Moral fictionalism

Seit einigen Jahren ist der so genannte moralische Fiktionalismus (im folgenden kurz: „Fiktionalismus“) in den Fokus der Debatte um ethische Theoriebildung gerückt. Genau betrachtet gibt es allerdings nicht den Fiktionalismus, sondern dieser Ansatz zerfällt in mindestens drei unterschiedliche Theorievarianten. Auf einen Nenner gebracht läßt sich der moralische Fiktionalismus vorläufig als die These bestimmen, daß moralische Äußerungen in ihrer buchstäblichen faktualen Bedeutung weder wahr noch falsch sind; sie sind aber wahrheitswertfähig im fiktionalen Kontext einer fiktiven Geschichte, die sie entweder beschreiben oder erzählen.1 Diese vorläufige Bestimmung dient hier als ein allererster Ausgangspunkt und wird im folgenden noch zu präzisieren sein. Zuvor jedoch sei der Fiktionalismus in die gegenwärtige Moral- philosophie eingeordnet. Er ist nämlich keineswegs eine randständige oder exotische Position, und das nicht nur, weil der Fiktionalismus auch in vielen anderen philosophischen Teildisziplinen längst seinen Platz gefunden hat; speziell der moralische Fiktionalismus entspricht zudem einer für die Metaethik des 21. Jahrhunderts charakteristischen Entwicklung hin zu sogenannten „Hybridtheorien“.
Wir werden in diesem Beitrag in vier Schritten vorgehen: Erstens werden wir den moralischen Fiktionalismus als einen Spezialfall einer Hybridtheorie ausweisen. Zweitens werden wir den präskriptiven, revolutionären Fiktionalismus im Unterschied zum deskriptiven, hermeneu- tischen Fiktionalismus erläutern, um dann drittens zu zeigen, daß der Fiktionalist sein Hauptversprechen nicht einlösen kann. Dieses besteht darin, als eine dritte Variante eines moralischen Antirealismus den Haupteinwänden einerseits gegen den Nonkognitivismus und andererseits gegen John Leslie Mackies einflußreiche Irrtumstheorie begegnen zu können. Fordert Mackie von uns einzusehen, daß unsere mora- lischen Urteile allesamt systematisch falsch sind, um gleichwohl fortzufahren, den Inhalt unserer moralischen Urteile ohne Einschränkung für wahr zu halten, besteht das offensichtlich unauflösliche Problem für den Nonkognitivisten darin, unsere alltägliche moralische Praxis angemessen zu rekonstruieren, in der wir moralische Meinungsverschiedenheiten austragen und moralische Schlußfolgerungen ziehen. Unser Ziel in diesem Aufsatz ist es zu zeigen, daß der Fiktionalist sein Versprechen nicht einlösen kann: Moral läßt sich nicht auf das Beschreiben oder Erzählen von Geschichten reduzieren. Damit scheitert auch diese dritte Variante eines moralischen Antirealismus. Im Ausgang hiervon werden wir dann schließlich viertens prüfen, inwiefern Hans Vaihingers Thesen über die „ethischen“ bzw. „praktischen Fiktionen“ in seiner Philosophie des Als Ob innerhalb der aktuellen metaethischen Debatte um den moralischen Fiktionalismus einzuordnen sind. Wie sich erweisen wird, kann Vaihinger zwar als Vorläufer des revolutionären Fiktionalismus angesehen werden, aber es bleibt letztlich unklar, welche spezifische Form desselben er vertritt. Das kann allerdings insofern kaum verwundern, als es von vornherein Vaihingers Absicht war, eine eigenständige metaethische Theorie aufzustellen, sondern seine „metaethischen Thesen“ immer schon Teil eines viel umfassenderen, ambitionierteren Projekts sind, nämlich eines globalen Fiktionalismus. Davon abgesehen stößt der revolutionäre Fiktionalismus auf erhebliche Schwierigkeiten, so daß fraglich ist, was für Vaihinger gewonnen wäre, ließe er sich auf einen revolutionären Fiktionalismus welcher Spielart auch immer festlegen.