jedem Gemeindeglied mehr oder weniger vorhanden sind. Aus diesem Grundsatz folgt auch, dass Brot und Wein am ehesten von jedem Gemeindeglied ausgeteilt werden können, weil für den ordnungsgemäßen Vollzug dieser sakramentalen Handlung eine kurze Einweisung ausreichend ist.335 Zweitens kann jedes Gemeindeglied bestimmte Dienste in der Gemeinde oder im Auftrag derselben nur dann ausüben, wenn diese ihr Einverständnis gegeben hat. Auch das liegt in der Natur der Sache, denn der Dienst kann ja nicht gegen den Willen der Gemeinde, der er gelten soll, erfolgen, sondern nur mit ihrer Zustimmung. Gemeindediener brauchen also die Approbation durch ihre Gemeinde. Der evangelische Theologe Wilfried Joest begründet das allgemeine Priestertum so: »Der Gemeinde des neuen Bundes als ganzer ist Vollmacht und Auftrag gegeben, das Evangelium von Jesus Christus in der Welt durch Wort und Tat zu bezeugen, und alle ihre Glieder haben an diesem Auftrag teil. In ihr ist das Wirken des Geistes Gottes nicht mehr auf die besondere Berufung einzelner beschränkt; alle sind pneumatikoi. Im Pfingstgeschehen wird die Erfüllung der Verheißung von Joel 3,1ff erkannt: ›Es soll in den letzten Tagen geschehen, daß ich meinen Geist ausgieße auf alles Fleisch‹, und eure Söhne und Töchter und eure Mägde werden wie Propheten reden (Apg 2,16ff). Allen gilt nach 1 Petr 2,9: ›Ihr seid die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, damit ihr die Kraft dessen verkündigt, der euch aus der Finsternis herausgerufen hat zu seinem wunderbaren Licht.‹ Jedem, der an ihn na, 1520, 15; WA 7,56,37f.). Luther berief sich auf 1Petr 2,9; Apk 1,6; 5,9f. (siehe Pannenberg STh 3,145ff.). 335 Nach Wilfried Joest »findet sich im ganzen Neuen Testament kein Hinweis darauf, daß Sakramente gültig und wirksam nur durch dazu besonders Geweihte gespendet werden können.« (Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 558). S TREIFLICHTER 309 glaubt, verheißt Christus nach Joh 14,12: ›Die Werke, die ich tue, wird er auch tun.‹ Es gehört entscheidend zum Neuen des neuen Bundes der Versöhnung, daß in ihm der Unterschied von solchen, die unmittelbaren Zugang zum Heiligtum haben und solchen, die nur durch deren vermittelnden Dienst vor Gott treten, aufgehoben ist.«336 In den »Bylaws of the Swedenborgian Church« (die Statuten der Swedenborgkirche) heißt es in der Präambel des 13. Artikels: »Every Christian is called to minister«.337 Zur Begründung werden Mt 25,35f. und 1 Kor 12,4-7 zitiert. Das Proprium des besonderen Priestertums besteht nicht in einer exklusiven Vollmacht, sondern in der gründlichen, fachlichen Ausbildung. Daher müssen zur Ausübung des besonderen Priestertums zwei Approbationen vorliegen: erstens die der Ausbildungsstätte (Abschlusszeugnis) und zweitens wie beim allgemeinen Priestertum die der Gemeinde. Die Ausbildung befähigt zu einer gründlicheren theologischen Urteilsbildung, so dass das besondere Priestertum auch eine episkopale Funktion ausüben wird, die allerdings nicht zu einem unfehlbaren Lehramt mutieren darf, sondern eher den Charakter einer theologischen Beratung und Begleitung haben wird. Welchen Dienst (Swedenborgs »usus«) kann der Priester seiner Gemeinde erweisen? Ich gehe von einer Äußerung Swedenborgs aus: »Die Priester (sacerdotes) sollen die Menschen den Weg zum Himmel lehren (docebunt) und sie auch dahin führen (ducent).« (NJ 315; HG 10794). Eine ähnliche Formulierung unter Verwendung von Pastor (Hirte) steht in HG 343: »Hirte (pastor) wird der genannt, der führt (ducit) und lehrt (docet)«. Nimmt man noch den Sakramentendienst dazu – zu Taufe und Abendmahl äußert sich Swedenborg ausführlich in der WCR -, dann sehe ich drei Ebenen des priesterlichen Dienstes: 1.) Die liturgische Funktion oder die Darstellung des Glaubens in symbolischen Vollzügen. Die Sakramente gehören in diesen Zusammenhang. 2.) Die theologische 336 Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 554. 337 Als neutestamentliche Berufungsgrundlagen werden Mt 25,35-36 und 1 Kor 12,4-7 genannt. 310 T HOMAS NOACK Funktion. Sie umfasst die Exegese der heiligen Schriften (die Offenbarungswissenschaft), das Studium der Lehrdokumente und die Weiterentwicklung der Lehren im Geiste der Basistexte (die systematische Theologie) und die Vermittlung der Lehren nach innen (der Lehrauftrag) und nach außen (die Mission). 3.) Die pastorale Funktion. Der Seelsorger soll ein Beistand auf dem Weg zur Wiedergeburt (regeneratio) sein. Zum besseren Verständnis dieses Schemas sei darauf hingewiesen, dass im Hintergrund Swedenborgs Gradlehre steht. Die liturgische Funktion ist demnach die natürliche Stufe, die theologische ist die geistige und die pastorale ist die himmlische. Mit den Stufen steigen auch die Anforderungen. Der pastorale Dienst setzt die höchste Qualifikation voraus, weil neben der äußeren Ausbildung auch eine gewisse Lebensreife gegeben sein muss. Eine etwas geringere Qualifikation ist für den theologischen Dienst erforderlich, weil hier eine intellektuelle Ausbildung ausreicht, sofern sie nur im Glauben absolviert wird. Die geringste Qualifikation ist für den liturgischen Dienst notwendig, zumal wenn vorgegebene Formulare zur Anwendung kommen. Die Ausarbeitung derselben hingegen ist eine theologische Aufgabe. Ein wesentliches Kennzeichen der neuen Kirche ist das unmittelbare Verhältnis zwischen Christus und jedem einzelnen Christen. Gerade die zentrale Erkenntnis, dass in Jesus Christus der unschaubare Gott schaubar und in gleicher Weise zugänglich geworden ist wie die Seele durch ihren Leib, verleiht dem Gottesverhältnis eine vollkommen neue Qualität; es wird durch den schaubaren Gott unmittelbar und sehr intim (WCR 647, 787). Das ist der Kern oder das Wesentliche der neuen Kirche. Deswegen darf in dieser Kirche, wenn sie denn tatsächlich eine neue sein soll, das unmittelbare Verhältnis des Christen zu Christus nicht durch eine exklusiv heilsvermittelnde Stellung des Priesters unterbrochen werden. Der Priester der neuen Kirche steht nicht mehr zwischen Christus und den Christen, sondern nur noch daneben. Der Priester ist nicht mehr ein notwendiger Bestandteil im Geschehen zwischen dem einen Hirten und der einen Herde (Joh 10,16), aber immerhin kann er noch ein hilfreicher Begleiter S TREIFLICHTER 311 bei der Entwicklung und Vertiefung dieses an sich unmittelbaren Verhältnisses sein. Um das Gesagte zu verdeutlichen weise ich auf das katholische Gegenmodell hin, demzufolge die Kirche bzw. die kirchliche Hierarchie die Institution der Heilsvermittlung ist und als solche zwischen Christus und den Christen steht.338 Von diesem Modell hat sich schon Luther abgesetzt und die neue Kirche muss es vollends überwinden. In der katholischen Kirche »entstand ein Priestertum, das durch sakramentale Weihe von allen anderen Christen so abgehoben ist, daß die Vollmacht heilsvermittelnden Handelns, insbesondere die Spendung der Sakramente, aber auch die Entscheidung über wahre und falsche Lehre in der Wortverkündigung, ihm exklusiv vorbehalten bleibt.«339 Die römischkatholische Kirche beansprucht Unfehlbarkeit; ihr oberstes Lehramt legt fest, was Glaubenslehre und von den Gläubigen anzunehmen ist, denn die persönliche Glaubensüberzeugung wird »als gehorsame Einordnung in den Glauben und das Dogma der Kirche« verstanden.340 Das Lesen der Bibel war den Laien lange Zeit verboten.341 Luther hingegen gab das göttliche Wort 338 »In der neueren katholischen Theologie wird diese Vorordnung der Kirche als Institution der Heilsvermittlung vor ihren Wesensaspekt als Gemeinschaft der Glaubenden häufig so ausgedrückt, daß die Kirche selbst als das ›Ursakrament‹ bezeichnet wird, von dem alle einzelnen Sakramente ausgehen.« »Dieser Gedanke wurde besonders von O. Semmelroth entwickelt; vgl. seine Abhandlung Die Kirche als Sakrament des Heils, in: Mysterium salutis, Hg. J. Feiner und M. Löhrer, Band IV/1 (1972), Seite 308ff.« (Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 522). Vermutlich kann man die Anbindung der Gnade an Gnadenmittel oder Sakramente als das Instrumentarium interpretieren, das man einführen musste, wenn man die Kirche als die Institution der Heilsvermittlung etablieren wollte. »Kraft dessen, daß Christus die Vermittlung der Heilsgemeinschaft mit ihm selbst an das Handeln der Kirche gebunden hat, galt von alters her der Satz: Extra ecclesiam nulla salus«. Er wurde erstmals so von Cyprian formuliert. Auf ihn geht auch der bekannt Satz zurück: Habere non potest Deum patrem qui ecclesiam non habet matrem. (Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 523). 339 Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 556. 340 Wilfried Joest, Dogmatik, Band 2, 1996, Seite 523. 341 Hildebrand (Gregor VII.) befahl den Bewohnern Böhmens, die Bibel nicht zu lesen. Innozenz III. verbot den Menschen, die Bibel in ihrer eigenen Sprache 312 T HOMAS NOACK dem Volk in seiner Muttersprache, so dass es jeder Lesekundige selbständig studieren und zu einem eigenständigen Verständnis in Glaubensdingen gelangen konnte. Natürlich entstand dadurch eine Vielzahl von Glaubensansichten. Aber diese Vielzahl ist, wenn sie das Ergebnis einer aufrichtigen Suche nach der Wahrheit ist, kein Unfall, sondern eine Bereicherung. Die neue Kirche strebt daher die Überwindung des petrinischen Einheitsglaubens an. Sie wünscht sogar, dass jeder einzelne Christ seine ureigenste Theologie im Spannungsfeld zwischen dem heiligen Geist innen und dem göttlichen Wort außen entwickelt. Die neue Kirche schiebt sich nicht als unfehlbare Instanz zwischen Christus, der die göttliche Wahrheit ist (Joh 14,6), und dem Christen, der diese Wahrheit aufnehmen möchte. Die neue Kirche unterbricht die Unmittelbarkeit des Dialogs also nicht. Gleichwohl ragte der Schatten des alten Ideals einer uniformen Lehre selbst noch in die Vereine der Neuen Kirche hinein, insofern sie in einer musealen Swedenborgorthodoxie erstarrten. Meines Erachtens ist es zwar durchaus legitim, sich einem großen Denker zu übergeben, aber man darf dabei nicht zum Denkmalpfleger werden , sondern muss im Geiste des Meisters weiterdenken. Dann verbindet sich die Verehrung wieder mit der Dynamik der eigenständigen Wahrheitssuche, und nur diese Verbindung scheint mir der neuen Kirche würdig zu sein. 7. Die Einheit der Kirche Der Geist Christi wird die Kirche einen. Auch wenn wir unsere Ekklesiologie nur im Wechselspiel von Anknüpfung und Widerspruch entwickeln konnten, so haben wir damit keine Steine erhoben und gegen unsere christlichen Brüder und Schwestern zu lesen. Gregor IX. verbot Laien den Besitz einer Bibel und unterband Übersetzungen. Übersetzungen unter Albigensern und Waldensern wurden verbrannt, und Menschen, die solche Übersetzungen besassen, wurden ebenfalls verbrannt. Paul IV. verbot den Besitz von Übersetzungen, die von der Inquisition nicht genehmigt worden waren. Die Jesuiten brachten Klemens XI. dazu, die Bibellektüre von Laien zu verdammen. Leo XII., Pius VIII. Gregor XVI. und Pius IX. verdammten allesamt die Bibelgesellschaften. S TREIFLICHTER 313 geworfen. Denn wir glauben, dass der Geist des Kyrios schon mächtig am Wirken ist, indem er die alten Formen durchdringt, mit einem neuen Geist erfüllt und so den Leib Christi verwandelt. Die Kirche der vergangenen zweitausend Jahre war dieser Leib vor seiner Kreuzigung in der Neuzeit und vor seiner Auferstehung im Zuge der Wiederkunft Christi. Die Geistkirche wird der Auferstehungsleib sein und die Einheit der Kirche erwirken. Die Entdeckung oder besser Wiederentdeckung des geistigen Sinnes wird die Kirche verklären, denn als »creatura verbi« entspricht ihre Beschaffenheit genau derjenigen der Sinnerfassung des Wortes. Wo der Geist zum Durchbruch gelangt, das ist da ist Versöhnung und da ist Einheit die zwanglose Folge. T HOMAS NOACK 314 Die kommende Kirche 1. Die Krone aller Kirchen Swedenborg wählte ein hohes Wort für die »neue Kirche«. Sie werde »die Krone aller Kirchen« der Menschheitsgeschichte sein (WCR 787). Sie werde also der krönende Höhepunkt und Abschluss sein. Dieses hohe Wort nötigt zur Unterscheidung zwischen der neuen Kirche Swedenborgs und der Neuen Kirche der Swedenborgianer. Denn es ist extrem unwahrscheinlich, dass eine Vereinskirche der krönende Höhepunkt der Menschheitsgeschichte sein werde. Daher fragen wir uns: Was ist mit dieser »Corona omnium Ecclesiarum« gemeint? Und zweitens: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Rückbesinnung auf die ursprüngliche Vision für die Neue Kirche in ihrer gegenwärtigen Situation? 2. Die eschatologische Kirche Die kommende Kirche ist die eschatologische Kirche. Das griechische Wort »eschate« bedeutet »(die) letzte«; »eschatologische Kirche« heißt also letzte Kirche. Dass die kommende Kirche die letzte ist, ergibt sich aus den Zeitalterlehren sowohl Swedenborgs als auch Lorbers. Das Wesentliche sei an dieser Stelle mit wenigen Worten gesagt.342 Swedenborg unterscheidet fünf »Kirchen«, wobei die Übersetzung von »ecclesia« mit »Kirche« in diesem Zusammenhang irreführend ist, denn gemeint sind fünf religionsgeschichtliche Epochen: 1.) die Urreligion der Menschheit vor der »Sintflut«, 2.) die Religionen des Alten Vorderen Orients (Swedenborgs »alte Kirche«), 3.) der altorientalische Sonderfall Israel, 4.) das Christentum und schließlich 5.) die sogenannte »nova ecclesia«, die Religion nach der Wiederkunft Christi und der geistigen Krise der Moderne. Zwischen den vier ersten »Kirchen« und der kommen342 Eine ausführliche Darstellung der Zeitalterlehren Swedenborgs und Lorber findet man in: Thomas Noack, Der Seher und der Schreibknecht Gottes: Emanuel Swedenborg und Jakob Lorber im Vergleich, 2004, Seite 188-210. S TREIFLICHTER 315 den liegt eine große Zäsur, denn Swedenborg schreibt: »Da die aufeinander folgenden Zustände der Kirche im allgemeinen und besonderen im Wort durch die vier Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, und durch die vier Tageszeiten, Morgen, Mittag, Abend und Nacht beschrieben werden, und da die heutige Kirche in der Christenheit die Nacht ist, so folgt, dass jetzt der Morgen, dass heißt der Anfang einer neuen Kirche bevorsteht.« (WCR 764). Die vier bisherigen religionsgeschichtlichen Epochen sind demnach ein Tag (oder Jahr), so dass die kommende Kirche die Aurora oder der Morgenglanz der Ewigkeit eines ganz neuen Tages sein wird. Mit der Neuoffenbarung durch Jakob Lorber kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis, obgleich dort nicht von fünf Kirchen, wohl aber von sieben Ankünften des Herrn die Rede ist (HGt 1,46,19-22). Die Ankünfte eins bis drei brachten die drei Kirchen vor der Fleischwerdung des Wortes hervor. Die Ankünfte vier bis sechs sind alle auf die christliche Kirche zu beziehen. Genannt werden die Ankunft im Fleisch (»kata sarka«), die Ankunft im Geist (»kata pneuma« oder Pfingsten) und die unbemerkte, innerliche (esoterische) Ankunft in der langen Phase des exoterischen Kirchentums. Und dann heißt es: »Und endlich werde Ich noch einmal kommen«, »im Feuer Meiner Heiligkeit«; »doch dieses letzte [eschatologische] Kommen wird allen sein ein bleibendes Kommen, entweder so oder so!« (HGt 1,46,22.19). Damit ist die »neue Kirche« gemeint. Zum Verständnis der Ankunft im Feuer sind die Ausführungen im Großen Evangelium über die vier Feuer zur Reinigung oder Läuterung der Menschheit gegen Ende der »Mittelbildungsperiode« (gemeint ist das Zeitalter der christlichen Kirche) ergänzend heranzuziehen (siehe GEJ 8,182,5; 185f.). Dass die kommende Kirche die letzte sein wird, bedeutet, dass die ursprüngliche Absicht, die Gott bei der Schöpfung des Menschen hatte, in dieser Kirche ihre vollkommene, eschatologische (letztgültige) Verwirklichung erreichen wird. Diese Absicht war und ist und wird immer sein die vollkommene Gemeinschaft Gottes mit den Menschen und der Menschen mit Gott. Dazu Swedenborg: »Die göttliche Liebe Gottes hatte bei der Erschaffung 316 T HOMAS NOACK der Welt nichts anderes zum Ziel, als den Menschen mit sich und sich mit dem Menschen zu verbinden, um so beim Menschen zu wohnen.« (WCR 786; siehe auch WCR 43 und 46). Diese Gemeinschaft ist nur mit einem sichtbaren, in menschlicher Gestalt gegenwärtigen Gott möglich. Daher begründete Swedenborg seine Überzeugung von der kommenden Kirche als der Krone aller Kirche so: »Diese kommende Kirche ist deswegen die Krone aller Kirchen …, weil sie einen schaubaren Gott verehren wird, in dem der unschaubare wohnt wie die Seele im Leib.« (WCR 787). Wenn erst die kommende Kirche die eschatologische (die letzte) sein wird, dann erweist sich die christliche der vergangenen zweitausend Jahre als vorletzte. Doch wie verhält sich diese Einsicht zur innerhalb der christlichen Kirche geglaubten Unüberbietbarkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus? Darauf können wir die folgende Antwort geben: Dass der unsichtbare, transzendente Gott in Jesus Christus zum schaubaren Gott geworden ist (Joh 1,18), das ist unüberbietbar, das verbindet also den christlichen Glauben mit dem der kommenden Kirche. In der vierten Kirche errang Gott seine bleibende Offenbarungsgestalt. Der Übergang von der vierten zur fünften Kirche ist nicht mehr mit einem Wandel des Gottesbildes verbunden. Ich möchte das einmal so veranschaulichen: In den vier Naturreichen bildet sich vom Stein, über die Pflanze und das Tier schließlich die menschliche Form heraus. Doch der Übergang vom Menschen zum Engel ist nicht mehr mit einer Metamorphose verbunden; auch Engel sind Menschen. Ebenso ist der Gott der fünften Kirche identisch mit dem der vierten, allerdings ist der Übergang in die kommende Geistkirche mit einer Vergeistigung des bisherigen Gottesverständnisses verbunden. Die Grundsteinlegung dieses qualitativen Sprungs ist die einpersönliche Trinitätslehre Swedenborgs. Die Unüberbietbarkeit der christlichen Gottesoffenbarung schließt aber nicht aus, dass es zu einer neuen Offenbarung Gottes und infolgedessen zu einer neuen Kirche kommen wird. Ich möchte das Gemeinte anhand einer Aussage der dogmatischen S TREIFLICHTER 317 Konstitution über die göttliche Offenbarung des 2. Vatikanischen Konzils verdeutlichen. Dort heißt es: »Daher wird die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und nun endgültige Bund, niemals vorübergehen, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der glorreichen Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus« (Dei Verbum 4). Die Endgültigkeit des neuen Bundes (des Neuen Testaments) schließt eine »neue öffentliche Offenbarung« aus. Die Offenbarung ist abgeschlossen; nur »Privatoffenbarungen« sind noch möglich. Allerdings sagt DV 4 auch, dass es sehr wohl noch eine, nämlich die eschatologische Offenbarung geben wird, die glorreiche »Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus«. Und genau diese urchristliche Erwartung ging durch Swedenborg in Erfüllung (siehe WCR 779, HH 1). Die Rede von der Unüberbietbarkeit oder Endgültigkeit des christlichen Bundes kann, falsch oder selbstgenügsam gehandhabt, die christliche Kirche zum Feind der Wiederkunft Christi und der kommenden Kirche machen. 3. Die Endzeit der Kirche Der eschatologischen Kirche gehen endzeitliche Prozesse voraus. Im Unterschied zur herkömmlichen Theologie deutet Swedenborg die apokalyptischen Texte der heiligen Schrift jedoch nicht kosmologisch, sondern theologisch bzw. ekklesiologisch. So handelt beispielsweise die Johannesapokalypse nach Swedenborg »vom Anfang bis zum Ende vom letzten Zustand der Kirche in den Himmeln und auf Erden, dann vom Jüngsten Gericht und schließlich von einer neuen Kirche, die das neue Jerusalem ist.« (EO 2). Nach EO 387 wird in der Offenbarung des Johannes »einzig vom Zustand der Kirche an ihrem Ende gehandelt«. Auch in HH 1 versteht Swedenborg einen endzeitlichen Text, diesmal aus dem 24. Kapitel des Matthäusevangeliums, nicht im Sinne kosmischer Katastrophen, sondern im Hinblick auf das Ende der christlichen Kirchen bzw. ihrer Theologien. Der Wechsel des hermeneutischen Rahmens zeigt sich auch in der gegenüber der klassischen Theologie völlig anderen Sinnfüllung der neutestamentlichen Formulierung »he synteleia tou 318 T HOMAS NOACK aionos«, die hauptsächlich im Matthäusevangelium vorkommt, beispielsweise in Mt 24,3, zu Beginn der für Swedenborgs Eschatologie so wichtigen Endzeitrede des ersten Evangeliums. In der (evangelischen) Lutherübersetzung und in der (katholischen) Einheitsübersetzung der Bibel wird diese Formulierung mit »das Ende der Welt« übersetzt; im Hintergrund steht demnach die Vorstellung des Weltuntergangs. Swedenborg hingegen versteht unter der »consummatio saeculi«, so die lateinische Übersetzung von »he synteleia tou aionos«, das Ende des (christlichen) Äons bzw. Zeitalters. Dem letzten, eschatologischen Kapitel seines theologischen Hauptwerkes »Die wahre christliche Religion« gab er die Überschrift: »Vom Ende des (christlichen) Äons (de consummatione saeculi), von der Ankunft des Herrn und vom neuen Himmel und der neuen Kirche«. Schauen wir auf ein paar Unterabschnitte dieses Kapitels, um uns die Vorstellung Swedenborgs zu verdeutlichen: »Das Ende des (christlichen) Äons ist die letzte Zeit oder das Ende der Kirche« (Überschrift über WCR 753ff.). »He synteleia tou aionos« ist also nicht »das Ende der Welt«, wie es die kirchlichen Übersetzungen meinen, sondern »das Ende der Kirche« bzw. ihrer Theologien. Diese im 18. Jahrhundert beginnende Endzeit der christlichen Kirchentümer »ist die Nacht, in der die früheren Kirchen (seit der ältesten Kirche) ihr Ende erreicht haben.« (Überschrift über WCR 760ff.). In der großen Glaubenskrise der Moderne ging demnach nicht nur das abendländische Christentum unter, sondern auch der uralte metaphysische Traditionsstrom, der die Menschheit seit unvordenklichen Zeiten begleitet hatte, nun aber in der Wüste des äußeren Denkens versiegen sollte. Aber »auf jene Nacht folgt ein Morgen, und dieser ist die Ankunft des Herrn« (Überschrift über WCR 764ff.). Die geistige Morgenröte wird eine Scheidung der Geister, ein Gericht bewirken und zu einer neuen Kirche führen (siehe Überschrift über WCR 772ff.). Die eschatologische Dimension der kommenden Kirche besteht dem Gesagten zufolge darin, dass sie die spirituelle Epoche nach dem großen Gericht über das weltliche Denken oder nach der »synteleia tou aionos« sein wird. Das Ende des christlichen Äons, das heißt der Zusammenbruch S TREIFLICHTER 319 der traditionellen Theologie im Abendland (Europa), schuf ein Vakuum, in das sogleich andere, geistige Mächte einströmten. Auf den Verlust der transzendenten Beziehung reagierten die Menschen im Land der untergehenden Sonne mit der nunmehr ungehemmten Hinwendung ihres Geistes zur empirischen, sinnlich erfahrbaren Welt. So wurde die Ratio (Vernunft) auf den Thron gesetzt, auf dem bis dato die Revelatio (Offenbarung) saß. So entstanden die empirischen und historischen Wissenschaften und die technische Weltbemächtigung. Der Materialismus (Swedenborgs »Naturalismus«) trat dreist und unverhüllt hervor. Der Ökonomismus eroberte das Sinnen und Trachten der im Diesseitsglauben gefangenen Menschen. Sie beuteten die Schätze der Erde aus zum Zwecke der materiellen Gewinnerwirtschaftung und folgten der Verheißung eines grenzenlosen Wachstums im globalen Dorf. Swedenborg beschränkte sich im wesentlichen darauf, die Apokalypse oder die endzeitlichen Ereignisse hinsichtlich ihrer geistigen, theologischen Dimension zu beschreiben, so besonders in seinem Werk »Apocalypsis revelata«. Doch er sagte auch: »In der geistigen Welt liegen die Ursachen zu allem und in der natürlichen die Wirkungen von allem.« (GLW 154). Der Zusammenbruch des bis dahin stabil scheinenden geistigen Kosmos (Mt 24,29) musste daher Auswirkungen in der sichtbaren Welt haben. Auf diese wiesen nur wenige Jahrzehnte nach Swedenborg die Offenbarungen durch Jakob Lorber sehr anschaulich und eindringlich hin. Doch die Posaunen der Endzeit stießen auf taube Ohren. 4. Die Wiederkunft Christi und das neue Jerusalem Die Ankunft des Logos im Fleisch (Joh 1,14), »in großer Not körperlich« (HGt 1,46,21), war noch nicht seine letzte. Die Christen der Frühzeit lebten in der Erwartung seiner abschließenden und bleibenden Ankunft »mit großer Macht und Herrlichkeit« (Mt 24,30). Obwohl Jesus eine Zeitenwende bewirkt hat und wir seitdem die Zeit in »vor Christus« und »nach Christus« teilen, legt sich von den neutestamentlichen Urkunden her nicht eine Zwei-, sondern eine Dreiteilung der Zeit nahe, nämlich erstens vor der 320 T HOMAS NOACK Ankunft des Erlösers, zweitens zwischen Ankunft und Wiederkunft und drittens nach der Wiederkunft. Die Theologie charakterisiert die Zeit zwischen Ankunft und Wiederkunft gerne mit den Worten »schon jetzt« und »noch nicht«. So lesen wir im Katechismus der katholischen Kirche: »Christus der Herr herrscht schon jetzt durch die Kirche, aber es ist ihm noch nicht alles auf dieser Welt unterworfen.« (KKK 680). Die Offenbarungen durch Jakob Lorber nennen diese Zwischenzeit die »Mittelbildungsperiode« (GEJ 8,182,5). Die Wiederkunft Christi »in den Wolken des Himmels«, von der in den heiligen Schriften die Rede ist (Mt 24,30; 26,64; Mk 13,26; 14,62; Lk 21,27; Offb 1,7; 14,14ff.; Dan 7,13), meint die Enthüllung des inneren Sinnes in den äußeren, historischen Überlieferungen des Alten und Neuen Testaments. Da Christus das Wort ist (Prolog des Johannesevangeliums) oder »das göttliche Wahre« (WCR 777), ist unter seiner Wiederkunft »mit großer Macht und Herrlichkeit« die triumphale Wiederoffenbarung dieser göttlichen Wahrheit oder Weisheit zu verstehen. Die Wolken des Himmels sind die schriftlichen Hinterlassenschaften der Offenbarung Gottes ehemals durch die Propheten und »in der großen Zeit der Zeiten« (HGt 1,46,21) durch seinen Sohn (vgl. Hebr 1,1f.). In diesen Wolken der himmlischen Zeugen wird das »pneuma hagion« (der heilige Geist) den pneumatischen Sinn aufscheinen lassen gleich einer Lebenssonne; und das wird der neue und ewige Tag des Herrn oder die neue Kirche sein. Die Wiederkunft Christi, das können wir heute bereits sagen, vollzog sich also zunächst als ein Wortgeschehen, das heißt als eine Neuoffenbarung des Logos. Aus den Enthüllungen des inneren Sinnes wird sich eine »Lichtund Lebenslehre« (GEJ 7,54,5) gestalten; das ist die Herabkunft des neuen, himmlischen Jerusalems (Offb 3,12; 21,2; Gal 4,26; Hebr 12,22; 13,14). Nach Swedenborg bezeichnet es »eine neue Kirche hinsichtlich ihrer (neuen) Lehre« (EO 880, WCR 781-784, LH 62-65, NJ 1). Ganz ähnlich beschreiben diesen Vorgang auch die Offenbarungen durch Jakob Lorber: »… in jenen Zeiten wird sie [die Lehre] ihnen nicht verhüllt, sondern dem himmlischen und geistigen Sinne nach enthüllt gegeben werden, und darin S TREIFLICHTER 321 wird das neue Jerusalem bestehen, das aus den Himmeln auf die Erde herniederkommen wird.« (GEJ 9,90,2). Oder im Anschluss an die Erklärung einer Himmelserscheinung (GEJ 7,49,3-4) heißt es: »Die Zerteilung der Säule in zahllos viele Teile bedeutet die Enthüllung des innern, geistigen Sinnes aller Meiner Worte und Lehren, die Ich seit Beginn des Menschengeschlechtes den Menschen durch den Mund der Urväter, der Propheten und Seher und nun Selbst gegeben habe. Aus solchen vielen Teilenthüllungen des innern, geistigen Sinnes des Wortes Gottes wird sich dann erst eine wahre und große Licht- und Lebenslehre zusammenformen, und diese Lehre wird dann das große und neue Jerusalem sein, das aus den Himmeln zu den Menschen herniederkommen wird.« (GEJ 7,54,4-5). 5. Grundzüge der Theologie der kommenden Kirche Die kommende Kirche erwächst aus dem geistigen Verständnis der heiligen Schrift. Daher können wir sie die Geistkirche Christi nennen. Mit den Begriffen »Geist« oder »geistig« ist der Begriff des »Inneren« untrennbar verbunden. Bei Swedenborg sind die Formulierungen »der geistige Sinn« und »der innere Sinn« bedeutungsgleich. Und auch nach Jakob Lorber ist das Geistige »das Allerinnerste« (GS 1,1,2) oder »die innerste Kraft« (GEJ 7,75,2). Schon das Christentum stellte gegenüber dem Judentum eine verinnerlichte, religionsgeschichtliche Stufe dar, denn es überwand die kultischen Vorbildungen, die alle auf Christus hinzielten und dementsprechend durch sein Erscheinen ihre Bedeutung verloren (HG 4904, WCR 670). Gleichwohl entwickelte sich im Anschluss an das Christusereignis noch einmal eine exoterische Heilsanstalt, die katholische Kirche, die den Kultbetrieb in die neue Zeit hinüberrettete und das Heil in Gestalt von Sakramenten verdinglichte. So entstand eine Religion in einer eigenartigen Schwebe zwischen innen und außen, denn einesteils gehört zum Katholizismus die Spiritualität der Kirchenväter, der Mönche und der Mystik und andernteils das mächtige Interesse an der Kirche als sichtbares Gefüge und universales Heilssakrament. Daher wird das spirituelle, innerliche Potential des Christentums erst in 322 T HOMAS NOACK der Geistkirche wirklich zum Durchbruch kommen. Die folgenden Grundzüge der Theologie dieser Kirche ergeben sich alle aus ihrem Charakter als Geistkirche bzw. als Kirche der geistigen Sinnerfassung des Wortes. Zugleich decken sich diese Grundzüge weitgehend mit dem »Spiritualismus« wie ihn der Religionswissenschaftler Christoph Bochinger beschrieben hat.343 Auch die Theologie der kommenden Kirche hat ungeachtet der Tatsache, dass sie wesentliche Impulse durch die neue Offenbarung Christi, seine Wiederkunft oder Parusie, erhält, die alte Offenbarung der heiligen Schrift als Fundament. Swedenborg versichert: »Die Lehre (= Theologie) der Kirche muss aus dem Wort genommen werden.« (NJ 257; siehe auch EO 576). Daher wird die Neuoffenbarung die Altoffenbarung der Bibel ebenso integrieren wie das Neue Testament der Christen das Alte oder Erste Testament der Juden aufgenommen und aus beiden die Schriftensammlung der Bibel geschaffen hat. Die Übereinstimmung der neuen göttlichen Offenbarungen mit der heiligen Schrift der christlichen Kirche ist ebenso eine Glaubensaussage, wie die Übereinstimmung des Alten Testaments mit dem Neuen. Nur der Glaube an Jesus als den Messias konnte erkennen, dass Mose und die Propheten durch das Christusgeschehen (mit wesenhafter Realität) erfüllt worden sind. Daher konnten die Christen die heiligen Schriften der Juden in ihr Glaubensbewusstsein integrieren. Ebenso kann die Geistkirche die Bibel in ihre Glaubenswelt aufnehmen und die Übereinstimmung der beiden Offenbarungsstufen behaupten, während genau diese Behauptung den Christen, welche die Parusie nicht anerkennen wollen, als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen muss. Die kommende Kirche steht im Lichte der aufgehenden Sonne, in dem Lichte, das der endgültigen Ankunft des Wortes »mit großer Macht und Herrlichkeit« (Mt 24,30) entspricht. Als sich der Westen den Glauben aneignete, der aus dem Osten kam, war das Verstehenwollen des Empfangenen von Anfang an ein treibendes 343 Christoph Bochinger, »New Age« und moderne Religion: Religionswissen- schaftliche Analysen, Gütersloh 1995, Seite 244 -257. S TREIFLICHTER 323 Motiv. Augustin (354 - 430), der für den lateinischen Westen so außerordentlich maßgebliche Kirchenvater, formulierte: »Wir glauben, um zu erkennen; wir erkennen jedoch nicht, um zu glauben (Credimus, ut cognoscamus, non cognoscimus, ut credamus).«344 Diesen Ansatz hat Anselm von Canterbury (1033 1109), der Vater der Scholastik, zum Programm der mittelalterlichen Theologie erhoben. Im ersten Kapitel seines Proslogions stehen die berühmten Worte: »Ich suche ja auch nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu verstehen (Neque enim quaero intelligere, ut credam, sed credam, ut intelligam).« Auch Swedenborg sah im Glauben die Grundlage für das Verstehen: »Von der Vernunft auf die Glaubenslehre blicken bedeutet dem Wort oder seiner Lehre erst dann glauben, wenn man aufgrund vernünftiger Erwägungen überzeugt ist, daß es sich so verhält. Hingegen von der Glaubenslehre auf die Vernunft blicken bedeutet dem Wort und seiner Lehre erst glauben und sie dann durch vernünftige Überlegungen bekräftigen. Die erste Ordnung ist verdreht und bewirkt, daß man nichts glaubt. Die zweite ist richtig und bewirkt, daß man besser glaubt … Es gibt also zwei Prinzipien: das eine führt zu Torheit und Unsinn; das andere zu Einsicht und Weisheit.« (HG 2568, vgl. auch HG 1071). Swedenborg, der Seher, darf als der Höhepunkt der alten, abendländischen Hoffnung auf die Durchhellung des Glaubens angesehen werden. Über dem Portal des Tempels der kommenden Kirche sah er die hochbedeutsame Inschrift: »Nunc licet«. Intuitiv erfasste er ihren Sinn: »Nun sei es erlaubt, mit Verstand in die Geheimnisse des Glaubens einzutreten (nunc liceat intellectualiter intrare in Arcana fidei)« (WCR 508). Und schon in den »himmlischen Geheimnissen« rief er aus: »Die Zeit kommt jetzt, da Erleuchtung (in Glaubensdingen) möglich sein wird (venturum est tempus, quando illustratio).« (HG 4402). Ein Grundzug der kommenden Kirche ist demnach die Versöhnung von Glaube und 344 Tractatus in Iohannis Evangelium (Vorträge über das Johannesevangelium) 40,9. Vgl. auch: »Wir haben ja geglaubt, um zu erkennen; denn wenn wir zuerst erkennen und dann glauben wollten, so könnten wir weder erkennen noch glauben.« (Tractatus in Iohannis Evangelium 27,9). 324 T HOMAS NOACK Wissenschaft. Allerdings ist die Voraussetzung hierfür die Reinigung der Glaubenslehren. Diese Überzeugung unterscheidet die Geistboten der Neuzeit von den alten Theologen. Bei Lorber heißt es: »Endlich in gar später Zeit werden abermals knapp vor einem großen Gerichte Seher erweckt und zugelassen werden, welche die kurze, schwere Mühe haben, die sehr unrein gewordene Lehre zu reinigen, auf daß sie behalten und nicht von der heller denkenden Menschheit als ein alter Priesterbetrug verworfen werde.«345 (GEJ 6,176,10). Das war Swedenborgs Aufgabe: die Reinigung der »sehr unrein gewordene[n] Lehre«. Sie begann im Zentrum des christlichen Glaubens, in der Gotteslehre. Swedenborg und Lorber verlassen den kirchlichen Boden des trinitarischen Dogmas von Nizäa und Konstantinopel aus dem 4. Jahrhundert. Sie ersetzen die dreipersönliche durch die einpersönliche Trinitätslehre: »Gott ist dem Wesen (essentia) und der Person nach Einer.« (WCR 2). So brechen sie einem christlichen Monotheismus die Bahn, in dem endlich die Formeln des Bekenntnisses mit den Vorstellungen des Geistes übereinstimmen. So kann es vom Zentrum aus Licht werden in allen Bezirken der großen Stadt Jerusalem. Der nächste Kreis, den das Licht erfasste, war der Glaube. Er ist nicht in erster Linie ein Fürwahrhalten von Satzwahrheiten oder Dogmen; vielmehr ist er gelebtes Vertrauen auf das heilende Wirken Jesu Christi. Der Glaube ist also überhaupt nur in der Übung des alltäglichen und gesellschaftlichen Lebens echter Glaube und »Kraft Gottes« (Röm 1,16). Swedenborg entwickelte 345 Alles in dieser Verheißung paßt haargenau auf Swedenborg: a) »knapp vor einem großen Gerichte«: Swedenborgs Berufungsvision ist in das Jahr 1745 zu datieren; nur zwölf Jahre später (1757) wurde der Seher zum Zeugen des Jüngsten Gerichtes in der geistigen Welt. b) »Seher«: Mit Swedenborgs Berufung zum Ausleger des geistigen Sinnes der Heiligen Schrift war die Öffnung der Augen seines Geistes verbunden, so daß er fortan die Geisterwelt, den Himmel und die Hölle sehen konnte. c) Die »kurze, schwere Mühe …, die sehr unrein gewordene Lehre zu reinigen«: Swedenborg musste sich weit intensiver als Lorber mit der alten Lehre auseinandersetzen; kraft göttlicher Erleuchtung konnte er den alten Überlieferungen dennoch das wahre Himmelsgold entwinden, was wahrlich eine »schwere Mühe« war. S TREIFLICHTER 325 diese Einsicht in seiner Auseinandersetzung mit der altprotestantischen Rechtfertigungslehre, doch die Bedeutung dieser Einsicht reicht weit über das unmittelbare Umfeld ihrer Entstehung hinaus. »Der Mensch ist ein gottaufnehmendes Organ (Organum recipiens Dei).« (WCR 34). Gott, den niemand je gesehen hat, der in Jesus Christus aber sichtbar geworden ist (Joh 1,18), wird zur inneren oder spirituellen Erfahrung der Menschen, und die Menschen, die aus dieser Erfahrung leben, werden zum Leib Christi. Diese Einsicht ist natürlich schon bei den Mystikern vorhanden gewesen; man erinnere sich nur an Meister Eckharts Sohngeburt in der Seele. Das unmittelbare Verhältnis zwischen Christus und den Christen läßt für die Institution Kirche nur noch die Rolle des Beistandes offen, nicht mehr die des exklusiven Heilsvermittlers. Hier wird sich Babel wandeln oder vergehen müssen. Die innere Begegnung mit dem lebendigen, schöpferischen Logos bewirkt, dass diejenigen, die dem Wort in seiner »dynamis« begegnen, eine »neue Kreatur« (2 Kor 5,17) werden. Zur Beschreibung dieses Prozesses bevorzugte Swedenborg das johanneische Konzept der Wiedergeburt (Joh 3,3); der paulinische Begriff der Gerechtsprechung bzw. Rechtfertigung trat demgegenüber in den Hintergrund. Die Wiedergeburt erfolgt nicht bereits durch die Taufe; vielmehr setzt sie eine lebenslange Entwicklung in der Schule des Lebens voraus. Das Sakrament der Taufe ist nur die zeichenhafte Vorwegnahme der Bestimmung des Geborenen, noch einmal geboren zu werden. Die Lehre von der Wiedergeburt hat Ähnlichkeiten mit der Individuation der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung. Die neuen Offenbarungen haben uns tiefe Einblicke in das Jenseits gegeben. Der physische Tod hat demnach sehr viel Ähnlichkeit mit einer Geburt, denn der in der äußeren Welt bis zu einem gewissen Grade ausgereifte Geist wird durch ihn in die geistige Welt hineingeboren und zwar mit einem Leib, dem geistigen Leib, von dem Paulus spricht (1 Kor 15,44). Das sogenannte Jenseits korrespondiert auf das Innigste mit den Zuständen 326 T HOMAS NOACK seines neuen Bürgers, die dieser während seines Lebens in der Zeitlichkeit durch seine Werke objektiviert hat. Daher sagte der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges: »… von Swedenborg an denkt man in Seelenzuständen und nicht an eine Festsetzung von Belohnungen und Strafen.«346 Die geistige Welt ist die Welt des menschlichen Geistes, in welcher der göttliche Geist Gestalt annehmen will. Daher kann niemand in einen anderen Himmel oder eine andere Hölle kommen, als nur in die himmlischen oder höllischen Zustände, die er selbst als Baumeister seines Lebens in sich ausgebildet hat. Das irdische Leben ist »die Pflanzschule des Himmels« (EW 3). Swedenborgs Jenseitsschau ist keine billige Vertröstung auf bessere Zeiten nach dem Tod, sondern ein Arbeitsauftrag für werdende Engel vor dem Tod. Seine Jenseitsschau gibt dem irdischen Leben einen Sinn, der weit über das Grab hinausreicht und gerade dadurch die Entscheidungen im Hier und Jetzt maßgeblich ausrichtet und bestimmt. 6. Boten der kommenden Kirche vor und nach Swedenborg Swedenborgs Vision von einer kommenden, spirituellen Kirche ist keineswegs neu. An dieser Stelle wäre ein Überblick der Geschichte des esoterischen Christentums zu geben.347 Ich begnüge mich jedoch mit ein paar schlaglichtartigen Hinweisen. Die Spur des innerlichen Christentums könnte man schon im Neuen Testament aufnehmen und dann durch die Frühzeit hindurch weiter verfolgen.348 Ich beginne aber, eine Feststellung von Christoph Bochinger aufgreifend, mit Joachim von Fiore (ca. 1130 1202). Bochinger schrieb: »Es bleibt aber festzuhalten, daß der 346 Jorge Luis Borges, Das Buch von Himmel und Hölle, 1983, Seite 9. 347 Ernst Benz schrieb: »Aus diesem Grund wird auch die Existenz des esoteri- schen Christentums von der allgemeinen Kirchengeschichtsschreibung, die sich im wesentlichen auf die Darstellung der Geschichte des institutionellen Kirchentums beschränkt, kaum oder nur in Ausnahmefällen zur Kenntnis genommen. Eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des esoterischen Christentums gibt es überhaupt nicht …« (Zitiert nach Gerhard Wehr, Esoterisches Christentum, 1995, Seite 24). 348 Mögliche Entdeckungen auf diesem Weg kann man beispielsweise bei Gerhard Wehr, Esoterisches Christentum, 1995, Seite 21 -134 nachlesen. S TREIFLICHTER 327 v. a. von Emanuel Swedenborg wiederaufgenommene Begriff der ›Neuen Kirche‹ ideengeschichtlich als Interpretament einer Entwicklung zu sehen ist, die auf Joachim von Fiore zurückgeht.«349 Joachim von Fiore verkündete das Zeitalter des heiligen Geistes. An einem Pfingstmorgen zwischen 1190 und 1195 empfing er eine Erleuchtung. Er schrieb: »Als ich um die Matutin aus dem Schlaf erwachte, da nahm ich zur Meditation dieses Buch (die Johannesapokalypse) in die Hand … Da durchfuhr plötzlich … zu der Stunde, in der unser Löwe aus dem Stamme Juda auferstanden ist … eine Helligkeit der Erkenntnis die Augen meines Geistes und es enthüllte sich mir die Erfüllung (plenitudo) dieses Buches und die symmetrische innere Bezogenheit (concordia) des Alten und Neuen Testaments.«350 Das Besondere dieser Erleuchtung bestand in einem Geschichtssystem. Als trinitarischer Denker schaute Joachim den Lauf der Menschheitsgeschichte in drei großen Epochen, die er den Personen der göttlichen Dreieinigkeit zuordnete: das Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Mit Joachim ist die Zeitrechnung nicht nur in zwei Epochen, »vor Christus« und »nach Christus«, einzuteilen, sondern in drei. Er sah den Anbruch einer dritten Zeit, die durch den heiligen Geist qualifiziert sein wird. Für eine Theologie aus der Schule Swedenborgs ergibt sich daraus die Aufgabe, die Beziehungen der kommenden Kirche zur Wirksamkeit speziell des heiligen Geistes herauszuarbeiten. Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328) sprach von der Geburt des Sohnes in der Seele und von der Seele als dem Tempel Gottes: »Der Vater gebiert seinen Sohn im Innersten der Seele«.351 »Dieser Tempel, darin Gott gewaltig herrschen will nach seinem Willen, das ist des Menschen Seele«.352 Die Verlagerung des Ge349 Christoph Bochinger, »New Age« und moderne Religion : Religionswissen- schaftliche Analysen, Gütersloh 1995, Seite 234. 350 Zitiert nach Ernst Benz, Ecclesia Spiritualis: Kirchenidee und Geschichtstheo- logie der franziskanischen Reformation, 1964, Seite 4. 351 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übersetzt von Josef Quint, 1979, Seite 356. 352 Meister Eckehart, a.a.O., Seite 153. 328 T HOMAS NOACK schehens von einst, das heißt der Geburt des Sohnes in Bethlehem, in den Raum der Seele macht Eckhart zu einem frühen Boten der kommenden Kirche. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich seine Lehre noch ganz im Rahmen der mittelalterlichen Kirche und ihrer (scholastischen) Theologie bewegte.353 Auch wenn er »im ganzen Mittelalter der einzige Theologe von Rang« gewesen ist, »gegen den ein Inquisitionsprozeß, und zwar in Form eines Ketzergerichts, angestrengt wurde«354, muss man doch sehen, dass er durch und durch ein mittelalterlicher Theologe war. Die Mauern der Papstkirche brachte er noch nicht zum Einsturz, aber er erfüllte sie mit Innerlichkeit. Jakob Böhme (1575 - 1624) verkündete die Generalreformation im Zeichen der Lilie355. Für ihn war die Reformation mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) noch nicht abgeschlossen. Im 58. Sendbrief aus dem Jahre 1624 kündigt er eine weitere Reformation an: »Ihr werdet noch wunderliche Dinge hören, dann die Zeit ist geboren, davon mir vor 3 Jahren gesagt ward durch ein Gesichte, als nemlich die Reformation«356. Diese noch bevorstehende Reformation sollte im Zeichen der Lilie stehen, wobei man wissen muss, dass der Lilienzweig »die wahre neue WiederGeburt in Christo«357, »das rechte Bild Gottes« bzw. »der Seelen neugeborner Geist«358 ist. Die Generalreformation im Zeichen der Lilie ist also die Wiedergeburt des Geistes in der Seele, deren Möglichkeit Böhme bereits offenbaren durfte: »Eine Lilie stehet von Mittag gegen Mitternacht: welcher dieselbe wird zum Eigenthum bekommen, der wird singen das Lied von Gottes Barm353 Hugo Rahner, Die Gottesgeburt: Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt 354 355 356 357 358 Christi im Herzen der Gläubigen. Zeitschrift für katholische Theologie 59 (1935) Seite 333-418. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Band III, 1996, Seite 248. Schon Joachim von Fiore gebrauchte das Bild der Lilie für das Zeitalter des heiligen Geistes: »Der erste [Weltzustand] bringt Nesseln hervor, der zweite Rosen, der dritte Lilien.« Zitiert nach: Joachim von Fiore, Das Zeitalter des heiligen Geistes, hrsg. und eingeleitet von Alfons Rosenberg, 1977, Seite 82. Jakob Böhme, Theosophische Sendbriefe, 58,13 Jakob Böhme, Die Erste Schutz-Schrift wieder Balthasar Tilken, 297 Jakob Böhme, Unterricht von den Letzten Zeiten an Paul Kaym, 2,30 S TREIFLICHTER 329 herzigkeit; und in seiner Zeit grünet des Herrn Wort, wie Gras auf Erden, und die Völker singen das Lied von Babel in Einer Stimme, dann der Anfang hat das Ende funden.«359 »Dann eine Lilie blühet über Berg und Thal, in allen Enden der Erden: Wer da suchet, der findet«360 »Jedoch wisset: Daß euch mitternächtigen Ländern eine Lilie blühet. So ihr dieselbe mit dem Sectirischen Zancke der Gelehrten nicht werdet zerstören, so wird sie zum grossen Baum bey euch werden. Werdet ihr aber lieber wollen zancken, als den wahren Gott erkennen, so gehet der Strahl vorüber, und trift nur etliche; so müsset ihr hernach Wasser für den Durst eurer Seelen bey fremden Völckern holen.«361 »Aber dis deutet der Geist: Werdet ihr von Babel ausgehen in die Sanftmuth Jesu Christi, so wird euch der Geist in Hebron Lehrer geben mit grosser Gewalt, von welcher Macht die Elementa werden erzittern, und die Thoren der Tiefe zerspringen; und ausgehen von Lazaro seine Kranckheiten durch Wort und Wunder dieser Männer. Denn die Zeit ist nahe, der Bräutigam kommet!«362 Vor Swedenborg enthüllte Jakob Böhme bereits den inneren Sinn der Genesis. In seinem Werk »Mysterium Magnum« schrieb er: »Und daß es anietzo soll offenbar werden, ist eine grosse Ursache, davon alle Propheten gedeutet haben; und ist die Ursache dieses, daß in dieser letzten Posaunen Schall soll vollendet werden das Geheimniß des Reichs Gottes, und zubereitet werden die Braut Christi, als die klugen Jungfrauen, welche sollen dem Herrn in seiner Erscheinung entgegen gehen; und deutet an den Tag Christi Zukunft, da Er will mit der heiligen Stadt, dem neuen Jerusalem, erscheinen, und seine Braut heimführen, so muß von ehe das Geheimniß des Reichs Gottes aus seinen Bilden ausgewickelt und gantz offenbar werden.«363 Swedenborg schrieb ein 359 Jakob Böhme, Theosophische Sendbriefe, 42,47. 360 Jakob Böhme, De Signatura Rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen, 16,48 361 Jakob Böhme, Theosophische Sendbriefe, 55,13f 362 Jakob Böhme, De Tribus Principiis oder Beschreibung der Drey Principien Göttlichen Wesens, 18,65 363 Jakob Böhme, Mysterium Magnum, oder Erklärung über Das Erste Buch Mosis, T HOMAS NOACK 330 Jahrhundert später die »Arcana Caelestia«, die Enthüllung der himmlischen Lehre aus den Bildern der biblischen Wurzel. Jakob Lorber (1800 - 1864) wirkte nach Swedenborg und setzte die Enthüllungen des inneren Sinnes bereits voraus. Vor dem Einbruch des Materialismus und des Maschinenzeitalters war er die letzte Posaune des neuen Jerusalems. In der »Haushaltung Gottes« heißt es: »Die Pforten Meiner Himmel habe Ich jetzt weit öffnen lassen. Wer immer herein will, der komme und komme bald und komme alsogleich; denn es ist gekommen die Zeit der großen Gnade, und das neue Jerusalem kommt zu euch Allen hinab zur Erde« (HGt 1,12,4). Die Pforten der Himmel sind die Wahrheiten, insofern sie die Zugänge zu den inneren Geisterfahrungen sind. Sie sind weit geöffnet, das heißt: leicht faßlich erklärt. Das einfältigste Herz konnte sie nun verstehen. Das war die letzte Einladung in die himmlische Stadt. 7. Konsequenzen für die Neue Kirche Die von Swedenborgianern gegründeten Neuen Kirchen dürfen nicht mit der eschatologischen »Corona omnium Ecclesiarum« gleichgesetzt werden. Friedemann Horn hatte schon 1966 erkannt, dass »die naive Gleichsetzung« der neukirchlichen Körperschaft »mit jener ›neuen Kirche des Herrn‹, von der unsere Schriften handeln«, »ein Fehler« war.364 Und der Theologe HansJürgen Ruppert stellte als außenstehender EZW-Referent nüchtern fest: »Zwar hat sich noch unter Berufung auf Swedenborg eine religiöse Neubildung unter dem Vorzeichen der traditionellen christlichen Religion formiert: die sog. ›Neue Kirche‹. Das ist jedoch ein Missverständnis, da die ›Neue Kirche‹ bei Swedenborg selbst eine eschatologische Größe – das ›Neue Jerusalem‹ – ist, die weit über bestimmte Denominationen hinausweist, ja Denominationen überhaupt als überholt betrachtet.« 365 46,32 364 OT 1966, Seite 192. 365 Hans-Jürgen Ruppert, Swedenborg und die »neue Religiosität«, in: Festschrift für Reinhart Hummel: Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue religiöse Bewegungen im Gespräch, hrsg. von Reinhard Hempelmann und Ul- S TREIFLICHTER 331 Diese Voten weisen auf eine Spannung zwischen der Vision Swedenborgs und der der Gründerväter der Neuen Kirche hin. Vision und Körperschaft scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Aus diesem Dilemma gibt es für diejenigen, die das Erbe der Gründerväter im Lichte der neueren Einsichten in eine der Vision Swedenborgs entsprechende Zukunft führen wollen, nur einen Ausweg: Die Neue Kirche wird nur im Kontext und im Zusammenspiel mit Erscheinungsformen der kommenden Kirche eine sinnvolle Funktion im Ganzen ausüben können. Der Traum von einem neukirchlichen Katholizismus ist ausgeträumt. Die erwachte neue Einsicht lautet: Die Neue Kirche ist ein Dienst (usus) an der kommenden Kirche. Daher muss die Neue Kirche ihr Verhältnis zu relevanten Größen in ihrer Umgebung klären, drei drängen sich mir vorläufig auf. Erstens : Die Neue Kirche muss ihr Verhältnis zu den wichtigsten Theologien der Gegenwart und auf diese Weise zu den Kirchen klären. Swedenborgs Analyse kann nicht mehr einfach nur übernommen werden, denn die Theologien des 20. oder inzwischen sogar schon 21. Jahrhunderts sind nicht mehr dieselben wie die des 18. Jahrhunderts. Dabei interessiert uns besonders die Frage, ob es wirklich eine realistische Hoffnung ist, dass die neukirchliche Theologie, die sich natürlich ebenfalls weiterentwickeln muss, von den Kirchen aufgenommen wird. Werden also die Durchdringungstheoretiker Recht bekommen? Oder stehen die Zeichen doch eher auf Abgrenzung und Ausgrenzung, auf Aposynagogos (ein Begriff aus dem Johannesevangelium), auf Austreibung aus der Kirche und damit auf eine Entwicklung hin zu einer neuen Religion? Ich halte zur Zeit das zweite Szenario für das wahrscheinlichere. Der Anspruch Swedenborgs (und auch Lorbers) die eschatologische Offenbarung der Wiederkunft Christi zu vermitteln (siehe WCR 779, HH 1), dürfte aus Sicht der sola-scriptura-Kirchen inakzeptabel sein.366 Somit scheitert die rich Dehn, 2000, Seite 112. 366 In der neuen , 6. Auflage 2006 des Handbuch[s] Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen der VELKD erscheint die Neue Kirche in der Gruppe 332 T HOMAS NOACK Integration des Neuen im Alten schon formal am Auftreten als neue oder »göttliche Offenbarungen« (Immanuel Tafel). Inhaltlich dürfte dann die einpersönliche Trinitätslehre jenseits des die alten Kirchen verbindenden Glaubens von Nizäa und Konstantinopel den fundamentalen Unterschied darstellen. Zweitens : Die Neue Kirche muss ihr Verhältnis zur Neuoffenbarung durch Jakob Lorber klären. Dieser Prozess ist schon seit Jahrzehnten im Gange, aber noch nicht abgeschlossen. Swedenborg und Lorber werden von außenstehenden Beobachtern, welche die Zusammenhänge mit einem größeren Abstand und auch mehr Gelassenheit überblicken, ständig gemeinsam genannt. Kurt Hutten stellte fest: »Im Kreis der zahlreichen Empfänger jenseitiger und himmlischer Kundgaben, die in den letzten 250 Jahren aufgetreten sind, erscheinen Swedenborg und Lorber gewissermaßen als Riesen.«367 Ähnlich äußert sich gegenwärtig auch Matthias Pöhlmann : »Die Schriften Emanuel Swedenborgs und Jakob Lorbers zählen aufgrund ihres Umfangs und ihrer Wirkungsgeschichte zu den bedeutendsten Neuoffenbarungen.«368 Vertreter der Neuen Kirche hatten sich anfangs sehr polemisch gegenüber dem Phänomen Jakob Lorber geäußert. Mit Friedemann Horn wurde die Diskussion jedoch versachlicht; er der »Neuoffenbarer, Neuoffenbarungsbewegungen und Neureligionen«. Das sind »Organisationen und Bewegungen , die Elemente verschiedener Religionen und Weltdeutungssysteme miteinander verbinden« (Seite 409). Einleitend heißt es: »Im Unterschied zu christlichen Sekten , die sich in Lehre und Praxis auf die Bibel beziehen , aber als zentral angesehene Sonderlehren vertreten, berufen sich die in diesem Abschnitt genannten Bewegungen, Gemeinschaften und Neureligionen auf angeblich neue Mitteilungen Gottes.« (Seite 409). Die Neue Kirche ist also aus evangelischer Sicht nun nicht mehr eine Sekte, sondern eine Neuoffenbarungsbewegung oder gar Neureligion. Der entscheidende Unterschied zu den »christlichen« Sekten ist die Anerkennung einer neuen Offenbarung. Der Abstand der Neuen Kirche zur evangelisch-lutherischen Kirche wird also mittels des sola-scripturaKriteriums vergrößert. 367 Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1982, Seite 606. 368 In: Panorama der neuen Religiosität, hrsg. von Reinhard Hempelmann … im Auftrag der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Gütersloh 2005, Seite 570. S TREIFLICHTER 333 sah »eine Reihe von starken Übereinstimmungen , aber auch erhebliche Differenzen«369. Zentrale Ideen Swedenborgs wurden im deutschen Sprachraum vor allem durch Jakob Lorber verbreitet. Der Schreibknecht aus Graz ist der wichtigste Zweig der Wirkungsgeschichte Swedenborgs. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Swedenborgianer und Lorberfreunde beinahe auf Schritt und Tritt begegnen. Gerade deswegen ist es aber erforderlich, den Lehrvergleich wirklich gewissenhaft durchzuführen. Neben den unübersehbaren Gemeinsamkeiten, auf die ich mehrfach hingewiesen habe, muss in Zukunft auch das je eigene Profil der beiden Offenbarungen deutlicher herausgearbeitet werden . Drittens : Die Neue Kirche muss ihr Verhältnis zur Esoterik oder Spiritualität klären und neu bestimmen. Die deutschsprachige Neue Kirche sah sich bisher zu ausschließlich als evangelische Sonderkirche. Zwar lassen sich problemlos Linien von Luther nach Swedenborg ziehen, dennoch macht uns die aktuelle Swedenborgforschung auf andere traditionsgeschichtliche Einordnungen und Zusammenhänge aufmerksam. Eberhard Zwink hat die Frage gestellt: »War Emanuel Swedenborg ein christlicher Theologe?« Seine Antwort lautete: »Swedenborg war nicht, er geriet zum christlichen Theologen«.370 Das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle untersucht zur Zeit »die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik« und im Rahmen dieses Projekts auch »Emanuel Swedenborgs Stellung innerhalb der aufklärerischen und esoterischen Diskurse des 18. Jahrhunderts«. In der Beschreibung dieses Teilprojekts heißt es: »Für die esoterische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts besaß Swedenborg eine geradezu fundamentale Bedeutung. Bei der Entstehung des neuzeitlichen Okkultismus wird ihm die Rolle eines Geburtshelfers zugesprochen. Swedenborg markiert offenbar nicht nur einen Paradigmen- 369 OT 5 (1997) Seite 186 . 370 Eberhard Zwink, War Emanuel Swedenborg ein christlicher Theologe? Veröf- fentlicht im Internet unter: www.wlb-stuttgart.de/referate/theologie/volltext/swedchri.html 334 T HOMAS NOACK wechsel innerhalb der Geschichte der Esoterik. Möglicherweise zeigt sich bei ihm erstmals der spezifisch ›esoterische‹ Versuch, das sich zuspitzende Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft, zwischen Glaube und Vernunft, durch okkulte Jenseitsschau neu zu bestimmen.«371 Das sich mit Swedenborg beschäftigende Teilprojekt wird von Friedemann Stengel (geb. 1966) betreut. In seinem Aufsatz »Emanuel Swedenborg – ein visionärer Rationalist?« schreibt er: »Swedenborgs theologisches Werk ist ganz sicher nicht aus seiner Kritik an der kirchlichen Orthodoxie erwachsen. Seine Beschäftigung mit der lutherischen Dogmatik dürfte im nachhinein eingetragen worden sein.«372 Schließlich sei noch auf den Beitrag von Bernd Roling (geb. 1972) hingewiesen: »Erlösung im angelischen Makrokosmos: Emanuel Swedenborg, die Kabbala Denudata und die schwedische Orientalistik«. Er schreibt: »Swedenborg bedurfte keines Aufenthalts in England373, um mit kabbalistischen Ideen in Berührung zu kommen, im Gegenteil, schon während seiner Studienzeit in Uppsala und ebenso den Jahren, die er später dort verbrachte, gab es Möglichkeiten genug, sich die kabbalistische Literatur anzueignen.« »Die Kabbala denudata wurde kommentiert und diskutiert. Es wäre fast paradox, wenn sich Swedenborg nicht an sie erinnert hätte, als er sich nach seiner Bekehrung daran machte, Schritt für Schritt sein theologisches System auszuarbeiten.«374 Diese neueren Ansätze zur ideengeschichtlichen Kontextualisierung Swedenborgs verdienen Beachtung und nötigen zu Korrekturen an der einseitigen Orientierung der Neuen Kirche an 371 Veröffentlicht im Internet unter: www.izea.uni-halle.de/dfg/dfg2_3.htm 372 Friedemann Stengel, Emanuel Swedenborg – ein visionärer Rationalist?, in: Esoterik und Christenum: Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven, hrsg. von Michael Bergunder und Daniel Cyranka, Leipzig 2005, Seite 77. 373 Diese Festellung richtet sich gegen die mitunter spekulativen Überlegungen von Marsha Keith Schuchard. 374 Bernd Roling, Erlösung im angelischen Makrokosmos: Emanuel Swedenborg, die Kabbala Denudata und die schwedische Orientalistik, in: Morgen-Glantz: Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 16 (2006), Seite 420. S TREIFLICHTER 335 der christlichen, insbesondere der evangelischen Kirche. Die Verhältnisklärungen betreffen die Außenbeziehungen. Es gibt aber auch eine Arbeit, die im Ureigenen der neukirchlichen Theologie zu leisten ist. Die Neue Kirche muss den Zustand der Swedenborgorthodoxie überwinden. Es reicht nicht mehr aus, die Lehren in der sprachlichen Gestalt des 18. Jahrhunderts immer nur zu repetieren. Stattdessen muss ihr gedanklicher Gehalt organisch, das heißt dem inneren Baugesetz entsprechend, weiterentwickelt werden. Swedenborgs Theologie ist kein Fall für die Denkmalpflege, sondern ein lebendiger, geistiger Prozess, der weitergeführt werden will, aber vielfach im 21. Jahrhundert noch nicht angekommen ist. T HOMAS NOACK 336 Literaturverzeichnis 1. Bibelausgaben Die biblischen Bücher werden nach den Loccumer Richtlinien zitiert. BHS Biblia Hebraica Stuttgartensia, hrsg. von Karl Elliger und Wilhelm Rudolph, 4. Auflage, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1990 ELB Elberfelder Bibel, revidierte Fassung von 1991 ESD Die deutsche Übersetzung von ESL (siehe unten) in »himmlische Geheimnisse«, Tübingen 1845ff. ESL Emanuel Swedenborgs lateinische Übersetzung der Bücher »Genesis« und »Exodus« in »Arcana Caelestia« EÜ Die Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980 GNB Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung 1997 der »Bibel in heutigem Deutsch«, Stuttgart 2000 HFA Hoffnung für alle – die Bibel, Basel 2002 LEO Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Tafel, Frankfurt am Main 1880 LUD Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt … von Dr. Leonhard Tafel, revidiert von Professor Ludwig H. Tafel, Philadelphia 1911 LUT Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung von 1984 MEN Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments übersetzt von Hermann Menge, Stuttgart 1949 NA27 Novum Testamentum Graece, hrsg. von Eberhard und Erwin Nestle, Barbara und Kurt Aland (Nestle-Aland), 27. Auflage, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1999 SS Biblia Sacra sive Testamentum Vetus et Novum … a Sebastiano Schmidt, Argentoratum (Straßburg) 1696 ZUR Die Zürcher Bibel in der revidierten Fassung von 1931 2. Theologischen Werke Swedenborgs EL EO EW FJG Die eheliche Liebe. DELITIAE SAPIENTIAE DE AMORE CONJUGIALI; POST QUAS SEQUUNTUR VOLUPTATES INSANIAE DE AMORE SCORTATORIO. Amsterdam 1768, (P118). Die enthüllte Offenbarung. APOCALYPSIS REVELATA IN QUA DETEGUNTUR ARCANA QUAE IBI PRAEDICTA SUNT, ET HACTENUS RECONDITA LATUERUNT. Amsterdam 1766, (P114). Erdkörper im Weltall. DE TELLURIBUS IN MUNDO nostro SOLARI, Quae vocantur PLANETAE: ET DE TELLURIBUS IN COELO ASTRIFERO: Deque illarum Incolis; tum de Spiritibus & Angelis ibi; EX Auditis & Visis. London 1758, (P105) Fortsetzung über das jüngsten Gericht. CONTINUATIO DE ULTIMO JUDICIO: ET DE MUNDO SPIRITUALI. Amsterdam 1763, (P111). S TREIFLICHTER GLW GV HH HG JG KD LG LH LL LS NJ OE SK WCR WP 337 Die göttliche Liebe und Weisheit. SAPIENTIA ANGELICA DE DIVINO AMORE ET DE DIVINA SAPIENTIA. Amsterdam 1763, (P112). Die göttliche Vorsehung. SAPIENTIA ANGELICA DE DIVINA PROVIDENTIA. Amsterdam 1764, (P113). Himmel und Hölle. DE COELO Et ejus Mirabilibus, ET DE INFERNO, EX Auditis & Visis. London 1758, (P101). Himmlische Geheimnisse. Der vollständige Titel von Band 1 der achtbändigen Originalausgabe: Arcana Coelestia QUAE IN SCRIPTURA SACRA, SEU VERBO DOMINI SUNT, DETECTA: Hic primum quae in GENESI. Una cum Mirabilibus Quae visa sunt in Mundo Spirituum, & in Coelo Angelorum. London 1749-1756, (P85-P96, P100). Das jüngste Gericht. DE ULTIMO JUDICIO ET DE BABYLONIA DESTRUCTA ITA QUOD OMNIA QUAE IN APOCALYPSI PRAEDICTA SUNT HODIE IMPLETA SINT EX AUDITIS ET VISIS. London 1758, (P103). Kurze Darstellung der Lehre der neuen Kirche. SUMMARIA EXPOSITIO DOCTRINAE NOVAE ECCLESIAE, QUAE PER NOVAM HIEROSOLYMAM IN APOCALYPSI INTELLIGITUR. Amsterdam 1769, (P119). Die Lehre des neuen Jerusalems vom Glauben. DOCTRINA NOVAE HIEROSOLYMAE DE FIDE. Amsterdam 1763, (P110). Die Lehre des neuen Jerusalems vom Herrn. DOCTRINA NOVAE HIEROSOLYMAE DE DOMINO. Amsterdam 1763, (P107). Die Lebenslehre für das neue Jerusalem. DOCTRINA VITAE PRO NOVA HIEROSOLYMA EX PRAECEPTIS DECALOGI. Amsterdam 1763, (P109). Die Lehre des neuen Jerusalems von der heiligen Schrift. DOCTRINA NOVAE HIEROSOLYMAE DE SCRIPTURA SACRA. Amsterdam 1763, (P108). Das neue Jerusalem. DE NOVA HIEROSOLYMA et ejus Doctrina Coelsti: ex Auditis e Coelo. Quibus praemittitur aliquid de Novo Coelo & nova Terra. London 1758, (P102). Die erklärte Offenbarung. Apocalypsis Explicata secundum Sensum Spiritualem, Ubi Revelantur Arcana, Quae Ibi Praedicta, et Hactenus Recondita Fuerunt. 1758 (U135, U136). Der Verkehr zwischen Seele und Körper. DE COMMERCIO ANIMAE ET CORPORIS QUOD CREDITUR FIERI VEL PER INFLUXUM PHYSICUM VEL PER INFLUXUM SPIRITUALEM VEL PER HARMONIAM PRAESTABILITAM. London 1769, (P120). Wahre Christliche Religion. VERA CHRISTIANA RELIGIO, CONTINENS UNIVERSAM THEOLOGIAM NOVAE ECCLESIAE a DOMINO APUD DANIELEM CAP. VII: 13-14, ET IN APOCALYPSI CAP. XXI: 1, 2, PRAEDICTAE. Amsterdam 1771, (P126). Das weiße Pferd in der Offenbarung. DE EQUO ALBO DE QUO In Apocalypsi, Cap: XIX ET DEIN De Verbo & Ejus Sensu Spirituali seu Interno ex Arcanis Coelstibus. London 1758, (P104). 338 T HOMAS NOACK 3. Sonstige Literaturabkürzungen Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998. Delitzsch Franz Delitzsch, Commentar über die Genesis, Leipzig 1872 DH Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hünermann, 38. Auflage 1999 EQ Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übersetzt von Josef Quint, München: Carl Hanser Verlag, 1985 Gesenius Wilhelm Gesenius' hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearbeitet von Frants Buhl, unveränderter Neudruck der 1915 erschienenen 17. Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1962 HAL Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament von Ludwig Koehler und Walter Baumgartner, 2 Bände 2004 (unveränderter Nachdruck der dritten Auflage 1967-1995) HDThG Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Unter Mitarbeit von Gustav Adolf Benrath ... hrsg. von Carl Andresen. Band 1: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen 1982. Band 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1980. Band 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität, Göttingen 1984 OT Offene Tore: Beiträge zu einem neuen christlichen Zeitalter, Zürich: Swedenborg Verlag, Jahrgang 1 (1957) Seebass Horst Seebass, Genesis I: Urgeschichte (1,1 - 11,26), NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag, 1996 STh Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bände 1 - 3, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1988, 1991, 1993 THAT Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, hrsg. von Ernst Jenni unter Mitarbeit von Claus Westermann, 2 Bände, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2004 ThWNT Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. von Gerhard Kittel, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1953-1973 TRE Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller, 36 Bände, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1977-2004 v. Rad Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose: Genesis, Göttingen und Zürich 1987 WA Die »Weimarer Ausgabe« der Werke D. Martin Luthers Die Werke Jakob Lorbers werden wie folgt abgekürzt: GEJ = Das große Evangeliums Johannis, GS = Geistige Sonne, HGt = Die Haushaltung Gottes, HiG = Himmelsgaben, JJ = Jugend Jesu, RB = Robert Blum. BSLK Streifen sie mit mir durch Swedenborgs Welt! Machen wir es wie beim Gang durch eine Ausstellung! Wir gehen schnell durch die wichtigsten Räume und verschaffen uns so einen ersten Überblick. Danach schauen wir uns die herausragenden Stücke der Sammlung gründlicher an. Konkret heißt das: Wir thematisieren Swedenborg als den Reformator der christlichen Gotteslehre, Swedenborg als den Exegeten des geistigen Sinnes der Bibel und Swedenborg als den Künder einer neuen Kirche. ISBN 978-3-85927-400-6