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Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Publications of the German Historical Institute London Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Herausgegeben von Andreas Gestrich Band 65 Publications of the German Historical Institute London Edited by Andreas Gestrich Volume 65 R. Oldenbourg Verlag München 2009 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Frank Bösch Öffentliche Geheimnisse Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880 –1914 R. Oldenbourg Verlag München 2009 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN: 978-3-486-58857-6 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek INHALT I. II. Skandale als historischer Gegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Warum Skandale untersuchen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2. Methoden, Zugänge, Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4. Zum historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Homosexualität als Skandalon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert . . 44 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Homosexualität und Irish Home Rule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4. West End Scandals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5. Grenzziehungen um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri . . . . . . . . . . . 97 7. Im Umfeld des Kaisers: Kamarilla, Militär und Homosexualität . 117 8. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 III. Ehebruch als Politikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert 159 2. Die Verengung der moralischen Normen: Von Melbourne bis Dilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Irish Home Rule und Ehebruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich . . . . . . . . . . . 209 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale . . . . . . . . . . . 225 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse im 19. Jahrhundert . . . . 225 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Bereicherung in Südafrika: Vom Jameson Raid zum War Stores Scandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 IV. 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch: Leist und Wehlan. . . . . 264 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ . . . . . . . . . . . . 275 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern . . . . . . . . . . . . . 310 8. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek VI Inhaltsverzeichnis V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon . . . . . . . . . . . . . 329 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? Parnellism and Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Kollaps eines Spitzelsystems: Der Tausch-Leckert-Lützow Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Entzauberte Monarchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Der Prinz als Glücksspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments . . . . . . . . . . . . 393 4. Der unmündige Kaiser: Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges . . . . . 421 1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien . . . . . . 421 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats. . . . . . . . . . . . 428 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp . . . . . . . . . . . . . 445 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 2. Normen und Deutungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 VI. Ungedruckte Quellen (Kurzverzeichnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Sachregister 537 ............................................. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek I. SKANDALE ALS HISTORISCHER GEGENSTAND Im November 1902 verstarb der Unternehmer Friedrich Alfred Krupp. In den Jahren zuvor hatte es gerade in den sozialdemokratischen Medien nicht an Artikeln gefehlt, die ihm überhöhte Preise oder die Ausbeutung der Arbeiter vorhielten. Einem Großindustriellen wie Krupp, der über beste Kontakte zur Reichsleitung und zum Kaiser verfügte und eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit betrieb, konnte dies wenig anhaben. In massive Bedrängnis brachte Krupp jedoch ein kleiner, recht unauffälliger Artikel, den der Vorwärts am 15. November 1902 unter der Überschrift „Krupp auf Capri“ druckte. Nach Hinweisen auf Krupps Macht hieß es dort: „In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa [...] huldigte er mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr. [...] Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es die Pflicht der Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen.“ Die sofortige polizeiliche Beschlagnahmung der SPD-Blätter verhinderte nicht die rasche Verbreitung des Vorwurfes, sondern förderte vielmehr die Ausbreitung des Skandals. Spätestens mit Krupps Klage und dem öffentlichem Dementi erreichte die Meldung selbst die eher konservativen Zeitungen.1 Obwohl Krupp seine Pressepolitik massiv ausgebaut hatte und nun Regierung, Staatsanwaltschaft und Medien in Bewegung setzte, fühlte er sich gegenüber solch einer Skandalisierung hilflos. Nur eine Woche später verstarb er – höchst wahrscheinlich durch Selbstmord. Unter den zahllosen Zeitungsartikeln zum Fall Krupp fand Maximilian Harden in der Zukunft vielleicht die treffendste Formulierung: „Den Kanonenkönig hat eine Papierwespe getötet“, begann er seinen Nachruf.2 Derartige „Papierwespen“ traten im ausgehenden 19. Jahrhundert in ganz Westeuropa schlagartig vermehrt auf. Ihre Stiche waren nicht immer tödlich, führten aber oft zu schweren Verletzungen. Das galt nicht nur für die Betroffenen, die häufig ihre Ämter verloren, emigrierten oder verhaftet wurden. Vielmehr richteten sich die Skandale gegen das politische und kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft. Sie diskreditierten die Reputation der Eliten, hinterfragten politische Leitvorstellungen und führten zu generellen Debatten über soziale Normen. Die moralisierenden Enthüllungen richteten sich zwar häufig nicht direkt gegen Politiker, sie zielten aber auf politische Konflikte und gesellschaftliche Veränderungen. Selbst die Enthüllung über den Industriellen Krupp entwickelte sich deshalb schnell zu einem politischen Skandal, der vielfältige Diskussionen auslöste. Homosexualität war nur ein Thema unter vielen. Die zahlreichen Skandale, die im ausgehenden 19. Jahrhundert Westeuropa erregten, verhandelten ebenso 1 2 Diese druckten sie kommentarlos ab; vgl. Kölnische Zeitung 20. 11. 1902, Berliner LokalAnzeiger 21. 11. 1902, morgens. Eine umfangreiche Presseausschnittssammlung mit 320 Mappen zu diesem Skandal findet sich in: Historisches Archiv Krupp (HAK), FAH III G 26. Die Zukunft, 29. 11. 1902, S. 327–335, zit. S. 327. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2 I. Skandale als historischer Gegenstand korrupte Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft, die Gewalttaten von Kolonialbeamten und ihren sexuellen Verkehr mit den Einheimischen, Machtmissbrauch und Amtsanmaßungen von Polizei und Militär, das private und politische Fehlverhalten von Monarchen, den Ehebruch von Politikern oder gezielte Falschmeldungen von Zeitungen. Gemeinsam war diesen Fällen, dass sie bislang tabuisierte oder geheime Normverstöße veröffentlichten und so eine breite Empörung und Diskussion auslösten, welche die Öffentlichkeit über Monate und Jahre beschäftigte. Skandale waren selbstverständlich kein neues Phänomen der Moderne. Besonders in der Zeit vor der Französischen Revolution hatten sie bereits in vielen Ländern Westeuropas eine Blüte erlebt. Ihr äußerst geballtes Auftreten im ausgehenden 19. Jahrhundert fand jedoch bislang wenig Beachtung. Sie wurden allenfalls als Einzelphänomene gesehen und untersucht. Viele dieser Skandale sind noch heute vertraut, wie etwa die Affäre Dreyfus, der Oscar-Wilde-Skandal, der Eulenburg-Skandal oder die Daily-Telegraph-Affäre. Andere Skandale dieser Jahrzehnte sind zumindest Historikern im Gedächtnis, wie die Zabern-Affäre, der Panama-Skandal oder der Parnell-Skandal. Zumindest Spezialisten für diese Zeit kennen sicherlich einige weitere Skandale, die für die Zeitgenossen von größter Bedeutung waren – wie die Kornwalzer-Affäre, die KladderadatschAffäre und der Kotze-Skandal in Deutschland, oder die Dilke-Affäre, der Marconi-Skandal oder der Cleveland-Street-Skandal in Großbritannien. Wertet man jedoch Zeitungsberichte, Briefe, Parlamentsprotokolle oder polizeiliche Protokolle über Kneipengespräche aus, so fallen darüber hinaus zahlreiche große Skandale auf, die gerade in diesen Jahrzehnten die Politiker, die Presse und die Bevölkerung über Monate, mitunter sogar über Jahre beschäftigten. Sie stellten oft entrüstet fest, dass sich die Zahl der großen Skandale häufte.3 Volltextanalysen von Zeitungen belegen ebenfalls die Beobachtung, dass Skandale im ausgehenden 19. Jahrhundert verstärkt diskutiert wurden. So wurde in der Times – eine der weltweit wichtigsten Zeitungen des 19. Jahrhunderts – in dieser Zeit so häufig der Begriff Skandal benutzt wie nie zuvor. Erst seit Mitte der 1970er Jahre, als die Zeitung längst wesentlich mehr Umfang hatte, wurde diese Intensität wieder erreicht.4 Skandale waren damit um 1900 in aller Munde – selbst in angesehenen Qualitätszeitungen. 1. Warum Skandale untersuchen? Auf den ersten Blick mag einiges dafür sprechen, derartige historische Ereignisse wie Skandale als unbedeutenden Klatsch zu ignorieren, wie es bislang in 3 4 Vgl. etwa Reichskanzler Bülow an Hammann 7. 7. 1908, in: Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde (BAB/L), N 2106/13: 19, oder die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ) Nr. 1, 5. 1. 1896. Häufigkeit des Wortes scandal in der Times 1786–1985; eigene Volltextauswertung im Times Digital Archive, in: http://gale.com/Times/. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Warum Skandale untersuchen? 3 der Geschichtswissenschaft auch überwiegend der Fall war. In diesem Sinne mag es lächerlich erscheinen, wenn sich künftige Historiker in hundert Jahren mit der Clinton-Lewinsky-Affäre oder den deutschen Parteispendenskandalen beschäftigen, um sich unserer Gegenwart anzunähern. Schließlich gelten Skandale heute, nicht anders als vor hundert Jahren, vielfach als „Verfall“ einer vormals kritischen Öffentlichkeit, die sich durch Sensationsmeldungen von den „wirklichen“ politischen Problemen abwende. Auf den zweiten Blick spricht jedoch einiges dafür, historische Skandale nicht zu ignorieren und ihnen eine größere Beachtung beizumessen, als dies bisher bei der Erforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Fall war. So bieten Skandale die Chance, die Normen einer Zeit genauer zu analysieren. Denn sie zeigen verdichtet, wie Deutungen über gesellschaftliche Verhaltensregeln entstanden. Zudem eröffnen sie Erkenntnisse über die mediale und politische Kommunikation einer Zeit. Sie geben Aufschluss über die Funktionsweisen der Öffentlichkeit und über die jeweils konstruierten Grenzen zwischen der öffentlichen Sphäre und der des Privaten und Geheimen. Skandale stehen eben nicht nur für den Verfall des Journalismus oder der Moral, sondern, trotz der oft verletzenden Vorwürfe, zugleich für eine kritische Öffentlichkeit, die die Diskussion sucht. Ebenso sind die gesellschaftlichen Folgen von Skandalen nicht so unbedeutend, als dass historische Analysen sie ignorieren dürften. Sie führten nicht nur zu Selbstmorden oder Rücktritten, sondern ebenso zu Gesetzesreformen, Veränderungen von Verhaltensregeln oder politischen Umwälzungen. Je nach Konstellation konnte dies in progressive, affirmative oder auch reaktionäre Ergebnisse münden. Und schließlich bedeutet eine Beschäftigung mit Skandalen, die Kultur der Zeitgenossen ernst zu nehmen und sich den Themen zu widmen, denen diese eine große Bedeutung beimaßen. Selbst wenn man Skandalen eine politische Bedeutung im engeren Sinne abspräche, so zeigen sie immer noch eigensinnige Formen der Politikaneignung in der Bevölkerung, mit denen sie politische Machthaber karnevalesk herausforderten. Dass es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Häufung von Skandalen kam, wie sie zuletzt vielleicht im Vorfeld der Französischen Revolution entstand, ist erklärungsbedürftig.5 Denn selbstverständlich waren Homosexualität, Machtmissbrauch oder Korruption keine neuen Verhaltensweisen. Bereits das international zeitgleiche Aufkommen der Skandale belegt, dass man sie nicht allein mit dem Verhalten einzelner Individuen erklären kann – wie etwa dem Größenwahn von Wilhelm II., dem Antisemitismus einzelner Journalisten oder der moralischen Laxheit bestimmter Eliten. Die internationale Häufung der Skandale verweist vielmehr zugleich auf grundlegende Transformationsprozesse. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind dabei vor allem zwei parallele Entwicklungen 5 Zur dynamischen Kraft der französischen Skandale im Vorfeld von 1789 vgl. etwa: Sarah Maza, Private Lives and Public Affairs: The Causes Célèbres of Prerevolutionary France, Berkeley 1993; Dena Goodman (Hrsg.), Marie-Antoinette. Writings on the Body of a Queen, New York 2003. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4 I. Skandale als historischer Gegenstand hervorzuheben. Zum einen bildete sich in dieser Zeit in ganz Westeuropa eine auflagenstarke, professionalisierte, reaktionsschnelle Massenpresse aus, die die Medialisierung der Gesellschaft einleitete und damit die politische Kommunikation veränderte.6 Zum anderen kam es, parallel dazu, zu einer zunehmenden Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft, aus der neue weltanschauliche Konfliktlinien entstanden.7 Obgleich dies in den einzelnen Ländern auf recht unterschiedlichen Pfaden verlief, bildeten die Ausweitung der Wählerschaft und die Ausdifferenzierung politischer Strömungen gemeinsame Merkmale. Beides führte zu politischen Massenmobilisierungen und zur Ausbildung von weltanschaulichen Teilöffentlichkeiten, die um die öffentliche Deutungshoheit rangen. Da Skandale einen gewissen öffentlichen Pluralismus erfordern und als Ausdruck konkurrierender Sinnstiftungen verstanden werden können, dürfte hier eine wesentliche Vorbedingung für ihr verstärktes Aufkommen liegen. Die Skandale, so die Grundthese, waren zugleich ein Ausdruck und ein Motor dieser Veränderungen. Sie bilden damit Sonden, um unser Verständnis für die Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu vertiefen und sind als dynamische Ereignisse zu fassen, die historische Entwicklungen veränderten. Dementsprechend will dieses Buch nicht einfach moralisierend spektakuläre Vergehen „aufdecken“, wie in populären Skandalchroniken üblich.8 Es begnügt sich auch nicht damit, die Medienberichte über Skandale zu rekonstruieren und damit nur deren Darstellung zu rekapitulieren. Vielmehr untersucht es das Aufkommen der Skandale, die durch sie aufgebrachten Deutungsmuster und ihre Folgen, indem es die Handlungen und Sichtweisen aller Beteiligter in den jeweiligen historischen und diskursiven Kontexten prüft. Dementsprechend werden die Worte und Handlungen der anklagenden Journalisten und Abgeordneten analysiert, die Reaktionen der beschuldigten Eliten, die Verhaltensweisen der Regierungen und der Justiz sowie die Debatten in den Parlamenten, den Zeitungen oder in den Kneipen, soweit von Polizeispitzeln überliefert. Skandale werden somit als Kulminationspunkte verstanden, in denen sich vielfältig Diskurse und Handlungen verdichteten. Auch wenn die Konflikte sich aus längeren Entwicklungen ergaben, entfalteten sie sich aus konkreten Konstellationen, Zufällen und Reaktionsweisen, die nicht vorherzusagen waren und ihnen oft eine unberechenbare Eigendynamik gaben. 6 7 8 International vergleichende Medienanalysen bilden weiterhin ein Desiderat; vgl. neuerdings, allerdings mit starkem Fokus auf die USA und Großbritannien: Jane Chapman, Comparative Media History, Cambridge 2005, S. 69–100; Asa Briggs und Peter Burke, A Social History of the Media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2002. Dass in dieser Zeit in den meisten Ländern Europas langfristige Konfliktlinien entstanden, stellte bereits frühzeitig das politikwissenschaftliche „Cleavage-Modell“ heraus: Seymor M. Lipset und Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967. Vgl. etwa anekdotische Sammlungen wie: Matthew Parris, Great Parliamentary Scandals. Four Centuries of Calumny, Smear and Innuendo, London 1995; Morus (= anonym), Skandale, die die Welt bewegen, Frankfurt a. M. 1967; Rüdiger Liedtke, Die neue Skandal Chronik. 40 Jahre Affären und Skandale in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1989. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Warum Skandale untersuchen? 5 Das Erkenntnisinteresse des Buches konzentriert sich somit vor allem auf vier Bereiche. Erstens werden Skandale analysiert, um den gesellschaftlichen Wandel von Normen und Deutungsmustern auszumachen. Skandale werden dabei als Wertekonflikte verstanden, die Verhaltensregeln und Deutungen schaffen, festigen oder verändern konnten. Ebenso bildeten Skandale starke Anreize für die gesamte Gesellschaft, vom Arbeiter über Experten bis hin zum Monarchen, Urteile zu einem Thema zu fällen. Dass die Skandale komplexe Fragen auf ein Fallbeispiel verdichteten, erleichterte dies. Dadurch entstanden Normdebatten, die auch das Entstehen von Wissensbeständen in tabuisierten Themen zeigen. Was etwa Homosexualität ausmachte und wie mit ihr umzugehen sei, wie sich ein Monarch zu verhalten hatte, in welcher Form man Afrikaner bestrafen sollte oder welcher Kontakt zwischen Beamten und Unternehmen bestehen durfte – dies alles wurde jeweils in Skandalen diskutiert. In diesem Sinne werden Skandale als Vorgänge analysiert, die die Grenzen des Sagbaren aushandelten. Bereits beim Aufbringen tabuisierter Vorwürfe loteten sie diese aus. In der folgenden Debatte der Normen lassen sich zumeist idealtypische Verhaltensanforderungen ausmachen. Dabei war es mitunter recht unerheblich, ob der vorgeworfene Normbruch tatsächlich stattfand oder eher Imaginationen öffentlich diskutiert wurden. Obgleich man als Historiker quellenfundiert die damals konstruierten Wahrheiten abwägen muss, ist dementsprechend etwa Friedrich Alfred Krupps „wirkliches“ Liebesleben weniger von Interesse als die Wertungen und Handlungen, die die öffentlichen Vorwürfe jeweils auslösten. Zweitens lässt sich anhand von Skandalen der Formenwandel der Politik, der Medien und der Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert untersuchen, sowie die Beziehung zwischen diesen drei Bereichen. Die Skandale versprechen zunächst Erkenntnisse darüber, wie sich die politische Kommunikation durch das Aufkommen des medialen Massenmarktes veränderte, und sich journalistische Praktiken und Selbstbilder im Zuge der Politisierung wandelten. Dies dürfte zeigen, inwieweit die Skandale etwa Ausdruck einer sich etablierenden „vierten Gewalt“ oder einer Parlamentarisierung waren, oder ob es zu einer neuen Kooperation zwischen Politik und Journalismus kam. Ebenso ist zu überprüfen, inwieweit die neuartigen „Sensations-“ und Boulevardblätter des späten 19. Jahrhunderts die Skandale auslösten. Gerade für Deutschland, wo für die Zeit vor 1914 kaum Quellen aus Zeitungsredaktionen überliefert sind, bieten die Skandale verdichtete Hinweise für eine historische Analyse des Journalismus und der Medien.9 Medien werden so nicht einfach als Abbild der Gesellschaft untersucht, sondern als aktive Akteure, die die Gesellschaft gestalteten. Die Studie beschränkt sich jedoch nicht auf Medien, sondern operiert mit dem breiteren Begriff der Öffentlichkeit. Dass es im späten 19. Jahrhundert zu 9 Die grundlegende Studie von Jörg Requate konzentriert sich auf die Zeit bis zum frühen Kaiserreich und setzt vor allem sozialgeschichtliche Akzente zum Beruf des Journalisten; ders., Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6 I. Skandale als historischer Gegenstand einer Transformation der Öffentlichkeit gekommen sei, wurde seit Jürgen Habermas’ wegweisender Studie vielfach hervorgehoben, aber bisher kaum historisch untersucht.10 Auch Richard Sennetts berühmte, wenn auch anders gelagerte Arbeit sah in dieser Phase eine Umstrukturierung der Öffentlichkeit, in der der „Fall of Public Man“ einsetzte.11 Skandale bieten sich als Sonden an, um sich der Entwicklung von „Öffentlichkeit“ im Zeitalter der einsetzenden Medialisierung und Demokratisierung anzunähern. Sie zeigen Grenzen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert für Öffentliches, Geheimes oder Privates galten. Zudem verknüpften sie unterschiedliche Teile der Öffentlichkeit (wie verschiedene politische Milieus) und Ebenen (wie Medien, Parlamenten oder Kneipen), deren Beziehung zueinander so deutlich wird. Letzteres dürfte etwa klären, inwieweit die unterschiedlichen Milieus überhaupt miteinander kommunizierten, und in welchem Verhältnis Medien- und Versammlungsöffentlichkeit standen.12 Drittens wird versucht, aus den empirischen Fallstudien eine Anatomie der Skandale des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu entwickeln. Sozialwissenschaftliche Arbeiten brachten bereits vielfach modellhafte Verlaufsformen von Skandalen auf. Danach folgen etwa auf eine Latenzphase vor der Veröffentlichung Phasen der Etablierung des Skandals, der Kulmination und der Nachwirkungen.13 Diese Typologien wurden allerdings für Skandale der letzten Jahrzehnte entwickelt und müssen deshalb nicht für das ausgehende 19. Jahrhundert gelten. Deshalb gehen die Fallbeispiele immer wieder ähnlichen Gesichtspunkten nach, um gemeinsame Verlaufsmerkmale herauszuarbeiten. So wird etwa immer wieder geprüft, wer die Vorwürfe in welcher Form aufbrachte, wie die Betroffenen, die Regierungen und die Justiz reagierten, und welche Folgen die Skandale hatten. Alle Fallanalysen untersuchen somit Schlüsselmomente der Skandale, um so abschließend typische Charakteristika auszumachen. Viertens verspricht die vergleichende Skandalanalyse historische Erkenntnisse über Spezifika der britischen und deutschen politischen Kultur. Gerade weil es 10 11 12 13 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Nachdruck mit einem Vorwort zur Neuauflage), Frankfurt a. M. 1990, bes. S. 275–292. Dieses Forschungsdesiderat betont auch: Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analysen, in: GG 25 (1999), S. 5–32, S. 5. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1986, bes. S. 31–46. Dass politische Konflikte zwischen unterschiedlichen Milieus in der interpersonalen Kommunikation nicht ausgetragen wurden, sondern eher geschwiegen wurde, betont: Armin Owzar, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, Konstanz 2006. Vgl. bes. John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000, S. 73–76; Stefen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 184–203; Hans Matthias Kepplinger, Publizistische Konflikte. Begriffe, Ansätze, Ergebnisse, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 214–233, S. 229 f. Mathematischökonomische Modelle entwickeln die Artikel von Manfred J. Holler in: ders. (Hrsg.), Scandal and its Theory, 2 Bde., München 1999 und 2002. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Warum Skandale untersuchen? 7 sich bei der Skandalzunahme des ausgehenden 19. Jahrhunderts um ein internationales Phänomen handelte, erschien es naheliegend, sich zur Erklärung und Typologisierung nicht auf ein Land zu beschränken. Mit Großbritannien und Deutschland fiel die Wahl auf zwei Länder, die unterschiedliche Voraussetzungen für Skandale aufwiesen. Während Großbritannien bekanntlich eine Wiege des Parlamentarismus war und bereits im 19. Jahrhundert eine weitgehende Pressefreiheit besaß, wurden in Deutschland auch nach dem Reichspressegesetz von 1874 regelmäßig regierungskritische Journalisten verfolgt. Ebenso zeigten sich die Grenzen des deutschen Parlamentarisierungsprozesses bereits darin, dass trotz des allgemeinen Männerwahlrechtes nicht das Parlament, sondern der Kaiser und dessen konservatives Umfeld maßgeblich die Regierungen bestimmten.14 Trotz dieser Unterschiede traten in beiden Ländern etwa zeitgleich ähnliche Skandalfälle auf. Insofern zielt der Vergleich auf eine historische Typologie ab, die Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und generelle Logiken prüft.15 Dies verspricht genauere Erkenntnisse über die spezifischen Deutungsmuster und Normen, aber auch über die jeweiligen Kommunikationsformen, Politikstile oder Medienentwicklungen. Bereits die unterschiedlichen Themen heutiger Skandale – „Sexskandale“ in Großbritannien, Korruptionsskandale in Deutschland – werfen die Frage auf, inwieweit spezifische Normen und Empörungsformen historisch angelegt sind.16 Über die Vergleichsaspekte hinaus lässt sich anhand der Skandale fragen, in welchem Maße es zu kulturellen Transfers zwischen den beiden Ländern kam.17 Denn schließlich waren die Skandale in den Jahrzehnten um 1900 Ereignisse, die wechselseitig beobachtet, thematisiert und aufgegriffen wurden. Eine historische Beschäftigung mit Skandalen verlangt zunächst eine genauere analytische Definition des Gegenstandes. Denn zum einen umschreibt das Wort 14 15 16 17 Zur Debatte um die deutsche Parlamentarisierung vgl. zuletzt: Thomas Kühne, Demokratisierung und Parlamentarisierung. Neue Forschungen zur politischen Entwicklungsfähigkeit Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, in: GG 31 (2005), S. 293–316; Marcus Kreuzer, Und sie parlamentarisierte sich doch: die Verfassungsordnung des Kaiserreichs in vergleichender Perspektive, in: Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, München 2004, S. 17–40. Hartmut Kaeble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, bes. S. 12 u. 49. Eine Berücksichtigung Frankreichs war von mir zunächst angedacht. Allerdings zeigte sich rasch, dass eine archivgestützte Analyse eines dritten Landes für einen Bearbeiter allein kaum machbar war. Die aktuellen Skandalthemen als Ausdruck einer spezifisch deutschen Kultur deuten: Frank Esser und Uwe Hartung, Nazis, Pollution, and No Sex. Political Scandals as a Reflection of Political Culture in Germany, in: American Behavioral Scientist 47 (2004), S. 1040–1071. Zum Ansatz vgl. Rudolf Muhs. et al. (Hrsg.), Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998; Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28 (2002), S. 607–636. Mit Blick auf die hier untersuchte Epoche demnächst: Dominik Geppert und Robert Gerwarth (Hrsg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain – Cultural Contacts and Tranfers, i. E. Oxford 2009. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8 I. Skandale als historischer Gegenstand „Skandal“ umgangssprachlich recht undifferenziert alle möglichen Zustände, die anstößig oder unhaltbar erscheinen. Zum anderen hat der Begriff eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition, in der sich seine Bedeutung veränderte und somit unterschiedliche Handlungen und Wahrnehmungen erfasste. Ursprünglich verwies „skandalon“ auf das Stellholz in der Tierfalle, an dem die Lockspeise festgemacht wurde. Bereits bei Aristophanes und in der Bibel fand er eine übertragene Verwendung, etwa im Sinne von Verführung.18 Im Mittelalter umschrieb der Begriff dann vornehmlich schwere religiöse Frevel und Sünden. Erst seit dem 18. Jahrhundert lassen sich wieder stärker säkularisierte Verwendungsformen ausmachen, wobei „Skandal“ in Deutschland Konnotationen wie Schande, öffentlichen Ehrverlust und „ärgernisz, schmachvolles aufsehen erregender vorgang“ hatte.19 In Großbritannien löste sich der Begriff bereits im 17. Jahrhundert zunehmend von seinem religiösen Bezug und verwies auf Missstände und Gerüchte, die die Reputation minderten.20 Vor allem das erfolgreiche Theaterstück School for Scandal (1777) machte den bereits deutlich früher etablierten Begriff populär und wies mit ironischem Unterton auf die Problematik des Skandalisierens.21 Im Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Skandal in beiden Ländern schwere Missstände, die häufig als „Sensationen“ empfunden oder angepriesen wurden – also als emotional ergreifende ungewöhnliche Neuigkeiten. In zeitgenössischen Schriften über Skandale fehlte es nicht an drastischen Verurteilungen des Skandals. Er wurde etwa als „pest of society“ beschrieben, da er durch Übertreibungen Männern die Reputation raube und sie ins Verderben stürze.22 Generell bezog sich das Wort Skandal damit bereits um 1900 auf zweierlei: Auf das Ereignis, das Anstoß erregte, und auf den Vorgang der Erregung selbst. Eine trennscharfe Verwendung des Begriffs Skandal bestand allerdings schon damals nicht. Insbesondere wurde er, wie auch heute üblich, oft synonym mit dem Begriff „Affäre“ benutzt. Der unscharfe Alltagsgebrauch und der Bedeutungswandel machen eine Definition nötig, die den unterschiedlichen Ereignissen gerecht wird, die früher und heute als maßgebliche Skandale gelten – von der Halsband-Affäre über die Eulenburg-Affäre bis hin zum Watergate-Skandal. In Anlehnung an sozialwissenschaftliche Studien erscheinen vor allem drei Komponenten ausschlagge18 19 20 21 22 Die biblische Verwendung war jedoch uneinheitlich; vgl. Gustav Stählin, Skandalon. Untersuchungen zur Geschichte eines biblischen Begriffs, Gütersloh 1930; Manfred Schmitz, Theorie und Praxis des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1981, S. 16; Johannes Lindblom, Skandalon. Eine lexikalisch-exegetische Untersuchung, Uppsala 1921. Eintrag „Skandal“ in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, München 1999 (Erstausgabe 1905), Sp. 1306. Vgl. die Quellenbelege (vor allem seit Shakespeare) zu „scandal“ und „scandalisation“ in: Oxford English Dictionary, Bd. 14, Oxford 1989, S. 573 f. Richard Brinsley Sheridan, The School for Scandal, London 1948 (Erstausgabe 1777). James McConnel Hussey, Scandal and Scandal-Mongers, London o. D. (um 1879), S. 5. Skandale umschreibt er zudem: „Scandal may well be called the snowball of society, for it certainly gathers as it rolls and it is the thing which the society is ever throwing about. It magnifies a molehill into a mountain [...].“ Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Warum Skandale untersuchen? 9 bend, um im analytischen Sinne von einem Skandal zu sprechen: (1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; (3) und eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch.23 Dementsprechend bildet etwa eine korrupte Handlung noch keinen Skandal, wenn sie nicht bekannt wird oder wenn ihre Veröffentlichung keine Empörung auslöst, weil sie beispielsweise als eine gewöhnliche Praxis gilt. Folglich existiert kein Verhalten, das per se zu Skandalen führt. Ein Gesetzesbruch ist ebenfalls nicht unbedingt für das Aufkommen eines Skandals erforderlich. Vielmehr reichen oft bereits Überschreitungen von Normen, also von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen, deren Bruch mit sozialen Sanktionen bestraft werden kann. Ebenso muss sich die Enthüllung nicht unbedingt auf bereits vorhandene Normen beziehen, sondern kann diese durch den Vorwurf erst einfordern, wobei die öffentliche Reaktion dann über deren Geltung entscheidet. Ob in Skandalen „hochgestellte Personen oder Institutionen“ beteiligt sein müssen, ist zu bezweifeln, auch wenn diese durch ihre Fallhöhe leichter eine hohe mediale Aufmerksamkeit erhalten.24 Präziser scheint mir die Beobachtung, dass Skandale sich vornehmlich auf Personen oder Institutionen beziehen, von denen durch ihre gesellschaftliche Stellung die Wahrung der verhandelten Normen erwartet wird. Während beispielsweise der Kokain-Konsum eines bekannten Rockmusikers in der heutigen westlichen Kultur keine breite öffentliche Empörung auslöst, ist das bei einem unbekannten Pastor kraft der Anforderungen an sein Amt anders. Nicht die Schwere des Vergehens, sondern der Grad der Empörung ist folglich entscheidend für die Bedeutung des Skandals.25 Schwierig auszumachen ist, ab wann von einer breiten Empörung zu sprechen ist, die weithin geteilt wird. Nicht ausreichend ist es zumindest, wenn nur eine begrenzte Teilöffentlichkeit, etwa die Medien und Politiker einer Partei, von einem Skandal spricht, während die Mehrheit der Öffentlichkeit unbeeindruckt bleibt. Denn Skandale ziehen gerade daraus ihre Wirkungsmacht, dass sie weltanschauliche Grenzen überbrücken können und sich häufig sogar die Anhänger eines Milieus oder einer Gruppe über einen Missstand in ihren eigenen Reihen empören. Diese öffentliche Breitenwirkung entfalten Skandale in der Neuzeit über Medien. Die mediale Vermittlung strukturiert den Skandalablauf mit, ist aber kein notwendiges Kriterium für das Aufkommen von Skandalen in der Moderne. In einem bestimmten Mikrokosmos, wie einem abgelegenen Dorf, können lokale Skandale selbstverständlich über eine nicht-mediale, interpersonale Kommunikation verlaufen. Im Folgenden geht es jedoch um Skandale mit einer nationalen und fast immer 23 24 25 Mit dieser Trias folge ich, leicht modifiziert, besonders den anregenden Überlegungen von: Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 2002, S. 40 u. 59. Anders dagegen: ebd., S. 40. Wilfried von Bredow, Legitimation durch Empörung. Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie des Skandals, in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Bonn 1992, S. 190–208, S. 202. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 10 I. Skandale als historischer Gegenstand auch internationalen Breitenwirkung, die nur durch die rasante Expansion der Massenpresse denkbar waren. Im Vordergrund des Buches stehen dabei im weitesten Sinne politische Skandale. Sie lassen sich nicht allein auf Fälle eingrenzen, in denen Politikern Normbrüche vorgeworfen wurden. Ein sinnvolleres Merkmal ist vielmehr, dass die Skandale im jeweiligen politischen Feld behandelt wurden und die Zeitgenossen sie somit als Politikum zuordneten, weil sie politische Konflikte oder generelle Machtfragen thematisieren.26 Ob die Zeitgenossen einen Skandal als Politikum betrachteten, zeigte sich nicht zuletzt darin, inwieweit er in politischen Kommunikationsräumen verhandelt wurde – etwa in den Politikteilen der Zeitungen, den Parlamenten und intern zwischen Regierungsmitgliedern. Insofern kann selbst ein „Sex-Skandal“ um einen Nicht-Politiker politisch sein.27 Die vorgeschlagene Definition von Skandalen beinhaltet einen weiteren klärungsbedürftigen Begriff: die Öffentlichkeit. Denn Skandale werden in der Öffentlichkeit verhandelt und prägen zugleich die Grenzen von Öffentlichkeit, Privatheit und Arkanbereichen. „Öffentlichkeit“ ist bekanntlich ein politischsozialer Schlüsselbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts, mit dem eine Partizipation durch eine allgemein zugängliche Kontrolle eingefordert wurde.28 Die öffentliche Meinung galt dabei als eine Brücke zwischen dem Staat und der Gesellschaft. Die Öffentlichkeit war somit zugleich ein kollektiver Akteur und eine herrschaftskritische Forderung mit utopischem Überschuss. Skandale lassen sich im historischen Sinne als ein Kampf um mehr Öffentlichkeit und gegen Geheimnisse fassen. Schließlich war bereits die Entstehung der Öffentlichkeit, wie sie insbesondere im England des 18. Jahrhunderts und dann in Frankreich aufkam, von Beginn an mit einer stark moralischen Herrschaftskritik verbunden, die das Aufkommen von wirkungsmächtigen Skandalen förderte. Das Geheimnis entwickelte sich dabei zum Zeichen für Falschheit und Despotie, das die Druckmedien attackierten.29 Gerade in Deutschland waren die Grenzen der Öffentlichkeit ein umkämpftes Terrain, sei es im Hinblick auf die Pressefreiheit, Gerichtsverhandlungen oder die Kunst. Die vorliegende Studie prüft deshalb anhand der Skandale, wie sich die Öffentlichkeit und die Grenzen des Geheimen 26 27 28 29 So auch: Thompson, Political Scandal, S. 6. Verschiedene Studien sehen dagegen gerade Sex-Skandale nicht als politische Skandale; vgl. etwa Robert Williams, Political Scandals in the USA, Edinburgh 1998, S. 7. Vgl. hierzu: Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. Zur gleichzeitigen Genese des Privaten vgl. Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London, 1600–1800, München 2004. Vgl. zu dieser im 18. Jahrhundert angelegten Entwicklung: Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 64 f. u. 178; Simone Schinz, Sitte, Moral, Anstand und das Phänomen öffentliche Meinung im England des 18. Jahrhunderts, Remscheid 2004. Vergleichend zum kritischen Potential der sich medialisierenden Öffentlichkeit: Hannah Barker und Simon Burrows (Hrsg.), Press, Politics and the Public Sphere in Europe and North America, 1760–1820, Cambridge 2002. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 11 und Privaten im Zuge der Medialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts veränderten. Skandale werden dabei keineswegs allzu optimistisch als Motor einer Liberalisierung verstanden. Denn vielfach entstanden durch Skandale auch Gegenbewegungen, die eine Eingrenzung der Öffentlichkeit forderten. Zudem bildet „Öffentlichkeit“ einen analytischen Schlüsselbegriff der Medien-, Sozial- und Kulturgeschichte, der eine Verbindung dieser Zugänge ermöglicht. In diesem Sinne wird Öffentlichkeit heute idealtypisch als ein allgemein zugänglicher Kommunikationsraum verstanden.30 Dadurch eröffnet der Begriff eine Analyse von Kommunikationsereignissen, die sich nicht allein auf die Medienöffentlichkeit beschränkt, sondern ebenso Versammlungsöffentlichkeiten (wie Parlamente, Gerichtsitzungen oder Demonstrationen) und situative Encounter-Öffentlichkeiten einbezieht (also etwa Gespräche in Kneipen oder auf Marktplätzen).31 Gerade weil in der Moderne Medien maßgeblich die Öffentlichkeit strukturierten und andere Formen der Öffentlichkeit mit beobachteten, gilt es insbesondere ihre Logiken zu integrieren.32 2. Methoden, Zugänge, Quellen Die vorliegende Studie untersucht anhand von Skandalen die politischen Machtzentren des deutschen Kaiserreiches und des spätviktorianischen und edwardianischen Großbritanniens. Dennoch ist sie keine klassische Politikgeschichte. Vielmehr rekonstruiert sie Handlungen und Deutungsmuster, die in vielerlei Hinsicht quer zur bisherigen Erforschung der politischen Institutionen, Bewegungen oder Ereignisse stehen. Methodisch knüpft sie dabei an die Ansätze einer „Kulturgeschichte der Politik“ an.33 „Kulturgeschichtlich“ akzentuiert ist 30 31 32 33 Vgl. Requate, Öffentlichkeit, S. 9; Karl Christian Führer et al., Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in: AfS 41 (2001), S. 1–38, S. 4 Die soziologische Literatur zur Öffentlichkeit ist immens; vgl. bes.: Kurt Imhof, „Öffentlichkeit“ als historische Kategorie und als Kategorie der Historie, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1996), S. 3–25; Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S. 31–88. Bernd Weisbrod, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270–283. Die Begrifflichkeiten in dieser Diskussion sind unterschiedlich, gemeinsame Eckpunkte aber doch erkennbar; vgl. etwa: Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28 (2002), S. 574–606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (2003), S. 71– 117; Ute Frevert und Hans-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. 2005; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005. Als Kritik hieran vgl. Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: HZ 283 (2006), S. 657–689. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 12 I. Skandale als historischer Gegenstand der Zugang dieses Buches insofern, als es sich für die Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der Zeitgenossen interessiert, die sich an Skandalen ausmachen lassen.34 Für eine kulturgeschichtliche Erweiterung der Politikgeschichte stehen auch die verhandelten Themen, die hier als Teile der politischen Sphäre betrachtet werden. Homosexualität und Ehebruch, die Gewalt von Kolonialisten, die Aktien eines Ministers oder der Lebenswandel des Prince of Wales gehören sicherlich nicht zum Kern einer klassischen Politikgeschichte. Dennoch erscheint es sinnvoll, das „Politische“ nicht essentiell auf ein bestimmtes staatliches Handeln einzugrenzen. Es ist vielmehr auf die Diskurse und Grenzziehungen der jeweiligen Zeit zu beziehen, wobei das versuchte Aushandeln kollektiver Konflikte als sein Grundbestandteil anzusehen ist, ohne dass dies immer gelingen musste.35 Skandale lassen sich dementsprechend zunächst als Mechanismen verstehen, die diese Grenzen des Politischen jeweils setzten. Sie entschieden, ob etwa der Ehebruch oder das Privatvermögen eines Politikers in die Sphäre der Politik gehörten oder als privat galten. Da derartige Skandale kommunikativ kollektive Konflikte austrugen und nachhaltige Entscheidungen produzierten, kann man sie durchaus als Politikum verstehen. Damit wird der Politikbegriff nicht ubiquitär auf jeden Ehebruch oder Homosexualitätsfall ausgedehnt, sondern nur auf solche Fälle, die in das politische Feld überführt wurden, das die Zeitgenossen jeweils absteckten. Von einer klassischen Politikgeschichte unterscheidet sich der hier gewählte Zugang zudem, weil er die Gruppe der potentiell politisch Handelnden weiter fasst.36 So werden nicht nur Regierungsmitglieder, sondern auch Journalisten, Zeugen vor Gericht und andere öffentlich agierende Personen als Teil eines politischen Feldes verstanden, wenn sie mit politischen Machthabern in eine kommunikative Interaktion traten. Politik wird somit als ein offener Kommunikationsraum untersucht, der sich durch soziales Handeln konstituiert.37 Auf diese Weise werden zugleich Akteure ernst genommen. Deren Handlungen und Kommunikation werden zwar im Kontext von den jeweiligen Diskursen und Strukturen untersucht, aber zugleich entlang von Ereignissen mit offenem Ausgang. 34 35 36 37 Vgl. die definitorische Eingrenzung von Kulturgeschichte von: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 17–19. In dieser Definition folge ich dem Ansatz des Bielefelders SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ und danke zugleich der Diskussion meines Ansatzes mit dem dortigen Kolloquium von Willibald Steinmetz. Stärker auf kollektiv verbindliche Entscheidungen, aber eben auch auf Deutungskämpfe bezogen ist der Politikbegriff bei: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte, S. 9–24, S. 14. Kritisch gegenüber einer zu optimistischen Annahme einer erfolgreichen Kommunikation: Bernd Weisbrod, Das Politische und die Grenzen der politischen Kommunikation, in: Daniela Münkel und Jutta Schwarzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.. 2004, S. 99–112. Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, S. 99–101. Mergel, Überlegungen zu Kulturgeschichte, S. 596 u. 605. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 13 Auch ein kulturgeschichtlicher Zugang verkennt nicht, dass die Ausbildung von Machtverhältnissen ein Kernelement der Politik ist.38 Die Skandale bildeten dabei eine kommunikative Technik, die insbesondere die Inklusion und Exklusion von Personen und Themen im politischen Feld austarierte. Im Sinne von Pierre Bourdieu lassen sich die Skandale deshalb als Machtkämpfe im politischen Feld fassen. Das symbolische Kapital, um dessen Erhalt oder Erwerb die Politiker nach diesem konfliktorientierten Ansatz bei Skandalen rangen, waren vor allem Reputation und Vertrauen.39 Bereits der britische Starjournalist William T. Stead, der zahlreiche Skandale anstieß, definierte 1890: „The element of trust is of the essence of politics.“40 Skandale sind dementsprechend als Versuch zu verstehen, Machtpositionen durch die Zerstörung des Vertrauens zu verändern, da Vertrauen eine Vorleistung bildet, die wesentlich soziale Beziehungen prägt.41 Dass es sich bei der Herstellung dieser symbolischen Ordnungen nicht nur um bedeutungslose Zuschreibungen und „Texte“ handelte, sondern diese durchaus wirksam Handlungen und Verhaltensregeln formten, belegen bereits die angedeuteten Folgen der Skandale.42 In Anlehnung an Michel Foucault werden Skandale genealogisch als „Orte der Konfrontation“ gefasst, von denen aus sich die Konstituierung von Machtbeziehungen analysieren lässt. Macht ist in diesem Sinne in konkreten Situationen immer wieder beweglich und von allen Seiten diskursiv verschiebbar. Auch wenn Foucaults Werk Skandale kaum systematisch berücksichtigt, bergen insbesondere seine diskurshistorischen Überlegungen in „Sexualität und Wahrheit“ zahlreiche Anregungen zu ihrer Verortung.43 So richteten die Skandale darüber, 38 39 40 41 42 43 Dies zählt zum Kern der Kritik an dem Ansatz; vgl. Rödder, Clios neue Kleider; sowie: Hans-Christoph Kraus und Thomas Niklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007. Generell zum Kapital als „Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes“: Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, bes. S. 10; ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, bes. S. 52, 81 f. Als Kampf um Reputation fasst bereits Skandale: Thompson, Scandal, S. 96; Reputationskämpfe sieht auch: Kirsten McKenzie, Scandal in the Colonies. Sydney & Cape Town, 1820–1850, Melbourne 2005, S. 9. Wenig plausibel ist allerdings ihre Definition von Skandalen als veröffentlichter „Klatsch“ (ebd.). William T. Stead, The Discrowned King of Ireland. With Some Opinions of the Press on the O’Shea Divorce Case, S. 10, in: British Library Manuscript Collection (BL), Add Mss 56448: 109. Als „riskante Vorleistung“ fasst Vertrauen: Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000 (4. Aufl.), S. 81; zur politischen und historischen Dimension vgl. bes.: Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003. Als frühe Analyse, die symbolische Ausdrucksformen und Regeln des politischen Verhaltens untersuchte, vgl. bes.: Lynn Hunt, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989. Vgl., auch zum folgenden: Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983, bes. S. 7 f., 46, 61, 97; hilfreich zu den unterschiedlichen Ansätzen in Foucaults Gesamtwerk: Ulich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln 1998. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 14 I. Skandale als historischer Gegenstand was „Normalität“ zu sein hatte. Hierfür schufen sie Sprechanreize, Geständnismechanismen und Beobachtungsverfahren, die im 19. Jahrhundert offiziell tabuisierte Bereiche wie die Sexualität zu vielfältig verhandelten Gegenständen machten. Auf diese Weise zeigten die Skandale das „Werden eines Wissens“, häufig verbunden mit der „Lust, die Lust zu wissen“. Darüber hinaus bilden sie ein Beispiel für den von Foucault aufgeworfenen Doppelmechanismus von Lust und Macht; also der Lust, Macht durch Ausfragen, Belauern und Veröffentlichungen auszuüben, und der Lust, der Macht zu entrinnen und sie zu täuschen. Die Skandale prägten zudem Semantiken, die über die einzelnen Beteiligten hinaus eine disziplinierende Wirkung haben konnten. Die disziplinierende Macht des Skandals richtete sich eben nicht nur an die Skandalopfer, sondern insbesondere an die Zuschauer. Auf diese Weise förderten die Skandale Anpassungsleistungen. Denn sie standen für die Drohung, durch die Veröffentlichung eines als unmoralisch gekennzeichneten Verhaltens sozial auszugrenzen.44 Die Macht der Sprache erhält so eine zentrale Bedeutung. Im Sinne der historischen Diskursanalyse fragt meine Studie, welche Aussagen getroffen wurden, wer auf welche Weise sprach und wo die Grenzen des Sagbaren lagen.45 Sie zielt jedoch nicht auf eine reine historische Diskursanalyse. Vielmehr werden die Skandale als politische Rituale und Konstellationen verstanden, um zeitgenössische Wahrnehmungen und Praktiken zu analysieren. Aus diesem Grunde werden mit den Skandalen einzelne historische Ereignisse als Knotenpunkte in einer Schwellenzeit untersucht, die Konstellationen mit unterschiedlichen Erwartungen, Handlungs- und Sprechmöglichkeiten eröffneten.46 Dieser Zugang ermöglicht, die Intentionen und Verhaltensweisen von unterschiedlichen Individuen zu berücksichtigen und nicht vorschnell von festgelegten übergeordneten Strukturen auszugehen, sondern auch Zufälle ernst zu nehmen. Dass die individuellen Handlungsmöglichkeiten zugleich von rechtlichen, medialen und politischen Rahmenbedingungen geprägt wurden, wird damit nicht übersehen. Angestrebt wird vielmehr eine Verbindung aus einem struktur- und akteurszentrierten Zugriff, die sich aus systematisch angelegten Fallanalysen ergibt. Eher kulturgeschichtlich ist der Zugang zudem, weil er innerhalb des politischen Feldes emotionale Reaktionen, wie die Empörung, ernst nimmt.47 An44 45 46 47 Diese Diskussion über die Angst vor einem öffentlichem Ehrverlust und moralischer Ausgrenzung fand sich bereits in der englischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts; vgl. Schinz, Sitte, S. 318 f. u. 325. Vgl. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Berlin 2001; Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780–1867, Stuttgart 1993, bes. S. 24–34. Vgl. auch: Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, S. 84. In Anlehnung an Kosselleck, Ereignisse als „kulturelle Schöpfungsleistung“ zu betrachten, argumentiert auch: Andreas Suter, Kulturgeschichte des Politischen – Chancen und Grenzen, in: Stollber-Rilinger, Kulturgeschichte des Politischen, S. 27–56, bes. S. 28. Bisher vorliegende Arbeiten zur Emotionsgeschichte klammerten Politik eher aus; vgl. etwa: Peter N. Stearns, American Cool. Constructing a Twentieth-Century Emotional Style, New York 1994; Claudia Benthien et al. (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 15 gestoßen wurden die Skandale zwar oft aus Machtmotiven, die man als rational bezeichnen mag, aber dennoch ging ihr Verlauf nicht in einer aufklärerischen Rationalität auf, sondern war mit vielfältigen Emotionen verbunden. Skandale galten den Zeitgenossen im wahrsten Sinne des Wortes als „Sensationen“, also als Ereignisse, die durch ihren außergewöhnlichen Charakter sinnliche Empfindungen auslösten.48 Die Zeitgenossen hoben diese emotionale Komponente immer wieder hervor und bezogen sie auf die „Massen“. Noch der Zeitungswissenschaftler Otto Groth definierte Sensationen wie Skandale als „gerade das, was in den Massen die stärksten Gefühlserregungen hervorrufen muß.“49 Insbesondere die Eliten des ausgehenden 19. Jahrhunderts sahen dies ähnlich. Die emotionalen Reaktionen bei Skandalen waren dabei vielfältig und reichten vom lachenden Spott über Misstrauen bis hin zur Aufregung und angeekelten Entrüstung. Emotionen prägten aber auch das Verhalten der skandalisierten Personen, etwa in Form von Angst, Verzweiflung oder Scham. Und bereits die Normbrüche der Betroffenen, die aus Liebe, Lust, Hass oder Vertrauen einen Skandal in Kauf nahmen, zeigen die gefühlsbedingten Grenzen des rationalen Verhaltens im politischen Feld. Methodisch gesehen versteht sich das vorliegende Buch zudem als ein Beitrag zur Mediengeschichte. Auch sie wurde von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren verstärkt als Forschungsfeld entdeckt. Mittlerweile herrscht ein gewisser Konsens, Medien als Akteure mit eigenen Logiken zu verstehen – und weniger als Abbild politischer Vorgänge.50 Entsprechend wird anhand der Skandale geprüft, wie Medien politische und gesellschaftliche Entwicklungen prägten. Vermieden wird auf diese Weise eine historisch isolierte Geschichte von Einzelmedien zugunsten einer kulturell und politisch eingebetteten Medienanalyse. Auch wenn abweichende Deutungen von weltanschaulich unterschiedlichen Zeitungen herausgearbeitet werden, geht es doch um gemeinsame Diskursstränge. Um einen verengten Zugriffe zu vermeiden, wurde vielfach eine Mediengeschichte als eine Geschichte von Öffentlichkeit eingefordert.51 Wie bereits ange48 49 50 51 Zum Zusammenhang von Medien und Emotionen vgl. ausführlich: Frank Bösch und Manuel Borutta (Hrsg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006. Zum Sensationsbegriff vgl. Ulrike Dulinski, Sensationsjournalismus in Deutschland, Konstanz 2003, S. 64. Otto Groth, Die unerkannte Kulturmacht, Bd. 2, Berlin 1961, S. 286. Derartige zeitgenössische Urteile übernimmt etwas unreflektiert die wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete Arbeit: Marcus Mende, Sensationalismus als Produktgestaltungsmittel. Eine empirische Analyse über die verlegerische und journalistische Orientierung am Sensationsbedürfnis in der deutschen Presse zwischen 1914 und 1933, Köln 1996. Programmatisch etwa: Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer zukünftigen Geschichte der Massenmedien, in: GG 27 (2001), S. 177–206. Vgl. bes. Requate, Öffentlichkeit; Führer et al., Öffentlichkeit; Andreas Schulz, Der Aufstieg der vierten Gewalt. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: HZ 270 (2000), S. 65–97; für die Zeitgeschichte vgl. auch die Beiträge in: Bernd Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 16 I. Skandale als historischer Gegenstand deutet, schließt sich die vorliegende Studie dem methodischen Ansatz an und versteht Skandale als einen Zugang, um die Interaktion von unterschiedlichen Teilen der Öffentlichkeit in ihrer Historizität zu untersuchen. Selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, dass sowohl die historische als auch die analytische Verwendung des Begriffs „Öffentlichkeit“ Konstrukte beschreibt. Um dieses Konstrukt nicht allein auf eine männliche bürgerliche Elite zu beschränken, ist demnach eine Abkehr von elitären öffentlichen Institutionen sinnvoll. Kommunikationsereignisse wie Skandale scheinen hierfür hilfreich, auch wenn wünschenswerte Quellen über Gespräche auf Marktplätzen oder in Treppenhäusern fehlen.52 Im 19. Jahrhundert eröffneten die Skandale jedoch insbesondere durch die mit ihnen einhergehenden Gerichtsverhandlungen auch für Frauen und Unterschichten einen rekonstruierbaren Zugang zur Öffentlichkeit. Das semantische Gegenstück von Öffentlichkeit ist das Geheimnis. Als nichtöffentliche, geheime Sphären gelten insbesondere politische Arkanbereiche oder Privatsphären. Geheimnis und Öffentlichkeit lassen sich als ein Spannungsverhältnis mit struktureller Interdependenz fassen: Die Öffentlichkeit zehrt das Geheime nicht auf, sondern markiert nur vorläufige Formen der Anerkennung, deren Begründungszwang sich stets ändern kann.53 Insofern lassen sich Skandale als „öffentliche Geheimnisse“ fassen. Sie testeten dabei die Grenzen der Öffentlichkeit aus und verlangten von nicht-öffentlichen Bereichen eine Legitimierung. Im 19. Jahrhundert war dieses Verhältnis durch gegenläufige Trends gekennzeichnet, die das Aufkommen von Skandalen förderten. So entfaltete sich eine rechtliche Absicherung staatlicher Bereiche und eine Privatsphäre, die frei von Beobachtungen von außen sein sollte. Gleichzeitig entstanden jedoch Institutionen, die systematisch die Sphäre des Geheimen und Privaten öffentlich beobachteten, um Normbrüche zu sanktionieren oder das öffentliche Wissen zu erweitern. Die Veröffentlichungen der Gerichte, Journalisten und Politiker, die hier im Mittelpunkt stehen, standen dabei in Verbindung mit anderen Beobachtern, wie den Sozialstatistikern, Psychologen oder Schriftstellern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls verstärkt das Privat- und Seelenleben sezierten und damit der öffentlichen Reflexion unterwarfen.54 Nicht nur die Medien, sondern auch die Mediennutzer sind als aktive Rezipienten zu verstehen. Im Anschluss an den kommunikationswissenschaftlichen 52 53 54 Vgl. die entsprechende geschlechtergeschichtliche Kritik etwa von: Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Karin Hausen und Heide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 81–88; von Seite der Kommunikationswissenschaften: Elisabeth Klaus, Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozeß, in: Kurt Imhof und Peter Schulz (Hrsg.), Kommunikation und Revolution, Zürich 1998, S. 131–149, S. 136. Vgl. Hölscher, Öffentlichkeit, S. 154; Aleida Assmann und Jan Assmann, Zur Einführung, in: dies. (Hrsg.), Schleier und Schwelle, Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, S. 7–16, S. 16. Vgl. David Vincent, The Culture of Secrecy. Britain, 1832–1998, Oxford/New York 1998, S. 123 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 17 „Cultural Studies-Approach“ von Stuart Hall und John Fiske ist davon auszugehen, dass Medieninhalte eigensinnig und oft quer zu kalkulierten Absichten angeeignet werden. Denn ihre Inhalte sind vielfältig deutbar und werden erst durch interpersonale Kommunikation im Kontext der Mediennutzung neu interpretiert.55 Gerade Skandale dürften einen Zugang zu einer Mediengeschichte ermöglichen, die solche offenen Verlaufsformen ausmacht, auch wenn man die Deutungen der einfachen Zeitungsleser nur schwer fassen kann. Zu diesen aktiven Mediennutzern muss man zugleich die Politiker zählen, die man sich, wie Ute Daniel pointiert feststellte, um 1900 nicht zuletzt als Zeitungsleser vorstellen muss, die mit den entsprechenden Medien interagierten.56 Im Sinne des Agenda-Setting-Ansatzes lässt sich dabei annehmen, dass die Medien zwar nicht unbedingt entscheiden, was Menschen denken, aber zumindest mit prägen, worüber sie sprechen.57 Das galt nicht nur für die politischen Eliten, deren Wahrnehmung im hohen Maße durch die Lektüre diverser Zeitungen geprägt wurde. Lange vor Niklas Luhmanns berühmtem Diktum, unser Wissen über die Welt stamme aus den Massenmedien,58 stellte etwa bereits 1860 eine Darstellung über London fest: What would the Englishman do without his newspaper I cannot imagine. […]. Conversation would cease at once. Brown, with his morning paper in his hand, has very decided opinions indeed, – can tell you what the French Emperor is about, what the Pope will be compelled to do, what is the aim of Sardinia and what is Austria’s little game. I dined at Jenkins’s yesterday, and for three hours over the wine I was compelled to listen to what I had read in that mornings Times. The worst of it was, that when I joined the ladies I was no better off. […] What people could have found to talk about before the invention of newspapers, is beyond my limited comprehension.59 Ebenso lässt sich an polizeilichen Spitzelberichten über Kneipengespräche der enge Zusammenhang zwischen Zeitungsinhalten und der Alltagskommunikation für das späte 19. Jahrhundert belegen.60 Die Studie fokussiert damit einen Medialisierungsprozess, der im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich an Dynamik gewann. Der Begriff Medialisierung hat dabei eine dreifache Bedeutung: Er verweist auf die zunehmende 55 56 57 58 59 60 Vgl. etwa als einführende Texte: John Fiske, Die Fabrikation des Populären: der John-FiskeReader, Bielefeld 2001; Stuart Hall, Cultural Studies: Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000. Als historisches Beispiel für diese mitunter eigensinnige Aneignung vgl.: Philipp Müller, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 2005. Ute Daniel, Einkreisung und Kaiserdämmerung. Ein Versuch, der Kulturgeschichte der Politik vor dem Ersten Weltkrieg auf die Spur zu kommen, in: Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte, S. 279–328, S. 288. Zum Ansatz selbst vgl.: Hans-Bernd Brosius, Agenda-Setting nach einem Vierteljahrhundert Forschung: Methodischer und theoretischer Stillstand?, in: Publizistik 33 (1994), S. 269–288. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9. J. Ewing Ritchie, About London, London 1860, S. 1. Vgl. hierzu bereits: Frank Bösch, Zeitungsberichte im Alltagsgespräch: Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319–336. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 18 I. Skandale als historischer Gegenstand Durchdringung des Alltagslebens durch die Medien; auf die zunehmende Bedeutung der Medien als Beobachtungssystem zweiter Ordnung, wonach Politiker etwa ihr eigenes Handeln vornehmlich über die Medien wahrnahmen; und er fasst die wechselseitige Prägung von Medien- und Gesellschaftsentwicklungen, die hier am Beispiel von Skandalen untersucht wird.61 Ein wesentlicher gesellschaftlicher Prozess, der mit der Medialisierung einherging, war die Demokratisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Dementsprechend wird nach Zusammenhängen dieser Prozesse gefragt.62 Skandale sind dabei als ein widersprüchliches Phänomen zu verstehen, das sich gegen allzu lineare Fortschrittsgeschichten sperrt. So spalten sie Gesellschaften, schaffen aber zugleich milieuübergreifende Kommunikationsprozesse. Sie sind mitunter ein Indikator für die Demokratisierung, aber oft auf Basis von undemokratischen Diffamierungen. Und gerade in Demokratien können Skandale ein Mittel zur Erhaltung und Bekämpfung dieser Staatsform sein. Eine methodische Grundfrage ist, nach welchen Kriterien man historische Skandalfälle ausmacht und exemplarisch auswählt. Die vorliegende Studie sieht bewusst davon ab, lediglich bis heute kanonisierte Skandale zu analysieren. Vielmehr wurde auch nach Fällen gesucht, denen die Öffentlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine besonders große Bedeutung beimaß, die aber kaum durch die Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur tradiert wurden. Erste Hinweise gab die komplette Durchsicht von wöchentlich erscheinenden Zeitschriften (wie der Berliner Illustrirten Zeitung und der Illustrated London News), dann die systematische Durchsicht von Zeitungen. Die zeitgenössische Benennung von Ereignissen als Skandal gab ebenfalls Anhaltspunkte, insbesondere im Zuge einer elektronischen Volltextanalyse der Times.63 Wichtige Hinweise, um Skandale und ihre Bedeutung auszumachen, gaben die rückblickenden Vergleiche der Zeitgenossen. Fast immer wurden während der Skandale ähnliche frühere Fälle erinnert, die als Vorläufer erschienen. Auf diese Weise ließen sich auch grenzüberschreitende thematische Bezüge erkennen. So verwiesen etwa die Zeitungen und Abgeordneten beim bis heute recht bekannten Skandal um den Kolonialisten Carl Peters auf die vorherigen, heute eher vergessenen Kolonialskandale um Heinrich Leist und Alwin Karl Wehlan. Diese wurden dann ebenfalls in dieser Studie auf Präzedenzverweise untersucht. Bei der Auswahl der untersuchten Skandale wurde zudem die Relevanz in der damaligen Öffentlichkeit geprüft. Ein zentrales Kriterium war, ob sie eine längere Zeit von mindestens einigen Wochen in der breiten politischen Öffentlichkeit verhandelt wurden, also in den meisten Zeitungen, den Parlamenten oder 61 62 63 Vgl. konzeptionell: Winfried Schulz, Reconstructing Mediatisation as an Analytical Concept, in: European Journal of Communication 19 (2004), S. 87–101. Vgl. ausführlicher hierzu für die folgende Zeit bereits: Frank Bösch und Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Für Deutschland lag bis dato leider keine größere Tageszeitung komplett elektronisch mit einem entsprechenden Suchsystem vor. Allerdings deckte die Times dank ihres Berliner Korrespondenten alle größeren deutschen Skandale ab. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 19 vor Gericht. Nach diesen Kriterien wurden jeweils rund 15 Skandale für Großbritannien und Deutschland ausgewählt, die zwischen 1880 und 1914 aufkamen. Damit stützt sich die Studie auf knapp dreißig ausführlicher thematisierte Fälle, um möglichst repräsentative Aussagen über die Entwicklung und Bedeutung von Skandalen in unterschiedlichen Feldern zu treffen. Weitere rund zwei dutzend Fälle wurden ergänzend hinzugezogen, um die ausführlich untersuchten Skandale einzuordnen. Dennoch handelt es sich hier um keine komplette, handbuchartige Übersicht, sondern nur um exemplarisch ausgewählte Fälle. Diese wurden ebenso nach den verhandelten Themen ausgewählt, um unterschiedliche Bereiche zu erschließen. In der sozialwissenschaftlichen Forschung findet sich häufig eine Dreiteilung der Skandaltypen in Fälle, die Sexualität, Korruption und Machtmissbrauch behandeln („sex, money, power“). Der Machtmissbrauch (wie der WatergateSkandal oder die Spiegel-Affäre) gilt dabei als politischer Skandal in nuce.64 Um Ähnlichkeiten bei den Skandalen auszumachen und die jeweiligen Deutungen, Normen und Verhaltensweisen vergleichend zu bestimmen, wurde diese Typologie jedoch in sechs Bereiche erweitert, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als besonders prägnant erwiesen: In Skandale um Homosexualität, Ehebruch, den Kolonialismus, den Journalismus, die Königshäuser und um Korruption. Die Übergänge zwischen diesen Themenfeldern sind jedoch fließend. So konnte sich ein Monarchie-Skandal um Ehebruch drehen und ein Kolonialskandal um Korruption oder sexuelle Normverstöße. Allerdings standen in diesen Fällen dennoch die spezifischen Normen im Mittelpunkt, die für den Monarchen und den Kolonialismus galten. Darüber hinaus sind selbstverständlich weitere Themenfelder denkbar, die hier nicht berücksichtigt werden konnten – wie etwa Skandale um Militär und Polizei oder um Kirche und Religion.65 Trotzdem dürfte das Themenspektrum breit genug gefächert sein, um einige Antworten auf die eingangs gestellten Leitfragen zu geben. Zeitlich konzentriert sich die Studie auf die Jahrzehnte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in denen die Skandale gehäuft auftraten, also insbesondere auf die Zeit zwischen 1880 und 1914. Das Jahr 1914 bildet in beiden Ländern eine sinnvolle Zäsur, da die Umstrukturierung von Politik und Öffentlichkeit die Rahmenbedingungen für Skandale entscheidend veränderte. Insbesondere die Feindpropaganda trat nun an die Stelle einer Empörung über Normbrüche in der eigenen Gesellschaft. Dies ist jedoch medien- und politikgeschichtlich ein neues Kapitel. Das Buch beruht, soweit wie möglich, auf zahlreichen unterschiedlichen gedruckten und ungedruckten Quellen aus 23 Archiven. Diese Quellen lassen sich grob in fünf Gruppen kategorisieren. Erstens wurden, um die interne Behand64 65 Vgl. Thompson, Scandal, S. 196. Zur Wirkung von Kirchenskandalen vgl. Manuel Borutta, Enemies at the Gate. The „Moabiter Klostersturm“ and the „Kulturkampf“ in Germany, in: Christopher Clark und Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 227–254. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 20 I. Skandale als historischer Gegenstand lung und Deutung der Skandale auszumachen, die Archivunterlagen von allen an den Skandalen Beteiligten ausgewertet. Hierzu zählen die Briefe, Aufzeichnungen und Tagebücher von Politikern, Journalisten, Juristen und weiteren im Skandal involvierten Akteuren. In Großbritannien waren dabei journalistische Nachlässe wesentlich umfangreicher überliefert.66 Durch das bessere Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten fanden sich zudem in Nachlässen von britischen Politikern mehr Briefwechsel mit Journalisten und Verlegern.67 Dagegen wurden in Deutschland die Archive der meisten Zeitungsredaktionen und -redakteure vor 1914 spätestens im Zweiten Weltkrieg vernichtet, so dass häufiger aus der Korrespondenz von Politikern Rückschlüsse gezogen werden mussten.68 Zweitens wurden die Akten von Institutionen analysiert, die bei der Aushandlung von Skandalen beteiligt waren, etwa der Justiz, von Untersuchungsausschüssen und Regierungsbehörden. Als Historiker kann man von der damaligen deutschen Bürokratie profitieren, da die Ministerien deutlich mehr Akten zu den Skandalen produzierten als in Großbritannien, wo die Minister ihre wichtigen Unterlagen eher in ihren Nachlässen sammelten. In beiden Ländern liegen die gerichtlichen Ermittlungsakten in vielen Fällen nicht mehr direkt vor. Sie konnten aber zumindest in Form von zeitgenössischen Abschriften in den Unterlagen der Justizminister oder von Prozessbeteiligten ausgemacht werden.69 Drittens wurden Quellen der Versammlungsöffentlichkeit ausgewertet, um das öffentliche Sprechen im Skandal zu untersuchen. Für alle Skandale wurden die Parlamentsdebatten und die öffentlichen Aussagen in Gerichtsverhandlungen herangezogen, zudem im Fall Großbritanniens die Aussagen vor Untersuchungskommissionen. Da die offiziellen Prozessprotokolle oft nicht überliefert sind, musste auf die protokollarischen Mitschriften der Journalisten zurückgegriffen werden. Diese sind zwar verkürzt, aber gerade der Vergleich unterschiedlicher Mitschriften belegt ihre Zuverlässigkeit.70 66 67 68 69 70 Ausgewertet wurden etwa Nachlässe von Journalisten wie W.T. Stead (Cambridge University/ Churchill Archives Centre), Maxse (West Sussex Record Office, Chichester), Strachey (Parliamentary Archive/House of Lords Record Office, London), Escott, Garvin, Lord Northcliffe (alle British Library Manuscript Collection) oder T.P. O’Connor (Trinity College Dublin). Nicht besucht werden konnte das Archiv der Times, das während meiner Aufenthalte in England trotz mahnender Anschreiben leider wegen des dortigen Personalabbaus nicht zugänglich war. Vgl. etwa die Nachlässe von Politikern wie von Joseph Chamberlain (Birmingham University, Special Collections Department), William Gladstone, Dilke, Campbell-Bannerman (alle British Library Manuscript Collection), Lloyd George, Bonar Law (Parliamentary Archive/House of Lords Record Office, London) oder Winston Churchill (Cambridge University/Churchill Archives Centre); relativ wenig, aber immer noch mehr als bei deutschen Politikern etwa im Nachlass von Lord Salisbury (Hatfield House, Hatfield). Von den deutschen Nachlässen der Journalisten vor 1914 ist sicherlich der wichtigste und zugleich umfangreichste der von Maximilian Harden, in: Bundesarchiv Koblenz (BA/K), N 1062. Bes. ergiebig hier die Unterlagen beim preußischen Justizministerium in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA), HA I Rep. 84 a. Vgl. etwa die gedruckte Version der Berichte von: Hugo Friedlaender, Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, 12 Bde., Berlin 1911–1919. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Methoden, Zugänge, Quellen 21 Viertens wurden Medien analysiert, die Skandale thematisierten. Im Vordergrund standen vor allem die großen Zeitungen und Zeitschriften, die systematisch für die Zeiträume ausgewertet wurden, in denen die Skandale die Öffentlichkeit bewegten. Die Auswahl der Presseerzeugnisse erfolgte nach der zeitgenössischen Bedeutung, die sich aus ihrer Auflagenhöhe oder ihrem öffentlichen Stellenwert ergab. Dabei wurde für beide Länder ein breites politisches Spektrum berücksichtigt. Für Deutschland zählte dazu der sozialdemokratische Vorwärts, die Zentrums-nahe Kölnische Volkszeitung, die liberale Vossische Zeitung und das liberale Berliner Tageblatt (die beide als besondere Qualitätsblätter galten), die liberale Straßenverkaufszeitung BZ am Mittag, das essayistische bürgerlich-intellektuelle Wochenblatt Die Zukunft, der eher konservative auflagenstarke Berliner Lokal-Anzeiger, die konservative Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“ genannt) und die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung.71 In Großbritannien war die politische Zuordnung der Zeitungen oft weniger eindeutig, aber dennoch möglich.72 Von den liberalen Blättern wurde die auflagenstarke Daily News untersucht, die Pall Mall Gazette, die oft zu unrecht als Sensationsblatt gilt und zahlreiche journalistische Innovationen förderte,73 das radikal-liberale Sonntagsblatt Reynolds’s Newspaper, das mit sensationell populistischem Ton demokratische Positionen vertrat74 und der irenfreundliche, ebenfalls leicht radikalliberale Star.75 Die Position der irischen Nationalisten wurde durch United Ireland erschlossen. Auf Seite der eher konservativen Zeitungen wurde die Times herangezogen, die 1908 der Pressebaron Lord Northcliffe kaufte,76 die seit 1896 ebenfalls von Northcliffe herausgegebene Daily Mail, die als erstes britisches Boulevardblatt gilt, und der Daily Telegraph, dem bis in die 1880er Jahre auflagenstärksten Blatt, das erst im ausgehenden 19. Jahrhundert ein stärker konservatives Profil gewann.77 Um darüber hinaus weitere Pressestimmen einzubeziehen, wurden zusätzlich Presseausschnittssammlungen 71 72 73 74 75 76 77 Zur politischen Zuordnung vgl. einführend: Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 259–287; Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000, S. 202–237. Zur politischen Zuordnung vgl. Stephen Koss, The Rise and Fall of the Political Press in Britain, Bd. 1: The Nineteenth Century, London 1981. Vgl. Raymond L. Schults, Crusader in Babylon. W.T. Stead and the Pall Mall Gazette. Lincoln 1972. Virginia Berridge, Popular Sunday Papers and Mid-Victorian Society, in: George Boyce, James Curran und Pauline Wingate (Hrsg.), Newspaper History from the Seventeenth Century to Present Day, London 1978, S. 247–264. John Goodbody, The Star: Its Role in the Rise of the New Journalism, in: Joel H. Wiener (Hrsg.), Papers for the Millions. The New Journalism in Britain, 1850s to 1914, New York 1988, S. 143–164. Die Times schrieb ihre eigene Geschichte ausführlich: Office of the Times (Hrsg.), The History of the Times. Bd. 3: The Twentieth Century Test 1884–1912, London 1947. Zu den populären Aktionen des Daily Telegraph vgl. Matthew Engel, Tickle the Public: One Hundred Years of the Popular Press, London 1996, S. 33 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 22 I. Skandale als historischer Gegenstand benutzt.78 Da die Tageszeitungen zumindest bis zur Jahrhundertwende weitgehend auf Bilder verzichteten, wurden zudem Zeitschriften und Beilagen ausgewertet, um visuelle Vorstellungen über die Skandale auszumachen. Im Vordergrund standen die Berliner Illustrirte Zeitung und die Illustrated London News, sowie das Sensationsblatt Illustrated Police News.79 Um visuelle Deutungen der verhandelten Normbrüche zu interpretieren, wurden auch die Karikaturen in den Satiremagazinen Kladderadatsch, Simplicissimus und Punch analysiert.80 Fünftens wurde versucht, Quellen zu Gesprächen über Skandale in der „Encounter-Öffentlichkeit“ der zufälligen Begegnungen zu ermitteln. Zu diesem Zweck wurden aus rund 20 000 Berichten über Kneipengespräche, die getarnte Spitzel der Hamburger Politischen Polizei heimlich aufzeichneten, rund 2 500 Berichte ausgewertet, die in den Zeitraum der Skandale fielen.81 Tatsächlich dokumentierten sie Unterhaltungen zu allen untersuchten deutschen Skandalen. Selbst wenn viele dieser Berichte nicht den „wirklichen“ Gesprächsverlauf zeigen, sondern eher die vermittelte Wahrnehmung einfacher Polizisten, sind sie immer noch eine ausgezeichnete Quelle, um die Deutungen einfacher Zeitungsleser auszumachen. Da für Großbritannien vergleichbares fehlt, wurden Quellen wie Music Hall-Lieder, Zuschriften und Leserbriefe, Pamphlete oder Berichte über Gerüchte hinzugezogen. Dieses breite Ensemble von Quellen soll ermöglichen, die Skandale nicht nur entlang von Medienberichten zu rekonstruieren, sondern vielmehr als ein Panoptikum von unterschiedlichen Handlungen und Kommunikationsformen zu untersuchen, die Inhaber von Machtpositionen herausforderten. 78 79 80 81 Die wichtigste Presseausschnittssammlung stammt vom Reichslandbund, in: Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde (BAB/L), R 8034 II und III; sowie die Sammlung Fechenbach, in: BA/K ZSg 113. Die phasenweise publizierten deutschen Pendants zur Illustrated Police News sind leider nur vereinzelt überliefert; vgl. Hartwig Gebhardt, „Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse für die „niederen Instinkte“. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte, in: Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 184–217. Für einen ausgewählten Skandal vgl. bereits: James Steakley, Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel ihrer zeitgenössischen Karikaturen, Hamburg 2004. Zu den Zeitschriften vgl.: A.T. Allen, Satire and Society in Wilhelmine Germany: Kladderadatsch and Simplicissimus 1890–1914, Lexington 1984; Ingrid Heinrich-Jost, Kladderadatsch. Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich, Köln 1982. Hauptstaatsarchiv Hamburg (HStAH), Bestand Politische Polizei 331–3, Vigilanzberichte. Eine kleine Auswahl des großen Bestandes liegt gedruckt vor: Richard Evans (Hrsg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892– 1914, Reinbek 1989. Im Hinblick auf Kommunikationsformen hat den Bestand jüngst ausgewertet: Owzar, „Reden ist silber“. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zum Forschungsstand 23 3. Zum Forschungsstand Die bisherigen Arbeiten zu Skandalen lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: In eher sozialwissenschaftlich-theoretische Texte, in historische Fallstudien und in systematische historische Publikationen. Die erste Gruppe von Arbeiten, die eher theoretisch Skandale reflektieren und überwiegend von Sozialwissenschaftlern stammen, bietet neben Beispielen aus der Gegenwart allenfalls kurze historische Rückblicke.82 Sie gewährten vielfältige methodische Anregungen zur Merkmalsbestimmung von Skandalen und ihren Wirkungen. Mehrheitlich weisen sie ihnen eine Korrekturfunktion zu: Skandale ermöglichen Gesellschaften zu lernen, wenn andere Mechanismen versagen. Gerade das Ausbleiben von Skandalen gilt danach als Gefahr für die Demokratie.83 Weniger Zustimmung findet dagegen der Ansatz, Skandale als Merkmal und Grund für den Verfall der Öffentlichkeit zu sehen. Diese Argumentation macht Skandale für einen Vertrauensverlust in Politik und Staat verantwortlich und beklagt die schweren Schäden durch Skandale, da die aufgebrachten Vorwürfe meist nicht der „Wahrheit“ entsprächen und keine Besserung bringen würden.84 Diese Lesart knüpft damit an jene kulturkritische Interpretation an, die bereits im 19. Jahrhundert vornehmlich von Anhängern der Regierungsparteien auszumachen ist. Gemeinsam ist diesen Interpretationen, dass sie der medialen Struktur eine große Bedeutung beimessen. Entweder sehen sie diese als Zeichen einer pluralisierten Öffentlichkeit oder als kommerzielle Sensationsorgane und politische Verleumder. Eine gewisse Autonomie der Medien und eine Konkurrenz politischer Teilöffentlichkeiten gelten jeweils als Vorraussetzung für Skandale.85 Ob Skandale hingegen auch in Diktaturen mit ihrer kontrollierten Medienöffentlichkeit auftreten können, ist umstritten.86 Durch den Aktualitätsbezug der so82 83 84 85 86 Geraffte Rückblicke ins späte 19. Jahrhundert und für die Zeit ab 1960 etwa: Thompson, Political Scandal. Einzelne Beispiele auch in: Andrei S. Markovits und Mark Silverstein (Hrsg.), The Politics of Scandal: Power and Process in Liberal Democracies, New York 1988. Anregende systematische Überlegungen vornehmlich am Beispiel der Affäre um Michel Friedmann (2003) formulierte jüngst nach Abschluss des Manuskriptes: Burkhardt, Medienskandale. Vgl. Hondrich, Enthüllung, S. 57; Rolf Ebbighausen, Skandal und Krise. Zur gewachsenen „Legitimationsempfindlichkeit“ staatlicher Politik, in: ders. und Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989, S. 171–200, S. 173; Andrei S. Markovits und Mark Silverstein, Introduction: Power and Process in Liberal Democracies, in: dies. (Hrsg.), The Politics, S. 1–12. Hans Mathias Kepplinger, Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit, München 2001, S. 151 f. Eine Verstärkung bei bestehenden negativen Bewertungen sieht auch: Jens Wolling, Skandalberichterstattung in den Medien und die Folgen für die Demokratie, in: Publizistik 46 (2001), S. 20–36. Thompson, Scandal, S. 94. So plädierte von historischer Seite Martin Sabrow dafür, die situative Öffentlichkeit (wie Gespräche in Warteschlangen, Clubs oder Straßenbahnen) als Forum für Skandale ernst zu nehmen, was auch Skandale in Diktaturen ermöglichte; vgl. mit Fallbeispielen aus dem Nationalsozialismus und der DDR: Martin Sabrow, Politischer Skandal und moderne Diktatur, in: ders. (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004, S. 7–32, S. 23. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 24 I. Skandale als historischer Gegenstand zialwissenschaftlichen Studien wurden Skandale vornehmlich als Ergebnis einer visualisierten Medienkultur gesehen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten im Fernsehzeitalter durchgesetzt habe. Der Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert dürfte jedoch davor warnen, viele Beobachtungen zu schnell aus gegenwärtigen Medienstrukturen abzuleiten und Gegenwartsbefunde ahistorisch zu verallgemeinern. Neben dieser eher theoretisch-systematischen sozialwissenschaftlichen Literatur liegen zweitens, insbesondere für Großbritannien, vornehmlich ältere Studien über einzelne Skandale vor, etwa über die Ehebruchsskandale von Dilke und Parnell, den Homosexualitätsskandal um Lord Somerset oder die Marconi Affäre um die Aktienkäufe von Ministern.87 Für das Kaiserreich fanden insbesondere die Eulenburg-Affäre, die Daily-Telegraph-Affäre und die Zabern-Affäre quellenfundierte Bearbeitungen.88 Gemeinsam ist diesen Publikationen, dass sie den Ereignisablauf einzelner Skandale isoliert rekonstruieren. So zog Frances Donaldson Monographie über den Marconi-Skandal das Fazit: „The Marconi case was an isolated incident without, it seems to me, much historical significance.“89 Weniger die öffentlichen Deutungen als die „wirklichen“ Handlungen der Beschuldigten standen dabei im Vordergrund.90 Das vorliegende Buch profitierte von diesen Ereignisdarstellungen und konnte sie oft durch eine etwas breitere Quellenbasis ergänzen oder korrigieren. Im Unterschied dazu wird hier jedoch darüber hinaus angestrebt, anhand der Skandale systematische Fragen zu beantworten – wie die Aushandlung gesellschaftlicher Normen, das Verhältnis von Politik, Medien und Öffentlichkeit, die Anatomie von Skandalen und nationale Besonderheiten. Drittens lässt sich an einige wenige historische Studien anschließen, die Skandale stärker in Verbindung mit einzelnen historischen Themen untersuchten. Dies gilt zunächst für die frühe Studie von Alex Hall, die wilhelminische Skan87 88 89 90 Vgl. Francis Steward Lyons, The Fall of Parnell, 1890–91, London 1960; Roy Jenkins, Victorian Scandal. A Biography of the Right Honourable Gentleman Sir Charles Dilke, New York 1965; H. Montgomery Hyde, The Cleveland Street Scandal, London 1976; Frances Donaldson, The Marconi Scandal, London 1962. Bezeichnenderweise stammen die ausführlichsten Arbeiten zur Zabern-Affäre von Amerikanern: David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982; Richard W. Mackey, The Zabern Affair, 1913–1914, Lanham 1991. Zum Ereignisablauf der Eulenburg-Affäre vgl. die ungedruckte Dissertation von: Angela Leuchtmann, Der Fall Eulenburg. Anfang und Ende einer Karriere im wilhelminischen Deutschland, Ms. Diss. München 1997. Juristisch entlang der Prozesse: Karsten Hecht, Die Harden-Prozesse – Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, München 1997. Stärker journalistisch: Peter Jungblut, Famose Kerle. Eulenburg – eine wilhelminische Affäre, Hamburg 2003. Etwas weniger Aufmerksamkeit fand die Daily Telegraph-Affäre; vgl. bes. Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation, Stuttgart 2002. Donaldson, Marconi, S. 249. Das gilt auch für die Biographien zu den im Skandal Beteiligten, die allerdings mitunter die Skandale der Protagonisten ignorierten; vgl. etwa: David Steele, Lord Salisbury. A Political Biography, London 1999; Stephen Koss, Asquith, Bristol 1976. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zum Forschungsstand 25 dale im Kontext der sozialdemokratischen Presse analysierte. Insbesondere aus den Berichten des Vorwärts und des Hamburger Echos rekonstruierte sie verschiedene Fälle und deutete die Zeitungsberichte als öffentlichen Protest gegen Ungerechtigkeiten und Korruption.91 Obgleich ihm zuzustimmen ist, dass die Sozialdemokraten eine zentrale Rolle beim Aufbringen von Skandalen spielten, schöpft dies sicherlich nicht das Thema aus. Und selbst für die Kampagnen der Sozialdemokraten verspricht eine stärker archivgestützte Analyse weiterführende Ergebnisse.92 Einen ersten Überblick über das verstärkte Aufkommen von Skandalen in Deutschland, Frankreich und den USA gab Alexander SchmidtGernig, der daran den wachsenden Anspruch der Presse ausmachte, eine „vierte Gewalt“ zu sein. Der knapp belegte Befund des Artikels, die Erfolge der Presse seien gering gewesen, bleibt allerdings zu diskutieren.93 Dass große Skandale grenzübergreifend in ganz Europa unterschiedliche Empörungen und Deutungsmuster auslösen können, zeigte James Brennan an Zeitungsberichten aus mehreren Ländern über die Dreyfus-Affäre, auch wenn die Arbeit deskriptiv die Abfolge der Presseartikel beschreibt.94 Von der jüngeren deutschen Forschung ist vor allem die wichtige Arbeit Martin Kohlrauschs über Skandale um Wilhelm II. hervorzuheben, der anhand der Eulenburg-Affäre, der Caligula-Affäre, der Daily-Telegraph-Affäre und der Flucht von 1918 die öffentliche Wahrnehmung des Kaisers behandelt. Anhand von Zeitungsartikeln macht er an diesen vier Fällen sprachliche Strategien aus, wie über den Kaiser im Zeitalter der Massenpresse gesprochen wurde. Kohlrausch kommt zu dem Ergebnis, dass die Eulenburg- und Daily-Telegraph-Affäre zu einer Enttäuschung über Wilhelm II. führten, aus der heraus sich immer radikalere „Führerforderungen“ entwickelten.95 Überschneidungen zu dieser Studie werden durch die breitere Perspektive und anders gelagerte Fragestellung vermieden, da das öffentliche Bild von Wilhelm II. im Folgenden allenfalls einen eher untergeordneten Punkt bildet. 91 92 93 94 95 Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890–1914, Cambridge 1977, S. 188. Hall behandelt im engeren Sinne nur im letzten Drittel seines Buches Skandale, bietet aber in den ersten Teilen wichtige, bislang zu wenig aufgegriffene Beobachtungen zur sozialdemokratischen Presse und zu Konflikten zwischen SPD und Staat. Halls Arbeit stützt sich, neben Presseausschnitten, auf verschiedene Polizeiberichte in regionalen Archiven, insbesondere aus Hamburg; jedoch erhielt er etwa keinen Zugang zu den damaligen Beständen in der DDR, die heute im Berliner Bundesarchiv/Lichterfelde und dem Geheimen Staatsarchiv leicht zugänglich sind. Alexander Schmidt-Gernig, Die Presse als „vierte Gewalt“? – Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA, in: Martin Kirsch et al. (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 169–193, S. 192. James f. Brennan, The Reflection of the Dreyfus-Affair in the European Press 1897–1899, New York 1998. Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und Transformationen der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Vgl. auch zur englischen Rezeption dieser und anderer Affären um Wilhelm II.: Lothar Reinermann, Der Kaiser in England: Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit, Paderborn 2001. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 26 I. Skandale als historischer Gegenstand Zudem wird die Eulenburg-Affäre hier vor allem als Normenkonflikt um Homosexualität interpretiert und auch die Skandale um Wilhelm II. werden stärker auf die Handlungsmuster der Journalisten und Politiker im Zuge der Medialisierung bezogen. In Großbritannien, wo Sex-Skandale bis heute eine größere Bedeutung haben, liegen bereits einzelne historische Arbeiten zu diesem Skandaltypus vor. Für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zeigte Anna Clark an einigen Beispielen, wie bereits Skandale um die Sexualität des britischen Hochadels Reformen auslösen konnten, ihre Wirkung aber für die Skandalisierer unberechenbar war. Dabei führten die satirischen Einzelangriffe gegen Individuen zu einer systematischen politischen Kritik.96 Anhand von zwei Sex-Skandalen in britischen Kolonien analysierte Kirsten McKenzie, wie Skandale die soziale Inklusion und Exklusion in den anfangs noch wenig formalisierten Kolonien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelten.97 Andere Arbeiten, die vom Titel her sex scandals anpreisen, begnügten sich dagegen mit einer Darstellung von Ehebrüchen oder Homosexualitätspraktiken prominenter Personen, ohne diese aber als Skandale zu thematisieren und deren öffentliche Bedeutung zu berücksichtigen.98 Dennoch machen die eher populärwissenschaftlichen Publikationen über „Sensationen“ im viktorianischen England zumindest darauf aufmerksam, in welchem Kontext die politischen Skandale standen: Ähnlich wie spektakuläre Morde waren sie Medienberichte über außeralltägliche Ereignisse, die emotionale Reaktionen auslösen konnten und mitunter den Verlauf von Gerichtsprozessen veränderten.99 Was jeweils als Recht galt, bestimmten nicht allein Gesetzestexte, sondern wurde im Gericht zwischen Richtern, Anwälten, Beschuldigten, Publikum und Journalisten kommunikativ ausgehandelt.100 Darüber hinaus knüpft das Buch an diverse Forschungsfelder an, die mit den Skandalthemen verbunden sind. Obgleich wegen der vielfältigen Bereiche auf ein pauschales Resümee verzichtet werden muss, lässt sich generell ein recht un96 97 98 99 100 Anna Clark, Scandal. The Sexual Politics of the British Constitution, Princeton 2004. McKenzie, Scandal. Vgl. Michael Harrison, Painful Details. Twelve Victorian Scandals, London 1962; Montgomery Hyde, Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and Society, London 1986. Fälle wie Kindsmorde, Scheidungen u.ä., aber kaum Skandale im engeren Sinne behandeln die Artikel in: Kristine Ottesen Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals. Representations of Gender and Class, Athens/OH 1991. Eine Zusammenfassung moralischer Vergehen, mit der These, die 1890er seien eine prüde Zeit gewesen, bietet: Trevor Fisher, Scandal: The Sexual Politics of Late Victorian Britain, Stroud 1995. Auf ausgewählte Romane bezogen: William A. Cohen, Sex Scandal. The Private Parts of Victorian Fiction, Durham 1996; Morris B. Kaplan, Sodom on the Thames. Sex, Love, and Scandal in Wilde Times, Ithaca 2006. Vgl. etwa die gesammelten Fälle in: Michael Diamond, Victorian Sensation or, the Spectacular, the Shocking and the Scandalous in Nineteenth-Century Britain, London 2003. Die Öffentlichkeit als Teil der Praxis bei Gerichtsprozessen untersuchte: Benjamin Carter Hett, Death in the Tiergarten: Murder and Criminal Justice in the Kaiser’s Berlin, Cambridge/Mass. 2004, passim. Vgl. methodisch, auch zur Rolle des Publikums und der Presse im Gericht: Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002, S. 23 f., 486–533. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zum Forschungsstand 27 gleichgewichtiger Forschungsstand zur deutschen und britischen Geschichte feststellen. Dies gilt erneut besonders für die Sexualitätsgeschichte. So liegen für Großbritannien bereits zahlreiche Arbeiten zur Hetero- und Homosexualität im langen 19. Jahrhundert vor, die häufig auch einzelne Skandale einbezogen, wie insbesondere den Boulton/Park- und den Oscar Wilde-Skandal.101 Sie zeigen, dass die viktorianische Zeit eben nicht allein durch einen rigiden Puritanismus gekennzeichnet war, sondern durch zahlreiche Gegenbewegungen, wodurch es zu einer fortlaufenden Thematisierung der Sexualität kam.102 Selbst zur Sexualität in den britischen Kolonien liegen einzelne Arbeiten vor, die die Interaktion mit den Sexualitätsdiskursen im Mutterland zeigen.103 Vergleichbare Studien sucht man für Deutschland vergeblich, auch wenn einige Publikationen sich bereits der Homosexuellenbewegung widmeten.104 Diese blickten jedoch vielfach stärker auf deren Formation und Ideengeschichte als auf öffentliche Zuschreibungen.105 Ähnlich ungleichgewichtig ist der Forschungsstand zur Geschichte der Korruption. So liegt für Deutschland bislang etwa keine quellenfundierte Studie zur Korruption im 19. Jahrhundert vor, für Großbritannien dagegen bereits einzelne Überblicksdarstellungen.106 Ebenso fand der Zusammenhang zwischen der 101 102 103 104 105 106 Vgl. etwa jüngst: H.G. Cocks, Nameless Offences. Homosexual Desire in the Nineteenth Century, London 2003; Matt Cook, London and the Culture of Homosexuality, 1885–1914, Cambridge 2003; Graham Robb, Strangers. Homosexual Love in the 19th Century, London 2003. Weitere Literaturhinweise in den entsprechenden Kapiteln. Vgl. bereits: Jeffrey Weeks, Sex, Politics and Society. The Regulation of Sexuality since 1800, London 1981, S. 23. Robert Aldrich, Colonialism and Homosexuality, London 2003; Ronald Hyam, Empire and Sexuality. The British Experience, Manchester 1990. Vgl. etwa die Beiträge in: Susanne zur Nieden (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson: Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945, Frankfurt a. M. 2005; Rüdiger Lautmann und Angela Taeger (Hrsg.), Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992. Vergleichend zum Forschungsstand: Gert Hekma, Die Verfolgung der Männer. Gleichgeschlechtliche männliche Begierden und Praktiken in der europäischen Geschichte, in: ÖZG 9 (1998), S. 311–341; Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999. Erst nach Abschluss des Manuskriptes erschien leider: Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur, 1880–1934, Köln und Weimar 2007. Eher Kompilationen bieten: Gotthard Feustel, Geschichte der Homosexualität, Düsseldorf 2003; Helmut Blazek, Rosa Zeiten für rosa Liebe. Geschichte der Homosexualität, Frankfurt a. M. 1996. So ignorierte eine jüngere Studie über Sexualität im wilhelminischen Berlin die Skandale um Heinze oder um Eulenburg, zugunsten von Großstadtbeobachtungen wie von Georg Simmel: Dorothy Rowe, Representing Berlin. Sexuality and the City in Imperial and Weimar Germany, Aldershot 2003. Vgl. G.R. Searle, Corruption in British Politics 1895–1930, Oxford 1987; Alan Doig, Corruption and Misconduct in Contemporary British Politics, Harmondsworth 1984, S. 36–80; Philip Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economical Reform in Britain, Oxford 1996; Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practises in British Elections 1868– 1911, Oxford 1962. Ein Überblick zur englischen Forschung (und den Defiziten zu Deutschland) bietet: Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 282 (2006), S. 313–350. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 28 I. Skandale als historischer Gegenstand Medienentwicklung und der Monarchie bislang in Großbritannien mehr Aufmerksamkeit, obgleich in beiden Ländern die Monarchie durch die Medialisierung im 19. Jahrhundert ihr Erscheinungsbild und ihre Rolle veränderte.107 Zumindest tendenziell gut erforscht ist für beide Länder der Kolonialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Neben den kolonialen Praktiken fand seine Rückwirkung auf die Öffentlichkeit und die Gesellschaft der europäischen Länder verstärkte Aufmerksamkeit, etwa mit Blick auf Kolonialausstellungen, populäre Schriften oder Bildhaushalte.108 Dementsprechend erscheint die jüngst von Bernhard Porter aufgebrachte These, der Kolonialismus habe in der britischen Öffentlichkeit keine größere Rolle gespielt, eher provokativ als überzeugend.109 Kolonialskandale spielten jedoch bei diesen Arbeiten eine vergleichsweise geringe Rolle, obgleich sie eine wichtige Brücke zwischen den kolonialen Praktiken und den öffentlichen, populären Deutungen bildeten.110 Ebenso fand das brutale oder korrupte Vorgehen von Kolonialbeamten und „Entdeckern“ zwar in verschiedenen Darstellungen zu den einzelnen Kolonien Erwähnung, die daraus entstehenden Skandale aber kaum systematische Aufmerksamkeit. Während etwa für Großbritannien das skrupellose Vorgehen von Henry Morton Stanley bekannt ist, ist die Frage, inwieweit daraus eine öffentliche Empörung und ein Skandal entstanden, bisher kaum erforscht.111 Wesentlich schlechter bearbeitet ist für Deutschland die Entwicklung der Medien im 19. Jahrhundert.112 Im Mittelpunkt der deutschen Mediengeschichte standen bislang, nicht zuletzt bedingt durch die Quellenlage und die allgemeine 107 108 109 110 111 112 Vgl. bes. John Plunkett, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2002; für Deutschland vgl. zumindest den Ausstellungskatalog: Franziska Windt et al. (Hrsg.), Die Kaiser und die Macht der Medien. Katalog zur Ausstellung im Schloss Charlottenburg, Berlin 2005; Kohlrausch, Der Monarch. Vgl. etwa: John MacKenzie, Propaganda and Empire. The Manipulation of British Public Opinion, 1880–1960, Manchester 1984; Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002; Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003. Bernard Porter, The Absent-Minded Imperialist. Empire, Society, and Culture in Britain, Oxford 2004. So analysierte die 1906 aufgebrachten Skandale bislang nur ein Artikel von 1959 systematisch, und dies auch nur mit Blick auf Matthias Erzbergers Agitation: Klaus Epstein, Erzberger and the German Colonial Scandals 1905–1910, in: English Historical Review 74 (1959), S. 637– 663. Vgl. von den zahlreichen Arbeiten über Stanley bes.: Frank McLynn, Stanley. Sorcerer’s Apprentice, London 1991. Am bekanntesten ist hier sicher noch der Skandal um Carl Peters dank eines Aufsatzes von: Martin Reuss, The Disgrace and Fall of Carl Peters: Morality, Politics, and Staatsräson in the Time of Wilhelm II, in: CEH 14 (1981), S. 110–141; vgl. jetzt auch die Passagen in: Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856–1918. A Political Biography, Oxford 2004, S. 214–230. Als vergleichender Forschungsüberblick: Frank Bösch, Zwischen Politik und Populärkultur. Deutsche und britische Printmedien im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 549–585. Als Überblick zur deutsche Presseentwicklung vgl. bes.: Wilke, Medienund Kommunikationsgeschichte, S. 150–302. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zum Forschungsstand 29 deutsche Staatsfixierung, vor allem die staatliche Pressekontrolle und Zensur.113 Ebenso fand die Öffentlichkeitsarbeit im wilhelminischen Reich Beachtung, die trotz zahlreicher Reformbemühungen nicht in eine strukturierte Organisation der gesamten Pressepolitik mündete.114 Wertvolle Kenntnisse zur Sozialgeschichte der deutschen Journalisten im 19. Jahrhundert ermittelte Jörg Requate, der das überwiegend bildungsbürgerliche Profil der Journalisten und ihr Selbstverständnis der „Überzeugungstreue“ herausstellte. Letzteres habe ihnen zwar informelle Kontakte zu politisch eng verbundenen Politikern eröffnet, zugleich aber ihr Ansehen geschmälert.115 Trotz derartiger Sonden liegen bislang wenig medienhistorische Arbeiten vor, die die Presse selbst als Akteur untersuchen und Medieninhalte mit gesellschaftlichen Veränderungen verbinden. Selbst große Verleger wie Ullstein, Scherl oder Mosse, oder wegweisende Zeitungen und Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie die Berliner Illustrirte Zeitung, die BZ am Mittag oder der Berliner Lokal-Anzeiger sind bisher kaum in ihrer gesellschaftlichen Funktion erforscht worden.116 Dagegen liegen für die britische Mediengeschichte verschiedene Arbeiten zu Großverlegern wie Lord Northcliffe oder George Newnes vor, die auch deren politisches Wirken betrachten.117 Ebenso wurde der politische Journalismus in Großbritannien bereits genauer erforscht, was seine intensive Interaktion mit Politikern zeigte.118 Neuere Arbeiten widmeten sich auch dem Selbstverständnis der Journalisten und Zuschreibungen 113 114 115 116 117 118 Vgl. bes.: Hans-Wolfgang Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874–1890). Das Problem der Repression oppositioneller Zeitungen, Frankfurt a. M. 1975; Manfred Overesch, Presse zwischen Lenkung und Freiheit. Preußen und seine offiziöse Zeitung von der Revolution bis zur Reichsgründung, 1848–1871/72, Pullach 1974; Rudolf Stöber, Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: HZ 262 (1996) S. 423–451. So das Fazit der fundierten Arbeit von: Gunda Stöber, Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Stuttgart 2000. Bei Stöber auch Passagen zu einzelnen Skandalen. Zur Arbeit von Otto Hammann, der die Pressepolitik der Kanzler wesentlich leitete, vgl. auch: Jungblut, Unter vier Reichskanzlern. Als Überblick: Michael Kunczik, Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Köln 1997. Requate, Journalismus. Vgl. daher immer noch den eher anekdotischen und Ullstein-nahen Band von: Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Berlin 1982 (überarb. Ausgabe von 1959); Selbstdarstellungen wie: Ullstein-Verlag (Hrsg.), 50 Jahre Ullstein 1877–1927, Berlin 1927; dies. (Hrsg.), Hundert Jahre Ullstein, 18771977, 4 Bde., Berlin 1977; zu Mosse knapp, aber eben nicht mediengeschichtlich: Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 157–199 u. 492–528. Anektdotisch zu Scherl: Hans Erman, August Scherl. Dämonie und Erfolg in wilhelminischer Zeit, Berlin 1954. Unter einzelnen Artikeln vgl. hier bes.: Rudolf Stöber, Der Prototyp der deutschen Massenpresse. Der „Berliner Lokal-Anzeiger“ und sein Blattmacher Hugo von Kupffer, in: Publizistik 39 (1994), S. 314–330. S.J. Taylor, The Great Outsiders. Northcliffe, Rothermere and the Daily Mail, London 1996; J. Lee Thompson, Northcliffe. Press Baron in Politics, 1865–1922, London 2000; Kate Jackson, George Newnes and the New Journalism in Britain, 1880–1910: Culture and Profit, Aldershot 2001 Koss, Political Press; Lucy Brown, Victorian News and Newspapers, Oxford 1985. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 30 I. Skandale als historischer Gegenstand über die Presse. So machte Mark Hampton zwischen 1850 und 1880 ein erzieherisches Ideal der Medien aus, worauf sich dann eine pessimistische Sichtweise über die Erziehbarkeit der „Massen“ durchgesetzt habe.119 Blickt man auf die hier relevante parlamentarische Entwicklung, so ist besonders die Rolle des Reichstages umstritten. Während einige Historiker seine begrenzte legislative Macht und seine nicht vorhandene Möglichkeit des Ministertadels betonten, hoben andere seine informelle Stärke hervor, die weitgehend im Einklang mit europäischen Entwicklungen gestanden habe.120 Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zu dieser Debatte, die sich gerade von deutscher Seite aus immer stark auf das britische Westminister-Modell bezog, ohne dabei quellennahe Vergleiche systematisch zu verfolgen. Im Vordergrund steht im Folgenden jedoch nicht die bekannte institutionelle Entwicklung des Reichstags. Vielmehr werden die Skandale als eine politische Kommunikationsform gesehen, mit der der Reichstag seine Machtbasis auszubauen versuchte.121 Die Studie steht schließlich im Kontext der Forschung zur deutsch-britischen Geschichte. In den letzten Jahrzehnten erschienen auf diesem Gebiet verschiedene vergleichende Arbeiten zum 19. Jahrhundert. Vergleichende Studien zur Öffentlichkeits- und Medienentwicklung stehen jedoch noch aus.122 Eine wegweisende Analyse legte Dominik Geppert jüngst in diesem Bereich vor, in der er das außenpolitische Engagement von Journalisten in den deutsch-britischen Beziehungen aufzeigte.123 Stärkeres Interesse fand etwa die koloniale Konkurrenz. Paul Kennedy untersuchte sie schon frühzeitig als Teil der deutsch-britischen Rivalität, die jedoch im Vergleich zur Flottenrüstung nur eine untergeordnete Bedeutung gehabt habe. Ebenso stellte Michael Fröhlich heraus, dass die kolo119 120 121 122 123 Mark Hampton, Visions of the Press in Britain, Urbana 2004; etwas differenzierter: Aled Jones, Powers of the Press. Newspapers, Power and the Public in Nineteenth-Century England, Aldershot 1996. Die begrenzte legislative Macht unterstrichen bes.: Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914, München 1995, bes. S. 1039–1045; Volker Berghahn, Imperial Germany 1871–1914, Oxford 1994, S. 191. Die wachsende Stärke des Reichstages betonen dagegen etwa: Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: HZ 272 (2001), S. 623–666; Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977; Kreuzer, Und sie parlamentarisierte sich doch. Vgl. hierzu auch: Andreas Biefang, Der Reichstag als Symbol der politischen Nation. Parlament und Öffentlichkeit 1867–1890, in: Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003, S. 23–42. Eher geraffte historische Überblicke auf Grundlage der vorliegenden Literatur bieten: Requate, Journalismus, S. 44–51; Frank Esser, Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und deutscher Journalismus im Vergleich, Freiburg 1998, S. 52–68. Sehr knapp ist der additive Überblick von: Ernst Bollinger, Die goldenen Jahre der Massenpresse (Pressegeschichte II: 1840–1930), Freiburg 2000 (2. korr. Aufl.). Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen, 1896–1912, München 2007; weitere Beispiele für das 20. Jahrhundert in: Frank Bösch und Dominik Geppert (Hrsg.), Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century, Augsburg 2008. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 31 niale Eroberung Afrikas trotz verschiedener Krisen nicht grundlegend die Spannungen zwischen den Ländern verstärkt habe.124 In jüngerer Zeit gewann die wechselseitige Wahrnehmung zwischen den Ländern an Aufmerksamkeit, insbesondere der kulturelle Transfer. Deutlich wurde, dass vor allem Großbritannien im 19. Jahrhundert vielfältig als Vorbild für Deutschland diente, während Deutschland umgekehrt nur in kulturellen Teilbereichen, wie der Universitätsausbildung oder der klassischen Musik, größere Aufmerksamkeit fand.125 Im ausgehenden 19. Jahrhundert intensivierte sich jedoch auch von britischer Seite diese wechselseitige Beobachtung. In welchem Maße daraus Selbst- und Fremdbilder oder Formen von Aneignungen und Abwehr entstanden, lässt sich auch an Skandalen zeigen. 4. Zum historischen Kontext Die Zunahme der Skandale im ausgehenden 19. Jahrhundert korrespondierte mit den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen am Beginn der Moderne.126 Diese Phase zeichnete sich durch ein eigentümliches Changieren zwischen selbstbewusster Euphorie und empfindlicher Krisenangst aus. Die sozialgeschichtlichen Entwicklungen und kulturellen Deutungen verliefen oft gegenläufig. So steigerte die Hochindustrialisierung den Wohlstand, förderte aber zugleich mittelständische Verlustängste, sei es durch die weltwirtschaftlichen Depressionsphasen nach 1873 oder durch soziale Umschichtungen.127 Dass neben der bürgerlichen Welt eine bedrohliche Sphäre der Armut existierte, veranschaulichten zunehmend spektakuläre Kriminalfälle und weit rezipierte Studien über Unterschichten – wie insbesondere von Charles Booth über London oder Hans Ostwalds „Großstadt-Dokumente“ über Berlin.128 Ambivalente Gefühle löste auch 124 125 126 127 128 Paul M. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914, London 1980, S. 205–222, 410–415; Michael Fröhlich, Von Konfrontation zur Koexistenz. Die deutschenglischen Kolonialbeziehungen in Afrika zwischen 1884 und 1914, Bochum 1990; Harald Rosenbach, Das Deutsche Reich, Großbritannien und der Transvaal (1896–1902): Anfänge deutsch-britischer Entfremdung, Göttingen 1993. Vgl. neben Muhs et al. (Hrsg.), Aneignung, auch: Arnd Bauerkämper und Christiane Eisenberg (Hrsg.), Britain as a Model of Modern Society? German Views, Augsburg 2006. Zur Zäsur um 1900 vgl. einführend: Paul Nolte, 1900. Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47 (1996), S. 281–300. Vgl. zur Moderne etwa die Beiträge in: August Nitschke et al. (Hrsg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Hamburg 1990. Dies ging um 1900 mit einem „Drift nach Rechts“ im westeuropäischen Kleinbürgertum einher; vgl. differenziert dazu: Heinz-Gerhard Haupt und Geoffrey Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, S. 205–221; zum generellen deutschen Trend: Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a. M. 1999 (2. Aufl.), S. 288. Judith R. Walkowitz, City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London 1994, S. 28–39; Hans Ostwald (Hrsg.), Großstadt-Dokumente, 51 Bde., Berlin und Leipzig 1904–1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 32 I. Skandale als historischer Gegenstand die neue großstädtische „Massenkultur“ aus, wie die großen Varietés, Music Halls oder der Film. Sie hatten einen begeisterten Zulauf, der den Beginn einer konsumorientierten Vergnügungskultur markierte, verstärkten aber besonders in Deutschland die Furcht vor einem geistigen und moralischen Verfall.129 Auf ähnliche Weise förderten die revolutionären Erkenntnisse der Naturwissenschaften zwar das Fortschrittsvertrauen, aber auch den Eindruck, dass es jenseits der bekannten Lebenswelt eine nicht direkt sichtbare, unbekannte Seite der Dinge gäbe. Die Faszination an spektakulären Erfindungen oder Konstruktionen ging mit Verunsicherungen einher, wenn diese Technik fehlschlug.130 Fortschrittserwartung und nervöse Ängste waren damit zwei Seiten einer Medaille.131 Die imperiale Expansion löste ebenfalls zwiespältige Deutungen aus. Sie steigerte ein nationalistisches und rassistisches Überlegenheitsgefühl, aber zugleich markierten die Kolonialkriege und Unabhängigkeitsbewegungen bereits vor 1914 Grenzen und zeigten die eigene Verletzlichkeit. Ebenso ging die euphorische Begeisterung über die militärische Selbstrepräsentation und Stärke der Nation mit steigenden Kriegsängsten einher, die sich in einer fortlaufenden Beschwörung der Friedenserhaltung niederschlug. Und schließlich waren die generationellen Wechsel an der politischen Führungsspitze mit einem Changieren zwischen Aufbruchsstimmung und Niedergangsangst verbunden. Das galt für die Thronfolger nach dem Tod von Kaiser Wilhelm I. und Queen Victoria, aber auch für die Wechsel nach den langen Regierungsphasen von Bismarck und Gladstone. Nachdem letztere zahlreiche Weichen gestellt hatten, kam seit den 1890er Jahren verstärkt das Gefühl einer Stagnation und politischen Krise auf, weil durchsetzungsstarke Politiker fehlen würden. Die „Dauerkrise“, die viele Autoren insbesondere ab 1908 für das Kaiserreich ausmachten, fand während der zeitgleichen Regierung Asquiths durchaus ihr britisches Pendant, mit ähnlich polarisierten Konflikten.132 Dieses labile Changieren zwischen Euphorie und Angst dürfte mit das Aufkommen von Skandalen begünstigt haben. Skandale lassen sich dabei als Ausdruck und Anstoß dieses Krisengefühls fassen. Ge129 130 131 132 Vgl. die Beiträge in: Maase und Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit; Georg Jäger, Im Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163–191; mit westeuropäischer Perspektive auch: Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 103–107. Dies erklärt die große Bedeutung und metaphorische Aufladung von Medienereignissen wie dem Titanic-Untergang; als Sammlung zeitgenössischer Texte vgl. Barbara Driessen, Tragödie der Technik, Triumph der Medien. Die Berichterstattung über den Untergang der Titanic in der zeitgenössischen deutschen und britischen Presse, Münster 1999. Mittlerweile klassisch hierzu: Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Berlin 1998. Ob dieser Diskurs ein rein deutsches Phänomen war, wäre zu prüfen. Vgl. G.R. Searle, A New England? Peace and War 1886–1918, Oxford 2004, S. 407–473. Von „Dauerlabilität“, Krisen und „Ausweglosigkeit“ spricht bes.: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1000–1016; zu den Forschungspositionen zur Krisenverortung: Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 1999, S. 94 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 33 rade die hoch gespannten Erwartungen schufen eine Fallhöhe für die Erfahrung von Enttäuschungen. Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien war durch diese Mischung aus Hochmut und Angst vor Unterlegenheit gekennzeichnet. Das galt zunächst für Deutschland, wo die frühere Bewunderung für England seit dem späten 19. Jahrhundert immer mehr mit einer selbstbewussten Kritik am Inselreich einherging.133 Durch den militärischen und wirtschaftlichen Wettlauf spielte Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in der britischen Öffentlichkeit eine größere Rolle, wobei ebenfalls Faszination und Distanz changierten.134 Wie etwa meine Volltextauswertung der Times seit 1785 zeigt, stieg seit der Reichsgründung ihre Berichterstattung über Deutschland deutlich an.135 Auf diese Weise wurden auch die Skandale des jeweils anderen Landes zu einem interessanten Themenfeld, um Vorstellungen der eigenen und der anderen Nation zu gewinnen. Ein weiteres Charakteristikum dieser Jahrzehnte war die politische Mobilisierung der Gesellschaft. Die Ausdehnung des Wahlrechts beschleunigt sie in etwa zeitgleich – in Deutschland durch das gleiche Männerwahlrecht bei den Reichstagswahlen seit 1871, in Großbritannien durch die Ausweitung des Elektorats 1867 und 1884.136 Dabei veränderten sich die politischen Kommunikations- und Partizipationsformen quantitativ und qualitativ. Unterschiedliche, zunehmend organisierte politische Teilkulturen rangen verstärkt um öffentliches Gehör und Einfluss. In Deutschland bildeten sich sozialmoralische Milieus heraus, ebenso in Nachbarländern wie den Niederlanden, Österreich oder der Schweiz.137 Nicht nur die Arbeiterbewegung und der politische Katholizismus, sondern auch das bürgerlichen Lager etablierte Massenvereine, die mit Aufmärschen, Versammlungen und Verlautbarungen ihre Positionen unterstrichen und eng mit entsprechenden Parteien kooperierten.138 In Großbritannien, wo be133 134 135 136 137 138 So anhand von intellektuellen Zeitschriften: Christian Fälschle, Rivalität als Prinzip. Die englische Demokratie im Denken des wilhelminischen Deutschlands 1900–1914, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 39–42. Kennedy, Anglo-German Antagonism. Volltextauswertung der Ländernennung von Deutschland, Frankreich, Indien, Spanien, Rußland und Amerika in der Times 1785–1914, im: Times Digital Archive. Vgl. Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000. Für die Nachbarländer wurden mitunter andere Begriffe benutzt (wie „Säulen“). Vgl. zur deutschen Milieubildung: Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. etwa für die Konservativen: Hans Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893–1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Bonn 1975 (2. Aufl.); James N. Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany 1876–1918, Boston 1988; Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 34 I. Skandale als historischer Gegenstand sonders durch die Chartisten ein breiter Protest längst eingeübt war, expandierten in dieser Phase ebenfalls weltanschauliche Massenorganisationen. So versechsfachten die britischen Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl von 1888 bis 1913 auf vier Millionen.139 In beiden Ländern entfaltete sich eine „Straßenpolitik“, über die sich politische Empörungen artikulierten, sei es durch Demonstrationen, Streikwellen (wie 1889/90), Formen des Verbraucherprotestes oder religiöse Versammlungen, wie von deutschen Katholiken und englischen Puritanern.140 Auch die Parteien intensivierten in beiden Ländern ihre popular politics im öffentlichen Raum.141 Die Artikulation von Empörung, wie sie sich in Skandalen zeigte, war damit eingeübt. In Großbritannien kam es zwar zu keiner vergleichbaren Milieubildung wie in Deutschland, da Repressionen wie der Kulturkampf oder die Sozialistengesetze ausblieben. Allerdings verlief auch hier quer durch die sozialen Schichten eine religiöse Trennlinie zwischen „Church and Chapel“, also Angehörigen der anglikanischen Kirche und den Non-Konformisten. Letztere waren insbesondere seit 1886 stärker mit den Liberalen assoziiert und wiesen eigene Vereine, Versammlungen und Alltagsethiken auf.142 Die Nonkonformisten trugen in dieser Politisierungsphase, ähnlich wie in Deutschland die Katholiken, ihre moralischen Anliegen in den öffentlichen Raum, was das Ausbrechen von Skandalen vielfach förderte.143 Nicht minder wirkungsmächtig waren die regionalen Spannungen in Großbritannien, gerade wenn sie mit religiösen Unterschieden einhergingen. Vor allem die Selbstorganisation der Iren in den 1870/80er Jahren, die besonders durch die Land League erfolgte, förderte das Potential für öffentliche Konflikte und Skandale. Die Politisierung der Gesellschaft führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch im parlamentarischen Raum zu Veränderungen, die das Aufkommen von Skandalen begünstigten. So kam es zu Verschiebungen im Parteiensystem, die wiederum die politische Kommunikation, die politischen Loyalitäten und den Profilierungsdruck prägten. In Deutschland galt dies besonders für die Sozialdemokratie, die seit 1890, nach dem Ende der Sozialistengesetze, rasant expandierte. In Großbritannien konstituierte sich die Labour Party erst nach 1900. Aber bereits das engagierte Auftreten von radikalen Liberalen wie Henry Labouchere und die Neuformierung der irischen Nationalisten, von der Home 139 140 141 142 143 Searle, A New England?, S. 93. Als vergleichende Studie etwa: Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert, Bonn 1992. Vgl. Jon Lawrence, Speaking for the People. Party, Language and Popular Politics in England, 1867–1914, Cambridge 1998. Einführend: Hugh McLeod, Religion and Society in England 1850–1914, Basingstoke 1996; D.W. Bebbington, The Nonconformist Conscience, Chapel and Politics, 1870–1914, London 1982; James Munson, The Nonconformists: In Search of a Lost Culture, London 1991, S. 6 f. Das gilt besonders für den nonkonformistischen Journalisten W. T. Stead; vgl. Schults, Crusader. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 35 Rule League zur Irish Parliamentary Party, veränderten das Unterhaus maßgeblich seit den 1880er Jahren. Ebenso transformierten sich bestehende Parteien. Während sich etwa der deutsche Freisinn mehrfach spaltete und neu formierte, brachen die britischen Liberalen 1886 über die Frage der irischen Home Rule auseinander, was den Konservativen eine längerfristige Regierungsmehrheit mit den abgespaltenen Unionisten unter Chamberlain erlaubte.144 In den Parlamenten zeigte sich die Politisierung in einer verschärften politischen Opposition. Obgleich Großbritannien im Unterschied zum Kaiserreich über eine lange parlamentarische Tradition verfügte, entfaltete sich in den 1880er Jahren eine verstärkte Konfrontation zwischen Regierung und Opposition.145 Und in beiden Ländern sahen die Politiker die „Massen“ als eine entscheidende Größe an, die durch eine populäre Ansprache zu gewinnen seien. Ein weiteres hier relevantes Merkmal des späten 19. Jahrhunderts war die rasante Verdichtung der Kommunikation. Sie entstand nicht nur aus neuen Kommunikationstechniken, wie der Telegraphie und den Nachrichtenagenturen, die selbst den Provinzzeitungen eine aktuelle Teilnahme am Weltgeschehen ermöglichten.146 Eine Voraussetzung, die auch Skandale förderte, war bereits die Ausbildung von Metropolen. In ihnen konzentrierten sich die Kommunikation und die wechselseitige Beobachtung von unterschiedlichen Normensystemen. Nicht zufällig kamen die großen Skandale fast alle in Weltstädten wie London, Paris oder Berlin auf. Selbst wenn ihr Ausgangspunkt in der Provinz lag, bildeten die dortigen Parlamente und Gerichte jene Foren, in denen sie in Gegenwart von Journalisten und Vertretern unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten verhandelt wurden. In den Großstädten entstand zeitgleich ein Absatzmarkt für eine auflagenstarke Presse. Das Verhältnis zwischen Metropole und Medialisierung war geradezu symbiotisch: Einerseits lieferte die Großstadt Geschichten und bildete einen Informationsknotenpunkt für nationale und internationale Nachrichten. Andererseits lieferte die Großstadtpresse Narrative, um die städtische Umwelt zu entziffern und ihre Sensationen aufzuspüren.147 Ohne diesen Medialisierungsprozess hätten Morde wie von Jack the Ripper und dem Berliner Zuhälter Heinze nicht zu Sinnbildern werden können, die ein Wissen über die eigene Stadt und Gesellschaft produzierten und innerhalb der Stadt dynamische Prozesse auslösten.148 144 145 146 147 148 Zu dieser für die Skandale, wie sich zeigen wird, wichtigen Parteispaltung vgl. A.B. Cook und John Vincent, The Governing Passion. Cabinet Government and Party Politics in Britain 1885–86, Brighton 1974. T.A. Jenkins, Parliament, Party and Politics in Victorian Britain, Manchester 1996, bes. S. 37, 106, 115, 130. Vgl. Chapman, Comparative Media History, S. 58–64; Jürgen Wilke (Hrsg.), Telegraphenbüros und Nachrichtenagenturen in Deutschland, München 1991. So die Ansätze in: Walkowitz, City of Dreadful Delight; Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass. 1996. L. Perry Curtis, Jack the Ripper and the London Press, London 2002; Müller, Auf der Suche; Hett, Death, S. 64–99. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 36 I. Skandale als historischer Gegenstand Die nun einsetzende Medialisierung förderte ebenfalls das verstärkte Aufkommen von Skandalen. Die rasante Verbilligung der Massenpresse, die auch durch technische Erfindungen in ganz Westeuropa seit den 1870/80er Jahren einsetzte, machte mehrmals täglich erscheinende Zeitungen zu einem Teil des Alltags und der Alltagsgespräche. Sie schufen nationale und transnationale Kommunikationsräume, in denen unmittelbar aufeinander reagiert wurde. Wie die hohen Auflagen bei besonderen Ereignissen zeigten, hatten bis in die 1860er Jahre vor allem der hohe Preis und die vornehmlich außenpolitische Berichterstattung die Zeitungsauflagen klein gehalten, und nicht allein die mangelnde Lesekompetenz.149 In beiden Ländern eroberten deshalb zunächst illustrierte Wochenblätter den Massenmarkt, wie die Illustrated London News, Reynolds’s Newspaper oder die Gartenlaube. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichten dann auch mehrere Tageszeitungen sechsstellige Auflagen, was ihre politische Macht untermauerte. Die absolute Zahl der Zeitungen und Zeitschriften und die Gesamtauflage vervielfachten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dabei war der deutsche Pressemarkt durch die föderale und politisch heterogene Struktur des Kaiserreiches besonders vielfältig strukturiert. Er wies 1906 immerhin rund 4000 Zeitungen bei einer Gesamtauflage von rund 18 Millionen Exemplaren auf.150 In beiden Hauptstädten kam es zu einer Konzentration der Besitzverhältnisse, was zugleich den Einfluss einzelner Verleger stärkte. Während in Berlin die drei Verleger Mosse, Scherl und Ullstein die Mehrheit der dortigen Zeitungen herausgaben, waren es in London Lord Northcliffe, Cadbury und Pearson, die den Großteil der Tagespresse verlegten.151 Mit den Massenauflagen und der stärkeren Leserorientierung veränderten sich zudem in beiden Ländern die Zeitungsinhalte. Die bislang dominante Berichterstattung über die internationale Diplomatie verlor an Bedeutung zugunsten von Berichten über die Innenpolitik, über Ereignisse in den heimischen Städten und über „Sensationen“.152 Diese neue mediale Konkurrenz, Machtstellung und Themenver149 150 151 152 Brown, Victorian News, S. 30 f.; Hans-Friedrich Meyer, Zeitungspreise in Deutschland im 19. Jahrhundert und ihre gesellschaftliche Bedeutung, München 1969. Vgl. die zeitgenössischen Daten bei: Thomas Enke, Die Berliner Presse in der Statistik des Königlichen Polizeipräsidiums. Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung der Tageszeitungen in der Reichshauptstadt zwischen 1878 und 1913/14, in: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus 15 (1987), S. 387–396 u. 16 (1988), S. 34–42; zu den unterschiedlichen Angaben vgl. Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000, S. 146. Northcliffe unterstanden vor 1914 39 Prozent der Morgenauflagen in London (Daily Mail, Daily Mirror, Times), 31 Prozent der Abendauflage (Evening News); Pearson: zwölf Prozent morgens (Morning Leader, Daily News), 16 Prozent abends (Evening Standard), und der Morning Leader Group 15 Prozent morgens (Standard, Daily Express), 34 Prozent abends (Star); vgl. Alan J. Lee, The Origins of the Popular Press in England 1855–1914, London 1976, S. 293. Vgl. als Langzeituntersuchung: Jürgen Wilke, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin 1984, S. 125. Für Großbritannien: Wiener (Hrsg.), Papers for the Millions. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 37 schiebung waren zweifelsohne Vorbedingungen dafür, dass verstärkt Skandale aufkamen. Zugleich zeigten sich gewisse Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien. Dies gilt zunächst für das Selbstverständnis der Presse. Wie vielfältig herausgestellt wurde, entstand in Großbritannien früher als in Deutschland der Anspruch der Journalisten, eine unabhängige „vierte Gewalt“ zu bilden, die autonom neben der Politik agierte. Allerdings ist dieser Begriff zunächst im hohen Maße als ein Konstrukt der Presse selbst zu fassen, mit dem sie ihre Stellung aufwerten wollte.153 Zudem kam auch in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts vielfach die Zuschreibung auf, die Presse sei eine „Großmacht“.154 Unverkennbar ist jedoch, dass in Großbritannien früher eine Professionalisierung des Journalismus einsetzte. Die frühzeitige Abschaffung der Vorzensur, die stärkere Marktorientierung der Medien und die seit dem späten 18. Jahrhundert übliche Parlamentsberichterstattung förderten diesen Prozess, der in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszumachen war.155 Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden sich die Zensurmechanismen weiterhin deutlich. In Deutschland wurden selbst nach Verabschiedung des prinzipiell liberalen Reichspressegesetzes von 1874 Journalisten über strafrechtliche Bestimmungen (wie Majestätsbeleidigung, Aufruf zum Klassenhass, Gefährdung öffentlichen Friedens, Verbreitung unzüchtiger Schriften u. ä.) verfolgt. In Großbritannien waren vor allem private Beleidigungsklagen das Mittel, um gerade im Kontext von Skandalen Journalisten zu begegnen.156 Ein weiterer Unterschied, der ebenfalls um 1900 etwas an Bedeutung verlor, war die Verbindung zwischen Politik und Presse. Noch in der frühviktorianischen Zeit waren die britischen Zeitungen eng mit den Parteien affiliert. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese politischen Loyalitäten jedoch instabiler und wechselten häufig mit den Präferenzen der Verleger und Chefredakteure.157 Schon Alan Lee machte für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine überwiegend liberale Orientierung der Presse aus, woraufhin nach 1900 konservative Tendenzen überwogen hätten.158 Dass auch in Großbritannien eine enge Verbindung zwischen Journalismus und Politik bestand, zeigte sich nicht zuletzt an dem wachsenden Anteil von Journalisten im Unterhaus: Mit 49 Abgeordneten bildeten sie die drittgrößte Berufsgruppe, wobei neben den Iren 153 154 155 156 157 158 So bereits: George Boyce, The Fourth Estate: the Reappraisal of a Concept, in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 19–40, bes. 27. Jürgen Wilke, Auf dem Weg zur „Großmacht“: Die Presse im 19. Jahrhundert, in: Rainer Wimmer (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch, Berlin 1991, S. 73–94. Vgl. etwa: Philip Elliott, Professional Ideology and Organisational Change: The Journalist since 1800, in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 172–191, S. 179; Vgl. zusammenfassend bereits: Esser, Die Kräfte, S. 53. Zur Zensur in Deutschland vgl. bes.: Wetzel, Presseinnenpolitik. Vgl. bes. Koss, Political Press, Bd. 1. Lee, The Origins, S. 15; ders., The Structure, Ownership and Control of the Press 1855–1914, in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 117–129, S. 127. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 38 I. Skandale als historischer Gegenstand besonders die Liberalen entsprechende Vertreter hatten.159 Ebenso waren in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 47 der 397 Abgeordneten Verleger, Redakteure oder Angestellte bei Partei- oder Gewerkschaftszeitungen, zumeist von der SPD.160 In Deutschland, wo sich durch die harte Zensur die Presse zögerlicher entwickelt hatte, entstand hingegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wesentlich stärker parteigebundene Presse. Auch wenn die Zeitungen mit Ausnahme der sozialdemokratischen Presse den Parteien überwiegend nicht direkt gehörten, vertraten und konstituierten sie mehrheitlich deren Standpunkte.161 In beiden Ländern entstanden jedoch im ausgehenden 19. Jahrhundert neue Massenzeitungen, die zwar je nach Verleger eine eher konservative oder liberale Haltung aufwiesen, sich aber nicht als loyale Parteiblätter verstanden. Auch wenn etwa Northcliffes Daily Mail konservativ oder Ullsteins BZ am Mittag liberal waren, verpflichteten sie sich nicht direkt den entsprechenden Parteien, sondern orientierten sich an den weltanschaulichen und ökonomischen Kalkülen ihrer Verleger. Dies dürfte das Aufkommen von Skandalen gefördert haben, da sowohl die Leserorientierung als auch die politische Offenheit eine breite Empörung erleichterte, die nicht allein auf Parteistandpunkten beharrte. In der britischen Presse nahmen „Sensationsmeldungen“ wie Morde, Scheidungen oder Katastrophen früher einen größeren Raum ein. Dies galt bereits für die auflagenstarken Wochenzeitungen, aber auch für die Tagespresse.162 Die geringere Zensur, der Straßenverkauf und die Öffentlichkeit der meisten Prozesse förderten in Großbritannien derartige Sensationsnachrichten.163 Da die deutschen Zeitungen zunächst nicht im Straßenverkauf vertrieben werden durften, brauchten sie im geringeren Maße mit spektakulären Berichten täglich um die Leser werben. Zudem gab es spätestens seit der Radical Press des frühen 19. Jahrhunderts in Großbritannien eine Tradition, populäre politische Kampagnen mit sensationellen Meldungen zu verbinden, woran ein Sonntagsblatt wie Reynolds’s 159 160 161 162 163 Lee, The Origins, S. 294. Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Reichstag in der politischen Kultur des Kaiserreiches, in: Richard Helmholz et al. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, Paderborn 2000, S. 901–921, S. 909. Genau genommen setzte die SPD nach Ende des Sozialistengesetzes formell Treuhänder ein, vgl. Uwe Danker et al., Am Anfang standen Arbeitergroschen. 140 Jahre Medienunternehmen der SPD, Bonn 2003, S. 39 f. Dass sich die Norm der Überparteilichkeit auch in Deutschland frühzeitig aus ökonomischen Gründen durchsetzte, argumentiert, allerdings nur für die Zeit bis Anfang des 19. Jahrhunderts: Philomen Schönhagen, Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer Qualitätsnorm, Tübingen 1998, S. 292. Vgl. Virginia Berridge, Popular Sunday Papers and Mid-Victorian Society, in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 247–264. Bereits 1796 kam es zu einem wegweisenden Urteil gegenüber der Times, dass die Nennung von Beteiligten bei Gerichtsberichten kein „Libel“ sei; vgl. Christopher Kent, The Editor and the Law, in: Joel H. Wiener (Hrsg.), Innovators and Preachers. The Role of the Editor in Victorian England, Westport 1985, S. 99–119, S. 108. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 39 Newspaper anknüpfte.164 Und schließlich erleichterte die kulturelle Nähe zu den USA, trotz anti-amerikanischer Ressentiments, die Übernahme von Techniken aus dem amerikanischen Journalismus, wo frühzeitig die professionellen Techniken der heutigen Presse und des Boulevardjournalismus entstanden waren.165 Dennoch bildeten die 1880er Jahre auch für den britischen Journalismus eine Zäsur. Denn in diesen Jahren etablierte sich der „New Journalism“, der maßgeblich durch William Thomas Stead geprägt wurde, der seit 1883 als Chefredakteur der Pall Mall Gazette arbeitete. Stead griff Techniken des amerikanischen Journalismus auf und entwickelte englische Traditionen weiter. Als seine maßgeblichen Innovationen gelten eigenständig recherchierte sensationelle Reportagen, systematische politische Kampagnen, regelmäßige Interviews im persönlichen Umfeld von Prominenten, ein aufgelockertes Seitenlayout und eine starke Leserorientierung.166 Den Journalisten sah er selbstbewusst als „uncrowned king of an educated democracy.“167 Insbesondere seine berühmte Aufdeckung der Kinderprostitution durch den selbst initiierten Kauf eines Mädchens machte diese journalistischen Techniken weltberühmt.168 Dennoch war die Pall Mall Gazette insgesamt sicherlich kein rein sensationalistisches Boulevardblatt, wie oft ohne Kenntnis der Zeitung behauptet wird, sondern eher ein textlastiger Vorläufer des heutigen Journalismus. Gleiches galt in gewisser Weise selbst für die seit 1896 publizierte Daily Mail. Für das Aufkommen von Skandalen waren diese journalistischen Innovationen trotzdem eine wichtige Vorbedingung. Nahezu zeitgleich professionalisierte sich in Deutschland der Journalismus, der allerdings etwas zögerlicher an angelsächsische Vorbilder anschloss. So traten deutsche Zeitungen seit den 1870er Jahren auch jenseits des engeren parteipolitischen Wettbewerbs mit Kampagnen auf – etwa wenn ein scheinbar unpolitisches Wochenblatt wie die Gartenlaube 1874/75 eine zwölfteilige antisemitische Serie über den „Börsen- und Gründungsschwindel“ präsentierte.169 An angelsächsische Techniken schlossen zumindest tendenziell die General-Anzeiger und die neuen Illustrierten an. Blätter wie der Berliner Lokal-Anzeiger, 164 165 166 167 168 169 Vgl. zur Radical Press: Patricia Hollis, The Pauper Press. A Study in Working-Class Radicalism of the 1830s, London 1970; Joel H. Wiener, The War of the Unstamped: The Movement to Repeal the British Newspaper Tax 1830–1836, New York 1969. Vgl. Bollinger, Die goldenen Jahre, S. 47–96. Vgl. auch zur Debatte, wie neu der New Journalism war: Wiener (Hrsg.), Papers. Im vergleichenden Kontext zu Stead: Frank Bösch, Volkstribune und Intellektuelle. W.T. Stead, Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Großbritannien und Deutschland, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten, Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 99–120. W.T. Stead, Government by Journalism, in: The Contemporary Review 49 (1886), S. 653–674, S. 657. Vgl. bes. Schults, Crusader. Vgl. zu diesem Beispiel: Daniela Weiland, Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im Kaiserreich, Berlin 2004. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 40 I. Skandale als historischer Gegenstand dessen Chefredakteur in den USA Erfahrungen gesammelt hatte170, die Berliner Morgenpost und ab 1904 auch die BZ am Mittag wiesen deutlich kürzere Parlamentsberichte und Auslandsnachrichten auf. Zudem verzichteten sie auf die ausführliche Richtigstellung der „falschen“ politischen Standpunkte der anderen Zeitungen. Dennoch waren die Grenzen zwischen den Generalanzeigern und den Gesinnungszeitungen häufig fließend. In beiden Ländern lässt sich ausmachen, dass die Politik auf diese Medialisierung reagierte und sich auf ihre Logiken einstellte. Die englischen Politiker öffneten ihre Türen weiter, wenn sie etwa Interviews mit Journalisten wie W.T. Stead machten. Dagegen blieben Interviews in Deutschland bis zur Jahrhundertwende recht unüblich. Jedoch regte nicht nur die Queen in den 1880er Jahren human touch-Berichte an, wie etwa über ihren Hund.171 Auch deutsche Politiker luden Journalisten in ihre Arbeitszimmer und Privathäuser. So ließ sich Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst für die Berliner Illustrirte Zeitung in seinem Straßburger Arbeitszimmer und im Kreise seiner Familie auf der Terrasse ablichten und berichtete in dieser „Homestory“ über seinen privaten Alltag, seine Essgewohnheiten und seinen Dackel Fridolin.172 Noch intensiver förderte sein Nachfolger Bülow entsprechende Berichte, insbesondere bei seinen regelmäßigen Urlauben auf Norderney, wo er sich mit seiner Frau abbilden ließ und ebenfalls Neuigkeiten über seinen Hund verbreitete.173 Dabei wartete Bülow nicht nur auf die Journalisten, sondern wies seine rechte Hand Otto Hammann direkt an, wie er den Urlaubsbericht für die Zeitungen zu verfassen habe.174 Auf diese Weise verschwammen die Grenzen zwischen Privatheit und politischer Öffentlichkeit, was Skandale begünstigte. Fasst man diese Überlegungen zum ausgehenden 19. Jahrhundert zusammen, so zeigen sich in Deutschland und Großbritannien durchaus ähnliche Veränderungen, die das Aufkommen von Skandalen forcierten. Die ambivalente Deutung der Moderne, die Metropolenkultur, die Politisierung, die Medialisierung sowie die Veränderungen der journalistischen Berichtstechniken bildeten einen Rahmen, der das Entstehen von Skandalen förderte, ohne sie zu präfigurieren. Zugleich beruhte jeder Skandal auf spezifischen kulturellen Vorbedingungen. Themen wie Homosexualität, Ehebruch oder Korruption wurden in den Skandalen des ausgehenden 19. Jahrhunderts natürlich nicht erstmalig diskutiert. In welchen historischen Kontexten diese Skandalfelder in Deutschland und Großbritannien standen und welche historischen Bedingungen das öffentliche Sprechen über sie prägten, wird jeweils im ersten einführenden Teil eines jeden 170 171 172 173 174 Vgl. Stöber, Der Prototyp. Brown, Victorian News, S. 146. Vgl. BIZ Nr. 13, 26. 3. 1898; Nr. 31, 30. 7. 1899. Vgl. etwa ebd. Nr. 33, 17. 8. 1902; Nr. 17, 26. 4. 1903; Nr. 30, 26. 6. 1903; Nr. 26, 30. 6. 1906. Bülows Hang zur Selbststilisierung in den Medien betonen auch: Jungblut, Unter vier Reichskanzlern, S. 109; Katharine Anne Lerman, The Chancellor as Courtier. Bernhard von Bülow and the Governance of Germany 1900–1909, Cambridge 1990, S. 115–126. Bülow an Hammann 27. 5. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 20. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zum historischen Kontext 41 Kapitels erörtert. Je nach Themenfeld sind etwa der rechtliche Rahmen, die Etablierung von Begriffen und Praktiken oder vorherige politische Kampagnen und Vorentwicklungen zu vergegenwärtigen. Obgleich die Studie natürlich keinen Überblick über das gesamte lange 19. Jahrhundert geben kann, betrachten die Kapitel eingangs zumindest einige Vorläufer genauer, um die Spezifika des späten 19. Jahrhunderts deutlicher auszumachen. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek II. HOMOSEXUALITÄT ALS SKANDALON Homosexualität gehörte zu den größten Tabus des 19. Jahrhunderts. Insbesondere in Großbritannien galt sie als ein Verbrechen, das in der Medienöffentlichkeit nicht einmal namentlich benennbar war, sondern in gedruckten Formulierungen nur vorsichtig angedeutet wurde. „A crime so loathsome that it had been said that it should not be named amongst Christian men“, umschrieben die britischen Zeitungen selbst in den 1880er Jahren noch gleichgeschlechtliche Beziehungen.1 Die Angst, bereits die sprachliche Bezeichnung könne Homosexualität akzeptierbar machen und so zu ihr animieren, schlug sich sogar in den gesetzlichen Formulierungen nieder. In Großbritannien gab es zunächst keine eindeutige juristische Benennung des Deliktes, so dass Verurteilungen bis 1885 nur unter Verweis auf den Sammelbegriff „unnatural offences“ erfolgten.2 Ähnlich vage Umschreibungen finden sich aber auch in den deutschen Schriften der Zeit, wo pauschale Formulierungen wie „widernatürliche Unzucht“ oder „Sodomie“ dominierten.3 Entsprechend zurückhaltend berichteten die Zeitungen über Prozesse, bei denen Homosexuelle verurteilt wurden. Dies veränderte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. In rascher Abfolge traten zunächst in Großbritannien und dann auch in Deutschland zahlreiche Skandale auf, die die Homosexualität prominenter Bürger enthüllten und so zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema führten. Sie zwangen die Zeitungen und die Politiker dazu, sich zur Homosexualität zu positionieren und lösten verstärkt Alltagsgespräche über das Thema aus. Diese oft spektakulären Skandale werfen vor allem zwei Fragen auf, die das folgende Kapitel anhand von Fallanalysen klären soll. Erstens wird ermittelt, auf welche Weise das Tabuthema Homosexualität skandalisiert wurde und so in die Sphäre der öffentlichen Debatte rückte. So ist zu klären, wer die Enthüllungen aus welchen Motiven heraus aufbrachte, wie diese Skandale ihre Dynamik entwickelten und wie die unmittelbar Beteiligten, die Presse und Politiker darauf reagierten. Zweitens geht das Kapitel der Frage nach, welche Zuschreibungen über Homosexualität im Zuge der Skandale entstanden. Denn anzunehmen ist, dass die Skandale im weitaus höheren Maße öffentliche Vorstellungen über Homosexualität prägten als die bereits vielfach untersuchten Schriften der frühen Sexualwissenschaft, die zeitgleich am Beginn der Moderne entstanden. Dabei verhandelten die Homo- 1 2 3 So eine typische Formulierung in: Daily Telegraph 3. 7. 1884, S. 4; selbst dies schrieb das Blatt nur mit Verweis auf: United Ireland 10. 4. 1884. Erst 1967 trat das Wort „homosexual“ in das englische Recht; vgl. Leslie Moran, The Homosexual(ity) of Law, London und New York 1996, S. 21. Vgl. zur rechtlichen Sprache: Rüdiger Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts, in: ders. und Angela Taeger (Hrsg.), Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992, S. 141–186. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 44 II. Homosexualität als Skandalon sexualitätsskandale nicht nur Formen zulässiger Normalität, sondern auch Formen und Grenzen gesellschaftlicher Toleranz. Die Analyse erfolgt anhand der wichtigsten politischen Homosexualitätsskandale der Jahrzehnte um 1900. Diese wiesen in Deutschland und Großbritannien deutliche Gemeinsamkeiten auf, was den Vergleich erleichtert. In beiden Ländern richteten sich Skandale sowohl gegen hohe Adlige im Umfeld der Monarchen als auch gegen Repräsentanten des Bürgertums. Und in beiden Ländern attackierten oppositionelle Parteien mit derartigen Vorwürfen Repräsentanten des von ihnen bekämpften Systems. Für Großbritannien wird zunächst der „Dublin Castle Skandal“ untersucht, bei dem die irischen Nationalisten die englische Administration mit dem Vorwurf der Homosexualität bekämpften. Eine weitere Fallstudie zur „Cleveland Street Affair“ untersucht einen Skandal, bei dem die Radicals, also der linke Flügel der Liberalen, Adligen vorhielten, ein Homosexuellenbordell mitten in London zu besuchen. Weitere Skandale nach 1890, wie um Oscar Wilde und Hector MacDonald, werden vergleichend herangezogen, um Entwicklungslinien aufzuzeigen. In Deutschland ragen zwei Skandale heraus, die vertieft analysiert werden: Der Krupp-Skandal von 1902, bei dem vornehmlich die Sozialdemokraten dem Unternehmer Homosexualität vorhielten, und der fünf Jahre später ausbrechende Moltke-Eulenburg-Skandal, bei dem der Publizist Maximilian Harden hohen Adligen im Umfeld des Kaisers Homosexualität vorwarf. Ob und auf welche Weise im ausgehenden 19. Jahrhundert Homosexualitätsskandale aufkamen, hing von kulturellen, politischen und rechtlichen Vorbedingungen ab. Aus diesem Grunde wird in einem einführenden Kapitel zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen geworfen. Insbesondere der rechtliche Kontext, die bisherige Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit Homosexualität und vorherige Homosexualitätsskandale stehen dabei im Vordergrund. 1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert Das Großbritannien des 19. Jahrhunderts galt und gilt als besonders liberal und fortschrittlich und diente deshalb vielfach als Gegenbild zum deutschen „Obrigkeitsstaat“. Diese Zuschreibung erscheint allerdings weniger passend, wenn man den Umgang mit der Minderheit der Homosexuellen betrachtet. Im 19. Jahrhundert verfügten die Briten über die härtesten Gesetze gegen Homosexuelle in der ganzen westlichen Welt. Bis 1861 galt für Homosexualität noch die Todesstrafe. Sie wurde zwar seit 1836 nicht mehr vollstreckt, aber immerhin in bis zu lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt. Die Zeit seit 1800 stand auch nicht für eine zunehmende strafrechtliche Liberalisierung. Vielmehr kam es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Verurteilungen und Todesurteilen wegen homosexuellen Verkehrs, danach zu ansteigenden Haftstrafen. In Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit 45 das frühe 19. Jahrhundert fiel immerhin die Hälfte der Verurteilungen wegen „sodomy“, die das berühmte Londoner Gericht „Old Bailey“ in den 160 Jahren zwischen 1674 und 1834 fällte, ebenso die Hälfte der Todesurteile.4 Diese Hinrichtungen und Verurteilungen hatten jedoch zugleich den Effekt, dass sie das offiziell nicht aussprechbare Vergehen zur Abschreckung öffentlich machten, um es künftig zu verhindern. So begründete ein Richter 1806 die Todesstrafe für fünf homosexuelle Männer damit, „that such a subject should come before the public as it must do, and above all, that the untaught und unsuspecting minds of youth should be liable to be tainted by such horrid faces.“5 Geheimnis und Öffentlichkeit standen damit bei der Homosexualität gerade durch diese zunehmende Bestrafung in einem wachsenden Spannungsverhältnis: Die steigende Zahl an Verurteilungen überführte die Homosexualität immer mehr an die Öffentlichkeit, obgleich die Gerichte sie als ein Tabuthema ansahen. Gerade dieses Spannungsfeld eröffnete Potentiale für Skandale. Die Gründe für die zunehmenden Verurteilungen wegen Homosexualität im frühen 19. Jahrhundert sind sicherlich vielfältig. Die Verrechtlichung der Gesellschaft, die Ausbildung bürgerlicher Moral- und Geschlechterrollen und die Konstruktion von homosexuellen Identitäten dürfte diese Kriminalisierung mit erklären.6 Die Homosexualität erfuhr dabei seit dem 18. Jahrhundert eine Umdeutung von der Sünde zum Verbrechen. Erst 1885 begrenzte der Criminal Law Amendment Act die Bestrafung auf zwei Jahre mit harter Arbeit, wobei das Gesetz das Vergehen erstmals etwas genauer umschrieb („any act of gross indecency with another male person“) und auch explizit auf den Verkehr in privaten Räumen bezog. Die Zahl der Verurteilungen blieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht konstant und umfasste Männer aus allen Berufs- und Standesgruppen, wobei Handwerker besonders stark vertreten waren. Zumeist wurden homosexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit bestraft, wohingegen der heimliche Verkehr in der privaten Sphäre noch eher toleriert wurde. Bezeichnenderweise erreichte die Zahl der Verurteilungen ihren Höhepunkt jedoch nicht in der viktorianischen Zeit, sondern in den 1950er Jahren, die in die- 4 5 6 Eigene Auswertung der Urteile mithilfe der Datenbank in: http://www.oldbaileyonline.org/ search/crime/ (zuletzt eingesehen Juni 2005). Diese Ergebnisse stützen die Einschätzungen von: A.D. Harvey, Prosecutions for Sodomy in England at the Beginning of the Nineteenth Century, in: Historical Journal 21 (1978), S. 939–948, S. 939; Arthur Gilbert, Buggery and the British Navy 1700–1861, in: Journal of Social History 10 (1976/77), S. 72–98. Als Gesamtüberblicke zur Homosexualitätsgeschichte dieser Zeit vgl. H. Montgomery Hyde, The Other Love. An Historical and Contemporary Survey of Homosexuality in Britain, London 1970, hier bes. S. 92; Jeffrey Weeks, Coming Out: Homosexual Politics in Britain from the Nineteenth Century to the Present, London 1977. Manchester Gazette 23. 8. 1806, zit. nach: Richard Davenport-Hines, Sex, Death and Punishment. Attitudes to Sex and Sexuality in Britain since the Renaissance, London 1990, S. 102. Vgl. dazu ausführlicher: H.G. Cocks, Nameless Offence, bes. S. 6 u. 18; Harvey, Prosecutions, S. 946. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 46 II. Homosexualität als Skandalon ser Hinsicht die eigentlichen „dark ages“ bildeten.7 Weibliche Homosexualität war hingegen im 19. Jahrhundert immer noch so tabuisiert, dass sie sich nicht einmal in Gesetzen und Verurteilungen niederschlug und somit straffrei blieb. Als dies etwa 1810 zwei Frauen in London vorgeworfen wurde, gewannen sie ihre Verleumdungsklage mit der Urteilsbegründung, dies sei bei bürgerlichen Frauen nicht denkbar.8 Auch Deutschland wies – zumindest im Vergleich mit Frankreich oder Italien – im 19. Jahrhundert eine recht rigide Gesetzgebung gegenüber Homosexuellen auf. Allerdings war die Lage im Deutschen Bund naturgemäß uneinheitlich und das Strafmaß geringer als in Großbritannien. Während das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 für Homosexualität ein- oder mehrjährige Haftstrafen vorsah, hatte die französische Besatzung im Westen die Bestrafung abgeschafft. Auch in der post-napoleonischen Ära verfochten die Rheinprovinzen liberalere Regelungen, so dass im Preußen des 19. Jahrhunderts vielfältige Kompromisse entstanden.9 Liberal geprägte Länder wie Bayern, Württemberg oder Baden hoben die Strafen in den Jahrzehnten nach Napoleon weitgehend auf. Bemerkenswerterweise wurden einfache Fälle von Homosexualität oft nicht strafrechtlich verfolgt, weil der damit einhergehenden Publizität schlimmere Folgen zugeschrieben wurden.10 Damit prägte bereits die Angst vor Skandalen die rechtliche Praxis. Erst mit der Gründung des Kaiserreiches setzte sich reichsweit die Kriminalisierung nach preußischem Vorbild durch. Der Verweis auf das „Volksbewusstsein“ verdrängte dabei medizinische Argumentationen, die eine Straffreiheit forderten. Ähnlich wie in Großbritannien bezog sich der entsprechende Paragraph 175 nur auf Männer und verband Homosexualität als unnatürlichen Verkehr mit Sodomie. Hier hieß dies konkret: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis bis zu zwei Jahren zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“11 Die Zahl der Verurteilungen stieg bis 1914 leicht an und lag 7 8 9 10 11 Zwischen 1850 und 1914 betrug die Verurteilungsrate etwa 0,5 Fälle pro 100 000 Einwohner; vgl. Robb, Strangers, S. 31 u. 272 f. Rictor Norton, The Myth of the Modern Homosexual. Queer History and the Search for Cultural Unity, London 1997, S. 150. Vgl. Jürgen Baumann, Paragraph 175, Berlin/Neuwied 1968, S. 36 f.; Lautmann, Das Verbrechen. Als Überblick zur rechtlichen Entwicklung vgl. bes. Hans-Georg Stümke, Homosexualität in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989. Jörg Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle des homosexuellen Begehrens. Medizinische Definitionen und juristische Sanktionen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 141. Zur Genese des § 175: Kai Sommer, Die Strafbarkeit der Homosexualität von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1998; Jörg Hutter, Die Entstehung des § 175 im Strafgesetzbuch und die Geburt der deutschen Sexualwissenschaft, in: Lautmann und Taeger (Hrsg.), Männerliebe, S. 186–238. Die Bestrafung weiblicher Homosexualität wurde lediglich in Entwürfen in den Jahren vor 1914 diskutiert. Vgl. dazu jetzt: Tracie Matysik, In the Name of the Law: The „Female Homosexual“ and the Criminal Code in Fin de Siècle Germany, in: Journal of the History of Sexuality 13 (2004), S. 26–48. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit 47 mit einigen hundert jährlich ähnlich hoch wie in Großbritannien, auch wenn exakte Daten fehlen.12 In rechtlicher Hinsicht waren somit zumindest im späten 19. Jahrhundert in Deutschland und Großbritannien die Rahmenbedingungen für Homosexuelle relativ ähnlich. In beiden Ländern bildete die Gesetzeslage eine entscheidende Voraussetzung für die Skandalisierung und Veröffentlichung von Homosexualität, die zugleich in der Sphäre des Geheimen bleiben sollte. Ihre Kriminalisierung legitimierte jedoch ihre Aufdeckung durch Polizei und Presse und förderte öffentliche Geständnisse, die Gerichte und die Öffentlichkeit abverlangen konnten. Dementsprechend blieben in Italien und Frankreich auch aufgrund der liberalen Gesetze vergleichbare Skandale um Homosexualität weitgehend aus.13 Die rechtlichen Regelungen prägten zwar den öffentlichen Diskurs, dürfen aber mit Blick auf die sozialen Praktiken nicht überbewertet werden. Im Vergleich zu anderen „Verbrechen“ waren die Verurteilungszahlen im 19. Jahrhundert in beiden Länder gering. Dies deutet an, dass in der Alltagspraxis homosexueller Verkehr eine gewisse Tolerierung erfuhr. Ebenso ist hieraus nicht vorschnell eine Homophobie abzuleiten, die jeglichen vertrauten Umgang unter Männern ausschloss. Vielmehr waren im 19. Jahrhundert die Übergänge zwischen homosexuellen Neigungen und intensiven Freundschaften vermutlich fließender als ein Jahrhundert später. Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien entfalteten sich aus romantischen Freundschaftsidealen heraus platonische Beziehungen zwischen bürgerlichen Männern, deren euphorische Briefe aus heutiger Sicht homoerotische Züge trugen. Aus der Sphäre des Privaten traten diese Briefe durch ihre Veröffentlichung oder durch die Beschreibung von männlichen Freundschaften in Romanen. Ritualisiert wurden diese intensiven Männerfreundschaften in Clubs wie den Logen.14 Dass zumindest in der entstehenden Metropolenkultur auch ein explizit homosexueller Umgang eine gewisse Tolerierung erfuhr, zeigte sich ebenfalls in beiden Ländern. Sowohl in London als auch in Berlin schuf das Großstadtleben bekannte Orte der Begegnung, die 12 13 14 Vgl. die Daten bei Baumann, Paragraph 175, S. 58; bis 1901 liegen in den Statistiken nur Zahlen für Verhaftungen und Verurteilungen vor, die auch den Verkehr mit Tieren einschließen. Pro Einwohner war dieser Anstieg gering; vgl. die Daten bei: Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle, S. 77. Eine generelle Indifferenz und Toleranz gegenüber Liebesaffären betont für Frankreich: Brian Jenkins und Peter Morris, Political Scandal in France, in: Modern and Contemporary France (1993), S. 127–137. Vgl. als Überblick zu dieser Entwicklung: Maurice Aymard, Freundschaft und Geselligkeit, in: Philippe Ariès und Roger Chartier (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance bis zur Aufklärung, Frankfurt a. M. 1991, S. 451–495; Colin Spencer, Homosexuality. A History, London 1995, S. 257–262; Stefan-Ludwig Hoffmann, Unter Männern. Freundschaft und Logengeselligkeit im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling und StefanLudwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 193–216. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 48 II. Homosexualität als Skandalon Beziehungen unter Männern in die Öffentlichkeit überführten.15 Das Wechselspiel zwischen der Bewahrung des homosexuellen Geheimnisses und seiner Veröffentlichung zeigte sich auch an den zunehmend veröffentlichten autobiographischen Schriften von Homosexuellen, die codiert ihre Neigungen andeuteten.16 Alles dies waren tastende Versuche, Grenzen zu erweitern, die im ausgehenden 19. Jahrhundert schließlich verstärkt durch Skandale verhandelt wurden. Im öffentlichen Umgang mit Homosexualität bestanden jedoch erkennbare Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien. Das galt vor allem für die Expertendiskurse des 19. Jahrhunderts, die mit zur Konstruktion des Homosexuellen beitrugen. In Deutschland entstand deutlich früher eine medizinische Neudeutung von Homosexualität. Das Verbrechen wurde zu einer Krankheit oder einem angeborenen genetischen Defekt uminterpretiert und Homosexualität so entkriminalisiert. Grundlegend waren hier besonders die seit den 1860er Jahren erscheinenden umfangreichen Schriften Karl Heinrich Ulrichs, der Homosexuelle als „drittes Geschlecht“ mit angeborenen weiblichen Elementen auffasste und als „Urninge“ bezeichnete, die er wiederum in „Mannlinge“ und „Weiblinge“ unterteilte. Nach Ulrichs Zuschreibungen waren Homosexuelle distinkte, erkennbare Menschen, wobei er schätzte, dass einer von 500 Männern dazu gehöre.17 Die Wirkungsmacht von Ulrich zeigte sich darin, dass sich bereits 1869 die Gutachter bei einem spektakulären Homosexuellenprozess mit seinen Ideen auseinander setzten, da der Angklagte ein Buch von ihm besaß.18 Ebenso gingen seine Begrifflichkeiten zumindest so weit in den Sprachgebrauch ein, dass der Brockhaus von 1898 beim Kurzeintrag „Homosexual“ auf „Urningsliebe“ verwies und entsprechend definierte: „Trieb zum geschlechtlichen Verkehr mit Personen gleichen Geschlechts: Urninge (männliche, weibliche), Personen, die mit derartiger konträrer Sexualempfindung behaftet sind.“ Der Begriff „Homosexualität“ wurde ebenfalls 1868/69 erstmals aufgebracht und dann in Broschüren gegen die preußische Gesetzgebung verwandt. Prominente Mediziner – wie eine Kommission unter Rudolf Virchow – lehnten dabei eine juristische Verfolgung ab. Nicht zuletzt durch diese Koinzi15 16 17 18 Vgl. für London: Cook, London and the Culture of Homosexuality. Für Berlin: Wolfgang Theis und Andreas Sternweller, Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Michael Bollé (Red.), Eldorado: Homosexuelle Männer in Berlin 1850–1950. Geschichte, Alltag und Kultur, Berlin 1984, S. 48–73. Vgl. Klaus Müller, „Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut“. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathologien im 19. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 155–268. Vgl. bes. den Nachdruck seiner Schriften: Karl Heinrich Ulrichs, Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe, Berlin 1994. Als knappe Einführung zu Ulrichs vgl. etwa: Hubert Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs, in: Rüdiger Lautmann (Hrsg.): Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M. und New York 1993, S. 32–38; Zur Zunahme medizinischer Betrachtungen: Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle, S. 60. Manfred Herzer, Zastrow – Ulrichs – Kertbeny. Erfundene Identitäten im 19. Jahrhundert, in: Lautmann und Taeger (Hrsg.), Männerliebe, S. 61–80, S. 67. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit 49 denz von neuen Zuschreibungen gelten die späten 1860er Jahre als eine Wasserscheide der Homosexualitätsgeschichte.19 Sowohl das Aufkommen entsprechender Begriffe als auch die Etablierung einer derartigen medizinischen Neudeutung der Homosexualität dürfte dabei öffentliche Normenkonflikte gefördert haben, die durch Skandale ausgefochten wurden. Seit dem späten 19. Jahrhundert trat in Deutschland vor allem der Mediziner Magnus Hirschfeld für eine öffentliche Neubewertung von Homosexualität ein, wobei seine Annahme eines „dritten Geschlechts“ zwischen Mann und Frau vielfach an Ulrichs anknüpfte. Hirschfeld beschränkte sich nicht auf aufklärende medizinische Schriften, wie sie seit den 1890er Jahren insbesondere im Max Spohr Verlag zur Homosexualität erschienen.20 Er organisierte seit 1897 mehrere Unterschriftensammlungen und Petitionen an den Reichstag, um die Aufhebung des Paragraphen 175 zu erreichen. Bereits die erste Petition unterschrieben immerhin rund 3000 Ärzte, 750 Direktoren und Lehrer sowie zahlreiche Künstler (wie Rilke, Hauptmann oder Liebermann), was zeigte, wie offen zumindest Teile der deutschen Gesellschaft für Homosexuelle eintraten.21 Selbst Hugo von Kupffer, der Chefredakteur des konservativen Massenblatts Berliner Lokal-Anzeiger, unterstützte sie.22 Obgleich die Petition ohne Erfolg blieb, erhielt sie mitsamt ihrer Argumentation eine breite Öffentlichkeit, da August Bebel sie im Reichstag einbrachte und zur Diskussion stellte.23 Mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees etablierte Hirschfeld 1897 eine Organisation, die das Thema Homosexualität kontinuierlich in die Öffentlichkeit brachte. Da Hirschfeld sich bei Polizei, Gerichten und Personen des öffentlichen Lebens immer wieder als Ansprechpartner anbot, entwickelte er sich in der wilhelminischen Zeit zu einer zentralen Deutungsinstanz.24 Die Monatsberichte und Jahrbücher, die das Komitee regelmäßig publizierte, beschrieben auch die Homosexualität von prominenten Personen, um Homosexualität weniger ungewöhnlich erscheinen zu lassen.25 Gerade im 19 20 21 22 23 24 25 Norton, The Myth, S. 71. Mark Lehmstedt, Bücher für das „dritte Geschlecht“. Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881–1941), Wiesbaden 2002, bes. S. 44–68. Vgl. Sommer, Strafbarkeit, S. 116–126; Rüdiger Lautmann und Angela Taeger, Sittlichkeit und Politik. § 175 im Deutschen Kaiserreich (1871–1919), in: dies. (Hrsg.), Männerliebe, S. 239–268, S. 243. Allerdings betonte der Chefredakteur zugleich, er sehe keinen Weg „gegenüber den herrschenden Vorurteilen die so hoch bedeutsame Angelegenheit in meinem Blatte zu erörtern.“ Kupffer an das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee 30. 8. 1898, Faks. in: Richard Linsert, Kabale und Liebe. Über Politik und Geschlechtsleben, Berlin o. D. (1930), S. 163. Verhandlungen des Reichstages 13. 1. 1898, Bd. 159, 16. Sitz., S. 410. Vgl. generell Manfred Herzer, Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. die Benennung des „Homosexuellen Erzherzogs Ludwig Victor – eines Bruders des Kaisers von Österreichs“ oder die Erwähnung der Erpressung eines Richters und Landgerichtsrat in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Anfang November 1903. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 50 II. Homosexualität als Skandalon Vergleich mit Großbritannien fällt auf, wie wohlwollend die Presse mitunter auf die neu erschienenen Jahrbücher des Komitees hinwies, was sich selbst für die eher konservative Boulevardzeitung Berliner Lokal-Anzeiger oder den konservativen Tag bis 1907 belegen lässt.26 Bis zum Ausbruch der großen Skandale nach 1900 deutete damit einiges auf eine Liberalisierung des Status von Homosexuellen hin. Im Unterschied zu Großbritannien initiierten einzelne Mitglieder der deutschen Homosexuellenbewegung bereits populistische Aktionen. So ließ Adolf Brand Flugblätter von der Reichstagstribüne segeln und verletzte den Vorsitzenden des Petitionsausschusses mit einer Hundepeitsche, um vor Gericht ein Forum zu bekommen.27 Über die Deutung der Homosexualität und den Umgang mit ihr bestanden jedoch innerhalb dieser frühen Homosexuellenbewegung Differenzen. Obgleich eine gewisse Mehrheit sie als angeboren interpretierte, war ihre Deutung als „Zwischenstufe“ oder als „männliche Kultur“ umstritten.28 Die Gegner derartiger Interpretationen lehnten sie aus christlichmoralischen Erwägungen ab oder aus der Angst heraus, diese Deutung würde Geschlechtergrenzen auflösen.29 Im Vergleich zu Großbritannien sprachen somit die Experten und die breitere Öffentlichkeit des Kaiserreiches bereits vergleichsweise offen über Homosexualität. Ein Pendant zu Ulrichs gab es auf der britischen Insel nicht, und entsprechende öffentliche Debatten begannen erst sehr zaghaft in den 1890er Jahren.30 Die britischen Expertendiskurse zeigen vor allem zwei Auffälligkeiten: Einerseits argumentierten sie weniger medizinisch-biologisch als historisch, indem sie Homosexualität in früheren Kulturen oder bei großen Künstlern und Wissenschaftlern andeuteten und so legitimierten. Andererseits traten hier vor allem Sozialisten für eine tolerante Auseinandersetzung mit der Homosexualität ein. Durch letzteres waren die Ansätze wesentlich stärker in gesamtgesellschaftliche Reformen und Utopien eingebunden, zugleich aber auch noch deutlich marginalisiert. Erinnert sei besonders an Edward Carpenter, der 1895 zunächst eine privat zirkulierende Schrift über Homogenic Love veröffentlichte.31 Aus dem 26 27 28 29 30 31 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 255 29. 10. 1905; Der Tag 10. 2. 1907. Vgl. die regelmäßigen Rezensionsauszüge in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene, Berlin 1997, S. 85. Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Tanten, Kerle und Skandale. Die Geburt des „modernen Homosexuellen“ aus den Flügelkämpfen der Emanzipation, in: zur Nieden (Hrsg.), Homosexualität, S. 81–99, S. 85. John C. Fout, Sexual Politics in Wilhelmine Germany: The Male Gender Crisis, Moral Purity and Homophobia, in: Journal of the History of Sexuality 2 (1992), S. 388–421, S. 391. Einführend: John Lauritsen und Rainer Guldin, Englische Forschungen im 19. Jahrhundert, in: Lautmann (Hrsg.), Homosexualität, S. 70–75. Vgl. Chushichi Tsuzucki, Edward Carpenter 1844–1929. Prophet of Human Fellowship, Cambridge 1980, S. 131 f.; Weeks dagegen betont, die Schrift sei 1894 in der Manchester Labour Press veröffentlicht worden; ders., Sex, Politics and Society, S. 172. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert 51 sozialistischen Lager kam auch Havelock Ellis, der als Pionier der britischen Sexualforschung gilt und hier die Annahme verbreitete, Homosexuelle gehörten zu einer anderen „Spezies“ und Homosexuelle und Heterosexuelle seien dichotomisch zu trennen.32 Bezeichnender Weise erschien Ellis wichtigstes Werk Sexual Inversion, das Homosexualität als angeboren und damit als nicht strafbar bezeichnete, zunächst 1896 auf deutsch und dann im folgenden Jahr erst als englische Version, deren Verkauf aber verboten wurde.33 Diese Schriften trugen dazu bei, auch in Großbritannien Vorstellungen und Sprechweisen über Homosexualität zu erweitern und überführten überhaupt erst diesen Begriff ins Englische. Generell wird man auf dieser ideengeschichtlichen Ebene von einem kulturellen Transfer aus dem deutschsprachigen Raum ausgehen können. Die von Carpenter und Ellis 1914 gegründete British Society for the Study of Sex Psychology lässt sich dabei als verspätetes Pendant zum Berliner Wissenschaftlich-humanitären Komitee fassen, das diesen Austausch förderte.34 Obgleich das Kaiserreich, so lässt sich bilanzieren, oft im Vergleich zu Großbritannien als autoritärer „Obrigkeitsstaat“ gilt, bestanden im Hinblick auf die gleichgeschlechtliche Sexualität damit deutlich mehr Freiheiten in Deutschland – sowohl bei der Thematisierung von Homosexualität als auch in der Auseinandersetzung um ihre Straffreiheit. In beiden Ländern entstand aber im ausgehenden 19. Jahrhundert ein zunehmendes Spannungsverhältnis zwischen ihrer Tabuisierung und der öffentlichen Auseinandersetzung mit Homosexualität, aus dem heraus Skandale entstehen konnten. 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert Skandale um Homosexualität traten natürlich in den Jahrzehnten um 1900 nicht erstmalig auf. So lassen sich in den Kampagnen gegen einzelne Monarchen und Adlige bereits vor 1800 Andeutungen über Homosexualität ausmachen.35 Ebenso zeigt bereits eine kursorische Auswertung der Zeitungen des frühen 19. Jahrhunderts, dass vor allem in Verbindung mit entsprechenden Gerichtsprozessen Zeitungsartikel hierzu erschienen. Diese schilderten die homosexuellen Normbrüche, ohne sie konkret zu benennen. Stattdessen bedienten sie sich eigener Codes von Umschreibungen, die für die Zeitgenossen zweifelsohne eindeutig waren. Die Sprachregelungen lassen sich nicht allein als eine Selbstzensur auf32 33 34 35 Zu Ellis liegen zahlreiche biographische Arbeiten vor; vgl. etwa: Phyllis Grosskurth, Havelock Ellis. A Biography, London 1980; Jeffrey Weeks, Making Sexual History, Cambridge 2000, S. 17–52. Havelock Ellis, Das konträre Geschlechtsgefühl, Leipzig 1896; ders., Sexual Inversion, London 1897. Zu den Prozessen wegen des Verkaufs: Weeks, Coming Out, S. 60. In den bisherigen Studien zu Ellis’ und Carpenters Wirken fand dieser Aspekt bislang wenig Berücksichtigung. Allerdings führte der Ausbruch des Weltkrieges schnell zur Unterbindung eines expliziten Austausches. Vgl. etwa zu den Kampagnen von John Wilkes: Clark, Scandal, S. 30 u. 44. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 52 II. Homosexualität als Skandalon fassen, die Unwissenheit stärkte. Sie bildeten vielmehr Ersatzsprachen, die eine öffentliche Kommunikation über Homosexualität erst in gedruckter Form möglich machten und so auch spätere Skandale vorbereiteten.36 Und obgleich im Hinblick auf Homosexualität die Grenzen des Sagbaren in Großbritannien wesentlich enger waren, entstand durch die größere Pressefreiheit und die Öffentlichkeit der Prozesse auf dem Inselreich eine weitaus ausführlichere und frühere Berichterstattung über derartige Fälle als in Deutschland. Dass die englischen Gerichte gerade prominente Fälle unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelten und die offiziellen Aufzeichnungen verkürzten, konnte entsprechende Medienberichte nicht verhindern.37 Diese Berichte lebten von einem eigentümlichen Spannungsverhältnis, das die Zeitungen immer wieder selbst thematisierten. Einerseits betonten sie, die Vergehen seien zu „widerwärtig“, als das man über sie berichten könne. Andererseits schrieben sie im gleichen Moment darüber. Sie legitimierten dies damit, dass es zu ihrer Aufgabe gehöre, Prozessinhalte öffentlich zu machen und gegen jede Einschränkung der Öffentlichkeit zu protestieren. Erst die explizite Distanz zum eigenen Artikel rechtfertigte somit den Bericht. Welche Deutungen und Handlungsmuster solche Presseberichte bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert über Homosexualität etablierten, lässt sich exemplarisch an einigen Skandalen zeigen. Ein besonders markanter Fall der 1820er Jahre, der sich für eine vertiefte Analyse anbietet, war etwa der Skandal um Percy Jocelyn, den irischen Bischof von Clogher. Der anglikanische Geistliche, der aus einer alten Adelsfamilie stammte, wurde am 19. Juli 1822 in einer Londoner Kneipe von mehreren Zeugen beim Verkehr mit einem Wachmann überrascht und festgenommen. Nachdem sich seine Identität geklärt hatte, gestatteten die Behörden seine Freilassung gegen Kaution, woraufhin der Bischof sofort nach Frankreich floh und laut Presseberichten 150 000 Pfund aus den Ersparnissen der Kirche mitnahm.38 Aus diesem bislang wenig beachteten Skandal lassen sich einige systematische Beobachtungen über den öffentlichen Umgang mit prominenten Homosexuellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziehen. So zeigte der Fall zunächst, dass die britischen Behörden offensichtlich um die 36 37 38 Zu diesem in Folge der Foucault-Rezeption viel beachteten Paradox zwischen Tabu und Sprechanreiz vgl. hier bes.: Cocks, Nameless Offence, S. 2 f. Eine verstreute Sammlung von Zeitungsausschnitten zu Fällen von Homosexualität im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts findet sich in: British Library (BL) CUP 363 gg 31; sowie: Nachlass Beckford in: Bodleian Library/Oxford University MS, bes. etwa c. 83, fol. 129 f., 139; vgl. auch: Rictor Norton, Mother Clap’s Molly House. Gay Subculture in England 1700–1830, London 1992, S. 221. Zur öffentlichen Rekonstruktion des Falles vgl. Times 8. 10. 1822, S. 3 und 11. 11. 1822, S. 3. Eine Sammlung von Karikaturen, Zeitungsausschnitten und Pamphleten hierzu in: BL CUP 363 gg 31. Zum Ereignisablauf bisher, ohne Berücksichtigung der Öffentlichkeit vgl. F. H. Amphlett Micklewright, The Bishop of Clogher’s Case, in: Notes and Queries 16 (1969), S. 421–430. Einige reißerische journalistische Hinweise, die daran anknüpfen: Matthew Parris, The Great Unfrocked. Two Thousand Years of Church Scandal, London 1998, S. 144–157. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert 53 Gefahren eines Prozesses wussten, der ausführliche Details in die Medien gebracht hätte und den Adel und die Kirche insgesamt diskreditieren würde. Jocelyns Freilassung gegen Kaution ist deshalb als eine Fluchtaufforderung zu interpretieren, um das Gerichtsverfahren und die Veröffentlichung zu verhindern. Dies war eine typische Reaktion gegenüber hochrangigen Homosexuellen im 19. Jahrhundert. Nicht die Haft oder die Todesstrafe waren das eigentliche Urteil, sondern das Exil, das zur Bewahrung des Geheimnisses geeigneter erschien als eine offizielle Verurteilung. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatten prominente Adlige wie Viscount Courtenay die Flucht wählen müssen, um eine Verfolgung und Veröffentlichung entsprechender Vorwürfe zu verhindern.39 Die bürgerlichen Zeitungen schrieben zunächst über den Fall, ohne die Beteiligten namentlich zu nennen, oder sie verzichteten wie die Times zunächst ganz auf Berichte.40 Der englische Medienmarkt war jedoch bereits politisch so weit ausdifferenziert, dass der Skandal nicht mehr durch derartige Diskretionen zu verhindern war. Schon das Verschweigen des Kautionsgebers, der Hinweise auf die Identität des Bischofs hätte geben können, führte sofort zu Protesten des radikalen Journalisten William Cobbet, der in dem Sonntagsblatt Constitution die namentliche Nennung einforderte, was wiederum selbst die bürgerliche Times verbreitete.41 Radical papers wie The Statesman warfen der sogenannten „respectable press“ eine korrupte Doppelmoral vor und druckten den Namen des Bischofs in voller Länge.42 Da die Zeitungen untereinander wie kommunizierende Röhren aufeinander verwiesen, liefen in der Londoner Medienöffentlichkeit schnell unterschiedliche Informationen aus Irland zusammen, etwa von Blättern wie der Dublin Morning Post, dem Patriot Dublin Paper oder dem Dublin Evening Herald. Dadurch entstanden schnell und mosaikartig weitere Neuigkeiten, die die Dynamik des Skandals verstärkten. Wie die Zeitungen durch den vielfältigen Informationseingang herausfanden, war der Bischof 1811 schon einmal von einem Kutscher, dessen Bruder bei dem Bischof arbeitete, der Homosexualität beschuldigt worden. Dies hatte in einem Verleumdungsprozess jedoch nur zur Auspeitschung und zweijährigen Haftstrafe des Kutschers geführt. Gerade diese zusätzlich aufgedeckte Ungerechtigkeit verstärkte die ohnehin breite emotionale Empörung, aufgrund der selbst die Times unzweideutig über den Bischof 39 40 41 42 Frühere Beispiele in: Hyde, The Other Love, S. 73 f. Vgl. die 1822 publizierte Zusammenstellung der ersten Artikel unter dem Titel: „A correct account of the horrible occurance in the Public-house in St. James Market, in which was discovered that the right Rev. Father in God, the Bishop of Clogher, lately transferred from the Bishopric of Ferns was a principle actor with a Common Soldier!“, London 1822, in: BL CUP 363 gg 31. Times 30. 7. 1822, S. 3; ohne Namensnennung, aber äußerst ausführlich: Observer 21. 7. 1822. In den umfangreichen Studien zu Cobbett wird dieser Fall nicht erwähnt; vgl. George Spater, William Cobbett. The Poor Man’s Friend, Bd. 2, Cambridge 1982. The Statesman 22. 7. 1822. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 54 II. Homosexualität als Skandalon urteilte: „He surely deserved to be hanged by the neck.“43 Dagegen wurde der Kutscher, der den Bischof erstmals der Homosexualität beschuldigt hatte, sowohl in der bürgerlichen Presse als auch bei den Radicals als Märtyrer und Held gepriesen. Ähnlich wie beim fast zeitgleichen Queen Caroline Skandal zielten die Vorwürfe so auf eine abgrenzende Identitätsbildung des Bürgertums und der Unterschichten. Die Behörden sahen den Skandal dagegen als eine Bedrohung an, da die Veröffentlichung sexueller Enthüllungen die Gesellschaftsordnung radikal verändern könne. So schrieb ein Mitarbeiter des Home Office an Innenminister Robert Peel: „It will sap the very foundations of society, it will raise up lower orders against higher, and in the present temper of the public mind it will do more to injure the Establishment than all the united efforts of its enemies could have effected in a century.“44 Dass es bei dem Prozess um Homosexualität ging, wurde in der Medienöffentlichkeit in erstaunlich expliziter Sprache berichtet. So sprach die Times von „sodomitical practices“, „abominable turpitude“ und „horrible occurance“.45 Auch der Observer beschrieb die Situation und den genauen Ort, wo sie entdeckt wurden.46 Sofort erschien eine Broschüre, die die Zeitungsausschnitte gesammelt abdruckte. Schon die ersten Sätze ihrer Einleitung verrieten das neue Selbstbewusstsein der Presse: Ihre Aufgabe sei stets, das Böse aufzudecken, aber besonders, wenn die Machthaber die Laster der oberen Schichten zu verheimlichen versuchten, um Verbrechen ausschließlich den unteren Klassen zuzuschreiben.47 Noch deutlicher formulierten dies die Kommentare der populären Kultur, wie sie etwa in überlieferten Spottgedichten überliefert sind. Auf einer Zeitung fand sich etwa der handschriftliche Vers: „The Devil to prove the Church was a farce/Went out to fish for a B[ugge]r/He baited his hook with a Frenchman’s arse/and pulled up the Bishop of Clogher.“48 Andere populäre Verse, die über Flugschriften verbreitet wurden, spotteten, dass die Kopulation mit Männern nun zum Seelenheil führe.49 Gerade der Spott erleichterte die Kommunikation über das offiziell unbenennbare Verbrechen und förderte sie. Auch der Ort des homosexuellen Aktes entwickelte sich zu einer Attraktion der Populärkultur. „The people of the public house have made a good deal of money by showing the place“, notierte Charles Greville in sein Tagebuch.50 Ka- 43 44 45 46 47 48 49 50 Times 8. 10. 1822, S. 3. Da der Fall ist bislang kaum erforscht ist und Archivmaterial kaum aufzufinden war, beruhen meine Ausführungen vor allem auf Medienberichten; einige Hinweise in: Norton, Mother Clap’s, S. 216 f. Einige Unterlagen in: BL Cup. 363, gg. 31. Zit. nach Micklewright, The Bishop of Clogher’s Case, S. 425. Times 31. 7. 1822, S. 3; Times 13. 11. 1822, S. 3. Observer 21. 7. 1822. O.A., A Correct Account, London 1822. Handschriftlich auf Zeitungsausschnitt in: BL CUP 363 gg 31. Eine andere Version spricht direkt vom „soldier’s arse“. Gedicht „Lions in Tears“ in: BL CUP 363 gg 31. Eintrag 30. 7. 1822, in: Lytton Strachey und Roger Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, Bd. 1: Jan 1814–July 1830, London 1938, S. 125 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert 55 rikaturen, die einzeln verbreitet wurden, zeigten Bischof und Soldaten mit verliebten Blicken, aber auch mit geöffneten Hosen.51 Die Folgen der Empörung zeigten sich in Ausschreitungen gegen den Bischof bei der Verhaftung und den folgenden Straßenkrawallen gegen Homosexuelle, die schon bei früheren Verhaftungen aufgetreten waren. Die öffentlichen Berichte scheinen sogar zum Selbstmord des Außenministers Viscount Castlereagh beigetragen zu haben, der verwirrt und offensichtlich erpresst vor seinem Tod dem König anvertraute: „I am accused of the same crime as the Bishop of Clogher.“52 Insgesamt lässt sich der Skandal damit als ein massiver Angriff der Populärkultur gegen die etablierten Machthaber bewerten. Der homosexuelle Verkehr des Bischofs bildete dabei nur einen Anlass für eine breite Empörung. Diese deutliche Thematisierung von Homosexualität lässt sich auch bei anderen Skandalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen. Dabei berichteten die englischen Zeitungen sogar über Anschuldigungen gegen bürgerliche Mitglieder des Unterhauses. So floh der Gelehrte und Unterhaus-Abgeordnete für die Oxford University, Richard Heber, 1826 nach Frankreich, nachdem eine Lokalzeitung ein Verhältnis mit einem deutlichen jüngeren Mann angedeutet hatte und dessen Vater daraufhin mit einer Klage gedroht hatte. In eine breitere Öffentlichkeit kam der Fall aber erst, als daraufhin der Verleger und Herausgeber der Zeitung John Bull, Edward Sheckell, einem weiteren Gelehrten vorwarf, ein Verhältnis mit dem Abgeordneten Heber zu haben. Dieser wies dies erfolgreich mit einem Verleumdungsprozess zurück, der den Fall erst wirklich publik machte.53 Die Angst vor der Medienöffentlichkeit und dem Skandal zwang auch hier zur Emigration. Indem die Betroffenen nach Frankreich flohen, konnte Großbritannien zugleich sein Selbstbild als das moralisch überlegene Land rekonstituieren. Die Flucht vor dem Skandal erschien zugleich wie ein Akt der nationalen Reinigung. Noch detaillierter beschrieben die Zeitungen den Fall von William John Bankes, der Unterhausabgeordneter für die Universität Cambridge war. 1832 hatte ein Wachmann den Ägyptologen verhaftet, als er ihn in der Nähe des Parlaments mit einem Soldaten zusammen in einer öffentlichen Toilette überraschte.54 Da Bankes trotz Freilassung nicht floh, kam es zu einem Prozess. Um die Homosexualität eines Politikers als undenkbar zu markieren, stellte sich das Gericht trotz der offensichtlichen Beweise ganz auf die Seite des Abgeordneten. Es gewährte ihm eine „special jury“ und verteidigte seine Ehrenhaftigkeit. Mehrere Abgeordnete und Prominente wie der Duke of Wellington bescheinigten ihm 51 52 53 54 Abgedruckt sind drei Karrikaturen in: Parris, Great Unfrocked, S. 147 und 171. Zu den Ausschreitungen: Observer 21. 7. 1822; zu Castlereagh: Harvey, Prosecutions, S. 942. Vgl. Times 20. 11. 1826, S. 3 und 28. 11. 1826, S. 3. Bei Hyde eine Erwähnung Hebers, nicht aber des John Bull-Prozesses und der Öffentlichkeit, die der Fall dadurch erhielt; vgl. ders., The Other Love, S. 93. Vgl. bes. Times 12. 6. 1833, S. 6, 25. 7. 1833, S. 5 und 3. 12. 1833, S. 4 f. Knapp erwähnt ist der Fall in: Patricia Usick, Adventures in Egypt and Nubia. The Travels of William John Bankes (1786–1855), London 2002, S. 172. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 56 II. Homosexualität als Skandalon einen ehrenwerten Charakter. In seiner Verteidigung wurde zugleich ausgesprochen, welche Bedrohung entstehen könne, falls die Jury ihn schuldig sprechen würde, da dann die Ehre und das Leben eines jeden Mannes gefährdet seien.55 Dass dies keine Rehabilitierung bedeutete, sondern nur eine Bewährungsstrafe war, zeigte sich schnell. Trotz des Freispruches beendete der Prozess Bankes politische Karriere. Er wurde nicht wieder gewählt und sozial eher gemieden. Als die Zeitungen 1841 abermals berichteten, er sei in einem Park verhaftet worden („indecently exposing himself to a soldier“56), kam es wieder zu dem typischen Skandalverlauf: Bankes kam gegen Kaution frei und floh nach Venedig, wo er den Rest seines Leben verbrachte, um so eine öffentliche Debatte über die Vorwürfe zu verhindern. Die erzwungene Emigration sicherte somit erneut die „Selbstreinigung“ der Gesellschaft. Alle diese Beispiele zeigen folglich, dass auch von staatlicher Seite bei prominenten Fällen nicht die Todesstrafe oder die Haft, sondern die Verbannung als Strafe vorgezogen wurde, um Skandale und die mit ihnen einher gehende öffentliche Auseinandersetzung mit der Homosexualität zu vermeiden. Derartige Fälle dürften dennoch durch ihre mediale Thematisierung in doppelter Hinsicht bürgerliche Selbstgewissheiten unterlaufen haben. Einerseits machten sie deutlich, dass auch Bürger mit Besitz, Bildung und öffentlichen Stellungen homosexuell sein konnten und sich dies nicht allein als Vergehen der Unterschichten und des Adels ausgrenzen ließ. Andererseits zeigten die Fälle, dass weder durch eine wohlwollende Behandlung vor Gericht noch durch die Verbannung ins Ausland eine Thematisierung der Homosexualität zu verhindern war. Vielmehr übten die Zeitungen Umschreibungen ein – wie „crimes of so horrible a nature“, „improper design“ oder „certain misdemeanour“. Im Vergleich zu Zeitungsberichten aus dem frühen 19. Jahrhundert fand sich allerdings kaum noch der Begriff „sodomy“, der anscheinend als zu explizit galt, um ihn in der frühviktorianischen Presse auszusprechen.57 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterlief insbesondere der viel beachtete Skandal um Ernest Boulton und Frederick William Park bürgerliche Selbstgewissheiten über sexuelle Normen. Deren Prozess verhandelte 1871 erneut, inwieweit es öffentlich denkbar war, dass bürgerliche Männer aus respektablen Familien homosexuell sein könnten. Nachdem die beiden jungen Männer im Jahr zuvor verhaftet worden waren, weil sie öffentlich Frauenkleider trugen, wurden zum Prozess zahlreiche Bürgerliche vorgeladen und wegen der Ausübung von Unmoral angeklagt.58 Aus den Prozessberichten erfuhren die Zeitungsleser ausführlich, dass die beiden Männer sich mit Frauennamen anredeten 55 56 57 58 Times 3. 12. 1833, S. 5. Times 3. 9. 1841, S. 7 und Times 25. 9. 1841, S. 7. Vgl. dagegen etwa die Zeitungsartikel über Hinrichtungen von Homosexuellen um 1800 in: BL CUP 363 gg 31. Wörtlich: „charge of the conspiracy to commit or to incite to the commission of immorality“; vgl. zur Anklage: Times 12. 5. 1871, S. 11 u. 11. 5. 1871, S. 11. Vgl. zu dem bekannten Fall etwa: Cocks, Nameless Offence, 2003, S. 106–114, Kaplan, Sodom, S. 19–101. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert 57 und als Frauen geschminkt und verkleidet Männer angesprochen hatten, die das Cross-Dressing nicht erkannten und mit ihnen flirteten.59 Dennoch wurden sie freigesprochen, da das Gericht ihr Verhalten und die verlesenen Liebesbriefe mit ihrem jugendlichen Charakter und ihrer Theaterliebe entschuldigte. In die engere Sphäre der Politik wäre der Fall wohl gerückt, wenn der junge Abgeordnete Lord Arthur Clinton, der mit Boulton befreundet war, nicht kurz vor dem Prozess gestorben wäre – vermutlich durch Selbstmord, offiziell an Scharlach. Für die großen Homosexualitätsskandale des späten 19. Jahrhunderts war auch der Boulton-Park-Prozess prägend. So führte er zu einer maßgeblichen Debatte darüber, wie ein Homosexueller auszumachen sei. Neben der bislang üblichen Charakterprüfung erfuhren die Zeitungsleser nun andeutungsweise von medizinischen Nachweisen von Homosexualität im Prozess, etwa anhand von Anus-Untersuchungen.60 Ebenso wurde debattiert, ob Homosexuelle verheiratet sein könnten oder dies eine Altersfrage sei. Der Kronanwalt (Attorney General) nahm dabei die auf dem Kontinent publizierte Literatur über Homosexualität bewusst nicht zur Kenntnis, sondern wies sie mit den Worten zurück, es sei gut, dass es wenig Erkenntnisse oder Wissen über dieses Thema in seinem Land gäbe.61 Insgesamt zeigte die Debatte eine große Verunsicherung, die gerade daraus resultierte, dass Homosexualität quasi überall sein könne, aber nicht klar nachweisbar sei. Darüber hinaus lassen sich derartige Skandale als eine Bedrohung für das männliche Rollenverständnis interpretieren. Ihre Frauenkleider prägten nachhaltig die Vorstellung vom weiblich wirkenden Homosexuellen, der nach außen markierte Geschlechterrollen durchbrach. Dies erschien zugleich als eine Gefahr für heterosexuelle Männer, die dies im Flirt mit solchen vermeintlichen Frauen nicht durchschauten. Dass die angeklagten homosexuellen Transvestiten keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgingen, sondern nur gelegentlich Theater spielten, brach ebenfalls mit männlichen Rollenvorstellungen.62 Der Fall entwickelte sich darüber hinaus zu einer grundsätzlichen öffentlichen Selbstvergewisserung über die Sittlichkeit des Landes. Da auch ausländische Medien den Prozess verfolgten, sah die Times ihn für das In- und Ausland als eine „reflection on our national morals“.63 Dies wurde mit der Warnung verbunden, dass der Niedergang der französischen Moral für die Kriegsniederlage gegen Deutschland verantwortlich sei, weshalb nun das Vordringen der Pariser Sitten nach England verhindert werden müsse. Damit war die Homosexualität nicht nur eine Frage der nationalen Ehre und abgrenzenden Identifikation, sondern auch der nationalen Wehrhaftigkeit. Dementsprechend wies auch der Richter in 59 60 61 62 63 Vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 29. 5. 1871; Pall Mall Gazette 20. 5. 1870. Zur Definitionsmacht der Gerichtsmedizin, die solche Untersuchungen schon in der Frühen Neuzeit vornahm, vgl. mit Blick auf Deutschland: Müller, „Aber in meinem Herzen“, S. 91– 110. Zit. nach: Weeks, Sex, S. 101. Cocks, Nameless Offence, S. 111. Times 16. 5. 1871, S. 9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 58 II. Homosexualität als Skandalon seinem entlastenden Plädoyer darauf hin, dass die Unmoral von Boulton und Park nicht die Moral des „national character“ befleckt habe.64 Vergleichbare explizite Thematisierungen oder Skandale lassen sich für Deutschland in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts kaum ausmachen.65 Auch wenn die wesentlich schlechtere Forschungslage keine abschließenden Befunde über die öffentliche Auseinandersetzung mit Homosexualitätsprozessen in dieser Zeit zulässt, kann man insgesamt feststellen, dass nicht zuletzt die harte Zensur im Deutschen Bund eine ähnliche mediale Thematisierung derartiger Fälle verhinderte. So sorgte das preußische Justizministerium bei einem Homosexualitätsprozess von 1835, bei dem auch hohe Adlige beteiligt waren, für eine sofortige Einziehung der Akten, um jede öffentliche Thematisierung zu unterbinden. Als bedrohlich erschien dabei, wie Bismarcks spätere Erinnerung an diesen Fall illustriert, auch „die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch.“66 Dass derartige Prozesse in alltäglichen Gesprächen für Diskussionen sorgten, ließ sich anscheinend nicht verhindern. Auch der Prozess um Reichsfreiherr von Malzan 1849/50, dessen Tagebücher seinen regelmäßigen homosexuellen Verkehr der letzten 26 Jahre dokumentierten, drang trotz aller Restriktionen in die Berliner Alltagsgespräche.67 Bei diesem Fall galt ebenfalls der sexuelle Verkehr zwischen Adligen und Soldaten als spektakulär. Wie bei späteren Skandalen erschien Homosexualität in Deutschland damit nicht nur als Angriff auf die moralische Ordnung, sondern auch auf die der Klassen. Selbst im frühen Kaiserreich blieben die Grenzen des Sagbaren enger, gerade wenn es sich um prominente Repräsentanten der Gesellschaft handelte. Die homosexuellen Neigungen des Königs Ludwig II. von Bayern etwa, die heute als paradigmatisch für die hochadlige Homosexualität im 19. Jahrhundert gelten, waren damals zweifelsohne innerhalb des Adels und der regionalen mündlichen Öffentlichkeit bekannt und sorgten für nur leicht verdeckte Spekulationen.68 Die breitere Presseöffentlichkeit thematisierte dies jedoch nicht. Zumindest zeigt ein Blick in die großen liberalen Zeitungen, dass nur wenige vorsichtige 64 65 66 67 68 Ebd., S. 11. Zur Forschungslage vgl. Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten. Tübingen 1999; vgl. zudem die zahlreichen Biographien in: ders., Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 1998. Zit. nach: Linsert, Kabale, S. 173. Hier Andeutungen zu dem Fall. Die öffentliche Rezeption des Fall „Cajus“ (so der Decknahme) dokumentierten Johann Ludwig Caspers gerichtsmedizinische Schriften von 1858; vgl. Müller, „Aber in meinem Herzen“, S. 182 f. Vgl. hierzu Rainer Herrn, Ein historischer Urning. Ludwig II. von Bayern im psychiatrischsexualwissenschaftlichen Diskurs und in der Homosexuellenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, in: Katharina Sykora (Hrsg.), „Ein Bild von einem Mann“. Ludwig II. von Bayern. Konstruktion und Mythos, Frankfurt a. M. 2004, S. 48–89. Andeutungen nur in: Ludwig Hüttl, Ludwig II., München 1986, bes. S. 369 f. u. 388; Franz Herre, Ludwig II. von Bayern. Sein Land – sein Leben – seine Zeit, Stuttgart 1986, S. 146, 332–338 u. 361. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Vorläufer im 19. Jahrhundert 59 Andeutungen über dieses Gerücht in die Presse gingen („Seine anerkannte Sittenreinheit ward zur Weiberfeindschaft“), sie ansonsten aber lediglich seine Geisteskrankheit diskutierten.69 Die Befragungen bei seiner Entmündigung bezogen sich ebenfalls bewusst nicht hierauf. Auch innerhalb der frühen Arbeiterbewegung war umstritten, wie mit Homosexuellen innerhalb der eigenen Führung umzugehen sei. Dies zeigte sich bei Johann Baptist von Schweitzer, der 1867 Reichstagsabgeordneter und 1868 Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde, jedoch wegen eines homosexuellen Vergehens verurteilt war. Während Lassalle ihn etwa verteidigte, sprachen sich andere Sozialdemokraten sowie Marx und Engels wegen seiner Geschlechtsorientierung gegen ihn aus. Auch Karl Marx’ Bewertungen über Ulrichs Schriften belegen, welche starken Vorurteile und Ängste vor Homosexualität innerhalb der sozialistischen Bewegung herrschten.70 Trotz der weitgehenden Ausschaltung der Öffentlichkeit kam es auch in Deutschland zu Prozessen, die Vorstellungen von Homosexualität durch ihre breite öffentliche Aufmerksamkeit prägten. Im Unterschied zu Großbritannien war hierfür aber eine Verbindung mit anderen Verbrechen nötig. Eine herausragende Bedeutung hatte dabei der Berliner Prozess gegen den Leutnant a. D. Carl von Zastrow, der im Januar 1869 trotz dürftiger Beweise zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er einen Fünfjährigen vergewaltigt und schwer verletzt habe und zwar nicht die Tat, wohl aber seine homosexuelle Anlage vor Gericht gestand.71 Da die Zeitungen die Suche nach dem Täter begleiteten, nahm die Bevölkerung breiten Anteil, auch wenn die Öffentlichkeit im Unterschied zu den englischen Prozessen ganz ausgeschlossen war. Die große Wirkung des Falles zeigte sich nicht zuletzt darin, dass der Name Zastrow sich im frühen Kaiserreich anscheinend zu einem Synonym und Codewort für Homosexualität entwickelte. Zumindest berichtete Karl Heinrich Ulrichs in seiner frühen Schrift Argonauticus, die zeitgleich zum Prozess entstand: „In Kaffeehäusern und Concertsälen genügt es, dem Nachbarn in’s Ohr zu raunen: ‚Jener Herr dort ist ein Zastrow’, um innerhalb weniger Minuten einen Skandal hervorzurufen, gegen den es für den Bezeichneten, sei wirklich auch ein Dioning, Rettung nicht gibt.“72 Vergleicht man den Zastrow-Prozess mit dem nahezu zeitgleichen Boulton/Park-Skandal in Großbritannien, so lassen sich einige deutsche Spezifika erkennen. Der deutsche Prozess verbreitete bereits kurz vor der Gründung des Kaiserreiches die medizinische Neudeutung der Homosexualität. Zastrow 69 70 71 72 Zit. Vossische Zeitung 8. 6. 1886. Deutlich zudem ebd., 22. 6. 1886. Ausgewertet wurden als Stichprobe die Frankfurter Zeitung und die Vossische Zeitung zwischen Entmündigung und Tod, vom 5. 6. 1886 bis 23. 6. 1886. Vgl. Hubert Kennedy, Johann Baptist von Schweitzer: The Queer Marx Loved to Hate, in: Journal of Homosexuality 29 (1995), S. 69–96, S. 71; August Bebel, Aus meinem Leben, Bd. 2, Berlin 1911, S. 9 f. Bebel rechnet hier generell mit Schweitzer ab, deutet dabei aber immer wieder „Untugenden“ an. Hinweise in: Herzer, Zastrow, S. 67. K.H. Ulrichs, Argonauticus, Leipzig 1869, S. 124. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 60 II. Homosexualität als Skandalon selbst bekannte sich freimütig, zum dritten Geschlecht im Sinne Ulrichs zu gehören, und auch die Gutachter setzten sich mit Ulrichs Ideen auseinander.73 Während in den britischen Skandalen Homosexualität vor allem als eine Form bürgerlicher oder adliger Dekadenz erschien, konstruierte der Zastrow-Prozess eher das kriminalistische Bild des pathologischen, triebgesteuerten und hemmungslosen Homosexuellen, der selbst Kinder missbrauche, was entsprechend die Angst vor Homosexuellen förderte. Obgleich in Großbritannien bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schärfere Strafen drohten und das Sprechen über Homosexualität stärker tabuisiert war, lässt sich somit im Kontext von Skandalen frühzeitiger eine intensivere Auseinandersetzung mit ihr ausmachen. Während die Bücher der Experten verboten blieben, entstand dank der stärkeren Pressefreiheit und Öffentlichkeit der Prozesse eine populäre Debatte und Empörung. Die skizzierten Skandale waren Auseinandersetzung zwischen Schichten und sozialen Gruppen, weniger jedoch politische Kampagnen im engeren Sinne. In beiden Ländern leiteten die Artikel über entsprechende Prozesse aber zweifelsohne sprachliche Verschiebungen, neue Vorstellungen und veränderte Tabugrenzen ein, an die im späten 19. Jahrhundert politische Kampagnen anknüpfen konnten, die Homosexualität enthüllten. 3. Homosexualität und IRISH HOME RULE Im späten 19. Jahrhundert veränderte sich der Charakter der öffentlichen Enthüllung von Homosexualität. Ähnlich wie in den Jahrzehnten zuvor wurde sie zumeist weiter mit versteckten Andeutungen und im Kontext von Prozessen verhandelt. Aber nun erhielten diese Anschuldigungen stärker das Antlitz von gezielten politischen Kampagnen, die grundsätzliche politische Konflikte austrugen. Die Aufdeckung von Homosexualität diente jetzt vor allem der moralischen Diskreditierung des politischen Gegners. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung waren in Großbritannien die Enthüllungen, die 1883/84 irische Nationalisten gegen die englische Verwaltung in Dublin richteten. Die Journalisten und Politiker William O’Brien und Tim Healy hielten dabei in Zeitungen und in Unterhausreden verschiedenen höheren Beamten der englisch geprägten Dubliner Verwaltung vor, homosexuell zu verkehren.74 Die folgenden Beleidigungsprozesse leiteten daraufhin einen politischen Homosexualitätsskandal ein, der über ein Jahr die Öffentlichkeit beschäftigte. Wieso kam es gerade von irischer Seite und ausgerechnet Anfang der 1880er 73 74 Vgl. die Gerichtsberichte in den Zeitungen wie: Norddeutsche Allgemeine Zeitung 6. 7. 1869. Dieser Fall ist in der Literatur bisher nur am Rande erwähnt worden. Vgl. die Andeutungen in: Hyde, The Other Love, S. 128–133; Frank Callanan, T. M. Healy, Cork 1996, S. 89–91; Cocks, Nameless Offence, S. 140–144. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Homosexualität und Irish Home Rule 61 Jahre zu dieser markanten Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen, die die politische Kommunikation insgesamt nachhaltig veränderte? Generell war in den 1880er Jahren die Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit Irlands eines der wichtigsten und besonders umkämpften politischen Themen in Großbritannien. Premierminister William Gladstone hatte seit 1869 einige bedeutende, aber in England umstrittene Reformgesetze für Irland eingeleitet, die den Landbesitz und die Pachtmöglichkeiten der Iren gerechter gestalten sollten, jedoch die Proteste der irischen Land League nicht beruhigen konnten.75 Am umstrittensten war die Frage der irischen Selbstverwaltung, der Home Rule, die Gladstone deshalb erst Mitte der 1880er Jahren aufgriff. Welche Bedeutung und Sprengkraft die Home Rule hatte, die zugleich das Selbstverständnis des Empires verhandelte, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie 1886 zur Spaltung der Liberalen Partei und damit zum Machtverlust von Gladstone führte.76 Ebenso sorgte sie für eine politische (Neu-)Formierung der irischen Nationalisten seit den späten 1870er Jahren unter der Führung von Charles Stewart Parnell, die mit äußerst großer Aktivität im Unterhaus auf ihre Forderungen aufmerksam machten und sich einer provokativen Obstruktionspolitik bedienten.77 Dass sich dieser Schlüsselkonflikt ausgerechnet 1883 zu einem Skandal mit Homosexualitätsvorwürfen zuspitzen konnte, hing mit dieser Radikalisierung des Konfliktes im Jahr zuvor zusammen, als irische Extremisten im Phoenix Park den neuen Chief Secretary für Irland, Lord Frederick Cavendish, und Untersekretär Burke ermordeten.78 Das Attentat führte zur Verhaftung und moralischen Diskreditierung zahlreicher irischer Politiker, obgleich sie sich sofort von der Gewalttat distanzierten. Die Verfolgungen hatten ein doppeltes Resultat: Sie verstärkten die Verbitterung über die englischen Herrscher und sie vergrößerten die Bedeutung von einzelnen irischen Presseorganen wie dem United Ireland oder dem Freeman’s Journal, da sie während der Verhaftungen als Sprachrohr der irischen Bewegung agierten. Insbesondere die 1881 gegründete Zeitung United Ireland und ihr Herausgeber William O’Brien versuchten im Zuge dieser Polarisierung, durch skandalisierende Vorwürfe die Engländer moralisch und politisch zu treffen. So warf er der englischen Administration in Dublin 1882 in einer Artikelreihe Korruption und Misswirtschaft vor und bekämpfte im Jahr darauf den irischen Crown Solicitor als „swindler“, „blackguard“ und „adulterer“, der sich zudem an dem Vermögen seiner betrogenen 75 76 77 78 Vgl. George Boyce, Gladstone and Ireland, in: Peter J. Jagger (Hrsg.), Gladstone, London 1998, S. 105–122; von den zahlreichen Biographien über Gladstone vgl. bes.: H.C.G. Matthew, Gladstone 1809–1898, Oxford 1997. Der hier untersuchte Skandal wird in keiner dieser Darstellungen berücksichtigt. Vgl. ereignisbezogen zu dieser Spaltung: Cook und Vincent, The Governing Passion. Grundlegend zu seiner Biographie: Francis Steward Lyons, Charles Stewart Parnell, London 1977. Zur Home Rule vgl. einführend: Alan O’Day, Irish Home Rule, 1867–1921, Manchester 1998. Zur Bedeutung der Phoenix Park Murders und deren Nachwirkungen vgl. auch Kapitel V. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 62 II. Homosexualität als Skandalon Ehefrau bereichert habe.79 Nicht minder drastisch fielen die Vorwürfe des irischen Abgeordneten Tim Healy aus, die er sowohl im United Ireland als auch im Unterhaus gegen die Engländer richtete. So beschuldigte Healy den Unterinspektor des Royal Irish Constabulary, der die Niederschlagung des irischen Aufstandes in Wexford geleitet hatte, er habe vor der Heirat mit seiner Frau zusammengelebt und erkundigte sich nach dem Stand des Bankrottprozesses des Lord Lieutenant George Bolton.80 Die Iren überführten damit in ihrem Kampf gegen die englische Herrschaft gezielt Normbrüche in der privaten Sphäre in die politische Öffentlichkeit. Derartige Vorwürfe fanden schnell eine entsprechende Aufmerksamkeit. Die Times, die vehement gegen eine Ausweitung der irischen Rechte eintrat, sah bereits in Healys ersten Andeutungen im August 1883 einen Bruch des „unwritten code of good breeding and good feeling“, den bislang alle befolgten hätten, weshalb jeder Ire mit „any sense of decency“ beschämt sein sollte.81 Der Kampagnenstil war auch bei den irischen Nationalisten nicht unumstritten. So kritisierte die irische Tageszeitung Freeman’s Journal die „improper language and personal attacks“ in den Parlamentsreden.82 Im Unterhaus verweigerte der Irlandminister George Trevelyan gegenüber Healy jede weitere Antwort zu seinen Anfragen über den Unterinspektor der irischen Polizeieinheit, bis er sich wegen seiner Angriffe gegen die Frau des Unter-Inspektors entschuldigt habe.83 Diese Begrenzungsversuche spornten die irischen Abgeordneten jedoch eher zu einer Ausweitung der Skandalisierung an. So verteidigte Healy in irischen Zeitungen die Veröffentlichungen über den „private character“ der englisch dominierten Bürokratie, da diese deren politische Stellung betreffen würde.84 Zugleich drohte er im United Ireland direkt: If the House of Commons wants to make rules to stop such questions as Mr. Healy’s, it is open to do it to devote its valuable time to the attempt, but it will not do so until the life and adventures and what is called ,private character‘ of various Crown employees in Ireland, from Corry Connellan, to Detective Director and County Inspector James Ellis French are fully laid bare to the universe.85 79 80 81 82 83 84 85 United Ireland 3. 11. 1883, 14. 6. 1884. Vgl. rückblickend Times 2. 8. 1884, S. 7; vgl. auch zu O’Briens Kampagne: Sally Warwick-Haller, William O’Brien and the Irish Land War, Dublin 1990, S. 71–73. Unerwähnt bleibt sie in: Joseph O’Brien, William O’Brien and the Course of Irish Politics 1881–1918, London 1976. Vgl. Hansard’s Parliamentary Debates 7. 7. 1884 u. 14. 7. 1884, Bd. 290, Sp. 213 und 908; Times 18. 8. 1883, S. 8 und 20. 8. 1883, S. 7. Vgl. die ausführlichen, mehrfachen Hinweise darauf in Times 18. 8. 1883, S. 6–9. Freeman’s Journal 20. 8. 1883, S. 4. Times 18. 8. 1883, S. 8. United Irland 25. 8. 1883, S. 5. Ebd., auch in: Times 5. 11. 1883, S. 10. Der Herausgeber des United Ireland, William O’Brien, schrieb in seinen Memoiren rechtfertigend, Healy habe diesen Artikel geschrieben und er selbst habe ihn bei der Redaktionsarbeit übersehen; William O’Brien, Evening Memoirs, Dublin und London 1920, S. 17. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Homosexualität und Irish Home Rule 63 Auch wenn dies nur als Anspielung formuliert war, bestand dank der eingeübten codierten Sprache über Homosexualität kein Zweifel, was diese Andeutungen über den „private character“ meinten. In den folgenden Monaten wiederholte er seine Drohungen und konkretisierte sie im United Ireland: Die Bewohner Sodoms seien eine respektable Gesellschaft im Vergleich zu einigen Halunken, die für Ihre Majestät im Dublin Castle Irland regierten. Der offizielle Leiter der Irlandpolitik, der Lord Lieutenant Earl Spencer, stehe auf Seite der Beschuldigten, weil er die Ermittlungen behindere, obwohl er Beweise für die „abomination“ habe.86 Der Unterschied zu früheren Homosexualitätsskandalen ist somit unverkennbar. Hier brachten Parlamentarier, die zugleich als Journalisten arbeiteten, den Vorwurf der Homosexualität gezielt in die Öffentlichkeit, um auf diese Weise davon völlig unabhängige politische Ziele zu erreichen. Ihre Zeitungsartikel und Parlamentsreden bezogen sich dabei wechselseitig aufeinander, um die öffentliche Wirkung zu verstärken. Sie zitierten im Parlament aus den Artikeln im Freeman’s Journal oder United Ireland mit der Frage, ob diese Vorwürfe zuträfen, und zitierten dann die Reden und Antworten im Parlament in der Presse. Durch dieses Wechselspiel gelang es ihnen, die Aufmerksamkeit der breiten nicht-irischen Medienöffentlichkeit zu erreichen.87 Gerade diese Verschränkung von Medien- und Parlamentskommunikation gab dem Skandal erst seine Dynamik. Mit ihren Angriffen gegen die englische Verwaltung konstruierten Healy und O’Brien das Bild des moralisch überlegenen Irlands, das von sexuell unmoralischen Besatzern beherrscht würde. In gewisser Weise stand dieses Bild in Verbindungen mit den aufkommenden kritischen Kolonialdiskursen, die ebenfalls die sexuelle Doppelmoral der von außen kommenden englischen Verwaltung attackierten.88 Dieses Narrativ versprach in Irland insbesondere durch die religiöse Aufladung des Konfliktes mit England Erfolg, weil sich die katholischen Iren gegenüber den anglikanischen Engländern als moralisch überlegen fühlten, da sie strengere moralische Maßstäbe anlegten. In der Rhetorik der irischen Nationalisten wurde dieses Bild der moralisch verkommenen englischen Besatzer auch nach dem Abflauen des Skandals immer wieder auf diesen Fall bezogen. „The Law the Irish people got was the law of George Bolton“, hieß es etwa in den Reden Healys.89 Die Iren durchbrachen mit diesen Anschuldigungen unverkennbar die bisherigen sprachlichen Konventionen, wie sie vor allem im Unterhaus, aber auch in der politischen Medienöffentlichkeit galten. Die Außenseiterstellung der Iren und ihrer Zeitungen erleichterte diese Grenzüberschreitung in der britischen 86 87 88 89 United Ireland 20. 10. 1883, 1. 3. 1884, 7. 3. 1884, 10. 5. 1884 und 24. 5. 1884. Vgl. für diesen Fall etwa: 28. 7. 1884, Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 291, Sp. 659. Hierzu ausführlich Kap. IV. Im Kontext von Kolonialismus und Homosexualität erwähnt den Fall knapp: Robert Aldrich, Colonialism and Homosexuality, London 2003, S. 185. Times 4. 9. 1884, S. 7. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 64 II. Homosexualität als Skandalon Öffentlichkeit. Biographisch kann man diese Verschiebung durch ihre Verbitterung über die Engländer nach den Verhaftungen erklären. Immerhin war selbst der führende irische Abgeordnete Healy wegen seiner politischen Schriften 1882 just zuvor vier Monate im Gefängnis gewesen. Nicht zuletzt deshalb richteten sich die irischen Vorwürfe vor allem gegen leitende Personen in Polizei und Justiz. So beschuldigten sie besonders den Dubliner Leiter der Kriminalpolizei, James Ellis French, und den königlichen Staatsanwalt, George Bolton, der bei dem Phoenix Park-Attentat die Ermittlungen führte. Ein mindestens ebenso entscheidender Grund, warum ausgerechnet die irischen Nationalisten die Sagbarkeitsgrenzen überschritten, war vermutlich, dass sie im Unterschied zu den meisten englischen Abgeordneten und Journalisten nicht über das elitäre englische Privatschul- und Universitätssystem sozialisiert worden waren, das selbst in politisch umkämpften Fragen bestimmte konsensuale Umgangsformen prädisponierte.90 Ähnlich wie die deutschen Sozialdemokraten hatten Politiker wie Healy vielmehr zuvor als Journalisten gearbeitet und übertrugen nun die dort eingeübte Kommunikationsform auf die parlamentarische Auseinandersetzung. Die breitere britische Medienöffentlichkeit griff die Anschuldigungen der Iren zunächst nicht auf, bis es zu offiziellen Reaktionen aus der Verwaltung kam. So deutete die Times erst Anfang November die Vorwürfe an, als der beschuldigte Polizei-Inspektor James Ellis French nach Paris geflohen war und seine Entlassung gemeldet wurde „under circumstances that are likely to create a profound sensation when they are revealed“.91 Deshalb prophezeite sie bereits heikle Fragen an die Regierung, wenn das Parlament wieder zusammen träte. Die Iren sorgten auch im folgenden Jahr auf unterschiedlichen Bühnen für die weitere Verbreitung ihrer Beschuldigungen, die gegenseitig die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkten und dem Skandal seine Wirkungsmacht gaben: im Gerichtssaal, im Unterhaus und in der Presse. Der Gerichtssaal hatte sicherlich die wichtigste Verstärkerfunktion. Im Herbst hatte O’Brien seine Andeutungen über die Homosexualität des Polizei-Inspektors French im United Ireland solange wiederholt, bis dieser notgedrungen wegen Verleumdung klagte, diesen Prozess aber durch seine zeitweilige Flucht und nervliche Zerrüttung hinaus zögerte. Die verschiedenen Verleumdungs- und Strafprozesse, zu denen es 1884 kam, sorgten mehrfach für eine wochenlange Berichterstattung, die ähnlich wie bei früheren Homosexualitätsskandalen erst genauere Details beschreibbar machten. Wie bereits die Schlagzeilen zeigten, bezeichneten nun fast alle Zeitungen den Fall explizit als „Skandal“: Der Daily Telegraph überschrieb seine Artikel regelmäßig mit „The Dublin Scandal Trial“, Reynolds’s Newspaper mit „The Horrible Dublin Scandal“, die Daily News und die Pall Mall Gazette mit 90 91 Bezeichnender Weise erwies sich Parnell, der in Cambridge studiert hatte, im Umgang mit den Engländern als besonders kompromissbereit. Zur Sozialisation der führenden englischen Journalisten in Oxbridge vgl.: Brown, Victorian News, S. 76, 210 f. Times 5. 11. 1883, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Homosexualität und Irish Home Rule 65 „The Dublin Scandals“.92 Der Ortsbezug verwies auf den Irlandkonflikt, verdeckte aber zugleich den eigentlichen Vorwurf. Auf diese Weise wurde jedoch das Dublin Castle, also der englisch dominierte Regierungs- und Verwaltungssitz, zu einem Synonym für Homosexualität. Das Vergehen selbst beschrieben die Zeitungen mit den eingeübten Umschreibungen, die auf die unglaubliche Schwere des „Verbrechens“ hinwiesen, ohne es zu direkt zu nennen. Sie sprachen, wie auch im Gerichtsraum üblich, über „the most abominable crime that could be attributed to a man“, „horrible offences“, „felonious practices“ oder „unnatural crimes“.93 Sprachlich gab es somit kaum eine größere Offenheit als im frühen 19. Jahrhundert. Auch die Assoziationen, mit denen die Vorwürfe spielten, erinnerten an ältere Semantiken. Die Verweise auf das Schloss, in dem die unmoralischen Vertreter der Krone in Dublin regieren würden, knüpften an Imaginationsräume aus Schauerromanen an, die eng mit der klassischen Lichtmetaphorik von Öffentlichkeit und Geheimnis verbunden waren. So sprach O’Brien im Unterhaus von einem „system under the walls of Dublin Castle“, das er an das Licht der Öffentlichkeit holen wolle.94 Indem die Kampagne dem Schloss sein Geheimnis zu nehmen vorgab, machte sie es jedoch erst geheimnisvoll. Nicht die neuen Massen- und Boulevardblätter, sondern Parlamentarier und ihre kleinen politischen Zeitungen hatten somit diesen „Sex-Skandal“ angestoßen. Selbst ein „Sensationsblatt“ wie die Pall Mall Gazette berichtete zwar regelmäßig, aber nur äußerst zurückhaltend und vage über die Enthüllungen. Der zu dieser Zeit gerade entstehende und oft hervorgehobene „New Journalism“ des Pall Mall Gazette Herausgebers W. T. Stead stieß hier offensichtlich durch seine puritanische Prägung auf eine Grenze des Schreibbaren. Sogar beim Urteil gegen den leitenden Beamten Cornell deutete die Pall Mall Gazette nicht einmal den Grund des Verleumdungsprozesses an und sprach in der Woche darauf nur von „charged with crime“.95 Vergleichbar knapp, wenn auch regelmäßiger, waren auch die Artikel der Reynolds’s Newspaper, die ebenfalls stets als Skandalblatt abgewertet wird.96 Besonders ausführlich berichteten dagegen die sogenannten Qualitätszeitungen, wie der Daily Telegraph und die Times. Ihre Berichte erfüllten bezeichnender Weise genau die Kriterien, die von der Mediengeschichtsschreibung oft für die frühen „Sensations“- und Boulevardblätter angenommen werden. So kündigte die Times ihren Lesern den ersten Prozess schon vorab als eine noch nie dagewesene Sensation an: „The case is the first of a series of sensational proceedings of an unprecedented character, and it has excited in92 93 94 95 96 Vgl. etwa: Daily Telegraph 3. 7. bis 8. 7. 1884; Reynolds’s Newspaper 20. 7. 1884, S. 2; Pall Mall Gazette 15. 7. 1884, S. 10; Daily News 31. 7. 1884, S. 3. Vgl. etwa Pall Mall Gazette 31. 7. 1884, S. 8; Daily News 31. 7. 1884, S. 3. 17. 6. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd Series, Bd. 291, Sp. 690. Pall Mall Gazette 8. 7. 1884, S. 7 und 15. 7. 1884, S. 10; vgl. auch die täglichen Berichte in: Pall Mall Gazette 1. bis 7. 7. 1884, S. 2. Reynolds’s Newspaper 6. 7. 1884, S. 8; 13. 7. 1884, S. 5; 20. 7. 1884, S. 2; 27. 7. 1884, S. 1; 3. 8. 1884, S. 3. Zur Charakterisierung von Reynolds’s vgl. Berridge, Popular Sunday Papers. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 66 II. Homosexualität als Skandalon tense interest, chiefly on account of the position of the parties and the enormity of the charges imputed to an official of the Government by an avowed and uncompromising foe.“97 Damit wird deutlich, dass wie bei den späteren Skandalen die Grenzen zwischen der Popular Press und Quality Press nur bedingt an der Berichterstattung über sogenannte Sensationsfälle auszumachen sind. Moralische, kommerzielle und politische Interessen sorgten vielmehr für vielfältige Überschneidungen. Besonders ausführlich waren erwartungsgemäß die Artikel der irischen Zeitungen. Auch sie betonten, dass sie nur ungern und gezwungener Maßen im Dienste der Wahrheit über dieses Thema berichten würden und alle Aussagen ausgespart hätten „which might be even of a character too vile to be printed.“98 Dies war nicht nur eine rituelle Selbstlegitimierung. Sie verwiesen auch auf auszufüllende Leerstellen im Text, die Imaginationsräume über noch sensationellere Enthüllungen über die Schuld eröffneten und mündlich über Prozesszuschauer eingeholt werden konnten. Die Prozesse zeigten, woher die Enthüllungsjournalisten ihre Informationen hatten. Sie beruhten charakteristischerweise zunächst nur auf zugetragenen Gerüchten aus Polizeikreisen. Erst als sich Verleumdungsklagen abzeichneten, beauftragte O’Brien einen Detektiv, der tatsächlich erfolgreich Zeugen ausfindig machte, die eine öffentliche Erhärtung seiner Anschuldigungen erlaubten.99 Durch diese Zeugenaussagen kamen bei den Prozessen weitere private Normbrüche an die Öffentlichkeit, die die britische Verwaltung zusätzlich diskreditierten. So beschuldigten mehrere Zeugen Gustavus Charles Cornwall, den Secretary of the General Post Office in Dublin Castle, sowohl bei seinen Kutschenfahrten durch den botanischen Garten als auch in seiner Wohnung homosexuell verkehrt zu haben. Andere wichtige Zeugen, die nach Frankreich flohen, bestätigten gerade durch ihre Abwesenheit den Verdacht. Und der beschuldigte Staatsanwalt Bolton musste im Verleumdungsprozess zumindest zugeben, dass er ein außereheliches Kind hatte und das Vermögen seiner Frau durch einen extravaganten Lebensstil verschleudert hatte. Obgleich die Gerichte dem irischen „Politiker-Journalisten“ O’Brien kritisch gegenüber standen und ihm vorhielten, bewusst falsche Beweise ermittelt zu haben, gewann er den Prozess gegen French und Cornwall und ging aus dem Prozess gegen Bolton trotz einer Strafe von 3 000 Pfund als moralischer Sieger heraus. Damit trug der Gerichtsprozess entscheidend dazu bei, eine wirkungsmächtige „Wahrheit“ über die englische Homosexualität zu ermitteln. Die große Wirkung der Prozesse zeigte sich nicht nur im Medienecho, sondern auch in der direkten Interaktion mit der „Encounter-Öffentlichkeit“ der alltäglichen Begegnungen. Nach den Urteilsverkündigungen wurde O’Brien in 97 98 99 Times 3. 7. 1884, S. 6. Freeman’s Journal 8. 7. 1884, S. 4. Nach O’Briens Erinnerungen erhielt O’Healy den Hinweis von einem District Inspector of Constabulary in Charleville, während der Detektiv dann die genauen Hinweise ausmachte; ders., Evening Memoirs, S. 18 u. 22. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Homosexualität und Irish Home Rule 67 Dublin gefeiert und unter Musik und Jubel durch die Straßen begleitet. Eine Spendensammlung für ihn erbrachte 7 610 Pfund und ersetzte seine Unkosten. Noch in seinen Memoiren ein halbes Jahrhundert später betonte Healy die außergewöhnlichen emotionalen Ausbrüche, die der Prozess in der irischen Bevölkerung ausgelöst habe.100 Insbesondere nationalistische irische Organisationen wie die National League priesen William O’Brien „for unearthing a terrible scandal.“101 Charakteristisch war zudem der Kommentar des Dubliner Freeman’s Journal, der aus dem Fall den generellen Schluss zog, dass die Herrschaft von autokratischen Systemen vor ihrem Niedergang zumeist „all forms of unnatural vice“ aufwies, wobei das antike Rom die implizite Vorlage für dieses Verfallsnarrativ gab.102 Aus der beschriebenen „Fäulnis“ der Herrscher wurde damit die Utopie einer zukünftigen moralisch integereren Freiheit abgeleitet. Neben dieser Agitation vor Gericht hielten die irischen Abgeordneten die Vorwürfe mit zahlreichen Anfragen im Unterhaus weiter in der Öffentlichkeit. Dabei lassen sich verschiedene Strategien der Skandalisierung ausmachen. Die Iren betonten eher defensiv, nur notgedrungen das Thema aufzubringen, da auf ihre Andeutungen hin keine Untersuchungen erfolgt wären. Dies ergab sich aus der berechtigten Angst vor dem Vorwurf, der Tabubruch könne auf sie selbst zurückfallen. Healy und O’Brien richteten ihre parlamentarischen Anklagen nicht nur gegen die Homosexualität der Dubliner Beamten, sondern vor allem gegen die britische Regierung und die Dubliner Verwaltungsspitze, die den Fall vertuscht hätten und somit in Verbindung mit den Homosexuellen stünden: „[...] the Government practically invited those witnesses to fly from the country and escape the unpleasant duties which were attached to them.“103 Dadurch verlagerte sich der öffentliche Fokus von der illegitimen Sexualität hin zur Anprangerung einer ungerechten Justiz und korrupten Regierung. Indem die Iren die scharfen Verfolgungen nach den Phoenix Park-Morden mit der ausbleibenden Bestrafung der Beamten verglichen, setzten sie die Homosexuellen quasi mit Mördern gleich und stilisierten sie zu Kapitalverbrechern. Die Einzelfälle verallgemeinerten sie durch Ausdrücke wie „system“ auf die gesamte irische Administration, wogegen sich Premierminister Gladstone besonders nachdrücklich wandte („a more frightful charge never was launched by one man against a whole body of men“).104 Erwartungsgemäß scheiterte schließlich der Versuch 100 101 102 103 104 „The trial exited feelings higher than anything since the ,Yelverton‘ marriage case in the ,sixties‘“; T.M. Healy, Letters and Leaders of My Day, London o. D. (1928), S. 195. Zur Reaktion in den Straßen vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 13. 7. 1884, S. 5; Times 10. 7. 1884, S. 9. Times 24. 7. 1886, S. 10. Freeman’s Journal 8. 7. 1884, S. 4. So O’Briens Anklage im Unterhaus, die auch in die unionistischen Medien ging; vgl. Times 22. 7. 1884, S. 6; vgl. die ausführliche Debatte dazu im Unterhaus: 21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd Series, Bd. 291, Sp. 1802–1878. 21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3th Series, Bd. 290, Sp. 1859; vgl. hierzu auch Gladstones Tagebucheintrag 23. 7. 1884: Henry Colin Matthew (Hrsg.), The Gladstone Diaries with Cabinet Minutes and Prime-Ministerial Correspondence, Bd. 11: July 1883–December 1886, Oxford 1990, S. 177. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 68 II. Homosexualität als Skandalon der Irish Nationalist Party, einen Untersuchungsausschuss zu dem Fall einzusetzen. Durch ein Select Committee mit entsprechenden Befragungen und Berichten hätten die Iren das Thema sicherlich gut ein Jahr länger in den Medien halten können, was die Liberalen und Konservativen nicht zuletzt deshalb gemeinsam ablehnten.105 Auch die katholische Kirche griff als maßgebliche öffentliche Deutungsinstanz Irlands den Fall auf. Ein Hirtenbrief, der in allen katholischen Kirchen verlesen wurde, erinnerte mahnend an die Gefahren, die der Fall gezeigt habe. Er benannte die Homosexualität zwar nicht explizit, wohl aber metaphorisch als tödliche Seuche, die schlimmer sei als die grassierende Cholera.106 Zugleich wandte sich der Hirtenbrief nachdrücklich gegen jede Veröffentlichung derartiger Enthüllungen und Prozessberichte und forderte ein Bündnis zum Boykott von Zeitungen mit derartig „schmutzigen“ Artikeln. Anderenfalls würde der Kardinal die Familien auffordern, Zeitungen mit derartigen Berichten nicht mehr zu kaufen. Da die irischen Nationalisten von ihrem Selbstverständnis her in enger Verbindung mit den Kirchen agierten, dürfte dies derartige Kampagnen seit Herbst 1884 mit eingedämmt haben. Der Skandal hatte vielfältige Folgen. Innerhalb der englischen Regierung und der Dubliner Verwaltungsspitze führte er zu einer massiven Verunsicherung und zu Rücktrittsangeboten. Wie der Repräsentant der Krone in Irland, der Lord Lieutenant of Ireland Earl Spencer, Premierminister Gladstone brieflich mitteilte, fühlte sich die Verwaltungsspitze nervlich zerrüttet, da jeder Engländer in Dublin bedroht sei, „[...] as recent events prove, by a terrible and ever-present risk to his character and reputation.“107 Der Versuch des IrlandMinisters, den formal rehabilitierten Staatsanwalt George Bolton wieder in sein Amt zu setzen, führte zu weiteren Vorwürfen der Iren und zu einer breiteren Empörung bei den Parlamentariern, weil der Skandal zumindest Boltons Verschuldung auf Kosten des Vermögens seiner Frau öffentlich gemacht hatte.108 Da sich die Aufmerksamkeit der Polizei und der Öffentlichkeit nun auf Homosexuelle konzentrierte, kam es zu zahlreichen weiteren Verfolgungen und Anklagen. Gerüchte kamen auf, dass auch Geistliche und Soldaten betroffen seien.109 Ebenso scheint es in der folgenden Zeit verstärkt zu Erpressungsversu105 106 107 108 109 Dies scheiterte klar mit 24 zu 143 Stimmen. 21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd Series, Bd. 290, Sp. 1857. „Permit me to warn you of the moral pestilence with which we are threatened and which, if not averted, will work in the souls of the young a death more terrible than cholera, in its worst form, could work in our moral bodies.“ Times 4. 8. 1884, S. 10. Spencer an Gladstone 7. 3. 1884 u. 26. 8. 1884, in: BL Gladstone Mss. Add., 44331: 77–81, 179– 86. Vgl. auch Trevelyan an Gladstone 26. 7. 1884, in ebd. 44335: 168 f. Vgl. die regelmäßigen Briefe Campbell-Bannermanns an Earl Spencer hierzu, bes.: 30. 10. 1884, 3. 11. 1884, 4. 11. 1884, 5. 11. 1884, 7. 1. 1884 in: BL Althorp Papers Add. Mss. 76867, sowie in: BL Campbell-Bannerman Papers Add. Mss. 41228. Reynolds’s Newspaper 3. 8. 1884, S. 3 und 27. 7. 1884, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Homosexualität und Irish Home Rule 69 chen gekommen zu sein.110 Dagegen interessierte sich die Medienöffentlichkeit kaum noch für die Verurteilung der im Dublin Castle-Skandal Involvierten, da dies Ende 1884 durch die lange Dauer des Skandals ihren Neuigkeitswert verloren hatte.111 Das ermüdende Interesse machte deutlich, dass eben nicht das Schicksal einzelner Homosexueller im Vordergrund stand, sondern die englische Reputation. Der Skandal verfestigte dennoch moralische Normen und trug mit zu einer Neuformulierung der Homosexualitätsgesetze bei. Allerdings waren es weniger die irischen Politiker, die sich für Änderungen einsetzten. Dies unterstrich erneut, dass es ihnen eben nicht um die Homosexualitätsfrage, sondern um ihre Unabhängigkeit ging. Die entsprechende Gesetzesreform forcierte vielmehr der Journalist W.T. Stead von der Pall Mall Gazette, der unmittelbar nach dem Skandal Unterlagen über verschiedene Homosexualitätsfälle sammelte und als potentielles Druckmittel archivierte, wenn auch nicht veröffentlichte. Jedoch übergab er sie dem Journalisten und radikalen Abgeordneten Henry Labouchere als Argumentationshilfe für eine Gesetzesnovelle, die dieser tatsächlich erfolgreich einbrachte.112 Begründet wurde die Notwendigkeit dieses Gesetzes mit der nicht zuletzt durch den Dubliner Skandal etablierten Vorstellung, dass die Verbreitung der Homosexualität zunähme. Der Paragraph minderte zwar das Strafmaß auf bis zu zwei Jahre Haft mit harter Arbeit, spezifizierte aber die Ausdehnung des Gesetzes auf „any act of gross indecency with another male Person“ (§ 11).113 Bemerkenswert war vor allem, dass nach dem Skandal Homosexualität in Großbritannien öffentlich so präsent war, dass sie nun selbst in einem Gesetzestext recht explizit umschrieben werden konnte. Der Dublin Castle-Skandal hatte so von der Peripherie aus dazu beigetragen, das moralische Selbstverständnis Großbritanniens zu erschüttern. Gerade weil sich die neu formierenden Irischen Nationalisten nicht an die Regeln der britischen Öffentlichkeit hielten, konnte ihnen dies gelingen. Auf diese Weise machte der Skandal Verhaltensweisen öffentlich, welche die bürgerliche Identität bedrohten, die sich im hohen Maße aus ihrem moralischen Selbstverständnis speiste. Denn er zeigte nicht nur eine Doppelmoral englischer Eliten, sondern auch intime Beziehungen jenseits der Klassengrenzen, da wohlhabende Angehörige der Administration mit ärmeren Iren verkehrt hatten. Gerade die daraus entstehende Frage, ob Homosexuelle vornehmlich der britischen Oberschicht angehören würden und Unterschichten mit ihrem Vermögen sexuell korrumpierten, prägte auch die folgenden Homosexualitätsskandale, die sich rasch anschlossen. 110 111 112 113 So zumindest: Cocks, Nameless Offence, 2003, S. 142. Vgl. Times 9. 8. 1884, 30. 10. 1884 und 22. 12. 1884, S. 6. So zumindest rückblickend Laboucheres Darstellung in: Hansard’s Parliamentary Debates 28. 2. 1890, Sp. 1534 f. Cocks, Nameless Offence, S. 17. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 70 II. Homosexualität als Skandalon 4. WEST END SCANDALS Der Dublin Castle-Skandal war nur der Auftakt zu einer Reihe von britischen Skandalen, die über die Thematisierung von Homosexualität grundsätzliche Konflikte austrugen. Damit zeigte sich eine typische Dynamik: Nachdem ein politischer Skandal die Sagbarkeitsgrenzen in einem Feld verschoben hatte, folgten weitere zum gleichen Thema. Der größte Skandal kam bereits 1889/90 auf, als sich bekannte Adlige des Vorwurfes erwehren mussten, regelmäßig Besucher eines Londoner Homosexuellenbordells gewesen zu sein. Zu einem politischen Skandal entwickelte sich dieser Normbruch nicht nur durch die öffentlichen Deutungen des Falles, sondern auch, weil die Regierung mehrfach versuchte, die Veröffentlichung der Vorwürfe und gerichtlichen Ermittlungen zu unterbinden. Der Skandal sollte als „Cleveland-Street-Affair“ in die Geschichte eingehen, auch wenn ihn die zeitgenössischen Zeitungen, besonders die linksliberalen, als „West End Scandals“ bezeichneten. Wie beim Dublin Castle-Skandal entlehnte er somit seinen Namen aus einer Ortsbezeichnung, da der Normbruch an sich nicht plakativ benennbar war. Ähnlich wie bei den irischen Skandalen erklärt sich das Aufkommen dieser Vorwürfe zunächst aus einer grundsätzlichen Verschiebung der politischen Konfliktstrukturen. Die Auseinandersetzung um die Home Rule hatte 1886 das Ende einer langen liberalen Ära in Großbritannien eingeleitet. Auch wenn die Liberalen 1892 noch einmal kurz in die Downing Street einzogen, regierten nun fast zwei Jahrzehnte die Konservativen. Sowohl die Abspaltung der Unionisten von den Liberalen als auch die Ausdehnung des Wahlrechts führten dabei in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre zu einer zunehmenden Politisierung, Polarisierung und entsprechend harten Debatten. Bei den Liberalen profilierte sich besonders ihr linker Flügel, die Radicals, zunehmend durch ihre gesellschaftskritische Agitation in Politik und Öffentlichkeit, die nicht zuletzt die Etablierung einer Arbeiterpartei auffangen sollte. Vor allem der vielleicht aktivste Radikalliberale des späten 19. Jahrhunderts, der Abgeordnete und Journalist Henry Labouchere, trug bei diesem Homosexualitätsskandal maßgeblich dazu bei, die konservative Regierung moralisch zu diskreditieren. In gewisser Weise bedienten sich Labouchere und andere radikale Journalisten eines ähnlichen Kampagnenstils wie die Iren und knüpften an deren Agitation an. Auch den radikalliberalen Engländern ging es weniger um die Homosexualität einiger Adliger als vielmehr um die Aufdeckung sozialer und gesetzlicher Ungerechtigkeiten sowie um die Bloßstellung der Aristokratie und der konservativen Regierung. Insbesondere dem konservativen Premierminister Lord Salisbury, der selbst aus einer alten Adelsfamilie kam, hielten diese Radicals den Schutz seiner Standesgenossen vor. Im Cleveland Street-Skandal erfuhr die Öffentlichkeit, dass es mitten in London Bordelle für Homosexuelle gab, die selbst hohe Adlige aus dem Umfeld des Königshauses regelmäßig besuchten. Die Polizei deckte dies durch einen Zufall auf. Ein Postjunge, bei dem die Polizei Anfang Juli 1889 eine größere Geldsum- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 71 me fand, sagte aus, sie stamme nicht aus Diebstählen, sondern aus „payment for going to bed with gentlemen.“114 Als die Polizei das von ihm angegebene Bordell in der Londoner Cleveland Street aufsuchte, bei dem sich noch andere Jungen von der nahe gelegenen Post prostituierten, war es dank einer Vorwarnung bereits leer geräumt. Die polizeilichen Observationen an dem Haus ergaben jedoch, dass gut gekleidete Männer, aber auch Soldaten, alleine oder in Begleitung von Jungen dort anklopften.115 Unter anderem beobachteten sie, wie Lord Arthur Somerset vergeblich auf Einlass wartete, den auch die verhafteten Jungen als regelmäßigen Besucher identifizierten. Der 38-jährige Somerset diente am Königshof als Superintendent of the Stables and Extra Equerry des Prince of Wales. Darüber hinaus war er seit Kindheit eng mit der Königsfamilie verbunden und ein enger Freund des Prince of Wales. Ebenso war Somerset mit dem Sohn des Prinzen, Prince Eddy, befreundet, dessen Junggesellenleben seit längerem für Gerüchte sorgte, bis hin zu der bis heute kursierenden Annahme, er sei für die Jack the Ripper-Morde verantwortlich.116 Mit Somerset drohte somit das Königshaus in den Skandal um das Homosexuellenbordell verwickelt zu werden. Die Fallhöhe und die mediale Aufmerksamkeit für einen großen Skandal waren damit gesetzt. Wie reagierten die Behörden und die Regierung auf den drohenden Skandal? Bemerkenswerterweise setzte sofort ein riskanter Aktionismus ein, um ihn zu verhindern. Noch am gleichen Tag, als Somerset identifiziert wurde, nahm der Innenminister die Ermittlungen der Polizei aus der Hand und übertrug sie dem ihm direkt unterstellten Director of Public Prosecutions, Augustus Stephenson.117 Zwischen dem Innenministerium, den Ermittlungsbehörden und der Polizei setzte nun ein immenser Briefwechsel über die Frage ein, wie man die Publizität des Falles verhindern könne. Ihre Furcht vor Indiskretionen war so groß, dass Lord Somerset selbst in der internen Korrespondenz der politischen Führung nicht namentlich erwähnt wurde, sondern nur mit Decknamen oder Kürzeln. Mal sprachen die Briefe von „certain persons“, machten eine Leerstelle mit Strich („___“), kürzten ihn „L.A.S.“ ab oder schrieben über Mr. Brown, wie 114 115 116 117 Bericht Metropolitan Police 18. 7. 1889, in: TNA, HO 144/477/X24427. Als Überblick zum Ereignisablauf vgl.: Chronological Summary, in: TNA, DPP 1/95/5. Während der grundsätzliche Ereignisablauf des Cleveland-Street-Falles durch zwei ältere Darstellungen gut bekannt ist und hier nur um einzelne Punkte ergänzt wird, fand bislang die Interaktion zwischen den Medienberichten und Ermittlungen wenig Beachtung, die hier deshalb ganz im Vordergrund steht; vgl. H. Montgomery Hyde, The Cleveland Street Scandal, London 1976; Lewis Chester et al., The Cleveland Street Affair, London 1976; ähnlich erzählerisch, mit einigen Ergänzungen: Kaplan, Sodom, S. 186–223, sowie ders., Did „My Lord Gomorrah“ Smile? Homosexuality, Class and Prostitution in the Cleveland Street Affair, in: Nancy Erber und George Robb (Hrsg.), Disorder in the Court. Trials and Sexual Conflicts at the Turn of the Century, New York 1999, S. 78–99. Bericht Metropolitan Police 18. 7. 1889, in: TNA, HO 144/477/X24427. Vgl. zu letzterem, auch mit Blick auf den Cleveland Street Fall: Theo Aronson, Prince Eddy and the Homosexual Underworld, London 1994. Home Office an DPP 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:13. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 72 II. Homosexualität als Skandalon Somerset sich gegenüber den Prostituierten genannt hatte.118 Damit Somersets Name beim Prozess gegen die Jungen im September 1889 nicht fiel, wies der Kronanwalt (der Attorney General) vorher das Gericht an, die Nennung von Namen zu verhindern. Allenfalls nach den von den Jungen benutzten Decknamen und andere Identifikationsmerkmalen sei zu fragen. Tatsächlich konnte gleich nach dem Prozess intern vermeldet werden: „no name disclosed“.119 Ebenso unsagbar wie das Vergehen selbst blieb die mutmaßliche Benennung der adligen Verdächtigen. Diese Verschleierungstaktik von Regierung und Justiz konnte jedoch nicht verhindern, dass vor allem die linksliberale Presse den Fall aufgriff. Sie nannten zwar nicht explizit die Namen von Lord Somerset und anderen Adligen, spielten aber mit unverkennbar drohenden Andeutungen. Die Pall Mall Gazette fragte, warum die beschuldigten „two noble lords and other notable persons in society“ nicht bestraft würden.120 Die Zeitschrift Men of the World druckte direkt neben einem Bericht über einen „gross scandal, the like of which has not been heard in England for many years“, bei dem bekannte Männer aus höchsten Kreisen involviert seien, die Meldung, Lord Somerset habe auf unbestimmte Zeit England verlassen.121 Das Blatt konnte so spielerisch einen Zusammenhang andeuten, ohne sich der Gefahr einer Verleumdungsklage auszusetzen. Die radikalliberalen Printmedien entfalteten aus den Andeutungen eine politische Kampagne, die Moralismus und weltanschauliche Auseinandersetzung verband. Das kleine Blatt North London Press berichtete unter der Überschrift „Our old Nobility / Charges of infamous conduct against Peers“ zunächst über den Schwiegerbruder des Premierministers Lord Salisbury, der ein 10-jähriges Mädchen unsittlich berührt hätte, aber dank seiner Verwandtschaft und der Klassenjustiz nicht verfolgt worden sei, bis die Zeitung Scottish Leader darüber berichtete. Als Beleg für die generelle Verkommenheit des Adels und der politischen Führung schloss ein Bericht über den Cleveland Street-Prozess an. Um seine Macht zu demonstrieren, aber wohl auch um Prozesse zu vermeiden, spielte das Blatt zunächst nur drohend auf die Beschuldigten an: „The heir of a duke, the younger son of another duke and an officer holding command in a southern district“ seien unter den Angeklagten. „The names of these men are in our possession and we are prepared to produce them if necessary.“122 Der Artikel beschuldigte dabei Polizei und Behören, den Fall bewusst vertuscht zu haben und neben den Adligen auch dem Bordellbesitzer die Flucht ermöglicht zu haben, während einfache Leute dafür lebenslänglich im Gefängnis säßen. Unter der Überschrift „Horrible Charges against peers“ zirkulierte der Artikel fast 118 119 120 121 122 Vgl. bes. die Briefe in TNA, DPP 1/95/1:50, 78, 218 u. DPP 1/95/3:13. Richard Webster/Attorney General an Stephenson/DDP 29. 8. 1889 und 31. 8. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:63 und 78; an Webster/AG in: TNA, DPP 1/95/1:100. Pall Mall Gazette 12. 9. 1889, S. 2. Men of the World 14. 9. 1889. North London Press 28. 9. 1889. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 73 identisch am nächsten Tag in dem radikalen Wochenblatt Reynolds’s Newspaper, das seit den 1860er Jahren immerhin eine Auflage von angeblich rund 300 000 hatte und im höheren Maße auch Unterschichten ansprach.123 Die Erstnennung in einem kleinen Blatt legitimierte quasi als Eisbrecher den massenwirksamen Bericht. Die schnelle Übernahme spricht dabei für eine koordinierte Aktion zwischen den Zeitungen. Diese Presseberichte führten zu unterschiedlichen Reaktionen in den Behörden. Die mittlere Ebene von Justiz und Polizei strebte daraufhin eine öffentliche Untersuchung an. Schon die ersten Andeutungen in der Pall Mall Gazette sorgten intern für Aufregung.124 Auf die Artikel in der Reynolds’s Newpaper, die die Inaktivität der Polizei anprangerten, reagierte die Polizeiführung mit Rechtfertigungen gegenüber dem Staatsanwalt, dass die Untätigkeit nicht an ihnen liege. Da die Zeitungsartikel offensichtlich das Ehrgefühl der Polizei verletzten, verlangten sie eine genauere Klärung der Verantwortung und Zuständigkeit.125 Ebenso drängte der Oberstaatsanwalt direkt nach dem Artikel in der Pall Mall Gazette darauf, gegen Somerset vorzugehen, da er sich nicht Untätigkeit und Klassenjustiz vorwerfen lassen wollte. Er leitete die Beschwerden der Polizei an den Innenminister weiter und betonte auch gegenüber dem Attorney General die erdrückenden strafrechtlichen Beweise gegen Somerset: Es gäbe keine Zweifel „that LAS was a frequent visitor at 19 Cleveland Street for immoral purpose“ (H.i.O.). Allerdings könne er wegen der Weisungen des Innenministers nicht handeln. Dabei stellte er sich auf die Seite der jungen Prostituierten. Es sei Pflicht des Gesetzes, die „unfortunate boys“ gegen die „unnatural lust of fullgrown men“ zu schützen.126 Somit schloss er sich dem Perspektivwechsel der liberalen Zeitungen an, welche die jungen Prostituierten als Opfer reicher Freier umdeuteten, und nicht als moralisch verdorbene Verführer. Diese Umdeutung junger Prostituierter war bereits in den 1880er Jahren durch die Kampagnen von Steads Pall Mall Gazette eingeleitet worden, der die Verbreitung von Kinderprostitution in London mit emotionalisierenden Beispielen spektakulär in die Zeitungen brachte.127 Bemerkenswerterweise übertrug dies nun selbst die Justiz auf die homosexuell anschaffenden Jungen. Es ist bezeichnend für die britische Regierung, dass sie weiter die als homosexuell Beschuldigten Bordellbesucher deckte. Sowohl Premierminister Salisbury 123 124 125 126 127 Reynolds’s Newspaper 29. 9. 1889. Vgl. zu dem Blatt selbst: Anne Humpherys, G.W.M. Reynolds: Popular Literature and Popular Politics, in: Wiener (Hrsg.), Innovators, S. 3–21; Berridge, Popular Sunday Papers, S. 208. An Stephenson 13. 9. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 133. Monro an DPP 1. 10. 1889 u. an Attorney General, in: TNA, DPP 1/95/1: 218 u. 221; Monro an Solicitor to the Treasury 5. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 225; an DPP 21. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 296. Stephenson an AG 15. 9. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 146–152; vgl. auch seine Beschwerde: DPP an Lushington/Home Office 17. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/5: 157. Hierzu ausführlich Kap. III. 1. Vgl. zur Etablierung des Narrativs bereits: Walkowitz, City, S. 81–120. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 74 II. Homosexualität als Skandalon als auch Innenminister Matthews bemühten sich weiterhin mit allen Mitteln, einen Skandal zu verhindern und unterbanden konsequent die Ermittlungen von Justiz und Polizei. Schon bei den ersten Polizeimeldungen wiesen sie den Oberstaatsanwalt an, bis zu ihrer Absprache abzuwarten. Auch auf die Mahnung des Kronanwaltes, an Somersets Schuld bestehe kein Zweifel, legte Premierminister Salisbury ihm Zurückhaltung auf.128 Dann einigten sich Premierminister und Innenminister, zunächst nur gegen den Bordellbesitzer Hammond vorzugehen.129 Da dieser aber bereits nach Frankreich geflohen war, beschloss Salisbury bereits im Juli und August 1889 zwei Mal, von der französischen Regierung keine Auslieferung zu beantragen.130 Da Hammond zugleich der wichtigste Zeuge und Angeklagte war, erschien diese Entscheidung wie eine Tolerierung der Flucht durch die Regierung, um Aussagen über seine Kunden zu verhindern. Zudem vermied die Regierung so gegenüber den französischen Behörden das Eingeständnis, dass es auch in Großbritannien Homosexualität gab. Stattdessen schickte sie einen Inspektor von Scotland Yard zur Überwachung nach Paris. Aber auch hier erfolgte die Anweisung des Innenministeriums an den Oberstaatsanwalt, von dessen vertraulichen Berichten möglichst keinen Gebrauch zu machen.131 Ebenso ließen sie Somerset fliehen, der nach Deutschland reiste und hier völlig resignierte, als er über seinen Fall in der Pall Mall Gazette las.132 Dass diese Flucht durchaus dauerhaft sein konnte und sollte, deutete auch der Kronanwalt dem Premierminister an.133 Als Polizei und Justiz der Regierung berichteten, Somerset sei wegen eines Todesfalles wieder nach England zurückgekommen und könne nun verhaftet werden, lehnte der Innenminister dies mit dem Argument ab, es lägen nicht genügend Beweise vor.134 Die somit blockierte Polizei beschwerte sich intern frühzeitig, dies sei eine „conspiracy on the amount of certain persons to defeat the end of justice“135. Dagegen sah der für die Justiz zuständige Lord Chancellor eine weitere Verfolgung als „injury for public morals“, weshalb er davon absehen ließ.136 Gerechtigkeit vor 128 129 130 131 132 133 134 135 136 Dies wird deutlich aus: Webster an Salisbury 18. 9. 1889, in: NL Salisbury Hatfield House. Lister/Foreign Office an Matthews 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:13; Home Office an DPP 10. 8. u. 12. 8. 1889, in: ebd. 1:20 u. 22. „[...] Salisbury having decided that it is impossible to move the French Government in the question of the suggested surrender or expulsion of Hammond from France.“ Lushington/ Home Office an DDP 10. 8. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:40. Ebenso: [...] his lordship does not consider this to be a case in which any official application could justifiably be made to the French Government for assistance in surrendering the fugitive to this country.“ Lister/Foreign Office an Matthews/Home Office 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1. Home Secretary an Stephenson/DPP 12. 8. 1889, in: TNA DPP 1/95/1. „No one can describe my horror, read the [...] Pall Mall last night in the train.“ Somerset an Brett 14. 9. 1889, in: Churchill Archives Centre/Cambridge (CAC) ESHR Papers 12–3. Somerset schrieb Brett während seiner Flucht nahezu täglich. „I do not think the person in question will face the enquiry.“ Webster an Salisbury 18. 9. 1889, in: NL Salisbury, Salisbury Hatfield House. Vgl. die zahlreichen Anfragen von 5. bis 14. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 245–270. an DPP 21. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 296. Lord Halsbury o. D.in: TNA, DPP 1/95/3: 23. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 75 Gericht und die Bewahrung adliger Reputation standen damit gegeneinander. Insgesamt ging die konservative Regierung somit bereits in dieser Phase ein bemerkenswertes Risiko ein, um durch die Blockade von Polizei und Justiz einen Skandal zu verhindern. Zudem starteten vielfältige Bemühungen, die Königsfamilie direkt zu schützen. Damit weder der Prince of Wales noch sein Sohn und potentieller Nachfolger Prinz Albert Victor („Prinz Eddy“) in die folgenden Prozesse eingezogen werden konnten, blieben beide acht Monate im Ausland bei einer ausführlichen Indien-Tour. Dennoch machten sich Somersets Vertrauter Reginald Brett und Somersets Anwalt Newton vor dem Prozess Gedanken, wie man die Unschuld von Prinz Eddy („the person in India“) im Zweifelsfall vor Gericht beweisen könne.137 Denn innerhalb des Adels kam rasch das Gerücht auf, Lord Somerset habe verbreitet, dass er unschuldig sei und nur zum Schutz von Prinz Eddy geflohen sei, was Vertraute des Königs mit Zurückweisungen verfolgten.138 Zwei Vertraute des Königshauses fragten zudem frühzeitig bei der Polizei nach dem Ermittlungsstand und setzten sich bei ihr zunächst für Somerset ein.139 Ebenso trafen sie sich mit Premierminister Salisbury, um genaueres über die Verfolgung von Somerset zu erfahren, woraufhin Somerset die Flucht ergriff.140 Der Haftbefehl gegen Somerset wurde dann erst nach seiner Flucht und seiner ehrenhaften Entlassung aus der Armee ausgestellt, was eine klare Aufforderung an ihn war, für den Verzicht auf den Prozess dauerhaft im Ausland zu bleiben. Abermals war das Exil somit die eigentliche Strafe, die einen Skandal vermeiden sollte. An der Verhinderung eines Prozesses arbeitete auch Somersets Anwalt Newton, der den jungen Prostituierten und dem Bordellbesitzer Geld für ihre Flucht gab. Entsprechende Finanztransfers und Anweisungen wurden dabei über den Vertrauten Somersets und des Königshauses, Reginald Brett (der spätere Viscount Esher) abgewickelt.141 Trotz des rechtsstaatlichen englischen Regierungssystems wurden somit alle möglichen rechtlichen Schritte gezielt verhindert, um einen Skandal zu vermeiden. Der Leiter der Ermittlungen wehrte sich dagegen frühzeitig mit dem Argument, dass es zwar wichtig sei, den Skandal zu verhindern, es aber einen nur viel größeren Skandal geben würde, wenn die Vertuschung herauskomme.142 Dennoch fügte er sich unter Protest den politischen Weisungen der Regierungsspitze. 137 138 139 140 141 142 Newton an Brett 13. 12. 1889, in: CAC ESHR Papers 12–3. Vgl. die zwei anonymen Schreiben an Brett, o. D., in: Churchill Archives/ Cambridge ESHR Papers 12–3; Probyn an Waterford 29. 12. 1889, in: ebd. Cuffe an Lord Chancellor 16. 10. 1889 u. 18. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 283 ff. Somerset an Brett 17. 10. 1889 (5 pm); vgl. auch 16. 10. und 17. 10. 1889 (morgens), in: CAC ESHR Papers 12–3. Vgl. die Korrespondenz bes. ab 9. 9. 1889 in: CAC ESHR Papers 12–3. Obgleich eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Brett und Somerset vorliegt, ging kein einziger dieser Briefe in die Briefedition von Brett (später Viscount Esher) ein, in: Maurice V. Brett (Hrsg.), Journal and Letters of Reginald Viscount Esher, Bd. 1: 1870–1903, London 1934. Stephenson an Home Secretary 31. 8. 1889 in: TNA, DPP 1/95/1:86. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 76 II. Homosexualität als Skandalon Tatsächlich entwickelte sich gerade aus diesen Vertuschungsversuchen der Regierung ein weiterer „sekundärer Skandal“, der sich um das unaufrichtige Verhalten der politischen Führung im eigentlichen Skandalfall drehte. In den Londoner Clubs war Somersets Flucht schnell bekannt. Nachdem die Journalisten dies zunächst nur mit Andeutungen aufgegriffen hatten, gab der radikale Abgeordnete Henry Labouchere in seiner Wochenzeitung The Truth den entscheidenden Anstoß. Laboucheres Blatt, das er seit 1877 betrieb, hatte zwar nur eine mittelgroße Auflage von rund 30 000 Exemplaren, zog aber seine Bedeutung vor allem aus den gut informierten kritischen Enthüllungen, die es regelmäßig im Stile des New Journalism publizierte.143 In gewisser Weise entsprach es dem United Ireland, das im vorherigen Dublin Castle-Skandal ebenfalls aus seiner politischen Außenseiterrolle Sagbarkeitsgrenzen durchbrochen hatte. Labouchere veröffentlichte in seiner Zeitschrift den Vorwurf, der Innenminister blockiere die Ermittlungen in dem Skandal, toleriere die Flucht von Beteiligten und habe sie durch Warnungen sogar gefördert. Der Regierung warf er deshalb vor, ein „Government of the classes“ zu sein. Ohne die Namen von Somerset oder anderen zu nennen, drohte er dem Innenminister: „I warn Mr. Matthews that if he does not take action in this matter there will be a heavy reckoning when Parliament meets.“144 In den folgenden Ausgaben konkretisierte er seine Drohung: Er habe mit verschiedenen Abgeordneten gesprochen und werde auf eine Untersuchung bestehen, wenn die Regierung nicht ihr Handeln offen lege.145 Wie beim Dublin Castle-Skandal brachte somit eben nicht ein politisch unabhängiges Boulevardblatt die entscheidenden Vorwürfe auf, sondern journalitisch ambitionierte Politiker, die für kleine politische Blätter schrieben, die ihren Kurs vertraten. Die parlamentarische Kritik und Untersuchung wies damit erneut ein symbiotisches Verhältnis zur medialen Agitation auf. Und abermals begann der Skandal nicht mit einer expliziten Aufdeckung eines Normbruches, etwa in einer großen Schlagzeile, sondern mit einer erpresserischen Andeutung. Laboucheres Anklagen förderten weitere kritische Berichte in der liberalen Presse. Die Pall Mall Gazette schloss sich direkt Laboucheres Warnung an den Innenminister an und mahnte, die Namen der Beteiligten seien „common talk“ in jedem Club.146 Dennoch nannte auch das vermeintliche Sensationsblatt Somersets Namen nicht. Erst die kleine radikale North London Press druckte sie am Tage darauf unter der Überschrift „The West-End Scandal: Names of some of the Distinguished Criminals who escaped“.147 Auch in den nächsten Tagen schrieb ihr Herausgeber Ernest Parke weitere Artikel zu dem Fall, die sein 143 144 145 146 147 Truth 14. 11. 1889. Eine plausible Charakterisierung des Blattes als Vorläufer des New Journalism gibt: Gary Weber, Henry Labouchere, Truth and the New Journalism of Late Victorian Britain, in: Victorian Periodicals Review, 26 (1993), S. 36–43; vgl. auch R. J. Hind, Henry Labouchere and the Empire 1880–1905, London 1972, S. 3. Truth 14. 11. 1889. Truth 28. 11. 1889 und 12. 12. 1889. Pall Mall Gazette 15. 11. 1889 und 20. 11. 1889. North London Press 16. 11. 1889. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 77 Wissen offensichtlich aus Polizeiquellen und Regierungskreisen speiste. Anscheinend hatte die Polizei, gerade weil sie nicht weiter ermitteln durfte, dem Journalisten vertrauliche Hinweise gegeben. Parkes Artikel nahmen dementsprechend die Polizei in Schutz, da sie von oben blockiert worden sei, und verlangten eine parlamentarische Befragung des Innen- und Premierministers.148 Anscheinend konnte der Herausgeber Ernest Parke, der nebenbei auch für den Star schrieb, derartige Meldungen nicht in dem großen Massenblatt unterbringen. Obwohl der Star ebenfalls als „Sensationszeitung“ des New Journalism galt, hielt er sich zurück.149 Damit zeigte sich erneut, dass die Grenzen des Publizierbaren für die Massenpresse gerade beim Thema Homosexualität äußerst eng waren, obgleich offene Enthüllungen in solch einem Skandal sicherlich hohe Auflagen und Gewinne garantiert hätten. Erneut erhielt der Skandal eine starke Dynamik durch einen Verleumdungsprozess. Da die North London Press noch einem anderen Adligen, Lord Euston, Bordellbesuche und eine anschließende Flucht ins Ausland vorgeworfen hatte, obwohl dieser in London geblieben war, klagte Euston gegen den Journalisten Parke wegen Verleumdung. Wie beim Dublin Castle-Skandal war diese riskante Reaktion die einzige Alternative zu seiner Flucht, da Stillschweigen öffentlich als Schuldeingeständnis gewertet worden wäre. Dieser Schritt förderte jedoch die ausführliche Veröffentlichung der Vorwürfe. Die Klage spornte zu zahlreichen weiteren Medienberichten an, der Prozess gab dem Journalisten eine öffentliche Bühne, und die Zeugenaussagen förderten eine öffentliche Wissensbildung, da der Prozess selbst in der regierungsnahen Presse explizite Berichte legitimierte. Nun schrieb sogar die Times unter Nennung von Somersets Namen über dessen Flucht und die Versuche, Zeugen mit Geld zur Flucht zu animieren.150 Die Verfolgung von Parke und sein Kampf mit der Regierung und Justiz machte den Journalisten außerdem prominent, was er zur Werbung für sein Blatt benutzte.151 Der plötzliche Ruhm des Journalisten beruhte jedoch nicht auf seiner Recherche. Vielmehr ließ der Fall ähnliche journalistische Arbeitsweisen erkennen wie der Dublin Castle-Skandal. Während die Artikel zunächst nur auf Gerüchten und einzelnen Hinweisen aus der Polizei aufbauten, recherchierte der Journalist zur Vorbereitung der Gerichtsverhandlung – wie im Dublin Castle-Prozess – nicht selbst, sondern beschäftigte einen Privatdetektiv. Dieser machte zahlreiche Zeugen ausfindig, die Euston beim Besuch des Bordells gesehen hatten. Die 148 149 150 151 Truth 23. 11. 1889, S. 5. Die Grenzen der Berichterstattung des Stars betonte auch: Laurel Brake, Government by Journalism and the Silence of the Star: Victorian Encounters 1885–90, in: Laurence Brake und Julie F. Codell (Hrsg.): Encounters in the Victorian Press. Editors, Authors, Readers, Basingstoke und New York 2005, S. 213–235. Zum Star vgl.: John Goodbody, The Star: Its Role in the Rise of New Journalism, in: Wiener (Hrsg.), Papers, S. 143–163, S. 148. Times 24. 12. 1889, S. 10. Star 25. 11. 1889, S. 4: „Buy it today. […] West End Scandals Prosecution of the Editor for Libel of Earl of Euston.“ Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 78 II. Homosexualität als Skandalon Prozesse förderten somit die investigative Recherche der Journalisten, die diese aber nicht unbedingt selbst übernahmen. Der Prozess ermöglichte ein offeneres Sprechen über die homosexuelle Prostitution. Zahlreiche männliche Prostituierte und Anwohner sagten freimütig aus, so dass die gesamte Öffentlichkeit Details über das Bordellleben und die Homosexualität im Allgemeinen erfuhr. Abermals betonten verschiedene Zeitungen, vieles könne unmöglich wiedergegeben werden, und tatsächlich fanden sich viele explizite Gerichtsaussagen nicht in den Blättern. Dennoch lässt sich kaum die Annahme von Laurel Brake teilen, die Leser hätten, weil die Homosexualität nicht explizit genannt wurde, die Artikel kaum verstehen können und für Berichte über heterosexuelle Bordelle halten können.152 Vielmehr benutzten die Artikel seit langem eingeübte Codewörter, die durchaus eine Verständigung über Homosexualität ermöglichten. Hierzu zählten weiterhin Umschreibungen wie „abominable crimes“, „a felony of the most grave and attracious character“ oder „heinous crimes revolting to one’s notions of all that was decent in human nature“. Auch Laboucheres spätere Anklage gegen die Regierung sprach nur von „a certain offence – I will not give it a name.“153 Direkte Beschreibungen des sexuellen Aktes (wie „going to bed with gentlemen“154) fanden sich hingegen weiterhin selten. Das galt auch für visuelle Darstellungen.155 Ähnlich wie Steads berühmte Maiden-Tribute-Kampagne konstruierten die Skandalberichte zudem ein Wissen über den Alltag der in diesem Fall männlichen Prostituierten. Sie beschrieben etwa, wie sie Männer auf der Straße ansprachen und mit Stammkunden engere Beziehungen eingingen. Zudem erfuhren die Leser, dass anscheinend die Nachbarn des Hauses mit dessen Ruf vertraut waren und käufliche Homosexualität mitten in London tolerierbar erschien. Ein Prostituierter sagte sogar aus, die lokale Polizei habe keine Probleme gemacht.156 Käufliche Homosexualität erschien damit wie ein Alltagsphänomen der Metropole. Für die öffentliche Konstruktion des Homosexuellen war bedeutsam, dass die Zeugen die Bordellbesucher als „Gentlemen“ bezeichneten, die mitunter mit der eigenen Kutsche vorgefahren seien. Obgleich die Freier, die in den Polizeiakten zu finden sind, kaum namentlich genannt wurden, verfestigte sich damit das Bild des reichen Homosexuellen, der gegen Geld arme Jungen missbrauchte. Laboucheres Reden im Unterhaus forderte ebenfalls Mitleid mit den ausgenutzten Jungen. „These poor and wretched creatures live to minister to the vices of those in a superior station“, klagte er und integrierte damit Prostitution und Homosexualität in sozialistische Gesellschaftsanklagen.157 Die liberale Presse benutzte in ihren Prozessberichten ebenfalls dieses Bild in einer geradezu klas- 152 153 154 155 156 157 Brake, Government, S. 220 u. 224. 28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1534. Zit. in: Times 24. 12. 1889, S. 10. Vgl. Illustrated Police News 18. 1. 1890, S. 1. u. 25. 1. 1890, S. 1. Vgl. bes. die Zeitungsberichte 15. 1. u. 16. 1. 1890. 28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1548. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 79 Abb. 1: Der „West-End Scandal“ etablierte auch visuell das Bild des reichen Homosexuellen, der durch sein Geld arme Jungen korrumpiert und nicht bestraft wird (Mitte und links). Der Journalist Parke (rechts) muss dagegen für seinen Kampf in Haft und erhält so eine Märtyrerrolle; aus: ILLUSTRATED POLICE NEWS 25. 1. 1890, S. 1. senkämpferischen Abgrenzung gegenüber dem Adel und der Upper Class. Auch visuell wurde diese Deutung in der Illustrated Police News verfestigt, die reiche Besucher homosexueller Bordelle skizzierte. Entgegen ihrer sonstigen Verbrechensberichte wurden dagegen die männlichen Prostituierten als kultivierte Zeugen gezeichnet (vgl. Abb. 1).158 Die von vielen liberalen Zeitungen regelmäßig benutzte Überschrift „Westend Scandal“ verwies bereits geographisch auf die wohlhabenden Kreise Londons.159 Diese Formulierung etablierte sich soweit, dass selbst die offiziellen Parlamentsberichte sie als Überschrift wählten.160 Ebenso pauschalisierten Überschriften radikalliberaler Zeitungen die Anschuldigungen gegen die gesamte Aristokratie („Horrible Revelations about the Aristocracy“).161 Dass Somersets Anwalt dem Bordellbesitzer mit Geld die Flucht in die USA ermöglicht hatte und zumindest versuchte, die Prostituierten durch Erstattung von Transfers und Startkapital ebenfalls zur Ausreise zu bewegen, fügte sich in diese Korruptionsvorwürfe ein. Somit ging es nicht mehr um die Bestrafung von Homosexuellen, sondern um Gleichheit vor dem Gesetz. Nicht thematisierbar war dagegen in der britischen Presse die Frage, welche Beziehung der Fall zum Königshaus habe. Selbst monarchiekritischen Blättern wie Reynolds’s Newspaper erschien dies offensichtlich beim Thema Homosexu158 159 160 161 Vgl. Illustrated Police News 18. 1. 1890, S. 1. u. 25. 1. 1890, S. 1. Daily News 7. 1. 1890, S. 3; allgemein zum Zusammenhang zwischen Metropolenkultur und Homosexualität vgl. Cook, London. Hansard’s Parliamentary Debates, 3. 3. 1890, Bd. 341, Sp. 1618. Reynolds’s Newspaper 12. 1. 1890, S. 5. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 80 II. Homosexualität als Skandalon alität zu heikel. Entsprechende Londoner Gerüchte über die Involvierung von Prince Eddy kursierten in gedruckter Form jedoch in der amerikanischen Presse. So fragte die New York Times, warum Prinz Eddy so lange in Indien bleibe und druckte das Gerücht, der Prinz solle in Indien bei der Jagd sterben, um seine spätere Thronbesteigung zu verhindern. Damit die englischen Zeitungen dies nicht aufgriffen, erfolgte im gleichen Blatt aber das anonyme Dementi, der Prinz habe nichts mit „certain abominable scandals“ zu tun.162 Auch das Londoner Gericht erwies sich kaum als eine unabhängige Instanz und deckte mit äußerstem Wohlwollen das Verhalten des Adligen. Trotz der zahlreichen Zeugenaussagen verurteilte es den Journalisten Parke zu zwölf Monaten Gefängnis wegen Verleumdung. Während es die Aussagen der Prostituierten und Nachbarn durchweg als unglaubwürdig abqualifizierte, vertraute das Gericht der Aussage Lord Eustons, das Haus nur einmal zufällig betreten zu haben, weil ihm eine Werbekarte dort „poses plastique“ versprochen habe, eine Vorform des Striptease. Der Richter begründete diese hohe Bestrafung des Journalisten mit dem exzeptionellen Charakter des Artikels: „I think that a more atrocious libel than that of which you have been guilty has never been published by any man in circumstances less justifiable than those in which you have published the libel.“163 Einen Mann als homosexuell zu beschuldigen galt demnach als die schwerste Ehrverletzung überhaupt. Das Gericht begründete das Urteil zudem damit, dass es andere Publizisten von leichtfertigen Verleumdungen abschrecken sollte. Die liberale Presse protestierte entsprechend gegen das Urteil, die konservativen Zeitungen lobten es. Letztere sahen es ebenfalls als Warnung an alle Journalisten, die sich zum Richter aufschwängen und Verdächtigungen und Misstrauen ins öffentliche Leben tragen würden.164 Nach einer kurzeitigen breiten Empörung über die politischen Lager hinweg verfestigten sich damit wieder die politischen Grenzen. Dieses unverkennbar parteiliche Urteil gegen den Journalisten förderte die letzte und politisch schwerwiegendste Eskalationsstufe des Skandals. Der radikalliberale Abgeordneten Henry Labouchere wandte sich nun über das Parlament an die Öffentlichkeit, um der Regierung die bewusste Vertuschung und Rechtsbeugung vorzuwerfen. Seine Enthüllungen im Unterhaus waren nicht spontan, sondern auf allen Ebenen vorher angekündigt, was die Aufmerksamkeit erhöhte. In seiner Zeitschrift The Truth hatte er seit November 1889 regelmäßig und zunehmend direkt Premierminister Salisbury und Innenminister Matthews vorgeworfen, die Ermittlung unterbunden zu haben: „The escape was immediately due to Lord Salisbury“, hieß es hier, und er verwies drohend auf die nächsten Unterhaussitzungen.165 Auch intern kündigte er etwa gegenüber 162 163 164 165 New York Times 10. 11. 1889, zit. in: Arolson, Prince Eddy, S. 146; Hyde, Cleveland Street, S. 128 f. Urteilsbegründung nach: Daily News 16. 1. 1890, S. 3. Daily Telegraph 17. 1. 1890, S. 5. Zit.Truth 6. 2. 1890; vgl. bes. auch Truth 2. 1. 1890, 30. 1. 1890. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 81 Reginald Brett, einem engen Vertrauen Somersets und des Königshauses, seine Enthüllungen genau an. Brett versuchte daraufhin vergeblich, Labouchere zu besänftigen, weniger unter Verweis auf Somersets Unschuld denn im Hinblick auf das Königshaus und Somersets Eltern.166 In dieser Phase löste sich der Skandal nahezu vollständig von den sexuellen Normkonflikten ab. Labouchere sprach in seiner langen Parlamentsrede am 28. Februar 1890, die den Fall minutiös rekonstruierte, fast überhaupt nicht mehr über die Homosexualität und ihre moralische Verwerflichkeit. Ihm ging es ausschließlich darum zu belegen, dass der konservative Premierminister Salisbury gezielt laufende Ermittlung verhindert habe, um vor allem die Flucht von Somerset zu ermöglichen. So sprach er direkt von einer „criminal conspiracy, by the very guardians of public morality and law, with the Prime Minister at their head, to defeat the ends of justice.“167 Vor allem deckte er auf, dass Salisbury sich mit Somersets Freund Dighton Probyn über den bevorstehenden Haftbefehl ausgetauscht habe und so dessen Flucht und vorherige ehrenhafte Entlassung aus der Armee ermöglicht habe. Die Prostituierten hätten wegen eines „corrupt bargain“ geringe Strafen erhalten, damit sie schwiegen. Aus diesem Grunde verlangte er die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Auch diese Parlamentsrede stand für eine Veränderung der politischen Kommunikation. Mit den Vorwürfen, die den Premierminister der Lüge bezichtigten, durchbrach Labouchere eindeutig die ungeschriebenen Regeln des Unterhauses, die sich im Unterschied zu Deutschland durch rhetorische Höflichkeit und Akzeptanz des Ehrenwortes auszeichneten. Bereits der Kronanwalt entgegnete in seiner Antwort im Parlament, „more infamous conduct was never charged against persons in authority.“168 Beide Seiten verweigerten die Kommunikation: Während Labouchere im Unterhaus erst die Nennung seines Hauptinformanten ablehnte, waren die Konservativen nicht bereit, die von ihm angebotene schriftliche Nennung zu verlesen. Als Labouchere auch auf Nachfrage nicht Salisburys Unschuldsbeteuerung glaubte, wurde er für einige Wochen des Parlaments verwiesen. Die Medienöffentlichkeit blieb über sein Verhalten gespalten: Die konservative Presse bezeichnete seine Zweifel am Wort des Premierminister als „gravest charges“ und „worse than murder“, während liberale Blätter wie der Star Laboucheres Indizien überzeugend fanden, gegen seinen Ausschluss protestierten und ihm durch Interviews ein Forum gaben.169 Der Skandal brach damit nicht nur die Sagbarkeitsregeln der Medien auf, sondern auch die des Parlaments. Die sich anschließende Debatte drehte sich 166 167 168 169 Labouchere an Brett 1. 2. 1890 und 21. 2. 1890, Brett an Labouchere 6. 2. 1890 in: CAC ESHR Papers 12–3. Vgl. die Debatte in: 28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1534– 1611, zit. Sp. 1546. So der Attorney General Webster in: Hansard’s Parliamentary Debates, ebd., Sp. 1552. Vgl. Daily Telegraph 1. 3. 1890, S. 4; Times 1. 3. 1890, S. 8; The Star 1. 3. 1890, S. 1; Pall Mall Gazette 1. 3. bis 3. 3. 1890, S. 1. Zum Ausschluss: Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1570. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 82 II. Homosexualität als Skandalon ebenfalls fast ausschließlich um die Frage, ob der Premierminister tatsächlich die Wahrheit sage und ob es zulässig sei, sie anzuzweifeln. Salisbury gab klugerweise seine Replik erst einige Tage später im Oberhaus, wo inmitten der Adligen mehr Rückendeckung zu erwarten war. Auf Somerset spielte er nur vorsichtig an, ohne dessen Namen zu nennen.170 Der Premierminister gab aber zu, bei dem Treffen mit dem Vertrauten Somersets über die Verhaftung gesprochen zu haben, aber nur über Gerüchte über neue Beweise. Sowohl die Zeitgenossen als auch die Historiker haben vielfach gemutmaßt, ob der Premierminister in dieser Krise tatsächlich Parlament und Öffentlichkeit belogen hat.171 Die Archivquellen belegen, dass Salisbury sich in der Tat im hohen Maße am Schutz von Somerset beteiligte. Wie die regelmäßigen Briefwechsel zwischen Somerset und Brett zeigen, wusste Somerset sogar vorher von dem vermittelnden Treffen zwischen seinem Freund und Salisbury, dem er ängstlich entgegenfieberte.172 Salisbury ließ in dem Gespräch, das Somerset das Exil nahelegte, jedoch offen, ob ein Haftbefehl folgen würde. So schrieb Somerset kurz nach seiner Flucht aus Frankreich: „You say Salisbury will see about the warrant – has he been approached on the subject? I am awfully grateful to my friends.“173 Deshalb bot Somerset aus Frankreich an, im Falle seiner Rückkehr ein zurückgezogenes Leben als Pferdezüchter auf dem Land zu führen.174 Mit dieser Protektion und dem falschen Ehrenwort war der Premierminister ein großes Risiko eingegangen, das ihm aber anscheinend nötig erschien, um den Ruf von Monarchie und Adel zu schützen. In gewisser Weise wurde Lord Somerset, der den Rest seines Lebens im Exil verbringen musste, dafür geopfert, damit die Empörung über die Homosexualität des hohen Adels abebbte und vor allem nicht das Königshaus erreichte. Ein weiteres Motiv für Salisburys Protektion war vermutlich, dass der Vater von Somerset, der Duke von Beaufort, ein wichtiger Tory und politischer Unterstützer von Salisbury war.175 Innerhalb der Regierung und der Bürokratie löste bereits die Frage Panik aus, wie ein oppositioneller radikaler Politiker und Journalist an Informationen über die vertraulichen Gespräche und Briefe des Premierministers kommen konnte. Da Justiz und Polizei sofort bemerkten, dass Laboucheres Anklagen auf internen Informationsquellen beruhten, prüften sie seine Aussagen Satz für Satz auf 170 171 172 173 174 175 Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 341, Sp. 1618. In seiner Rede, die die Presse ausführlich verbreitete, sprach er nur von einer Person „whose name it was unnessecary to mention“; Pall Mall Gazette 3. 3. 1890, S. 7. Dass Salisbury Somerset so indirekt zur Flucht verhalf, vermutet die grundlegende Biographie mit einer knappen Andeutung: Andrew Roberts, Salisbury. Victorian Titan, London 1999, S. 546; das Gegenteil nimmt an: Hyde, Cleveland Street, S. 220. Keine Erwähnung findet der gesamte Fall, obgleich er für Salisburys Karriere äußerst kritisch war, in: David Steele, Lord Salisbury. A Political Biography, London 1999. Somerset an Brett 17. 10. 1889 (5 pm) in: Churchill Archives/Cambridge ESHR Papers 12–3.; vgl. auch die Briefe 16. 10. und 17. 10. 1889 (morgens), in: ebd. Somerset an Brett 24. 10. 1889, in: CAC ESHR Papers 12–3. Somerset an Brett 21. 10. 1889, in: ebd. Roberts, Salisbury, 1999, S. 546. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 83 ihre Herkunft. Das umfangreiche Dossier, das sie aus seiner Rede erstellten, verwies auf einzelne interne Briefwechsel, die Labouchere offensichtlich kannte.176 Hinter dieser aufwendigen Arbeit stand offensichtlich die Angst, radikale Journalisten und Politiker könnten durch „Lecks“ interne Geheimnisgrenzen aufbrechen und so weitere Skandale auslösen. Zu einer offiziellen Untersuchung der Vorwürfe kam es dagegen nicht: Im Unterhaus wies der Kronanwalt Laboucheres Vorwürfe zurück und die konservative Mehrheit verhinderte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. In der Öffentlichkeit berichteten alle Zeitungen über Laboucheres Vorwürfe. In dieser letzten Stufe des Skandals verhandelte die Öffentlichkeit jedoch kaum noch das ursprüngliche Thema Homosexualität. Vielmehr ging es nun nahezu ausschließlich um die Integrität von Regierung und Justiz, um den Stil der parlamentarischen Beschuldigungen sowie um die Frage, wer Labouchere die Informationen dafür gegeben habe. Alle diese Punkte debattierten Vorstellungen über das britische Regierungssystem und zeigten damit, wie sehr sich der ursprünglich recht unpolitische Homosexuellenprozess zu einem politischen Skandal entwickelt hatte. Klassenspezifische Strafen, die Beeinflussung der Justiz durch die Exekutive und die Stellung des Premierministers, der vermutlich Parlament und Öffentlichkeit belogen hatte, waren dabei die zentralen Normkonflikte. Die öffentlichen Kommentare verwiesen vielfach auf andere Skandale, die nicht Homosexualität thematisierten. Am häufigsten war dabei der Verweis auf den Parnellism and Crime-Skandal, bei dem die Times Parnell mit gefälschten Briefen eine Verbindung zu Terroristen vorgeworfen hatte, weshalb eine Royal Commission eingesetzt worden war. So argumentierte auch Labouchere im Parlament, dass für konservative und irische Spitzenpolitiker ein unterschiedliches Recht gälte.177 Auch die Iren erneuerten die Anklagen unter Verweis auf Lord Salisburys Verhalten in diesem Skandal einige Jahre zuvor.178 Nachdem Labouchere des Parlamentes verwiesen worden war, nahmen sie sich verstärkt des neuen Skandals an und verglichen die tolerierte Flucht mit der scharfen Verfolgung der irischen Nationalisten.179 Auf diese Weise überführten die Iren die Klage gegen die soziale Klassenjustiz in eine Kritik an einer imperialen Klassenjustiz. Der Skandal erweiterte die Sagbarkeitgrenzen über Homosexualität, verfestigte das Bild des reichen Homosexuellen und etablierte das Mitleid mit jungen männlichen Prostituierten. Dennoch trug er nicht zur Liberalisierung der Homosexualität bei. Kritik an einer Bestrafung von Homosexuellen erhob sich kaum. Eine gewisse Ausnahme bildete der Schriftsteller Bernhard Shaw, der mit einem Leser- 176 177 178 179 Vgl. die handschriftlichen Kommentare (wie „who told him?“) an den Zeitungsartikeln in: TNA, DPP 1/95/2: 110; die Zusammenstellung in: Cuffe an Smith März 1890, in: TNA, DPP 1/95/6: 2–48. Zum Parnellism and Crime-Skandal vgl. ausführlich Kap. V. 1. So MacNeil im Unterhaus: Times 6. 3. 1890, S. 7. Vgl. Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1573–1611. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 84 II. Homosexualität als Skandalon brief an Laboucheres Zeitschrift Truth gegen Gesetze protestierte, die zwei erwachsene Menschen wegen eines „private act“ verurteilten, der nur sie etwas angehe und in Geschichte und Gegenwart stets bei einer Minderheit üblich gewesen sei.180 Laboucheres Blatt druckte selbst diesen Brief nicht ab. Denn schließlich war der radikale Politiker mit dafür verantwortlich gewesen, dass 1885 das Gesetz zur Bestrafung von Homosexualität präzisiert worden war. Die personellen Konsequenzen des Skandals lassen sich nicht ganz eindeutig bewerten. Premierminister Salisbury konnte zwar seinen Posten vorerst behalten, war aber durch die Beschuldigungen angeschlagen. Salisburys Verwicklung in diesen und andere Skandale dürfte zumindest mit dazu beigetragen haben, dass die Tories die Wahl im folgenden Jahr verloren. Allerdings konnte Salisbury 1895 wieder für sieben Jahre in die Downing Street zurückkehren. Die Mythenbildung um die homosexuelle Orientierung des potentiellen Thronfolgers Prince Eddy, der zwei Monate nach Abklang der Debatte wieder aus Indien zurückkam, konnte Salisbury ebenfalls nicht verhindern. Das Königshaus bemühte sich umgehend um die Verheiratung des 27-jährigen Prinzen, um die moralische Ordnung herzustellen. Nur ein Jahr später verstarb er jedoch plötzlich an einer Grippe, was wiederum das Gerücht beförderte, er sei vergiftet worden, um einen Thronfolger mit einem derartig ausschweifenden Sexualleben zu verhindern. Da sein Vater sofort die Vernichtung seiner Korrespondenz anordnete, lässt sich die Frage, ob der Prinz ebenfalls mit Jungen aus dem Bordell verkehrte, weiterhin nur spekulativ beantworten.181 Die beteiligten Journalisten gingen langfristig gestärkt aus dem Skandal, auch wenn er ihnen kurzzeitig schwere Belastungsproben auferlegte. Die North London Press wurde mit Parkes Verurteilung und Haft eingestellt. Langfristig war Parkes offensives Auftreten und seine Berühmtheit, die er durch den Skandal erlangte, für seine journalistische Karriere jedoch von Vorteil: Parke stieg nach seiner Freilassung sogleich zum Editor des Star auf und wurde dann Gründer und Herausgeber des Morning Leader. Henry Labouchere durchlitt zunächst die versteckte Rache seiner nunmehr zahllosen Gegner, die ihn nach heutigem Sprachgebrauch hinterhältig „mobbten“: Sie bestellten Leichenwagen und Einäscherungen für ihn, Luxusgüter an seine Adresse und angebliche Einladungen und Geschenke in seinem Namen.182 Besonders schwer traf ihn, dass er 1892 nicht im Kabinett Gladstone berücksichtigt wurde, obwohl er zu den profiliertesten und bekanntesten liberalen Abgeordneten zählte. Offensichtlich hatte Premierminister Gladstone Angst, Labouchere würde nach seinen Beschuldigungen zu sehr polarisieren. Auch die Zustimmung der Queen erschien nach dem Skandal unsicher. Im Parlament blieb Labouchere jedoch bis zum Anfang 180 181 182 Shaw an Truth 26. 11. 1889, abgedr. in: Dan Laurence (Hrsg,), Bernhard Shaw. Collected Letters, Bd. 1: 1874–1897, London 1965, S. 230 f. Vgl. auch die abgewogenen Vermutungen in der bislang ausführlichsten Darstellung: Aronson, Prince Eddy, S. 185–216. Algar Labouchere Thorold, The Life of Henry Labouchere, London 1913, S. 368. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. West End Scandals 85 des neuen Jahrhunderts äußerst aktiv und profilierte sich als einer der wichtigsten Sprecher. Auch für die „Skandalopfer“ waren die Folgen ambivalent. Während Lord Somerset bis an sein Lebensende im Ausland bleiben musste, konnte Lord Euston anscheinend wieder gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen, obwohl er zumindest zugegeben hatte, das Bordell wegen der vermuteten „Poses Plastique“ aufgesucht zu haben.183 Dies zeigte, dass ein Freispruch mit Rückendeckung in den konservativen Medien selbst bei vermuteter Homosexualität zur Wiederherstellung der männlichen Ehre dienen konnte. Für Somersets Anwalt, der sich durch seine Fluchthilfe klar der Rechtsbeugung schuldig gemacht hatte, setzten sich zahlreiche Londoner Anwälte mit einer Unterschriftenpetition ein, und tatsächlich kam er mit einem milden Urteil davon.184 Er machte eine Karriere als Staranwalt für prominente Fälle. Eine gewisse Bedrohung blieb der Bordellbesitzer Hammond, der sich zehn Tage nach Laboucheres Rede über ein Interview im New York Herald meldete und sensationelle Enthüllungen ankündigte, vermutlich um Geld zu erpressen.185 Gerade hier zeigte sich die Transnationalisierung der Medienlandschaft: Selbst ein in die USA geflüchteter Zuhälter konnte indirekt über die amerikanische Presse mit den britischen Politikern kommunizieren und diese vor massive Probleme stellen. In gewisser Weise stand der Skandal schließlich für eine Verkehrung der kulturellen Topographie Londons. In den 1880er Jahren hatten die Flaneure und „Social Explorer“ das Londoner East End wie eine fremde Welt entdeckt und mit voyeuristischer Neugier dessen Sexualität öffentlich thematisiert. Das East End erschien hier als ein exotisches Gebiet, in der die bürgerlichen Regeln keine Gültigkeit hatten.186 Mit dem Cleveland Street-Skandal drehte sich diese Perspektive um. Er machte öffentlich, dass mitten in London, reiche Bewohner des Westens moralische Normbrüche begingen, die vielleicht noch spektakulärer erschienen als Steads berühmte Artikel über die Kinderprostitution im East End. Nicht die armen Prostituierten erschienen allerdings im Zuge des Skandals als Bedrohung, sondern adlige und wohlhabende Homosexuelle, die mittellose Jungen durch ihr Geld verführten und dabei noch durch die Regierung gedeckt wurden. Homosexualität war damit wie beim irischen Skandal vor allem ein Thema, um über die Medien moralisch politische Machtkonstellationen zu attackieren. Die Skandale machten Homosexualität thematisierbarer, führten aber gerade nicht zu mehr Toleranz. Vielmehr nahm zumindest in London die Zahl der Verurteilungen wegen Homosexualität nach 1891 überproportional zu.187 183 184 185 186 187 So die Einschätzung von: Chester et al., The Cleveland Street, S. 220; Hyde, Cleveland Street, S. 245. Vgl. zu Newton von rechtshistorischer Seite: Martin Dockray, The Cleveland Street Scandal 1889–1890. The Conduct of the Defence, in: Journal of Legal history 17 (1996), S. 1–16. Reynolds’s Newspaper 9. 3. 1890, S. 4. Vgl. Walkowitz, City, S. 10 f. Vgl. die Statistik in Cook, London, S. 151. Die eingangs genannte Kontinuität pro Einwohner bezog sich dagegen auf landesweite Berechungen. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 86 II. Homosexualität als Skandalon 5. Grenzziehungen um 1900 Durch die beiden großen Skandale der 1880er Jahre etablierten sich Konfliktmuster für weitere Homosexualitätsskandale. Alle entsprechenden Enthüllungen nach 1890 waren sich dieser Präzedenzfälle bewusst. In der Tradition des Dublin Castle-Skandals standen bereits, nur ein Jahr nach dem Cleveland StreetSkandal, die Vorwürfe gegen den Abgeordneten Edward Samuel Wesley de Cobain, welche die Iren und die Radikalliberalen nun zusammen erhoben. Dabei verknüpften sie abermals das Bild des homosexuellen Besatzers und des unmoralischen Konservativen, der von der Regierung geschützt würde. Die Interaktion zwischen der Presse und den beteiligten Politikern erinnerte an frühere Skandale und war ein erneuter Versuch, die irische Unabhängigkeit durch eine moralische Diskreditierung zu erreichen, da dies eine größere öffentliche Aufmerksamkeit versprach als konkrete Vorschläge zur „Home Rule“. Der Fall Cobain machte wie bislang kein Skandal deutlich, dass auch aktive Politiker homosexuell sein konnten. In diesem Fall erfuhr der Methodist Cobain, der für die Konservativen den Wahlkreis East Belfast vertrat, im April 1891 von einem Bericht in einer irischen Lokalzeitung, der einen bevorstehenden Haftbefehl wegen Homosexualität andeutete. Wie die früheren Skandalopfer floh auch Cobain sofort nach Frankreich und Italien, bevor anschließend der Haftbefehl erfolgte.188 Erneut ergriffen der radikale Politiker und Journalist Henry Labouchere und der irische Politiker und Journalist Tim Healy die öffentliche Initiative und machten den Fall zu einem Politikum, das sich gegen die Konservativen richtete. Damit wurde deutlich, dass sich im Unterhaus Experten für derartige Enthüllungen etabliert hatten. Sowohl der Irlandkonflikt als auch die Gleichheit vor dem Gesetz bildeten wieder die Hauptargumentationslinien. Und abermals drehte sich die Skandalisierung zunächst darum, das tabuisierte Vergehen möglichst explizit in eine breite Öffentlichkeit zu bringen. Healy forderte die Einsetzung einer Special Commission, was die konservative Mehrheit verhinderte. Um das Thema publik zu machen, fragte Healy zudem die Regierung dezidiert, weshalb genau der Haftbefehl ausgestellt worden sei und wer noch verwickelt wäre. Damit zwang Healy die Regierung, die dann in allen Zeitungen abgedruckte Aussage zu machen, einer ihrer Abgeordneten würde „for the offence of inciting to the commission of the felony“ steckbrieflich gesucht.189 Indem er Cobain als „Grand Master of the Orange Lodge“ bezeichnete, markierte er ihn als wichtigen Irengegner. 188 189 Pall Mall Gazette 17. 6. 1891, S. 5; Times 2. 5. 1891, S. 9, 10. 6. 1891, S. 6 und 15. 6. 1890, S. 10. Da zu diesem Fall keine Akten ausfindig gemacht werden konnten, erfolgt seine Rekonstruktion über die Medien- und Parlamentsberichte zwischen April und Juli 1891 und Februar 1892. Hansard’s Parliamentary Debates 20. 4. 1891 u. 21. 4. 1891, Bd. 352, Sp. 926 u. 1026; ebd. 8. 5. 1891, Sp. 365. Auch der irische Unionist Colonel Saunderson fragte dabei nach dem Haftbefehl. Vgl. zur öffentlichen Rezeption von Healys Agitation auch Times 21. 4. 1891, S. 6, Times 22. 4. 1891 und 9. 5. 1891, S. 8. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Grenzziehungen um 1900 87 Spezifisch an dem Fall war zweierlei. Zum einen kommunizierte der beschuldigte Politiker nach seiner Flucht über die Medien mit der Öffentlichkeit und den Politikern im Parlament. Mehrfach schickte er rechtfertigende Briefe an vertraute Politiker, die diese dann den Zeitungen überreichten. Cobain selbst sah sich in diesen öffentlichen Briefen aus dem Exil als Opfer lokaler Belfaster Intrigen. Wegen seiner Aussagen zum Polizeieinsatz bei den Belfaster Aufständen 1886 hätte er sich unbeliebt gemacht, weshalb sie jetzt seinen Erpressern glaubten.190 Da er nervlich zerrüttet sei, müsse er sich aus gesundheitlichen Gründen im Ausland aufhalten und sei nicht reisefähig. Öffentlich unterstützt wurde Cobain dabei durch Resolutionen der Belfaster Independent Conservative Association, die ihren festen Glauben an seine Unschuld den Medien versicherte.191 Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Cobain und seine Anhänger durch diese mediale Rechtfertigung auf sich zogen, hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt. Sie verhinderte gerade eine Beilegung des Falles. Zum anderen war die gerichtliche Verfolgung eines geflohenen Abgeordneten ein Novum. Im Unterschied zu anderen Fällen verhinderte sie die sonst übliche stille Tolerierung der Flucht und machte eine Debatte über seine weitere Mitgliedschaft im Unterhaus erforderlich, wodurch die Liberalen und Iren den Skandal in der Öffentlichkeit hielten. Nachdem Cobain eine vom Parlament gesetzte Frist bis zu seiner Rückkehr verstreichen ließ, stimmte die konservative Regierungsmehrheit ein halbes Jahr später Cobains Ausschluss zu. Wie Arthur Balfour in seiner Rede betonte, sahen die Konservativen hierin keine Entscheidung über seine Schuld, sondern beschlossen dies offiziell nur, weil Cobain wissentlich trotz des Strafbefehls wegen „gross and criminal acts of indecency“ weder in sein Land noch in das Parlament zurückkehre.192 Da dies erst der zweite Ausschluss in der Geschichte des Unterhauses war, führte der Fall zu einer grundsätzlichen Debatte, wie hierbei zu verfahren sei. Im Vergleich zu den vorherigen Skandalen erreichte der Fall Cobains insgesamt jedoch trotz dieser Diskussionen keine derartige öffentliche Bedeutung, da es durch seine Flucht zunächst zu keinem Prozess kam, der entsprechende Details hätte ausbreiten können. Erst zwei Jahre später wurde Cobain verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Allerdings hatte der Fall nun keine politische Prominenz mehr.193 In gewisser Weise lässt sich von einem verschleppten Skandal sprechen, dem ein Kulminationspunkt mit umfassenden Enthüllungen fehlte. Der Skandal um den Abgeordneten verstärkte erneut die Vorstellung, Homosexualität würde sich besonders in den Oberschichten zunehmend verbreiten, weshalb verstärkt gegen sie vorzugehen sei. Nur vor dem Hintergrund der dargestellten Skandale ist auch der berühmte Fall von Oscar Wilde zu verstehen, dem heute wohl bekanntesten Skandal der viktorianischen Ära. Da er bereits 190 191 192 193 Pall Mall Gazette 17. 6. 1891, S. 5. Times 15. 5. 1891, S. 7. Hansard’s Parliamentary Debates 26. 2. 1892, Bd. 1, Sp. 1401 f. Dennoch finden sich Prozessberichte; vgl. Times 21. 3. 1893 und 22. 3. 1893, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 88 II. Homosexualität als Skandalon vielfältig untersucht wurde, ist eine ausführliche Darstellung verzichtbar.194 Zudem war er nicht im engeren Sinne politischer Natur. Sein Verlauf lässt sich dennoch als Ergebnis der Deutungen und politischen Implikationen der vorherigen Skandale erklären. So war seine öffentliche Wahrnehmung maßgeblich durch den Cleveland Street-Skandal und die hier etablierten Narrative geprägt. Bereits Wildes Schlüsselroman „The Picture of Dorian Gray“ verstanden die Zeitgenossen in diesem Kontext. So hieß es in einer der vernichtenden Kritiken, Wilde schreibe für „outlawed noblemen and perverted telegraph boys.“195 Ähnlich wie bei den vorherigen Skandalen konstruierten seine insgesamt drei Prozesse von 1895 erneut das Bild des reichen Homosexuellen, der aus seinem Müßiggang heraus arme Jungen verführt und prostituiert. Dieses Narrativ wurde in der populären radikalen Presse entsprechend politisiert. Das Massenblatt Reynolds’s Newspaper bezeichnete im Zuge des WildeSkandals Homosexualität als „a common practice of our leisured and cultured class“ und belegte dies mit einer knappen Erinnerung an die dargestellten Skandale der letzten Jahrzehnte.196 Direkt neben den Wilde-Artikeln druckte es zudem Berichte über andere gleichzeitige Homosexualitätsfälle und bediente sich einer weitaus expliziteren Sprache, die direkt von „male prostitution“ oder „sex“ sprach.197 In der radikalen Sonntagszeitung erschien London nun als Ort der zunehmenden homosexuellen Überwältigung und die Gegenwart insgesamt als „immoral revolution“, was die Polizei aber wegen des Reichtums der Homosexuellen toleriere. Der Schutz der Jugend gegen die homosexuellen „Corrupter of the Youth“ stand dementsprechend auch im Vordergrund der öffentlichen Debatte.198 Dabei kam es zumindest in der linksliberalen Presse zu einer weiteren Umdeutung der Ursachen für Unmoral. Während die bürgerlichen Sozialreformer der 1880er Jahre Armut und schlechte Bildung als Grund für mangelnde Moral angesehen hatten, wurden im Kontext des Wilde-Skandals die teuren und männerbündischen Privatschulen und Universitäten als Quelle der Homosexualität gesehen. So kommentierte Reynolds’s Newspaper: „Innocent lads, with the purity and refinement of home life in their hearts, become tainted with the traditional vices of these [public] schools and colleges before they have been many months within their walls.“199 Zahlreiche Leserbriefe bestätigten dies in den 194 195 196 197 198 199 Aus der umfangreichen Literatur vgl. etwa: Neil McKenna, The Secret Life of Oscar Wilde, London 2003; Michael S. Foldy, The Trials of Oscar Wilde. Deviance, Morality, and LateVictorian Society, New Haven und London 1997. Als Quelle jetzt sogar übersetzt: Merlin Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör. Die erste vollständige Niederschrift des Queensberry-Prozesses, München 2003. Zit. nach Hyde, Cleveland Street, S. 240. In Verbindung mit dem Cleveland Street-Skandal sieht auch die neuere Literatur den Fall Wilde; vgl. Kaplan, Sodom, S. 224–251. Vgl. bes. Reynolds’s Newspaper 26. 5. 1895, S. 1. Reynolds’s Newspaper 14. 4. und 28. 4. 1895, S. 1; 5. 5. 1895, S. 8. Vgl. auch Weeks, Sex, Politics and Society, S. 107. Reynolds’s Newspaper 14. 4. 1895, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Grenzziehungen um 1900 89 Ausgaben der folgenden Wochen. Hier berichteten ehemalige Schüler erstaunlich offen über das Masturbieren in Privatschulen, bezeichneten sie als „hot-bed of vice“ und warnten aus ihren eigenen homosexuellen Erfahrungen heraus vor Privatschulen.200 Leserbriefe über den homosexuellen Verkehr an Oxforder Colleges ergänzten dies. Selbst wenn diese Zuschriften erfunden waren, überführte das Blatt so die Empörung über Oscar Wildes Homosexualität in eine grundsätzliche politische Debatte über das plutokratische und geschlechtergetrennte Bildungssystem. Zugleich erklärte Reynolds’s Newspaper Homosexualität wie im Cleveland Street-Skandal aus der Dekadenz der Oberschicht heraus, die wie in Griechenland, Rom oder Frankreich stets den Niedergang einer Führungsschicht angezeigt habe.201 Von seinem Verlauf her unterschied sich der Fall Wilde von den meisten Homosexualitätsskandalen im 19. Jahrhundert. Denn im Unterschied zu allen skizzierten Fällen wurde Wilde zunächst weder von der Presse noch von der Justiz der Homosexualität beschuldigt. Lediglich eine Karte des Marquis of Queensberry, dem Vater von Wildes Liebhaber Lord Alfred Douglas, bezeichnete Wilde als „sodomite“. Wilde wählte jedoch im Unterschied zu den meisten vorherigen Skandalen nicht die Flucht auf den Kontinent, die problemlos möglich gewesen wäre, sondern klagte gegen Queensberry wegen Verleumdung. Vielleicht machte die erfolgreiche Verleumdungsklage, die Lord Euston im Cleveland Street-Skandal gelungen war, auch Wilde Hoffnung auf eine ähnliche Protektion vor Gericht.202 Erst der von Wilde initiierte Prozess überführte den Vorwurf in die breite Medienöffentlichkeit und produzierte wieder jene detaillierten Aussagen von Zeugen, die erneut privat eingestellte Detektive ausfindig machten. Queensberrys Detektive spürten dabei gut ein Dutzend männliche Prostituierte auf, mit denen Wilde und seine mit angeklagten Freunde verkehrt haben sollten. Damit knüpfte der Fall nahtlos an den Cleveland Street-Skandal an und schien ihn zu wiederholen. Die erneut aufgezeigte intime Verbindung zwischen armen und reichen Männern verunsicherte die bürgerlichen Zeitungen ebenso wie der Umstand, dass gerade hochgebildete und verheiratete Männer der Oberschicht homosexuell seien. Dass der Richter diesmal für Wilde und den mit angeklagten Alfred Taylor die Höchststrafe von zwei Jahren Haft mit harter Arbeit verhängte, ist nicht zuletzt ebenfalls als ein Ergebnis der vorhergehenden Skandale zu bewerten. Das Urteil sollte nach der Flucht von Somerset und Cobain den Ruf der Polizei und der Justiz wiederherstellen, öffentlich abschrecken und die Grenzen des Tolerierbaren nach den politisch bedingten milden Urteilen neu abstecken. 200 201 202 Vgl. Reynolds’s Newspaper 21. 4. bis 2. 6. 1895, vgl. bes. 21. 4. 1895, S. 5; 25. 5. 1895, S. 3; 2. 6. 1895, S. 3. Reynolds’s Newspaper 21. 4. 1895, S. 1. Auch einige Zeitgenossen gingen von einem Sieg Wildes gegen den exzentrischen Lord aus und sahen dessen Sieg als Überraschung; vgl. Tagebuch Hamilton 4. und 5. 4. 1895, in: David Brooks (Hrsg.), The Destruction of Lord Rosebery. From the Diary of Sir Edward Hamilton 1894–1895, London 1986, S. 236. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 90 II. Homosexualität als Skandalon Obwohl sich im Prozess viele Vorwürfe aus dem Cleveland Street-Skandal wiederholten, wurden sie, der medialen Logik folgend, als noch nie gehörte Neuigkeit stilisiert. Alle größeren Zeitungen verurteilten Wilde.203 Da der Prozess zugleich Wildes Kunstauffassung verhandelte, sah gerade die konservative Presse das Urteil als einen wichtigen Schritt gegen das Vordringen französischer Kultur.204 Oscar Wilde wurde dabei als „loathsome importer of exotic vice“ gesehen, der ein unenglisches Laster ins Land bringe.205 Die weiterhin bestehenden Grenzen des Darstellbaren belegten die zahlreichen Illustrationen der Illustrated Police News: Wilde wurde immer wieder im Zeugenstand oder in Haft gezeichnet, nicht aber andeutungsweise sein Vergehen selbst.206 Immerhin fanden sich zumindest in der linksliberalen Presse einzelne Stimmen, die sich gegen die Verurteilung Homosexueller wandten. Dies geschah weniger durch Artikel von Journalisten als durch Leserbriefe. So wandte sich ein Leser in der Reynolds’s Newspaper gegen die Zuschreibung „unnatural“, da Homosexualität auch im Tierreich vorkomme. Ebenso trat er gegen die Verfallsthesen ein, da große Männer homosexuell gewesen seien, und gegen die Bestrafung, weil durch den privaten Verkehr niemand öffentlich gestört würde.207 Auch der linksliberale Star veröffentlichte neben der üblichen Kritik zumindest einzelne verständnisvolle Zuschriften.208 Die vergleichsweise offene Aussprache über Homosexualität, die sich aus den Skandalen entwickelt hatte, machte nun also vereinzelte tolerante Deutungsangebote sagbar. Unter den Journalisten war es ausgerechnet der moralistische Sensationsjournalist W. T. Stead, der Wilde quasi als einziger in gewisser Weise verteidigte, obgleich er Homosexualität generell ablehnte. In seiner Review of Reviews klagte Stead, wenn Wilde wegen der Verführung von jungen Männern verurteilt würde, deren Leben er vernichtet habe, dann müsse das gleiche Urteil auch für Männer gelten, die das Leben von jungen Frauen durch Verführung zerstörten. Ebenso unterstrich Stead die weite Verbreitung von Homosexualität innerhalb der Oberschicht: „If all persons guilty of Oscar Wilde’s offences were to be clapped into goal, there would be a very surprising exodus from Eton and Harrow, Rugby and Winchester, to Pentonville and Holloway“.209 Mit diesen Äußerungen knüpfte 203 204 205 206 207 208 209 McKenna, Oscar Wilde, S. 515. Dagegen sieht Graham Robb einen „widespread support for Wilde“, wobei er außer Stead jedoch nur einzelne Künstler und Adlige aus Wildes Umfeld als Beleg anführen kann; Robb, Strangers, S. 37 f. Daily Telegraph 6. 4. 1895. Zeitungsartikel zum Prozess gedruckt in: Jonathan Goodman (Hrsg.), The Oscar Wilde File, London 1988. News of the World 26. 5. 1895. Vgl. Illustrated Police News 13. 4. 1895, 4. 5. 1895, 18. 5. 1895, 1. 6. 1895. Reynolds’s Newspaper 26. 5. 1895, S. 1. Allerdings druckte Reynolds nicht die angebotene Verteidigungsschrift von James Wilson; vgl. John Stokes, Oscar Wilde: Myths, Miracles, and Imitations, Cambridge 1996, S. 53–62. Eine Analyse der Berichterstattung und vor allem des Star in: Foldy, The Trials, S. 61–65. Die Orte spielen auf die englischen Eliteschulen und die Orte der Gefängnisse an; Review of Reviews Mai 1895, S. 492. Ebenso druckte er einen Artikel von Artur Newman aus der Free Review ab, der Wilde als Künstler verteidigte; Review of Reviews Juni 1885, S. 539. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Grenzziehungen um 1900 91 Stead an den bereits im Cleveland Street-Skandal erkennbaren Trend an, Homosexualität im Kontext von Prostitution zu sehen. Zudem lässt sich Steads Unterstützung vielleicht auch damit erklären, dass Oscar Wilde in seiner Pall Mall Gazette seit 1886 Kritiken geschrieben hatte und er ihn daher kannte und schätzte. Der Wilde-Skandal war freilich nicht nur über diese öffentlichen Diskurse mit der politischen Sphäre verbunden. Vielmehr kam schnell das Gerücht auf, dass der liberale Premierminister Lord Rosebery in Wildes Prozesse involviert sei. Rosebery habe demnach eine Affäre mit dem ältesten Sohn von Queensberry gehabt, den er als Privatsekretär beschäftigte, bis sich dieser erschoss. Der Premierminister war sich offensichtlich sofort bewusst, dass aus Wildes Prozess ein Skandal von wesentlich größerem Umfang entstehen könnte. Am gleichen Tag, als Queensberry Wilde mit seinem Brief zu einem Prozess herausforderte, kündigte Rosebery zumindest seinen Rücktritt an und fiel in eine nervliche Zerrüttung, die ihn arbeitsunfähig machte.210 Durch eine Indiskretion aus der Jury erfuhr die französische Presse von seiner möglichen Verwicklung, so dass hier Andeutungen über die Involvierung führender Liberaler erschienen, die wiederum in die Gespräche der Londoner Clubs einflossen.211 Bezeichnend ist jedoch, dass die britischen Zeitungen hierüber nicht berichteten. Dem Premierminister auf Verdacht öffentlich Homosexualität vorzuwerfen, war offensichtlich eine Grenze, die trotz der bevorstehenden Wahl nicht überschreitbar war. Auch wenn Rosebery den Rücktritt zurückzog und sich stattdessen im folgenden Monat abwählen ließ, hatte die vermutete Involvierung des Premierministers beträchtliche Konsequenzen für den Prozess. Zumindest einige Zeitgenossen nahmen bereits an, Queensberry habe intern ein Ultimatum gestellt, er würde Belege für die Homosexualität des Premierministers und anderer liberaler Politiker an den Skandalisierer Henry Labouchere übergeben, wenn Wilde nicht die Höchststrafe bekäme. Ob Wildes Urteil dem Premierminister eine derartige Anklage ersparte, ist durch keine überlieferte Quelle klar belegt.212 Aber immerhin, und das ist bereits ein wichtiger Befund, erschien der „Encounter“-Öffentlichkeit der Clubs nach den zahlreichen Skandalen denkbar, dass selbst die ranghöchsten Politiker homosexuell sein könnten und ihre Stellung deshalb von der Diskretion der Journalisten abhing. Allerdings war diese Annahme selbst in Tagebüchern nur andeutungsweise formulierbar. Das Urteil sei „in order to shield others of a higher status in life“, formulierte etwa Edward Hamilton in seinen privaten Aufzeichnungen.213 Und nur auf Wildes 210 211 212 213 McKenna, The Secret, S. 466, 472 und 514. Queensberrys Detektiv hatte ihm 1894 Zeugenaussagen von Zimmermädchen über das Verhältnis zum Premierminister übermittelt. Revue Blanche 1. 6. 1896; Hyde, The Other Love, S. 148; ders., Oscar Wilde. A Biography, London 2001 (Erstausgabe 1976), S. 205. Als Indiz gilt u. a., dass Roseberys Gesundheit seit Queensberrys Vorwürfen völlig zusammenbrach und er erst nach Wildes Verurteilung wieder konzentriert arbeitsfähig war; vgl. McKenna, The Secret, S. 425, 506 f. u. 540 f.; Foldy, Trials, S. 24–29. Eintrag Tagebuch Hamilton 20. 5. 1895, in: Brooks (Hrsg.), Diary of Sir Edwald Hamilton, S. 250. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 92 II. Homosexualität als Skandalon Bitte hin verzichtete Alfred Douglas auf die Veröffentlichung eines Artikel in einer französischen Zeitung, der anklagte, Wilde sei nur zum Schutz führender Liberaler verurteilt worden, da die Polizei Listen mit Tausenden von Homosexuellen habe, gegen die sich nicht vorgehen würde.214 Die gesellschaftlichen Folgen des Wilde-Skandals wurden in der Forschung bereits vielfach diskutiert. Viele Autoren schlossen sich zeitgenössischen Berichten an, die von einer panikartigen Flucht von Homosexuellen auf den Kontinent berichteten, was neuerdings wieder bezweifelt wird.215 Viele Zeitgenossen und spätere Historiker gingen zudem von einer Zunahme der strafrechtlichen Verfolgungen aus. Dies bestätigen die Statistiken nicht. Lediglich die Verurteilungen wegen Aufforderungen zu homosexuellen Handlungen stiegen an.216 Ebenso wurde argumentiert, dass in England durch den Wilde-Skandal keine vergleichsweise offene Diskussion über Homosexualität wie in Deutschland eingesetzt habe.217 Allerdings ließe sich dagegen anführen, dass im Zuge des Cleveland Street- und Wilde-Skandals überhaupt erst ab 1896 entsprechende Schriften in England aufkamen und die Skandale immerhin ein freieres Sprechen über Homosexualität ermöglichten. Auffällig ist schließlich, dass es in den folgenden Jahren vorerst zu keinen vergleichbaren Skandalen um Homosexualität mehr kam. Die bisherigen Skandale waren vermutlich selbst für die Medien eine solche Schockerfahrung, dass sie stärker versuchten, derartige Veröffentlichungen zu verhindern. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die britischen Homosexuellen nach den Skandalen um äußerste Diskretion bemühten, erklärt dies nicht allein, warum die Skandalwelle abebbte. Vielmehr lässt sich die These erwägen, dass die Skandale nicht nur eine Repression homosexueller Praktiken schufen, sondern auch eine gewisse Toleranz, die sich in der kollektiven Vermeidung von derartigen Skandalen niederschlug. Um den Umgang mit prominenten Homosexualitätsvorwürfen nach diesen großen Skandalen der 1890er Jahre zu untersuchen, lohnt ein abschließender Blick auf den „blockierten“ Skandal um den schottischen Kolonialhelden Hector MacDonald. Dem Generalmajor wurde 1903 vorgeworfen, mit mehreren singalesischen Jungen in einem Bahnwagon in Ceylon masturbiert zu haben. Dieser Fall wies damit prinzipiell alle Vorraussetzungen auf, um eine ähnlich große öffentliche Wirkungsmacht wie die spätviktorianischen Homosexualitätsskandale zu entwickeln. Das lag zunächst am Protagonisten. MacDonald war spätestens seit dem Burenkrieg berühmt, und die Medien berichteten häufiger über ihn.218 Aus 214 215 216 217 218 Auszüge aus diesem Manuskript in: Regenia Gagnier, Idylls of the Marketplace. Oscar Wilde and the Victorian Public, Aldershot 1987, S. 205 f. Gagnier konzentriert sich ansonsten jedoch auf die Rezeption von Wildes Werk. Vgl. Robb, Strangers, S. 36. Ebd., S. 272 f. Lauritsen und Guldin, Englische Forschungen, S. 70. Noch kurz vor Beginn des Skandals gab es am 21. 2. 1903 sogar im Unterhaus eine Anfrage nach MacDonalds Gesundheitszustand; Times 22. 2. 1903, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Grenzziehungen um 1900 93 einfachen Verhältnissen stammend, hatte MacDonald nach Kämpfen in diversen Kolonien im Burenkrieg als Regimentskommandeur gedient, anschließend in Indien und Ceylon.219 Da MacDonald den Vorwürfen zufolge mit armen Jungen verkehrte, knüpfte der Fall an das bislang etablierte Narrativ der homosexuellen „Corruption of the Youth“ und der Ausnutzung sozialer Unterschiede an. Zugleich verlagerte dies den Diskurs in einen kolonialen Kontext. Durch die Kritik, die im Burenkrieg an den militärischen Praktiken des Kolonialismus aufkam, stand MacDonald inmitten weiterer politischer Konfliktlinien. Denn zumindest moralisierende Journalisten wie W.T. Stead und C.P. Scott hatten sich im Burenkrieg scharf gegen die koloniale Kriegsführung gewandt und dabei besonders in der Debatte über die „Concentration Camps“ Unterstützung von prominenten Liberalen erhalten.220 Eine entsprechende Enthüllung versprach zudem eine breite Medienaufmerksamkeit, da gerade Homosexualität im Militär ein besonders sensibler Tabubereich war. Dennoch verlief der drohende Skandal anders als seine Vorläufer im Jahrzehnt zuvor. Sein Beginn wies noch gewisse Ähnlichkeiten zu den vorherigen Fällen auf. Als Ceylons Gouverneur Joseph West-Ridgeway Mitte Februar 1903 von den Beschuldigungen erfuhr, schlug er, aus Angst vor der Medienöffentlichkeit, statt einer Untersuchung die sofortige Ausreise MacDonalds und anschließende Versetzung vor, obgleich homosexueller Verkehr in Ceylon nicht strafbar war. Dem Londoner Kolonialministerium deutete er dies nur telegraphisch an: „His immediate departure is essential to save grave public scandal which I cannot explain by telegraph.“221 Dementsprechend meldete auch die britische Presse zunächst lediglich seine Rückkehr.222 Da MacDonald in Gesprächen im Kriegsund Kolonialministerium seine Unschuld beteuerte, verlangten die Minister jedoch für seinen Verbleib in der Armee die Wiederherstellung seiner Ehre vor einem Kriegsgericht in Ceylon, woraufhin er die Rückreise antrat. Obwohl die Journalisten in Ceylon von dem unbestätigten Gerücht wussten, sahen sie von Berichten zunächst ab. Erneut überführten erst eine parlamentarische Aussage und die Ankündigung eines Prozesses den Homosexualitätsvorwurf in die breite Medienöffentlichkeit. In die Zeitungen der gesamten westlichen Welt gelangten die Beschuldigungen, als Gouverneur Ridgeway im Legislative Council in Ceylon auf die Anfrage, wo 219 220 221 222 Zu seinem Lebensweg liegen entsprechend mehrere Biographien vor, die jedoch den Skandal und vor allem dessen öffentliche Thematisierung kaum berücksichtigten; vgl. bes. Trevor Royle, Death before Dishonour. The True Story of Fighting Mac, Edinburgh 1982; sowie: John Montgomery, Toll for the Brave. The Tragedy of Hector MacDonald, London 1963; Kenneth MacLeod, The Ranker, The Story of Sir Hector MacDonald’s Death, Cortland 1976; knappe Hinweise in: Hyam, Empire and Sexuality, S. 33–35. Vgl. einführend zur öffentlichen Debatte hierüber: Paula M. Krebs, Gender, Race, and the Writing of Empire. Public Discourses on the Boer War, Cambridge 1999. S. 32–54. Vgl. auch Kap. IV. 3. Ridgeway an Colonial Office 19. 2. 1903, in: TNA, CO 537. Times 20. 2. 1903, S. 8. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 94 II. Homosexualität als Skandalon MacDonald sei, antwortete: „It is known to all here that grave, very grave charges have been made against Sir Hector Macdonald.“223 Nach einer Beratung in London wolle er diese vor einem Kriegsgericht klären. Und obwohl der Gouverneur sich nur vor lokalen Journalisten geäußert hatte, gelangte seine Antwort dank des Telegraphen- und Korrespondentennetzes von Reuters und Central News sofort in alle großen Redaktionen der westlichen Welt. Schon am nächsten Tag schrieben die großen englischen Qualitätszeitungen – wie die Times, die Daily News oder der Daily Chronicle – über die „very grave charges“.224 Die Daily News berichtete dabei auch unter der Überschrift „Opinion at the clubs“, dass sich die Offiziere schon am Vortag über den Fall unterhalten hätten. „Buller’s affair was a mere fleabite to Macdonald’s trouble. He was the idol of the army […]“, wurde ein Offizier zitiert. Dennoch lobten ihn alle Offiziere und meinten, er komme aus der Sache raus, die ihm Feinde und „scandalmongers“ eingebrockt hätten.225 Auch eine deutsche Qualitätszeitung wie das Berliner Tageblatt schrieb unzweideutig über MacDonalds „Verbrechen, das nicht näher bezeichnet werden kann.“226 Abermals hielt sich dagegen das vermeintliche britische Sensationsblatt par excellence, die Boulevardzeitung Daily Mail, völlig mit Meldungen zurück.227 Hector MacDonald befand sich am gleichen Tag gerade im Frühstücksraum eines Pariser Hotels, als er in der europäischen Ausgabe des New York Herald einen entsprechenden Bericht über jenes transnationale Medienereignis entdeckte, in das sich der Vorwurf gegen ihn verwandelt hatte („Grave charges lie on Sir Hector MacDonald“).228 Daraufhin ging er in sein Zimmer und erschoss sich. Sein Selbstmord lässt sich zunächst mit dem militärischen Ehrenkodex erklären. Er war aber auch eine Reaktion auf die vorhergehenden Skandale. Wie bereits zeitgenössische Studien zur Homosexualität ausmachten, waren Selbstmorde und Selbstmordgedanken unter Homosexuellen gerade wegen der Angst vor Skandalen weit verbreitet.229 Skandale wie die um Wilde, Cobain oder Somerset dürften MacDonald gezeigt haben, welche lang anhaltende öffentliche Demütigung ihm bevorgestanden hätte. Sein Entschluss stand ebenso in einem lockeren Zusammenhang mit dem deutschen Skandal um Friedrich Alfred Krupp, der nur wenige Monate zuvor nach Presseberichten über seinen homo223 224 225 226 227 228 229 Daily Chronicle 25. 3. 1903; Times 25. 3. 1903; Daily News 25. 3. 1903, S. 7. Vgl. ebd. Daily News 25. 3. 1903, S. 7. Berliner Tageblatt Nr. 151, 25. 3. 1903. Vgl. Daily Mail 25. 3. 1903; auch am 26. 3. 1903 wird nichts Genaueres über die Vorwürfe gemeldet. In der bisherigen Literatur wird betont, dass MacDonald sich wegen der Meldung in der amerikanischen Zeitung erschossen habe, die damit die Verantwortung hierfür erhält. Unerwähnt bleibt damit, dass auch englische Qualitätszeitungen am gleichen Tag hierüber geschrieben hatten und somit ebenfalls das Tabu brachen, das zu seinen Tod beitrug; vgl. dagegen etwa Royle, Death, S. 130. Vgl. zu diesen zeitgenössischen Studien und Schätzungen von Hirschfeld u. a.: Stümke, Homosexualität, S. 29 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Grenzziehungen um 1900 95 sexuellen Verkehr mit italienischen Jungen schlagartig verstarb – vermutlich ebenfalls durch Selbstmord, um einem Skandal zu entgehen. Eine Emigration, wie sie im 19. Jahrhundert noch üblich war, war in einer medialen Welt für Prominente ohnehin keine echte Lösung mehr. Der Freitod machte nun den weiteren Verlauf des Skandals ungewiss, da er dem Fall eine komplexe Wendung gab: Einerseits erhöhte der Selbstmord die Publizität des Falles um ein Vielfaches und wirkte wie ein Schuldeingeständnis. Andererseits verhinderte er detaillierte Enthüllungen im Zuge eines Prozesses und legte der Öffentlichkeit Pietät gegenüber dem Toten nahe. Damit war offen, ob die Nachrufe seine militärischen Verdienste oder die Enthüllungen thematisierten. Tatsächlich entschied sich die ganz überwiegende Mehrheit der Zeitungen dafür, Hector MacDonald trotz der Homosexualitätsvorwürfe in den höchsten Tönen zu loben. Lange Beschreibungen seines Lebensweges und seiner militärischen Einsätze standen neben allenfalls marginalen Andeutungen zu den Vorwürfen. Selbst die liberale Daily News, die sich im Burenkrieg besonders gegen koloniale Gewalt gerichtet hatte, berichtete unter der Überschrift „From Farm to Fame“ lobend über seinen Aufstieg und seine Kämpfe.230 Die öffentliche Empörung richtete sich stattdessen gegen diejenigen, die für die Veröffentlichung der letztlich tödlichen Vorwürfe verantwortlich seien. Da die amerikanische Presse in Großbritannien generell als sensationsgierig galt, wurde ihr die Schuld an seinem Tod gegeben – obwohl die britischen Qualitätszeitungen zeitgleich ähnliche Berichte gedruckt hatten. Lieutenant Colonel Stuart Wortley schreibt gleich nach dem Tod einen entsprechend anklagenden Leserbrief an den New York Herald, den wiederum die englischen Zeitungen befriedigt abdruckten, da er sie von einer Mitschuld entlastete.231 Dieser liberal-konservative Konsens wurde freilich erneut durch die linke Reynolds’s Newspaper durchbrochen, die den Fall in die Narrative der letzten Skandale und in die Klassenfrage einlas und nun zusätzlich mit einer Imperialismuskritik verband: „The charge because of which Lieutenant-General Hector Macdonald committed suicide is a common vice among the well-to-do classes in London, both sexes of whom luxury, idleness, and Imperialism have thoroughly corrupted. Needless to say that he was accused of a sexual offence.“232 Aus MacDonalds Fall leitete sie generelle Aussagen über große Soldaten ab, bei denen ein „exaggerated animalism“ typisch sei. Sie überführte die Vorwürfe zudem in eine direkte Kritik an der Regierung, die schon lange Bescheid gewusst habe und durch ihr Beharren auf ein Kriegsgericht den Tod verursachte. Ver230 231 232 Vgl. Daily News 26. 3. 1903, S. 12; Times 26. 3. 1903, S. 8 und 27. 3. 1903, S. 3; Westminster Gazette 26. 3. 1903. „The publication you gave in your issue of yesterday and your manner of wording it, was sufficient to cause dismay to any men, whether guilty or not, of the crimes you have accused; but unfortunately all public men and their lives are public property nowadays as to certain sections of the press.“ Wieder abgedruckt etwa ihn: Daily News 30. 3. 1903, S. 12; Reynolds’s Newspaper 5. 4. 1903, S. 4. Reynolds’s Newspaper 29. 3. 1903, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 96 II. Homosexualität als Skandalon weise auf andere Skandale, wie auf den Cleveland Street-Fall und die KruppAffäre erhärteten ihre Anklage gegen die politische Führung; „even as the Krupp incident helped to show the German people the iniquity of their rulers.“ Die deutsche Presse blieb bei ihren Berichten über MacDonalds Tod zwar von ihren Wertungen her zurückhaltender, versuchte aber zumindest im Zuge der Ermittlungen die Ursachen des „Sittlichkeitsverbrechens“ auszumachen.233 Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass die Öffentlichkeit MacDonald trotz der Homosexualitätsvorwürfe ehren wollte, die konservative Regierung ihm hingegen aus Angst vor einer Eskalation des Skandals jede öffentliche Anteilnahme verweigerte. Da das Kolonialministerium intern von ähnlichen Vorwürfen gegen MacDonald aus Südafrika und Indien erfahren hatte, ging es im hohen Maße von seiner Schuld aus. Die Regierung setzte sich erst für ein unauffälliges Begräbnis in Paris ein, dann auf Wunsch von MacDonalds Angehörigen für eine geheim gehaltene Beerdigung in Schottland – ohne jede militärische Ehre. Gerade dagegen wehrten sich jedoch weite Teile der Öffentlichkeit. Bereits gegen die heimliche Beerdigung erhoben sich vielfältige Proteste. Schon einen Tag, nachdem das Begräbnis bekannt wurde, kamen rund 30 000 Menschen zu dem Friedhof, und zumindest nach den Medienberichten riss dieser Besucherstrom auch in den folgenden Wochen nicht ab.234 Gut eine Woche später kamen bereits verschiedene Kirchenvertreter, „clan societies“ und andere „Highland associations“ zusammen, um den Bau eines Denkmals für ihn zu planen.235 Zudem versuchte ein Komitee, MacDonalds Unschuld zu beweisen.236 Ebenso wurde im Unterhaus dem Kolonialminister Chamberlain vorgeworfen, die Bekanntgabe der Vorwürfe sei eine Vorverurteilung gewesen. Durch diese vielfältigen Sympathiebekundungen an MacDonald kam es zu einer Verlagerung der Empörung: Sie richtete sich nicht mehr gegen den vermeintlichen Homosexuellen, sondern gegen das Verhalten der Regierung. In dieser öffentlichen Unterstützung MacDonalds zeigten sich unterschiedliche, sich überlagernde Umgangsweisen mit den Homosexualitätsvorwürfen. Indem die Öffentlichkeit sie ignorierte, stellte sie einerseits wieder eine moralische Ordnung her, in der Homosexualität nicht existent war. Andererseits bedeutete die Zurückstellung der öffentlichen Vorwürfe zugleich eine gewisse Akzeptanz möglicher Homosexualität oder zumindest das Zugeständnis, dass Verdienste für das Land diese Vermutung aufwiegen können. Dabei galt selbst der Freitod nicht als Schuldeingeständnis oder aus religiösen Deutungen heraus als problematisch. Vielmehr erschien MacDonald als ein Opfer der Medien und ihrer Skandalisierungen. Zugleich ist anzunehmen, dass die Zeitungen durch 233 234 235 236 Vgl. bes. die Berichte in Vossische Zeitung und Berliner Tageblatt ab 25. 3. 1903. Reynolds’s Newspaper 12. 4. 1903, S. 4; Royle, Death, S. 137. Times 10. 4. 1903, S. 8; Times 11. 5. 1903, S. 6. Da das Kolonialministerium sicherheitshalber die Akten über den Fall unmittelbar nach seinem Tod zerstörte, ist diese Schuldfrage auch für Historiker nicht zu beantworten; vgl. bereits Hyam, Empire, S. 34 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 97 MacDonalds Tod selbst über die möglichen Folgen ihrer Berichterstattung so erschüttert waren, dass sie Homosexualität in den folgenden Jahren wieder stärker in der Sphäre des Geheimen beließen. Vergleichbare Skandale wie in den 1880er und 1890er Jahren traten nun zumindest bis zum Ersten Weltkrieg nicht mehr auf. Vielmehr verlagerte sich die Welle der Homosexualitätsskandale ab 1900 nach Deutschland. 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri Vor allem die breite Berichterstattung über Oscar Wildes Skandal stieß in ganz Westeuropa öffentliche Diskussionen darüber an, was Homosexualität eigentlich ausmache und wie sie zu bewerten sei. Gerade in Frankreich, wo durch die liberalen Gesetze entsprechende Skandale ausblieben, verhalfen die zahlreichen Artikel über den Wilde-Prozess dazu, öffentliche Vorstellungen über Homosexualität zu konstruieren.237 In Deutschland kamen 1895/96 nicht nur zahlreiche Publikationen auf, die den Wilde-Prozess und Homosexualität generell thematisierten. In Reaktion auf den Prozess formierten sich auch die Homosexuellenbewegung und erste Homosexuellenzeitschriften, wie das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen und die von Adolf Brand herausgegebene Zeitschrift Der Eigene.238 Indem die Journalisten anderer Länder die britischen Fälle aufgriffen, bereiteten sie allerdings auch den Transfer entsprechender Skandale vor. Ein deutscher Journalist, der aus London besonders ausführlich über die englischen Homosexuellenprozesse berichtete, war der Sozialdemokrat Eduard Bernstein. In dem eher programmatisch ausgerichteten SPD-Blatt Die Neue Zeit nahm er den Wilde-Skandal zum Anlass, um grundsätzlich den sozialdemokratischen Standpunkt zur Homosexualität zu reflektieren. Tatsächlich hatten sich die Sozialdemokraten bislang kaum mit ihr auseinandergesetzt. Bernstein kritisierte, in der SPD würde mehr „verurteilt statt beurteilt“. Er monierte gängige Zuschreibungen wie „widernatürlich“ und betonte, Homosexualität sei nicht nur in Verfallszeiten zu finden, sondern in allen Kultur- und Naturstufen. Zudem sei es eine Form der Doppelmoral, Verkehr mit Frauen zu tolerieren, der nicht der Kinderzeugung diene, sondern ein „reiner Genussakt“ sei, hingegen den zwischen Männern zu bestrafen.239 Mit seiner sowohl historischen als auch medizinischen Argumentation schloss Bernstein an englische und deutsche Reformdiskurse an. Bernstein wehrte sich zwar dagegen, dass sich der Staat 237 238 239 Nancy Erber, The French Trials of Oscar Wilde, in: Journal of the History of Sexuality 6 (1996), S. 549–588. Vgl. zu den Blättern: Marita Keilson-Lauritz, Die Geschichte, S. 27 f. Eduard Bernstein, Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs, in: Die Neue Zeit 13. 2 (1895), S. 228–233; wichtige Hinweise in: W.U. Eissler, Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur Sexualpolitik von SPD und KPD in der Weimarer Republik, Hamburg 1980, S. 39 f. Bernsteins Diktum über die bislang tatsächlich wenig ausgearbeitete Position der Sozialdemokratie richtete sich gegen frühere Andeutungen von Bebel. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 98 II. Homosexualität als Skandalon die Rolle des Moralwächters anmaße. Auf der normativen Ebene formulierte Bernstein jedoch eine Position, die sich innerhalb der Sozialdemokratie bei allen späteren Skandalen als wirkungsmächtig erwies: „Es ist vielmehr in jedem einzelnen Fall zu unterscheiden, ob wüste Ausschweifungen oder eine unüberwindliche Liebe zum eigenen Geschlecht vorliegt, die nicht sittenrichterlich, sondern pathologisch zu beurteilen ist.“240 Diesem offenen Diktum folgend, verurteilte er auch Oscar Wildes Verhalten als „päderastisch“ und nicht akzeptierbar. In Folge der Wilde-Debatte und Bernsteins Überlegungen traten auch die Sozialdemokraten insgesamt für die Straffreiheit von Homosexualität ein, verurteilten aber fallweise „Ausschweifungen“, die sie besonders der Oberschicht zuschrieben.241 Die deutsche Rezeption des Wilde-Skandals hatte zudem eine weitere Auswirkung auf die Agitation der Sozialdemokratie, ihren Umgang mit Homosexualität und das Aufkommen von Skandalen. 1897 hatte der führende Berliner Sexualwissenschaftler, Magnus Hirschfeld, auch in Reaktion auf Wildes Verurteilung, eine Petition zur Abschaffung des § 175 organisiert, die August Bebel unterstützte und am 13. Januar 1898 im Reichstag begründete.242 Die englischen Skandale führten somit zumindest indirekt zu dem Versuch, die deutsche Gesetzgebung zu liberalisieren. Bestraft werden sollten Homosexuelle nur, wenn Gewalt angewendet würde, ein Beteiligter unter 16 sei oder sie ein öffentliches Ärgernis erregten. Gerade weil diese Forderung im Reichstag keine Chance auf eine Mehrheit hatte, setzte Bebel in der Debatte jedoch auf eine Strategie, die Bernsteins Zweiteilung in dekadente und zulässige Homosexualität aufgriff. Bebel forderte, um die Doppelmoral der bürgerlichen Abgeordneten und der Regierung vorzuführen, die „rosa Listen“ der Berliner Sittenpolizei zu öffnen, in der sich die Namen aus höchsten Kreisen finden würden. „Würde auf diesem Gebiet die Berliner Polizei – ich will zunächst nur einmal von dieser reden – ihre volle Pflicht und Schuldigkeit tun, dann gäbe es einen Skandal, gegen den der Panamaskandal, der Dreyfusskandal, der Lützow-Leckert- und der TauschNormann-Schumann-Skandal das reine Kinderspiel sind.“243 Dieser erpresserische Verweis, bei dem viele Zuhörer und Leser Namen assoziieren konnten, bildete gewissermaßen den Beginn späterer Kampagnen, mit denen die SPD die Doppelmoral der Eliten anprangerte. Der Sprengkraft eines derartigen Skandals um einen prominenten Homosexuellen, das unterstrich Bebels Rede, waren sich die Sozialdemokraten bewusst. Nicht zuletzt aus den englischen Skandalen kannten sie dessen Wirkung. 240 241 242 243 Bernstein, Die Beurtheilung, S. 231. Diese normative Zweiteilung findet sich auch in der auflagenstärksten Schrift eines damaligen Sozialdemokraten: August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1909, S. 148 (Erstaufl. 1878). Lautmann und Taeger, Sittlichkeit, S. 243. Verhandlungen des Reichstages 13. 1. 1898, Bd. 159, 16. Sitz., S. 410. Die Existenz dieser Listen ist umstritten und ihre Bezeichnung variierte; in den Archiven ließen sich keine fundierten Spuren von ihnen finden. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 99 Die Probe aufs Exempel erfolgte am 15. November 1902 mit einem Artikel im Vorwärts, der dem Unternehmer Friedrich Alfred Krupp explizit homosexuellen Verkehr auf der italienischen Insel Capri vorwarf.244 Dass diese Enthüllung ausgerechnet Krupp traf, hatte vielfältige Gründe. Nicht allein die exzeptionelle Größe seines Unternehmens, das immerhin rund 50 000 Menschen beschäftigte, war entscheidend, sondern vor allem Krupps herausragende öffentliche Stellung. Krupp war wie kaum eine andere Person eine Projektionsfläche für weltanschauliche Ressentiments. Dank seiner Rüstungsproduktion repräsentierte Krupp die militärische Expansion Deutschlands, und durch seine guten Kontakte zum Kaiser stand er für den Schulterschluss zwischen Monarchie und bürgerlichen Eliten. Das politische und soziale Engagement der Unternehmensführung machte Krupp zudem zum Sinnbild einer paternalistischen Bekämpfung der Sozialdemokratie.245 Die Sozialdemokraten hatten deshalb in den Jahren zuvor immer wieder versucht, Krupp durch verschiedene Kampagnen in Skandale zu verwickeln und ihn moralisch zu diskreditieren. So hatten sie im Reichstag – zusammen mit Teilen des Zentrums und der Liberalen – dem Unternehmen mehrfach Preisüberhöhungen bei Panzerplatten vorgeworfen, die er zudem den USA billiger liefere als dem Reich.246 Ebenso stellten viele Artikel und Karikaturen Krupp als jemanden dar, der auf unpatriotische Weise mit jedem Land Waffengeschäfte mache.247 Ernsthaft schaden konnten diese Vorwürfe Krupp nicht. Dennoch intensivierte Krupp daraufhin seine Öffentlichkeitsarbeit.248 Gegenüber dem Vorwurf der Homosexualität konnte dies jedoch ebenso wenig helfen wie seine Verbindungen zum Kaiser und zur Reichsleitung. Die Enthüllung des Vorwärts war zwar spektakulär, sie erschien aber im Falle Krupps nicht abwegig genug, um sie einfach als abstruse Verleumdung zu übergehen. Dass Krupp seit 1898 jährlich oft mehrere Monate auf Capri verbrachte, war der Öffentlichkeit durch zahlreiche Illustriertenberichte bestens bekannt. Krupps Interesse an der Tiefseeforschung, gesundheitliche Probleme und eine gewisser Überdruss am Essener Unternehmens- und Familienalltag galten als wesentliche Gründe für diese langen Reisen, die er meist ohne seine Ehefrau machte. 1902 verbrachte er den Großteil des Jahres dort und kam bis zum Sommer lediglich kurz nach Essen.249 Bis Oktober 1902 schaffte er sich in Capri einige Besitzungen an, wie ein Hotel, eine Villa mit Weinhängen, die berühmte 244 245 246 247 248 249 Vorwärts 15. 11. 1902, S. 2 f. Aus der umfangreichen Literatur zu dem Unternehmen und seinen Besitzern vgl. bes. Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000; kritisch, mit vielen Ungenauigkeiten: William Manchester, Krupp. Chronik einer Familie, München 1978. Vgl. generell zu den Kampagnen im 19. Jahrhundert und Krupps Reaktionen: Barbara Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, München 2000, S. 283 f., 295 f. Vgl. Kladderadatsch 17. 3. 1901; Wahre Jacob 6. 5. 1902; Ulk 15. 7. 1900 u. 7. 9. 1902. Diese und weitere Ausschnitte in: HAK, FAH 3 D 19. F.A. Krupp an Wilhelm II., 27. 7. 1897, in: GStA, BPH Rep. 53 J, Lit. K, Nr. 11–18. Zu Krupps Reisen nach Capri vgl. die Unterlagen in: WA XVII 6. Vgl. zudem: Carlo Knight, Die Capri-Utopie von Krupp/L’Utopia Caprese di Krupp, Neapel 1989, bes. S. 50–62. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 100 II. Homosexualität als Skandalon Grotte Fra Felice und einige andere Grundstücke.250 Krupps Unterstützung der Inselbewohner, die die bürgerlichen Zeitungen bislang priesen, erhielt durch den Vorwärts eine Umdeutung. Dass die angeblichen Ausschweifungen auf einer fernen Insel stattgefunden haben sollten, war für den Vorwärts ebenfalls von Vorteil: Wie bei den Kolonialskandalen erhöhte dies die Imaginationsräume der Leser und erschwerte zugleich die Überprüfung der Vorwürfe. Obgleich der Vorwärts keine echten Belege hatte, erschienen seine Beschuldigungen vielen Lesern, Journalisten und Politikern nicht ganz unbegründet. Zumindest in gebildeten Kreisen und der Berliner Elite war Capri als Treffpunkt Homosexueller bekannt. Die Protagonisten der englischen Homosexualitätsskandale kamen ebenfalls hierher. So wohnten Alfred Douglas und Oscar Wilde unmittelbar nach Wildes Freilassung sogar im gleichen Hotel wie Krupp.251 Dass auch deutsche Homosexuelle hierher reisten, erfuhren die Zeitungsleser im Zuge des Krupp-Skandals etwa durch die zeitgleiche Verhaftung des homosexuellen Malers Wilhelm Allers, der in Capri neben Krupps Hotel wohnte und mit ihm befreundet war.252 In Berlin gab es anscheinend seit längerem Gerüchte über Krupp, wie die Vossische Zeitung betonte.253 Am Hof, so berichtet Graf Robert Zedlitz-Trützschler, sprach man öfters darüber, dass Krupp „ein merkwürdiges Interesse für männliche Künstler, Kellner und überhaupt junge Männer hatte“, sie förderte und ihnen öffentlich den Kopf streichelte.254 Die professionellen Beobachter von Homosexualität teilten diese Einschätzung über Krupp. Magnus Hirschfeld meinte, aus „sicherer Quelle“ vor einiger Zeit gehört zu haben, Krupp habe sich wegen seiner Homosexualität von einem Berliner Arzt behandeln lassen.255 Der zuständige Berliner Kommissar für Sittendelikte, Hans von Tresckow, wusste angeblich, dass Krupp bei seinen Besuchen im Berliner Hotel Bristol nur private junge Diener hatte, die er extra aus Italien kommen ließ.256 Aus diesem Grunde hätte die Sittenpolizei Krupp auch in seinen „rosa Listen“ geführt, auf die Bebel 1898 in seiner drohenden Reichstagsrede angespielt hatte. Auch wenn Krupps „wahres“ Privatleben hier nicht zur Debatte steht, prägten diese latenten Gerüchte zumindest das Aufkommen und den Verlauf des Skandals. 250 251 252 253 254 255 256 Vgl. die Aufstellungen nach seinem Tod in: Haux an Lo Bianco, 30. 12. 1902 und 20. 1. 1903, in: HAK, FAH III 67: 11 und 25 f. Vgl. hierzu James Money, Capri. Island of Pleasure, London 1986, S. 54 f. Zu den englischen Capri-Reisenden 1895 zählten etwa William Somerset Maugham, Edward Frederick Benson und John Ellingham Brooks. Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 558, 28. 11. 1902. Vossische Zeitung Nr. 589, 17. 12. 1902. Graf Robert Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre am Deutschen Kaiserhof, Stuttgart 1952 (Erstausgabe 1923); zugleich betont er, dass er nicht glaube, dass Krupp Homosexualität praktiziert habe. Hirschfeld an Eisner 22. 11. 1902, in: Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert Stiftung (AdsD), F 202: 43. Hans von Tresckow, Von Fürsten und anderen Sterblichen. Erinnerungen eines Kriminalkommissars, Berlin 1922, S. 127. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 101 Die Enthüllungen des Vorwärts erschienen, im Unterschied zu früheren Kampagnen gegen Krupp, nicht als großer Aufmacher, sondern eher versteckt auf der zweiten Seite mit der unauffälligen Überschrift „Krupp auf Capri“. Die Sozialdemokraten waren sich offensichtlich bewusst, dass ein allzu sensationeller Artikel auf sie selbst hätte zurückfallen können. Dementsprechend begann der Artikel mit dem Verweis, die ausländische Presse sei seit Wochen „voll von ungeheuerlichen Einzelheiten über den ‚Fall Krupp‘“, die sie jetzt erst nach langem Erwägen und gründlicher Prüfung der deutschen Öffentlichkeit übermittelte. Inhaltlich machte der Artikel einen ähnlichen Spagat wie Eduard Bernsteins Überlegungen zum Wilde-Skandal. Einerseits forderte der Vorwärts auf, anhand dieses prominenten Falles eine Diskussion über die Abschaffung des § 175 einzuleiten. Dementsprechend umschrieb er Homosexualität als „unglückliche Veranlagung“. Andererseits erhob der Artikel explizite moralische Anklagen gegen Krupp, die sich aus einer klassischen Kapitalismuskritik speisten, diese nun aber mit sensationellen sexuellen Enthüllungen verbanden. So hieß es äußerst anschaulich: In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa – wir geben nur einige der notwendigsten Einzelheiten wieder, die unser italienischer Korrespondent uns berichtet – huldigte er mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr. Die Korruption war bis zu einer solchen Höhe gediehen, dass man bei einem Photographen von Capri gewisse, nach der Natur aufgenommene Bilder sehen konnte.[...] das Mitleid, das das Opfer eines verhängnisvollen Natur-Irrtums verdient, muß versagen, wenn die Krankheit zu ihrer Befriedigung Millionen in ihre Dienste stellt. [...] Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es die Pflicht der Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen.257 Ähnlich wie in England war es also vor allem das Narrativ des reichen Verführers und der bürgerlichen Doppelmoral, das die Angriffe legitimieren sollte. Unverkennbar wurde der sexuelle Normbruch enthüllt, um politische Ziele zu erreichen und das gegnerische politische Lager moralisch zu disqualifizieren. Insofern hatte der Skandal eine große Ähnlichkeit mit der Kampagne der Irischen Nationalisten im Dublin Castle-Skandal 1883/84, aber auch mit den Kampagnen der Radikalliberalen gegen Lord Somerset im Cleveland StreetSkandal. Ein investigativ recherchierter Bericht war der Artikel nicht. Der Redakteur Kurt Eisner griff lediglich Meldungen auf, die bereits in ausländischen Zeitungen erschienen waren und bereits ähnlich Kapitalismus- und Homosexuellenkritik verknüpft hatten.258 Weitere Belege für die Anschuldigung, die über diese Artikel hinausgingen, hatte der Vorwärts vor der Veröffentlichung jedoch offensichtlich nicht recherchiert, und auch der erwähnte Korrespondent in Capri war eine Fiktion. Vor allem das neapolitanische sozialistische Blatt Propaganda hatte 257 258 Vorwärts 15. 11. 1902, S. 3 (H.i.O.). Dass Kurt Eisner (der später 1919 ermordete bayrische Ministerpräsident) damals den Artikel aufbrachte, und Redaktionskollegen ihm abrieten, erinnert: Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 67. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 102 II. Homosexualität als Skandalon im September und Oktober 1902 mehrfach derartige Berichte aufgebracht. Die Wiener Arbeiter-Zeitung hatte bereits am 27. Oktober hierüber geschrieben, und auch in Deutschland war in der katholischen BVP-nahen Augsburger Volkszeitung schon am 8. November ein entsprechender Artikel erschienen, der ohne Namensnennung unzweideutig erwähnte, dass „der Fall mit dem Namen eines Großindustriellen zu tun [hat], der mit dem kaiserlichen Hof eng verbunden ist.“259 Damit hatte die katholische Zeitung bereits einen wesentlichen Kern der Anschuldigung getroffen: Es ging darum, ob eine Person in der Umgebung des Kaisers, die zugleich das moderne Kaiserreich verkörperte, homosexuell sein könne. Der Artikel im Vorwärts traf Friedrich Alfred Krupp somit keineswegs aus heiterem Himmel. Als er Mitte November erschien, hatte Krupp, wie seine Korrespondenz belegt, sich schon monatelang intensiv darum bemüht, einen entsprechenden Skandal zu verhindern. Bereits im März 1902 war er anonym gewarnt worden, sofort Capri zu verlassen, was er noch ausschlug.260 Im Juli/ August kursierten auf der Insel jedoch so penetrante Gerüchte, dass Krupp sich tatsächlich schweren Herzens von Capri zurückzog.261 Als im September die ersten Zeitungsartikel erschienen, versuchte Krupp weitere Enthüllungen durch seine politischen Kontakte zu verhindern: Er wandte sich brieflich an den „Kaiserlich Deutschen Generalkonsul in Neapel und beauftragte Freunde in Neapel, den Gerüchten nachzugehen.262 Krupps Vertrauter in Essen, Assessor Korn, machte Mitte Oktober 1902 bereits ein Treffen mit dem deutschen Botschafter in Italien aus, um „durch ihn eine Aufklärung der Kreise in Rom und ein endgültiges Ende der Publikationen zu erreichen.“263 Als die Artikel immer noch nicht aufhörten, bat er direkt den Außenstaatssekretär Oswald von Richthofen, ihm über sein Ministerium „die Mittel und Wege anzugeben, wie ich meine Ehre verteidigen kann und thunlichst selbst hierzu mir seinen Beistand leisten zu wollen.“264 Der Außenstaatssekretär, der Botschafter und seine Freunde in Italien rieten Krupp aber alle, die Artikel zu ignorieren. Ein gerichtliches Vorgehen, so Richthofen, würde nur die Wirkung „eines Kanonenschusses auf 259 260 261 262 263 264 Vgl. Propaganda 18. 9. 1902, 15. 10. und 20. 10. 1912.; La Tiempo 23. 10. 1902; Arbeiter-Zeitung 27. 10. 1902; Ein Artikel des Matinos aus dem Sommer 1902 mit Andeutungen, der ebenfalls „Krupp auf Capri“ hieß, erschien später übersetzt in: BZ am Mittag 549, 23. 11. 1902. Zum Aufkommen und öffentlichen Ablauf des Skandals vgl. bereits knapp: Gall, Krupp, S. 282; ohne Quellen und Belege: Manchester, Krupp, S. 226f; am ausführlichsten zur öffentlichen Wirkung: Wolbring, Krupp, S. 307–333. Die Darstellungen von Wolbring kann hier jedoch, neben der anderen Fragestellung, um interne und öffentliche Quellen ergänzt werden. HAK, FAH 3 B 3: 319; F.A. Krupp an A. Krupp, 20. 5. 1902, in: HAK, FAH III B 3: 323. Vgl. hierzu auch Humbert Kesel, Capri. Biographie einer Insel, München 1971, S. 267 f. Krupp an Konsul Wantoch-Regowski 26. 9. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 17; Dohrn an Korn 27. 9. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 33; Wedel an FA Krupp, 3. 10. 1902 in: HAK, FAH 3 D 18: 13. Korn an Tuning, 10. 10. 1902, in. HAK, FAH 3 E 47: 10. Krupp an Richthofen 27. 10. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 103 Spatzen“ haben: Es mache viel Lärm und verhindere gerade dadurch den Erfolg.265 Anscheinend fanden einige seiner Berater die Vorwürfe der Presse jedoch nicht ganz abwegig, da sonst bei derartigen schweren Ehrverletzungen Verleumdungsklagen, neben dem Duell, die gängige Reaktion waren. Ebenso verzichtete Krupp nach dem Artikel in der Wiener Arbeiter-Zeitung auf eine Klage, obgleich seine österreichische Firmenleitung auf einen Prozess drängte.266 Gerade aus den entsprechenden Prozessen in Großbritannien dürfte Krupp gewusst haben, dass diese den Vorwürfen erst eine breite Öffentlichkeit gaben, unkalkulierbare Zeugenaussagen förderten und damit zum Ausbruch eines Skandals führten. Zugleich musste Krupp aber gegenüber den deutschen Eliten seine prinzipielle Bereitschaft zeigen, den Anschuldigungen durch Prozesse zu begegnen. Um einen Skandal zu verhindern, ließ Krupp bereits einen Monat vor Erscheinen des Vorwärts-Artikels in Absprache mit dem Kaiser seine eigene Ehefrau in ein Sanatorium einliefern, weil sie ebenfalls das Gerücht über seine Homosexualität verbreitet hätte. In einem persönlichen Brief dankte Krupp dem Kaiser für diese Einweisung: „Im Einverständnis mit Eurer Majestät haben die Herren Hollmann Exc., Dr. Vogt und Assessor Korn es möglich gemacht, mir die schwerwiegenden Enthüllungen über manche Äußerung und Handlungen meiner Frau bis vor drei Tagen vorzuenthalten. Jetzt aber, da die Krankheitserscheinungen bei meiner Frau sich mehrten und die von ihr in Umlauf gesetzten Gerüchte in weitere Kreise drangen, entschlossen sich die drei Herren, mich nunmehr über den Zustand meiner Frau aufzuklären.“267 Diese Einbindung des Kaisers unterstrich damit einmal mehr, dass es sich bei dem Skandal schon vor dem Vorwärts-Artikel um eine Krise handelte, in die die Monarchie auf das Engste involviert war. Erst auf die Veröffentlichung im Vorwärts reagierte Krupp sofort mit einer Verleumdungsklage, da jedes andere Verhalten ein Schuldeingeständnis gewesen wäre. Krupps privilegierte Stellung bei der Verhinderung des Skandals zeigte sich weiterhin. So erreichte er die sofortige Beschlagnahmung des Vorwärts und anderer sozialdemokratischer und linksliberaler Blätter, die den Vorwurf tagsdrauf nachgedruckt hatten. Das Gesetz sah dies bei persönlicher Beleidigung eigentlich nicht vor. Zudem erfolgte sofort eine Durchsuchung der Redaktionsräume des Vorwärts und der anderen Blätter und die Vernehmung des formell verantwortlichen Redakteurs Carl Leid, worüber sich der Justizminister selbst 265 266 267 Richthofen an F.A. Krupp 12. 11. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 5. Korn an Schmidt-Altherr 10. 11. 1902, in: HAK, FAH III D 60: 5–12; Telegramm Korn an Schmidt-Altherr, 14. 11. 1902 in: HAK, FAH III D 60: 19. F.A. Krupp an Wilhelm II, 13. 10. 1902, in: GStA, BPH Rep. 53 J, Lit. K. Eine gedruckte Version auch in: Willi A. Boelcke (Hrsg.), Krupp und die Hohenzollern in Dokumenten. Krupp-Korrespondenz mit Kaisern, Kabinettschefs und Ministern 1850–1918, Frankfurt a. M. 1970, S. 161. Es ist unwahrscheinlich, dass die Einweisung seiner Frau tatsächlich ohne sein Wissen vorbereitet wurde. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 104 II. Homosexualität als Skandalon vom zuständigen Staatsanwalt informieren ließ.268 Krupp sah schließlich von neuen Strafanträgen gegen weitere sozialdemokratische Zeitungen ab, bat aber den Justizminister, bei jedem erneuten Abdruck strafrechtlich vorzugehen.269 Gerade im Vergleich zu Großbritannien machte der Fall damit die große, recht willkürliche Macht der staatlichen Zensurmittel in Deutschland deutlich, die nun auch liberale Zeitungen direkt kritisierten.270 Um dennoch kursierenden Gerüchten zu begegnen, schickte Krupp eine Gegenerklärung an die Presse, die er auch in seinen Fabriken aufhängen ließ. Zudem übergab Krupps rechte Hand, Assessor Korn, der Kölnischen Zeitung eine längere Rechtfertigung über das Aufkommen der Gerüchte, die er bereits elf Tage vor dem Vorwärts Artikel prophylaktisch verfasst hatte. Demnach sei Krupp in Capri das Opfer eines Streites zwischen zwei im Kommunalwahlkampf verfeindeten Parteien geworden, wobei eine Seite ihn aus Neid auf seine Wohltaten verleumdet hätte.271 Zu den starken Argumenten Krupps gegen den Vorwärts zählten aber vor allem, wie beim englischen Cleveland Street Scandal, Detailfehler in dem Artikel. So hatte Krupp nicht in einer „Villa“ gewohnt, sondern in einem Hotel. Dieses Detail schien den gesamten Vorwurf in Frage zu stellen. Der kleine Artikel zeigte schnell die Gewalt einer medialen Skandalisierung. Trotz seiner zahllosen Bemühungen, den Gegenbelegen und seinen exzellenten Verbindungen zur Presse und Politik sah Friedrich Alfred Krupp die Situation anscheinend als völlig ausweglos an. Nur eine Woche nach den Enthüllungen verstarb der 49-jährige, aller Wahrscheinlichkeit nach durch Selbstmord. Ähnlich wie beim schottischen Kolonialhelden Hector MacDonald konnte der plötzliche Tod wie ein Schuldeingeständnis wirken, auch wenn die offizielle Diagnose Hirnschlag lautete.272 Durch die Todesmeldung ließ sich zwar, wie beim britischen Skandal um Hector MacDonald, der Vorwurf der Homosexualität überdecken, aber um der Sozialdemokratie die Schuld an Krupps Tod zu geben, musste die bürgerliche Öffentlichkeit wiederum deren Vorwurf thematisieren. Dieses Spannungsverhältnis prägte den folgenden Skandal. Da in Deutschland bislang noch kaum Erfahrungen mit derartigen Homosexualitätsvorwürfen gegenüber Prominenten bestanden, war relativ offen, wie die Öffentlichkeit auf den Vorwärts-Artikel und Krupps Tod reagieren würde. 268 269 270 271 272 Vgl. Berichte Erster Staatsanwalt an Justizminister 17. 11. 1902 und 19. 11. 1902, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49713. Eingabe des Direktoriums der Firma Friedr. Krupp an Justizminister 21. 11. 1902, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49713-6. Vgl. die Kritik in: Berliner Tageblatt Nr. 607, 29. 11. 1902; Frankfurter Zeitung Nr. 336, 4. 12. 1902; Münchner Neueste Nachrichten Nr. 541, 21. 11. 1902; NZZ Nr. 333, 1. 12. 1902. HAK, FAH III D 60:1. Kölnische Zeitung 20. 11. 1902. Dies übernahmen alle Blätter. Das Protokoll, das von vier Ärzten unterzeichnet ist, sagt, er sei um sechs Uhr mit Gehirnschlag gefunden worden und um drei Uhr nachmittags verstorben; in: HAK, FAH 3 D 20. Vogt hielt bis zu seinem Tode in persönlichen Gesprächen daran fest, dass Krupp sanft in seinen Armen entschlafen ist; vgl. etwa Aussage Cohn 18. 1. 1961 über Gespräch mit Vogt 1958, in: ebd. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 105 In den ersten drei Tagen griffen lediglich einige sozialdemokratische und ganz wenige linksliberale Zeitungen die Vorwürfe des Vorwärts auf. Da der Tabubruch politisch motiviert war, trugen ihn auch nur entsprechende politisch linksstehende Blätter. Die Mehrzahl der Zeitungen wartete dagegen, ähnlich wie bei den britischen Skandalen, zunächst das offizielle Dementi ab, das sie dann drei Tage später mit vorsichtigen Andeutungen zu den Vorwürfen abdruckten und die Thematisierung somit legitimierten. Selbst die Boulevard- und Massenblätter – wie der Berliner Lokal-Anzeiger, die BZ am Mittag oder die Berliner Illustrirte Zeitung – die bei Medienhistorikern als Sensationszeitungen gelten, berichteten zunächst nicht. Erst mit Krupps Tod erschienen in jeder Zeitschrift und Zeitung ausführliche tägliche Berichte über den Unternehmer und sein plötzliches Verscheiden. Erst nach dem Tod versuchten die Zeitungen ausführlicher, die „Wahrheit“ über Krupp auf Capri zu ermitteln. Über eigene Korrespondenten in Italien, die die Vorwürfe auf Capri von journalistischer Seite hätten überprüfen können, verfügten die Zeitungen jedoch kaum. Lediglich der Vorwärts schickte sofort seinen Redakteur Georg Gradenauer zur Recherche nach Capri und Neapel, um den bevorstehenden Prozess vorzubereiten. Um Krupps Verteidiger einzuschüchtern, meldete er der Presse „Das aus Mailand, Florenz, Venedig, Rom, Neapel und von Capri herbeigeschaffte Material ist bergehoch“, ohne jedoch neue Anschuldigungen vorzubringen.273 Trotz fehlender Auslandskorrespondenten in Italien publizierten fast alle größeren Zeitungen Augenzeugenberichte aus Capri, indem sie Zuschriften von Reisenden und Augenzeugen druckten, die in den letzten Jahren auf Capri waren und die Rolle von Reportern übernahmen. Die meisten nahmen Krupp in Schutz. Die konservativen und katholischen Zeitungen erhielten etwa Berichte von dortigen Geistlichen, die Krupps Bescheidenheit, Wohltaten und Unschuld betonten.274 Eine Zuschrift an das liberale Berliner Tageblatt erwähnte einen Vizegeneral als „sein[en] ständigen Begleiter in jenen Tagen.“275 Dagegen erfuhren die Leser der linksliberalen Welt am Montag vom Reiseschriftsteller Karl Böttcher, der angeblich alljährlich mehrere Monate auf Capri weilte, das Gerücht sei auf der Insel schon seit Jahren bekannt.276 Alle diese unterschiedlichen Berichte zeigten die für Skandale typische Interaktion zwischen Zeitungen und Zeitungslesern, welche die kaum vorhandenen Korrenspondenten ersetzte. Auch wenn die Capriberichte mehrheitlich Krupps Unschuld beschworen, überführten sie Krupps Privatleben weiter in die Öffentlichkeit. So erfuhren die Leser aus fast allen Artikeln Genaueres über Krupps Alltag: etwa über seine 273 274 275 276 Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, Nr. 279, 24. 12. 1902; Vossische Zeitung Nr. 589, 17. 12. 1902; zu Gradenauers Besuch in Capri vgl. auch: La Propaganda 16. 12. 1902. Reichsbote Nr. 278, 27. 11. 1902; Rheinische Volksstimme Nr. 279, 2. 12. 1902. Ähnlich: Neueste Nachrichten Nr. 275, 27. 11. 1902. Berliner Tageblatt Nr. 608, 30. 11. 1902. Welt am Montag, Nr. 50, 15. 12. 1902. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 106 II. Homosexualität als Skandalon Bruderschaft Fra Felice, die sich in einer von Krupp ausgebauten Grotte abgeschottet traf, über Krupps Musikleidenschaft und seinen Verkehr in Künstlerkreisen, seinen Umgang mit einfachen Menschen und seine schlechte gesundheitliche Konstitution.277 Auf diese Weise regten sie neue Imaginationsräume und alte Zuschreibungen an. Während diese Nachrufe Krupps Vater Alfred als zupackenden robusten Mann der Tat priesen, erschien sein Sohn Friedrich Alfred als das Gegenteil: als schwach, dekadent und weiblich. Und gerade diese Zuschreibungen formierten das Stereotyp des Homosexuellen. Insgesamt führte der Skandal zu einer viel offeneren Debatte über die Bewertung und Bestrafung von Homosexualität als in Großbritannien. Vor allem die linksliberale Öffentlichkeit räsonierte hierüber, wobei ihre Position ähnlich uneinheitlich blieb wie bei den Sozialdemokraten. So hatte die Welt am Montag gleich nach dem Vorwärts-Artikel den Fall Krupp generell diskutiert und sich für die Beibehaltung des § 175 ausgesprochen. Homosexuelle würden „ihre ganze Umgebung verseuchen“ und verführten „Knaben und Jünglinge, die nichts weniger als homosexuell veranlagt sind“; wenn Mediziner sie als „krank“ bezeichnen würden, dann muss man sie in Krankenhäusern wegschließen.278 Das Narrativ des reichen Verführers legitimierte damit wie in Großbritannien auch bei Teilen der Linken die Bestrafung. Die großen liberalen Zeitungen hinterfragten dagegen erstaunlich offen die Kriminalisierung. So hoffte Ullsteins Boulevardblatt BZ am Mittag, dass nach Krupps tragischem Tod die Strafbestimmungen des § 175 abgeschafft würden.279 Das liberale Berliner Tageblatt von Mosse äußerte die gleiche Erwartung mit Verweis auf den veränderten Forschungsstand: „Heute ist die Wissenschaft nahezu einig darüber, daß es sich hier um eine anormale körperliche Erscheinung handelt, welche einen strafbaren ‚dolus‘ ausschließt.“280 Die frühe Homosexuellen-Lobby unter Magnus Hirschfeld konnte damit durch den Skandal ihre Positionen zumindest in der liberalen Presse verbreiten. Besonders Krupps tragischer Tod versprach somit eine öffentliche Neubewertung der Homosexuellenrechte und überführte medizinische Diskurse in die Medien. Auch einer der berühmtesten Publizisten der Zeit, Maximilian Harden, fand eine erstaunlich tolerante Einschätzung: „Angeborene oder erworbene Homosexualität hätte seinen Wert nicht gemindert,“ schrieb er in seinem Nachruf zu Krupp. Dennoch hätte der Vorwärts dies nicht veröffentlichen dürfen. Eine Woche später ergänzte er: „Krupps Ehre wäre dadurch nicht befleckt, denn der Urning ist nach moderner Auffassung nicht ein Ehrloser, sondern ein Kranker; wärs anders, dann müßten viele Diplomaten, Höflinge, gekrönte Herren 277 278 279 280 Vgl. etwa die Berichte aus Capri in: Essener Neueste Nachrichten Nr. 288 15. 12. 1902; Der Tag, Nr. 599, 25. 10. 1902 u. 30. 11. 1902; Allgemeine Zeitung München Nr. 327, 27. 11. 1902. Welt am Montag, 17. 11. 1902. BZ am Mittag Nr. 549, 23. 11. 1902. Berliner Tageblatt Nr. 607, 29. 11. 1902. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 107 sogar ihre Häupter in Schande betten.“281 Da Harden nur einige Jahre später den nächsten großen politischen Homosexualitätsskandal anstieß, war diese zugleich liberale wie drohende Haltung umso bemerkenswerter. Denn zu den Diplomaten und Höflingen, auf die er bereits hier anspielte, gehörte zweifelsohne Eulenburg. Magnus Hirschfeld und sein Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee traten nun ebenfalls an die Medien, um den Fall Krupp als Beleg für die notwendige Abschaffung des § 175 zu deuten und ihr medizinisches Wissen an die Öffentlichkeit zu bringen. In einer Erklärung im Namen von 1 500 Homosexuellen wandte es sich in einer Pressemitteilung dagegen, dass der Homosexualitätsvorwurf im Fall Krupp als Beleidigung gehandhabt würde, da Homosexuelle „in ihrem Charakter und sittlichen Verhalten genau so ehrenhaft sind, wie die normalsexuell Geborenen.“282 Dies druckten allerdings nur die wenigsten Blätter. Hirschfeld wandte sich zudem als Experte mit zahlreichen Briefen direkt an den Vorwärts-Redakteur Eisner und versorgte ihn mit seinen wissenschaftlichen Einschätzungen, damit Eisner diese durch seine Artikel und den erwarteten Prozess in die breitere Öffentlichkeit überführen könne. So informierte Hirschfeld Eisner darüber, dass Homosexualität eine nicht behandelbare angeborene „Zwischenstufe zwischen Mann und Weib“ sei und Selbstmorde zu einem Drittel auf deren Diskriminierung zurückzuführen wären. Deshalb solle Eisner Krupp als ein Opfer des § 175 darstellen, „von dem Dr. Hirschfeld, einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der sexuellen Zwischenstufen sagt (in seiner Schrift § 175), daß an ihm mehr Leid, mehr Drangsal und zerschossene Gehirnmasse klebt, als an irgendeinem anderen § des StrG.B.“283 Ein paar Tage später riet er Eisner, der Vorwärts solle schreiben, dass er aus dem „über hervorragende Homosexuelle zur Verfügung stehenden authentischen Material nur den Fall Krupp herausgegriffen hatte“, und das Gesetz nun abgeschafft werden müsse.284 Neben Hirschfelds Eitelkeit lassen diese Briefe somit erkennen, dass er eine ähnliche Strategie wie die SPD verfolgte: Der drohende Hinweis auf prominente Homosexuelle sollte eine strafrechtliche Liberalisierung einleiten und zugleich ein neues öffentliches Wissen über die weite Verbreitung von Homosexualität schaffen. Wie offen die deutsche Öffentlichkeit das Thema im Vergleich zu Großbritannien erörterte, zeigt auch ein Blick in die britische Berichterstattung zu dem Skandal. Während die internationale Presse insgesamt recht deutlich die Homosexualität thematisierte, nannten die meisten britischen Zeitungen nicht einmal 281 282 283 284 Zit. Harden, Die Zukunft 29. 11. 1902, S. 334 u. 6. 12. 1902, S. 378. Trotz ihres Plädoyers für den §175 auch abgedruckt in: Die Welt am Montag Nr. 47, 24. 11. 1902. Hirschfeld an Eisner 22. 11. 1902, in: AdsD, F 202: 43. Hirschfeld an Eisner 26. 11. 1902, in: BAB/L, NY 4060:51. Kein direkter Beleg fand sich dagegen für die von den Zeitgenossen aufgebrachte Vermutung, Hirschfeld habe bereits vorher den Vorwärts mit Material über Krupp versorgt; so: Eugen Johannes Maecker, Harden-Hirschfeld. Eine Aufklärungsschrift, Berlin o. D. (1908), S. 18, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58203. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 108 II. Homosexualität als Skandalon den Vorwurf. Der Daily Telegraph, die Times und der Daily Express schrieben sachlich über Krupps Leben, erwähnten aber lediglich „Verleumdungen“, die zu seinem Tod mit beigetragen hätten.285 Allein die linksstehende Reynolds’s Newspaper, die auch bei den britischen Homosexualitätsskandalen die deutlichsten Worte gefunden hatte, nannte den Fall ein herausragendes Ereignis, das in Deutschland die Gemüter mehr als alles seit Bismarcks Tod bewegt habe, und berichtete dann über Krupps Kontakte mit Jungen auf Capri, wobei neben dem Vorwärts französische Berichte als Quelle über die „mania homosexualis“ dienten.286 Verallgemeinernde Rückschlüsse auf die deutsche Moral zogen die nüchternen britischen Artikel jedoch nicht. Die Mehrheit der britischen Presse wies damit gewisse Ähnlichkeiten zu den konservativen und nationalliberalen deutschen Zeitungen auf. Auch ihre Nachrufe sparten genauere Hinweise auf den Vorwurf der Homosexualität gegen Krupp aus und beteiligten sich somit auch nicht an der Debatte um den § 175. Selbst den Begriff „Homosexualität“ vermieden sie. Allein der umschreibende Verweis auf Vorwürfe, die den § 175 betreffen würden, diente ihnen als Synonym, um die Beschuldigungen des Vorwärts vorsichtig anzudeuten. Dennoch handelte es sich auch für diese Teilöffentlichkeit um einen Skandal. Ihre Empörung richtete sich jedoch weniger gegen Krupp als gegen den Vorwärts, der aus „Sensationssucht“ und wegen der „Sensationslust seiner Leser“ über Leichen gehe würde und direkt für den Tod von Krupp verantwortlich sei.287 Industrienahe Zeitungen wie die Leipziger Neuesten Nachrichten sprachen deshalb von „Meuchelmord.“288 Selbst in der Redaktion des Vorwärts, so erinnerte sich später der Redakteur Friedrich Stampfer, saß man nach der Todesmeldung schweigend am Redaktionstisch: „Uns war, als sähen wir das Blut über den Schreibtisch fließen.“289 Ebenso ging die sozialdemokratische Neue Zeit auf Distanz zu den Enthüllungen.290 Dass ein Presseartikel eine derartige Wirkung haben konnte, schockierte die Journalisten und die Zeitgenossen anscheinend ähnlich wie 1987 der Tod von Uwe Barschel, auch wenn die Ursachen verschieden waren. Aus diesem Schock entwickelte sich eine weitere grundsätzliche Debatte, die sich um die Verantwortung und die Grenzen des Journalismus drehte. Sie kreiste zunächst um die Frage, ob das Privatleben in der politischen Öffentlichkeit eine Rolle spielen dürfe. Zahlreiche Zeitungen betonten ähnlich wie die Münchener Neueste Nachrichten, „daß unser ganzes öffentliches Leben erschüttert und vergiftet werden muß, wenn das Privatleben eines Einzelnen durchschnüffelt und in denunziatorischer Weise auf den Markt gezerrt wird, um mit dem Einzelnen – in törichter und böswilliger Verallgemeinerung – die Partei, die Ge285 286 287 288 289 290 Vgl. Times, Daily Telegraph und Daily Express am 24. 11. 1902. Reynolds’s Newspaper 30. 11. 1902, S. 1. Leipziger Tageblatt Nr. 608, 29. 11. 1902; Kreuzzeitung Nr. 561, 30. 11. 1902; Hannoverscher Courier 24. 11. 1902. Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 326, 25. 11. 1902. Stampfer, Erfahrungen, S. 99. Die Neue Zeit Nr. 9 (1902), S. 258. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 109 sellschaftsklasse zu treffen, der er angehört.“291 Die konservativen Medien leiteten daraus die Forderung ab, die Pressegesetze zu verschärfen, weil die Sozialdemokratie sonst „Skandalaffären ohne Ende“ produzieren würde, da sie zunehmend „geheime Aktenstücke veröffentlichen, vertrauliche Privatbriefe ans Licht zerren oder mit niedrigen Schmähungen und boshaften persönlichen Angriffen gegen Persönlichkeiten vorgehen [...].“292 Der Fall Krupp galt damit, nicht ganz zu unrecht, als Teil einer „Politik der Sensationen“, mit der die SPD seit den 1890er Jahren das Private in die Politik überführte, um das herrschende System zu diskreditieren. Die meisten Zeitungen sprachen sich jedoch gegen schärfere Pressegesetze aus. Sie setzten vielmehr darauf, dass der Schock des Krupp-Skandals zur Etablierung neuer Normen bei den Journalisten und Lesern führe. So machten sie Vorschläge, wie in Zukunft ein jeder dazu beitragen könne, Derartiges zu verhindern. „Nicht nur durch Zeitungsnachrichten, nein auch durch mündlichen Klatsch und Tratsch werden Menschen in Verzweiflung gebracht, ja getödtet“, mahnte die katholische Westfälische Volkszeitung.293 Die Deutsche Tageszeitung empfahl deshalb, ein jeder solle am Stammtisch bei der Diskussion auf derartige Sensationsnachrichten antworten, „was wäre, wenn es Dich betreffen würde.“294 Auch der Berliner Lokalanzeiger empfahl, im Alltag die Neugier auf Sensationen zu unterdrücken.295 Die Leser sollten solche Zeitungen meiden und bereits in der Schule zum „richtigen“ Umgang mit derartigen Meldungen erzogen werden. Zugleich bedeutete der geforderte Schutz der Privatheit zumindest implizit, dass im privaten Raum auch ein homosexueller Verkehr legitim sein könne und nicht als Verbrechen gelte. Indem die Zeitungen Homosexualität als etwas „Privates“ bezeichneten, entkriminalisierten sie diese gewissermaßen. Sowohl durch Krupps Tod als auch durch den Konsens, dass die private Sexualität und Gerüchte hierüber nicht in die Öffentlichkeit gehörten, richtete sich der Skandal per Bumerangeffekt gegen den Vorwärts. Dessen Rechtfertigung, er habe nicht über das Privatleben berichtet, da etwas Strafbares nicht privat sein könne, der Fall durch die Auslandsberichte öffentlich war und ein Zentrumsblatt zuerst darüber schrieb, drangen kaum durch.296 Dann erhielt der Skandal jedoch gerade durch die Gegenkampagnen gegen die SPD mehrere neue Wendungen und Dynamiken, welche die generelle Unberechenbarkeit von Skandalverläufen zeigten. Zunächst war das Auftreten des Kaisers hierfür verantwortlich. Obwohl Wilhelm II. im Oktober 1902 von den Gerüchten erfahren hatte, unterstützte er Krupp weiterhin persönlich. So schrieb er ihm Anfang November, er habe den Bau eines Linienschiffes in Krupps Germaniawerft angeordnet, 291 292 293 294 295 296 MNN, Nr. 588, 17. 12. 1902. Zit. Post Nr. 557, 28. 11. 1902 und Nr. 560, 29. 11. 1902; ähnlich etwa: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 561, 30. 11. 1902. Westfälische Volkszeitung Nr. 276, 29. 11. 1902. Deutsche Tageszeitung Nr. 566, 3. 12. 1902. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 561, 30. 11. 1902; ähnlich: Bonner Zeitung 27. 11. 1902. Vorwärts 26. 11. 1902. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 110 II. Homosexualität als Skandalon und berichtete ihm kurz darauf mit überschwänglichem Lob von seinem Werftbesuch.297 Auch wenn Krupp nur zur „Umgebung“ und nicht zum engen Freundeskreis des Kaisers zählte, machte Wilhelm II. selbst Krupps Begräbnis zu seiner persönlichen Angelegenheit.298 Philipp von Eulenburg, der den Kaiser an Krupps Todestag nach längerer Abwesenheit aufsuchte und mit ihm allein frühstückte, beriet ihn hierbei vermutlich.299 Da Eulenburg selbst homosexuelle Neigungen besaß, dürfte er am Kampf gegen entsprechende Denunziationen kein geringes Interesse gehabt haben. Die allgemeine Empörung über den Vorwärts wendete sich erst, als sich der Kaiser ihr mit drastischen Formulierungen beim Essener Begräbnis von Krupp anschloss. Ähnlich wie die konservativen Blätter zog er aus dem Skandal den Schluss, die Sozialdemokraten seien schärfer zu bekämpfen und auszugrenzen, da sie nicht länger das Recht hätten, als Deutsche zu gelten. Seine Worte waren nur noch drastischer: „Diese That mit ihren Folgen ist weiter nichts als Mord; denn es besteht kein Unterschied zwischen demjenigen, der den Gifttrank einem anderen mischt und kredenzt, und demjenigen, der aus dem sichern Versteck seines Redactionsbureaus mit vergifteten Pfeilen seiner Verleumdungen einen Mitmenschen um seinen ehrlichen Namen bringt und ihn durch die hierdurch hervorgerufenen Seelenqualen tödtet. [...] wer nicht das Tischtuch zwischen sich und diesen Leuten zerschneidet, legt moralisch gewissermaßen die Mitschuld auf sein Haupt.“300 Ähnliche Kaiserreden folgten in Breslau und Görlitz.301 Dass der Skandal das Bündnis zwischen Sozialdemokratie und den Arbeitern durchschnitten habe, sollte auch die anschließend überreichte „spontane“ Grußadresse an den Kaiser mit über 20 000 Unterschriften von Krupp-Arbeitern symbolisieren, die sich auf Krupps Seite und gegen die Verleumdungen der SPD stellten.302 Tatsächlich löste beides in der Öffentlichkeit einen gegenteiligen Effekt aus. Einige Zeitungen sahen in dem Mordvorwurf des Kaisers die journalistische Berufsehre verletzt.303 Andere kritisierten, der Kaiser nehme mit seiner Unschuldsbeteuerung das noch ausstehende Gerichtsurteil vorweg und zeige unangemessenen Zorn.304 Der Mordvorwurf einte und mobilisierte vor allem die Sozial297 298 299 300 301 302 303 304 Wilhelm II. an Krupp 1. 11. 1902, in: HAK, FAH 3 C 227: 93; Wilhelm II. an Krupp 7. 11. 1902, in: HAK, FAH 3 C 227: 95. Zur Unterscheidung zwischen „Umgebung“ und „Freundeskreis“: Isabel V. Hull, The Entourage of Kaiser Wilhelm II, 1888–1918, Cambridge 1982, S. 159. Ein Bericht über das Treffen, aber ohne die Erwähnung Krupps in: Eulenburg an Bülow 23. 11. 1902, in: BAK, 1029-59. Abgedruckt in: Boelcke, Krupp, S. 167 f. Berliner Tageblatt Nr. 638, 16. 12. 1902; Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 571, 6. 12. 1902. Übergabe einer Kaiseradresse, Direktorium Krupp an Chef des Geheimen Zivilkabinetts, von Lucanus, 20. 12. 1902, abgedr. in: Boelcke, Krupp, S. 172 Demokratische Volks-Zeitung Nr. 556, 27. 11. 1902; Danziger Zeitung Nr. 559, 29. 11. 1902. Frankfurter Zeitung Nr. 329 27. 11. 1902; BZ am Mittag Nr. 556, 27. 11. 1902; Berliner Tageblatt Nr. 638, 16. 12. 1902; Münchener Zeitung, Nr. 284, 28. 11. 1902. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 111 demokraten. Bis hinein in die Ortsvereine empörte die Rede ihre Mitglieder.305 Für noch mehr Empörung sorgte die Meldung, dass zwei langjährige Arbeiter in Krupps Grusonwerk entlassen wurden, weil sie nicht die „freiwillige“ Treueadresse an den Kaiser unterzeichnet hatten. Dies führte zu Protestkundgebungen und auch zu Kritik in den bürgerlichen Zeitungen.306 Der Vorwärts versuchte dabei direkt an den Panama-Skandal und die Dreyfus-Affäre anzuknüpfen und trat mit einem „Wir klagen an!“ in der Pose Zolas auf.307 Im Direktorium von Krupp rechtfertigte man die Entlassung mit „Arbeitsmangel“ und erklärte, rund zehn Prozent der Arbeiter hätten nicht unterschrieben, aber immerhin führte die schlechte Presse zur Entlassung des verantwortlichen Geschäftsleiters des Grusonwerks.308 Die Kaiserrede und die erpressten Unterschriften verwandelten damit das kurzzeitige Mitleid mit Krupp wieder in die alten Ressentiments gegen ein patriarchalisch geführtes Unternehmen, das seine Macht aus der engen Verbindung zum Kaiser zog. Einen ähnlichen Effekt hatte das Redeverbot, dass der Reichstagspräsident Ballestrem dem SPD-Abgeordneten Vollmar erteilte, als der im Januar im Reichstag den Fall Krupp und die Kaiserrede dazu ansprach. Der dem Zentrum angehörende Reichstagspräsident untersagte jede Aussprache, da dies Privatangelegenheiten seien.309 Indem die Konservativen und die Zentrumspartei die parlamentarische Aussprache über den Skandal untersagten, trat er erneut in der Medienöffentlichkeit. Zudem wurde dies mit einer grundsätzlichen Debatte über die Redefreiheit im Reichstag verbunden. Eine weitere neue Dynamik erfuhr der Skandal durch die Debatte, ob der Vorwärts auch nach Krupps Tod strafrechtlich zu verfolgen und Krupps „Schuld“ gerichtlich zu klären sei. Da nach Krupps Tod der Kläger entfiel, erwartete die gesamte Presse das Eingreifen des Staatsanwaltes im Namen des öffentlichen Interesses. Gerade die kaisertreuen Zeitungen forderten dies vehement ein,310 aber auch der Vorwärts blickte selbstbewusst dem Prozess entgegen, nahm nichts zurück und versprach Beweise für Krupps Homosexualität vorzulegen.311 Tatsächlich bereitete die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Verfahren vor, bis plötzlich Mitte Dezember dessen Einstellung auf 305 306 307 308 309 310 311 Vgl. Adelheid von Saldern, Auf dem Wege zum Arbeiter-Reformismus. Parteialltag in sozialdemokratischer Provinz. Göttingen (1870–1920), Frankfurt a. M. 1984, S. 67. So kritisierte die Germania (19. 12. 1902), dies „fälscht die öffentliche Meinung“. Schärfer in der SPD-Presse: Volksstimme Magdeburg Nr. 290, 12. 12. 1902; Vorwärts Nr. 293, 16. 12. 1902. Vorwärts Nr. 293, 16. 12. 1902: „Seit den Zwangskundgebungen und Nöthingungsadressen der Arbeiter ist der Fall Krupp zu einem Panama geworden, dessen Bloßlegung jetzt zu beginnen hat. [...] Wir klagen an!“ Friedrich Krupp/Direktorium an Direktor Teuffel, 17. 12. 1902, in: WA, 4/1286: 25; Direktor Sorge an Landrat 17. 12. 1902, in WA, 4/1286: 68. Rede RT 20. 1. 1903, Sten. Ber., Bd. 8, S. 7419 f. Vgl. etwa Post Nr. 553, 26. 11. 1902; Kölnische Zeitung, Nr. 933, 27. 11. 1902; Deutsche Tages-Zeitung Nr. 558, 28. 11. 1902. Vgl. zum Verhör: Denkschrift Oberstaatsanwalt Isenbiel an Justizminister 6. 12. 1902, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49713. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 112 II. Homosexualität als Skandalon Wunsch der Witwe bekannt wurde.312 In den Zeitungen stieß dies ganz überwiegend auf Unverständnis und Protest. Widersprüchlich erschien rechtlich, dass der Staatsanwalt erst ein öffentliches Interesse sah und dann auf Bitte der Witwe dies nicht mehr gegeben schien. Vor allem monierten die Blätter aber, dass dies ein verspäteter Sieg des Vorwärts sei und die Vorwürfe so ungeklärt blieben. Einerseits sahen sie sich also um jene gerichtliche verbürgte „Wahrheit“ betrogen, die ein Prozess mit all seinen Enthüllungen versprach, andererseits um die ersehnte harte Bestrafung der sozialdemokratischen Journalisten, die weitere Skandale verhindern sollte. Während die SPD-Zeitungen triumphierten, zeigten sich gerade die konservativen Blätter äußerst befremdet über die Entscheidung und verlangten eine Rechtfertigung des Justizministers.313 Denn die Einstellung diskreditierte schließlich auch, wie viele Zeitungen bemerkten, den Kaiser. Der General-Anzeiger Hamburg sprach von einer „Desavouierung des deutschen Kaisers“ (H.i.O.), und die BZ am Mittag betonte, die kaiserlichen Anklagen gegen die SPD verlören dadurch ihre „Wirkungskraft.“314 Damit richtete sich der Skandal von der SPD weg gegen den Justizminister und die Berater des Kaisers, die ebenfalls für die Einstellung verantwortlich gemacht wurden. Wie kam es zu dieser umstrittenen Einstellung des Prozesses gegen den Willen des Kaisers und der bürgerlichen Öffentlichkeit, durch die der Skandal seine Dynamik verlor? Verantwortlich hierfür war zunächst die Witwe Margarethe Krupp. Nach Krupps Tod war die zwangsweise eingewiesene Ehefrau aus dem Sanatorium entlassen worden und zeigte keinerlei Anzeichen von geistiger Verwirrung, sondern trat recht überlegt das gewaltige Erbe an. Sie schickte dem Staatsanwalt und dem Oberhofmarschall August Graf von Eulenburg die Bitte, letzterer solle den Kaiser informieren, dass sie gegen einen Prozess sei, da dieser den Namen ihres Mannes nur weiter in den Schmutz ziehen würde und ihre Nerven dies nicht verkrafteten. Krupps Vertrauter, Assessor Korn, und das Direktorium unterstützten dies, da eine Verurteilung des Vorwärts schwierig sei, zumal Krupp nicht mehr per Eid seine Unschuld beweisen könne.315 Obwohl auch Eulenburg das ähnlich sah, lehnte Wilhelm II. die Einstellung brüsk ab: „Das Verfahren muß unter allen Umständen fortgesetzt werden. Coute que coute [...]. Ein Einstellen des Verfahrens würde bloß das Aufblühen unzähliger Verdachtsmomente herbeiführen.“316 312 313 314 315 316 Erklärung Erste Staatsanwalt an Vorwärts, 15. 12. 1902, abgedr. in: Vorwärts 15. 12. 1902. Vgl. Vorwärts 15. 12. 1902, 17. 12. 1902; Staatsbürger-Zeitung Nr. 589, 17. 12. 1902 u. Nr. 607, 30. 12. 1902; Germania 17. 12. 1902. Zitate in: General-Anzeiger Hamburg, Nr. 296, 18. 12. 1902, BZ am Mittag Nr. 587, 16. 12. 1902. Margarethe Krupp an August von Eulenburg 5. 12. 1902 und August von Eulenburg an Wilhelm II. 6. 12. 1902, in: BAK N 1016-74-8 f. (Abschrift Philipp von Eulenburg für Bülow 1. 2. 1903). Antwortnotiz von Wilhelm II. 6. 12. 1902 auf Brief: August Eulenburg an Wilhelm II. 6. 12. 1902, in: BAK, N 1016-74-12 (Abschrift Philipp von Eulenburg für Bülow 1. 2. 1903). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 113 Dass es trotz dieses vehementen Protestes des Kaisers zu keinem Prozess kam, bleibt dennoch erklärungsbedürftig. Anzunehmen ist, dass sowohl die Witwe als auch die Unternehmensleitung zumindest gewisse Verdachtsmomente hatten und kein Risiko eingehen wollten, auch wenn die Einstellung wie ein Schuldbeweis wirkte. Wie viele Prozesse vorher zeigten, hätte jedoch selbst eine Verurteilung des Vorwärts unangenehme Details über ihr Privatleben verbreiten können. Eulenburg scheint den Kaiser in diesem Sinne beraten zu haben. Eine weitere sehr plausible Erklärung nannte Maximilan Harden gegenüber Kurt Eisner: „Die Einstellung ist Folge der Münchener Post. Tant mieux“.317 Denn diese hatte angedeutet, Krupp habe vor seinem Tode versucht, seine Frau zu entmündigen. Ein Prozess barg daher die Gefahr, dass die Umstände ihrer Einweisung an die Öffentlichkeit kamen, in die wiederum ja auch der Kaiser und einzelne Minister mit verwickelt waren. Deshalb beschränkte sich die Staatsführung darauf, auf der symbolischen Ebene an Krupps „Unschuld“ festzuhalten. Schon im Juni 1904 enthüllte der Kaiser ein Denkmal für ihn in Kiel, im Beisein des Reichskanzlers, von Staatssekretär Tirpitz und der gesamten Admiralität.318 Die vielschichtigen Stränge und Deutungen im Zuge des Skandals zeigten sich nicht nur in der Medienöffentlichkeit, sondern auch in der situativen Öffentlichkeit der Stammtische. Auffälliger Weise blieben in den meisten Hamburger Kneipenberichten zunächst Meldungen über den Skandal aus. Die Arbeiter empörten sich zwar wie so häufig über einen „Skandal“, meinten damit aber die Reichstagsdebatte über die Getreidezölle, in denen sich die „Junker“ gegen die Mehrheit durchgesetzt hätten.319 Entweder war die „Sensationssucht“ der Leser nicht so groß, wie die Eliten annahmen, oder die Polizisten scheuten sich bei diesem besonders prekären Fall zunächst, Aufzeichnungen über derartige Gespräche zu machen. Nach Krupps Tod, als die Zeitungsartikel zunahmen, verzeichneten sie insbesondere in den Kneipen im Hafenviertel intensivere Diskussionen über Krupp. Einige Gäste machten wie bei anderen Skandalen ihrer Empörung Luft: „Krupp habe sich frühzeitig aus dem Staub gemacht, fast hätte er sein letztes Stückchen Brot im Zuchthaus genießen können. Wenn von der Sittengeschichte nichts an dem sei, würde von der Presse wohl nicht einfach und so frei über K. schreiben. Außerdem würde in der Presse doch ausdrücklich bemerkt, daß man im Besitze von Photographien [sei] und dieses besage alles.“ Nun würde alles vertuscht, obwohl der Tod ein Beleg sei.320 Die Äußerung hinterfragte somit den Wahrheitsgehalt der Medien, sah aber in einem Zirkelschluss 317 318 319 320 Harden an Eisner 18. 12. 1902, in: BAB/L NY 4060-65 u. Eisner an Harden 19. 12. 1902, in: BAK, N 1062-33. Dies vermerkte ohne jeden Kommentar auch: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1904. So in den unterschiedlichen Bezirken: Polizeibericht, 4. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1; Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 8. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9; Polizeibericht 14. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1. Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 26. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 114 II. Homosexualität als Skandalon den Druck der Nachricht als Beleg für ihre Wahrheit. Diese Authentizitätszuschreibung dokumentiert, welche Beweiskraft einem gedruckten Gerücht zugeschrieben wurde. Bemerkenswert ist zudem der Glaube an die Beweiskraft von Fotographien, deren Erwähnung – obgleich sie in diesem Fall nicht existierten – bereits als Beleg galt. Die Kneipenbesucher nahmen die sensationelle Enthüllung und die wohlwollenden Nachrufe der Zeitungen zum Anlass, Krupps Unternehmensführung generell zu diskutieren. In einer Kneipe hieß es: „An den Leiden, woran dieser Kerl gestorben sei, wären noch viel zu gut für selbigen gewesen [sic] [...] Krupp wäre einer der größten Menschenschinder“. Er habe Millionen verdient, aber kaum Steuern bezahlt; „es wäre auch ein Skandal in dem soviel Zeitungen einen solchen Menschen vergöttert hätten, wo doch selbiger so unendlich schmutzige Sachen auf dem Kerbholz habe.“321 „Schmutzig“ bildete dabei generell, der in Deutschland beliebten Hygienemethaphorik entsprechend, eine zentrale alltagssprachliche Kategorie, um Homosexualität oder sonstige Missstände zu umschreiben. Krupp fand unter den Gästen aber auch einige Fürsprecher. Einer pries Krupps Wohltaten, die er durch seine frühere Tätigkeit in den Werken kannte.322 Andere Kneipenbesucher rechneten dagegen mit ihren Kenntnissen aus den sozialdemokratischen Medien vor, dass Krupp die drei Millionen Mark für seine Wohltätigkeit vorher seinen 45 000 Arbeitern abgenommen habe.323 Die Medien hatten dementsprechend eine Agenda-Setting-Funktion: Durch den Skandal kam das Thema Krupp in die Gespräche und wurde dann durch Alltagserfahrungen, generelles Wissen und persönliche Einschätzungen abgewandelt. Die Frage, ob eine Zeitung überhaupt derartige Enthüllungen veröffentlichen dürfe, löste ebenfalls kontroverse Debatten an den Stammtischen aus. Ein Gast lobte die Kaiserrede an Krupps Grab gegen die SPD-Presse, da letztere eben so „schmutzig“ sei wie die SPD selbst.324 Auch in anderen Kneipen hieß es, es sei gut, „wenn man einmal diesen schmutzigen Blättern etwas mehr auf die Finger setzen thäte.“325 Für Empörung sorgte wie in den Zeitungen die Einstellung des Verfahrens, da dies die Doppelmoral, die Klassenjustiz und die Schuld von Krupp zeige. Das Verfahren sei „eine ganz abgekaterte Sache gewesen, denn die obere Sippschaft wisse ja zu genau wie man am allerbesten schmutzige Sachen aus dem Wege kommen könnte. Dieser Fall zeige wieder einmal wie man das Volk für dumm verkaufen suchte, wenn man wirklich reine Seele hätte, so habe man das Verfahren nicht eingestellt, sondern das Verfahren vollständig zu Ende 321 322 323 324 325 Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 25. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 27. 11. 1902 und 28. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Polizeibericht, 2. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1. Ob diese Angaben der Zeitungslektüre der Polizisten oder der Gäste entsprangen, ist, wie eingangs formuliert, natürlich nicht immer zu belegen. Polizeibericht Sankt Pauli-Süd 27. 11. 1902 und 28. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Ebd. 1. 12. 1902. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri 115 geführt.“326 Ebenso sorgte für massive Empörung, dass der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Vollmar nicht zum Fall Krupp im Reichstag sprechen durfte. Allerdings betonten die Kneipenbesucher, dass auch dies letztlich nur der SPD nützen würde.327 Tatsächlich scheint die Empörung, die der Skandal auslöste, den Sozialdemokraten genützt zu haben. So erreichten sie bei der Wahl 1903 nicht nur reichsweit und besonders im Ruhrgebiet Zuwächse, sondern auch in Krupps Essener Wahlkreis einen haushohen Sieg. Da der Fall Krupp gerade hier das zentrale öffentliche Thema war, dürfte er die Wahlentscheidungen beeinflusst haben. Interne Untersuchungen von Krupp zeigten dabei, dass mindestens ein Viertel der eigenen Arbeiter die SPD wählten.328 Die Repressionsversuche des Staates bewirkten folglich das Gegenteil. Generell dürfte der Fall dazu beigetragen haben, die Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen der Sozialdemokraten zu prägen. Sie sahen den Fall Krupp in ihrem Jahresrückblick 1902 nur als einen von zahllosen Skandalen an, der die „innere Fäulnis“ des „Systems“ zeige.329 Die Skandale waren in dieser Lesart Symptome für den bald bevorstehenden Zusammenbruch des Kaiserreiches und die bevorstehende Herrschaft des Proletariats. Der Skandal diskreditierte nicht nur den Kaiser und den Justizminister, deren angestrebte Verfolgung der SPD-Presse ins Leere lief. Er war vor allem ein Schlag für das moralische Selbstverständnis des Bürgertums. Während Homosexualität bis ins 19. Jahrhundert noch als ein moralischer Normverstoß galt, der sich abgrenzend dem Adel oder Unterschichten zuschreiben ließ, traf der Vorwurf nun einen der prominentesten Bürgerlichen. Bereits die Berichte über den Müßiggang des Unternehmers, die der Skandal vielfach aufbrachte, unterliefen wie bei entsprechenden Skandalen in Großbritannien das bürgerliche Selbstbild. Da es sich um den ersten großen deutschen Skandal im ausgehenden 19. Jahrhundert handelte, der offen Homosexualität anklagte und diskutierte, trug der Fall wesentlich dazu bei, das Bild des Homosexuellen zu konstruieren. Ähnlich wie in Großbritannien wurde es mit der Verführung Minderjähriger, weiblichem Verhalten und Schwäche verbunden. Eine verstärkte Verfolgung von Homosexuellen löste der Skandal jedoch nicht aus, ebenso keine Verschärfung der Gesetzgebung.330 Vielmehr machte der Fall deutlich, wie stark zumindest in liberalen und sozialdemokratischen Kreisen die Forderung nach einer Abkehr von der Bestrafung war. Für die frühe Homosexuellenbewegung und Sexualforschung gab der Skandal den Anstoß für eine verstärkte Aktivität, da nun das Thema mit einem 326 327 328 329 330 Polizeibericht Schutzmann Struve, 17. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Polizeibericht, 22. 1. 1903, in: StAH S 3930-22 Bd. 9. Vgl. Anderson, Practicing Democracy, S. 274. Vorwärts Nr. 1, 1. 1. 1903. Dabei sind die steigenden Zahlen der Verurteilungen pro Einwohner zu rechnen; vgl. die Daten bei: Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle, S. 77; Baumann, Paragraph 175, S. 58. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 116 II. Homosexualität als Skandalon prominenten Beispiel in der Öffentlichkeit war. Um ihre bisherigen Annahmen über die Verbreitung von Homosexualität auf eine empirische Basis zu stellen, schickte Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitäres Komitee im Jahr 1903 an die 3 000 Studenten der Technischen Hochschule Charlottenburg/Berlin Fragebögen, ebenso Anfang 1904 an die im Berliner Metallarbeiterverband organisierten Arbeiter.331 Immerhin ergab der große Rücklauf von 60 Prozent der Studierenden, dass 1,5 Prozent sich als homosexuell und 4,5 Prozent als teilweise homosexuell bezeichneten. Zusammen mit den Namens- oder Berufsnennungen von erpressten oder verurteilten Homosexuellen und den fortlaufenden Meldungen über deren Selbstmorde konnten sie so an Krupp anknüpfend belegen, dass auch im Bürgertum Homosexualität verbreiteter war als bisher angenommen und daher eine Bestrafung abzulehnen sei. Dass Hirschfeld auf Antrag eines Studenten wegen seiner Umfrage verurteilt wurde, erhöhte nur die Publizität seiner Studie.332 Bereits 1905 fanden sich in der neuen Ausgabe von Meyers Konversations-Lexikon diese Werte als statistische Schätzung. Ebenso setzte sich in dem Eintrag „Homosexualität“ die seit dem Oscar Wilde-Skandal popularisierte Vorstellung durch, Homosexuelle wären „oft fein entwickelte, hoch kultivierte Personen“, deren Geschlechtstrieb meist angeboren, selten „als Folge von Ausschweifungen“ zu verstehen sei.333 Die weitere Veröffentlichung der Homosexualität von Prominenten war jedoch auch bei den Lobbyisten für die Abschaffung des § 175 umstritten. Hirschfelds Komitee wehrte sich prinzipiell gegen Albert Molls Plädoyer in der Zukunft, durch die Enthüllung prominenter Homosexueller die Politiker zu der Einsicht zu bringen, dass auch ein ihnen vertrauter „braver, ausgezeichneter Mensch“ homosexuell sein könne, weil dies ein „Weg über Leichen“ sei. Vielmehr entgegnete Hirschfeld unter Andeutung seines Wissens: Namentlich die Herren bei Hofe mögen sich keinen Beunruhigungen hingeben. [...] Wir wollen aber nicht unterlassen, diese Herren darauf aufmerksam zu machen, ein wie hohes Verdienst sie sich erwerben würden, wenn sie z. B. auf einer Nordlandreise Gelegenheit nehmen würden, den Kaiser über Wesen und Verbreitung der Homosexualität zu informieren. Mögen die Herren bedenken, in welche Unannehmlichkeiten sie nicht nur sich selbst, sondern auch den Kaiser durch einen betreffenden Skandal bringen, vor dem, wie leider die Fälle Hohenau und Krupp gezeigt haben, selbst die dem Thron zunächst stehenden nicht gesichert sind.334 Damit richtete er jedoch bereits 1903 eine unverkennbare Drohung an Kaiserfreunde wie Philipp von Eulenburg, dass weitere Skandale im Umfeld des Kaisers folgen könnten, wenn der § 175 nicht geändert würde. Denn tatsächlich hatte der Krupp-Skandal vor allem eins gezeigt: Selbst jemand mit den größten 331 332 333 334 Vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 4. 1904. Vgl. die Pressestimmen in: ebd. 1. 6. 1904. Eintrag Homosexualität in: Meyers Konversations-Lexikon 1905. So Albert Moll in: Die Zukunft 13. 12. 1902. Die zitierte Entgegnung dazu von Hirschfeld im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1903; erneut abgedruckt in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1907, S. 126. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 117 finanziellen Ressourcen, besten politischen Kontakten und einer eigenen Presseabteilung war gegenüber einer Veröffentlichung wehrlos, die einen derartigen Normbruch in die Öffentlichkeit überführte. 7. Im Umfeld des Kaisers: Kamarilla, Militär und Homosexualität Nach dem Krupp-Skandal spielte das Thema Homosexualität zunächst wieder nur eine untergeordnete Rolle in der deutschen Öffentlichkeit. Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitäres Komitee versuchte zwar weiterhin, mit Petitionen eine Gesetzesänderung zu erreichen, aber vor allem die Zentrumspartei blockierte bereits die parlamentarische Debatte hierüber. Erst Ende März 1905 konnte der SPD-Abgeordnete Adolf Thiele die erhoffte Gesetzesänderung im Reichstag vorbringen. Seine Forderung nach einer Straffreiheit begründete er mit ausführlichen Hinweisen auf den naturwissenschaftlichen Forschungsstand, dem zufolge Homosexualität angeboren sei und über eine Millionen Deutsche homosexuell wären. Zudem argumentierte er unter Verweis auf Krupp mit der großen Toleranz gegenüber homosexuellen Eliten, die der Polizei bekannt seien, und leitete daraus die Forderung nach einer generellen Straffreiheit ab.335 Erwartungsgemäß wurde der Antrag jedoch abgelehnt und der Hinweis auf Krupp zurückgewiesen. Die Konservativen und Zentrumsabgeordneten begründeten dies mit der Unsittlichkeit von Homosexualität und der „Gefährdung der Staatsinteressen und der allgemeinen Wohlfahrt“.336 Immerhin führte dieser Vorstoß die naturwissenschaftliche Einschätzung zur Homosexualität und das Bild der homosexuellen Eliten erneut in die Öffentlichkeit. Und selbst die Zurückweisung bedeutete eine Auseinandersetzung mit diesen Deutungen. Unmittelbar nach dem Krupp-Skandal lagen jedoch Nachfolgefälle in der Luft. Zumindest lassen sich zahlreiche Berichte über Erpressungen von prominenten Personen ausmachen, die mit ähnlichen Skandalen bedroht wurden. So wurde der Zentrumsabgeordnete Kaplan Georg Friedrich Dasbach 1904 mehrfach erpresst, konnte die Vorwürfe aber in Prozessen zurückweisen und Amt und Mandat trotz der virulenten Beschuldigungen behalten. Zudem erreichte der Abgeordnete ein gerichtliches Verbot einer Broschüre des Publizisten Adolf Brand, eines radikalen Aktivisten der Homosexuellen-Bewegung, der ihm Homosexualität vorwarf. Auch wenn es zu keinem Skandal kam, rückte der Vorwurf gegen den Politiker so in diverse Zeitungen.337 Drei Jahre später musste 335 336 337 Rede 31. 3. 1905, Sten. Ber. RT, Bd. 8, 177. Sitzung, S. 5826–5832. Reden 31. 3. 1905, ebd., S. 5832–5842, zit. S. 5837. Adolf Brand, Der Fall Dasbach und die Freundesliebe, München 1904; Hinweise darauf in: Eugen Johannes Maecker, Harden-Hirschfeld. Eine Aufklärungsschrift, Berlin o. D. (1908), S. 19 f., in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58203. Zeitungsberichte über einen weiteren Prozess von Dasbach wegen Erpressung, die nur von „Gerüchten“ sprechen, abgedr. in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 4. 1904. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 118 II. Homosexualität als Skandalon sich der Zentrumsabgeordnete Maximilian Josef Pfeiffer gegen ähnliche Gerüchte wehren.338 Äußerst ausführlich berichteten Anfang 1905 auch zahlreiche Zeitungen darüber, dass ein Breslauer Landgerichtsdirektor seinen Erpressern Schrot ins Gesicht schoss, nachdem er rund 40 000 Mark gezahlt hatte. Dies löste immerhin in den Medien eine Debatte darüber aus, ob der § 175 zu lockern sei, wobei die Positionen uneinheitlich blieben; selbst die liberale BZ am Mittag mahnte die Befürworter einer Entschärfung, vorsichtig vorzugehen, denn: „Der Ekel ist unter Umständen stärker als alle Vernunft.“339 Zumindest über ein schärferes Vorgehen gegen solche Erpresser bestand ein Konsens. Die zum Teil äußerst hohen Strafen für die Erpresser – im Fall des Landgerichtsdirektors neun Jahre Haft – unterstrichen, wie sehr gerade hier Nachahmungstäter abgeschreckt werden sollten, damit potentielle Homosexuelle zumindest einen gewissen Schutz zu erwarten hatten.340 Dennoch blieben Selbstmorde nach Erpressungen an der Tagesordnung. So wählte im gleichen Jahr der Berliner Unternehmer Hermann Israel den Freitod, nachdem besonders antisemitische Blätter über seine Erpressung und einen bevorstehenden Prozess wegen der Homosexualitätsvorwürfe berichtet hatten.341 Ebenso mussten zahlreiche hohe Offiziere sich Erpressungen erwehren, bis sie sich schließlich der Polizei anvertrauten.342 Durch derartige Berichte bildeten nun Homosexualität, der § 175 und Erpressung im Diskurs eine Einheit. Damit erschienen Homosexuelle unmittelbar nach dem Krupp-Skandal zunächst stärker als Opfer, weniger als Verführer. Große Skandale entstanden aus diesen Berichten nicht. Selbst nach dem Selbstmord von Hermann Israel schwiegen viele große Blätter über die genauen Ursachen.343 Die Zeitungen beschränkten sich auf knappe Meldungen über Selbstmorde und die über Verurteilungen wegen Homosexualität oder Erpressung. Hier hieß es schlicht, wie etwa in der Frankfurter Zeitung: „Der Unteroffizier Naff vom Infanterie-Reg. Nr. 28 erschoß sich mit seinem Dienstgewehr. Er hatte sich in geschlechtlicher Hinsicht an Untergebenen vergangen und sollte 338 339 340 341 342 343 Hinweise auf Zeitungsberichte über Pfeiffer in: Linsert, Kabale, S. 496 f. BZ am Mittag 3. 3. 1905. Das Thema „männliche Prostitution“ kam so immerhin ins Preußische Abgeordnetenhaus: Rede Pallaske, Sten. Ber. über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten 15. 2. 1905, XX. Leg. Per., I. Sess., 1904/05, 140. Sitzung, Bd. 7, Sp. 10017– 10021. Vgl. BZ am Mittag 5. 1. 1905; Kleines Journal 18. 1. 1905, Breslauer Zeitung 5. 1. 1905; Hinweise im Reichstag hierauf auch Rede Thiele 31. 3. 1905, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 8, 177. Sitzung, S. 5826–5832. 3 mal 5 000 Mark Schweigegeld waren anscheinend gefordert worden. Der erpresste Israel sagte laut Hirschfeld: „Die Presse habe ich nicht zu fürchten, die sind vom Jud abhängig.“ Hirschfeld an Harden 4. 12. 1905, in: BAK, N 1062: 51; zu den Zeitungen, die berichteten (wie die antisemitische Tägliche Rundschau) vgl. Die Zukunft 2. 12. 1905, S. 311–315. Vgl. etwa zur Erpressung von Hohenau und Wedel: Tresckow, Von Fürsten, S. 118 f. u. 140. Maximilian Harden führte dies in einem anklagenden, antisemitisch akzentuierten Artikel auf den starken Einfluss des jüdischen Anzeigengeschäfts zurück; Die Zukunft 2. 12. 1905, S. 311–315 u. 16. 12. 1905, S. 410–412. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 119 in Untersuchung gezogen werden.“344 Obwohl viele dieser Fälle so sensible Bereiche wie das Militär betrafen, führten sie zu keiner breiten Empörung. Die geringe Prominenz der Beschuldigten und der Ausschluss der Öffentlichkeit bei den Verhandlungen blockierte offensichtlich zusammen mit der Selbstbeschränkung der Medien eine breite Berichterstattung. Dies änderte sich 1907/08. In diesen Jahren kam es zu einer Häufung von miteinander verbundenen Skandalen, die das Tabuthema Homosexualität in die breite Öffentlichkeit rückten. Im Zentrum stand dabei der Eulenburg-Skandal, der sich zum größten und heute noch bekanntesten deutschen Skandal des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelte. Der Eulenburg-Skandal bildete allerdings nur den Nukleus von mehreren miteinander verbundenen Homosexualitätsprozessen, die sich etwa um den Generalmajor und Kommandanten von Berlin, Kuno Graf von Moltke, und eine Reihe weiterer hoher Adliger drehten. Selbst Reichskanzler Bülow musste sich in einem Verleumdungsprozess gegen den Vorwurf der Homosexualität erwehren. Da die Beschuldigten überwiegend aus dem Umfeld des Kaisers stammten, entwickelten sich aus diesen Fällen politische Skandale, die neben der Homosexualität auch die Monarchie insgesamt attackierten. Die große Bedeutung des Eulenburg/Moltke-Skandals betonten bereits zahlreiche übergreifende Darstellungen. Schon Ernst-Rudolf Huber urteilte in seiner Verfassungsgeschichte, so wie die Skandalaffären des Hauses Bourbon zur Geschichte der französischen Revolution gehören, so zähle der Moltke-Eulenburg-Skandal zum Zusammenbruch der Monarchie, da er ihr Ansehen schädigte und ihren Sturz beschleunigte.345 Der Fall Eulenburg ist dementsprechend mit Sicherheit der am besten erforschte Skandal der deutschen Geschichte. So liegen populär verfasste Darstellungen zum Ereignisablauf vor346, zur juristischen Urteilsbildung347, zu Eulenburgs Beziehung zu Wilhelm II.348 und zur öffentlichen Deutung der Monarchie im Zuge des Skandals.349 Ebenso sind zahlreiche Briefe der Beteiligten in umfangreichen Editionen publiziert.350 Im Unterschied zu den meisten genannten Studien stehen hier einerseits die Interaktion von Presse, Politik und Öffentlichkeit im Vordergrund, andererseits die ausgehandelten Normen – insbesondere beim Umgang mit Homosexualität. 344 345 346 347 348 349 350 Frankfurter Zeitung 4. 9. 1904. Zahlreiche ähnliche Artikel aus Tageszeitungen in den folgenden Ausgaben des: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreiches, Stuttgart 1969, S. 301. Allerdings ohne Aktenkenntnis: Jungblut, Famose Kerle; ebenfalls ereignisorientiert und wissenschaftlich nur bedingt brauchbar: Leuchtmann, Der Fall Eulenburg. Eine umfassende Analyse des Eulenburg-Skandals wird 2009 von Norman Domeier (EUI Florenz) als Dissertation abgeschlossen. Hecht, Die Harden-Prozesse. Hull, The Entourage. Kohlrausch, Der Monarch, S. 186–242. John C. G. Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard 1976–1983; Helmuth Rogge, Holstein und Harden. Politisch-publizistisches Zusammenspiel zweier Außenseiter des wilhelminischen Reichs, München 1959. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 120 II. Homosexualität als Skandalon Dass der Skandal eine derartig starke öffentliche Rezeption aufwies, lag nicht nur an den verhandelten Themen, sondern bereits an seinen beiden Protagonisten. Beide waren ebenso prominent wie öffentlich umstritten. Auf der einen Seite stand Maximilian Harden, der bereits um die Jahrhundertwende zu den wichtigsten deutschen Journalisten zählte. So rückte die Berliner Illustrirte Zeitung 1904 in einem Portraitbericht über „Führende Geister auf dem Gebiet der politischen Publizistik“ sein Bild groß in die Mitte.351 Der 1861 geborene Harden, der diesen Künstlernamen erst später wählte, stammte aus einem jüdischen Elternhaus, war aber früh zum Protestantismus konvertiert. Nach einigen Erfahrungen als Schauspieler und freier Journalist gab er seit 1892 die mit intellektuellen Essays bestückte Wochenzeitschrift Die Zukunft heraus, deren wichtigster Autor er zugleich selbst war. Diese zeichnete sich vor allem durch eine Bismarck-treue Ausrichtung aus, die sich gegen den „neuen Kurs“ von Wilhelm II. und dessen Umfeld richtete. Hardens Essays glänzten durch einen feinsinnig verspielten Stil, durch Hintergrundinformationen aus politischen Kreisen und durch ungewöhnlich eigenständige Urteile, die keiner politischen Linie dauerhaft entsprachen. Dementsprechend reichte seine umfangreiche Korrespondenz von der politischen Linken bis zur Rechten.352 Harden war ein Anhänger der Monarchie, zugleich aber einer der schärfsten Kritiker von Wilhelm II., was dem Journalisten Haftstrafen einbrachte.353 Er war prinzipiell konservativ, aber wie sich im Fall Krupp zeigte, gegenüber Homosexualität durchaus liberal eingestellt, weshalb er auch mit Magnus Hirschfeld korrespondierte.354 Im Unterschied zu vielen anderen Journalisten, die Skandale in Deutschland und Großbritannien anstießen, war Harden jedoch nie als Politiker aktiv gewesen. Er war vielmehr ein Journalist, der durch seine Artikel, Briefe und Kontakte Politik gestalten wollte. Damit glich er in vieler Hinsicht dem führenden englischen Journalisten W.T. Stead, auch wenn Harden weniger durch investigative Recherche auf der Straße agierte, sondern eher als intellektueller Einsiedler aus dem Berliner Grunewald.355 Auf der anderen Seite stand mit dem 1847 geborenen Philipp von EulenburgHertefeld der lange Zeit engste Freund und Berater des Kaisers. Eulenburg stammte aus altem Adel, hatte ein großes Vermögen geerbt und einflussreiche 351 352 353 354 355 BIZ Nr. 37, 11. 9. 1904. Zu Hardens Vita vgl. Björn Uwe Weller, Maximilian Harden und die „Zukunft“, Bremen 1970; H.F. Young, Maximilian Harden. Censor Germaniae, Ein Publizist im Widerstreit 1892 bis 1927, Münster 1971; knapp und wenig hilfreich: Helga Neumann und Manfred Neumann, Maximilian Harden (1861–1927). Ein unerschrockener deutsch-jüdischer Kritiker und Publizist, Würzburg 2003. Vgl. seine Briefe in: BAK, N 1062. Weller, Maximilian Harden, S. 114. Vgl. etwa die Briefe Hirschfelds an Harden im Jahr 1905 in: BAK, N 1062: 51. Als ein Vergleich zwischen Harden und Stead vgl. Frank Bösch, Volkstribune und Intellektuelle. W.T. Stead, Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Großbritannien und Deutschland, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten, Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 99–120. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 121 Politiker in seiner Familie. Besonders in den 1890er Jahren war er durch seine freundschaftliche Beziehung zu Wilhelm II. einer der einflussreichsten Politiker, obgleich er nur einen Posten als Gesandter in München und dann als Botschafter in Wien einnahm. Seine Briefwechsel bersten von Vorschlägen zu Personalrochaden, von Intrigen(berichten) und Überlegungen zu politischen Schachzügen, bei denen er immer gleich die öffentliche Wirkung mit einkalkulierte.356 Viele seiner vertraulichen Briefe, insbesondere an Bülow und Moltke, waren zugleich von einer homoerotischen Freundschaftseuphorie durchzogen, die die Grenzen der zeitgenössischen romantischen Rhetorik leicht überschritten.357 Er selbst ließ sich „Phili“ und „Philine“ nennen, den Kaiser nannten er und seine Freunde „das Liebchen.“ Ebenso wurde der „Liebenberger Kreis“, also jene hohen Adligen aus dem Umfeld des Kaisers, die sich regelmäßig auf Eulenburgs Schloss trafen, im hohen Maße durch homoerotische Neigungen zusammen gehalten.358 Im Adel und bei der Berliner Sittenpolizei kursierten dementsprechend bereits vor dem Skandal Gerüchte über Eulenburgs Homosexualität, und in Wien musste er sich Erpressungen erwehren.359 Letzteres dürfte auch mit erklären, dass er sich 1902, im Jahr des Krupp-Skandals, von seinem Posten als Botschafter zurückzog, zumal sich sein Verhältnis zu Wilhelm II. schon vorher abgekühlt hatte. Eulenburg hatte durch seine anfängliche Schlüsselstellung im „persönlichen Regiment“ von Wilhelm II. von Beginn an zu den Politikern gezählt, die Harden kontinuierlich kritisierte. Spott über Eulenburgs Privatleben, insbesondere seine Liebe zu romantischen Liedern und Gedichten, gehörte zu Hardens festem Arsenal.360 Das essayartige Format seiner Artikel erleichterte derartige flüchtige Andeutungen. Da Eulenburg im hohen Maße der Figur des schlechten Beraters zu entsprechen schien, stieß Hardens Kritik auf breite Resonanz.361 Dass Harden ausgerechnet 1906 seine folgenreichste Kampagne startete und auf Eulenburgs Homosexualität anspielte, lässt sich aus der politischen Konstellation erklären. Harden reagierte auf den seiner Meinung nach schlechten Einfluss der Kaiserberater bei der ersten Marokkokrise, auf das Gerücht, eine Kamarilla um 356 357 358 359 360 361 Vgl. aus den zahlreichen gedruckten Briefen etwa exemplarisch: Eulenburg an Bülow 24. 4. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1820. Auch Bülow schrieb ihm in diesem Stil; vgl. etwa: „Meine zärtlichsten Gedanken sind immer bei Dir. Innigsten Dank für Dein Bild. Es steht auf meinem Schreibtisch. Ich werde es oft betrachten. […] In Liebe und Treue umarmt Dich Dein.“ Bülow an Eulenburg 31. 3. 1894, abgedruckt in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 1277. Hull, The Entourage, S. 61 f. Vgl. Rogge, Holstein, S. 59; Bericht Berckheims Nr. 24, 8. 11. 1906, in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 2138; Anton von Monts, Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Graf Monts, hrsg. von Karl Friedrich Nowak und Friedrich Thimme, Berlin 1932, S. 183–185. Vgl. etwa Die Zukunft 28. 9. 1895 über Eulenburg: „ein unerfahrener und in diplomatischen Prüfungen nicht bewährter Herr, der Skaldengesänge und Märchenlieder von der Freiheit dichtet und komponiert und zur Sommerzeit Schiffsdienst hat.“ So auch: Kohlrausch, Monarch, S. 189. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 122 II. Homosexualität als Skandalon Eulenburg würde den Sturz des erkrankten Kanzlers Bülows vorbereiten, auf die Verleihung des schwarzen Adlerordens an Eulenburg und auf die Entlassung der grauen Eminenz des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Holstein, zu dem Harden nach dessen Sturz einen intensiven Kontakt aufbaute.362 Zudem brachten die Memoiren des ebenfalls durch Eulenburg gestürzten Kanzlers Hohenlohe das Bild von einer unverantwortlichen Kamarilla erneut in die Öffentlichkeit, obgleich Hohenlohes posthume „Denkwürdigkeiten“ Eulenburg fast gar nicht erwähnten.363 Ähnlich wie bei den Kampagnen der Iren, der englischen Radicals und der Sozialdemokraten war es somit weniger der Hass auf Homosexuelle als die Verbitterung über eine spezifische politische Konstellation, die Harden zu den Enthüllungen trieb. Der Skandal begann ähnlich wie bei den britischen Homosexualitätsskandalen nicht durch eine auffällig angekündigte Enthüllung in einer Boulevardzeitung, sondern durch verschlüsselte Andeutungen in einer kleinen politischen Zeitschrift. Zwischen Oktober 1906 und Mai 1907 streute Harden in seine politischen Essays in der Der Zukunft verspielte Formulierungen ein, die Eulenburg und Moltke in die assoziative Nähe von Homosexualität setzten. So fanden sich etwa ganz nebenbei Begriffe wie „warmes Eckchen“, „verschiedener Sinnesrichtung“, „Der Süße“ und schließlich der deutliche Hinweis auf eine nicht gesunde „vita sexualis“.364 Harden betonte dabei, dass ihr Privatleben eigentlich nicht an die Öffentlichkeit gehörte, wenn Eulenburg nicht dem Reich durch seine Personalpolitik und Intrigen schaden würde.365 Ähnlich wie bei den skandalauslösenden Artikeln von O’Brien oder Labouchere in Großbritannien waren die Andeutungen gezielte Erpressungsversuche, die politische Ziele und Reaktionen erreichen sollten. So hieß es direkt in einem fiktiven Dialog, mit dem Harden ohne Namensnennung auf Eulenburg und Moltke anspielte: „Der Harfner: ‚Meinst Du, daß noch mehr kommt?‘ Der Süße: ‚Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen; er scheint orientiert, und wenn er Briefe kennt, in denen vom Liebchen die Rede ist...‘ Der Harfner: ,Undenkbar! Aber sie lassen alles 362 363 364 365 Vgl. auch Hull, The Entourage, S. 121–127; Hull betont zwar den de facto geringen Einfluss von Eulenburg, allerdings waren gerade die Gerüchte und öffentlichen Wahrnehmungen für das Aufkommen des Skandals entscheidender. Zur suggestiven Kraft des Kamarilla-Diskurs vgl. auch Kohlrausch, Monarch, S. 176–185. Lediglich drei beiläufige Einträge beziehen sich auf ihn; Friedrich Curtius (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 2 Bde., Stuttgart und Leipzig 1906. Vgl. bes. Die Zukunft 27. 10. 1906, S. 135; 17. 11. 1906, S. 264 f.; 24. 11. 1906, S. 291; 8. 12. 1906; 27. 4. 1907, S. 118. Vgl. Die Zukunft 17. 11. 1906, S. 265 f. „Jahre war kein wichtiger Posten ohne seine Mitwirkung besetzt worden. [...] Er hat für all seine Freunde gesorgt. Ein Moltke ist Generalstabschef, ein anderer, der ihm noch näher steht, Kommandant von Berlin, Herr von Tschirschky Staatsekretär im Auswärtigen Amt; und für Herrn Varnbüler hofft man auch noch ein warmes Eckchen zu finden. [...] Das alles wäre ihre Privatwirtschaft, wenn sie nicht zur engsten Tafelrunde des Kaisers gehörten und (ich habe noch lange nicht alle Affiliierten aufgezählt) von sichtbaren und unsichtbaren Stellen aus Fädchen spönnen, die dem deutschen Reich die Athmung erschweren.“ Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 123 abdrucken. Sie wollen uns mit Gewalt an den Hals.‘ Der Süße: ‚Eine Hexenzunft. Vorbei! Vorbei!‘ Der Harfner: ‚Wenn Er nur nichts davon erfährt!‘“366 Die eigentliche medial vermittelte Erpressung war damit, dass alle und selbst der Kaiser von ihren homoerotischen Neigungen erfahren würden, falls sich die „Kamarilla“ nicht zurückzöge. Zudem bedrohten die angekündigten Briefe den Kaiser selbst: Wenn heraus käme, dass Wilhelm II. homosexuelle Freunde hatte, die ihn auch noch „Liebchen“ nannten, war sein Autoritätsverlust abzusehen, zumal er selbst in den Verdacht der Homosexualität geraten könnte. Zumindest die Betroffenen und die politische Elite verstanden diese verschlüsselte politische Erpressung des Journalisten deutlich. Entsprechend setzten nun informelle Verhandlungen mit dem Journalisten ein. Über einen Mittelsmann, den Hamburger Schauspielhausdirektor Alfred von Berger, begannen die Beschuldigten mit Harden zu verhandeln, um die drohende weitere Veröffentlichung der Vorwürfe und einen Skandalprozess zu verhindern.367 Bereits die kurzfristigen Erfolge Hardens waren nicht gering: Eulenburg verließ tatsächlich das Land, und Harden stellte die erpresserischen Artikel ein. Als Eulenburg dann nach drei Monaten wieder zurückkehrte, sich in die Frankreichpolitik einzumischen schien und sich dabei mit dem von Harden ebenfalls als homosexuell eingeschätzten Botschaftsrat Lecomte traf, begann Harden seine Angriffe erneut. Diesmal allerdings umso deutlicher, wenn auch weiterhin ohne explizite Namensnennung, die sofort einen Verleumdungsprozess erfordert hätte. Stattdessen begannen im April und Mai 1907 erneute Verhandlungen mit dem Journalisten. Als Unterhändler traten neben Berger nun auch Moltkes Vetter und Walter Rathenau auf, wobei letzteren Reichskanzler Bülow sandte.368 Ähnlich wie bei den englischen Skandalen versuchte die Regierung damit ebenfalls, mit allen Mitteln einen Prozess zu verhindern. Harden ließ jedoch über Rathenau drohend übermitteln, dass er genug Material habe, um „einen Skandal [zu] machen, von dem die Welt widerhallt.“369 Schließlich forderte Moltke Harden sogar zum Duell auf, was Harden ablehnte.370 Obwohl Duelle bereits 366 367 368 369 370 Die Zukunft 24. 11. 1906, S. 291. Dass Berger nicht eigenständig auftrat, wie er und Eulenburg zunächst betonten, zeigt ein späterer Brief von ihm an Harden über die Gespräche „in dem Novembertagen 1906 (die mit dem Gfn. Moltke, mit Ihnen, mit dem Fstn. E., mit Ihnen und dann wieder mit dem Gfn. M.)“; Berger an Harden 21. 12. 1907, in: BAK, N 1062-13. Vgl. auch Berger an Harden 4. 12. 1906 und 6. 12. 1906, in: ebd. Diese Verhandlung sind zudem bekannt, da Harden sie später publik machte: Vgl. Zukunft 22. 6. 1907; Schreiben Harden an: BZ Nr. 139 17. 6. 1907; Vossische Zeitung Nr. 605, 28. 12. 1907. Vgl. Berger an Harden 10. 5. 1906, in: BAK, N 1062-13; Harden an Holstein 12. 5. 1907 u. 1. 6. 1907, abgedr. in: Rich und Fisher (Hrsg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 4, S. 428 f. u. 434 f. Zu Rathenau Vermittlung vgl. die Briefe in: Hans Dieter Hellige nimmt an, dass Harden auf diese Weise Einfluss auf die Pressepolitik nehmen wollte; ders. (Hrsg.), Walther Rathenau – Maximilian Harden, Briefwechsel 1897–1920, München 1983, S. 522–529. Harden an Rathenau 20. 6. 1907, abgedr. in: Hellige (Hrsg.), Harden – Rathenau, S. 529. Vgl. Hardens spätere Rechtfertigung für seine Ablehnung in: Harden an BZ am Mittag Nr. 139 17. 6. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 124 II. Homosexualität als Skandalon gesetzlich verboten waren, erforderte der militärische Ehrenkodex eine entsprechende Reaktion des Generals. Zudem erlaubte das Duell, im Unterschied zum modernen Verleumdungsprozess, auf eine Klärung der Vorwürfe zu verzichten, während ein Prozess ihre Veröffentlichung sorgen würde. Die ersten Andeutungen Hardens hatten die Vorwürfe in die mündliche Öffentlichkeit der Eliten überführt, kaum jedoch in die Medienöffentlichkeit. Die großen Zeitungen reagierten auf die erpresserischen Andeutungen zunächst ähnlich zurückhaltend wie bei den britischen Fällen und ignorierten sie weitgehend. Immerhin griff die BZ am Mittag die versteckten Hinweise auf, blieb auf der spielerischen Ebene von Harden und thematisierte den unterschiedlichen Sagbarkeitsgrad in den jeweiligen Öffentlichkeiten: „Sie fragen, wer der Süße und wer der Harfner ist? Ich darf’s Ihnen nicht sagen; aber in jedem Salon unserer tugendsamen Stadt wird ihnen eine Freundin hinter dem Fächer die Namen der beiden Herren zuflüstern.“371 Wie bei den Zuschauern bei den Gerichtsprozessen galten damit Frauen wiederum als die eigentlichen Adressaten von skandalösen Gerüchten. Und wie bei den britischen Skandalen kamen die Vorwürfe erst in die breite Medienöffentlichkeit, als eine offizielle Reaktion einsetzte. Von einer reaktionsschnellen „Sensationslust“ der Boulevardmedien kann man also auch bei diesem Skandal nicht sprechen. Da der Skandal durch eine eigenständige Veröffentlichung eines Journalisten ausgelöst wurde, ähnelte er typologisch dem politischen Kampagnenstil, wie er bereits im britischen Dublin Castle-Skandal erkennbar wurde. Auch Hardens erste öffentliche Anspielungen beruhten nur auf Gerüchten, einigen informell übermittelten Informationen und Briefen mit Andeutungen. Vor allem die geschiedene Frau von Moltke, Lilly von Elbe, war Hardens wichtigste Informantin. Die eigentliche Recherche, die die schlagenden Beweise gegen Eulenburg hervorbrachte, setzte jedoch auch in diesem Skandal erst im Zuge der Prozesse ein. Wie bei den englischen Skandalen beschäftigte auch Harden einen Detektiv hierfür, der vor allem am Starnberger See Zeugen und frühere Liebhaber von Eulenburg aufstöberte. Der Gerichtsprozess erwies sich damit erneut als Katalysator für die Ausbildung des recherchierenden Journalismus. Dass der Skandal schließlich ausbrach, lag nicht zuletzt erneut an der impulsiven Reaktion des Kaisers. Nachdem der Kronprinz ihm Anfang Mai 1907 von den Gerüchten erzählt hatte, verlangte er sofort den Rücktritt von Moltke und Eulenburg und eine Klärung per Duell oder Prozess. Damit war die breite Veröffentlichung der Vorwürfe unvermeidlich. Während Moltke nach den gescheiterten Vermittlungsversuchen eine Verleumdungsklage einreichte, versuchte Eulenburg diese dennoch mit allen Mitteln zu umgehen. Eulenburg warnte Wilhelm II. mit etwas drohendem Unterton, Harden wolle nur einen „politischen Skandal-Presseprocess“, den er selbst aber gerade mit Rücksicht auf den Kaiser 371 BZ am Mittag 3. 12. 1906. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 125 vermeiden wollte.372 Ähnliches schrieb er Bülow.373 Der Generalstaatsanwalt, mit dem Eulenburg sich austauschte, empfahl ihm ebenfalls von einem Prozess abzusehen.374 Um den Kaiser zu beruhigen, forderte Eulenburg stattdessen ein Disziplinarverfahren und leitete schließlich eine Selbstanzeige wegen Verstoßes gegen den § 175 an, was eine kleine kontrollierbare Untersuchung mit wenig Aufmerksamkeit versprach. Dieses Zurückweichen vor einem Prozess gegen den Journalisten zeigte, dass eine derartige Skandalisierung nicht mehr mit herkömmlicher Pressezensur auffangbar erschien. Ein Verleumdungsprozess, das wussten die Beteiligten aus früheren Fällen, war bei einem derartigen Vorwurf ein unkalkulierbares Risiko. Erst mit den Suspendierungen und den angekündigten Prozessen setzte ab Ende Mai 1907 eine breite Presseberichterstattung und Empörung in allen Zeitungen ein und damit auch der Skandal. Die Zeitungen druckten Hardens Artikel ab und gaben eigene Einschätzungen zum „Liebenberger Kreis“. Im Unterschied zum Fall Krupp beklagten sie sich bereits in dieser Phase über die Homosexualität der Liebenberger Runde, aber ebenso auch deren „Mystizismus“ und „Spiritismus“.375 Dies war jedoch nur der Anfang eines nahezu zweijährigen Skandals mit zahlreichen Prozessen, der alle anderen Fälle von seinem Ausmaß und seinen vielfältigen Wendungen übertrat. Deshalb scheint, auch wenn dies nicht immer zu trennen ist, zunächst ein analytischer Blick auf seine dynamischen Verlaufsformen hilfreich, um dann in einem zweiten Schritt die ausgehandelten Normen und Deutungsmuster zu untersuchen, die vor allem Zuschreibungen über Homosexuelle konstruierten. Verlaufsformen Der Eulenburg-Skandal war ein Paradebeispiel dafür, mit welcher Macht die Medialisierung den Obrigkeitsstaat herausforderte. Auch die Karikaturen der Zeit sahen den Skandal als einen Kampf zwischen den Journalisten und der Politik, die im „Sensationszirkus“ ihre Muskeln spielen ließen (vgl. Abb. 2).376 Wie offen der Ausgang dieses Ringens war, zeigten die zahlreichen überraschenden Wendungen des Skandals, die vor allem den staatlichen Kontrollverlust markierten. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, ging dies mit einem äußerst wechselhaften Verhalten aller Beteiligten einher. Sowohl die politischen Akteure als auch die Presse reagierten immer wieder mit äußerst unterschiedlichen, teil372 373 374 375 376 Eulenburg an Wilhelm II., 5. 5. 1907, in: GStA, BPH Rep 53 J Lit. E Nr. 1. Eulenburg an Bülow 12. 5. 1907, in: Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburgs 1910, in: BAK, 1029: 75, 105. General-Staats-Anwalt Wachler an Eulenburg 13. 5. 1907 in: GStA, BPH Rep 53 J Lit. E Nr. 1. Vgl. die Pressesammlung in: BAB/L, R 8034II: 7836; etwa: Deutsche Zeitung Nr. 120; 4. 6. 1907. Lustige Blätter 19. 11. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 126 II. Homosexualität als Skandalon Abb. 2: Der Skandal als Schaukampf zwischen Medien und Politik; Quelle: Lustige Blätter 19. 11. 1907. weise diametral entgegen gesetzten Strategien und Bewertungen. Das lag nicht nur an den typischen, unberechenbaren Dynamiken, die der Skandal im öffentlichen Aushandlungsprozess entwickelte. Auch die allgemeine Unsicherheit, wie mit den tabuisierten Vorwürfen umzugehen sei, verstärkte das sprunghafte Verhalten. Beides führte zu trial and error-Reaktionen und zu öffentlichen Empörungen, die sich abwechselnd auf den anklagenden Journalisten, die beschuldigten Adligen und auf die Justiz richteten. Wie schnell der Skandal seine Ausrichtung verändern konnte, zeigte sich bereits in den ersten Monaten. Während im Krupp-Skandal der Vorwärts für seine Enthüllungen mehrheitlich verdammt worden war, galten Hardens Enthüllungen nach Ausbruch des Eulenburg-Skandals in fast allen Kommentaren als richtiger Schritt, da er Kaiser und Staat vor schlechten Beratern beschützt habe. Damit galt weniger die Homosexualität als die politische Kompetenz als der eigentliche Malus. Diese Einschätzung veränderte sich jedoch bereits am 15. Juni 1907 schlagartig, als Harden eine eidesstaatliche Aussage gegen Eulenburg ver- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 127 weigerte, der ihn als einzigen Zeugen für seine Selbstanzeige berufen hatte.377 Harden rechtfertigte seine plötzliche Zurückhaltung damit, er spare sein Material für einen richtigen Prozess auf. Dennoch richtete sich die öffentliche Empörung nun gegen ihn, weil eine detaillierte Offenlegung des Geheimnisses erwartet wurde. Damit war gleich zu Beginn des Skandals erneut deutlich, wie schnell sich Enthüllungen über sexuelle Normbrüche gegen den anklagenden Journalisten selbst wenden konnten. Ähnlich wechselhaft waren die Reaktionen der Staatsführung. So fällt im Unterschied zum Krupp-Skandal und den englischen Skandalen auf, dass der Monarch und der Regierungschef die Beschuldigten zunächst nicht unterstützten. Das hatte persönlich politische Gründe, da Harden jene Kamarilla bekämpfte, der Bülow zwar seinen Aufstieg zum Außenstaatssekretär und dann zum Kanzler mit verdankte, die ihn aber zugleich angeblich im letzten Herbst hatten stürzen wollen. Zudem ahnte Bülow vermutlich durch seine frühere enge Freundschaft zu Eulenburg die mögliche Stichhaltigkeit der Gerüchte, so dass er kein Risiko eingehen wollte. Den „Freundesschutz“, den Eulenburg von ihm persönlich erbat und den die vorherigen bei vielen anderen Skandalen gewährten, lehnte Bülow daher wie der Kaiser ab.378 Vielmehr teilte Bülow Eulenburg auch im Namen des Kaisers brieflich mit, dass Eulenburg in Liebenberg Gäste mit „anrüchigem Renommee“ empfangen habe, dass er heimlich mit Harden verhandelt hätte, obwohl er angeblich die Artikel nicht kannte, und dass dem Kaiser Teile der belastenden Briefe von Harden bekannt seien. Eulenburg solle deshalb sofort seine Pensionierung einreichen und mit klarer Erklärung gegen Harden vorgehen oder „unter Rückgabe des Schwarzen Adler-Ordens unter Vermeidung jeden Aufsehens sich in das Ausland begeben.“379 Ähnlich wie bei den englischen Fällen galt damit die Emigration, und nicht das Gefängnis, als die eigentliche Lösung und Strafe für die mutmaßliche Homosexualität. Zurückhaltung zeigten Regierung und Justiz auch beim ersten Prozess, den Moltke gegen Harden im Oktober 1907 führte. Das Gericht hatte recht freie Hand, verhandelte öffentlich und versuchte vergleichsweise unvoreingenommen gegenüber Harden die Stichhaltigkeit der Vorwürfe zu ermitteln. Im Vorfeld hatte Bülow seine Mitarbeiter schon angewiesen, Angriffe auf die Zukunft zu unterlassen.380 Bülow bemühte sich vor allem um Distanz zu Eulenburg. Als er für den Prozess als Zeuge bestellt wurde, sicherte er sich daher mit zahlreichen Briefen ab, dass er verhindert sei und blieb im heimischen Klein Flott- 377 378 379 380 Vgl. die Presseausschnittssammlung in: BAB/L, W 8034 III 114. Bülow an Eulenburg 17. 5. 1907, Eulenburg an Bülow 5. 6. 1907, in: ebd. Zur Protektion der Eliten durch die politische Führung, die hier vor allem Moltke erfuhr, weitere Beispiele in den folgenden Kapiteln. Bülow an Eul. 31. 5. 1907, in: Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburgs 1910, in: BAK, 1029: 75, S. 114. Bülow an Löbell 27. 9. 1907, in: BAB/L, N 2106/13: 22 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 128 II. Homosexualität als Skandalon bek.381 Ebenso erschienen nicht die adligen Zeugen aus der Hofgesellschaft, die wegen ihrer homosexuellen Neigungen ebenfalls kein Risiko eingehen wollten – wie Eulenburg und der Major Graf Lynar. Das Gericht überführte Moltke zwar nicht des homosexuellen Verkehrs, wohl aber einer homosexuellen Veranlagung. Zudem sah es homosexuelle Orgien von hohen Offizieren mit Soldaten in einer benachbarten Villa von Moltke als belegt an. Der freigesprochene Harden galt deshalb Ende September öffentlich als klarer Sieger. Zahlreiche Zeitungen lobten unmittelbar nach dem Prozess seine Enthüllungen und die Beseitigung einer Kamarilla als sein Verdienst. Damit hatte ein Journalist über die alten Eliten triumphiert, und die Empörung richtete sich erneut gegen die besiegte Kamarilla. Gerade dieser Triumph eines Journalisten leitete jedoch eine weitere öffentliche Neubewertung des Skandals ein. Sie richtete sich gegen den Journalisten und die Homosexuellenbewegung. Der Antisemitismus der Konservativen war dabei ein entscheidendes Movens, um die scheinbar unbegrenzte Macht von Harden anzugreifen. In den konservativen Zeitungen sorgte schon kurz nach dem Prozess für Empörung, dass ein „jüdischer Advokat“ einen preußischen General der Unmoral überführte, weshalb etwa die Deutsche Zeitung aus „arischem Empfinden“ Moltke Mitleid aussprach.382 Auf das „Judentum“ von Hardens Verteidiger Bernstein, und dann auch auf Harden selbst, führten die rechten Zeitungen auch die öffentliche Verbreitung unsittlicher Äußerungen zurück. Moltke sei zudem ein Opfer ihrer „jüdischen Rabulistik“, der er sich nicht erwehren konnte.383 Auch die beschuldigten Adligen deuteten den Fall ähnlich. Eulenburg stilisierte sich selbst gegenüber dem Staatsanwalt und Freunden als Opfer des „Juden Harden“ und des „Judenthums“, das die öffentliche Meinung beherrsche, und Graf von Wedel rief angeblich aus: „regiert denn dieser Jude heute in Preußen und setzt Generäle und Botschafter ab?“384 Um die rassistischen Vorurteile gegen den längst konvertierten Harden zu schüren, begannen die konservativen Zeitungen ab Anfang November 1907 Harden mit seinem früheren Namen „Wittkowski“ zu bezeichnen.385 Obgleich er mit dem Vornamen Felix Ernst geboren wurde, nannte die Konservative ihn nun häufig „Isodor Wittkowski“, um ihn als polnischen Juden zu diskreditieren. Diese antisemitische Stoßrichtung verband die konservative Presse mit Schuldzuweisungen an die Justiz. „Wo war die preußische Justizverwaltung im Prozeß Molkte-Harden?“ fragte etwa die Tägliche Rundschau und sprach vom Versagen des Justizministers, der die „sittliche und politische Bedeutung“ des Prozesses 381 382 383 384 385 Vgl. Loebell an Bülow, 19. 10. 1906; Loebell an Amtsgericht 19. 10. 1906; AA an Loebell 23. 10. 1906, Bülow an Loebell 24. 10. u. 26. 10. 1906, in: BAB/L, R 43/ 798b: 6. Deutsche Zeitung Nr. 300; 30. 10. 1907. Post Nr. 510, 30. 10. 1907; Conservative Correspondenz Nr. 77, 28. 10. 1907. Vgl. Eulenburg an Staatsanwalt Isenbiel 11. 5. 1908 u. Eulenburg an Horst von FarenheidBeyruhnen 31. 12. 1908 (Abschrift 1918), in: BAK, N 1029-78; Wedel laut: Tresckow, Von Fürsten, S. 183. Dies setzt ein etwa in: Post Nr. 525 8. 11. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 129 nicht erkannt habe – entweder aus „Unfähigkeit“ oder aus „Furcht vor der vom jüdischen Liberalismus zersetzten Presse.“386 Die konservative Presse trat damit als Akteur gegen Harden auf und förderte einen Kurswechsel in der Regierung, den zugleich auch der Kaiser mit seinen erbosten Kommentaren an den Zeitungsausschnitten verlangte.387 Zumindest in ihrem Lager gelang es dadurch, mit der Beschwörung der jüdischen Bedrohung die angebliche Bedrohung durch Homosexualität zu überdecken. Ein nur zwei Wochen später folgender Prozess, der erneut einen Homosexualitätsvorwurf verhandelte, verstärkte diese Wende in der öffentlichen Meinung und führte endgültig zu einer harten staatlichen Reaktion gegen den Journalisten. Hardens Erfolg hatte Trittbrettfahrer ermutigt. Im September 1907 hatte der Publizist Adolf Brand in einer Broschüre einen Artikel über „Fürst Bülow und die Auffassung vom § 175“ publiziert, der dem Kanzler ein homoerotisches Verhältnis mit seinem Sekretär Max Scheefer nachsagte. Dieser würde ihn auf seinen Urlauben nach Norderney zu „Scheeferstunden“ begleiten, gelte als des Kanzlers „bessere Hälfte“ und Bülow selbst habe bereits einen Erpressungsversuch wegen des § 175 hinter sich. Zudem sei der Neffe des Kanzlers, Bernhard von Bülow, der Privatsekretär von Eulenburg, „ebenso wie sein Onkel selber homosexuell veranlagt.“388 Brand stand der Homosexuellenorganisation „Gemeinschaft der Eigenen“ vor und publizierte seit längerem über Homosexualität, was bereits zu Gefängnisstrafen geführt hatte.389 Durch diese „Enthüllung“ über einen weiteren Politiker hoffte er anscheinend, die Akzeptanz der Homosexualität zu erhöhen und sie zu „normalisieren“. Sein Heftchen verschickte er an verschiedene Zeitungen, die aber ganz überwiegend nicht darüber berichteten, was Bülows Pressebeauftragter, Otto Hammann, auch direkt mit den Journalisten aushandelte.390 Dennoch kursierte Brands Beschuldigung schnell, und auch Harden wusste bereits wenige Tage später davon.391 Bülow, der Eulenburg hinter den Vorwürfen vermutete, entschied sich nach einigem Abwägen für eine Klage, obwohl er sonst stets von Beleidigungsprozessen gegen Journalisten absah. Da die Vorwürfe völlig haltlos waren, griff das Gericht nun mit voller Härte durch und verurteilte Brand zur Höchststrafe von 1½ Jahren Haft.392 Die 386 387 388 389 390 391 392 Tägliche Rundschau Nr. 509, 30. 10. 1906. Vgl. auch die abgedruckten Kommentare von Wilhelm II. in Rogge, Holstein, S. 234. Exemplar der Schrift vom 10. 9. 1907 in: Landesarchiv Berlin (LB), A Rep. 358-01 Nr. 8. Hinweis auf eine Verurteilung 1903 in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, November 1903. Loebell an Bülow und Hammann an Bülow, beide 26. 9. 1907, in: BAB/L, N 2106/13; Vgl. rückblickend auch: Deutsche Tageszeitung, 12. 10. 1907. Holstein an Harden 16. 9. 1907, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 212. Urteil in: LB A Rep. 358-01. Vgl. auch: Marita Keilson-Lauritz, Wilhelmshagen gegen das Deutsche Reich. Adolf Brands Flugschrift gegen den Reichskanzler von Bülow, in: Capri, 17 (1994), S. 2–16. Einzelne Hinweise zu Brand in: Ulfried Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung: Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994, S. 46. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 130 II. Homosexualität als Skandalon Justiz unterstrich damit nach der Kritik an ihren zu milden Urteilen, dass sie für Verleumder harte Strafen erließ. Entscheidend für die Wende in der öffentlichen Meinung war zudem, dass der bei diesem Prozess eigentlich unbeteiligte Eulenburg unter Eid aussagte, nie gegen den § 175 verstoßen zu haben. Da hier keine Zeugen und Fragen von Harden drohten, war dies ein taktisch kluger Zug, durch den nun in der Öffentlichkeit auch Hardens Vorwürfe haltlos erschienen. Erstaunlicherweise führte dies zu einem völligen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Die bürgerliche Presse richtete sich jetzt überwiegend gegen Harden, und die konservativen Zeitungen forderten seine Verurteilung und die seines „jüdischen“ Anwaltes Bernstein. Auch Magnus Hirschfeld, der sich im Moltke-Prozess noch als Experte profilieren konnte und im Brand-Prozess erneut als Sachverständiger auftrat, stieß nun selbst in den liberalen Zeitungen auf harte Kritik. Selbst sie bezeichneten ihn, der eben noch als Experte galt, als „gemeingefährlich“, sprachen von „Volksvergiftung“ und „schmutziger Scheußlichkeit“.393 Hirschfeld und sein Komitee stürzten durch den Vorwurf, die Homosexuellen-Lobbyisten würden selbst den Kanzler als homosexuell denunzieren, um ihre Ziele durchzusetzen, in die schwerste Krise seit ihrer Gründung.394 Wie lässt sich dieser rasante Umschwung der öffentlichen Meinung und Empörung erklären? Erstens löste der Prozess von Bülow die Angst aus, Politiker könnten zukünftig laufend derartigen Beschuldigungen ausgesetzt sein. Um weitere Nachahmer abzuschrecken, erschien auch Hardens Bestrafung nötig. Zweitens führte Eulenburgs Eid zu der Hoffnung, mit einer Beschuldigung Hardens die gesamten Enthüllungen revidieren zu können, die der Moltke-Prozess über hohe Militärs gemacht hatte, und so das Ansehen des Staates, des Militärs und damit die soziale Ordnung wieder herzustellen. Drittens hatte Hirschfeld bei seiner Expertise, die ausführlich auf die (oft angebliche) Homosexualität von prominenten historischen Persönlichkeiten hinwies, offensichtlich eine Grenze überschritten. Die historische Argumentation der Homosexuellenbewegung erwies sich damit als deutlich weniger akzeptabel als die zuvor aufgebrachte medizinische Umdeutung. Hirschfelds Ausführungen lösten zudem die Angst aus, dass nun nicht nur die gegenwärtigen Politiker, sondern auch die vergangenen als homosexuell bezeichnet würden.395 Vor seinem Haus wurden antisemitische Flugblätter verteilt mit Überschriften wie „Dr. Hirschfeld eine 393 394 395 Vgl. Deutsche Zeitung 7. 11. 1907; Berliner Tageblatt 7. 11. 1907; Vossische Zeitung 7. 11. 1907; Frankfurter Zeitung 7. 11. 1907. Bes. drastisch etwa der Artikel „Das Trio Wittkowski-Bernstein-Hirschfeld“, in: Post Nr. 525, 8. 11. 1907. Vgl. auch: Erwin J. Haebele, Justitias zweischneidiges Schwert – Magnus Hirschfeld als Gutachter in der Eulenburg-Affäre, in: Klaus M. Beier (Hrsg.), Sexualität zwischen Medizin und Recht, Stuttgart/Jena 1991, S. 5–20. So sah es auch Hirschfeld selbst; vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 12. 1907, S. 229. Neue Preussische Zeitung 7. 11. 1907; Deutsche Zeitung 7. 11. 1907; Münchner Neueste Nachrichten 8. 11. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 131 öffentliche Gefahr – Die Juden sind unser Unglück“.396 Das Ziel der öffentlichen Empörung hatte sich damit in kurzer Zeit gewandelt: Statt gegen die homosexuelle Kamarilla richtete sie sich jetzt wieder gegen diejenigen, die Vorwürfe aufbrachten. Ebenso veränderten die Staatsführung, die Justiz und die Beschuldigten ihren Umgang mit dem Skandal. Sie gingen jetzt offensiv gegen Harden und die Vorwürfe vor und leiteten seine Verurteilung ein. Am hartnäckigsten sprach sich der Kaiser gegen einen heimlichen Vergleich von Moltke-Harden aus und verlangte einen erneuten Prozess.397 Sowohl der Justizminister als auch Eulenburg ließen den Staatsanwalt wissen, dass ein „öffentliches Interesse“ an einer Verfolgung der Vorwürfe bestehe, woraufhin dieser Anklage erhob. Die Reichskanzlei hoffte zwar weiter auf eine Verhinderung eines erneuten Prozesses, ließ Harden dann wissen, er solle sich im Interesse des Landes beim Prozess mäßigen und würde dann im schlimmsten Falle eine Geldstrafe erhalten.398 Um Harden keinerlei Forum zu geben, wurde bei dem Prozess „im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit“ die gesamte Öffentlichkeit, auch die Presse, ausgeschlossen.399 Wichtige Zeugen von Harden hörte das Gericht nicht an. Die Pressemeldungen und das rigide Auftreten der Justiz schüchterten offensichtlich ein: Harden selbst blieb erstaunlich zurückhaltend, Experten wie Hirschfeld und Kommissar Tresckow sahen plötzlich Moltkes Unschuld, und die wichtigste Zeugin, die Ex-Frau von Moltke wurde für „hysterisch“ erklärt. Ohnehin hatte der Staatsanwalt dem Justizminister schon vor dem Prozess seinen Befund vorgelegt, bei Moltke und Eulenburg seien keinerlei Anzeichen von Homosexualität festzustellen, was er in seinem Plädoyer wiederholte („Nicht eine Spur von Homosexualität ist an dem Grafen nachgewiesen, nicht ein Atom femininer Eigenschaften“).400 Angesichts dieser Absprachen überraschte es wenig, dass Harden zu vier Monaten Haft verurteilt wurde. Das vernichtende Urteil, dass das Gericht über Hardens journalistische Sorgfalt sprach, drückten die Zeitungen noch deutlicher aus. Auch die liberale und katholische Presse sprach jetzt von dem völligen Ende der Karriere des Journalisten, den sie vor wenigen Monaten noch vielfach als ihren herausragenden Repräsentanten gefeiert hatten.401 Das strenge Urteil sei eine Warnung, dass das Privatleben privat bleiben müsse; „wir wollen in dieser Beziehung den Engländern nicht nacheifern“, hieß es im Berliner Tageblatt mit Verweis auf den dor396 397 398 399 400 401 Vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 12. 1907. Bülow an Hammann o. D. (wohl Ende Nov.) 1907, in: BAB/L, N 2106/13: 22 f. So etwas später, aber recht glaubhaft: Harden an Ballin 3. 4. 1909, in: BAB/L, N 2106/2: 6. Zu den Vermittlungsversuchen in der Reichskanzlei: Loebell an Podbielski 7. 12. 1907, Podbielski an Loebell 14. 12. 1907, in: BAB/L, R 43/798b: 53 und 65, 67. Vgl. bis dahin das Protokoll in: Berliner Tageblatt Nr. 646, 20. 12. 1907. Isenbiel an Justizminister Beseler 21. 12. 1907, in: GStA, I HA Rep. 84a Nr. 49838-88. Plädoyer nach: Vossische Zeitung Nr. 610, 31. 12. 1907. Vgl. etwa Freisinnige Zeitung Nr. 306, 29. 12. 1907 („Hardens Ende“); Germania Nr. 249, 29. 12. 1907 („der Herausgeber der Zukunft hat keine Zukunft mehr.“). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 132 II. Homosexualität als Skandalon tigen Skandal um Charles Stewart Parnell.402 Die Rechte triumphierte, dass der Homosexualitätsvorwurf sich als ebenso haltlos erwiesen habe wie der einer Kamarilla, und sowohl Harden als auch Hirschfeld ihre Rolle ausgespielt hätten.403 Der Skandalverlauf bewies damit ein weiteres Mal, wie unberechenbar sich Empörungen in der Öffentlichkeit entwickelten und dass man nicht einfach pauschal von einer Dominanz der Medien ausgehen konnte. Weite Teile der Presse folgten vielmehr den Einschätzungen, die von den Gerichten und der politischen Führung angestoßen wurden. Die Verschiebung der Empörung zeigte sich auch auf der Ebene der situativen Öffentlichkeit. In den Hamburger Kneipen hieß es nun mit Blick auf Hardens einstigen Hochmut: „Harden kann sich nun mit dem Gefängnis bekannt machen. Dort wird er nachher Zeit haben und über seine große Liebe zum Lande nachdenken können.“ 404 Andere Stammtische empörten sich über Hardens Zurückhaltung: „Der Mensch hat vorher geprahlt, daß er noch soviel Beweismaterial auf Lager habe und jetzt? Wo es drauf ankommt Beweise zu bringen, da hat er nichts, er streitet alles ab und seine Krankheit?“ 405 In anderen Kneipen blieben die Gäste dagegen skeptisch. Sie nahmen weitere Prozesse an406 oder vermuteten, Harden sei „bloß pro forma bestraft“ wegen irgendwelcher Absprachen. Moltke sei bestimmt homosexuell, denn dies komme in diesen Kreisen „am meisten vor und das wird bei diesem Herrn auch der Fall gewesen sein, sonst hätte es Harden nicht in die Öffentlichkeit gebracht.“407 Die Äußerungen deuten an, dass sich die Stammtische dem Medientenor zwar weitgehend anschlossen, ihm aber nicht ganz folgten. Nach diesem harten Durchgreifen der Justiz nahm der Skandalverlauf jedoch erneut eine radikale Kehrtwendung. Dies machte deutlich, dass im wilhelminischen Deutschland ein Journalist nicht mehr mit Verurteilungen zu unterdrücken war. Aus seiner Verbitterung bereitete Harden seinen berühmten Prozess gegen Eulenburg vor, der erst den Höhepunkt des Skandals bildete. Über die Presse kündigte er an, er würde demnächst sein Material ausbreiten und informierte den Staatsanwalt unter Zusendung von einigen Unterlagen.408 Nachdem die preußische Justiz den letzten Berliner Prozess vorab arrangiert hatte, inszenierte nun Harden einen Prozess vor einem Münchner Gericht, da er sich vor der bayrischen Justiz mehr Freiheiten versprach. Ein befreundeter Journalist schrieb nach Absprache in einem Münchener Blatt, Harden hätte gerüchteweise eine Millionen Mark für sein Schweigen bekommen. Dagegen klagte Harden 402 403 404 405 406 407 408 Berliner Tageblatt Nr. 5, 4. 1. 1908. Deutsche Zeitung 28. 12. 1907; Tägliche Rundschau Nr. 5 4. 1. 1908. Polizeibericht Schutzmann Szymanski, 23. 12. 1907, in: StAH, S 3930-40 Bd. 1. Ebd. Polizeibericht Schutzmann Szymanski, 27. 12. 1907, in: StAH, S 3930-40 Bd. 1. Polizeibericht Schutzmann Zerulli, 6. 1. 1908, in: StAH, S 3930-38 Bd. 2. Harden an Isenbiel 13. 3. 1908, in: BAK, KLE 690; Isenbiel an Justizminister 20. 3. 1907, in: GStA, HA I. Rep. 84a Nr. 49830. Neben Hardens nahezu wöchentlichen Beiträgen in der Zukunft vgl. etwa: Das Reich Nr. 17, 21. 1. 1908; Leipziger Neueste Nachrichten 18. 3. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 133 und bekam so die Möglichkeit, vor einem nicht-preußischen Gericht Zeugen unter Eid aussagen zu lassen.409 Da beim Münchner Prozess Journalisten zugelassen waren, konnten sie ungehindert und ausführlich über Hardens Beweisführung berichten. Diese Zeugenaussagen zeigten erneut, wie Skandale Menschen aus der Unterschicht ein öffentliches Forum und eine Machtstellung gewährten. Gleich als erster Zeuge trat ein Fischer vom Starnberger See auf, der detailliert erzählte, Eulenburg habe ihn regelmäßig zum gemeinsamen Onanieren bei Bootsfahrten ermuntert. Dafür habe er ihm hohe „Trinkgelder“ von bis zu 200 Mark gegeben, ihn in sein Liebenberger Schloss eingeladen, auf Reisen mitgenommen und ihm ein Darlehen von 12 000 Mark gewährt.410 Ein Milchhändler und früherer Fischer berichtete von ähnlichen Bootspartien. Eulenburg habe ihn zudem zu Freunden gebracht, die ihm Geschlechtsverkehr gegen eine Entlohnung anboten. Durch diese eidesstattlichen Aussagen schien Eulenburg des Meineides überführt. Ebenso kam heraus, dass Eulenburg den Fischer mit Briefen ersucht hatte, eine Falschaussage zu machen. Das Prozessergebnis diskreditierte damit nicht nur Eulenburg, sondern auch Staatsanwalt Isenbiel, der Eulenburg im letzten Prozess als völlig schuldlos gepriesen hatte, obwohl entsprechende Beweise vorlagen. Die Presse vollzog daraufhin in ihren ausführlichen Berichten über diese Enthüllungen einen erneuten Kurswechsel: Ihre Empörung richtete sich jetzt gegen Eulenburg, aber auch gegen den Staatsanwalt.411 Den jetzt bevorstehenden Meineidsprozess gegen Eulenburg bereiteten alle Beteiligten mit einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit vor. Harden, der außerhalb der konservativen Presse wieder positiv gesehen wurde, gab vielen Zeitungen Interviews, die sein Vorgehen erläuterten und drohend von weiterem Material sprachen, auch gegen andere Persönlichkeiten als Eulenburg.412 Eulenburg führte ebenfalls Interviews und öffnete sein Schloss gegenüber einem Journalisten des Boulevardblattes BZ am Mittag. Diese demonstrative Offenheit reichte soweit, dass der erkrankte Fürst den Journalisten am Bett empfing und von seinem Diener durch die Räume führen ließ.413 Vielleicht noch bemerkenswerter war, dass sich selbst der Staatsanwalt Isenbiel per Interview äußerte, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. Angesichts der öffentlichen Kritik kündigte er wie selbstverständlich an, „sobald mir gültiges Material gegen den Fürsten Eulenburg vorliegt, werde ich mit aller Rigorosität ohne Ansehen der Person gegen 409 410 411 412 413 Zu dem Prozess vgl. bereits: Weller, Harden, S. 194; Leuchtmann, Fall Eulenburg, S. 217– 221; Hecht, Harden-Prozesse. Aussagen in: Protokoll der Sitzung 21. 4. 1908, S. 22, in: BAK, N 1062-123; zudem auch in: Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830. Vgl. selbst: Tägliche Rundschau Nr. 187, 22. 4. 1908; Hamburger Nachrichten Nr. 312, 4. 5. 1908; Berliner Tageblatt Nr. 204, 22. 4. 1908. Vgl. BZ am Mittag Nr. 97 25. 4. 1908; Fränkischer Courier Nr. 209, 24. 4. 1908; Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 232, 7. 5. 1908. Auch einzelne nationalliberale Zeitungen sahen Harden nun positiver. BZ am Mittag Nr. 95, 23. 4. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 134 II. Homosexualität als Skandalon ihn einschreiten.“414 Das bislang in Deutschland noch wenig verbreitete Format des Interviews etablierte sich somit durch den unberechenbaren Skandalverlauf zu einem Mittel, mit dem selbst Beamte den nun in Berlin anstehenden Meineidsprozess gegen Eulenburg vorbereiteten. Begleitet wurde diese Stimmungsbildung durch Gerüchte. Über Eulenburg hieß es nun etwa, er habe auch mit seinem rumänisch-jüdischen Sekretär ein Verhältnis gehabt, weshalb seine Tochter diesen nur gegen seinen Willen heiraten konnte.415 Ebenso hieß es, Eulenburg sei wegen homosexuellen Verhaltens in einer Wiener Badeanstalt erpresst worden und habe 60 000 Mark für Schweigegelder gezahlt.416 Die Zeitungen druckten zudem Briefe von Eulenburg, die seine früheren Intrigen zeigten.417 Die Reichskanzlei blieb ebenfalls nicht verschont. Reichskanzler Bülow erfuhr, dass sein Bruder gerüchteweise der Homosexualität verdächtigt werde.418 Ebenso ging Bülow dem Gerücht nach, er habe Hardens Vorgehen gegen Eulenburg abgesegnet und damit unterstützt.419 Auch wenn Harden sicherlich nicht immer der Urheber der Gerüchte war, streute er „Neuigkeiten“ über befreundete Journalisten und politische Kreise, wobei der vom Auswärtigen Amt entlassene Holstein ein wichtiger Verbindungsmann war.420 Derartige Meldungen trugen dazu bei, im Vorfeld des Prozesses Verunsicherungen beim Angeklagten Eulenburg, der Justiz und der Staatsführung auszulösen. Die Dynamik, die der Skandal durch die Gerüchtebildung erhielt, ging auch von „unten“ aus. Durch die umfangreiche Berichterstattung über Eulenburg und vor allem durch seine fotographische Abbildung meldeten sich zahlreiche Zeitungsleser bei den Redaktionen oder den Ermittlungsbehörden, die Eulenburg in kompromittierenden Situationen gesehen haben wollten. So war der Hauptzeuge, der Fischer vom Starnberger See, auf die Zeitungsberichte hin mit Harden in Kontakt getreten, nachdem er sich beim Zeitungslesen an seinem Stammtisch mit seinem Wissen gebrüstet hatte. Nach dem Münchner Prozess häuften sich diese denunziatorischen Meldungen von Personen, die sich als Zeugen anboten. Sie stammten vor allem aus dem Umfeld der Bediensteten, die durch ihre Arbeit mit dem Privatleben des Fürsten zu tun hatten. Zu ihnen zählten etwa ein Hausmeister, der angeblich unsittlich angefasst worden sei, ein 414 415 416 417 418 419 420 BZ am Mittag Nr. 94 22. 4. 1908. Zur Kritik, dass der Staatsanwalt sich in Interviews ausfragen ließ: Deutsche Tageszeitung Nr. 98 24. 4. 1908. Vossische Zeitung Nr. 288, 22. 6. 1908; Notiz den Fürsten Max Fürstenberger-Donaueschingen betreffend o. D. (Abschrift 1918), in: BAK, N 1029-78. Aufzeichnung Eulenburg, Abschnitt „Die Ehre vergiftet“ (1910). In: BAK, 1029:76, S. 6–10. Tatsächlich erhielt Eulenburg auf Weisung des Kaisers „die Summe von 60 000 Mark aus dem geheimen Fond“, was auf interne Denunziationen hinweist; Eulenburg an Hohenlohe 31. 7. 1900, in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1986. Berliner Tageblatt Nr. 338, 6. 7. 1908; BZ am Mittag Nr. 143, 20. 6. 1908. Zimmermann an Bülow 11. 7. 1908, in: BAK, N 1016-131-1 ff. Notiz Bülow 12. 3. 1908, Antwort 14. 3. in: BAK, 1016-32-45. Vgl. etwa Harden an Holstein 30. 5. 1908, in: Rich und Fisher (Hrsg.), Die Geheimen Papiere, Bd. 4, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 135 Diener, der kündigte, weil er mit Eulenburg in einem Bett hätte schlafen sollen, ein Klavierspieler, der Eulenburg angeblich durch das Schlüsselloch eines Hotelzimmer beim homosexuellen Verkehr beobachtet hatte, ein Tischler, der in den 1880ern Eulenburg nur mit einem Hemd bekleidet neben dessen Leibjäger gesehen hatte, ein Münchner Dienstmädchen, und ein Matrose der kaiserlichen Yacht, dem Eulenburg homosexuelle Anträge gemacht haben soll.421 Ebenso meldete eine geschiedene Frau eines Kommissars, ihr Mann sei nach Besuchen auf Eulenburgs Schloss immer mit „Afterbluten“ zurückgekehrt.422 Einfache Männer und Frauen erhielten so einen weiteren Zugang zur Öffentlichkeit und konnten den Verlauf des Skandals, den sie in den Zeitungen verfolgten, aktiv mitgestalten. Vor allem der Wunsch nach öffentlicher Aufmerksamkeit dürfte diese mitunter unhaltbaren Aussagen angespornt haben. Durch die täglichen Zeitungsberichte erschien Eulenburg den Lesern wie ein vertrauter Verbrecher, dessen Überführung zu einer kollektiven Aufgabe wurde. Auf diese Weise trugen insbesondere einfache Bedienstete mit dazu bei, einen der einflussreichsten Adligen des Landes zu stürzen und damit die bestehenden Machtverhältnisse zu verkehren.423 Die Journalisten förderten das Aufkommen dieser Gerüchte, indem sie die „Tatorte“ aufsuchten. So kamen Reporter zahlreicher Blätter zu Eulenburgs Schloss und zum Starnberger See, um mit Eulenburgs Hausverwalter, dem Bürgermeister und möglichen Zeugen zu sprechen.424 Auch wenn Journalisten nur selten Skandale durch investigative Recherchen anstießen, verstärkten zumindest ihre Nachforschungen in der zweiten Phase des Skandals seine Dynamik. Die Regierung und die Justiz versuchten durch enge Absprachen, beim im Juni 1908 bevorstehenden Eulenburg-Prozess dennoch die Kontrolle zu behalten. Bülow hielt laufend Rücksprache mit dem Justizminister und traf sich vorher mit dem Staatsanwalt, dem er eine Konzentration auf die Anklagepunkte abverlangte, um eine generelle Debatte über Homosexualität in Militär und Politik zu vermeiden.425 Nicht nur das Ansehen der Monarchie dürfte den Reichskanzler dabei interessiert haben. Da bei Eulenburg jetzt polizeiliche Durchsuchungen stattfanden, fürchtete Bülow zweifelsohne, seine leicht homoerotisch gefärbte Korrespondenz mit dem Angeklagten könne gefunden werden und durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit gelangen. Dehalb verlangte der Kanzler von Eulenburg seine Chiffriermaschine zurück und wies an, alle aufge421 422 423 424 425 Vgl. Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830; in der Presse etwa: Berliner Tageblatt Nr. 314, 23. 6. 1908 u. 4. 7. 1908. Staatsanwalt Isenbiel an Beseler 13. 5. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830. Zur breiten Denunziation bei Verbrechen vgl. Philipp Müller, Auf der Suche, S. 150–172. Vgl. die Berichte über die Journalisten dort in: Berliner Tageblatt Nr. 225, 4. 5. 1908, Münchner Post Nr. 103 6. 8. 1908. Vgl. Loebell an Beseler 1. 5. 1908, in: BAB/L R43/798b: 150; Beseler an Bülow 2. 5. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 144; Notizen in: GStA, HA I Rep. 84a, Notiz Willisch 20. 5. 1908, in: BAK, 1016-32-69; Rogge, Holstein, S. 299. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 136 II. Homosexualität als Skandalon spürten Briefe von „hochstehenden Persönlichkeiten“ wie dem Kaiser und ihm selbst sofort zu verschließen und ihn zu informieren.426 Auch der Kaiser selbst wurde kontinuierlich und explizit durch Justizminister Beseler über die Ermittlungen informiert.427 Offensichtlich sollte dies verhindern, dass Wilhelm II. für Eulenburg Partei ergriff. Tatsächlich trat genau das Gegenteil ein: Gerade der Kaiser war es, der nach dem Abbruch des quälenden Prozesses besonders vehement seine Fortführung verlangte.428 Die so forcierten Ermittlungen diskreditierten jedoch vor allem seinen eigenen Hof. So überführten sie schon vor dem Eulenburgprozess auch noch Graf Edgar von Wedel der Homosexualität, der Zeremonienmeister und königlicher Kammerherr war und im Prinzessinnenpalais wohnte. Selbst die konservative Tägliche Rundschau empörte sich nun, „daß er im Prinzessinnenpalais oftmals Teegesellschaften veranstaltet habe, bei denen fast ausschließlich abnorm veranlagte Herren aus den höchsten Gesellschaftskreisen teilgenommen haben.“429 Ältere Fälle, wie der bereits 1901 stillschweigend erfolgte Hof-Ausschluss der homosexuellen Brüder von Eulenburg und Hohenau, kamen nun ebenfalls an die Öffentlichkeit. Der Prestigeverlust des Adels und der Monarchie schritt damit voran. Der Prozess schmälerte zudem die Reputation der Justiz, da die Gerichte bei Hardens Bestrafung die Makellosigkeit von Eulenburg betont hatten. Um Harden und die Öffentlichkeit zu beruhigen, ohne einen Fehlurteil einzugestehen, hob die Staatsanwaltschaft nun Hardens Haftstrafe wegen eines Formfehlers im letzten Prozess auf und wies den Fall an die erste Instanz zur nochmaligen Verhandlung zurück.430 Zugleich musste sie dem öffentlichen Vorwurf der Klassenjustiz begegnen. Deshalb erschien ihr jetzt, ähnlich wie in Großbritannien nach dem Cleveland Street-Skandal, ein hartes Vorgehen gegen Eulenburg erforderlich. Da die Durchsuchungen bei Eulenburg weitere Belege gebracht hatten und seine Rechtfertigungen gegenüber dem Staatsanwalt wenig plausibel waren, erfolgte jetzt sogar Eulenburgs Verhaftung. Trotzdem beklagten die Medien die Sonderbehandlung des prominenten Gefangenen. Berichte über seine Verlegung in ein großes Krankenhauszimmer mit Diener oder über seine Spazierfahrten während der Prozesspausen illustrierten den Vorwurf der Ungleichbehandlung von Arm und Reich vor dem Gesetz.431 Gleiches galt für den Umgang mit Eulenburgs Gesundheitsproblemen, da das Gericht ihn erst von einer Bahre aussagen ließ, dann die gesamte Gerichtverhandlung in die Charite verlegte und 426 427 428 429 430 431 Handschriftliche Aufzeichnung Bülows auf Schriftstück vom 18. 5. 1908 u. Aufzeichnung Chef des Chiffrierbüros 20. 5. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 290. Beseler an Wilhelm II 21. 3. 1908, 25. 4., 1. 5., 8. 5., 9. 5., 13. 5., 27. 5., 2. 6., 8. 6., 15. 8., 8. 7. 1908 in: BAB/L, R 43/798b: 152 ff.; Beseler an Wilhelm II. 28. 5. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830. Kaiserliche Gesandte an AA 17. 7. 1908 , in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830. Tägliche Rundschau Nr. 261, 5. 6. 1908. Beseler an Wilhelm II. 27. 5. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 177; 22. 6. 1907, in : GStA, I HA Rep. 84a Nr. 49838-142 ff. Vgl. etwa den Fotobericht in: BIZ, Nr. 28, 12. 7. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 137 schließlich wegen Eulenburgs Krankheit den Prozess abbrach und vertagte. Die Medien kritisierten Eulenburgs Gebrechen hingegen als Simulation, die das Gericht leichtfertig tolerierte.432 Wie bei den anderen Skandalen stand damit nicht mehr die Homosexualität im Vordergrund, sondern die Gerechtigkeit vor Gericht. Der Konflikt zwischen Justiz und Presse war zudem dadurch vorprogrammiert, dass beim Berliner Eulenburg-Prozess im Juni 1908 die gesamte Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Während die katholischen und konservativen Blätter dies wegen der Gefährdung der Moral begrüßten, protestierten die restlichen Zeitungen mit grundsätzlichen Bedenken. Dennoch gelang es der Justiz und Regierung nicht, eine kritische Berichterstattung einzudämmen. Die Journalisten des Berliner Tageblattes und Berliner Lokal-Anzeigers verschafften sich etwa als Zeugen Zutritt zum Gerichtssaal, andere zehrten von Berichten, die sie an der Tür erhielten.433 Daraufhin ließ das Gericht zumindest den „besonders zuverlässigen Gerichtsberichterstatter“ Adolf Thiele von der Vossischen Zeitung zu, der nun für die Öffentlichkeit stenographierte.434 Alle Blätter berichteten nun so explizit wie nie zuvor über den Fall. Viele Blätter nutzten typographische Hervorhebungen, um spektakuläre Meldungen hervorzuheben.435 Während die Massenpresse in der Anfangsphase des Skandals noch recht unbeteiligt war, sorgte sie nun im Zuge der gerichtlichen Publikation von Beweisen und Narrativen für seine rasante und emotionalisierende Verbreitung. Bezeichnend für die mediale Eigendynamik war, dass auch die konservativen und katholischen Zeitungen nicht minder ausführlich über die Prozesse berichteten, obwohl sie gegen eine öffentliche Gerichtsverhandlung protestierten. Ähnlich wie die „Kreuzzeitung“ drückten sie lediglich regelmäßig ihren Widerwillen aus: „Die Redaktionen ernster Blätter besitzen nun gewiß ebenso viel Einsicht in den Ernst der Sache wie die Richter; aber leider werden sie durch die Leser gezwungen, die Berichte zu veröffentlichen.“436 Ebenso forderte die katholische Kölnische Volkszeitung das Verbot der Wiedergabe der Gerichtsverhandlungen, die eine Gefahr für die Moral und Jugend seien. Denn ohne ein Verbot seien die Zeitungen gezwungen, derartiges abzudrucken, weil sie sonst als „langweilig“ gelten würden.437 Damit sahen sich die konservativen und katholischen Blätter als Opfer ihrer Leser und der Zeitungskonkurrenz, die sie zu einer ausführlichen Skandalberichterstattung zwingen würden. Die Zeitungsleser in den Hamburger Kneipen griffen tatsächlich die Berichte über den Skandal ausführlich mit eigensinnigem Spott auf. Nach Eulenburgs 432 433 434 435 436 437 Vgl. etwa BZ am Mittag Nr. 94 22. 4. 1908; vgl. auch Karikaturen wie im: Kladderadatsch 10. 5. 1908. Vgl. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 352, 13. 7. 1908. Protokoll 15. Verhandlungstag 16. 7. 1908, in: BLHA, Rep 37: 564. Vgl. Sätze wie „die sexuellen spiritistischen Neigungen des Fürsten Eulenburgs“(H.i.O), in: Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 347, 10. 7. 1908. Neue Preussische Zeitung, 13. 7. 1908, abends. Kölnische Volkszeitung, Nr. 571, 4. 7. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 138 II. Homosexualität als Skandalon Überführung gingen sie jetzt auch von Moltkes Schuld aus.438 Vor allem monierten sie die ungleiche Behandlung zwischen Arm und Reich: „Graf Honenau [sic] sowie Graf Linar [sic] hätten beide ohne Pension entlassen werden müssen, da jeder andere Beamte ohne Pension entlassen wäre. Ebenso ist es mit dem Fürsten Eulenburg, dem steckt man alles zu, was er im Gefängnis wünscht.“439 Zugleich sorgte der Prozess für eine spöttisch-spielerisch und humoreske Aneignung in den Kneipen. So beobachtete ein Polizist „Bauhandwerker“, die sich beim Frühstück „unsittliche Bilder“ zeigten, „worauf dann einer von diesen Kollegen sagte: ‚das müßte Eulenburg sehen.‘“440 Andere Kneipengäste erzählten sich Witze, die sich um den Skandal drehten. So griff ein Kohlenarbeiter die Zeitungsberichte gegenüber seinen Kollegen mit dem Hinweis auf, in Berlin müssten die Kohlenhändler „jetzt mit den Kohlenpreisen herunter gehen, sonst werden die überhaupt nichts mehr los. Hierauf fragte der dritte ‚warum denn‘? ‚Das ist doch ganz einfach zu erraten, weil es dort viel zu warm ist.‘“441 Der Witz deutet zugleich an, dass durch den Skandal die neue Metropole Berlin als Ort der Homosexualität erschien. Der Prozess gegen Eulenburg bildete zweifelsohne den Höhepunkt eines Skandals, der einen denkbar langen Vorlauf hatte. Als die Ärzte mitten im Prozess Eulenburg aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklärten, war die Unzufriedenheit groß. Obgleich die Beweise ganz überwältigend gegen Eulenburg sprachen und das lang diskutierte Geheimnis aufgedeckt war, fehlte das erwartete offizielle Urteil gegen ihn. Im September 1908 wurde Eulenburg aus der Charité gegen eine hohe Kaution nach Hause entlassen. Obgleich der Kaiser und verschiedene Politiker immer wieder regelmäßig auf die Fortführung des Prozesses drängten, blieb Eulenburgs Gesundheitszustand angeblich so schlecht, dass er nicht verhandlungsfähig war.442 Dass er 1909 trotzdem nach Bad Gastein reisen konnte, wurde von der Presse allgemein als Niederlage der deutschen Rechtsprechung gesehen.443 Reichskanzlei und Justizministerium hofften dagegen 1909, dass es nicht zu einem erneuten Prozess kommen würde, um den Skandal endlich zu beenden.444 Tatsächlich wurde im Sommer 1909 ein erneuter Prozess wegen eines „Herzkrampfes“ von Eulenburg am ersten Tag abgesetzt.445 Dass der Prozess nie beendet wurde, erschien öffentlich immer wieder als neuer Beleg für eine Zweiklassenjustiz. 438 439 440 441 442 443 444 445 Polizeibericht Schutzmann Zerulli, 11. 5. 1908, in: StAH, S 3930-38 Bd. 2. Polizeibericht Schulz 24. 6. 1908, in: StAH, S 3930-42. Polizeibericht Schulz 9. 7. 1908, in: StAH, S 3930-42. Polizeibericht Zerulli 31. 10. 1908 (über Kneipenbesuch 30. 10. 1907), in: StAH, S 3930-38 Bd. 1. Vgl. zu Wilhelms Drängen: Beseler an Wilhelm II. 4. 9. 1909 und 13. 6. 1909, in: BAB/L, R43/ 798b: 293 ff. Vgl. die Pressesammlung in LHB, Rep. 37: 554/1. Loebell an Ballin 18. 6. 1909, in: BAK, N 1062-4. Bericht Staatsanwalt und Protokoll 8. 7. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49831. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 139 Eine Fortsetzung des Skandals drohte jedoch durch eine Revision des MoltkeProzesses. Dabei zeigen die überlieferten Quellen detailliert, wie sehr von politischer Seite in die Justiz eingegriffen wurde, um eine Beendigung der Prozesse und einen Ausgleich mit dem Journalisten zu erreichen. Vor allem Reichskanzler Bülow versuchte mit allen Mittel, einen weiteren Prozess zu verhindern. Zunächst setzte er sich dafür ein, ihn bis nach dem Abschluss des Eulenburg-Prozess zu vertagen; der preußische Justizminister Max von Beseler sollte beim Staatsanwalt darauf hinwirken.446 Der Justizminister sprach mit dem Staatsanwalt Isenbiel ab, Harden solle im Falle eines Prozesses mit einer Geldstrafe davon kommen, die Zeugen Riedel und Ernst seien nicht einzuberufen und er brauche sich nur auf den Fall Moltke zu konzentrieren.447 Um direkt auf Harden einzuwirken und indirekt seine Forderungen zu erfahren, bediente sich Bülow des Journalisten Eugen Zimmermann, der bei der Reichskanzlei in Sold stand und als Bülows Vertrauter arbeitete.448 Wie ernst Bülow den Skandal weiterhin nahm, unterstrichen seine handschriftlichen Notizen, in denen er seine Standpunkte reflektiert („Meine Beziehung zu Ha[rden]“).449 Zugleich schützte Bülow Harden, als ihm im November 1908 wegen seiner Artikel im Rahmen der Daily-Telegraph-Affäre ein Prozess drohte. Das Verbot der Zukunft wurde auf Bülows Geheiß abgemildert und ein Majestätsbeleidigungsprozess blieb aus, wofür sich Harden indirekt über Zimmermann bei Bülow bedankte.450 Tatsächlich konnte der Reichskanzler Harden mit materiellen und symbolischen Zugeständnissen beruhigen. Bülow ließ über den offiziösen Journalisten Zimmermann einen geheimen Vergleich zwischen Moltke und Harden aushandeln. Harden wiederholt darin, „daß er in seiner Wochenschrift Seine Excellenz, den Herren Grafen Kuno von Moltke nicht der Homosexualität beschuldigt hat. [...] Beide Herren sind er Überzeugung, daß sich nach dieser Erklärung jede Beweisaufnahme erübrigt.“451 Obwohl Moltke und Harden durch diese Vermittlung gemeinsam den Staatsanwalt um die Einstellung des Verfahrens baten und letzterer dies unterstützte, kam es durch das Drängen des Justizministeriums schließlich dennoch zu einem Prozess.452 Über den Justizminister wies Bülow den Staatsanwalt an, aufgrund des Vergleichs der Parteien auf jede Beweisaufnahme zu verzichten und keine Strafe zu beantragen.453 Auch die 446 447 448 449 450 451 452 453 In zwei Briefen am selben Tag: Bülow an Reichskanzlei u. an Loebell 8. 10. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 231 u. 234. Notiz Reichskanzlei 7. 10. 1908, in: BAK, 1016-32-73 ff. Vgl. Zimmermann an Loebell 12. 10. 1908 und 17. 10., in: BAB/L, R43/798b: 246 u. 248; vgl. auch Zimmermann an Bülow 13. 12. u. 31. 12. 1908, 15. 1., 9. 3. u. 8. 4. 1909 in: BAB/L, R43/ 798b: 257 ff. Handschriftliche Aufzeichnung Bülow, o. D. (wohl 1908) in: BAK, 1016-32-33. Guenther an Loebell 8. 11. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 252; Zimmermann an Loebell 3. 12. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 256. 19. 3. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 272. Erklärung Moltke/Harden 22. 3. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 273. Bericht 23. 4. 1909, in: BAB/L, N2106/2: 17ff; Bülow an Loebell 15. 4. 1909, in: BAB/L, R43/ 798b: 277 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 140 II. Homosexualität als Skandalon Aussagen der Kontrahenten wurden abgesprochen. Moltke sollte die Frage nach der Homosexualität nicht direkt beantworten und sich nur auf frühere Aussagen berufen. Ein weiterer Unterhändler, der Reeder Albert Ballin, erreichte eine briefliche Versicherung Hardens, sich vor Gericht nicht belastend zu äußern und selbst eine Verurteilung durch das Gericht hinzunehmen.“454 Tatsächlich hielt sich Harden an diese Absprachen, womit Bülow die Bezähmung des unberechenbaren Journalisten gelungen war. Im Unterschied zu allen vorherigen Prozessen war dieser damit nur noch eine abgesprochene Farce. Trotz dieser scheinbar perfekten Planung des Prozesses durch die Reichsleitung war allerdings auch hier der Prozess und damit der Skandalverlauf nicht steuerbar. Da das Gericht zumindest eine Absprache unterlief und Harden wegen „übler Nachrede“ zu 600 Mark Geldstrafe und zur Zahlung der Prozesskosten verurteilte, schien ein weiterer Prozess bevorzustehen. Harden beschuldigte nun zu unrecht Bülow, nicht für den vereinbarten Freispruch beim Justizminister gesorgt zu haben.455 In einer Zuschrift an den Hannoverschen Courier kündigte er sofort seine Revision an und verdammte seine „einseitige Rücksichtnahme“.456 Daraufhin startete der Reichskanzler weitere Versuche, den Journalisten zu beruhigen. Bülow verhandelte mit Harden wieder über den Unterhändler Ballin, die zahlreiche Briefe austauschten und Gespräche führten.457 Schließlich gelang über zwei Gesten eine Einigung: Erstens akzeptierte Harden, um seine Ehre wieder herzustellen, nach einigen Debatten über einzelne Formulierungen einen eigenhändigen Brief Bülows, der Harden von seiner Schuld freisprach und damit seine Ehre wieder herstellte. Hier hieß es: „Ich glaube mit vollem Recht, daß Herr Harden nicht aus Sensationslust, sondern aus patriotischen Erwägungen gehandelt hat und nicht leichtfertig dabei zu Werke gegangen ist.“458 Zweitens wurde Harden mit 40 000 Mark aus geheimen Mitteln der Reichskanzlei versöhnt, die ihm seine Unkosten bei den Prozessen unter der Bedingung ersetzten, dass er den Revisionsantrag zurückziehe.459 Damit akzeptierte einer der großen unabhängigen Journalisten letztlich ein Schweigegeld, um den Skandal zu beenden. Akzeptabel war es für Harden aber ohnehin nur deshalb, weil er selbst völlig erschöpft von den Prozessen war und voller patriotischer Selbstzweifel, ob sein Verhalten dem Land mehr schade oder nütze. Insofern gingen schließlich alle Beteiligten als Verlierer aus dem Skandal. Harden hatte an Ansehen verloren, weil er durch den Abbruch des EulenburgProzesses und den geheimen Ausgleich mit Moltke nicht per Gerichtsurteil seine Vorwürfe rechtskräftig belegen konnte. Zudem wurde er für die Diskreditie454 455 456 457 458 459 Loebell an Bülow 14. 4. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 276. Vgl. Hardens Korrespondenz im April 1909, in: BAB/L, N2106/2. Hannoversche Courier 25. 4. 1909. Loebell an Bülow 9. 5. 1909 und Loebell an Ballin, in: BAB/L, R43/798b: 282 ff. Ballin an Harden April bis Juni 1909 in: BAK, N 1062-4. Bülow an Ballin 29. 5. 1909, in: BAK, N 1062-123. Ballin war wieder der Mittelsmann: Betragsbestätigungen Loebell und Ballin 12. 6. 1909 in: BAK, 1016-32-162 und 164. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 141 rung der Monarchie und die Verbreitung von „unmoralischen“ Berichten verantwortlich gemacht. Eulenburgs und Moltkes Reputation war hingegen auch ohne Urteil zerstört. Auch Bülows Stellung litt unter dem Skandal, da er wegen seines wechselhaften und zurückhaltenden Durchgreifens sowohl beim Kaiser als auch in der Öffentlichkeit an Ansehen verloren hatte.460 In gewisser Weise war dieses Ergebnis symptomatisch für den Verlauf des Skandals, der zeigte, dass sich in der medialisierten Öffentlichkeit weder anklagende Journalisten noch machtvolle Politiker eindeutig durchsetzen konnten. Der Ausgang ihrer Auseinandersetzungen hing vielmehr von sich schnell wechselnden öffentlichen Stimmungen ab, die für beide Seiten nicht kontrollierbar waren. Die zahlreichen Versuche, die öffentliche Meinung oder Prozessverläufe zu beeinflussen, scheiterten zumindest immer wieder. Deutungen und Normen Der Skandal war jedoch mehr als ein Machtkampf zwischen Teilen der Presse und der Politik. Er verhandelte zugleich verschiedene Normen und Deutungsmuster. Besonders Homosexualität wurde im Zuge des Skandals so offen und ausführlich thematisiert, wie es bislang in der deutschen Öffentlichkeit sicherlich noch nie der Fall war. Sowohl die bürgerliche Abgrenzung gegenüber der adligen „Kamarilla“ als auch die große Zahl an gerichtlich dokumentierten Aussagen zu Homosexualitätsfällen erleichterten dabei den Umgang mit dem Tabuthema. In den Artikeln vieler liberaler Zeitungen erfuhr die Homosexualität zunächst eine erstaunlich tolerante Bewertung, wie sie in Großbritannien undenkbar gewesen wäre. Sie reichte noch über die verständnisvollen Zuschreibungen im Krupp-Skandal hinaus. So urteilte die National-Zeitung im Zuge des MoltkeHarden-Prozesses, es sei für die Politik unerheblich, ob ein Beamter sich homosexuell betätige oder nicht. Sie betonte vielmehr, „daß ein Mensch homosexuell empfinden und doch eine Natur von hoher sittlicher Kraft sein kann.“ Wenn Berater Interna verrieten oder einen Ring um den Kaiser bildeten, sei dies verwerflich, nicht aber ihre Homosexualität.461 Ebenso empfahl sie den Richtern vor dem Prozess, die Formulierung „widernatürlich“ des § 175 in Anlehnung an die „Wissenschaft über jene Zwischenstufen“ neu auszulegen.462 Ähnlich tolerant äußerte sich die freisinnige Frankfurter Zeitung: Prinzipiell könne ein Homosexueller selbst zu einer hohen Stellung und als Ratgeber des Kaisers taugen. Auch wenn sie sich gegen die Abschaffung des § 175 aussprach, seien Homosexuelle nicht zu verachten: „Moralisch deshalb nicht, weil es mindestens sehr 460 461 462 Diese Einschätzung zu Bülow auch bei: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890–1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 257. National-Zeitung Nr. 504, 26. 10. 1907. National-Zeitung 16. 10. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 142 II. Homosexualität als Skandalon wahrscheinlich ist, daß in vielen Fällen eine natürlich-unnatürliche Veranlagung vorliegt, und im übrigen, weil es in der Tat bedeutende Homosexuelle gegeben hat.“463 Damit überführten die Blätter sowohl die medizinischen als auch die historischen Argumente der Expertendiskurse in die breite Öffentlichkeit. Bereits vor den Prozessen erhielt Magnus Hirschfeld in der Zukunft Gelegenheit, seinen Standpunkt zur Homosexualität darzulegen.464 Der erste MoltkeHarden Prozess im Oktober 1907 förderte diese Popularisierung toleranter Expertendeutungen, indem Magnus Hirschfeld als Gutachter auftrat. Das Fazit, das Hirschfeld hier über Moltkes Sexualität zog, drang durch die recht wörtliche Prozessberichterstattung selbst in konservative Blätter wie die „Kreuzzeitung“. Hirschfeld sprach nach ihrem Bericht davon, es liege „objektiv eine Abweichung von der Norm“ vor, „und zwar eine unverschuldete, angeborene und nach meiner Überzeugung ihm selbst nicht bewußte Anlage, die man als homosexuell zu bezeichnen pflegt.“ Zugleich vermittelte er die Deutung, „daß die Homosexualität keine Krankheit ist, sondern im Plane der Natur“, weshalb der § 175 abzuschaffen sei.465 Während die konservativen und katholischen Zeitungen noch im Sommer 1907 eine offene Debatte über Homosexualität vermieden hatten, führte der Prozess im Herbst somit zumindest zu Berichten über unterschiedliche Positionen, auch wenn ihre Kommentare sie erwartungsgemäß nicht teilten. Die Konservativen stellten die medizinischen Erkenntnisse vielmehr hinter das „gesunde Volksempfinden“, das Homosexualität als „widernatürlich und ekelhaft [...] abnorm und krankhaft“ ansehe, weshalb Homosexuelle nicht in führende Positionen kommen dürften.466 Gerade das aufkeimende Verständnis für gleichgeschlechtliche Beziehungen förderte somit entsprechende Gegenreaktionen. Ähnlich ambivalent wie im Fall Krupp urteilten die sozialdemokratischen Medien. Auf der einen Seite betonten sie erneut, Homosexualität sei eine Krankheit und daher eine Bestrafung oder Entrüstung unangebracht. Auf der anderen Seite sahen sie das Verhalten der Adligen als amoralisch und strafbar an, indem sie argumentierten, „daß es außer der angebornen Homosexualität noch eine erworbene, oder sagen wir, künstliche gibt, die ein Produkt des Verfalls ist.“467 Dementsprechend bezeichneten sie Eulenburg als einen „Päderasten“, der durch sein Geld andere verführt habe, und benutzten die Homosexualität zur Anklage gegen die Regierung.468 Ihre weltanschauliche Umdeutung der Homosexualität in der politischen Auseinandersetzung trug somit erneut dazu bei, Homosexuelle als korrumpierende Gefahr zu brandmarken. 463 464 465 466 467 468 Frankfurter Zeitung Nr. 300, 27. 10. 1907. Die Zukunft 29. 6. 1907. Neue Preussische Zeitung, 26. 10. 1907, morgens. Vgl. auch das Urteil, ausgefertigt 7. 11. 1907, in: GStA, I HA Rep. 84a Nr. 49838-36, S. 23. Kölnische Zeitung Nr. 1121, 28. 10. 1907. Vorwärts 24. 10. 1907. Vgl. Formulierung wie: „Die Pädasterie scheint es also gewesen zu sein, die diesen Nebenregierungszirkel zusammenhielt“. Zit. Leipziger Volkszeitung. Nr. 127, 5. 6. 1907; ähnlich: Vorwärts 24. 10. 1907, 3. 7. 1908, 18. 7. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 143 Abb. 3: Auch in Deutschland brachten die Skandale mit erstaunlich expliziten Darstellungen das Bild des reichen Homosexuellen auf, der durch sein Geld verführt; Quelle: Kladderadatsch 10. 5. 1908 (Zweites Beiblatt). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 144 II. Homosexualität als Skandalon Aber auch einige bürgerliche Blätter schlossen sich dieser Deutung an und sahen Homosexualität als ein Phänomen der Oberschicht, das durch erbliche Anlagen und dekadenten Lebenswandel verursacht würde. So beschrieb der konservative Der Tag aus dem Scherl-Verlag Homosexualität als eine „gefährliche Krankheit just in den Gesellschaftsregionen, die berufen sind, uns einen großen Theil unserer Führer zu geben. [...] Allzuleicht erworbener Besitz, angezüchtigter Eisenmangel im Blut und intellektuelle Schwäche halten sie einerseits von der Arbeit fern, peitschen sie andererseits zu immer neuen sogenannten Lebensgenüssen.“ Dies sei privat legitim, wenn sie nicht an die Spitze des Landes drängten.469 Ebenso gingen der konservative Reichsbote und die katholische Germania davon aus, dass die aufgedeckte Homosexualität keine Ausnahme, sondern in höchsten Schichten verbreitet sei.470 Der Reichsbote zog daraus sogar den Schluss, die Innere Mission sollte sich in Zukunft verstärkt um die Moral der Oberschicht bemühen. Damit verbreitete der Skandal ähnlich wie im spätviktorianischen England von der linken bis zur rechten Öffentlichkeit die Vorstellung, ein normaler bürgerlicher Lebenswandel mit entsprechendem Arbeitsethos würde Homosexualität ausschließen. Nachdem sich zunehmend die Deutung etablierte, Homosexualität sei eine Art Krankheit, standen nun die Behandlungsmöglichkeiten im Vordergrund. Eine zentrale Frage war, welche Bedeutung Homosexualität innerhalb des Militärs hatte. Immerhin stand im ersten Prozess mit Moltke ein General im Mittelpunkt des Skandals. Obgleich der erste Prozess Moltke nur homosexueller Neigungen, nicht homosexueller Praktiken überführt hatte, thematisierten die Prozessberichte homosexuelle „Orgien“ von hohen Militärs. Ein früherer Gardekürassier erzählte im Prozess etwa von unsittlichen Anträgen, die ihm Major Graf Lynar, Generalleutnant Wilhelm Graf von Hohenau und andere Offiziere gemacht hätten. In der Villa hätten diese, so die Vossische Zeitung, „mit ihm Handlungen vorgenommen, die von ihm genau geschildert werden, deren Wiedergabe sich aber verbietet.“471 Dieser Zeuge glaubte auch Eulenburg und Moltke wieder zu erkennen, die dabei zugeschaut hätten. Teile der Presse generalisierten diese Befunde. So nannte es die Freisinnige Zeitung „unbestreitbar“, dass Homosexualität im Militär häufiger vorkomme.472 Dass der Skandal selbst innerhalb der Militärführung diese Annahme etablierte, deutete rückblickend der für Sittenfragen zuständige Berliner Kommissar von Tresckow an: „Fast täglich kommen Kommandeure der Berliner und Potsdamer Garderegimenter zu mir und bitten um Rat, wie sie die in den Regimentern eingerissene Päderastie der Soldaten bekämpfen könnten.“473 Die kurz vorher verübten Selbstmorde 469 470 471 472 473 Der Tag Nr. 259, 19. 7. 1908. Reichsbote Nr. 251, 29. 10. 1907; Germania zit. in: Die Post Nr. 249, 27. 10. 1907. Nicht „krankhafte Anlage“, aber auch „Übersättigung“ als Ursache: Deutsche Tageszeitung 12. 10. 1907. Vossische Zeitung Nr. 500, 24. 10. 1907. Freisinnige Zeitung Nr. 257, 30. 10. 1907. Von Tresckow, Von Fürsten, S. 185. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 145 Abb. 4: Spott und Empörung über die Homosexualität im Militär zeigten sich auch in Postkarten, die im Zuge der Skandale vertrieben wurden; Quelle: LINSERT, Kabale, S. 474. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 146 II. Homosexualität als Skandalon von Offizieren wegen derartiger Vorwürfe (wie vom Hauptmann von Tschirschky und Leutnant von Uetritz) verstärkten diesen Eindruck.474 Immerhin waren zwischen 1905 und 1907 rund 20 Offiziere wegen Homosexualität verurteilt worden und sechs Selbstmorde von erpressten Offizieren zu verzeichnen.475 Die durch den Skandal diskutierte Verbindung von Homosexualität und Militär vereinte dreierlei Ängste: die Furcht vor einer Minderung der Kampfeskraft durch „verweiblichte“ Soldaten; die Angst vor einem Autoritäts- und Reputationsverlust des Militärs, auch mit Blick auf das Ansehen im Ausland; und eine Krise der Männlichkeit, die gerade in Preußen durch das Militär verkörpert und durch militärische Werte definiert wurde. Dementsprechend forderten insbesondere die konservativen, katholischen und nationalliberalen Blätter eine „eiserne Reinigung“ des Militärs.476 Männer wie Moltke bezeichneten sie wegen ihres „süßlichen Wesens“ und „abnormer Empfindungen“ als eine Gefahr für das Militär, was die Norm militärischer Männlichkeit wieder restituierte.477 Die liberalen Zeitungen sahen sie zumindest als ungeeignet für militärische Führungsposten an.478 Die zugeschriebene feminine Schwäche des Homosexuellen bedrohte demnach die Kraft des Staates, wie Harden bereits an dem angeblich durch Eulenburg verursachten Zurückweichen in der Marokkokrise 1906 auszumachen geglaubt hatte.479 Der Reputationsverlust für das Militär war nicht leicht aufzufangen. Vor allem die satirischen Zeitschriften und Zeitungsbeilagen verbreiteten Karikaturen über die homoerotische Neigung von Offizieren, die sich an ihren Soldaten ergötzten.480 Den weit verbreiteten öffentlichen Spott drückten auch Postkarten aus, die in Kneipen vertrieben wurden und entsprechende Vorstellungen über den Missbrauch von Untergebenen verfestigten (vgl. Abb. 4). Besonders die Musterung durch den Vorgesetzten erhielt vielfältige homoerotische Umdeutungen in den Bildern. Zudem kursierten provokative Broschüren mit Titeln wie „Armee und Homosexualität“, die behaupteten, die Homosexualität würde überhaupt erst den inneren Zusammenhalt im Militär herstellen.481 Nicht nur die Grenzen des Sagbaren, sondern auch die Grenzen des Zeigbaren erwiesen sich somit in Deutschland als deutlich weiter als in Großbritannien, wo derartig 474 475 476 477 478 479 480 481 Vgl. zu weiteren Fällen im Militär, die damit in Verbindung standen: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1907, in: Staatsbibliothek Berlin. Diese Zahlen, allerdings nur nach Angaben des dubiosen Publizisten Adolf Brand: James D. Steakley, Iconography of a Scandal. Political Cartoons in the Eulenburg-Affair, in: Wayne R. Dynes (Hrsg.), History of Homosexuality in Europe and America, New York 1992, S. 323– 385, S. 334. Zit. Köln. Volkszeitung Nr. 934, 28. 10. 1907. Vgl. Die Post Nr. 505, 27. 10. 1907; Kölnische Zeitung Nr. 1121, 28. 10. 1907. Frankfurter Zeitung 30. 10. 1907. Diesen Aspekt betont auch: Bruns, Skandale, S. 62. Vgl. bes. Simplicissimus 11. 11. 1907, S. 517, 519 u. 532 u. 10. 12. 1907. Zu den Karikaturen vgl. James Steakley, Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel ihrer zeitgenössischen Karikaturen, Hamburg 2004. Karl Franz von Leexow, Armee und Homosexualität, Leipzig 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 147 satirische Bilder kaum aufgetreten waren, geschweige denn ernst gemeinte Darstellungen. Wie sehr gerade die Homosexualität beim Militär die Öffentlichkeit bewegte, zeigte sich auch in den Kneipengesprächen. Aus den Zeitungsberichten entwickelten sich recht persönliche Unterhaltungen über individuelle Erlebnisse. So berichtete ein Gast über seine Erfahrungen mit homosexuellen Offerten beim Militär.482 In einer anderen Kneipe meinte ein Gast laut Polizeibericht, der Skandal „hat wohl einige Übelstände bei unserem so herrlichen Kriegsheer aufgedeckt aber noch lange nicht genügend, denn in ihm passiert noch viel mehr [...].“483 Wie „alltäglich“ dies beim Militär sei, belegte der Gast mit dem Hinweis auf die benachbarte Wandsbeker Garnison, wo bei einem Begräbnis viele als homosexuell bekannte Männer erschienen seien. Unabhängig von dem Wahrheitsgehalt derartiger persönlicher Aussagen führten die Medienberichte somit dazu, dass ein derartig tabuisiertes Thema äußerst offen diskutiert wurde. Auch in der Versammlungsöffentlichkeit des Reichstages regte der Skandal entsprechende Debatten über die Homosexualität beim Militär an. Wie stark die Empörung hierüber war, zeigte sich Ende November 1907 bei den Reichstagsdebatten zum Moltke-Skandal. Der Zentrumspolitiker Spahn sprach etwa von einem „Mißbrauch der Dienstgewalt“ von Offizieren, der Eltern besorgen müsse. Ebenso explizit beschwerte sich der Nationalliberale Bassermann darüber, „daß deutsche Offiziere sich vergingen mit Untergebenen“. Und der Sozialdemokrat Bebel berichtete von Selbstmorden von erpressten Offizieren, weshalb er erneut die Abschaffung des § 175 forderte.484 Der Reichskanzler entgegnete diesen Vorwürfen mit dem Versprechen, besonders hart gegen Homosexualität im Militär vorzugehen. Auch Kriegsminister von Einem versprach Maßnahmen. Die Angst vor der homosexuellen Überwältigung des Militärs zeigte sein Verweis auf das schon länger bestehende Verbot für Kürassiere, bei Dunkelheit in ihrer Uniform auszugehen, um sie „vor den Angriffen der pervers veranlagten Teile des Zivilpublikums zu schützen.“485 Abschließend zog der Kriegsminister die Grenze zwischen Homosexuellen und Militär mit aller Deutlichkeit: „mir sind diese Leute ekelhaft (Bravo! rechts) und ich verachte sie! Aber, meine Herren, eins steht unbedingt fest: mag dem sein, wie ihm wolle, ein solcher Mann darf nie und nimmer Offizier sein. (Lebhaftes Bravo rechts) [...] ein solcher Mann zwingt seine Mannschaften, den Vorgesetzten zu verachten.“486 Homosexualität galt folglich erneut als Gefahr für die Autorität und die Hierarchien. Entsprechende Prozesse gegen die bislang nur verabschiedeten Offiziere folgten. Major Lynar wurde wegen Missbrauchs der Dienstgewalt in sechs 482 483 484 485 486 Polizeibericht Stoike 26. 10. 1907, in: StAH, S 3930-39. Polizeibericht Hinz 5. 11. 1907, in: StAH, S 3930-26, Bd. 6. Zit. 28. 11. 1907, Sten. Ber. RT, 60. Sitz., S. 1875 u. 1889; 29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz., S. 1910. 29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz., S. 1913. 29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz., S. 1916. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 148 II. Homosexualität als Skandalon Fällen, davon vier sittlichen Vergehen, zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt, und der Generalleutnant Wilhelm Graf von Hohenau wurde zwar wegen mangelnder Beweise freigesprochen, musste aber seinen Dienst wegen nicht erwiesener Unschuld quittieren.487 Die anfänglichen toleranten Deutungen der liberalen Öffentlichkeit wurden somit durch die Angst vor einer militärischen Schwäche wieder überschrieben. Durch derartige Debatten trug der Skandal maßgeblich dazu bei, generelle Eigenschaften und Erkennungsmerkmale von Homosexuellen zu konstruieren. Da Eulenburg und Moltke schlagartig die bekanntesten Personen im Land waren, denen man Homosexualität zuschrieb, folgten aus ihren angeblichen Charaktereigenschaften pauschale Verallgemeinerungen. Wie beim Krupp-Skandal zählten dazu künstlerische Neigungen, Arbeitsscheu, ein „weicher“ Charakter sowie der inadäquate Kontakt mit jungen Männern aus der untersten Gesellschaftsschicht, die durch Geld korrumpiert würden. Hinzu kamen Intrigantentum, die Patronage von Männern mit ähnlichen Neigungen und eine begrenzte Ehrlichkeit, die der Zwang zur Verstellung auslöse. Den „femininen Einschlag“ von Homosexuellen verifizierte auch der Experte Hirschfeld, indem er ihnen irrationale weibliche Charaktereigenschaften zuschrieb wie „ein Vorherrschen des Gefühlslebens“ oder „ein Hang zum Mystizismus“.488 Auch das Urteil des Gerichtes, das alle Zeitungen verbreiteten, machte in Anlehnung an Hirschfelds Expertise Homosexualität vor allem an drei Eigenschaften aus: „er [Moltke] ist dem weiblichen Geschlecht abgeneigt, hat eine Zuneigung zu dem männlichen Geschlecht und hat gewisse feminine Eigenschaften – alles Merkmale der Homosexualität.“489 Diese Erkennungsmerkmale wurden anhand seiner Verhaltensweisen belegt und spezifiziert. Dass Moltke im Theater gerne Süßigkeiten esse, von seiner Frau verspottet und geschlagen werde, den ehelichen Sexualverkehr zwei Tage nach der Hochzeit aufgab und am Taschentuch seines angebeteten Freundes roch, waren zentrale Indizien. Das Urteil des zweiten MoltkeProzesses, das ihn entlastete, begründete seine „Normalität“ genau umgekehrt, indem es ihm alle femininen Eigenschaften absprach.490 In diesem Sinne erschienen Homosexuelle tatsächlich wie ein „drittes Geschlecht“ zwischen Mann und Frau, das äußerlich erkennbar war. Allein die zugeschriebenen weiblichen Eigenschaften disqualifizierten Homosexuelle bereits für einige Berufe. Das galt nicht nur für das Militär, sondern mit Blick auf Eulenburg auch für die Politik und die diplomatische Laufbahn. Zeitgenossen am Hof, wie Graf Robert Zedlitz-Trützschler, gingen zwar während des Prozesses davon aus, dass Moltke und Eulenburg keine Homosexualität praktiziert hätten, sie aber deshalb nicht für die Umgebung des Kaisers 487 488 489 490 Vossische Zeitung 24. 1. 1908. Rede Hirschfelds in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 11. 1907, S. 214. Urteil zit. Neue Preussische Zeitung, 29. 10. 1907, abends. Vossische Zeitung Nr. 610, 31. 12. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 149 geeignet wären, weil „ihre weibische Auffassung, ihr weichliches und phantastisches Wesen in politischer Beziehung und insbesondere in der Umgebung Wilhelms II. gefährlich sein konnten.“491 Da Homosexuelle schwatzhaft wie Frauen seien, so auch Kommissar Tresckow, besäßen sie nicht die nötige Diskretion für solche Posten. Und weil sie sich nur untereinander förderten, hätten sie nicht den nötigen Patriotismus.492 Der weltweit beachtete österreichische Skandal um den homosexuellen Generalstabschef Alfred Redl, der Militärgeheimnisse an Russland verkauft hatte, verfestigte 1913 dieses Klischee des geschwätzigen und daher unzuverlässigen Homosexuellen erneut. Zudem brachte dieser Fall auch in Österreich die Angst auf, im Militär sei Homosexualität verbreitet.493 Zumindest andeutungsweise schuf der Skandal auch ein öffentliches Wissen über die Praktiken des homosexuellen Liebeslebens. Aus den Zeugen- und Expertenaussagen erfuhren die Zeitungsleser, wie homosexuelle Männer Kontakte anbahnten. Der von Eulenburg mehrfach benutzte Eingangssatz „Hast Du denn ein Mädchen?“ wurde als charakteristisch erachtet. Zwar übernahm keine Zeitung in ihren scheinbar wörtlichen Berichten die äußerst expliziten Aussagen über den homosexuellen Geschlechtsverkehr, die besonders im Moltke-Prozess und in den beiden Eulenburg-Prozessen 1908 fielen. Allerdings berichteten zumindest die linken Zeitungen erstaunlich offen etwa über das gemeinsame Onanieren, das Eulenburg mit einem Fischer praktizierte.494 Wie explizit hierüber geschrieben werden durfte, wurde ebenfalls ausführlich diskutiert. Während die konservativen und katholischen Zeitungen die Berichte als eine Gefahr für Frauen und Kinder sahen und somit das Wissen um Homosexualität als ein männliches Geheimnis verstanden, argumentierten liberale Zeitungen wie die BZ eher aufklärerisch, die Zeitungen seien eben nicht für Kindern geschrieben: „Erwachsene aber dürfen und müssen eine Gruppenerkrankung kennenlernen, von deren leider schon endemischer Verbreitung die neueren Ereignisse jedem wohl eine Vorstellung gegeben haben.“495 Die Wissenskonstruktion sollte damit der aufklärenden Warnung dienen, während die katholische und konservative Öffentlichkeit vor allem Nachahmungseffekte befürchtete. Da die Homosexualität somit als eine äußerlich erkennbare Eigenschaft galt, traf der Skandal auch den Kaiser. Dabei verhandelte der Skandal Zuschreibungen über den Monarchen, die über sein homoerotisch orientiertes Umfeld seine Kompetenz hinterfragten. Wie bereits Martin Kohlrausch unterstrich, bedrohte 491 492 493 494 495 Eintrag 26. 11. 1907 in: Graf Robert Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre, S. 171 f. Tresckow, Von Fürsten, S. 112 f. Vgl. die populärwissenschaftliche Darstellung: Georg Markus, Der Fall Redl. Mit unveröffentlichten Geheimdokumenten zur folgenschwersten Spionage-Affäre des Jahrhunderts, Berlin 1986. Vorwärts 22. 4. 1908. Vgl. die Aussagen in Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830; Protokoll der Sitzung 21. 4. 1908, in: BAK, N 1062-123. BZ Nr. 153, 2. 7. 1908. Einen Verzicht auf Berichte zum Schutz von Frauen und Kindern forderte etwa: Der Tag Nr. 221, 4. 6. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 150 II. Homosexualität als Skandalon der Skandal seine Autorität.496 Dass Wilhelm II. die Homosexualität in seinem engsten Umfeld nicht bemerkt hatte, stellte seine Menschenkenntnis nachhaltig in Frage. So schrieb die damals auflagenstärkste Tageszeitung, die liberale Berliner Morgenpost: „Ewig rätselhaft aber wird es bleiben, daß der Kaiser nicht, unabhängig von allen Zuträgern, aus eigener Beobachtung einen Verdacht gegen die Wesensart der Männer schöpfte, die zu seinem intimsten Freundeskreise gehören.“497 Ähnlich spotteten auch die Arbeiter in den Hamburger Kneipen: „Ob das Wilhelm nicht gewußt hat, der doch so einen scharfen Blick hat für alles, was meinst du?“498, hieß es etwa in einem Vigilianzbericht. Andere Gäste spotteten: „der Kaiser hat ja eine gute Umgebung gehabt, seine besten Freunde, sogar sein Duzfreund Eulenburg sind warm, in dem Prozeß wird wohl noch viel mehr zum Vorschein kommen, ist doch gut, daß so etwas in die Öffentlichkeit kommt und nicht bei Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt wird.“499 Allerdings verzeichneten die Kneipenprotokolle der Hamburger Geheimpolizei auch Gespräche, die den Kaiser wegen seines Durchgreifens in dem Fall lobten.500 Der Kaiser erschien damit zugleich als Unwissender und als Aufdecker. Die nun überall veröffentlichten Details über das Privatleben der Kaiserfreunde und -vertrauten, die sich „Tütü“ und „Philine“ nannten und über den Kaiser als das „Liebchen“ sprachen, diskreditierten den Monarchen ebenso. Hinzu kam, dass der Skandal die Unwissenheit des Kaisers über öffentliche Debatten publik machte. Während die gesamte politische Elite bereits ein halbes Jahr über die Kampagne Hardens sprach, erfuhr der Kaiser erst Anfang Mai 1907 durch seinen Sohn davon. Dies lag daran, wie die Zeitungsleser lernten, dass der Kaiser nur die von seinen Beratern ausgewählten Zeitungsausschnitte lese und allenfalls den Berliner Lokal-Anzeiger im Ganzen zur Hand nehme. Deshalb monierten nun auch bürgerliche Zeitungen die Unwissenheit des Kaisers.501 „Erfährt der Kaiser die Wahrheit?“, fragte etwa die Kölnische Volkszeitung.502 Da fast alle Vorwürfe gegen Eulenburg und den Liebenberger Kreis sich zugleich gegen den Kaiser richteten, war klar, dass Wilhelm II. ebenso eine Zielscheibe des Skandals war. Weil die Zensurpraktiken und Normen der politischen Kommunikation eine direkte Kritik am Kaiser nur bedingt zuließen, richtete sie sich stattdessen aber vornehmlich gegen die Berater. Herabsetzend für den Kaiser war bereits die Annahme, dass eine Kamarilla um ihn herum bestehen würde, da sie die beanspruchte monarchische Souveränität un- 496 497 498 499 500 501 502 Vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 233 f. Berliner Morgenpost Nr. 255, 30. 10. 1907. Polizeibericht Zerulli 26. 10. 1907, in: StAH, S 3930-38 Bd. 1. Ebd. „Das muß man den von Gottes Gnaden lassen, in solchen Sachen wienert er immer selbst gleich tüchtig aus. Er hat doch seinen eigenen Kopf, denn so leicht läßt er sich die Ohren nicht voll tuten.“ Polizeibericht Schutzmann Ramming 29. 10. 1907, in: StAH, S 3930-29 Bd. 4. Germania Nr. 128, 7. 6. 1907; BZ am Mittag Nr. 320, 8. 7. 1907. Kölnische Volkszeitung Nr. 609, 16. 7. 1908. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 151 terlief. 503 Dass es ausgerechnet der Presse bedurfte, um ihn von dieser Kamarilla zu befreien, unterminierte ebenfalls seine Souveränität. Entsprechend stand die Frage, ob oder in welchem Maße es eine Kamarilla gegeben habe, von vorneherein im Mittelpunkt des Skandals. Von einer Kamarilla um Wilhelms Thron war zweifelsohne schon länger die Rede. Auch Harden hatte bereits in den 1890er Jahren Artikel über die Kaiserfreude so betitelt.504 Als Harden im November 1906 seine erpresserischen Andeutungen publizierte, brachte Bülow zeitgleich im Reichstag den Begriff in die Debatte: „Kamarilla, das bedeutet eine häßliche fremde Giftpflanze, und man hat nie versucht, sie in Deutschland einzupflanzen ohne großen Schaden für das Volk.“505 Durch diesen Ausspruch wies er auf eine Bedrohung für Volk und Kaiser hin, die eigentlich vor allem ihn selbst bedrohte. Als der Skandal und die Empörung Ende Mai 1907 losbrachen, erinnerten sich viele Zeitungen an diese Formulierung und lobten nun Harden dafür, dass er den Kaiser von dieser Pflanze befreit habe. In Anlehnung an Bülow bediente sich die Presse dabei Metapher und Visualisierungen, die die Kamarilla als giftiges oder überwucherndes Gewächs darstellten, das nun „auszumerzen“ sei. Besonders das Titelblatt des Simplicissimus verband diese Metaphorik mit Pflanzenformen, die an die homoerotischen Züge des Liebenberger Kreises erinnerten.506 Durch solche Assoziationen entstand vor allem das Bild, der Kaiser sei durch die homoerotische Kamarilla von allem abgeschirmt und würde durch ihre Beseitigung wieder frei sehen können. Einige eher konservative Blätter wie der kaiserfreundliche Berliner LokalAnzeiger betonten zwar, dass der Kaiser selbständig urteile und durch „Charakterstärke und Herrscherqualifikation jeglicher Beeinflussung unzugänglich ist.“507 Aber mehrheitsfähig war diese Deutung selbst bei den konservativen und nationalliberalen Zeitungen nicht. Entweder sie sahen die Kamarilla und Intrigen als normale Erscheinung an einem Königshof an,508 oder sie formulierten sogar direkt ihre Kritik. So kommentierten etwa die Leipziger Neuesten Nachrichten: „Denn seit Jahr und Tag hat nichts so vergiftend gewirkt, wie die Existenz eines kleinen, abermächtigen Häufleins, das den Kaiser umgab und nicht nur sein Ohr besaß, sondern auch durch eine eigentümliche Art von anbetender Huldigung in dem Monarchen hyperromantische Anschauungen vom Königsrecht und von einem mystischen Gottesgnadentum zu erwecken und zu 503 504 505 506 507 508 Relativierbar scheint mir die These, die Annahme einer adligen Kamarilla „erregte kein großes Aufsehen“; so Bruns, Skandale, S. 71. Die Figur der Kamarilla steht im Mittelpunkt bei: Kohlrausch, Monarch, S. 196. Vgl. zur frühen Zukunft auch: Rogge, Holstein, S. 55; Weller, Harden, S. 111. Reichstag 14. 11. 1906, Bd. 5, 117. Sitz., S. 3660. In dieser Rede warnte Bülow bereits vor einem „übertriebenen Hervortreten des Regenten“ und einem „zu weit getriebenen monarchischen Subjektivismus.“ Simplicissimus Nr. 12, 17. 6. 1907. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 278, 4. 6. 1907. Hamburger Nachrichten Nr. 391, 7. 6. 1907; Deutsche Tageszeitung Nr. 263, 8. 6. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 152 II. Homosexualität als Skandalon erhalten suchte.“509 Solche Artikel sprachen den Kaiser auf den ersten Blick von aller Schuld frei, indem sie diese den schlechten Beratern zuwiesen. Zugleich richtete sich ihre Kritik im Kern unübersehbar gegen den Monarchen und dessen Kurs. Die katholischen Zeitungen erhofften dagegen, dass mit dem Kreis um Eulenburg der antikatholische Einfluss auf den Kaiser abnehmen würde. Da Eulenburg sich im Sommer 1908 als Opfer einer katholischen Verschwörung stilisierte, weil er in München das „protestantische Kaisertum“ vertreten habe, nahm diese konfessionelle Deutung des Skandals zu. So gaben sie Eulenburg die Schuld daran, dass der Kaiser nie einen Zentrumsabgeordneten empfangen habe.510 Auch dieser Vorwurf an Eulenburg galt natürlich eigentlich dem Kaiser selbst. Der Begriff Kamarilla und die Zuschreibungen über sie verstärkten die Vorstellung, bei Wilhelm II. würde es sich um eine unzeitgemäße absolutistische Herrschaftsweise handeln. Dass diese Kamarilla zudem noch durch homosexuelle Neigungen zusammenhielt, schien dieses Bild zusätzlich zu bestätigen. Nicht minder häufig griffen die Journalisten Hardens Vorwurf auf, in der Hofgesellschaft sei Spiritismus verbreitet. Je nach politischer Richtung leiteten die Teilöffentlichkeiten unterschiedliche Konsequenzen aus der Aufdeckung der Kamarilla ab. Während die Konservativen das Ideal des autonomen Monarchen beschworen, empfahl die freisinnige Presse von England zu lernen, wo der Premierminister die politische Verantwortlichkeit trage, die Beamten selbst ernenne und entlasse und ein enges Vertrauensverhältnis zur Krone bestehe.511 Ebenso sah das liberale Berliner Tageblatt die Kamarilla als Ergebnis des monarchischen Systems und des „Kryptoabsolutismus“, weshalb Parlament und Öffentlichkeit zu stärken seien.512 Noch direktere Demokratisierungsforderungen leiteten die Sozialdemokraten aus dem Skandal ab. Sie argumentierten, „nur die Demokratie wird dem mittelalterlichen Spuk der Kamarillen- und Höflingswirtschaft ein Ende bereiten!“513 Nachdem Bebel dieses Argument im Reichstag wiederholte, widersprach Bülow, in parlamentarisch regierten Ländern seien die „Intrigen und Hintertreppeneinflüsse“ viel größer; zudem gäbe es „nicht nur eine höfische Kamarilla, es gibt auch eine rote Kamarilla. (sehr wahr! Und große Heiterkeit)“; diese umschmeichle die Massen und rede ihr über die Presse Ideen ein.514 Alle diese unterschiedlichen Positionen hatten aber zumindest eine gemeinsame Perspektive: Sie formulierten das Ideal eines frei und transparent entscheidenden Politikers und Monarchen. Dabei richteten sie sich vor allem gegen den informellen Einfluss des hohen Adels und gegen das kaiserliche Konzept eines „persönlichen 509 510 511 512 513 514 Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 155, 6. 6. 1907. Kölnische Volkszeitung Nr. 605, 13. 7. 1908; vgl. auch ebd. 16. 7. u. 18. 7. 1908. Vossische Zeitung Nr. 517, 3. 11. 1907. Berliner Tageblatt Nr. 547, 27. 10. 1907. Vorwärts Nr. 253, 29. 10. 1907. Sten. RT 29. 11. 1907, 61. Sitz., S. 1923. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Kamarilla, Militär und Homosexualität 153 Regiments“. Hier lag eine Konfliktlinie, durch die der Skandal seine Wirkung entfachte. Und hierin lag auch ein gewisses Potential für Demokratisierungsforderungen. Diese Deutungen zeigen, welche Konsequenzen der Skandal jenseits der Entlassungen hatte. Zweifelsohne schuf er einen schweren Ansehensverlust für die Monarchie, den die dann folgende Daily-Telegraph-Affäre noch verstärkte. Die öffentliche Zurückhaltung des Kaisers nach 1908 hing somit sicherlich auch mit dem Eulenburg-Skandal zusammen. Ob man den Sturz des Liebenberger Kreises als Demokratisierungstendenz sehen muss, ist zumindest für das Umfeld des Kaisers eher fraglich. Denn wie John Röhl frühzeitig betonte, verstärkte Eulenburgs Sturz den Einfluss des Militärs auf den Kaiser.515 Folgen hatte der Skandal auch für die Homosexuellen. Während es in der Anfangsphase so schien, als könnte er durchaus Vorstellungen über Homosexualität liberalisieren, führte die ab November 1907 einsetzende Umdeutung zu einer Verfestigung und Erweiterung von Vorurteilen. Dementsprechend reagierte die Regierung mit einem Gesetzesentwurf, der den § 175 verschärfen sollte, indem er bis zu fünf Jahren Haft vorsah. Auch wenn die Novelle nach langer Diskussion an liberalen Gutachtern scheiterte, zeigte ihre Begründung den engen Zusammenhang zwischen Gesetzesreform und Skandalen: Homosexualität wurde nun als „Gefahr für den Staat“ definiert, und auch die geplante Strafverschärfung gegenüber männlicher Prostitution und dem Verkehr mit Abhängigen verwies direkt auf die vorherigen Skandale.516 Selbst die SPD, die bislang als einzige Partei klar für eine Straffreiheit homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen eingetreten war, vertrat nun ihre Forderungen verhaltener.517 Auch die Verfolgung und Bestrafung von zahlreichen weiteren Homosexuellen spricht dafür, dass der Skandal die Grenzen des Tolerierbaren eher verengte. Die Zahl der Verurteilungen stieg statistisch gesehen in den Jahren nach 1908 deutlich an.518 Auch die symbolischen Anklagen gegen prominente Adlige wie die Grafen Wedel, Lynar und Hohenau unterstrichen, dass die Skandale eher eine Norm verfestigten statt sie zu liberalisieren. Entsprechende Vorwürfe, die nun in der Jugendbewegung aufkamen, mögen ein weiterer Beleg für die zunehmende Angst vor Homosexualität sein.519 Ebenso erreichte Hirschfelds Bewegung zwar durch den Skandal eine große Bekanntheit, verlor aber an Ansehen und Fördermitgliedern.520 515 516 517 518 519 520 Röhl, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 1, S. 59. Vgl. zu der geplanten Reform: Sommer, Strafbarkeit, S. 146 f. Vgl. auch den Überblick in: Susanne zur Nieden, Homophobie und Staatsräson, in: dies. (Hrsg.), Homosexualität, S. 17– 51. Zur weiteren Haltung der SPD nach 1908 vgl. Eissler, Arbeiterparteien, S. 124. Vgl. die Statistik in: Sommer, Strafbarkeit, S. 377. Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, S. 38. Erst nach Abschluss des Manuskriptes erschien Bruns, Politik des Eros. Einen Rückgang der „Fondszeichner“ verzeichnet: Keilson-Lauritz, Die Geschichte, S. 34. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 154 II. Homosexualität als Skandalon Zugleich dürfte der Skandal mit dazu beigetragen haben, den schwärmerischen Umgang unter befreundeten Männern zu verändern. Romantisierende Briefe, die freundschaftliche Liebeserklärungen machten, erschienen angesichts des Homosexualitätsverdachts problematisch. Insofern stand Hardens Kampagne tatsächlich im Zeichen einer kühlen, intellektuellen und zynischen Härte.521 Am Kaiserhof selbst nahm man allerdings nicht sogleich Abstand vom homoerotisch geprägten Umgang. Zumindest tanzte nur wenige Monate nach den Enthüllungen im Eulenburg-Prozess der Chef des Militärkabinetts, General Dietrich Graf von Hülsen-Haeseler, bei einer heiteren Gesellschaft im Ballettröckchen vor Wilhelm II. Allein der plötzliche Tod des Generals bei diesem Tanz machte diese Szene bis heute bekannt.522 Konsequenzen hatte der Skandal auch für die Öffentlichkeit von Prozessen. Die offene Berichterstattung über den ersten Prozess führte zur Forderung nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit und gesetzlichen Gegenmaßnahmen der Regierung. So verhandelte das Staatsministerium schon 1908 Entwürfe über die Reform der Strafprozessordnung, die sich direkt auf den Moltke-Harden-Prozess bezogen. Sie zielten auf eine Verschärfung der Strafen bei Beleidigung sowie eine Einschränkung des Wahrheitsbeweises und der Öffentlichkeit bei Beleidigungsprozessen in „Folge der bei dem Moltke-Hardenprozeß hervorgetretenen Mißstände.“523 Auch Fragen an die Zeugen sollten abgeschnitten werden können.524 Insofern nannte die politische Rechte es als einen positiven Effekt des Skandals, dass er den Ausschluss der Öffentlichkeit bei derartigen Prozessen gefördert habe und die Bewegung für die Abschaffung des § 175 lächerlich gemacht habe.525 Als eine einfache politische Intrige, bei der etwa der entlassene Friedrich von Holstein den Journalisten Harden als Instrument für seine Rache benutzte, lässt sich der Skandal somit sicherlich nicht verstehen. Selbst wenn Holstein Harden Informationen verschaffte oder mitunter bestärkte, nahm der Skandal so viele unkontrollierbare Wendungen, dass er sich nicht auf die Entscheidungen weniger politischer Akteure beschränken lässt. Vielmehr zeigte sich das vielfältige Scheitern aller Akteure an den wechselnden öffentlichen Zuschreibungen. Vergleichbar große Skandale um Homosexualität kamen in Deutschland danach nicht mehr auf. Natürlich versuchten verschiedene Zeitungen weiterhin entsprechende Enthüllungen zu lancieren. Aber vermutlich löste der EulenburgMoltke-Skandal verbunden mit dem Krupp-Skandal auch bei den Journalisten eine derartige Schockwirkung aus, dass sie, ganz ähnlich wie in Großbritannien, bei diesem Thema zurückhaltender blieben. 521 522 523 524 525 Vgl. hierzu auch: Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 325 f. Den Fall schildert: Tagebuch Zedlitz-Trützschler, Eintrag 8. 2. 1909, in: ders., Zwölf Jahre, S. 216. Protokoll Staatsministerium 29. 2. 1908 u. 2. 5. 1908, in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3613 Protokoll Staatsministerium 26. 6. 1908 in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3613. Deutsche Volkscorrespondenz Nr. 91, 21. 4. 1909. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8. Zwischenfazit 155 8. Zwischenfazit Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland traten im ausgehenden 19. Jahrhundert verstärkt Skandale auf, bei denen gezielt die Homosexualität von gesellschaftlichen Eliten offen gelegt wurde. Diese Enthüllungen dienten jedoch nicht primär der Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, sondern waren vor allem ein Druckmittel, um bestimmte politische Veränderungen zu erreichen. Dennoch trugen die Skandale in beiden Ländern maßgeblich dazu bei, ein recht ähnliches Bild über Homosexualität zu verbreiten. Sie verstärkten erstens in beiden Ländern die Auffassung, die Zahl der Homosexuellen sei Ende des 19. Jahrhunderts schlagartig angestiegen und würde eine Bedrohung für die Gesellschaft bilden, gegen die man sich schützen müsse. Zweitens prägten sie die Vorstellung, Homosexualität sei weniger ein Laster von moralisch ungefestigten Unterschichten, sondern besonders in Kreisen des hohen Adels und im vermögenden Bürgertum verbreitet. Damit hinterfragten die Skandale insbesondere den bürgerlichen Selbstentwurf, ein tugendhaftes Vorbild zu sein. Drittens verfestigten die Skandale das Narrativ, dass vornehmlich reiche Homosexuelle gegen Bezahlung arme Menschen zur Homosexualität verführten und aufgrund der Klassenjustiz nicht dafür bestraft würden. Dies ging mitunter sogar mit einer Umdeutung männlicher Prostituierten einher, die als Opfer gesehen wurden. Viertens verbreiteten die Skandale die Vorstellung, Homosexuelle würden feminine Charaktereigenschaften aufweisen. Die in den Skandalen beschuldigten Männer wurden als emotional, schwärmerisch, künstlerisch veranlagt, wenig durchsetzungsstark und kaum belastbar beschrieben, was die Gerichte, Parlamente und Medien generalisierten. Dass die skandalisierten Männer zumeist keiner geregelten Arbeit nachgingen, grenzte sie ebenfalls von der so konstruierten „normalen“ Form der Männlichkeit ab. Fünftens popularisierten die Skandale zumindest in Deutschland die als wissenschaftlich deklarierte Vorstellung, Homosexualität sei eine Art angeborene Krankheit. Umdeutungen von Medizinern und die zeitgenössische Annahmen über eine „Heilung“ verbanden sich hierbei. Alle diese in den Skandalen konstituierten Deutungen ließen Homosexualität als Bedrohung der Gesellschaftsordnung erscheinen: Der klassenübergreifende Verkehr drohte in dieser Sichtweise soziale Grenzen aufzuweichen, die korrumpierende Kraft des Geldes die Jugend zu verderben und der angeblich feminine Charakter die Wehrkraft und den Staat zu zersetzen sowie politische Geheimnisse zu gefährden. In beiden Länder bildeten eine restriktive Gesetzgebung und starke Tabuisierung wichtige Vorraussetzungen für das Aufkommen der Skandale. Der Vergleich zwischen den Ländern zeigte jedoch durchaus Unterschiede. Generell waren die öffentlichen Sagbarkeitsgrenzen beim Thema Homosexualität in Deutschland weiter gespannt. Auch im Zuge der Skandale blieben die Tabugrenzen in Großbritannien deutlich enger. Hier rangen sich lediglich linksliberale Zeitungen zu einer direkteren Auseinandersetzung mit Homosexualität durch. Wie sehr die Grenzen zwischen den beiden Ländern differierten, zeigte sich Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 156 II. Homosexualität als Skandalon nicht zuletzt in den britischen Medienberichten über deutsche Homosexualitätsskandale, die häufig nur mit vorsichtigen Andeutungen arbeiteten, Übersetzungsprobleme thematisierten oder den Vorwurf ganz aussparten. Entsprechend räsonierte 1907 der Berliner Korrespondent der Times in seinem Bericht über Bülows Prozess gegen Adolf Brand, der ihm Homosexualität vorwarf: „It is really difficult to know how to report a case of this kind in The Times. It is impossible to transmit the evidence verbatim […].“526 Durch diesen Bericht über den deutschen Skandal-Prozess wurde überhaupt erstmalig das Wort „homosexual“ in den Sprachgebrauch der Times überführt. In den aktiven Wortschatz des Blattes rückte es allerdings erst seit den 1950er Jahren langsam. Die Skandale förderten nicht nur in den Medien, Parlamenten und Gerichtssälen ein Sprechen über Homosexualität, sondern auch in den alltäglichen Gesprächen. In beiden Ländern erleichterten spöttische, humoreske Kommentare die Auseinandersetzung mit dem Tabu. Wie die Auswertung der Polizeiprotokolle deutscher Kneipengespräche zeigte, führten die Skandale aber durchaus auch zu ernsthaften Diskussionen, die persönliche Erfahrungen mit dem Thema Homosexualität austauschten, etwa über die Homosexualität im Militär. Zudem bildeten die Homosexualitätsfälle auch für die Zeitungsleser nur einen Anstoß, um aus ihnen heraus jene grundsätzlichen politischen Fragen zu diskutieren, mit denen die Kampagnen und Skandale verbunden waren. Denn in beiden Ländern zielten die Skandalisierungen auf weiterreichende politische Fragen – wie die irische Unabhängigkeit, den Sturz der Tory-Regierung, den Kampf gegen die Klassenjustiz, gegen den Kapitalismus oder gegen das „persönliche Regiment“ von Wilhelm II. Der als besonders ehrverletzend empfundene Vorwurf der Homosexualität richtete sich dementsprechend auch nicht primär an Politiker, sondern an Repräsentanten der jeweils bekämpften gesellschaftlichen Ordnung, wie die englische Administration in Irland, den Adel im Umfeld des Königshofes oder reiche Unternehmer. Politisch waren die Skandale allein schon deshalb, weil sie jeweils die Regierungen herausforderten. Dabei benutzten sie Anklagen, die aufgrund ihres prekären Tabucharakters und ihrer kommunikativen Dynamik kaum zu bekämpfen waren. Dass der Vorwurf der Homosexualität in die politische und mediale Arena trat, war zweifelsohne das Ergebnis zunehmend polarisierter politischer Konfliktlinien. Sie führten dazu, dass neue Akteure auftraten, die gerade durch ihren Außenseiterstatus mit den bisherigen Regeln der politischen Kommunikation brachen. In Großbritannien waren dies vornehmlich die Iren und Radicals, in Deutschland die Sozialdemokraten und bürgerlichen Gegner des „persönlichen Regiments“. Angestoßen wurden die Homosexualitätsskandale in beiden Ländern fast ausschließlich von Journalisten, die zugleich politisch aktiv waren und für kleine Blätter schrieben, mit denen sie Politik gestalten wollten. Die Beschuldigungen dieser Journalisten beruhten auf Gerüchten, die sie erst im Zuge der folgenden Beleidigungsprozesse mithilfe von Detektiven genauer verifi526 Times 7. 11. 1907, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8. Zwischenfazit 157 zierten. In dieser Phase ermittelten sie jene Zeugen, die in den Prozessen und über die Medien freizügig über homosexuelle Praktiken berichteten. Gerade die Homosexualitätsskandale zeigten dabei besonders karnevaleske Elemente, da mehrfach Zeugen aus unteren sozialen Schichten zum Sturz und zur Ausgrenzung mächtiger Eliten beitragen konnten. Die großen Boulevard- und Massenblätter hielten sich dagegen beim Aufbringen der Vorwürfe zurück, und verstärkten erst durch ihre ausführlichen Berichte im Zuge der Prozesse die Dynamik der Skandale. Fast alle Homosexualitätsskandale wiesen kontingente Verlaufsformen auf und erstaunliche Schwankungen in der öffentlichen Beurteilung. In allen Fällen wurden die verantwortlichen Journalisten nicht nur wegen Verleumdung vor Gericht gestellt, sondern auch von der Öffentlichkeit wegen ihrer Enthüllungen verurteilt. Dadurch war jeweils offen, ob der Skandal sich nicht vornehmlich wie ein Bummerang gegen die Enthüllungsjournalisten richtete. Auch die Stammtische folgten den wechselnden Bewertungen der Medien und sahen die Journalisten mal als heldenhafte Aufdecker, mal als sensationslüsternde „Schmutzfinken.“ Zudem brachten die Regierungen in beiden Ländern einen großen Aktionismus auf, um das weitere Aufkommen dieser Vorwürfe zu verhindern und das Thema von der Medienöffentlichkeit fern zu halten. So beeinflussten die Regierungschefs die Ermittlungen der Justiz und die Prozessverläufe, blockierten weiterführende Untersuchungen und unterbanden parlamentarische Aussprachen. Den betroffenen Eliten ermöglichten sie großzügige Gelegenheiten zur Flucht ins Ausland, um so einen Skandal zu vermeiden. Besonders für das parlamentarische Großbritannien mag diese starke Einflussnahme der Exekutive auf die Justiz erstaunen. Nicht die Haft, sondern die tolerierte Emigration war hier die eigentliche Strafpraxis. Das große Risiko, das die Staatsführungen dabei eingingen, zeigte, wie gefährlich ihnen die Homosexualitätsvorwürfe für die Gesellschaftsordnung erschienen. Tatsächlich war es gerade diese Skandalbekämpfung der Regierung, die den Skandalen immer wieder ihre Dynamik gab. Denn gerade weil die Kampagnen eigentlich die Regierung und weniger die einzelnen Homosexuellen treffen sollten, bildete die Vertuschung der Homosexualität jenen Normbruch, der in einer zweiten Phase den Skandalen eine zusätzliche Dynamik verlieh. Neben unverkennbaren Parallelen ließen sich auch kulturelle Transferprozesse zwischen den britischen und den deutschen Skandalen ausmachen. Vor allem Großbritannien gab dabei Anstöße für Deutschland, weil hier die entsprechenden Skandale ein bis zwei Jahrzehnte früher auftraten. Insbesondere die großen britischen Homosexualitätsskandale in den ersten Hälfte der 1890er Jahre sorgten dafür, dass das Thema in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre auch in Deutschland öffentlich präsenter wurde, wie am Beispiel der sozialdemokratischen Presse und dem Engagement Magnus Hirschfelds gezeigt wurde. Dies bildete eine zentrale Voraussetzung für den ersten großen deutschen Homosexualitätsskandal um Friedrich Alfred Krupp. Der Krupp-Skandal zeigte erneut Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 158 II. Homosexualität als Skandalon die ambivalente Haltung, die selbst die politische Linke zur Homosexualität hatte: Während sie aus der Annahme heraus, dass Homosexualität krankhaft angeboren sei, eine Abschaffung des § 175 forderte, hielt sie zugleich an dem in Großbritannien bereits etablierten Bild des dekadenten reichen Homosexuellen fest, der arme Jungen gegen Geld missbrauche und daher bestraft und öffentlich gebrandmarkt werden müsse. Die Medien und die Medialisierung der Gesellschaft spielten bei diesen Skandalen eine komplexe, oft widersprüchliche Rolle. Indem sie die Skandale zumeist eigenständig anstießen und ihnen eine Dynamik gaben, die die Regierungen herausforderte, nahmen sie durchaus die Rolle einer „vierten Gewalt“ ein. Ihre Kampagnen richteten sich gegen überkommene, vordemokratische Zustände, und in der offiziellen Logik des damaligen Rechtes halfen sie bei der Verbrechensbekämpfung. Zugleich wird man aber die Enthüllung der Homosexualität kaum als einen Akt der Demokratisierung bezeichnen können. Sie war vielmehr eine Politik der Sensationen, die über spektakuläre Neuigkeiten mediale Aufmerksamkeit auf bestimmte grundsätzliche Missstände zu lenken versuchte. Zudem zeigte die enge Verbindung zwischen den Enthüllungsjournalisten und der Politik, dass die entsprechenden Zeitungen eben nicht als ein autonomes System agierten. Gerade bei den englischen Homosexualitätsskandalen saßen die journalistischen Enthüller sogar zugleich im Parlament. Mit der Thematisierung der Homosexualität brachen die Medien zwar ein Tabu, sie verstärkten es aber auch wieder. Kurz nach ihrem Ausbruch brachten die Skandale zumindest in der liberalen und sozialdemokratischen Öffentlichkeit noch erstaunlich tolerante Diskurse über Homosexualität auf. Längerfristig führten sie jedoch in den Jahren nach den Skandalwellen dazu, dass in beiden Ländern die Toleranz gegenüber Homosexualität sank, sie stärker tabuisiert wurde und die Verfolgungen zunahmen. Die bürgerliche Öffentlichkeit markierte im Laufe der Skandale eine explizite Grenze, die Homosexuelle von einflussreicheren Posten ausschloss. Die drohende Strafe war dabei weniger die Gefängnishaft als der Skandal, der öffentliche Geständnisse erzwang. Bereits die Angst vor ihm erwies sich dabei als ein Disziplinierungsinstrument. Wie groß sie war, zeigte die vielfache Flucht in den Selbstmord oder die lebenslange Emigration nach Frankreich oder Italien. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek III. EHEBRUCH ALS POLITIKUM 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert Mit der Etablierung der bürgerlichen Öffentlichkeit veränderte sich auch der Umgang mit Heterosexualität. Offiziell wurde sie tabuisiert und der Privatsphäre zugewiesen. Zugleich wurde ihre Thematisierung im 19. Jahrhundert jedoch forciert. So förderten die bürgerlichen Moralvorschriften, Selbstlegitimierungen und Wissenschaftsdiskurse eine breite Auseinandersetzung mit der Sexualität zwischen Mann und Frau. Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang von „neuen Technologien des Sexes“. Sie seien zunehmend weniger von den Kirchen als vom Staat und den Laien organisiert worden, die Regelwerke und Vermessungen entwarfen.1 Auf diese Weise entstanden neue Grenzen, Wissensbestände und Deutungen der „normalen“ Sexualität. Diese zunehmend ausdifferenzierte Regulierung bildete zugleich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert aus Ehebrüchen zunehmend politische Skandale entfalten konnten. Erneut wurde das Aufkommen von Skandalen dabei durch rechtliche Vorbedingungen geprägt – in diesem Fall besonders durch das jeweilige Scheidungsrecht. Schließlich präfigurierte es die Grenzen der legitimen Sexualität und das öffentliche Sprechen über die außereheliche Sexualität. Dass die britischen Medien früher und häufiger über Ehebrüche berichteten als in Deutschland und somit entsprechende Skandale in England häufiger auftraten, dürfte im hohen Maße mit dem britischen Scheidungsrecht zu erklären sein. In Großbritannien war die Lösung einer Ehe bis 1857 ein komplizierter Prozess, den nur Männer einleiten konnten. Der Ehemann musste in einem kostspieligen Verfahren vor dem Church Court das Fremdgehen seiner Frau belegen und konnte dann vor dem Common Law Court den Liebhaber auf Schadensersatz verklagen. Falls er erneut heiraten wollte, musste er in einem dritten Schritt einen Private Act vom Parlament erhalten, für den abermals die Beweise aufgenommen wurden.2 Das durch die anglikanische Kirche geprägte englische Scheidungsrecht stand damit dem katholischen Scheidungsverbot näher als dem Scheidungsrecht vieler protestantischer Länder – obgleich ausgerechnet die Neuvermählungen von Heinrich VIII. die Gründung der anglikanischen Kirche ausgelöst hatten. Dank dieser Restriktionen kam es in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichsweise selten zu Scheidungen. Üblicher waren stillschwei1 2 Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 140. Vgl. Allen Horstman, Victorian Divorce, London 1985, S. 4 f. Horstman bietet zudem eine Auswertung von Scheidungsurteilen, ohne aber die öffentliche oder mediale Dimension zu berücksichtigen. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 160 III. Ehebruch als Politikum gende Trennungen oder ein außergerichtlich vereinbarter „Schadensersatz“ von Seiten des Liebhabers. Erst eine Gesetzesreform von 1857 ermöglichte auch Frauen, Scheidungen einzureichen. Allerdings mussten sie neben dem Ehebruch des Mannes noch weitere Formen der „Grausamkeit“ belegen, was das Potential für Skandale zusätzlich vergrößerte.3 Diese Reform ließ die Zahl der Scheidungen kurzzeitig ansteigen, da Frauen rasch knapp die Hälfte aller Scheidungen einleiteten. Pro Kopf gerechnet blieb die Scheidungsrate in Großbritannien zwischen 1860 und 1914 jedoch weitgehend konstant, gleichwohl die britische Öffentlichkeit durch die steigende Zahl der Scheidungsskandale davon ausging, Ehen würden immer häufiger zerbrechen. Zudem suggerierte die Mehrzahl der Zeitungsberichte, Scheidungen seien primär ein Phänomen der oberen Schichten, was zumindest tendenziell auch statistisch zutraf. Obgleich neuere Studien den Arbeiteranteil höher als zuvor einschätzen, waren Scheidungen allein schon durch die hohen Kosten in der upper middle class deutlich weiter verbreitet, während sich Angehörige der Unterschichten häufiger ohne Prozess trennten.4 Da das britische Recht einen nachgewiesenen Ehebruch als Scheidungsgrund verlangte, musste das Paar im Beweisverfahren detailliert Seitensprünge öffentlich darlegen. Gerade diese Regel bildete die wesentliche Voraussetzung für die zahlreichen britischen Ehebruchskandale, da sie die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterlief. Die Scheidungsprozesse produzierten öffentliche Geständnisse und eine öffentliche Suche nach sexuellen Geheimnissen, an der sich die Zeitungsberichte hierüber beteiligten. Dass die bislang vor Ort geführten Scheidungsprozesse nun alle in London stattfanden, förderte die öffentliche Thematisierung zusätzlich. Da die Journalisten vornehmlich in der Hauptstadt konzentriert waren, konnten sie so ohne großen Aufwand regelmäßig über die Scheidungsfälle berichten. Zudem wurden die Scheidungsprozesse mit ihren sexuellen Geständnissen Teil der Metropolenkultur: Ihr Besuch war eine beliebte Attraktion, und die Gespräche über sie ein Teil der Großstadtkommunikation. In den britischen Debatten, die in den 1850er Jahren über die Reform des Scheidungsrechts geführt wurden, galt Preußen als ein negatives Beispiel. In Preußen sei die Scheidungsrate hoch und Frauen würden, so ein britischer Abgeordneter, „gekauft, verkauft und ausgewechselt.“5 Tatsächlich war das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 in der Trennungsfrage äußerst liberal. Es akzeptierte bereits eine Scheidung aufgrund gegenseitigem Einverständnisses, 3 4 5 Während Horstman bei der Reform eher die progressive Bedeutung des Gesetzes hervorhebt (ebd., S. 169), sieht Stone eher eine konservative Tendenz, die wenig verändert habe; Lawrence Stone, Road to Divorce. England 1530–1987, Oxford 1992, S. 383–388. Zur „upper middle class“ und der Arbeiterklasse zählten jeweils rund ein Drittel der Scheidungen, obgleich letztere in der Bevölkerung stärker vertreten war; Gail Savage, „Intended Only for the Husband“. Gender, Class, and the Provision for Divorce in England, 1858–1868, in: Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals, S. 11–42, S. 21 f. Zit. nach: Stone, Road to Divorce, S. 384. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 161 unüberwindlicher Abneigung oder „böslicher Verlassung.“6 Im Unterschied zum britischen Recht bestand damit nicht der Zwang, vor dem Gericht einen Ehebruch zu beweisen, was das Potential für Skandale minderte. Selbst die Gesetze in den vom Code Civil geprägten linksrheinischen Gebieten Deutschlands erreichten im frühen 19. Jahrhundert nicht diese Liberalität. Dennoch war selbst dort die Scheidung deutlich leichter als in Großbritannien, zumal sie auch Frauen ein Antragsrecht zusprach. Die reichsweite Vereinheitlichung, die das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 für das Scheidungsrecht brachte, war dagegen kaum ein liberaler oder wegweisender Entwurf, da es allgemein das Schuldprinzip vorschrieb, gleichwohl dies im Unterschied zu Großbritannien nicht auf den Ehebruch begrenzt war.7 Das Schuldprinzip, welches das schuldhafte Verletzen „ehelicher Pflichten“ einschloss, führte dabei zu einer stärkeren Hervorhebung des sexuellen Privatlebens und steigerte den Untersuchungsaufwand, wodurch um 1900 auch in Deutschland das Potential für entsprechende Skandale stieg. Die Zahl der Scheidungen beeinflusste dagegen nicht das Aufkommen der Skandale. Besonders in den protestantisch geprägten preußischen Gebieten lag die Scheidungsrate in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um ein Vielfaches höher als bei den Briten, was auch daran lag, dass die Frauen hier früher und gleichberechtigter Scheidungen einreichen konnten. Während um 1900 in Großbritannien rund 500 Ehen geschieden wurden, waren es in Deutschland etwa 8 000.8 Dennoch spielten in Deutschland Skandale, die sich aus Scheidungen speisten, eine geringere Rolle. In der britischen Wahrnehmung war Deutschland trotz dieser Scheidungsstatistik freilich nicht der entscheidende Referenzpunkt, um die eigene moralische Überlegenheit zu prüfen. Ähnlich wie bei anderen Normverstößen blickten die Briten vor allem nach Frankreich, um ihre Moral im internationalen Vergleich zu messen.9 Dass in Großbritannien trotz der wenigen Scheidungen mehr Skandale aufkamen, lag auch an einer langen Tradition von öffentlichen Berichten über Ehebrüche und Trennungen. Der Übergang zur staatlichen Rechtssprechung im 18. Jahrhundert, der die Scheidungsprozesse öffentlich machte, ermöglichte be6 7 8 9 Rechtliche und statistische Hinweise nach: Dirk Blasius, Ehescheidungen in Deutschland 1794–1945. Scheidungen und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987, S. 30–36. Dass das preußische Eherecht im Vergleich etwa zum Code Napoleon wenig patriarchalisch war, bilanziert: Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln 2004, S. 1052. Geisteskrankheit von mindestens drei Jahren war die einzige Ausnahme vom Verschuldungsprinzip. Als juristische Bewertung der Gesetzesreform, die deren praktische Folgen als gering einschätzt, vgl. Christof Horn, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Ehescheidungssachen der Jahre 1900 bis 1905, Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 65 f. u. 234 f. Scheidungsdaten nach: Savage, Intended Only, S. 11; Blasius, Ehescheidungen, S. 152. Daten im internationalen Vergleich bietet: Roderick Philipps, Putting Asunder. A History of Divorce in Western Society, Cambridge 1988. Vgl. etwa bes. prägnant: Benjamin Scott, Is London More Immoral than Paris or Brussels?, London 1882 (zuerst gekürzt in: The Sentinel Okt. 1881). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 162 III. Ehebruch als Politikum reits Publikationen über sie. Insbesondere im Londoner Gericht Old Bailey wurden Prozesse mitgeschrieben und dann gebündelt als Crime-Chap-Books publiziert. Diese spotteten vornehmlich über die Sexualität des Adels und förderten damit eine abgrenzende moralische Identitätsbildung des Bürgertums.10 Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts übernahmen Zeitungen derartige Berichte, wodurch ihre Verbreitung und Regelmäßigkeit stieg und sie einen Nachrichtenwert erhielten. Bemerkenswerterweise entstanden in Großbritannien bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts Zeitschriften, die sich vornehmlich auf Scheidungsprozesse und die dazugehörigen sexuellen Enthüllungen konzentrierten.11 Im Unterschied zu Deutschland berichteten im 19. Jahrhundert jedoch auch die sogenannten Qualitätszeitungen in festen Rubriken über Scheidungsprozesse. Zu einem deutlichen Anstieg derartiger Artikel kam es seit dem neuem Scheidungsrecht von 1857. Auch die Häufigkeit, mit der das Wort „divorce“ in TimesArtikeln genannt wurde, belegt diesen Trend: Um 1860 steigt sie bereits stark an, dann wurde wiederum zwischen den 1880er und 1920er Jahren besonders häufig von Scheidungen gesprochen.12 Wie eine Statistik der Royal Commission zur Reform des Scheidungsrecht 1912 ermittelte, wiesen große britische Zeitungen wie die Times, der Daily Telegraph und die Daily Mail in den Jahren zuvor immerhin zwischen 82 und 106 Scheidungsberichte pro Jahr auf.13 Zudem entstanden in Großbritannien seit den 1860er Jahren Zeitschriften, die sich vornehmlich auf Scheidungsberichte und Morde konzentrierten. Blätter wie die Illustrated Police News gingen zwar von Gerichtsberichten aus, kreierten hieraus aber reich bebilderte Melodrame oder Kriminalfälle, die eher an Kolportageromane erinnerten. Dagegen war in Großbritannien die Publikation von Ratgebern über Heterosexualität selbst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur sehr eingeschränkt möglich. Dies zeigte besonders die berühmte Anklage gegen Charles Bradlaugh, einen Buchhändler aus Bristol, der 1877 wegen des Verkaufs eines älteren amerikanischen Buches über Verhütung verurteilt wurde, obwohl sämtliche Bilder entfernt waren. Das Gericht argumentierte, bereits das Wissen um Verhütung fördere die außereheliche Sexualität.14 Zugleich machte der große Protest für und gegen die Verurteilung des Buchhändlers deutlich, wie sehr sich 10 11 12 13 14 Hierzu zählten im 18. Jahrhundert etwa die „Old Bailey Sessions Papers“, die achtmal im Jahr erschienen, oder die „Ordinary Accounts“; vgl. hierzu: Peter Wagner, The Pornographer in the Courtroom. Trial Reports about Cases of Sexual Crimes and Delinquencies as a Genre of Eighteenth-Century Erotica, in: Paul-Gabriel Boucé (Hrsg.), Sexuality in Eighteenth-Century Britain, Manchester 1982, S. 120–140, S. 121; Peter Linebaugh, The Ordinary of Newgate and his Accounts, in: James S. Cockburn (Hrsg.), Crime in England: 1550–1800, London 1977, S. 246–269. Hierzu zählten etwa: The Rambler’s Magazine oder das Town and Country Magazine; vgl. Wagner, The Pornographer, S. 132. Häufigkeit des Wortes „divorce“ in der Times 1786–1985, eigene Auswertung im Times Digital Archive. Stone, Road to Divorce, S. 295. Walter L. Arnstein, The Bradlaugh Case. Atheism, Sex and Politics among the Late Victorians, Columbia 1983 (Erstauflage 1965), S. 21 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 163 diese Tabugrenzen zu einem umkämpften Terrain entwickelten. Ebenso kursierten die pornographischen Schriften und Drucke seit 1880 häufiger außerhalb des offiziellen Verkaufs über den Versandhandel.15 Damit war das viktorianische England ebenso wenig wie das wilhelminische Kaiserreich eine Zeit, in der über Sexualität vornehmlich geschwiegen wurde.16 Die Sexualität zwischen Mann und Frau war vielmehr ein umkämpftes Terrain mit vielfältigen Sprechanreizen. Die zunehmenden Zeitungsartikel über den außerehelichen Verkehr führten bereits um 1860 zu einer Debatte über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei Scheidungsprozessen. Anlass hierzu gaben 1857/58 insbesondere ein Mordprozess, bei dem eine Frau ihren Liebhaber umgebracht hatte, sowie ein Scheidungsprozess, bei dem ein Mann im Tagebuch seiner Frau leidenschaftliche Beschreibungen eines Ehebruches gefunden hatte. Im Zuge der Verhandlung druckten sogar die Qualitätszeitungen die Zeugenaussagen ausführlich ab.17 Diese Prozessberichte zeigten, dass auch Frauen durchaus ein freizügiges Sexualleben haben konnten. Um die allgemeine Gültigkeit der verletzten moralischen Normen und die Zuschreibungen über monogame weibliche Sexualität wieder herzustellen, pathologisierten die Gerichte deshalb in beiden Fällen die sexuellen Normbrüche der Frauen. Dennoch verbreitete sich die Angst, die Medienberichte könnten eine Vorbildfunktion für Frauen haben. Im Parlament beschworen einige Redner die Gefahr, man könne wegen dieser Berichte Zeitungen nicht mehr offen liegen lassen, da sie Frauen und Kindern in die Hände fallen könnten.18 Ebenso verunsicherten sie Ehemänner über die Treue ihrer Frauen, zumal diese selbst in den Prozessen kaum nachweisbar erschien. Die Artikel führten so zu einer Verängstigung der middle class, die durch die Berichte ihr eigenes Selbstbild hinterfragten. Selbst Queen Victoria forderte mit ähnlicher Begründung einen Ausschluss der Öffentlichkeit bei Scheidungsprozessen und sah in den Artikeln eine Bedrohung der englischen Moral und Identität: „None of the worst French novels from which careful parents would try to protect their children can be as bad as what is daily brought and laid upon the breakfasttable of every educated family in England and its effect must be most pernicious to the public morals of the country.“19 Während das Parlament den Vertrieb von 15 16 17 18 19 Liza Z. Sigel, Governing Pleasures. Pornography and Social Change in England 1815–1914, New Brunswick u. a. 2001. Vgl. zur Konstruktion dieses Bildes und zu den Praktiken der Zeit: Michael Mason, The Making of Victorian Sexuality, Oxford und New York 1994; ders., The Making of Victorian Sexual Attitudes, Oxford und New York 1995; für Deutschland vgl. als Forschungsüberblick: Edward R. Dickinson und Richard F. Wetzell, The Historiography of Sexuality in Modern Germany, in: German History 23 (2005), S. 291–305. Vgl. Times 15. 6. u. 16. 6. 1858, S. 9 u. 11. Hinweise auf diesen Prozess in: Barbara Leckie, Culture and Adultery. The Novel, the Newspaper and the Law, 1857–1914, Philadelphia 1999, S. 55 f. Savage, Intended Only, S. 513 f. Queen Victoria an Lord Campbell 26. 12. 1859, in: Arthur Christopher Benson und Viscount Esher (Hrsg.), Letters of Queen Victoria. A Selection from her Majesty’s Correspondence Between the Years 1837 and 1861, Bd. 3, New York 1907, S. 378. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 164 III. Ehebruch als Politikum „obszöner“ Literatur 1857 tatsächlich einschränkte, blieb es jedoch bei der Öffentlichkeit der Prozesse, da die Errungenschaft öffentlicher Verfahren und freier Presseberichte höher gewertet wurde als die befürchtete moralische Gefahr. Die Presseberichte über Ehebrecher thematisierten im langen 19. Jahrhundert alle sozialen Schichten. Besonders große Aufmerksamkeit erreichten selbstverständlich Fälle, die Königshäuser betrafen – wie etwa die Queen Caroline Affair 1820 oder der Mordaunt Trial 1870, die hier im Kontext der Monarchieskandale untersucht werden.20 Als spektakulär galten zudem Scheidungsberichte über hohe Adlige, die im letzten Drittel des Jahrhunderts von ihrer Anzahl und ihrer Ausführlichkeit zunahmen und Mitte der 1880er Jahre in Großbritannien einen gewissen Höhepunkt erreichten. Derartige Zeitungsartikel suggerierten, dass der Adel nicht einmal die grundlegenden Regeln der Ehe einhielt. So berichteten die Zeitungen 1884 etwa, wie sich der Earl of Euston von seiner Frau scheiden ließ, da diese bei seiner Hochzeit schon verheiratet war, was sie vor Gericht damit rechtfertigte, dass ihr erster Mann ebenfalls bereits bei ihrer Hochzeit verheiratet gewesen war und sie deshalb die vorherige Ehe als nichtig ansah und sich als Witwe ausgab. Details über Ehekrach, Gewalt und Trennungen ergänzten dies.21 Kurze Zeit später erfuhren die Leser ausführlich, dass Lord Colin Campbell, Sohn des Duke of Argyll (dem Schwiegersohn der Queen), seiner Frau 1886 vorwarf, mit vier Männern fremdgegangen zu sein, woraufhin seine Frau ihm Affären mit Dienstmädchen vorhielt.22 Butler und Dienstmädchen erwiesen sich in diesen Prozessen als die entscheidenden Zeugen, die den öffentlichen Sturz von Adligen herbeiführen konnten. Die Eheprozesse gaben damit dem Dienstpersonal eine Machtposition und beförderten sie zu Schlüsselfiguren der medialen Aufmerksamkeit. Auch Qualitätsblätter wie die Times vermerkten in ihren Kommentaren zu derartigen Scheidungsprozessen kritisch, dass sie die Autorität des Adels insgesamt nachhaltig untergraben würden.23 W. T. Stead, der puritanische Herausgeber der Pall Mall Gazette, drohte dem Adel, wenn er nicht seine Vorbildfunktion wahrnehme, würde er demnächst eine wirkungsmächtige Kampagne starten, mit einer „chronique scandaleuse of the aristocracy, compiled from the records of the divorce courts“.24 Da die Lords im Oberhaus saßen, schrieb Stead ihrem Privatleben eine politische Bedeutung zu, die solch eine Veröffentlichung rechtfertige: „Private character, it may be said, has nothing to do with policy, but the Upper Chamber is not only an institution in the realm which might be endangered if every householder were suddenly to be enlightened as to certain 20 21 22 23 24 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel VI. 1. Vgl. Times 16. 11. 1886, S. 4 bis 21. 12. 1886 nahezu täglich; vgl. auch: G.H. Fleming, Victorian Sex Goddess: Lady Colin Campbell, London 1989. Vgl. die täglichen Berichte in den Zeitungen vom 26. 11. bis 16. 12. 1886. Hinweise zum Prozess in: Leckie, Culture and Adultery, S. 85–91. Kommentar in: Times 5. 4. 1884, S. 11. Pall Mall Gazette 3. 7. 1884, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 165 details over which at present a veil is prudently drawn.“25 Das Ansehen des Adels senkten nicht nur die veröffentlichten Details über sein Sexualleben, sondern bereits die damit einhergehenden Enthüllungen über sein dekadentes Alltagsleben. Die Scheidungsberichte schufen so eine spöttische Abgrenzung vom Adel und detaillierte Normen darüber, was innerhalb der bürgerlichen Ehe als legitim und als idealer Umgang anzusehen sei. Ob die Prozessberichte dadurch die bürgerliche Ehe stabilisierten, ist jedoch fraglich.26 In Deutschland druckte die Presse, soweit die wenigen bisherigen Studien und eigene Stichproben Rückschlüsse zulassen, zunächst deutlich seltener Meldungen über Scheidungen oder Ehebrüche. Dennoch kam es auch in Deutschland bereits im 18. Jahrhundert zu einer zunehmenden öffentlichen Thematisierung von Sexualität, die sich vornehmlich über eine entsprechende Ratgeberliteratur artikulierte. So lässt sich bereits für das späte 18. Jahrhundert eine vierstellige Zahl von derartigen Buchtiteln ausmachen.27 Studien zu einzelnen lokalen Zeitungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts deuten an, dass es auch in Deutschland zu verschiedenen Medienberichten über Seitensprünge oder sexuelle Praktiken prominenter Stadtbewohner kam.28 So berichtete das Hamburger Klatschblatt Der Neuigkeitsträger (1821–1830) regelmäßig über Ehebrüche in der Stadt, was die Behörden, insbesondere wenn sie das Bürgertum betrafen, verfolgten und unterdrückten.29 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg auch in Deutschland die öffentliche Thematisierung der Sexualität an. Einerseits wuchs seit den 1870er Jahren die veröffentlichte Literatur über Sexualdelikte und zur Sexualität – sei es in Sachbüchern, sei es in Romanen, die Ehebrüche und Scheidungen beschrieben.30 Andererseits entstanden Zeitschriften über Verbrechen und sexuelle Normbrüche. Diese bislang wenig erforschten Blätter übernahmen teilweise direkt 25 26 27 28 29 30 Ebd. Soweit ersichtlich, blieb eine Kampagne in diesem Fall jedoch aus. Dieses Argument vertritt: Anne Humpherys, Coming Apart. The British Newspaper Press and the Divorce Court, in: Laurel Brake et al. (Hrsg.), Nineteenth-Century Media and the Construction of Identities, Basingstoke u. a. 2000, S. 220–231. Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany 1700–1815, Ithaca und London 1996, S. 229. Hull berücksichtigt in ihrer grundlegenden Studie allerdings kaum Zeitungen. Vgl. etwa für den Wandsbeker Mercur die Befunde von: Holger Böning, Das Private in der Aufklärung: Unterhaltung, Heirat, Tod in der Hamburger Presse, in den Intelligenzblättern und in der volksaufklärerischen Literatur und Publizistik des 18. Jahrhunderts, in: Kurt Imhof und Peter Schulz, (Hrsg.), Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung der Öffentlichkeit, Zürich 1998, S. 45–54, S. 49. Karl Christian Führer, Skandal, Moralität und die „Ruhe der Familie“. Sensationspresse und Zensur im vormärzlichen Hamburg (1815–1846), in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 81 (1995), S. 75–102. Erinnert sei an international erfolgreiche Romane wie Effi Briest, Madame Bovary oder Anna Karenina; vgl. Maria R. Rippon, Judgment and Justification in the Nineteenth-Century Novel of Adultery, Westcut und London 2002. Zu Sachtexten: Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, S. 19–21. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 166 III. Ehebruch als Politikum ihre Titel, Konzepte und Berichte aus Großbritannien.31 Im Kulturkampf zeigte sich zudem, wie der Vorwurf der sexuellen Doppelmoral auch in weltanschaulichen Auseinandersetzungen eingesetzt wurde. Zeitungsberichte über angeblich lüsterne Kleriker, die junge Frauen missbrauchten oder im Kloster gefangen hielten, führten mitunter zu Empörungen, die sich wie bei der Affäre Ubryk 1869 in Klosterstürmen entluden.32 Die Zahl der Zeitschriftenartikel zum Thema Sexualität scheint sich in Deutschland zwischen 1896 und 1907 verdoppelt zu haben.33 Berichte über Scheidungsprozesse lassen sich auch in den bürgerlichen Qualitätszeitungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts häufiger ausmachen. Im Vergleich zur britischen Presse waren derartige Artikel jedoch seltener, weniger detailreich und verzichteten oft auf die volle Namensnennung der Beteiligten. So sprachen etwa die Artikel beim Prozess des Dresdner Bankdirektors Eugen Gutman, dessen Frau von ihrem ehemaligen Geliebten erpresst worden war, nur von „einem“ Berliner Kommerzienrat.34 Das Skandalpotential wurde folglich auch durch eine Selbstbeschränkung der Presse gesenkt. Die Zunahme expliziter Berichte über das Liebesleben von Prominenten war aber um 1900 unverkennbar. So berichtete die auflagenstarke Berliner Illustrirte Zeitung 1906 über die Affären des Industriellensohns Heinrich Thyssen oder von Prinz Joachim Albrecht von Preußen, die diese mit Schauspielerinnen pflegten.35 Gerade diese Illustrierte war seit der Jahrhundertwende der wichtigste Vorläufer des modernen Boulevardjournalismus. Ein weiteres Feld, das die Sexualität zwischen Mann und Frau im 19. Jahrhundert in die mediale Öffentlichkeit überführte, Normen setzte und so Skandale vorbereitete, waren die Debatten über Prostitution. In Großbritannien entfalteten sie sich seit den 1860er Jahren verstärkt und damit zeitgleich zur Zunahme der Scheidungsberichte. Wie bei Scheidungen förderten staatliche Kontrollregelungen die öffentlichen Diskussionen – in diesem Fall vor allem die Contagious Diseases Acts, die die Registrierung und ärztliche Untersuchung von Prostituierten anordneten. Da diese Gesetze Prostitution quasi legalisierten, mobilisierten sie christliche, insbesondere nonkonformistische 31 32 33 34 35 Sehr eindrücklich zeigt dies: Hartwig Gebhardt: „Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse für die „niederen Instinkte“. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte, in: Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u. a. 2001, S. 184–217. Vgl. Manuel Borutta, Das Andere der Moderne. Geschlecht, Sexualität und Krankheit in antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens (1850–1900), in: Werner Rammert et al. (Hrsg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, S. 59–75. So allerdings ohne Belege: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 105. So zumindest in: BZ am Mittag Nr. 41 25. 1. 1902; Berliner Morgenpost Nr. 21 25. 1. 1902. Faksimile in: Christian Ferber (Hrsg.), Berliner Illustrirte Zeitung. Zeitbild, Chronik, Morität für Jedermann 1892–1945, Berlin 1982, S. 108. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 167 Gruppen.36 Zugleich entstanden im Kampf gegen das Gesetz Frauenverbände wie die Ladies’ National Association for the Repeal of the Contagious Diseases Act, die in der Kontrolle der Frauen eine Einschränkung der weiblichen Rechte sahen. Die Versammlungen, Artikel und Parlamentsreden, die der Protest anstieß, trugen das Thema Prostitution in die Öffentlichkeit und führten schließlich 1883 sogar zur Aufhebung der Gesetze.37 Einzelfälle, bei denen bürgerliche Frauen versehentlich für Prostituierte gehalten und eine Zwangsuntersuchung auf Geschlechtskrankheiten ertragen mussten, sorgten dabei für Skandale, mit denen die Frauenbewegung öffentlich mobilisierte.38 Maßgeblich für die mediale Etablierung des Themas Prostitution in Großbritannien war zudem eine von W. T. Stead 1885 aufgebrachte Artikelreihe in der Pall Mall Gazette. Stead berichtete hierin in Form eines Ich-Erzählers, der die Londoner Armenviertel durchstreifte, wie leicht man selbst minderjährige Mädchen von ihren Eltern abkaufen könne. Dabei knüpfte Stead an das bereits etablierte Narrativ des White Slave Trade an, wonach weiße britische Mädchen gegen ihren Willen zur Prostitution verschleppt würden.39 Der Reportagestil mit den wörtlich abgedruckten Schilderungen von Prostituierten legitimierte ähnlich wie beim Abdruck wörtlicher Prozessaussagen detaillierte Aussagen zur Sexualität, die die bisherigen Grenzen des Druckbaren überschritten. Ein von Stead geschildertes Experiment sollte schließlich belegen, dass man für fünf Pfund ein 13jähriges Mädchen von seiner Mutter abkaufen konnte, um es in ein Bordell zu bringen. Da seine Artikel mit einer bisher in den Massenmedien unbekannten Offenheit sexuelle Normverstöße dokumentierten, vervielfachte sich die Auflage dieser Zeitungsausgabe dank reicher Gönner auf angeblich eine Million Exemplare.40 Steads Artikelserie war eine emotionale Anklage, die sich besonders an den Adel und reiche Bürger richtete. Zugleich hatte sie eine gezielte politische Stoßrichtung, da sie das gerade verhandelte Gesetz über die Anhebung der Mündig- 36 37 38 39 40 Vgl. hierzu: Judith R. Walkowitz, Prostitution and Victorian Society. Women, Class, and the State, New York 1980, S. 67–149; diese Regelungen und Debatten bezogen sich zugleich auch auf das Empire; vgl. Philippa Levine, Prostitution, Race and Politics. Policing Veneral Disease in the British Empire, London 2003. Immerhin 2,6 Millionen Unterschriften an das House of Commons wurden dabei gesammelt und über 17 000 Petitionen eingereicht; Weeks, Sex, Politics and Society, S. 20. Vgl. etwa zum Fall Percy: Glen Petrie, A Singular Iniquity – The Campaigns of Josephine Butler, London 1971, S. 16 f.; vgl. zu den Verhandlungen im Unterhaus dazu Times 24. 6. 1875, S. 6. Prägend waren hier die Publikationen von: Alfred S. Dyer, The European Slave Trade in English Girls. A Narrative of Facts, London 1885 (Erstauflage 1880). Vgl. auch Zeitungsmeldungen wie: Times 22. 6. 1881, S. 12, oder Times 19. 8. 1881, S. 10; anregend hierzu auch: Amanda Anderson, Tainted Souls and Painted Faces. The Rhetoric of Fallenness in Victorian Culture, Ithaca/New York 1993. Seine Reihe begann mit dem Artikel: „The Maiden Tribute to Modern Babylon. The Report of Our Secret Commission“ Pall Mall Gazette 6. 7. 1885, S. 1–6. Von den zahlreichen Darstellungen über den Fall grundlegend: Schults, Crusader, S. 128–168. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 168 III. Ehebruch als Politikum keit zum Sexualverkehr beeinflussen sollte. Um sein Anliegen zu verbreiten, ließ Stead zahllose Zeitungen kostenlos verteilen, unter anderem an alle Pastoren. Zu einer darauf folgenden Massendemonstration, bei der Stead sprach, kamen rund 150 000 Menschen in den Hyde Park, und die Heilsarmee, mit der Stead eng kooperierte, trug mit einem großen Marsch 400 000 Unterschriften für die Gesetzesänderung ins Parlament. Zudem schickte der Journalist den Artikel an führende Politiker mit der Bitte, sich für die Gesetzesreform einzusetzen.41 Die Artikel brachten Stead den Vorwurf des Sensationsjournalismus und eine Haftstrafe ein, weil er beim „Abkauf“ des Mädchens nicht den Vater gefragt hatte und fehlerhaft berichtete. Tatsächlich erreichte der Journalist jedoch sein Ziel, eine breite moralische Bewegung öffentlich zu mobilisieren und das „Age of Consent“ zu heben. Auch die strafrechtliche Verfolgung von Kindesmissbrauch stieg im Zuge seiner Kampagne an.42 Vor allem förderte Steads Kampagne eine Thematisierung heterosexueller Normbrüche in der Presse. Wie bei den Homosexualitätsskandalen prägte er dabei das Bild des reichen männlichen Verführers, der in diesem Fall hilflose junge Frauen moralisch korrumpiere. Sein Artikel führte vor, welche breite Emotionalisierung, Auflagensteigerung und politische Wirkung derartige Enthüllungen auslösen konnten. Nicht zufällig bildeten diese Berichte 1885 den Beginn einer Reihe von Skandalen um sexuelle Normbrüche. Wie Stead in seiner Pall Mall Gazette zufrieden feststellte, hatten auch deutsche Zeitungen seine Artikel lobend erwähnt oder abgedruckt und dabei auf ähnliche Probleme hingewiesen.43 In Deutschland traten jedoch erst ein Jahrzehnt später verstärkt ähnliche Diskurse über die Prostitution auf, die allerdings weiterhin eine geringere Breitenwirkung hatten. Obwohl die deutschen Behörden Prostituierte ebenfalls systematisch erfassten und untersuchten, entwickelte sich auch keine vergleichbar engagierte Frauenbewegung, die das Thema in die Öffentlichkeit gebracht hätte.44 Die bürgerliche Frauenbewegung beschäftigte sich in Deutschland insgesamt weniger mit Prostitution, vielleicht abgesehen vom Kulturbund von Gertrud Guillaume-Schack, die seit Anfang der 1880er mit Vorträgen und einer Petition an den Reichstag gegen das Vorgehen der Sittenpolizei und Zwangsuntersuchungen kämpfte. Ein gewisses Echo fanden die englischen Kampagnen bei den Sozialdemokraten. Vor allem Bebels Erfolgsbuch „Die Frau und der Sozialismus“ verwies in seinen ausführlichen Kapiteln über die Prostitution vergleichend auf England und auf Steads Enthüllungen in 41 42 43 44 Vgl. etwa: Stead an Salisbury 6. 7. 1885, 7. 7. und 12. 7. 1885, in: NL Salisbury, Hatfield House. Vgl. anhand von Gerichtsfällen in Middlesex und Yorkshire: Louise A. Jackson, Child Sexual Abuse in Victorian England, London und New York 2000. Pall Mall Gazette 5. 8. 1885, S. 12. Er verweist hier auf die Kölnische Volkszeitung und das Kleine Journal. Vgl. hierzu: Lutz Sauerteig, Frauenemanzipation und Sittlichkeit. Die Rezeption des englischen Abolitionismus in Deutschland, in: Muhs et al. (Hrsg.), Aneignung, S. 159–197, S. 177 f. Zur Prostitution vgl. Regina Schulte, Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1979. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 169 der Pall Mall Gazette. Den Frauenhandel und die staatlich tolerierte Prostitution brandmarkte er als Kennzeichen bürgerlicher Doppelmoral. So wie Stead den „white slave trade“ mit englischen Frauen anprangerte, schrieb Bebel den Deutschen zu, Weltmeister im Frauenhandel zu sein.45 Obgleich Bebel im Unterschied zu Stead Prostitution als de facto ebenso notwendig wie Militär oder Polizei bezeichnete, war sein Buch der unverkennbare Versuch, an anschaulichen Beispielen Bordellbesuche von Studenten, Schützengesellschaften oder bei Treffen des Bundes der Landwirte zu skandalisieren. Erst in den 1890er Jahren kam es in Deutschland zu einer verstärkten Thematisierung der Prostitution, die das Thema Sexualität für die Medien öffnete. Anlass dafür bot der sogenannte Fall Heinze, der fast ein ganzes Jahrzehnt die Medien, christlich-moralische Vereine und den Reichstag beschäftigte. Dem Ehepaar Heinze wurde 1891 bei einem Prozess vorgeworfen, beim Raub von Kirchensilber einen Nachtwächter erschlagen zu haben. Da das Ehepaar von Prostitution und Zuhälterei lebte, kamen beim Prozess zahlreiche Details über dieses Themenfeld in die Medien.46 Die Ursache für diese intensive Auseinandersetzung mit dem Fall Heinze lagen auch hier in der Veränderung des Mediensystems und der Öffentlichkeit, da Prostitution natürlich keine Neuerfindung war, nur vorher stärker in den Medien tabuisiert wurde. Ähnlich wie im London der 1880er Jahre verstärkten die Artikel über den Heinze-Prozess die Wahrnehmung, es gäbe besonders in der Metropole Berlin einen moralischen Sittenverfall, den man mit gesetzlichen Maßnahmen bekämpfen müsse. Die politischen Reaktionen richteten sich in Deutschland vor allem gegen die Zeitungsberichte mit den Prozessaussagen, die als die eigentliche moralische Gefahr erschienen. Erste Gesetzentwürfe für den Ausschluss der Öffentlichkeit begründete die Reichsleitung damit, „daß Gerichtsverhandlungen sittlich anstößigen Inhalts in Folge unterlassenden Ausschlusses der Öffentlichkeit mit ihren widerwärtigen Einzelheiten in der Tagespresse wiedergegeben worden sind.“47 In der weiteren parlamentarischen Beratung der „Lex Heinze“, wie sie bald hieß, drängten Konservative und Zentrumspartei darauf, auch Theater, Literatur und Kunst stärker nach moralischen Gesichtspunkten zu zensieren. Dagegen wehrten sich Liberale und Sozialisten, so dass am Ende eine Kompromissformel herauskam, die zwar „unzüchtige“ Schriften unter Strafe stellte, zumindest aber dem Theater mehr Freiheit als geplant gewährte.48 Der Fall Heinze zeigte somit, wie scheinbar unpolitische Aussagen über außereheliche Sexualität zu einem Politikum werden konnten, das grundsätzlich die kulturelle Freiheit verhandelte. 45 46 47 48 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1892 (Erstauflage 1878), S. 141–161, bes. S. 159. Hett, Death, S. 64–78; Müller, Auf der Suche, S. 77–91. Begründung für Gesetzesentwurf 22. 11. 1892, in: BAB/L, R 43 749:138. Zur Debatte: Richard Evans, Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe 1800–1914, Reinbek 1997, S. 290; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 283 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 170 III. Ehebruch als Politikum Während es in Großbritannien also vor allem eine Frage der moralischen Legitimität war, was die Presse über sexuelle Normbrüche schreiben durfte, war dies in Deutschland damit weiterhin stärker eine rechtliche Frage. Durch den Fall Heinze beschäftigte sich eine breite Öffentlichkeit aktiv mit Fragen der normwidrigen Sexualität und den Grenzen der Pressefreiheit. Im Reichstag kam es zu intensiven Debatten, in der Versammlungsöffentlichkeit stritten Sittlichkeitsvereine mit dem liberalen „Goethe-Bund zum Schutz freier Kunst und Wissenschaft“, und auch in der Frauenbewegung gewann das Thema Prostitution an Bedeutung.49 Bei einem in Frankfurt abgehaltenem internationalen Kongress gegen Frauenhandel („white slave traffic“) wurden dabei besonders die Juden als Verschlepper und Verschleppte ausgemacht.50 Die Empörung über Zwangsuntersuchungen an Prostituierten verstärkte sich, als die bürgerliche Frauenbewegung und die Zeitungen wie in Großbritannien Einzelfälle skandalisierten, bei denen die deutsche Sittenpolizei bürgerliche Frauen als vermeintliche Prostituierte abgeführt, auf Geschlechtskrankheiten untersucht und verhaftet hatte. Als Initialzündung und Kristallisationspunkt der deutschen Frauenbewegung diente dabei der Skandal um Marie Koeppen, die 1897 auf der Straße verhaftet und zwangsuntersucht wurde, als sie vor dem Büro ihres Verlobten wartete.51 Ebenso führte der Tod einer Bremer Prostituierten 1902, die bei einer Zwangseinlieferung an Syphilis verstarb, zu einer empörten Thematisierung des Tabubereichs in den Medien.52 Darüber hinaus erschienen zahlreiche Bücher zur Prostitution, die von angeblichen Prostituierten geschrieben wurden oder das Prostituiertenleben in Berlin detailreich beschrieben.53 Gerade beim Buchmarkt zeigte sich, dass wie bei der Homosexualität in Deutschland prinzipiell deutlich offener über Ehebruch geschrieben werden konnte als in Großbritannien. Allerdings galt dies im geringeren Maße für die Zeitungen, die zumindest bei gewöhnlichen Scheidungen von vergleichbaren Berichten wie in England absahen. Ein deutsches Pendant zum britischen Maiden Tribute-Fall bildete der Skandal um den Bankier August Sternberg, dem 1900 der sexuelle Verkehr mit zum Teil minderjährigen Mädchen vorgeworfen wurde. Ähnlich wie die englischen Medien der frühen 1880er Jahre hatten die deutschen Zeitungen bislang vor allem über Kinderprostitution in Belgien geschrieben, wo Männer „aus den höchsten Kreisen“ in Bordellen mit zehn- bis zwölfjährigen verkehren wür49 50 51 52 53 Vgl. bes. die Debatte: RT, Bd. 159, 16. Sitz. 13. 1. 1898; Sauerteig, Frauenemanzipation, S. 177–180. Times 9. 10. 1902, S. 3. Vgl. Theresa Wobbe, Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1989, S. 47 f. Vgl. etwa: Robert Schmölder, Syphilis und Prostitution, in: Zukunft 15. 11. 1902; zu dem Fall: E. Meyer-Renschhausen, The Bremen Morality Scandal, in: Renate Bridenthal et al. (Hrsg.), When Biology Becomes Destiny, New York 1984, S. 87–108. Wie bei der Homosexualität waren die „Großstadtdokumente“ hierfür eine wichtige Publikationsreihe. Vgl. zu dieser Literatur bereits: Evans, Szenen, S. 240–244. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit 171 den.54 Derartige Abgrenzungen von anderen Ländern mochten zwar das eigene moralische Überlegenheitsgefühl stärken, machten aber entsprechende Verstöße prinzipiell auch für das eigene Land denkbar. Die Prozessberichte über Sternbergs Vergehen zeigte, dass mitten in Berlin ein reicher angesehener Bürger mit zahlreichen Mädchen „Unzucht“ getrieben habe, wie die Zeitungen die sehr expliziten Gerichtsaussagen umschrieben.55 Wie in Großbritannien stieß eine Zeitung diesen Skandal an, indem die Berliner Morgenpost über das plötzliche Verschwinden eines der missbrauchten Mädchen berichtete.56 Die Aufdeckung begann jedoch im Unterschied zu Steads Kampagne nicht mit einer ausführlich recherchierten Enthüllung, sondern einer vagen Andeutung, die die Polizei zu Nachforschungen anregte. Im Laufe der Prozessberichte erfuhren die Leser, dass Sternberg sich über eine Kupplerin Mädchen von 12 bis 14 Jahren zuführen ließ und sich als Arzt oder als Maler ausgab, der Modelle suchte. Wie bei Steads Maiden-Tribute-Artikeln sorgte besonders die geringe Entlohnung (zehn Pfennige), mit denen Sternberg die Mädchen bezahlte, für Empörung. Ebenso korrespondierte der Skandal mit dem White Slave-Narrativ des fremden Verführers, da zahlreiche Zeugen, Journalisten und Polizisten Sternberg als Juden bezeichneten, obgleich er Protestant war.57 Auch in Deutschland schrieb die Presse den jungen Mädchen eine kindliche Unschuld zu, sie galten aber zugleich erneut als unglaubwürdige Zeugen, die angesehene Bürger gefährden konnten.58 An die britischen Skandale erinnerte zudem, dass Sternberg durch hohe Geldzahlungen zahlreiche Beteiligte bestach oder ihnen die Flucht in die USA finanzierte.59 Hieraus entwickelte sich eine Diskussion über die korrumpierenden Folgen des Reichtums, worüber sich rechte Zeitungen wie Die Post und linke wie der Vorwärts bemerkenswert einhellig empörten. Diese Korruptionsdebatte überdeckte dabei den sexuellen Missbrauch und die Prostitution.60 Eine ver54 55 56 57 58 59 60 Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 139, 17. 3. 1894. Prozessunterlagen in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Prozessprotokolle gedruckt in: Hugo Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 2, S. 221–305. Nahezu tägliche Zeitungsmeldungen hierzu erfolgten besonders im November/Dezember 1900. Berliner Morgenpost 4. 11. 1899. Vgl. Zeugenaussagen wie: „Ob er es gewesen ist oder nicht, ist gleichgültig, der Jude muss auf alle Fälle ins Zuchthaus.“; ähnlich auch der Kommissar: „Er werde Tag und Nacht arbeiten, der Jude muß ins Zuchthaus“ Protokoll in: Friedlaender, Kriminalprozesse, Bd. 2, S. 255 u. 257. Brigitte Kerchner, „Unbescholtene Bürger“ und „gefährliche Mädchen“ um die Jahrhundertwende. Was der Fall Sternberg für die aktuelle Debatte zum sexuellen Mißbrauch an Kindern bedeutet, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 1–32. Bereits zeitgenössisch: David Halpert, Der Prozeß Sternberg. Kriminalistische Randglossen, Berlin 1900; Ephraim Meyerstein, Sternberg, Corruption und Kriminalpolizei, Berlin 1900. So gab er der Kupplerin Fischer 1500 Mark, damit sie Ende 1899 per Schiff nach New York flüchten konnte; Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Vgl. etwa Die Post 16. 11. 1900: „Der Terrorismus, den die Millionen eines Sternberg in einem civilisierten Staate ausüben möchten, muß gebrochen werden!“ Ähnlich auch: Neue Preussische Zeitung. 5. 11. 1900. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 172 III. Ehebruch als Politikum gleichbare öffentliche Debatte über Armut und Prostitution wie in Großbritannien entstand ebenfalls nicht. Zudem entwickelte sich aus dem deutschen Fall keine medieninitiierte öffentliche Kampagne zur Anhebung der Minderjährigkeit beim Sexualverkehr, wodurch der bei Sternberg kritisierte Verkehr mit 14jährigen Mädchen rechtmäßig blieb. Die Frage der Schuld maß das Gericht vielmehr daran, ob die Mädchen noch Jungfrauen waren.61 Allerdings trugen die ausführlichen Medienberichte immerhin zur Erhöhung des individuellen Strafmaßes bei: Während Sternberg bei ähnlichen Anklagen 1882 und 1893 noch Freisprüche erreichte, bekam er nun über zwei Jahre Haft. Er erhielt zwar die im Kaiserreich üblichen Haftprivilegien für reiche Gefangene, seine vorzeitige Begnadigung blieb dagegen angesichts der Medienberichte aus.62 Derartige Skandale, die hier nur knapp angedeutet wurden, prägten in beiden Ländern die Sagbarkeitsgrenzen und machten Tabubereiche medial verhandelbar. Die Berichte waren dabei durchaus politisch und transferierten das Thema Ehebruch und Prostitution in den politischen Raum. Bemerkenswerterweise kam es jedoch in keinem der beiden Länder zu Kampagnen, die führenden politischen Repräsentanten den Verkehr mit Prostituierten vorwarfen. Da selbst prominente Männer wie Kaiser Wilhelm II. mit Prostituierten verkehrten, kann man dies sicherlich nicht mit einem Mangel an entsprechenden Begegnungen oder einer perfekten Geheimhaltung erklären.63 Entscheidender war vermutlich, dass die beteiligten Männer, die Behörden und das politische und journalistische Umfeld dies bewusst als einen Akt bewerteten, der mit Diskretion zu behandeln war. Mitte der 1880er Jahre drohte dies zu kippen. So kam es in England kurz nach Steads Kampagne zu Anfragen im Unterhaus über die milde Verurteilung der Edelprostituierten Mrs. Jeffries, die laut Pressemeldungen für ihre Diskretion nur eine Geldstrafe erhielt.64 Trotz der ausweichenden Antwort der Regierung entwickelte sich hieraus kein Skandal. Da Freier nicht strafrechtlich verfolgt wurden und Prostitution unter Wahrung der Auflagen prinzipiell toleriert wurde, fehlte im Unterschied zur Homosexualität die juristische Grundlage für entsprechende Untersuchungen. Aus diesem Grund überführte vornehmlich die Prostitution minderjähriger Mädchen in diesem Bereich die außereheliche Sexualität in die Medienöffentlichkeit. Nicht nur die Auseinandersetzung mit Ehebrüchen und Prostitution spielte in der britischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts eine deutlich größere Rolle als in Deutschland. Gleiches galt, eng damit verbunden, auch für politische Skandale, die sich um Ehebrüche drehten. Wie diese im ausgehenden 19. Jahr61 62 63 64 Vgl. Formulierungen wie: „Mit Rücksicht darauf, daß dieses Mädchen bereits früher Unzucht getrieben hatte, und daß deshalb der ihr durch die That des Angeklagten zugefügte sittliche Schaden minder groß ist, ist der Gerichtshof nicht erheblich über den gesetzlichen Mindestbetrag von 1 Jahr Zuchthaus hinausgegangen [...].“ Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Vgl. Entlassungsgesuch 14. 12. 1902, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Vgl. zur Erpressung des Kaisers: Röhl, Wilhelm II., Bd. 1, S. 464–467 und Bd. 2, S. 236 f. Anfrage Fowler mit Blick auf Berichte des Sentinel; vgl. Times 9. 7., 10. 7. und 20. 7. 1885, S. 6. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 173 hundert aufkamen und welche gesellschaftlichen Normen sie verhandelten, untersuchen die folgenden Kapitel vor allem anhand der Skandale um den liberalen Spitzenpolitiker Charles Dilke (1886) und den Vorsitzenden der Irischen Partei, Charles Stewart Parnell (1890). Ausgewählt wurden diese Fälle nicht nur, weil sie die wichtigsten Ehebruchsskandale dieser Jahrzehnte waren. Sie zeigen vielmehr besonders deutlich, wie ein nicht strafbarer Normbruch in der Privatsphäre schrittweise Teil politischer Auseinandersetzungen wurde, bei denen Politiker und Medien weltanschauliche Ziele verfolgten. Welche Unterschiede zur frühviktorianischen Zeit bestanden, zeigt vorweg eine kurze Analyse der Vorwürfe, die gegen Premierminister Melbourne in den 1830er Jahren erhoben wurden. In einem zweiten Schritt wird geprüft, inwieweit in Deutschland derartige Kampagnen und Skandale aufkamen. Hier stehen zunächst die öffentlichen Vorwürfe im Mittelpunkt, die Außenstaatssekretär Kiderlen-Wächter und Otto Hammann, dem Leiter des Pressebüros des Auswärtigen Amtes, gemacht wurden, um die Grenzen derartiger Skandale in Deutschland auszumachen. Zugleich wird am Beispiel eines Eheskandals um den einflussreichen antisemitischen Abgeordneten Wilhelm Schack gezeigt, dass solche Skandale durchaus auch in Deutschland Teil der politischen Kommunikation werden konnten. 2. Die Verengung der moralischen Normen: Von Melbourne bis Dilke Die spektakulären spätviktorianischen Ehebruchsskandale, die zum Sturz führender Politiker führten, hatten natürlich einzelne Vorläufer. Viele Zeitgenossen der 1880er Jahre erinnerten sich während des Skandals um Charles Dilke vor allem an das Verhältnis von Premierminister Lord Melbourne und Caroline Norton. Der Fall von 1836 wirkte im Nachhinein wie ein Vorspiel, bei dem die Macht des Skandals noch begrenzt war.65 Er zeigte aber bereits, dass nicht nur der Ehebruch von Adligen oder Privatmännern, sondern auch der von Politikern medial thematisierbar war. Ebenso verhandelte er die Umgangsformen, die generell zwischen einem Politiker und einer Frau als zulässig galten. Bereits die Ausgangskonstellation verriet die politische Aufladung der Beschuldigungen: Ein ehemaliger Tory-Abgeordneter namens Richard Norton warf beim Scheidungsantrag dem liberalen Premierminister Melbourne den Ehebruch mit seiner Frau vor, obwohl Norton dank des freizügigen Ehelebens seiner Frau sicherlich mit besseren Gründen andere Männer hätte benennen können.66 Insofern lag der Verdacht nahe, dass der Vorwurf vor allem die gegnerische Partei schwächen 65 66 Vgl. etwa: Eintrag Tagebuch Esher 28. 11. 1890, in: CAC ESHR 2/8; Daily Telegraph 17. 11. 1890, S. 4; Pall Mall Gazette 19. 11. 1890, S. 1; Times 18. 11. 1890, S. 9. Finanzielle Motive als Grund hierfür sieht: David Cecil, The Young Melbourne and Lord M., London 2001 (Erstauflage 1939), S. 365. Zu Melbournes Biographie vgl. bes.: L. G. Mitchell, Lord Melbourne 1779–1848, Oxford 1997. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 174 III. Ehebruch als Politikum sollte. Da seine Ehefrau aus einer alten Whig-Familie kam, lag diese Form der Rache ebenfalls nahe. Die Vorwürfe korrespondierten dabei mit einer starken Polarisierung der politischen Lager, die sich vor allem aus der einschneidenden Reformpolitik der seit 1830 regierenden Whigs ergab. Norton selbst hatte sich als erbitterter Gegner der Parlamentsreform und der Katholikenemanzipation erwiesen. Abgebremst wurde der drohende Skandal allerdings zunächst durch das Gericht, das äußerst wohlwollend die Unschuldsbeteuerungen des Premierministers akzeptierte. Die Aussagen mehrerer Hausangestellter, die etwa von Küssen, zerzausten Haaren und verstreuten Kleidungsstücken berichteten, akzeptierte es nicht als hinreichende Beweise.67 Dennoch wurde der Premierminister allein schon durch die seitenlangen Prozessberichte diskreditiert, die zahlreiche Details über Melbournes Privatleben und insbesondere seinen Umgang mit Caroline Norton öffentlich machten. So erfuhren die Leser, dass sich der 57-jährige Regierungschef über mehrere Jahre meist wöchentlich und mitunter täglich mit der jungen und attraktiven Publizistin in ihrem Haus getroffen hatte, meist während der Abwesenheit ihres Mannes. Nach den Aussagen der Diener benutzte der damals noch als Innenminister amtierende Melbourne oft die Hintertür, und die Vorhänge waren zugezogen. Die eher konservativen Zeitungen akzeptierten zwar das Gerichtsurteil, da es die moralische Ordnung bestätigte, nicht aber diese Umgangsformen zwischen Mann und Frau. So kommentierte die Times, Melbourne verletzte mit seinen Besuchen „not only the decorum, but even the decencies, of English society“ und sprach von einem „scandal of his eccentric visits“.68 Nicht nur moralisch, sondern auch intellektuell und vom bürgerlichen Arbeitsethos her erschien es nicht zulässig, dass ein herausragender Politiker seine Zeit mit einer jungen Frau verbrachte, obgleich Caroline Norton eine belesene Schriftstellerin und Journalistin war.69 Die Times forderte deshalb sogar unabhängig vom Ausgang des Prozesses Melbournes Rücktritt, weil allein die Verwicklung in die Verhandlung das Ansehen des Amtes verletze.70 Die Presse spielte somit eine maßgebliche Rolle bei der Skandalisierung, obgleich bereits im Vorfeld des Skandals auch die Grenzen ihrer Einflussnahme deutlich wurden. Vor dem Prozess hatte bereits der Satirist, der Caroline Norton 67 68 69 70 Prozessprotokoll in: Times 23. 6. 1836, S. 2. Vgl. auch die umfangreiche Mitschrift des Prozesses, die sogleich verkauft wurde: Extraordinary Trial! Norton v. Viscount Melbourne for Crim. Con., London o. D. (1836), in: BL, 1508/1657. Times 25. 6. 1836, S. 4. „Lord Melbourne’s waste of the time so amply paid for by the public – his indulgence in trifling amusements unbecoming his age.“ Times 24. 6. 1836, S. 3. Vgl. auch den ironischen internen Kommentar des Times-Herausgebers Barnes zu Lady Norton: „[Her] fleshy attractions are supposed to be as agreeable to Lord M. as the last patent-easy-chair.“ Thomas Barnes an Benjamin Israeli 17. 1. 1836, in: Derek Hudson (Hrsg.). Thomas Barnes of The Times, Cambridge 1943, S. 91. Zu Nortons Wirken: Alan Chedzoy, A Scandalous Woman. The Story of Caroline Norton, London 1992. Times 19. 5. 1836, S. 5. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 175 schon früher Liebesverhältnisse zugeschrieben hatte, kurze spielerische Andeutungen und Verse über ihr Liebesverhältnis gedruckt. Melbourne schrieb er sogar in Witzform die Vaterschaft ihres Kindes zu. Norton wurde einerseits als der gehörnte Ehemann verspottet, andererseits als kühl kalkulierend, da er sich für seine Tolerierung des Ehebruchs von Melbourne einen Posten erhofft habe.71 Diese Meldungen dürften mit dazu geführt haben, dass Melbourne sich Caroline Norton gegenüber fortan zurückhielt und ihr Mann seine Klage erhob.72 Jedoch überführte erst der Prozess die Berichte in die politischen Tageszeitungen. Ebenso brachten die Zeitungen, soweit ersichtlich, nicht die früheren Ehebrüche Melbournes zur Sprache.73 Trotz des Aufkommens der Unstamped Press, die unter Umgehung der Zeitungssteuern seit 1830 mit zum Teil hohen Auflagen radikale Positionen vertrat, bestanden in der Presse offensichtlich Regeln der Diskretion.74 Allein die Tatsache, dass Melbourne trotz der früheren, in politischen Kreisen bekannten Liebesaffären eine derartige Karriere machen konnte, belegte die bestehende Toleranz, so lange der Normbruch nicht in die Medienöffentlichkeit gelangte. Während des Prozesses selbst positionierten sich die Zeitungen klar nach den politischen Lagern und nahmen den Fall als politischen Kampf wahr.75 WhigZeitungen wie der Morning Chronicle sprachen dabei von einer „Tory conspiracy which sought the destruction of a rival party by the blow aimed at the Prime Minister, through the side of an innocent woman“.76 Das Blatt richtete sich dabei vor allem gegen die Times, weil sie sechs Wochen lang Melbourne verleugnet und schon lange vor dem Prozess seinen Rücktritt angedeutet hätte. Damit kam die Vorstellung auf, Politiker würden gezielt durch die Enthüllung ihrer sexuellen Normbrüche von den gegnerischen Parteien diskreditiert. Wie illegitim und skandalös derartige Vorwürfe in der damaligen Öffentlichkeit erschienen, belegt ihre scharfe Zurückweisung.77 Wie die Blätter betonten, legitimierte allein die Veröffentlichung des Vorwurfes im Zuge des Prozesses entsprechende Berichte. 71 72 73 74 75 76 77 Vgl. Verse wie: „The Scriptures tell each narrow-minded elf/To love his neighbour dearly as himself;/Melbourne exceeds this rule, for be it known/He loves poor Norton’s spouse as if his own.“ The Satirist 21. 6. 1835, S. 197. Vgl. jeweils die Rubrik „Chit-Chat“ in The Satirist: 3. 5. 1835, S. 141; 28. 6. 1835, S. 205; 5. 7. 1835, S. 213; 12. 7. 1835, S. 221. Hinweise auch bei: Chedzoy, Scandalous Woman, S. 114 f. Vgl. ihre Briefe in: James Hoge und Clarke Olney, The Letters of Caroline Norton to Lord Melbourne, Ohio 1974, bes. S. 75. Zu früheren Affären von ihm und seiner verstorbenen Frau vgl. Paul Douglass, Lady Caroline Lamb. A Biography, New York 2004, S. 102–117, und Mitchell, Melbourne, bes. S. 70 f. u. 215 f. Vgl. zum Aufkommen dieser Presse: Hollis, The Pauper Press; Wiener, The War of the Unstamped. Zwei Abend-, zwei Wochen- und eine Morgenzeitung waren nach der Wahrnehmung der Times „engaged in this unnatural warfare against the Prime Minister.“ Times 7. 7. 1836, S. 2. Morning Chronicle 25. 6. 1836, S. 2. Vgl. etwa: „It is difficult to understand what the idiots of the Whig-Radical Press mean by their jabbering about the political origin of the recent trial.“ Times 27. 6. 1836, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 176 III. Ehebruch als Politikum Das günstige Gerichtsurteil für Melbourne, die politische Polarisierung und die insgesamt eher zurückhaltende Presseberichterstattung führten dazu, dass die öffentliche Empörung begrenzt blieb und Melbourne sein Amt noch bis 1841 behalten konnte. Dass der Premierminister gestärkt aus der Affäre hervorging, gerade weil eine Verschwörung der Konservativen angenommen wurde, ist jedoch zweifelhaft.78 Denn Melbourne war nun entsprechendem Spott ausgesetzt, der seine Autorität schwächte. So nannten einige Zeitungen seine Regierung etwa „Crim-Con-nell Cabinett“ und „Magdalen Ministry“, weil Melbourne laut Prozessbericht Caroline Norton ein Buch geliehen hatte, das Maria Magdalena als besonders tugendhafte Frau pries.79 Im überfüllten Gerichtssaal verdeutlichte das regelmäßig im Protokoll festgehaltene „great laughter“ über die Berichte der Hausangestellten, wie sehr sich auch die Zuschauer über den Premierminister amüsierten.80 Obgleich die im Gericht verlesenen und in den Zeitungen abgedruckten Briefe von Melbourne an Norton keine Liebesaffäre belegten, zeigten sie ebenfalls eine unzulässig erscheinende Vertrautheit mit einer verheirateten Frau, was Melbournes Position schwächte. Der Fall Melbourne stand somit für eine Auflösung der bürgerlichen Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Skandalisierungen, wie sie bisher gegenüber Monarchen und dem Hochadel üblich waren, richteten sich hier gegen einen liberalen Politiker. Die verhaltensnormierende Kraft der Medienberichte hatte für den Premierminister selbst jedoch offensichtlich Grenzen. Melbourne brach zwar zunächst den Kontakt mit Caroline Norton ab, traf sich aber weiter mit anderen jungen Frauen zu privaten Gesprächen, was in den folgenden Jahren erneut Gerüchte aufbrachte.81 Politisch folgenreicher war die abgewiesene Scheidung für Caroline Norton, die weiter mit ihrem verhassten Mann zusammenleben musste, der ihr sogar den Kontakt zu den eigenen Kindern verbat. Caroline Norton startete daraufhin eine öffentliche Kampagne zur Reform des Scheidungs- und Eherechts. Sie schrieb Anträge an alle Abgeordneten und den Lord Chancellor, was tatsächlich in Gesetze mündete, die Frauen den Zugang zu den eigenen Kindern erleichterten. Vor allem ihre Bücher (wie „A letter to the Queen on Lord Cranworth’s Marriage and Divorce Bill“, 1855) trugen mit zur Reform des Scheidungsrechtes bei.82 Insofern führte der Skandal um ihre Scheidung auch indirekt zu Reformen, die schließlich spätere Skandale um Ehebrüche prägten. Obgleich Melbournes Fall bereits wesentliche Elemente späterer Skandalisierungen aufwies, markierte er noch nicht den Beginn einer zunehmenden Skandalisierung von heterosexuellen Normbrüchen von Politikern. Es dauerte im78 79 80 81 82 So: Mitchell, Melbourne, S. 224 f. Times 15. 6 und 24. 6. 1836, S. 3. Zu dem Buch vgl. den Prozessbericht in: Norton v. Viscount Melbourne für Crim. Con., London o. D. (1836), S. 14, in: BL, 1508/1657. Norton v. Viscount Melbourne für Crim. Con., London o. D. (1836), etwa S. 18, in: BL, 1508/1657. Mitchell, Melbourne, S. 228. Chedzoy, A Scandalous Woman. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 177 merhin fast drei Jahrzehnte, bis abermals ein Spitzenpolitiker in eine vergleichbare Situation geriet wie Melbourne. Im Jahr 1863 warf schließlich der radikale irische Journalist Timothy Joseph O’Kane dem 78-jährigen Premierminister Palmerston vor, mit seiner 30-jährigen Frau Ehebruch verübt zu haben. Dafür verlangte er 20 000 Pfund „Schadenersatz“. Als Palmerston dies ablehnte, klagte er ebenfalls. Obgleich der Prozess erneut flüchtige Treffen zwischen einem alten Premierminister und einer jungen Frau publik machte, blieben trotz aller Gerüchte spektakuläre Veröffentlichungen aus. Während die Frau den Ehebruch bestritt, stellte das Gericht fest, dass die O’Kanes nicht einmal rechtmäßig verheiratet waren.83 Hierdurch verkehrte sich die Skandalisierung gegen seinen Urheber. Die Times forderte, man müsse derartige „scandal-mongers“ und ihren „cruel sport“ bekämpfen, da diese eine Gefahr für jeden „public man“ darstellten.84 Gerade derartige Formulierungen verrieten jedoch, wie sehr die Überführung des Privaten in die Medienöffentlichkeit als eine Achillesferse galt. Palmerston erschien jedoch in diesem Fall selbst für die moralistische Reynolds’s Newspaper so sehr als unangreifbar starker Politiker, dass sie in einem Porträt über ihn nicht einmal die Möglichkeit eines Ehebruches diskutierte.85 Erst Mitte der 1880er Jahre stürzte ein Skandal einen herausragenden Politiker, dem Ehebruch vorgeworfen wurde. Wie sämtliche Zeitungsleser ausführlich erfuhren, wurde dem liberalen Kabinettsmitglied Charles Dilke 1885/86 in einem Scheidungsprozess eine Affäre mit einer verheirateten Frau vorgeworfen.86 Dieser Skandal verdient allein deshalb bereits eine ausführliche Analyse, da in ihm das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit sowie die politischen Folgen eines Ehebruches neu ausgehandelt wurden. Die breite Wirkung dieses Skandals lässt sich nicht allein aus dem Normverstoß selbst erklären, sondern ebenso mit der politisch-kulturellen Konstellation der Zeit. So lag die erwähnte Kampagne von W.T. Stead gegen die Kinderprostitution, die einen Höhepunkt der öffentlichen moralischen Agitation bildete, nur wenige Wochen zurück. Gleichzeitig fiel der Skandal 1885/86 mitten in eine wirtschaftliche und politische Krise, in der sich die Parteiauseinandersetzungen so zuspitzten, dass mehrere Wahlen und Regierungswechsel in einem Jahr folgten.87 Dilke selbst hatte nicht wenige Rivalen und Gegner, da der noch sehr junge Politiker eine steile Karriere vorgelegt hatte, zum radikalliberalen Flügel von Gladstones 83 84 85 86 87 Prozessbericht in Times 27. 1. 1864, S. 11; knappe Andeutungen hierzu in: Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970, S. 531 f. Times 5. 2. 1864, S. 10. Reynolds’s Newspaper 14. 2. 1864, S. 2. Da der Ablauf des Skandals bereits rekonstruiert wurde, konzentriert sich die Analyse im Folgenden vornehmlich auf die bislang wenig bekannte Interaktion zwischen Dilke und den Journalisten. Vgl. vor allem mit Blick auf den Ereignisablauf und die Prozesse: Roy Jenkins, Dilke. A Victorian Tragedy, London 1965, S. 260–367; David Nicholls, The Lost Prime Minister. A Life of Sir Charles Dilke, London 1995, S. 177–211. Vgl. zur Regierungskrise, allerdings ohne weitere Berücksichtigung des Dilke-Skandals: Cook und Vincent, The Governing Passion. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 178 III. Ehebruch als Politikum Kabinett zählte und sowohl den Imperialismus als auch die Ausdehnung des Wahlrechts propagierte. Die moralische Messlatte lag dabei für ein Mitglied in Gladstones Regierung besonders hoch, da sich die Liberalen im hohen Maße auf die moralisch besonders rigiden nonkonformistischen Wähler stützten – was insbesondere in einem Jahr mit zwei Wahlen wie 1886 entscheidend war. Zunächst deutete jedoch wenig auf eine Politisierung des Vorwurfes hin. Im Unterschied zu anderen Skandalen wurde er zumindest auf den ersten Blick nicht von der Presse angestoßen. Andeutungen und Berichte kamen erst schrittweise in die Zeitungen, nachdem Crawfords Mann die Scheidung einreichte und den verwitweten Politiker Dilke als mitbeklagten Ehebrecher (co-respondent) benannte. Ebenso hatte der Ehemann keine politischen Ziele, da er nur auf das Geständnis seiner Frau hin Dilke beschuldigte. Bereits der Zeitpunkt der Veröffentlichung war allerdings hochgradig politisch aufgeladen. Dilke hatte gerade erfahren, dass er die Führung der Liberalen übernehmen solle und damit als potentieller Nachfolger von Premierminister Gladstone galt.88 Dementsprechend kamen schnell Gerüchte auf, Dilke sei doch Opfer einer politischen Intrige. Da der Ehemann in mehreren anonymen Briefen auf Dilkes Affäre mit seiner Frau hingewiesen worden war, erschien ein politisches Interesse an einem Prozess naheliegend. Gerüchte kursierten, sein Parteikollege Lord Rosebery sei dafür verantwortlich, um einen Rivalen für den Posten des Außenstaatssekretärs auszuschalten. Ebenso erzählte man, Joseph Chamberlain habe seinen Kollegen Dilke schwächen wollen, zumal Chamberlains Karriere von Dilkes Sturz profitierte. Auch wenn diese Anschuldigungen kaum haltbar waren, zeigt allein ihre interne Diskussion, welche Formen der politischen Auseinandersetzung den Zeitgenossen denkbar erschienen.89 Die Nachricht über den bevorstehenden Prozess gelangte aus dem parlamentarischen Raum schnell in die Presse. Bemerkenswert ist in diesem Fall besonders die Rolle, die von Beginn an der Journalist W.T. Stead spielte, der sich gerade auf dem Höhepunkt seines Ruhmes befand. Auf den ersten Blick schien Stead zunächst abzuwarten. Der meines Wissens erste öffentliche Hinweis auf Dilkes Affäre erschien nicht in seiner Zeitung, sondern in der Regionalzeitung Northern Echo, die auf entsprechende Gerüchte unter verschiedenen Abgeordneten anspielte, die vor Gericht geklärt werden müssten. Da dies jedoch das Blatt war, bei dem Stead früher gearbeitet hatte, ist davon auszugehen, dass er die Meldung dort lancierte und sie dann unter der Überschrift „Public Man and Public Scandals“ in seiner Pall Mall Gazette scheinbar unbeteiligt abdruckte.90 Steads Blatt 88 89 90 Dilke selbst sah diese Koinzidenz sogleich: Tagebuch Dilke 23. 7. 1885, in: BL, Add Mss 43927: 5. Von der Unhaltbarkeit der Gerüchte gehen ebenfalls aus: Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in Politics, New Haven und London 1994, S. 200 f.; Denis Judd, Radical Joe. A Life of Joseph Chamberlain, Cardiff 1993, S. 143 u 145; Nicholls, Dilke, 1995, S. 201. Pall Mall Gazette 28. 7. 1885, S. 8; Northern Echo 28. 7. 1885, S. 3. Obgleich Stead am Dilke-Skandal maßgeblich beteiligt war, wurde vor allem seine interne Rolle bislang weitgehend übersehen. Nur ganz knapp erwähnt ist Steads Bericht, mit einer falschen Datierung, in: Schults, Crusader, S. 167. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 179 gab sich skeptisch gegenüber dem Gerücht und erwähnte Dilke nicht namentlich, forderte aber eine gerichtliche Klärung. Als eigene Meldung fügte Stead auf der nächsten Seite nur hinzu, dass Dilke wegen einer Erkrankung eine Rede absagen musste und die Ärzte ihm Ruhe verordnet hätten. Ebenso wie bei anderen Skandalen unterstrich diese Anordnung der Artikel für alle Eingeweihten den Zusammenhang. Weitere Andeutungen zum Fall Dilke, ebenfalls ohne Namensnennung, folgten in den nächsten Tagen.91 Auch nach der Etablierung des New Journalism begann der Ehebruchsskandal damit nicht mit großen Schlagzeilen, sondern mit abwartender Zurückhaltung und einzelnen erpresserischen Andeutungen, um die eigene Zeitungsmeldung möglichst wenig sensationell erscheinen zu lassen. Vermutlich wählte Stead diesen Weg, um nach seiner großen und umstrittenen Maiden TributeKampagne nicht erneut als Skandaljournalist zu erscheinen, gleichzeitig aber seine Ziele zu erreichen. Er platzierte das Thema in der Londoner Öffentlichkeit, ohne selbst dafür verantwortlich zu wirken. Erst Reynolds’s Newspaper überführte Dilkes Namen dann mit der ihr ebenfalls eigenen Mischung aus Moralismus und sensationeller Enthüllung in die breite Medienöffentlichkeit.92 Das radikale Blatt, das sich zuvor insbesondere an Dilkes imperialer Haltung in der Ägypten- und Sudanpolitik gerieben hatte, erwies sich damit wie bei den Homosexualitätsskandalen als regelbrechende Instanz, die in diesem Fall selbst gegen radikale Liberale vorging. Die Mehrheit der Zeitungen berichtete dagegen zunächst gar nicht über die Gerüchte, sondern reagierte erst, als Dilke mit einer entlastenden Gegendarstellung an die Öffentlichkeit trat.93 Da die Journalisten mit derartigen Skandalen bislang kaum Erfahrungen hatten, setzte sofort eine Diskussion darüber ein, was die angemessene Reaktion eines Politikers sei und wo die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit liegen würden. Dabei sprach sich besonders der damals noch eher liberale Daily Telegraph auffällig deutlich für eine Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre des Politikers aus, die durch den neuen „Skandaljournalismus“ akut bedroht sei: In point of fact, the day has arrived when those who have the best interests of the community at heart must make a resolute stand against the detestable habit growing up of flinging public and private matter together, as regards prominent characters, into the cauldron of scandal. Done in the name of virtue and morality, the thing has become a plague, an invasion, and a curse. A man’s private life does not belong to spies and traducers because his days and years are passed in constant publicity.94 Die Angst vor einer unkontrollierbaren Jagd auf Männer der Öffentlichkeit prägte auch die weitere Argumentation des Artikels. Damit grenzte sich das Blatt von Steads Pall Mall Gazette und der radikalen Reynolds’s Newspaper ab, 91 92 93 94 Mit Verweis auf die Liverpool Daily Post: Pall Mall Gazette 31. 7. 1885, S. 8. Reynolds’s Newspaper 2. 8. 1885, S. 1. Vgl. etwa Daily Telegraph 10. 8. 1885, S. 5; Times 10. 8. 1885, S. 6. Daily Telegraph 20. 8. 1885, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 180 III. Ehebruch als Politikum die zumindest Dilkes vorläufigen Rückzug aus der Politik forderten – wegen der Schwere der Vorwürfe und wegen des Misstrauens, das man nun gegen ihn im Unterhaus haben müsse.95 Mit Blick auf den Daily Telegraph bestritt Reynolds zudem explizit, „that a man’s private character has nothing whatever to do with his relation to the public.“96 Die unterschiedliche Positionierung über die Grenzen des Privaten in den liberalen Zeitungen machte dabei deutlich, wie sehr der britische Liberalismus entlang von moralischen und politischen Grundsätzen gespalten war. Eine quasi automatische Unterstützung der eigenen Parteirepräsentanten im Skandal war von den Zeitungen nicht zu erwarten. Dies förderte das Potential für einen Skandal mit breiter Empörung. Charles Dilke selbst ahnte sofort die Konsequenzen für seine Karriere, als er von seiner Benennung als Co-Respondent erfuhr. Laut seinem Tagebuch erwog er den Rückzug aus dem öffentlichen Leben, und die Briefe an seine Verlobte dokumentieren seine Verzweiflung.97 Dennoch begann er schnell mit unterschiedlichen Strategien, seine Reputation wieder herzustellen, zumal im November die nächste Wahl bevorstand. Er widersprach den Vorwürfen in einem knappen offenen Brief an die liberale Vereinigung seines Wahlkreises, den er damit als die eigentliche Instanz markierte, der er als Abgeordneter verantwortlich war. Er kündigte zugleich eine ausführliche Aussprache im Wahlkreis an und bot dem dortigen liberalen Verein seinen Rücktritt an, bis das Gericht seine Unschuld geklärt habe. Vor Gericht wolle er die Vorwürfe ausführlich widerlegen, bis dahin erwarte er aber auch von seinen Gegnern Zurückhaltung.98 Nicht zuletzt wegen dieser Gesten erhielt er im Wahlkreis und auch in weiten Teilen der Medienöffentlichkeit eine breite Unterstützung. Selbst die Pall Mall Gazette hielt sich daraufhin ganz mit kritischen Meldungen zurück. Die moralische Ordnung stellte Dilke zudem dadurch her, dass er seine Verlobte augenblicklich heiratete und mit ihr zusammen bei seinen Wahlkampfreden auf die Bühne trat.99 Tatsächlich erreichte er auf diese Weise nicht nur eine positive Presseresonanz, sondern auch einen Sieg in seinem Wahlkreis. Beides zeigte, dass allein der Verdacht eines Ehebruches auch im spätviktorianischen England nicht die Reputation eines Politikers zerstörte. Eher schien die implizite Annahme zu überwiegen, Dilke sei Opfer einer Intrige oder einer hysterischen Frau. In dieser ersten Phase des Skandals zeigte die viktorianische Gesellschaft damit noch eine relative moralische Toleranz. Dilke erhielt nach den ersten Pressemeldungen zudem Unterstützung von wichtigen Repräsentanten der Gesellschaft. Der Prince of Wales, den er sogleich informierte, schrieb ihm etwa in 95 96 97 98 99 Reynolds’s Newspaper 9. 8. 1885, S. 1. Reynolds’s Newspaper 23. 8. 1885, S. 2. Eintrag 23. 7. 1885, in: BL, Add Mss 43927: 5; Briefe bes.: Dilke 20. (7. 1886) in: BL, Add Mss 43888: 109. Dilke an G.W. Osborn/Borough of Chelsea Liberal Association, in: Daily Telegraph 10. 8. 1885, S. 5. Vgl.zur positiven Rezeption seiner Auftritte mit seiner neuen Frau: Times 14. 10. u. 29. 10. 1885, S. 7, 6. 1. 1886, S. 6. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 181 aufmunternden Briefen, die Anschuldigungen wären bald vergessen.100 Der liberale Premierminister William Gladstone, der zweifelsohne äußerst gläubig und moralistisch geprägt war, ließ sich ebenfalls nicht auf die Anschuldigungen ein. Unmittelbar nach den ersten Gerüchten umwarb er Dilke in einem langen Brief wegen seiner Irlandpolitik und gratulierte ihm dann zur bevorstehenden Hochzeit, die Dilke offenbar als strategisches Signal dem Premier frühzeitig mitgeteilt hatte.101 Ebenso tauschte sich Dilke mit dem Londoner Kardinal Manning aus, der ihm ebenfalls in einem intensiven Briefwechsel das Vertrauen aussprach.102 Im Unterschied zu Deutschland gab es selbst von Seiten der Konservativen parteiübergreifend aufmunternde Signale. Immerhin schrieb ihm der Vorsitzende der Unterhausfraktion, Randolph Churchill, noch nach dem ersten Prozess, er solle die Presse nicht so ernst nehmen, da niemand vor solchen Verfolgungen geschützt sei.103 Der vielfältige Zuspruch erschien dabei wie ein männlich-kollegialer Konsens darüber, dass die politische Sphäre nicht durch weibliche Hysterie und Medienberichte über das Private belastet werden dürfe. Allerdings berücksichtigte Gladstone Dilke nicht bei der Kabinettsbildung Anfang 1886, wenn auch weniger aus persönlichen Bedenken als aus Angst, dass dies Proteste bei nonkonformistischen Wählergruppen auslösen könnte.104 Weniger die Überzeugungen der Politiker, sondern deren Annahmen über den Moralismus der Presse und der nonkonformistischen Wähler führten damit zu einer ersten Vorverurteilung. Der entscheidende Wendepunkt, der den Fall zu einem Skandal von bisher kaum bekanntem Ausmaß werden ließ, war der Scheidungsprozess im Februar 1886. Seine große öffentliche Bedeutung markierten nicht nur die ausführlichen Medienberichte, sondern auch der immense Andrang vor dem Gericht, der die Zeitungen an „popular theatre or boxing nights“ erinnerte.105 Wie bei anderen Prozessen gegen prominente Politiker waren die Zusammensetzung des Gerichts und der Ablauf der Verhandlung so sehr zu Dilkes Gunsten ausgerichtet, dass er optimistisch in die Verhandlung ging.106 Tatsächlich hob das Gericht abschließend in aller Deutlichkeit Dilkes Unschuld hervor, da die Ehefrau vor Gericht nicht anwesend gewesen sei und somit nicht unter Eid ihren Ehebruch mit Dilke bestätigt habe („there is no evidence worthy of the name against him“).107 100 101 102 103 104 105 106 107 Prince of Wales an Dilke 14. 8. 1885, in: BL, Add Mss 43874: 70. Gladstone an Dilke 21. 7. 1885, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 374; ebd., 18. 9. 1885, S. 403. Vgl. bes. Cardinal Manning an Dilke 5. 8. 1885 u. 16. 8. 1885, in: BL, Add. Ms. 49610. R. S. Churchill an Dilke 8. 4. 1886, in: BL, Add. Ms. 43940:136. Vgl. auch Gladstone an Dilke 2. 2. 1886, in: BL, Ms Add. Gladstone Paper 44149: 369; Eintrag in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 488; Gladstone an Queen Victoria 31. 1. 1886, abgedr. in: Philipp Guedalla, The Queen and Mr. Gladstone, Bd. 2: 1880–1898, London 1933, S. 421 f. Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 3. Eintrag Tagebuch Dilke 12. 2. 1886 in: BL, Add Mss 43927: 26. Im Gericht saßen zahlreiche Parteikollegen. Zit. nach Prozessprotokoll in: Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 182 III. Ehebruch als Politikum Ebenso verteidigte der Staatsanwalt Dilkes ungewöhnliche Besuchszeiten bei der jungen Frau mit seiner Arbeitslast. Diese Unschuldserklärung gegenüber dem Zeugen Dilke wurde jedoch öffentlich durch das Geständnis überlagert, dass der klageführende Ehemann von seiner Frau indirekt wiedergab. Danach hatte Dilke nicht nur unmittelbar nach der Hochzeit die 18-jährige Frau verführt, sondern bei seinen zahlreichen Treffen mit ihr unter anderem auch Geschlechtsverkehr zu dritt mit einem Hausmädchen verlangt, mit dem Dilke ebenfalls regelmäßig geschlafen habe. Die meisten Zeitungen druckten diese erotischen Geständnisse erstaunlich direkt als Zeugenaussage ab. So hieß es etwa in den besonders ausführlichen Berichten der Times: „She [Mrs. Crawford] told him that Sir Charles Dilke made her go to bed with Fanny, who lay beside her. […] She told me that he had taught her every French vice.“108 Der Fall zeigte damit, wie offen auch im spätviktorianischen England über Heterosexualität geschrieben werden konnte, wenn die Aussagen Zitatcharakter hatten. Wie bei anderen sexuellen Normbrüchen wurde dabei der normwidrige Verkehr als etwas von außen kommendes umschrieben („French vice“), das von Frankreich aus die Moral untergrabe. Dilke selbst fürchtete offenbar von jeder öffentlichen Äußerung zu seinem Privatleben so große Nachteile, dass er die Vorwürfe stumm auf der Zeugenbank anhörte und nicht unter Eid im Kreuzverhör zu widerlegen versuchte. Trotz dieser Aufsehen erregenden sexuellen Enthüllung sahen einige liberale Zeitungen Dilkes politisches Come Back als gesichert an. Der Daily Telegraph schrieb sogar: „Had the result been different, there would have been no lack of sympathy on the part of the numberless friends and supporters of Charles Dilke […]. The advanced Liberal Party could ill have spared such a man of his tact, experience and accomplishment.“109 Der Kommentar der damals auflagenstärksten britischen Zeitung belegt, wie groß die moralische Toleranz zumindest bei Teilen der spätviktorianischen Öffentlichkeit sein konnte. Selbst die eher konservative Times verzichtete auf einen Kommentar zum ersten Prozess, was ebenfalls eine gewisse Toleranz gegenüber dem Liebesleben des Politikers verriet. Gerade durch diese liberale Bewertung und die Unschuldsbeteuerung der Richter entwickelte sich der Prozess jedoch zu einem umkämpften Präzedenzfall über die moralischen Verhaltensgrenzen. Abermals war es der Journalist W. T. Stead, der in direkter Reaktion auf die toleranten Artikel eine folgenschwere Gegenkampagne startete. Mit drastischen Worten forderte er Dilkes sofortigen Rücktritt und eine neue Untersuchung durch den Queen’s Proctor. Tatsächlich erreichte Stead dies. Dabei deutete Stead die Liebesaffäre als „offence morally worse than murder“. Im Fall einer Lüge sei Dilke „a worse criminal than most of the murderers who swing at Newgate“.110 108 109 110 Times 13. 2. 1886, S. 12, ähnlich: Reynolds’s Newspaper 14. 2. 1886, S. 3; Daily News 13. 2. 1886, S. 3. Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 5. Ähnlich Daily News 13. 2. 1886. Pall Mall Gazette 16. 2. 1886, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 183 Mit diesen Zuschreibungen übertrug er das Vokabular, mit dem bislang Homosexualität dramatisiert wurde, auf den Ehebruch, um ihn ähnlich zu stigmatisieren. Zugleich weitete Stead seine Kampagne gegen den Minister Joseph Chamberlain aus, weil er als Dilkes Anwalt im Prozess geraten habe, keine Aussage zu machen.111 Sowohl in seiner Zeitung als auch mit Reden versuchte Stead, aus dem Einzelfall generelle Forderungen abzuleiten. Im öffentlichen Leben sei kein Platz für diejenigen, die sich nicht von Vorwürfen über ihr Privatleben freisprechen könnten.112 Die Regierung sollte vor allem ein Gesetz schaffen, das für eine Scheidung die persönliche Befragung der Frau unter Eid erfordere, da sonst Frauen wahllos Männern Vorwürfe machen könnten und Scheidungen zu leicht gemacht würden.113 Auf diese Weise entwickelte sich der Skandal zugleich zu einer grundsätzlichen Debatte über das öffentliche Geständnis des Ehebruchs. Wie reagierte Dilke auf die Medien? Zunächst einmal bedankte er sich persönlich bei den Journalisten, die positiv über ihn geschrieben hatten.114 Zudem übermittelte er wiederum in einer Versammlung seines Wahlkreisvereines eine öffentliche Erklärung, dass er unschuldig sei und nur auf Anraten seiner Freunde nicht in den Zeugenstand getreten wäre. Da sein Wahlkreisverein ihm daraufhin mit nur wenigen Gegenstimmen das Vertrauen aussprach, erschien seine Stellung auch demokratisch legitimiert.115 Einige Zeit später hielt er erneut eine emotionale Rede im Wahlkreis, in der er neben seiner Unschuld sein persönliches Leiden an der Affäre schilderte, die er nur dank der Unterstützung seiner Frau durchstehe, und stellte sich erneut allen Mitgliedern der Liberalen zur Abstimmung, die abermals fast geschlossen für ihn stimmten.116 Damit versuchte er die Versammlungsöffentlichkeit über die Medienöffentlichkeit zu stellen, wobei das Vertrauen der Basis vor allem ein Signal für die Presse war. Dilke bemühte sich jedoch vorangig, den Starjournalisten W. T. Stead zu beruhigen, von dessen Urteil seine weitere Karriere abzuhängen schien. Hierzu dienten zunächst Mittelsmänner. Reginald Brett, in vielen Skandalen ein wichtiger Makler, schrieb daraufhin an Stead eindringlich: „I beg you – as a favour – not to return to the charge. You have said your say.“117 Ebenso versuchte der Vorsitzende der Liberal Central Association, W. S. Caine, mit Stead zu verhandeln.118 Dilkes Mittelsmann, der Stead am stärksten beeindruckte, war Kardinal Manning, der auch nach dem Prozess Dilke zur Seite stand.119 Auffälligerweise übernahm weniger Dilke selbst als Dilkes Ehefrau diesen besänftigenden Aus111 112 113 114 115 116 117 118 119 Pall Mall Gazette 19. 2. 1886, S. 1. Pall Mall Gazette 25. 2. 1886, S. 8. Pall Mall Gazette 8. 3. 1886, S. 1. Dilke an o.N. 13. 2. 1886, in: BL, Add. Ms. 49610: 172. Vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 21. 2. 1886, S. 1. Times 4. 5. 1886, S. 8. Brett an Stead 16. 2. 1886, in: CAC, Sted 1/25. W.S. Caine an Mrs. Dilke 20. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:31. Kardinal Manning an Mrs. Dilke 2. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:24. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 184 III. Ehebruch als Politikum tausch mit dem Journalisten und anderen öffentlichen Persönlichkeiten. Vermutlich ließ es Dilkes Ehre nicht zu, sich direkt mit Stead auszusprechen, was zudem schnell wie ein Kuhhandel gewirkt hätte. Dilkes Frau korrespondierte dafür nahezu täglich mit Stead und traf sich sogar mehrfach mit ihm persönlich.120 Immerhin erreichte sie so, dass Stead ihr schon vorher einen großen Artikel über ihren Mann zuschickte, den er einige Tage später drucken wollte; sie solle den Text lesen und sagen, wenn sie etwas zu ergänzen habe.121 Stead rechtfertigte sich ihr gegenüber für seine Texte und gab ihr zugleich die Möglichkeit, Dilkes Position zu drucken: „I hope that the P.M.G. of today was less unpleasant reading than some previous numbers“, schrieb er etwa. „Is there anything you want said in reply to anything in the morning papers, a line to me here till 12 will catch the first edition of the P.M.G.“122 Statt wie in Deutschland mit harter Zensur einzugreifen, förderte der Skandal in Großbritannien somit einen intensiven, werbenden Austausch zwischen dem beschuldigten Politiker und dem skandalisierenden Journalisten. Tatsächlich konnte Dilke auf diese Weise eine etwas positivere Presse in der Pall Mall Gazette erreichen. So erschien kurz nach den ersten Briefwechseln direkt neben Steads kritischem Kommentar der Artikel eines anonymen Freundes von Dilke. Dieser betonte, Dilke habe immer in Chelsea gelebt, wo alle sein reines Leben beobachten konnten, bis aus heiterem Himmel die Anklage erfolgte.123 Vermutlich war selbst Steads Forderung in der gleichen Ausgabe, der Queen’s Proctor solle durch Intervention den Fall neu verhandeln, in Absprache mit Dilkes Frau aufgekommen. Zudem verlagerte Stead seine Angriffe auf Joseph Chamberlain, da er für das Ausbleiben von Steads Aussage verantwortlich sei. Nach den Gesprächsnotizen bot der Journalist seiner Frau großzügig als „bargain“ an, „that he could whitewash you.“124 Bei einem persönlichen Treffen mit ihr forderte Stead für das Einstellen seiner Angriffe allerdings, dass Dilke – „until he had succeded in cleaning himself“ – Ämter und Mandat niederlegen müsse.125 Auch wenn sie dies ablehnte, unterwarf Dilke sich Stead jedoch insoweit, als dass er sich öffentlich zurückhielt. Nur vereinzelt und mit vorheriger Ankündigung betrat Dilke als stummer Teilnehmer das Unterhaus, nicht zuletzt durch die mehrfache Aufforderung seines Parteifreundes Chamberlain.126 Während Chamberlain es sich leisten konnte, Steads Gesprächsangebot brüsk abzuweisen, musste Dilke auf diesen Kuhhandel eingehen.127 120 121 122 123 124 125 126 127 Vgl. bes. die Briefe in: BL, Add. Ms. 43907 und 43940. Stead an Mrs. Dilke 20. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:253. Stead an Mrs. Dilke 22. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:258. Pall Mall Gazette 22. 2. 1886, S. 1. Notiz Mrs. Dilke 23. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:259. Mrs. Dilke an Kardinal Manning, 2. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:19. Vgl. Chamberlains diverse Briefe an Dilke Februar und März 1886, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 5/24. Stead bestand jedoch auf eine Antwort. Vgl. Stead an Chamberlain 21. 2., 22. 2., 23. 2. u. 27. 2. 1886 u. Chamberlain an Stead 22. 2. 1886, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 6/4k. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 185 Diese bisher kaum bekannte Interaktion zwischen dem skandalisierten Politiker und dem skandalisierenden Journalisten zeigte zweierlei. Sie verdeutlichte einerseits die Machtstellung, die ein einzelner Journalist durch Skandale gewinnen konnte. Dies führte zu zahlreichen Unterwerfungsgesten. Der einstige Minister und potentielle Premierminister musste nicht nur die Forderungen des Journalisten ertragen, sondern auch Steads Trostgedichte und Psalme, die er seinen Briefen beifügte.128 Andererseits zeigte dies zugleich die Grenzen der journalistischen Unabhängigkeit. Wie häufig suchte Stead selbst bei jenen Politikern Anerkennung und Nähe, die er attackierte, was sein Urteil durchaus verändern konnte und Chancen auf eine bessere Bewertung eröffnete. Vor dem zweiten Prozess intensivierte sich der Austausch zwischen Stead und Dilke. Stead erhielt von Dilkes Anwälten Material, und Dilke ließ sich ebenso wie seine Frau direkt von Stead beraten, wie er sich vor Gericht verhalten solle.129 Gerade diese Kooperation versprach eine mildere Beurteilung durch Stead, obgleich sich der Journalist nicht generell umstimmen ließ.130 Auch ansonsten konnte Dilke zuversichtlich in die zweite Verhandlung gehen. Ähnlich wie andere Skandalopfer hatte er einen Privatdetektiv beauftragt, der nun zahlreiche Details über das Liebesleben von Mrs. Crawford ermittelt hatte und Widersprüche ausmachte. Der Privatdetektiv wurde damit erneut zu der Figur, die Wissen über das Intimleben der Großstadt in die Öffentlichkeit brachte. Vor allem fand er heraus, dass Frau Crawford eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann hatte. Weniger Rückhalt war diesmal vom Gericht selbst zu erwarteten. Da beim ersten Prozess der Vorwurf der kollegialen Justiz aufgekommen war, hielt der Queen’s Proctor absolute Distanz und gewährte Dilke keine vorherige Akteneinsicht oder Aussprachen.131 Nicht unbedingt als Ausgrenzung war Dilkes knappe Wahlniederlage bei der erneuten Wahl 1886 zu bewerten. Da die Liberalen landesweit verloren hatten, war das Ergebnis keine Strafe der Wähler für Dilkes Amouren. Zugleich nahm die Niederlage von Dilke den Druck, sein Mandat niederzulegen. Der zweite Dilke-Prozess im Juli 1886 zählt zweifelsohne zu den wichtigsten Ereignissen in der viktorianischen Sexualitätsgeschichte. Gerade weil Dilke und Crawford aus einflussreichen bürgerlichen Familien kamen, galten die Kreuzverhöre als sensationelle sexuelle Geständnisse. Mrs. Crawford warf Dilke nun noch expliziter vor, sie dreimal zum sexuellen Verkehr zu dritt mit einem Hausmädchen aufgefordert zu haben. Zudem hielt sie dem Politiker Affären mit insgesamt drei weiteren Frauen vor, unter anderem mit ihrer Mutter. Umgekehrt erfuhren die Zeitungsleser von Dilkes Anwälten, dass Mrs. Crawford trotz ihrer 128 129 130 131 Neben dem 91. Psalm und Trostgedichten fügte Stead mehrfach den Goethe-Vers „Wir heißen Euch hoffen“ an. Stead an Dilke um 10. 7. 1886 in: BL Add. Ms. 43913:193; Mrs. Dilke an Stead o. D. in: BL, Add. Ms. 43940. Vgl. Dilke an Stead 24. 6. und 13. 7. 1886 in: BL, Add. Ms. 43913:192 ff. Vgl. die Absagen in: Queen’s Proctor an Dilke 27. 2. 1886, Dilke an Queen’s Proctor 10. 4. 1886, Queen’s Proctor an Anwälte 11. 6. 1886, in: BL, Add. Ms. 49436. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 186 III. Ehebruch als Politikum Abb. 5: Auch die Visualisierungen des Ehebruches verdeutlichten die sexuellen Normbrüche – insbesondere den vorgeworfenen Verkehr mit zwei Frauen – und erweiterten so die Grenzen des Zeigbaren; Illustrated Police News 7. 8. 1886. jungen Ehe mit einem anderen Mann namens Forster dauerhaft sexuell verkehrt hatte. Die Zeitungen druckten die Beschreibungen dieser Vorwürfe dabei erneut in erstaunlich direkten Worten ab – wie „He made love to me“ oder „who used to sleep with him“.132 Visuelle Darstellungen deuteten die Zärtlichkeiten und den Verkehr zu dritt an sowie die Personen, die Häuser und die Räume, in denen der Ehebruch stattfand (vgl. Abb. 5).133 Das Gericht schloss sich diesem Vokabular ebenfalls an. Im Urteil sprach es von „Frenchfried orgies“ und Mrs. 132 133 Zit. Daily Telegraph 21. 7. 1886, S. 2. Vgl. etwa Illustrated Police News 31. 7. 1886 u. 7. 8. 1886. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 187 Crawford des Ehebruches mit Dilke für schuldig, obwohl Dilke in verschiedenen Punkten unwahre Beschuldigungen ausmachen konnte. Dilke war damit öffentlich als ein Politiker gebrandmarkt, der mit diversen Frauen verkehrt hatte. Erst nach diesen Enthüllungen schwand Dilkes öffentlicher Rückhalt auch in der liberalen Presse fast ganz. Lediglich der Daily Telegraph unterstützte Dilke noch, indem er Mrs. Crawford beschuldigte, einen der talentiertesten Liberalen und angehenden Prime Minister aus der psychopathischen Lust heraus gestürzt zu haben, die eigenen Sünden zu bekennen. Da ihre Mutter bereits Ehebruch betrieben habe, sei dies durch ihr Elternhaus beeinflusst.134 Diese Bewertung vermengte das bei Skandalen oft benutzte Narrativ der Wahnsinnigen mit dem neuen Bild der sexuell aktiven Frau, die nicht bloß die Verführte war. Die liberale Daily News, mit der Dilke seit den 1870ern ein gutes Verhältnis gepflegt hatte und die ihn bisher unterstützt hatte, sah ihn trotz seiner Talente politisch und sozial ruiniert – wegen seiner Verstöße gegen „the obligations of friendship, the precepts of morality“ und „the primary instincts of decency, and the sanctity of family.“135 Dilke erschien als Bedrohung für das soziale Gefüge der Gesellschaft, weshalb er aus der politischen Öffentlichkeit treten müsse. Die Protektion von der Parteipresse verschwand somit. Noch deutlicher fiel das Urteil der radikal-liberalen Reynolds’s Newspaper aus, die ihn als Verführer, Lügner und Feigling verunglimpfte, der nicht Mitleid, sondern Strafe verdiene.136 Ähnlich wie bei den Homosexualitätsskandalen konstruierte sie damit das Narrativ des mächtigen männlichen Verführers, gegen den sich gerade junge Frauen nicht wehren könnten. Das differenzierteste Urteil fällte dagegen, für Außenstehende sicherlich erstaunlich, Stead in der Pall Mall Gazette. Stead hatte auch während des Prozesses den engen Austausch mit Dilkes Frau bewahrt und ihr noch am ersten Prozesstag vorhergesagt, dass Dilke in der öffentlichen Meinung, egal wie der Prozess ausgehe, an Ansehen gewinnen werde.137 In seinem Zeitungskommentar kam Stead zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Dilke doch die Wahrheit gesagt habe, durch den Prozess gestiegen sei. Dennoch sei er für eine weitere politische Karriere nicht mehr geeignet, da zuviel gegen ihn spreche, um ihn als Mann der Wahrheit mit reinem Leben zu sehen.138 Zumindest zeigte Steads abgewogene Haltung, wie sehr es sich für Dilke gelohnt hatte, eine Kooperation mit dem skandalisierenden Journalisten zu suchen. Die breite öffentliche Empörung über die Enthüllungen ließ für Dilke keinen anderen Entschluss zu, als wenige Tage später den Liberalen seines Wahlkreises 134 135 136 137 138 Daily Telegraph 24. 7. 1886, S. 5. Daily News 24. 7. 1886, S. 4. Zu Dilkes Kontakten zur Daily News vgl. etwa; „He [Henry Lucy/Daily News] has put in what I told him“; Dilke an Chamberlain 1. 6. 1886, in: BL, Add. Ms. 49610:28. Zu Dilkes Kontaktpflege zu dem Editor Frank Harrison Hill seit 1870 vgl. seine Briefe in: BL, Add. Ms. 43898. Reynolds’s Newspaper 25. 7. 1886, S. 4. Stead an Mrs. Dilke 14. 7. u. 21. 7. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:271 u. 274. Pall Mall Gazette 24. 7. 1886, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 188 III. Ehebruch als Politikum seinen Rückzug anzukündigen, wobei er abermals seine Unschuld und die Voreingenommenheit des Gerichtes beteuerte. Das drei Monate später vom Wahlkreis aufgebrachte Angebot, doch wieder zu kandidieren, lehnte er ab, da er erst wieder ins politische Leben zurückkehren wolle, wenn seine Unschuld geklärt sei.139 In seinem engsten politischen Umfeld war Dilke trotz dieser Vorwürfe allerdings keine ausgestoßene Person. Sein alter Parteifreund Chamberlain hielt weiter zu ihm, obwohl dieser nun politisch mit den Konservativen kooperierte. Rückhalt fand Dilke weiterhin beim vormaligen Premierminister Gladstone. Gladstone bezeichnete in seinem Tagebuch, trotz seiner großen Frömmigkeit, die Zeitungsberichte als erbärmlich, verfluchte den Prozess als Heuchelei und hatte Mitleid mit ihm.140 Bei dem neuen Premierminister Salisbury und der Queen setzte er sich deshalb dafür ein, dass Dilke vorerst weiter im Privy Council (Kronrat) bleiben konnte.141 Ob Dilke tatsächlich „schuldig“ war, ist aus den Quellen nicht zu klären und hier nicht unbedingt von Interesse. Die beiden biographischen Studien zu Dilke, die gerade diese Frage bereits intensiv diskutierten, gehen wegen der Widersprüchlichkeit der Anschuldigungen von seiner Unschuld aus. Roy Jenkins vermutet, dass Dilke allenfalls vor der Ehe eine Affäre mit Mrs. Crawford hatte und deshalb vor Gericht so zurückhaltend war, zumal er die Thematisierung weiterer Frauenaffären vermeiden wollte.142 David Nicholls sieht Dilke als Opfer zweier Frauen: Mrs. Crawford wollte unter Nennung von Dilke ihren Mann loswerden, um ihren eigentlichen Geliebten Forster zu schützen und zu heiraten, während ihre Freundin sich von Dilke fallen gelassen fühlte und sich deshalb rächte.143 Beide Vermutungen weisen implizit auf einen grundsätzlichen Punkt hin: Selbst wenn ein Politiker gegenüber der Anklage unschuldig war, riskierte er vor Gericht, dass im Kreuzverhör andere außereheliche Amouren öffentlich wurden. Schuldig erschien danach fast jeder Mann, und das Kreuzverhör war bereits der Schuldspruch. Gerade dies unterschied den Skandal von früheren Fällen wie um Premierminister Melbourne, bei dem der Prozessverlauf und der Medientenor noch vergleichsweise kontrollierbar erschienen. Nun stand den beteiligten Zeugen, Richtern und Journalisten eine öffentliche Sprache zur Verfügung, mit der sich selbst sexuelle Normbrüche bürgerlicher Honoratioren beschreiben ließen. Der Skandal prägte Dilkes weiteres Leben. Wie die meisten Skandalopfer ging er zunächst mit seiner Frau einige Zeit nach Frankreich, kehrte dann aber zurück, obwohl oder gerade weil ihm die Times riet, ganz auszuwandern, „to spare 139 140 141 142 143 Dilke an Osborn in: Times 26. 10. 1886, S. 7. Vgl. Tagebucheinträge Gladstone 21. 7. und 23. 7. 1886, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 597 f. Gladstone an Herschell 24. 7. 1886 und Gladstone an Salisbury 1. 8. 1886, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 598 u. 601. Jenkins, Dilke, S. 366 f. Nicholls, Dilke, S. 205. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 189 the public another demoralizing inquiry.“144 Die Befürchtung, wegen Meineids verurteilt zu werden, spielte für die Auslandsreise vermutlich auch eine Rolle.145 In den nächsten Jahren schrieb Dilke vereinzelte Abhandlungen für amerikanische Zeitschriften, beschäftigte sich aber vor allem damit, Beweise für seine Unschuld zu sammeln, um sein politisches Comeback einzuleiten.146 Auch wenn Dilke sich aus dem Londoner Clubleben zurückzog, wurde er von den Liberalen nicht ganz ausgegrenzt. Er nahm, argwöhnisch von der Times beobachtet, an Veranstaltungen seines alten Wahlkreises teil und wurde umworben, Mitglied des Londoner City Council zu werden.147 Schließlich wurde er bereits 1889 zum Vorsitzenden der Liberalen im westenglichen Wahlbezirk Forest of Dean gewählt, obwohl er sein neues Beweismaterial nicht öffentlich gemacht hatte und von einem erneuten Prozess absah.148 1890 trat er mit einem „Radical Programme“ hervor, das sich unter anderem für den Acht-Stunden-Tag stark machte, und 1891 bereitete er eine Kandidatur für das Unterhaus vor. Damit begann der Kampf zwischen dem moralisierenden Journalisten und dem sündigen Politiker erneut. W.T. Stead startete sofort eine erneute Kampagne gegen Dilkes Rückkehr ins Unterhaus. Er schrieb Artikel und Broschüren dagegen, veranstaltete Protestkundgebungen und sammelte Unterschriften von Geistlichen.149 Ebenso protestierte Stead mit dramatisierenden Briefen an Gladstone, die Dilke unter anderem mit Jack the Ripper verglichen („he can no more be regarded as a fit person for whom electors can vote or whom politicians can recognize than Jack the Ripper“150). Konservative Zeitungen wie die Times unterstützten ihn mit Kommentaren und dem Abdruck von Protesterklärungen von Prominenten: Jeder, der wegen Ehebruchs juristisch überführt sei, dürfe ebenso wenig in das öffentliche Leben zurückkehren wie jemand der Löffel geklaut habe.151 Stead beschuldigte in seinen Artikeln Dilke einerseits des Meineides, weshalb er kein Vertrauen verdiene. Andererseits zog er das in seiner Maiden-Tribute-Kampagne etablierte Narrativ des Kinderverführers heran, um ihn zu diskreditieren („she was a child-wife of eighteen when he ruined her“).152 144 145 146 147 148 149 150 151 152 Times 24. 7. 1886, S. 11. Dilke sah sich gerade durch den Times-Artikel angespornt, doch zu bleiben („It is quite impossible that I should do so after the Times article of to-day bidding me to do so […]“). Dilke an James 24. 7. 1886, in: BL, Add. Ms. 49610:74. Vor allem Chamberlain drängte ihn deshalb, ins Ausland zu gehen; vgl. Chamberlain an Dilke 27. 7. 1886, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 5/24/495. Vgl. das umfangreiche Material, das er nach Juli 1886 zusammentrug, jetzt in den Ordnern in: BL Dilke Papers, Add. Loan 119/1, 2 und 3. Times 5. 12. 1887, S. 6; Times 5. 10. 1888, S. 6. Times 6. 3. 1889, S. 8. Vgl. etwa: W. T. Stead, Has Charles Dilke Cleared his Character? An Examination of the Alleged Commission, o. D. (London 1891); ders., Private Morals and Public Life, in: Review of Reviews, April 1891, S. 336. Stead an Gladstone 17. 7. 1891, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:357. Vgl. auch Steads Memorandum für Gladstone 10. 5. 1892, in: CAC, Sted 1/20. Times 6. 3. 1891, S. 10 und 17. 6. 1891. Zit. Stead, Has Charles Dilke cleared his Character?, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 190 III. Ehebruch als Politikum Offensichtlich fürchtete Stead, dass durch Dilkes Rückkehr ein Präzedenzfall geschaffen würde, der Ehebruch oder ähnliche Normverstöße legitimierte und dadurch auch anderen Politikern, denen mittlerweile ähnliches vorgeworfen wurde, das Tor zur Fortführung der politischen Karriere öffnete. Dilke gelang jedoch trotz dieser erneuten Kampagne 1892 der Einzug ins Parlament. Er gewann seinen Wahlkreis mit einem großen Vorsprung und konnte ihn bis zu seinem Tod 1911 fünf Mal verteidigen. Steads Kampagne beantwortete er mit einer Grußadresse von fast 10 000 Unterschriften, die seinen Einzug ins Parlament befürworteten.153 Das Wahlergebnis und die Bereitschaft der Liberalen, Dilke zu tolerieren, zeigte somit deutlich, dass die Beteiligung am Ehebruch zumindest langfristig als verzeihlich galt. Der Vorwurf des Ehebruches hatte somit in keiner Weise eine ähnliche Ausgrenzungsfunktion wie die Homosexualität. Ebenso unterstrich das Wahlergebnis, dass selbst die Kampagnen eines Starjournalisten wie Stead auf Dauer keine allmächtige Wirkung hatten. Obgleich Dilke gelegentlich mit Reden an die Öffentlichkeit trat, blieb er allerdings ein Hinterbänkler, der nicht mehr als Minister berücksichtigt wurde.154 Dilkes Rückkehr in die Politik hatte damit eine neue Grenze des Tolerierbaren geschaffen, die, wie noch zu zeigen sein wird, auch 1891 für den Irenführer Charles Stewart Parnell galt: Ein Politiker mit dem Makel des Ehebruches durfte in der Politik bleiben, aber eben nur in der zweiten Reihe. Der Skandal um Charles Dilke trug somit entscheidend dazu bei, das Thema Ehebruch im politischen Diskurs zu verankern. Insbesondere W. T. Stead versuchte nach dem großen Erfolg, den er 1886 mit Dilkes Rücktritt erreicht hatte, dieses Moralpostulat generell im öffentlichen Raum zu verankern. So bekämpfte er den konservativen Abgeordneten Francis Charles Hughes-Hallett, weil dieser angeblich eine Affäre mit der Schwester seiner Frau hatte.155 Ein vergleichbarer Skandal wie bei Dilke blieb jedoch nicht nur aus, weil Hughes-Hallett weniger prominent war, sondern weil es zu keinem Scheidungsprozess kam.156 Zur Deeskalierung trug auch bei, dass Hughes-Hallett nach zusätzlichen finanziellen Unregelmäßigkeiten ins Ausland ging und darauf stillschweigend ein Nachfolger gewählt wurde.157 Ebenso fließend waren 1886 die Übergänge zwischen dem Skandal um Dilke und dem Scheidungsskandal um das adligen Ehepaar Campbell, der denkbar große mediale Aufmerksamkeit erhielt. Obgleich 153 154 155 156 157 Times 17. 6. 1891, S. 5. Diamond, Victorian Sensation, S. 134, erwähnt Dilkes Rückkehr ins Unterhaus mit dem Hinweis, die Times hätte ihn boykottiert und nie über seine Reden berichtet, was so nicht stimmt; vgl. etwa Times 17. 12. 1895, S. 6 oder 9. 4. 1896, S. 7. Vgl. zum weiteren Lebensweg auch: Jenkins, Dilke, S. 385–404. Vgl. dazu auch rückblickend: Stead, The Discrowned King, Nov. 1890, in: BL, Add Mss 56448: 108. Lediglich ein Verleumdungsprozess gegen ein Blatt namens Society Herald entstand, das dem Bruder der Liebhaberin Feigheit vorgeworfen hatte, weil er ihre Ehre nicht per Duell verteidigt habe; Times 5. 11. u. 16. 11. 1887, S. 10 u. 4. Times 25. 3. 1889, S. 6. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Die Verengung der moralischen Normen 191 die adligen Ehebruchsgeschichten keine politische Bedeutung im engeren Sinne hatten, prägte gerade dieser Fall zusammen mit dem Dilke-Skandal das gesellschaftliche Selbstverständnis der späten 1880er Jahre. Inwieweit diese Ehebruchsskandale das Selbstverständnis der spätviktorianischen Gesellschaft beeinflussten, lässt sich an drei Punkten bilanzieren. Die Skandale trugen erstens mit dazu bei, dass die Ehe als Lebensform öffentlich hinterfragt und diskutiert wurde. Vor allem die Westminster Review eröffnete eine entsprechende Debatte, und die im Daily Telegraph im August 1888 aufgeworfene Frage an die Leser „Is marriage a failure?“ erhielt immerhin 27 000 Zuschriften. Dies zeigte das große Bedürfnis, diese anscheinend nicht mehr als unproblematisch angesehene Form des Zusammenlebens zu diskutieren.158 Bemerkenswerter Weise kamen viele Zuschriften von Frauen. Zweitens hatte der Fall Dilke ebenso wie andere Scheidungsfälle öffentlich verdeutlicht, dass auch bürgerliche Frauen der viktorianischen Zeit durchaus eigenständige sexuelle Bedürfnisse hatten und diese mitunter trotz ihrer Heirat auch jenseits der Ehe auslebten. Virginia Crawford wurde zwar einerseits als passives Opfer der männlichen Verführung gesehen, erschien aber zugleich, nicht zuletzt durch die Aufdeckung ihrer anderen Affären, als aktive Liebhaberin, die selbstbewusst die männliche Doppelmoral anklagte. Obgleich Teile der Öffentlichkeit sie in traditioneller Weise als Hysterikerin ausgrenzten, galt sie nicht nur in der entstehenden Frauenbewegung als Vorbild. Auch ihre weitere publizistische Karriere belegt, dass sich derartige Frauen nicht einfach marginalisieren ließen.159 1889 brachte ein Mordprozess, bei dem eine Ehefrau genauso wie ihr Mann fremdgegangen war, die Diskussion erneut in die Öffentlichkeit, und abermals mobilisierte das Urteil die Frauenbewegung gegen die männliche Doppelmoral.160 Drittens führte der Dilke-Skandal zu einer erneuten Debatte darüber, inwieweit Presseberichte über Scheidungsprozesse zulässig seien und welche Folgen sie für die Leser haben würden. Gerade prominente Freunde von Dilke – wie William Gladstone und Kardinal Manning – traten in offenen Briefen mit Unterschriftensammlungen dafür ein, Details solcher Prozesse nicht mehr zu drucken, da die Zeitungen mittlerweile für Jugendliche ungeeignet seien.161 Die Angst vor einer weiteren Diskreditierung der gesellschaftlichen Elite dürfte ebenfalls für diesen Vorschlag gesprochen haben. Während die Times den Kompromissvorschlag der Regierung unterstützte, dass nur noch über das Ergebnis der Prozesse berichtet werden dürfe, protestierte Stead aus genau diesem Grund gegen entsprechende Einschränkungen. Eine derartige Zensur sah er als „euphe158 159 160 161 Vgl. Sheila Rosenberg, Encounters in the Westminster Review: Dialogues on Marriage and Divorce, in: Brake und Codell (Hrsg.), Encounters in the Victorian Press, S. 119–137. Letzteres betont: Kali Israel, French Vice and British Liberties: Gender, Class and Narrative Competition in a Late Victorian Sex Scandal, in: Social History 22 (1997), S. 1–26. Zum Maybrick-Prozess vgl. Georg Robb, The English Dreyfus Case: Florence Maybrick and the Sexual Double-Standard, in: Erber und Georg Robb (Hrsg.), Disorder in the Court, S. 57–77. Times 3. 1. 1887, S. 8. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 192 III. Ehebruch als Politikum mism to hush up scandals in high life“.162 In dieser Debatte sprach sich bezeichnender Weise auch Josephine Butler, der Kopf der britischen Frauenbewegung, gegen eine Einschränkung der Berichterstattung über Scheidungen aus. In der Veröffentlichung des Geheimen sah sie – ganz in der alten, religiös geprägten Semantik des Öffentlichkeitsbegriffes – eine heilsame Kraft: I believe we have arrived at that period of the world’s history when we see with our eyes the fulfilment of Christ’s words: ,Beware ye of the heaven of the Pharisees, which is hypocrisy. For there is nothing covered which shall not be revealed; neither hid that shall not be known. […]‘ At the first hit we see only the horror and evil effects of such exposure, but I truly believe that full light shed upon these things is an essential element for their destruction.163 Selbst die explizite Benennung des Ehebruches sollte damit der Reinigung der Gesellschaft dienen. Gerade diese religiös aufgeladene Vorstellung einer allwissenden Presse, die die Menschheit veredelte, prägte auch Steads Kampagnen. Dass es trotz der Skandale Ende der 1880er Jahre zu keiner Einschränkung der Öffentlichkeit kam – weder bei den Gerichtsverhandlungen noch in den Zeitungen – lag somit auch daran, dass die Scheidungsberichte eben nicht nur als Zeichen des moralischen Verfalls gesehen wurden, sondern zugleich der moralischen Aufklärung und Kontrolle dienen sollten. 3. IRISH HOME RULE und Ehebruch Ende der 1880er Jahre vermischten sich in Großbritannien die Stränge zahlreicher Skandale. Ein Knotenpunkt, an dem sie zusammenliefen, war der Ehebruchsskandal um den Irenführer Charles Stuart Parnell. Wie die breite Öffentlichkeit 1890 im Zuge eines Scheidungsprozess erfuhr, hatte Parnell gut neun Jahre lang eine Liebesaffäre mit der Frau des liberalen Abgeordneten William O’Shea gepflegt, mit dem er zunächst freundschaftlich verbunden war.164 Die Enthüllung knüpfte damit direkt an den Skandal um Dilkes Ehebruch an und griff die dort etablierten moralischen Maßstäbe und Vorstellungen auf. Er war ebenso eine Replik auf die Homosexualitätsskandale, mit denen die Iren seit dem Dublin Castle-Skandal ihre moralische Überlegenheit gegenüber den Engländern herauszustellen versuchten. Vor allem aber war der Skandal eine Fortführung jener Kampagne, die die Times 1887 gegen Parnell begonnen hatte, als 162 163 164 Times 4. 2. 1887, S. 9; Stead zit. nach: Schults, Crusader, S. 202. Josephine Butler, Should Divorce Cases be Reported?, in: Pall Mall Gazette 25. 1. 1887, S. 12. Zu Parnells Biographie und zum Ablauf des Falles vgl. die populären, aber mit Aktenkenntnis geschriebenen Darstellungen: Francis Steward Lyons, Charles Stewart Parnell, London 1977; Robert Kee, The Laurel and the Ivy. The Story of Charles Stewart Parnell and Irish Nationalism, London 1993; Joyce Marlow, The Uncrowned Queen of Ireland. The Life of Kitty O’Shea, London 1975. Weniger ergiebig ist der schmale populärwissenschaftliche Band: Margery Brady, The Love Story of Parnell and Katherine O’Shea, Dublin 1991. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 193 sie ihm mit gefälschten Briefen eine Tolerierung von politischen Morden unterstellte.165 Während die vorherigen Skandale die Position der irischen Nationalisten erheblich gestärkt hatten, bescherte dieser Skandal ihnen einen fundamentalen politischen Rückschlag. Beim Ehebruch-Skandal um Parnell war der sexuelle Normverstoß noch stärker als bei den vorherigen Skandalen mit politischen Kontroversen verknüpft. Parnell galt Ende der 1880er Jahre längst als „uncrowned king“ Irlands. Wie bereits skizziert, hatte Parnell zunächst als Vorsitzender der Irish Land League die Landbevölkerung hinter sich gebracht, den irischen Nationalismus organisiert und im Unterhaus unter seinem Vorsitz die unterschiedlichen Strömungen der irischen Nationalisten zu einer schlagkräftigen Irish Parliamentary Party geeint. In dieser Rolle begann er die irische Home Rule auszuhandeln, die den Iren eine verstärkte Autonomie bescheren sollte. Nachdem Gladstones Kabinett bereits 1886 wegen der Irlandfrage auseinander gebrochen war, versprach der informelle Austausch zwischen Parnell und Gladstone nun Anfang 1890 eine gemeinsame Lösung, als der Skandal ausbrach. Die politische Brisanz des drohenden Skandals ergab sich zudem aus der politischen Verflechtung der Liebesbeziehung. Der betrogene Ehemann William O’Shea wusste bereits seit Anfang der 1880er Jahre von der Affäre, reichte aber dennoch zunächst keine Scheidung ein, sondern drängte den Irenführer nur, nicht mehr in seiner Abwesenheit das Haus zu betreten, „since it would be sure at least, sooner or later, to cause scandal.“166 Parnell dementierte diese Vorwürfe jeweils („I do not know of any scandal or any ground for one“), war sich aber spätestens seit Dilkes Skandal der Gefahr bewusst. Die Drohung mit dem Skandal führte zu einem politischen Kuhhandel. Nahezu zeitgleich zum Dilke-Skandal begann Parnell öffentlich O’Shea zu fördern und verschaffte ihm trotz Protesten aus seiner Partei einen sicheren Wahlkreis, was dem Irenführer missmutige Kommentare seiner Parteikollegen bescherte.167 Dass O’Shea nicht früher die Scheidung einreichte, lag insofern sowohl an seinem politischen Opportunismus als auch an seinem finanziellen Interesse an einer Erbschaft seiner Frau.168 Diese 165 166 167 168 Zu letzterem Fall vgl. ausführlich Kap. V. 1. O’Shea an Parnell 4. 8. 1884, Antwort 7. 8. 1884, abgedruckt in Prozessberichten: Daily News 16. 11. 1890, S. 3. Vgl. etwa zur öffentlichen Unterstützung O’Sheas die zeitgleiche Meldung: Pall Mall Gazette 11. 2. 1886, S. 10. Zur Kritik etwa Dillon an O’Connor 8. 2. 1886, in: Trinity College Dublin, NL Dillon Ms. 6740. Letzteres Argument führten die Biographen von Parnell an: Der verschuldete O’Shea habe auf eine Erbschaft von der Tante seiner Frau gewartet, um für eine Trennung ohne Prozess eine hohe Summe auszuhandeln; Lyons, Parnell, S. 459. Dies Erbe führte jedoch auch Katherine O’Shea ihrem Mann gegenüber an, als er eine stille Trennung 1886 anbot, verband dies aber mit „the risk of consequences as far as my aunt is concerned“ und schloss Briefe damit ab: „I have to go to my aunt in money matters.“ Briefe abgedr. in: Times 17. 11. 1890, S. 3. Ebenso zeigen dies neue Quellenfunde, die ich im Archiv der National Library in Dublin machte; vgl. K. O’Shea an W. O’Shea 17. 4. 1887, in: NLI, MS 35. 982. Allerdings verwies Mrs. O’Shea auch auf die politischen Absprachen: „I was sure there would be no end to their spite after your Galway success.“ K. O’Shea an W. O’Shea, Mai 1886, abgedr. in den Prozessprotokollen, etwa: Daily News 16. 11. 1890, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 194 III. Ehebruch als Politikum wechselseitige politische Abhängigkeit betonte auch O’Shea offensiv, etwa in einem Brief von 1887, nachdem sein Sohn Parnell im Haus seiner Mutter überrascht hatte: „You say what kind favours have been shown to me by Mr. Parnell and you convey that I am under obligations to him. The fact is the absolute reverse.“169 Denn spätestens nach Dilkes Skandal war auch O’Shea bewusst, welches Drohpotential ein Ehebruchsskandal bergen konnte. Die irischen Parlamentskollegen und Journalisten wussten frühzeitig um diese Liebesbeziehung und ihre politischen Konsequenzen. So schrieb der irische Abgeordnete Timothy Daniel Sullivan bereits im Februar 1886 (also zeitgleich zum Dilke-Skandal und Parnells Wahlkreisunterstützung für O’Shea), wenn Parnell die Beziehung zu O’Shea nicht beende, gefährde dies seinen Vorsitz. Ebenso zeigte sich die Angst, Irlands Schicksal hänge durch die Vermischung von Privatem und Politischem von einer Frau ab: „I wish the party ruled by Parnell but not by Mrs. O’Shea.“170 Andere Iren erwiesen sich toleranter und beurteilten Parnells Liebesleben „as good or better than either of the gentlemen usually spoken of as aspirants for his place“.171 Nicht akzeptabel erschien jedoch auch hier, wenn Politiker sich durch Frauen beeinflussen ließen.172 Premierminister Gladstone hingegen nutzte gerade dieses vertraute Verhältnis zwischen dem Liebespaar und tauschte durch seine regelmäßige Korrespondenz mit Katherine O’Shea indirekt Einschätzungen mit Parnell aus.173 Da in diesen Briefen wesentliche Bestandteile einer künftigen Home Rule ausgehandelt wurden, agierte die Geliebte tatsächlich in einer erstaunlich wichtigen politischen Rolle, da sie Parnells Sichtweisen indirekt übermittelte. Bereits vor dem Scheidungsprozess deuteten einzelne Zeitungen die Affäre an. Erneut spielte der Enthüllungsjournalist W.T. Stead eine herausragende Rolle. Seine Agitation gegen Parnell setzte fast zeitgleich zum Dilke-Skandal mit vorsichtigen Anspielungen ein, die zumindest die Beteiligten und die politische Elite verstanden. So berichtete Stead etwa am gleichen Tag, als er seine große Kampagne zum Rücktritt von Dilke startete, unter der Überschrift „Confidence in Mr. Parnell“, O’Shea beteuere „[...] his full and perfect confidence in the patriotism, wisdom and fidelity of our great leader Mr. Parnell“.174 Das Treuebekenntnis war dabei durchaus doppeldeutig zu verstehen. Wenige Monate danach meldete Stead unter der Überschrift „Mr. Parnell’s Suburban retreat“ einen kleinen Unfall von Parnell in Eltham: „During the sitting of Parliament the Hon. Member for Cork usually takes up his residence at Eltham, a suburban 169 170 171 172 173 174 O’Shea an Pym 22. 4. 1887, in: NLI, MS 35. 982. T.D. Sullivan an Joseph Biggar 11. 2. 1886, in: UCD, P 6 B 10. Kenny an Dunne 14. 1. 1888, in: NLI, NL Dunne Ms 10946: 7. Vgl. über O’Brien: „I think he is not too bad personally, but is one kind of those fellows to be influenced by woman and rogues like Sal. [Salisbury].“ In: ebd. Vgl. allein die gut 200 Briefe zwischen Gladstone und Mrs. O’Shea in: BL NL, Gladstone Add. Mss. 44269, 75–313, „[…] express his full and perfect confidence in the patriotism, wisdom and fidelity of our great leader Mr. Parnell“ Pall Mall Gazette 13. 2. 1886, S. 9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 195 village in the south-east London. From here he can often be seen taking riding exercise round by Chislehurst and Sidcup.“175 Da viele Parlamentarier und Journalisten wussten, dass in diesem Ort das Ehepaar O’Shea wohnte, war zumindest für diese Leser der Hinweis auf den „retreat“ und die „riding exercise“ doppeldeutig. Offensichtlich wollte Stead abermals einen Skandal auslösen, ohne selbst als Skandalisierer aufzutreten oder das Risiko einer Falschmeldung einzugehen. Es folgten weitere Artikel über Parnell und O’Sheas wandelndes politisches Verhältnis. Parnell sah er als humorlosen, kühl kalkulierenden Kopf („a mystery-man of modern politics“), der einst mit einer Stimme Mehrheit gewählt worden sei – mit der von O’Shea. Heute seien die Iren dagegen unter Parnell politisch vereint, nur eine kleine Meuterei sei durch O’Shea begonnen worden, die Parnell aber gleich beendet habe.176 Durch diese spielerischen Andeutungen versuchte Stead 1886 zweifelsohne, eine Reaktion der beteiligten Politiker herauszufordern. O’Shea stellte nach dem Artikel im Mai tatsächlich sofort seine Frau zur Rede, und auch Parnell musste sich ihm gegenüber mit der Ausrede rechtfertigen, er besitze neuerdings Pferde in dieser Gegend. O’Shea verzichtete jedoch abermals auf einen Scheidungsprozess, gab aber seinen Parlamentssitz auf, den er Parnell verdankte. Um von weiteren Artikeln verschont zu bleiben, sprach O’Shea Ende 1886 persönlich mit Stead und versicherte ihm, das Gerücht über die Affäre würde nicht stimmen.177 Stead stoppte daraufhin die Andeutungen über den Ehebruch. Wie im Fall Dilke war der Journalist anscheinend durch einen persönlichen Austausch zumindest phasenweise zu besänftigen. Zurückhaltender als bei Dilke war Stead aber sicherlich auch, weil er die Home Rule unterstützte. Die anderen großen Zeitungen hielten sich mit Andeutungen über Parnells Ehebruch 1886 ganz zurück. Nur wenige Blätter gaben vorsichtige Hinweise. Die Sussex Daily News berichtete Anfang Oktober 1886, dass Parnell mit Frau O’Shea in Eastbourne war.178 Ebenso bezeichnete ein Freund von Tim Healy, dem wichtigsten Parnell-Rivalen, ihn in der New York Times als „the despicable creature for whom Mr. Parnell in his ruinous infatuation created that ruinous split in the Irish party at Galway three years ago.“179 Selbst die Times, die wohl politisch hartnäckigste Gegnerin des Irenführers, beteiligte sich an dem erpresserischen Spiel nur ausnahmsweise, indem sie andeutete, dass Parnell sich unter falschen Namen ein Haus gemietet hatte und nach den Gründen dafür fragte.180 Ihr Kommentar verband dies zwar nicht mit dem Hinweis, dass es dem Treffen mit seiner Geliebten diente, stellte aber immerhin anspielungsreich 175 176 177 178 179 180 Pall Mall Gazette 24. 5. 1886, S. 8. Pall Mall Gazette 21. 12. 1886, S. 1. So Stead, The Discrowned King, S. 10, in: BL, Add Mss 56448: 109. Review of Reviews Nov. 1890, S. 599–601. Sussex Daily News 9. 10. 1886. Vgl. hierzu die Prozessberichte in: Daily News 16. 11. 1890, S. 3. New York Times 26. 10. 1888, zit. nach: Callanan, T. M. Healy, S. 243. Times 26. 11. 1887, S. 9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 196 III. Ehebruch als Politikum fest: „Mr. Parnell’s passion for retirement is well known […].“ Soweit ersichtlich, gingen jedoch selbst die Home-Rule-feindlichen Zeitungen den Gerüchten nicht nach. Die Skandalisierung des Ehebruches stieß somit auch nach dem Dilke-Skandal noch keine eigenständigen journalistischen Recherchen an. Solange der Ehebruch nicht dem Scheidungsrichter gemeldet wurde, blieb er von der Medienöffentlichkeit weitgehend geschützt. Einmal mehr zeigte sich, wie eng Skandale und Prozesse zusammenhingen. Der Journalist W.T. Stead schien dennoch weiterhin über eine Enthüllung von Parnells Ehebruch nachzudenken. Zumindest ist ein Brief von Reginald Brett überliefert, der Steads Gewissen prüft: „Are you sure about your ethical position (?) What higher obligation has man to man than to help him to save his life or his reputation (?) If Parnell was a woman, would you keep silence? Perhaps you alone have the clue which will help him to prove his innocence. This you deny him. Can you justify it?“181 Tatsächlich blieben entsprechende Enthüllungsartikel aus. Anscheinend ließ Stead sich überzeugen, dass ein erneuter Ehebruchskandal moralisch nicht vertretbar sei, was abermals die Grenzen des angeblich zügellosen Sensationsjournalismus deutlich machte. Dies ist umso bemerkenswerter, da von Seiten der Unionisten zunehmend Gerüchte über Parnells Affäre kursierten, was nicht zuletzt an O’Shea selbst lag. Denn dieser intensivierte in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre seinen Kontakt zu Joseph Chamberlain, der zu den schärfsten Gegnern von Parnells Home Rule-Politik gehörte.182 Nicht nur der einstweilige Fortbestand der Ehe, sondern auch der Ausbruch des Skandals war folglich mit politischen Entwicklungen verbunden. O’Shea versorgte Chamberlain frühzeitig mit kompromittierenden Informationen über Parnell.183 Unmittelbar nach O’Sheas Aussage gegen Parnell in dem Untersuchungsausschuss zu den Times-Vorwürfen weihte O’Shea Chamberlain nicht nur ein, sondern bat ihn, vorerst diese Vorwürfe nicht zu publizieren, bis das Erbe einer 98 Jahre alten Tante für die Kinder gesichert sei.184 Chamberlain gab sein Wissen anscheinend informell dennoch an 181 182 183 184 Es ist allerdings nicht ganz klar, ob dies auf die Liebesaffäre oder die Kampagne der Times bezogen ist; der Hinweis auf „If Parnell was a woman“ spricht m.E. für ersteres; Brett an Stead 17. 10. 1888, in: CAC, Sted 1/25. Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen Chamberlain und O’Shea in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1. Vgl. zudem die Briefe, die über vertrauliche Treffen seit 1881 berichten, in: NLI, Ms 5752. So denunzierte er 1885 Parnell, dieser würde Dynamitanschläge nicht ablehnen; O’Shea an Chamberlain 2. 3. (1885), in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/38. Ende 1887 kam O’Shea zu Labouchere und las ihm Briefe von Parnell vor, dessen Inhalt laut Labouchere „rather compromising“ sei; wohl aber nicht zur Liebesaffäre; Labouchere an Dilke 30. 12. 1887, Abschrift, in: BL, NL Dilke Add. Ms. 43940:169. 1888 trafen sich Chamberlain und O’Shea nach O’Sheas Aussage vor der Parnell-Commission, da er noch „other causes of anxieties“ habe; Chamberlain an O’Shea 2. 11. 1888, in: NLI, Ms. 5782. O’Shea an Chamberlain 3. 11. 1888, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/115. O’Shea teilt hier vor seiner Abreise Chamberlain mit, dass seine Frau und Parnell schriftlich versichert hätten, keinerlei Kontakt zu haben: „I daresay a great many people have some notion of Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 197 Journalisten weiter. Ein Journalist von der Daily Post berichtete etwa später, Chamberlain habe ihm auf die Frage geantwortet, warum Parnell O’Shea bei seinem Wahlkreis unterstütze: „Oh, he sleeps with O’Shea’s wife.“185 Auch Henry Labouchere, dessen Blatt The Truth bei vielen Skandalen eine entscheidende Rolle spielte, erfuhr von Chamberlain „rather compromising“ Neuigkeiten über Parnell.186 Alfred Robbins von der Birmingham Daily Post erinnerte sich später, unionistische Politiker hätten ihn bereits Monate vor dem offiziellen Einreichen der Scheidung gefragt, welche Folgen wohl ein Scheidungsprozess für Parnell haben würde.187 Ob Chamberlain O’Shea im Rahmen dieser Vertraulichkeiten durch einen Kredit und die fortgesetzte Diskreditierung von Parnell entgegen kam oder ihm sogar einen Unterhaussitz versprach, kann nicht geklärt werden.188 Zumindest informiert O’Shea gleich nach dem Tod der reichen Tante Chamberlain über seine Scheidungspläne und die bevorstehende „full publicity of a scandal.“189 Dazu schickte er Chamberlain gleich Abschriften von Briefwechseln mit seiner Frau und Parnell. Der Weg zur irischen Selbstverwaltung, die Gladstone gerade mit Parnell aushandelte, wurde folglich durch das Bündnis eines betrogenen Ehemannes mit einem radikalen Gegner der Home Rule unterlaufen. Chamberlain bekräftigte O’Shea darin, statt einer außergerichtlichen Lösung einen Scheidungsprozess zu führen, der den Sturz von Parnell und der Home Rule versprach. Chamberlain begründete dies damit, dass derartiges in Zeiten der Pall Mall Gazette und des Star ohnehin nicht geheim gehalten werden könnte.190 Obgleich die Politiker die Presse verantwortlich machten, resultierte der Skandal somit durchaus auch aus einer politischen Intrige der Unionisten, die so ihr wichtigstes politisches Ziel durchsetzen wollten – die Verhinderung eines unabhängigen Irland. Der Zeitpunkt an dem O’Shea die Scheidung einreichte und so die Liebesaffäre in die Medien brachte, belegte dies ebenfalls: Dies erfolgte fast zeitgleich mit dem Treffen von Gladstone und Parnell am 18./19. Dezember 1889, als Gladstone hochzufrieden die baldige Umsetzung der Home Rule erwartete.191 185 186 187 188 189 190 191 the state of affairs, but I am most anxious for my children’s sake that nothing should be actually published, because of the very large fortune for them depend upon its not coming into print.“ An Gladstone 22. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 57. Der gleiche Journalist berichtete von dem Klatsch eines Lords darüber, dass Parnell immer die Rechnung bei O’Sheas Kaufmann begleiche, wenn er dort sei. Was dies meinte, blieb Dilke gegenüber offen; Labouchere an Dilke 30. 12. 1887, in: BL, NL Dilke Add. Ms. 43940:169. Alfred Robbins, Parnell. The Last Five Years, London 1926, S. 132 f. Zum Kredit: O’Shea an Chamberlain 23. 2. 1891, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/153. Den Kredit erwähnte mit Verweis auf die Erinnerung von Chamberlains Sohn bereits: Judd, Radical Joe, S. 145. O’Shea an Chamberlain 13. 10. 1889, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/127. „I fear that these things can not be hushed up in the days of the ,P.M. Gazettes‘ and ,Stars‘ and I am not sure that the boldest course is not always the wisest.“ Chamberlain an O’Shea 14. 10. 1889, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/129. Parnell selbst vermutete ebenfalls Chamberlain als treibende Kraft; Callanan, Healy, S. 243. Zum Treffen mit Parnell: Matthew, Gladstone, S. 563. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 198 III. Ehebruch als Politikum Dementsprechend divergierten die Zeitungsberichte über den bevorstehenden Scheidungsprozess je nach der politischen Ausrichtung. Die erste Meldung erschien, offensichtlich dank interner Hinweise, in dem Tory-Blatt Evening News Ende 1889. O’Shea gewährte ihm sogar ein Interview, bei dem er auf Nachfrage das Gerücht bestätigte, von dem der Reporter angeblich gerade erfahren hätte.192 Dieser Auftaktbericht war somit arrangiert. Während die konservativen Blätter bereits jetzt Parnells Schuld betonten und seinen Rücktritt forderten, äußerten sich die liberalen Zeitungen sehr zurückhaltend. Die Daily News vermerkte etwa nur knapp eine gewöhnliche Prozessankündigung. Auch die moralistischen liberalen Zeitungen, die eigentlich als „Sensationsblätter“ galten, hielten sich stark zurück. Die Pall Mall Gazette sah in den Scheidungsberichten nur den Versuch der Unionisten, den Schaden aus der fehlgeschlagenen Skandalisierung Parnells durch die Times wettzumachen. Auf eine gesonderte Berichterstattung hierzu verzichtete sie.193 Reynolds’s Newspaper meldete zwar das Gerücht, dass Parnell vorläufig zurücktreten wolle, berichtete dann aber von zahlreichen Zuschriften an Parnell, die seinen Verbleib forderten.194 Und Henry Labouchere trat in seinem vermeintlichen Sensationsblatt The Truth für eine Änderung des Scheidungsrechtes ein, das moderne Züge aufwies: Wenn zwei Partner sich scheiden wollen, sollten sie zwei Jahre getrennt leben und sich über die Zukunft etwaiger Kinder einigen.195 All dies zeigte, dass bei diesen Zeitungen politische Standpunkte wichtiger waren als moralische Empörung und kommerzielle Interessen. Die pro-irischen Blätter, wie der Star und das Freeman’s Journal, sahen direkt eine Verschwörung der irenfeindlichen Presse und verglichen in ihren Artikeln O’Shea mit der vorherigen Kampagne der Times gegen Parnell, deren gefälschte Quellen entlarvt worden waren.196 Die Times selbst hielt sich dagegen nach ihrer vorherigen Niederlage gegen Parnell ganz zurück. Erst mit Verspätung meldete sie unter Bezug auf eine Nachrichtagentur in einem Fünfzeiler, Parnell sei als co-respondent im Prozess O’Shea genannt.197 Intern witterte die Times jedoch in dem einsetzenden Skandal ihre große Chance, ihre im Parnellism-and-Crime-Prozess verlorene Reputation wieder zu gewinnen.198 Parnell selbst ging sofort in die Offensive. Per Interview wies er im irischen Freeman’s Journal alle Schuld zurück und bezeichnete den Fall als eine erneute Intrige der Times. Wie bei den gefälschten Briefen hätte der Times-Journalist 192 193 194 195 196 197 198 Evening News and Post 28. 12. 1889. Pall Mall Gazette 1. 1. 1890, S. 2 u. 14. 1. 1890, S. 4; Daily News 1. 1. 1890, 15. 1. 1890, S. 7 und 2. 2. 1890, S. 6. Reynolds’s Newspaper 5. 1. 1890, S. 5; Reynolds’s Newspaper 12. 1. 1890, S. 5. Zit. in: Star 1. 1. 1890, S. 2. Star 6. 1. 1890; zur Kampagne der Times vgl. Kap. V. 1. Für den Vergleich mit dem Fälscher Pigott mussten sich diese Blätter vor Gericht verantworten; vgl. Times 22. 1. 1890, S. 3. Times 3. 1. 1890, S. 6. Vgl. etwa: Times-Anwalt Morley an Harcourt 3. 2. 1890, der „horrid exposure“ erwartete; zit. nach: Marlowe, Uncrowned Queen, S. 218. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 199 Houston diese eingeleitet.199 Gerade weil den konservativen Medien nach der gescheiterten Parnellism and Crime-Skandalisierung Lügen zugetraut wurden und Parnell durch die Entlarvung der falschen Beschuldigungen an Ansehen gewonnen hatte, wirkte seine Aussage glaubwürdig. Auch intern versicherte er seinem politischen Umfeld, dass er siegreich aus dem Prozess herausgehen würde. Nach den zahlreichen Berichten Anfang 1890 hielten sich die Zeitungen bis zum Scheidungsprozess im November zurück. Damit zeigte sich erneut, dass die Zeitungen selbst in dieser Phase nicht eigenständig nach Sensationen recherchierten, sondern auf die bequem druckbaren Gerichtsberichte warteten. Intern spekulierten Politiker und Journalisten vor allem darüber, ob Parnell im Falle seiner Überführung zurücktreten müsse. Auch wenn sie mehrheitlich in diesem Fall seinen Rücktritt annahmen, erschien dies keineswegs selbstverständlich.200 Gegenüber seinem Parlamentskollegen versicherte Parnell bis kurz vor dem Prozess, er werde ihn unbeschadet überstehen. Vielleicht lag sein Optimismus darin begründet, dass er bis zuletzt glaubte, den betrogenen Ehemann durch eine hohe Summe von einem Prozess abzuhalten. Angeblich erhielt O’Shea noch am Morgen des Prozesstages ein indirektes Angebot von 60 000 Pfund, während er sich andererseits von Schlägern bedroht fühlte, die ihn belauern würden.201 O’Shea informierte über derartiges fortlaufend den Unionistenführer Chamberlain und streute jedes Gerücht und Detail der Prozessvorbereitung in die politische Sphäre der Irengegner.202 Privates und Politisches blieben damit eng verbunden. Der eigentliche Skandal setzte abermals erst mit dem Scheidungsprozess ein. Trotz des Zuschauerandranges sicherte das Gericht für möglichst viele Journalisten Plätze.203 Berichte über Parnells Ehebruch waren offensichtlich erwünscht. Tatsächlich fielen sie wieder expliziter aus als erwartet. Die Leser aller Zeitungen erfuhren über die abgedruckten Prozessaussagen, dass Parnell sich mit Katherine O’Shea sowohl in ihrem Haus als auch in fremden Wohnungen regelmäßig getroffen hatte, sich falsche Namen zulegte und vom Ehemann, seinem Sohn und dem Dienstpersonal gelegentlich überrascht worden war. Die zahlreichen Briefe, die im Prozess verlesen und in den Zeitungen abgedruckt wurden, veranschaulichten ebenso die lange währende Affäre. Sie zeigten abermals eine bürgerliche Frau aus einer angesehenen Familie, die selbstbewusst über mehrere Jahre ihren Ehemann betrogen und dies mit ihrem Mann recht offen besprochen hatte. Das Gericht bewilligte schließlich die Scheidung und sprach Katherine O’Shea des Ehebruchs mit Parnell schuldig. Da Parnell selbst 199 200 201 202 203 Freeman’s Journal 30. 12. 1889, S. 5. Vgl. zu den internen Einschätzungen von Brett, Stead, Dillon, Lewis u. a. Tagebuch Brett 7. 1., 23. 1., 31. 1. 1890, abgedr. in: Brett (Hrsg.), Journals and Letters, S. 140–142. So zumindest: O’Shea an Chamberlain 15. 12. 1890 in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/152. Vgl. die Korrespondenz, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/127 bis 157. Daily News 16. 11. 1890, S. 3. Die exzellenten Bedingungen für Reporter betonte auch: Pall Mall Gazette 15. 11. 1890, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 200 III. Ehebruch als Politikum nicht vor Gericht erschien, blieb seine Verteidigung unter Eid wie bei Dilke aus. Als das zentrale Bild des Skandals erwies sich der Bericht, Parnell sei, als der Ehemann einmal überraschend nach Hause kam, über die Feuerleiter aus dem Schlafzimmer geflüchtet. Der Hinweis auf die „Feuerleiter“ verdichtete in allen folgenden Debatten die Vorwürfe, den Spott und die Empörung über Parnell. So notierte Reginald Brett: „It is trying to think of the Leader of the Irish People flying from the avenging O’Shea down a fire escape.“204 Gerade die Banalität dieser Flucht unter falschem Namen („Mr. Fox flying down the Fire-Escape“), die an einen Groschenroman erinnerten, schmälerte Parnells Reputation. Zugleich verwies das Bild direkt auf den sexuellen Akt zu, ohne ihn wörtlich zu benennen. Im Vergleich zum Dilke-Skandal zeigte sich, wie sehr sich seit der HomeRule-Krise von 1886 nicht nur die Parteienlandschaft verschoben hatte, sondern auch die moralischen Maßstäbe der Medien klarer Parteilinien folgten. Dass traditionell konservative Zeitungen Parnells Handeln moralisch verdammten und seinen sofortigen Rücktritt forderten, war wenig überraschend. Auch die regierungsnahe Times, die sich zunächst mit Kommentaren zurückgehalten hatte, forderte nun vehement Parnells Niederlegung der Parteiführung, da dieses Amt nicht mit dem „grave personal discredit“ des Ehebruchs vereinbar sei.205 Dabei bediente sie sich zweierlei Argumentationsfiguren: Einerseits verband sie Parnells privates Verhalten mit seiner politischen Arbeit, die ebenso auf Lügen, falschen Namen und dem Betrug des Parlamentes basieren würde. Andererseits griff sie die katholischen Iren insgesamt an, weil sie hohe Moralmaßstäbe beanspruchten, aber jemanden wie Parnell als Anführer hätten.206 Ebenso verlangte der nunmehr konservative Daily Telegraph, der bei Dilkes Skandal noch vehement die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre eingefordert hatte, entschieden Parnells Rückzug aus dem öffentlichen Leben, da private Vergehen immer politisch relevant seien und andere Politiker vor ihm ebenfalls deshalb zurücktreten mussten.207 Die Leserbriefe zeigten ähnliche Wertungen. „I hold strongly to the doctrine that a man cannot be cut into two halves; one labelled public and the other private. [...] The man who deceives in private life will deceive in public“, schrieb etwa ein Leser in der Pall Mall Gazette.208 Dies bedeutete das Ende eines privaten Freiraumes für herausragende Politiker. Dennoch wäre es falsch, für das letzte viktorianische Jahrzehnt einen umfassenden Sieg der strengen Moralisten auszumachen. Obgleich auch die liberale Presse zunehmend Parnells Rücktritt forderte, war ihre moralische Argumenta- 204 205 206 207 208 Eintrag Tagebuch Viscount Esher 19. 11. 1890, in: CAC, ESHR 2/8. Times 18. 11. 1890, S. 9. Ebd. Daily Telegraph 17. 11. 1890, S. 4. Der Daily Telegraph begann in dieser Zeit, sich als konservative Zeitung zu profilieren. Vgl. Leserbriefe in: Pall Mall Gazette 19. 11., 20. 11., 21. 11. 1890, S. 2 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 201 tion differenzierter. Das zeigte sich selbst bei der Pall Mall Gazette, die ausführlich über das zulässige Verhalten von Politikern räsonierte. Das Blatt, bei dem Stead gerade ausgestiegen war, betonte erstaunlich tolerant, ein Politiker brauche kein Examen eines Bischofs, bevor er Minister würde. Nicht jeder Politiker, dessen Liebesleben nicht ganz tadellos sei, müsse sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Parnell habe jedoch diese Grenze überschritten: „when a man has been proved guilty of treachery, deceit, and cruelty, sufficient to drum him out of public life – he should not be pardoned.“209 In den folgenden Tagen differenzierte die Pall Mall Gazette diese Argumentation weiter, auch mit Blick auf historische Präzedenzfälle. Zu unterscheiden sei zwischen dem überführten Ehebruch und der verzeihlichen nichtehelichen Verbindung, wie sie etwa Admiral Horatio Nelson mit Lady Emma Hamilton eingegangen sei. Die früheren Premierminister Melbourne und Palmerston hätten auf jeden Fall zurücktreten müssen, wenn das Gericht ihnen einen Ehebruch nachgewiesen hätte.210 Der nicht-ehelichen Sexualität wurden damit also weiterhin gewisse Spielräume eingeräumt, solange der Ehebruch nicht gerichtsnotorisch wurde. Allerdings sollte sowohl die Ehe als auch das Vertrauen in den Politiker durch die Vermeidung von Lügen in der Privatsphäre geschützt werden. Wie bei den meisten Skandalen trat damit bereits in viktorianischer Zeit das Sexualdelikt rasch hinter den Anspruch, ein Politiker müsse stets die Wahrheit sagen. Besonders der ausführlichste Artikel zu dem Skandal, der in der Fortnightly Review unter dem Titel „Public Life and Private Morals“ erschien, zeigte diese gewisse Toleranz gegenüber der außerehelichen Sexualität. Er sah die Ehe als einen zivilen Vertrag an, weshalb ein Politiker allenfalls zurücktreten müsse, wenn der Scheidungsprozess seine Doppelmoral bloßlege oder andere Politiker deshalb nicht mehr mit ihm verhandelten.211 Da Parnell weder als Heiliger aufgetreten noch als Verhandlungspartner inakzeptabel sei, wäre der Scheidungsprozess seine reine Privatangelegenheit. Ebenso sah der irenfreundliche linksliberale Star den Prozess als Parnells persönliche Privatangelegenheit an, die jetzt nur von der „Pigottist Press“ parteilich benützt würde. Der eigentliche Skandal sei jedoch die korrupte und brutale Unterdrückung der Iren.212 Eine ähnliche Argumentation, die eine gewisse Toleranz in Sexualfragen aufwies, zeigen selbst W. T. Steads interne und öffentliche Schriften. Er argumentierte Gladstone gegenüber, Ehebruch an sich sei verzeihlich wie ein „Extraglas Brandy.“ Nicht verzeihlich sei es aber, wenn der Ehebruch in eine Doppelzüngigkeit eingebettet sei, die Vertrauen zerstöre. „This is not an affair of adultery, it is an affair of confidence [...]“ resümierte er entsprechend. Auch in anderen Schriften bezeichnete er Vertrauen als das Grundelement der Politik, das auf 209 210 211 212 Pall Mall Gazette 15. 11. 1890, S. 1. Pall Mall Gazette 19. 11. 1890, S. 1. Fortnightly Review 1. 2. 1891, S. 213–228. Star 18. 11. 1890, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 202 III. Ehebruch als Politikum diese Weise zerstört würde.213 Die Lüge gegenüber seinen irischen Parteikollegen sei deshalb schlimmer als der Ehebruch.214 Hätten Lord Nelson oder Wellington ihre Liebesaffären in den öffentlichen Raum getragen, hätten sie, so Stead, ebenfalls zurücktreten müssen.215 Zumindest eine Liebesaffäre im Geheimen erschien somit selbst dem moralistischen Starjournalisten tolerierbar. In den „smoking rooms of the clubs“, so Stead in einem langen Artikel, würden die meisten Politiker mit Frauen in Verbindung gebracht, ohne dass die Öffentlichkeit davon erführe. Er selbst habe längst von Parnells Verhältnis gewusst, und bei seinem Irlandbesuch 1886 oder im direkten Gespräch mit O’Shea im selben Jahr dies angesprochen.216 Damit stilisierte sich Stead, wie auch bei anderen Skandalen, scheinheilig als Wächter und Drahtzieher, der keineswegs leichtfertig Sensationen verbreitete. Stärker noch als bei anderen Skandalen sah sich der Journalist dabei als „uncrowned king“, der über Regierungen entschied.217 Stead führte mit wichtigen Repräsentanten der Öffentlichkeit Vorgespräche und drohte dann Gladstone mit einer rigorosen Kampagne, wenn er nicht für Parnells Rückzug sorge.218 Als Parnell am nächsten Tag immer noch nicht zurückgetreten war, drohte Stead Gladstone erneut, diesmal mit der Mobilisierung der nonkonformistischen Wähler, und begann dann seinen öffentlichen Feldzug.219 Eine von ihm verfasste Broschüre, die auch Pressestimmen enthielt, verschickte er an alle Abgeordneten und an alle katholischen Geistlichen, um sie für Parnells Sturz einzunehmen.220 Damit agierte der Journalist unverkennbar weniger als Berichterstatter, sondern wie eine puritanische pressure group, um sein politisch-moralisches Ziel per Kampagne zu erreichen. Zugleich nahm der Journalist Parnell selbst in gewisser Weise in Schutz, indem er Katherine O’Shea als die eigentlich Schuldige ausmachte. Formulierung wie „the werewolf-woman of Irish politics can not be shaken off“221 verrieten erneut die Angst vor der übermächtigen Frau, die durch ihre sexuelle Anziehungskraft den Kurs der Politik bestimmen könnte. Eine differenzierte moralische Haltung zeigten die damaligen Spitzenpolitiker. William Gladstone war wie beim Dilke-Skandal entschlossen, wegen einer 213 214 215 216 217 218 219 220 221 Stead an Gladstone 19. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 19. Stead, The Discrowned King, S. 10; ein Exemplar hiervon ist in: ebd. Review of Reviews Dez. 1890, S. 602. So Stead in: Daily Chronicle 21. 11. 1890; Manuskript in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 31. Review of Reviews Dez. 1890, S. 598–608. Den Journalisten als „uncrowned king“ hatte er wenige Jahre zuvor propagiert: Stead, Government by Journalism. Stead an Gladstone 19. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 19. Stead an Gladstone 20. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 30. Die verschickte Schrift hieß: William T. Stead, The Discrowned King of Ireland. With Some Opinions of the Press on the O’Shea Divorce Case; etwa in: Stead an Gladstone 25. 11. 1890, in: BL, Add Mss 56448: 108. Stead in Review of Reviews Dez. 1890, zit. in Marlow, Uncrowned Queen, S. 259. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 203 Liebesaffäre weder einen wichtigen Politiker noch sein großes politisches Ziel aufzugeben – die Home Rule. Wie sehr Gladstone mit sich rang, zeigen seine langen privaten Memoranden, die er zur Sortierung seiner Gedanken verfasste. Diese persönlichen Aufzeichnungen dokumentieren, wie beim Dilke Skandal, die überraschend große moralische Toleranz des gläubigen Politikers, der jedoch für eine Trennung von privater und öffentlicher Sphäre eintrat. Als Parteiführer sei es nicht seine Aufgabe, ein persönliches Urteil über das moralische Verhalten anderer Parteivorsitzender oder Parteimitglieder zu bilden. Er könne nur abwägen, was am besten für die Politik sei, aber die irische Partei müsse entscheiden. Am besten für die Home Rule sei allerdings angesichts der öffentlichen Meinung, so stellte er fünf Tage nach dem Prozess fest, Parnells Rücktritt.222 Deutlich wird hier ein politisches Selbstverständnis, dessen moralische Bewertung sich an der Medienöffentlichkeit orientierte. Ähnlich wie Stead erinnerte sich Gladstone bei seiner Meinungsbildung an frühere Skandale, wie die Dublin Castle-Affäre und die damals von O’Brien aufgestellte Forderung, für das Vertrauen in Politiker sei moralischer Anstand nötig.223 „Vertrauen“ etablierte sich somit als eine Grundanforderung an Politiker, gerade indem Skandale die Reputation bedrohten. Die konservative Regierung sah den Parnell-Skandal als ein Geschenk an die Unionisten und deren Politik an. Dennoch zeigte auch der konservative Premierminister Salisbury intern eine abwägende Haltung darüber, in welchem Verhältnis private und öffentliche Sphäre stehen sollten: „They have raised one of the most difficult questions in political ethics – how far are you justified in refusing co-operation with a man because in other fields of action, he has done disgraceful things“, notierte Salisbury.224 Auch sein späterer Nachfolger Arthur Balfour äußerte gegenüber Stead, im Vergleich zu Parnells politischem Handeln sei der Ehebruch für ihn nur von untergeordneter Bedeutung.225 Diese Stimmen deuten zumindest an, dass in den politischen Führungszirkeln auch in der spätviktorianischen Zeit kein Konsens darüber bestand, dass ein Ehebrecher prinzipiell keine herausgehobene Stellung einnehmen dürfe. Ehebruch allein schien kein hinreichender Grund für einen Rücktritt zu sein. Vor allem die irische Öffentlichkeit hielt trotz ihrer katholischen Prägung und ihrer entsprechend rigiden Ehevorstellungen erstaunlich lange an Parnell fest. Zunächst waren viele irische Nationalisten überzeugt, es handele sich um eine politische Kampagne gegen Parnell, weshalb „every decent man“ mit ihm sympathisieren würde und er den Prozess überstehe. Erst das Gerücht, Parnell wolle die Scheidung, um Katharine O’Shea zu heiraten, ließ erste Bedenken über die politischen Folgen aufkommen, zugleich erschien Parnells Heirat aber 222 223 224 225 Vgl. Eintrag 17. 11. 1890, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 337 f.; ähnlich auch: 21. 11., in: BL, Add Mss NL Gladstone 56448: 45. Vgl. Eintrag 17. 11. 1890, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 338. Zit. in: Steele, Lord Salisbury, S. 213. Balfour an Stead 22. 11. 1890, in: CAC, Sted 1/4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 204 III. Ehebruch als Politikum als Rettung.226 Das irische Freeman’s Journal bekräftigte selbst nach dem Prozess, Parnell werde keineswegs auch nur zeitweise zurücktreten, auch wenn die „Pigottist’s Press“ dies hoffe. Parnell sei nur als Politiker interessant, während das Privatleben nicht zu interessieren habe, zumal er selbst hierüber schweige.227 Da Parnell ein Protestant sei, gelte auch nicht das Urteil der katholischen Geistlichen Irlands, sondern nur das aller Iren. Der ehelichen Untreue stellte das Blatt Parnells Treue zu Irland entgegen, die entscheidender sei. Ebenso bekundeten führende Parteimitglieder intern und öffentlich ihr Vertrauen in Parnell. Somit nahmen die irischen Nationalisten moralisch einen überraschend liberalen Standpunkt ein und wählten Parnell zehn Tage nach dem Prozess wieder zum Fraktionsvorsitzenden.228 Dennoch führte der Skandal zu Parnells Sturz. Ein wichtiger Grund dafür war sicher Gladstones Entschluss, Parnell müsse zum Gelingen der Home Rule seinen Parteivorsitz niederlegen, was auch in der liberalen Presse einen Meinungsumschwung einleitete. Selbst der Star forderte am gleichen Tag Parnells Rückzug zum Wohle Irlands, nicht ohne seine Verdienste zu würdigen.229 Zum endgültigen Sturz von Parnell trugen drei weitere Formen der öffentlichen Empörung bei. Erstens kam es zu starken öffentlichen Protesten von Seiten der Nonkonformisten. Ihre Geistlichen und allen voran der bekannte Methodist Hugh Price Hughes sprachen sich in Gottesdiensten und Massenversammlungen gegen Parnell aus, was wiederum viele Zeitungen als Argument für seinen Rücktritt werteten.230 Zugleich machten die Nonkonformisten durch zahlreiche Leserbriefe ihren kompromisslosen Standpunkt deutlich: „Men legally convicted of immorality will not be permitted to lead the legislation of the kingdom“, schrieb etwa der Baptist John Clifford im irenfreundlichen Star.231 Ebenso wurde Gladstone mit Briefen von Methodisten, Baptisten und anderen nonkonformistischen Geistlichen und Gläubigen überschüttet, die vor allem mit der Forderung nach „Reinheit“ Parnell als untragbar bezeichneten.232 Da die Nonkonformisten eine bedeutende Wählergruppe der Liberalen bildeten, musste die Parteiführung sie äußerst ernst nehmen. Dabei profilierten sich die Nonkonformisten durch den Skandal als eine Gemeinschaft, die öffentliche Forde226 227 228 229 230 231 232 Vgl. die Entwicklung der Deutung in Parnells politischem Umfeld in: Kenny an Dunne 24. 1., 2. 2. und 9. 2. 1890, in: NLI, MS 10946: 7. „It is neither our duty nor our province to adjudge his private life or to adjust his conscience.“ Freeman’s Journal 18. 11. 1890, S. 4. Zu dieser Sitzung, bei der einige Fraktionskollegen Parnells Rücktritt erwarteten: Sullivan an Healy 25. 11. 1890 UCD, P6 B 31. Star 25. 11. 1890, S. 1 u. 26. 11. 1890, S. 1. Vgl. etwa die Berichte in: Daily News 24. 11. 1890, S. 3; Pall Mall Gazette 20. 11. 1890, S. 2; Daily Telegraph 24. 11. 1890, S. 5. Hugh Price Hughes war zwar ein Verfechter der Home Rule, sah Parnells Ehebruch aber als einen Verrat an ihr an; vgl. Christopher Oldstone, The Fall of Parnell: Hugh Price Hughes and the Nonconformist Conscience, in: Éire-Ireland 30 (1996), S. 94–110. Star 19. 11. 1890. Vgl. die Briefe in: BL, Add NL Gladstone Mss 56448. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 205 rungen an die Moral in der Politik stellte, die von den Anglikanern vernachlässigt würde.233 Zweitens positionierte sich, nach einigem Zögern, auch die katholische Kirche öffentlich gegen Parnell. Im Unterschied zu den Nonkonformisten hatten sich die katholischen Zeitungen und Geistlichen zunächst mit klaren Stellungnahmen zurückgehalten, da sie nicht den Weg zur irischen Selbstverwaltung gefährden wollten.234 Erst über zwei Wochen nach dem Prozess kam es bei einem Treffen der katholischen Bischöfe Irlands zu einem Beschluss darüber, wer in Zukunft Irlands politischer Führer sein solle. Parnell könne dies nicht mehr übernehmen, da er eines der „gravest offences known to religion and society“ überführt sei.235 Dies war vermutlich der entscheidende Grund, warum Parnell schließlich selbst den Rückhalt der Iren verlor und am 6. Dezember 1890 bei einer Kampfabstimmung um den Vorsitz unterlag. Drittens führte Parnells Reaktion auf den Skandal dazu, dass sich sowohl die ihm wohl gesonnenen Liberalen als auch viele irische Nationalisten von ihm abwandten. Auf Gladstones öffentliche Empfehlung, im Dienste der Home Rule zurückzutreten, reagierte Parnell mit einem überzogenen Befreiungsschlag: Um seine eigene Unentbehrlichkeit zu zeigen und gleichzeitig Gladstone zu diskreditieren, veröffentlichte er die geheimen Absprachen zwischen ihm und Gladstone, wie die Home Rule umzusetzen sei. Auf die Veröffentlichung eines privaten Geheimnisses antwortete er also mit der Veröffentlichung eines politischen Geheimnisses. Die gesamte liberale Presse sah dies als einen Bruch ungeschriebener politischer Regeln an und richtete sich nun gegen ihn. Selbst die bislang wohlgesonnene Reynolds’s Newspaper nannte dies „one of the most dishonourable documents ever issued by a public man“, da es Vertrauliches offen legte.236 Die irischen Nationalisten waren hingegen mit den Inhalten des veröffentlichten Kompromisses unzufrieden. Parnell überführte somit die Debatte über seinen Ehebruch in eine politische Diskussion über ihn selbst, bei der er Autorität und Ansehen verspielte. So verspotteten ihn die Karikaturen des Dubliner Weekly Freeman, die ihn in den 1880er stets als „Uncrowned King“ zeigten, nun als Clownsfigur.237 Gerade aufgrund der breiten Ablehnung, die er jetzt erfuhr, sprach sich auch der überwiegende Teil der irischen Nationalisten gegen 233 234 235 236 237 Vgl. zu dieser Zäsur auch: Munson, The Nonconformists, S. 206 f. Nur einzelne Pastoren forderten den Rücktritt; vgl. die Presseschau in: Pall Mall Gazette 27. 11. 1890, S. 5. Zit. nach: Reynolds’s Newspaper 7. 12. 1890, S. 1. Die Rolle der katholischen Kirche für die weitere Spaltung der Partei betont auch: Frank Callanan, „Clerical Dictation“. Reflections on the Catholic Church and the Parnell Split, in: Archivium Hibernicum 45 (1990), S. 64– 75. Reynolds’s Newspaper 7. 12. 1890, S. 1. Matthew, Gladstone, S. 564; vgl. auch die kritische Haltung von T.P. O’Connor: L.W. Brady, T.P. O’Connor and the Liverpool Irish, London 1983, S. 122. Vgl. Joel A. Hollander, Heroic Construction. Parnell in Irish Political Cartoons, 1880– 1891, in: New Hibernia Review 4. 4 (2000), S. 53–65. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 206 III. Ehebruch als Politikum seinen Verbleib an der Parteispitze aus. Parnells Sturz war für sie ein Opfer, das sie für das Erreichen der irischen Unabhängigkeit bringen mussten. Die private Verfehlung von Parnell war politisch einer der folgenreichsten Skandale der viktorianischen Zeit. Er führte wesentlich dazu, dass die unter Parnell erreichte Einheit der irischen Bewegung in Anhänger und Gegner Parnells zerbrach, die schon ab Dezember 1890 bei einzelnen Nachwahlen konkurrierten.238 Ebenso kam der mühsam mit Gladstone ausgehandelte Kompromiss zur Home Rule nicht mehr zustande. Insofern konnte der Unionist Joseph Chamberlain, der den Skandal ja wesentlich mit angestoßen hatte, zu Recht triumphierend feststellen: „Home Rule for our time is smashed.“239 Auch für das Ansehen der irischen Bewegung war der Skandal ein schwerer Rückschlag, da er ihr moralisches Überlegenheitsgefühl schwächte, das sie nicht zuletzt aus den vorherigen, von ihnen initiierten Skandalen gewonnen hatten. Innerhalb der irischen Partei kam es zu Flügel- und Nachfolgekämpfen, die erstaunlich oft sexuelle Anspielungen auf Parnells Liebesleben benutzten. Vor allem Parnells Rivale Tim Healy sprach in seinen Artikeln häufig von Katherine O’Shea als Ausgeburt des Parnellism, „the unfortunate woman, to whom he is as subservient as his followers are to him“. Indem dieser Parteiflügel Katherine O’Shea stets den Kosenamen „Kitty“ gab, schrieb er ihr zusätzlich die Rolle der leichtlebigen Frau zu, die über Irlands Schicksal entscheide. Anhängern Parnells hielt Healy etwa vor: „You protested against the conduct of a landgrabber. What about a wifegrabber?“240 Die Iren und nicht zuletzt Tim Healy hatten Anfang der 1880er Jahre wesentlich dazu beigetragen, das Private in die politische Sphäre zu überführen, um die Engländer moralisch zu diskreditieren. Ironischerweise prägte gerade nun die Vermischung dieser beiden Sphären die Flügelkämpfe ihrer eigenen Partei und trug somit zu ihrem eigenen Reputationsverlust bei. Parnell selbst, der bereits im Sommer 1891 seine bisherige Geliebte heiratete, engagierte sich weiterhin in der Politik und trat vielfältig als Redner in Parlament und Öffentlichkeit auf. Ähnlich wie bei Dilke zeigte dies, dass auch im spätviktorianischen Großbritannien ein Ehebruchskandal zwar zum Rücktritt aus der ersten Reihe der Politik führte, nicht aber zum Rücktritt aus der zweiten. Parnell kämpfte mit zahlreichen Wahlkampfauftritten um sein politisches Comeback, verstarb aber bereits im Oktober 1891 überraschend an den Nachwirkungen einer Lungenentzündung. Man kann man daher nur spekulieren, ob ihm eine Rückkehr an die Parteispitze gelungen wäre. Sein Tod beendete zumindest die Debatte über den Ehebruch. In der Erinnerung der Iren blieb Parnell einer der großen, wenn auch tragischen Helden der Nation. Sein Skandal etablierte die Norm, dass ein Ehebrecher keine führende Position in der Politik einnehmen dürfe, wohl aber eine nachgeordnete. Letzteres belegt zumindest 238 239 240 Generell hierzu: Frank Callanan, The Parnell Split 1890–91, Cork 1992. Zit. nach Marsh, Joseph Chamberlain, S. 324. Beispiele derartiger Artikel, die bes. in der National Press erschienen, in: Callanan, Healy, S. 307–316. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Irish Home Rule und Ehebruch 207 eine größere sexuelle Toleranz, als für die irische und spätviktorianische Öffentlichkeit oft angenommen wurde. Der Parnell-Skandal hatte einen ähnlichen Effekt wie die zeitgleichen Homosexualitätsskandale Anfang der 1890er Jahre: Er führte unmittelbar zu einigen Nachfolgefällen, die aus der Verunsicherung heraus besonders rigide Urteile nach sich zogen. Diese Enthüllungen machten auch bei den heterosexuellen Normverstößen nicht vor Parlamentariern halt. Ebenso wie nach dem großen Cleveland Street-Skandal von 1890 der homosexuelle Abgeordnete Cobain die Flucht ergriffen hatte, verließ Anfang 1891 der liberale Abgeordnete Edmund Hope Verney das Land. Verney zählte immerhin zu den zehn aktivsten Rednern im Unterhaus, war pensionierter Captain der Navy, Member of the London County Coucil und in der Purity Movement aktiv.241 Zugleich hatte er sich jedoch, wie im April 1891 öffentlich wurde, über eine Kupplerin gezielt junge Frauen als Haushaltsgehilfinnen anheuern lassen, um sie dann zu sexuellen Affären zu verführen.242 Der Fall Verney machte damit ähnlich wie Dilke und Parnell eine Doppelidentität öffentlich, die erneut das Vertrauen in die moralische Vorbildfunktion des bürgerlichen Politikers erschütterte. Die Enthüllung knüpfte zudem an die von Stead verbreitete white slave-Erzählung an, wonach unschuldige Frauen systematisch verschleppt würden. Ähnlich wie bei den nachfolgenden Homosexualitätsskandalen (insbesondere bei Oscar Wilde) reagierten sowohl das Unterhaus, das Gericht als auch die Medien nun mit rigider Strenge, obgleich es sich um eine hochrangige Person handelte. Im Unterhaus forderten die Abgeordneten sofort seinen Ausschluss aus dem Parlament.243 Vor Gericht wurde Verney wegen der Verkuppelung mit einer Frau „for immoral purposes“ zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Selbst liberale Blätter wie die Daily News begrüßten dieses Urteil, da es zeige, dass vor Gericht keine Unterschiede zwischen Arm und Reich bestünden.244 Als das entscheidende Urteil bezeichneten die Zeitungen jedoch seine soziale Verdammung. Obgleich die Verführung von Hausmädchen bislang sicher keine ungewöhnliche Praxis war, wurde durch dieses rigide Vorgehen zumindest deutlich darauf aufmerksam gemacht. An dem Politiker wurde dabei, ähnlich wie bei Dilke und Parnell, ein Exempel vollzogen, das Normen für die Gesellschaft setzen sollte. Wie bei den Homosexualitätsskandalen begrenzte die Häufung der heterosexuellen Skandale die moralische Toleranz, die sich zunächst noch gezeigt hatte. Eine weitere Parallele zu den Homosexualitätsskandalen war, dass seit Mitte der 1890er Jahre vergleichbare Skandale um heterosexuelle Normbrüche aus241 242 243 244 Eine statistische Auswertung der Redneraktivitäten vor diesem Skandal findet sich in: Times 21. 10. 1890, S. 10. Ein Mädchen, das aus Paris vor ihm geflohen war, konnte ihn zufällig identifizieren und löste daraufhin Ermittlungen aus. Vgl. die ausführliche Rekonstruktion des Falles in den Gerichtsmitschriften der: Daily News 10. 6. 1891, S. 7; Pall Mall Gazette 6. 5. 1891, S. 5; Times 7. 5. 1891, S. 9 u. 12. Hansard’s Parliamentary Debates 12. 5. 1891, Bd. 353, Sp. 575. Daily News 10. 6. 1891, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 208 III. Ehebruch als Politikum blieben. Nach den spektakulären Fällen um Parnell und Verney Anfang der 1890er Jahre kam es bis zum Ersten Weltkrieg zu keinen großen Ehebruchskandalen um bekannte Politiker. Hierfür bieten sich unterschiedliche Erklärungen an. Die spektakulären Präzedenzfälle zwangen zu mehr Vorsicht, da eine aufgedeckte Liebesaffäre nun das sichere Ende einer Karriere bedeuten würde. Zugleich war die britische Öffentlichkeit der 1890er Jahre nach den Ehebruchsskandalen – ähnlich wie nach den zeitgleichen Homosexualitätsskandalen – so über sich selbst erschrocken, dass die Medien entsprechende Verdächtigungen eher in der Sphäre des Privaten beließen. Dass allein die Angst vor derartigen Skandalen bei allen politischen Parteien Karrieren blockieren konnte, zeigte sich selbst bei der um 1900 entstehenden Labour Partei: Hier verlor der Gewerkschaftsfunktionär George Belt, der 1898/99 eine Affäre mit der Suffragette Dora Montefiore hatte, seine Chance auf eine weitere Laufbahn in der Independent Labour Party, als dies intern ruchbar wurde.245 Auch in den folgenden Jahren galt allerdings, dass die Zeitungen ohne das Einreichen eines Scheidungsprozesses keine namentlichen Berichte über bekannte Politiker druckten, die angeblich Affären hatten. Trotz der befürchteten sittlichen Gefährdung durch weitere Skandale wurde die Öffentlichkeit der Scheidungsprozesse nicht eingeschränkt. Nicht nur die prinzipielle Verteidigung öffentlicher Gerichtsverhandlungen war ein entscheidendes Argument dafür. Die Medienberichte über die Scheidungen und die drohenden Skandale galten zudem weiterhin als Abschreckungs- und Disziplinierungsinstrument. In der Scheidungsreformdebatte um 1912/13 sahen Abgeordnete und Journalisten gerade die Angst vor der Medienöffentlichkeit als drohende Strafe, „[which] helps to keep the people straight“. So wie die Todesstrafe vor dem Verbrechen abhalte, so würde der Spott der Medien vor der Scheidung abschrecken.246 Daher erklärten diese Politiker die hohen Scheidungsraten in Frankreich gerade damit, dass die dortigen Zeitungen viel weniger über Ehebrüche und Scheidungen berichteten. Tatsächlich blieben sie im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts stärker Teil der privaten Sphäre, so dass vergleichbar sensationelle Skandale um Politiker trotz ansteigender Scheidungszahlen zunächst ausblieben.247 Zugleich deutete sich in Frankreich an, dass der politische Kampagnenjournalismus von Großbritannien lernte. So konnte der umstrittene Finanzminister Joseph Caillaux in den Jahren nach 1900 zunächst noch recht offen eine Geliebte haben, die er dann nach der Trennung von seiner Frau heiratete, und dennoch 245 246 247 Christine Collette, Socialism and Scandal. The Sexual Politics of the Early Labour Movement, in: History Workshop Movement 23 (1987), S. 102–111. Zitate nach: Savage, Intended Only, S. 515 u. 517. Ähnlich auch die Argumentation des Vorsitzenden des Divorce Court in seinen Memoiren: Henry Edward Fenn, Thirty-Five Years in the Divorce Court, London o. D. (1910), S. 290 u. 295. Zu diesem Trend: Anne-Marie Sohn, The Golden Age of Male Adultery: The Third Republic, in: Journal of Social History 28 (1995), S. 469–490. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 209 Ministerpräsident werden.248 Die konservative Presse bekämpfte ihn jedoch „lediglich“ mit Kampagnen, die ihm Korruption, nationale Unzuverlässigkeit und die Begünstigung jüdischer Börsenspekulanten vorwarfen. Da diese Vorwürfe Caillaux nicht stürzten, bediente sich der konservative Figaro schließlich 1914 jener eher aus England bekannten Methode und veröffentlichte ein Faksimile eines alten Privatbriefes von Caillaux an seine Geliebte, um die moralische Reputation des Politikers zu zerstören. Inwieweit die Medialisierung und politische Polarisierung auch in Deutschland zu derartigen Entwicklungen oder Transfers führte, wird im Folgenden zu klären sein. 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich In der deutschen Politik spielten private Normverstöße wie Ehebrüche auf den ersten Blick keine Rolle. Spektakuläre Ehebruchskandale, die wie in England politische Karrieren zerstörten, politische Weichen stellten oder ein Wissen um heterosexuelle Praktiken konstruierten, sucht man vergeblich. Dennoch lassen sich auch in der wilhelminischen Zeit einige mehr oder minder erfolgreiche Kampagnen ausmachen, die die Sexualität außerhalb der Ehe skandalisierten, um generelle politische Ziele zu erreichen. Auch dies war ein Teil jener Politik der Sensationen, die sich mit der Medialisierung und Politisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte. Mitunter führten sie zu Skandalen. Wie bei der Homosexualität knüpfte Deutschland dabei leicht verzögert an die englische Entwicklung an. Das Ende der Sozialistengesetze und der darauf folgende Ausbau der sozialdemokratischen Medien bildete auch in diesem Skandalfeld eine wichtige Zäsur. Die sozialdemokratischen Medien versuchten seit 1890 verstärkt, emotional und exemplarisch die Doppelmoral bürgerlicher Eliten zu beweisen, um deren Führungsanspruch zu hinterfragen. So berichtete die sozialdemokratische Presse im Mai 1891 über den Vaterschaftsprozess gegen den Zentrumspolitiker und Kölner Presseverleger Julius Bachem, nachdem ein Dienstmädchen ein Kind von ihm geboren hatte. Die Kölner Arbeiterzeitung veröffentlichte dabei zahlreiche Artikel, die Bachem kompromittieren sollten.249 Sie führten zu seinem Rückzug aus dem preußischen Abgeordnetenhaus, beendeten aber nicht Bachems Arbeit als politisch aktiver Verleger der Kölnischen Volkszeitung, dem auflagenstärksten Sprachrohr des katholischen Milieus. Zugleich griff die sozialdemokratische Presse 1891 die von Antisemiten forcierte Kampagne gegen Bismarcks Bankier 248 249 Vgl. zu diesem Fall Edward Berenson, The Trial of Madame Caillaux, Berkeley 1992. Diverse Unterlagen dazu in: Historisches Archiv Köln, NL Bachem 35/11; bes. Kölner Arbeiterzeitung Nr. 38, 13. 5. 1891, Nr. 42, 27. 5. 1891, Nr. 43, 30. 5. 1891, Nr. 74, 16. 9. 1891; ein knapper Verweis auf den Fall, der sich lediglich auf die Debatte 1891 bezieht, in: Klaus Müller, Politische Strömungen in den rechtsrheinischen Kreisen des Regierungsbezirks Köln von 1879 bis 1900, Diss. Bonn 1963, S. 269. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 210 III. Ehebruch als Politikum Bleichröder auf, dem vorgeworfen wurde, mit Hilfe der Polizei und eines Meineides die Liebesaffäre mit einer Frau zu vertuschen, die ihn erpresst hatte. Die SPD-Zeitungen attackierten Bleichröder zwar nicht als Juden, sondern als Kapitalisten, um durch Vermengung von Sex, Korruption und Polizeiwillkür das von Bismarck etablierte politische System insgesamt zu treffen.250 Bleichröders Tod setzte den Beschuldigungen, die vor allem auch Antisemiten um Hermann Ahlwardt vorbrachten, dann jedoch ein Ende. Eine derartige Kampagne der Sozialdemokratie lässt sich auch beim Skandal um Wilhelm von Hammerstein ausmachen. Der führende konservative Reichstagsabgeordnete und Chefredakteur der „Kreuzzeitung“, der in den 1880er und frühen 1890er maßgeblich den politischen Kurs der Konservativen Partei prägte, wurde 1895 der Veruntreuung größerer Summen beschuldigt.251 Dabei warfen ihm zahlreiche Zeitungen gleichzeitig vor, sein Liebesleben würde kaum jener christlichen Sittlichkeit entsprechen, die Hammerstein in seinen Reden und Zeitungskommentaren stets einforderte. Die konservativen Zeitungen, die Hammersteins Kurs gegenüber kritisch waren, sprachen andeutungsweise von „einer Lebensweise, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, die aber der Partei, die für Sitte, Religion und Ordnung kämpft, sehr schwere Sorgen bereitet und jederzeit sowohl bei der Lex Heinze wie bei der Umsturzvorlage besprochen werden könnte.“252 Die sozialdemokratische Neue Zeit berichtete dagegen direkt von der „Lieblingsmätresse“ Flora Gaß und verallgemeinerte, der Fall Hammerstein sei „einer jener nachgerade unzähligen Skandale, welche die unaufhaltsame Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft bekunden und in allen bürgerlichen Parteien gleichzeitig vorkommen“ würden.253 Der Verweis auf einen namentlich nicht genannten anderen Reichstagsabgeordneten und Chefredakteur, der vor zehn Jahren ähnliche Seitensprünge vertuschen konnte, diente dabei als Beleg für die Verallgemeinerung. Zusammen mit Hammersteins Unterschlagungen und seiner Flucht ins Ausland bedeuteten diese Enthüllungen tatsächlich einen denkbar schweren Schlag für die Konservativen und das Ansehen der „Kreuzzeitung“. Allerdings war es nicht nur die Sozialdemokratie, die mit derartigen Enthüllungen über das sexuelle Privatleben die Reputation politischer Gegner zu treffen versuchte. Vielmehr bildete das interne Wissen um diese Liebesaffären einen Sprengstoff, den im Bedarfsfall auch bürgerliche Politiker und Journalisten zündeten. So wurde Karl Bachem etwa 1893 von der nationalliberalen RheinischWestfälischen Zeitung das Recht abgesprochen, sich moralisch von dem Antisemiten Hermann Ahlwardt zu distanzieren, weil Bachem wegen seines „Sitt- 250 251 252 253 Vorwärts 10. 7. 1891; Neue Zeit 27. 7. 1891; Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt a. M. 1971, S. 652. Zu Hammersteins politischem Einfluss vgl. Dagmar Bussiek, „Mit Gott für König und Vaterland!“ Die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892, Münster 2002. So das Kleine Journal, zit. nach: Berliner Tageblatt Nr. 171 3. 4. 1895. Die Neue Zeit Nr. 1 Bd. 14 (1895/96), S. 1–4, zit. S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 211 lichkeitsprozesses“ ein „moralischer Makel anhaftet“.254 Auch spätere Artikel verwechselten mehr oder minder bewusst Karl und Julius Bachem, um den unbescholtenen Zentrumspolitiker Karl Bachem wegen seiner vermeintlichen Unsittlichkeit zu diskreditieren.255 Und als Bachem 1897 mit dem SPD-Abgeordneten und Vorwärts-Redakteur Arthur Stadthagen in eine Debatte über die Rechte von Dienstpersonal geriet, hielt dieser Bachem im Reichstag vor, ein „Träger seines Namens“ sei „jener Fall, in dem Alimente bezüglich eines Dienstmädchens haben gezahlt werden müssen.“256 Die Beispiele belegen, dass das Wissen um einen moralischen Makel gezielt eingesetzt wurde. Sie zeigen aber zugleich die begrenzte Wirksamkeit, da die Tabuisierung überwog und sich die Empörung oft gegen die Skandalisierer richtete. Trotz dieser Beispiele blieben Kampagnen, die auf diese Weise die Reputation des politischen Gegners zerstören wollten, vergleichsweise rar. Erst die Kumulation verschiedener Skandale im Jahr 1908 führte dazu, dass auch in Deutschland der außereheliche Geschlechtsverkehr verstärkt zum Thema politischer Auseinandersetzungen wurde. Derartige Vorwürfe erschienen leichter thematisierbar, nachdem sich insbesondere über die Homosexualitätskandale 1907/08, aber auch über die Kolonialskandale 1906, die Verbindung von sexuellen Normbrüchen und politischer Zuverlässigkeit im öffentlichen Diskurs etabliert hatte.257 So war beim Eulenburg/Moltke-Skandal bereits neben der Homosexualität auch das Eheleben der Kaiserfreunde ausführlich öffentlich seziert worden. Welche Folgen solche öffentlich vorgebrachten Enthüllungen über Spitzenpolitiker hatten, war jedoch unklarer als in Großbritannien. Ein erstes Opfer derartiger Kampagnen war der angehende Außenstaatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter. Dieser hatte eine lange Diplomatenkarriere hinter sich und nach 1888 einen ersten Karrierehöhepunkt erreicht, als er Vortragender Rat im Auswärtigen Amt und ständiger Reisebegleiter des Kaisers wurde. Nachdem Kiderlen bereits in der Kladderadatsch-Affäre 1894 als Träger des „neuen Kurses“ verspottet worden war und an Einfluss verloren hatte, fiel er nach 1899 in Ungnade des Kaisers, weil er sich gegen die Absetzung von Reichskanzler Hohenlohe stellte.258 Auf dem Botschaftsposten in Bukarest und Istanbul geriet Kiderlen öffentlich eher in Vergessenheit, bis er im November 1908 Wilhelm von Schoen als Staatssekretär des Auswärtigen Amts vertrat, der sich wegen seines Versagens in der Daily-Telegraph-Affäre zunächst krank meldete und dann ausschied. Bereits Kiderlens Nominierung löste in der Presse 254 255 256 257 258 Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 87 28. 3. 1893; vgl. weiteres Material und Entgegnungen Bachems in: Historisches Archiv Köln, 1006 Nr. 361. Vgl. Deutsche Reichs-Zeitung Nr. 266 7. 6. 1895, S. 1; Das Deutsche Protestantenblatt Nr. 30 27. 7. 1895. RT, 11. 3. 1897, 189. Sitz., S. 5011. Vgl. zu dieser Argumentation ausführlich: Bösch, Das Private wird politisch. Zur Kladderadatsch-Affäre vgl. Kap. VI. 3. Zur Biographie: Ralf Forsbach, Alfred von Kiderlen-Wächter (1852–1912). Ein Diplomatenleben im Kaiserreich, Göttingen 1997, S. 179, 182. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 212 III. Ehebruch als Politikum reflexartige Erinnerungen an seine früheren Skandale aus. Wie bei der Kladderadatsch-Affäre nannten ihn die liberalen und linken Blätter „Spätzle“, was zeigte, wie wenig Respekt die Medien der politischen Elite entgegen brachten.259 Kurz nach seinem Amtsantritt im November 1908 deuteten liberale Zeitungen an, Kiderlen-Wächter habe in Bukarest ein „Cousinchen“ untergebracht, die mitunter wie eine Ehefrau bei repräsentativen Anlässen auftreten würde.260 „Cousinchen“ bildete ein beliebtes Kosewort für eine Geliebte, besonders seit im Skandal um den Kameruner Gouverneur von Puttkamer 1906 bekannt geworden war, dass dieser seine Geliebte als Cousine ausgegeben hatte, was mit zu dessen Rücktritt geführt hatte.261 Tatsächlich hatte der verwitwete KiderlenWächter seit Anfang der 1890er Jahre mit seiner Haushälterin ein eheähnliches Verhältnis. In den Briefwechseln mit der Geliebten behandelte Kiderlen sogar politische Themen wie Personalfragen, politische Konflikte oder streng vertrauliche Entscheidungen des Kaisers.262 Wie bei Parnell lassen sich die Liebesaffären damit nicht allein auf sexuelle Abenteuer reduzieren, sondern standen auch für die Einbindung von Frauen in politische Prozesse. Ausgelöst wurde die Kampagne gegen Kiderlen nicht durch eine sozialdemokratische Enthüllung, sondern durch Intrigen seitens der Konservativen. Reichskanzler Bülow vermutete dahinter den Gesandten in Athen, Baron von Wangenheim, der selbst gerne Kiderlens Posten bekommen hätte.263 Ebenso gab es unter den Konservativen besonders im Militär Bedenken gegen Kiderlen.264 Mit dem Lancieren einer Zeitungsmeldung kopierten sie offensichtlich das im Eulenburg/Moltke-Skandal gerade eingeübte Verfahren, sich eines Rivalen durch eine skandalöse Enthüllung zu entledigen. Da diese Artikel mitten in der DailyTelegraph-Affäre erschienen, bedeuteten sie zudem eine gezielte zusätzliche Schwächung von Bülows Regierung. Die Meldung, dass der angehende Außenstaatssekretär mit einer ehemaligen Zirkusreiterin eine Affäre habe und diese auch bei offiziellen Empfängen hinzu bitten würde, verbreitete sich nach seiner Rückkehr nach Berlin sofort in allen Zeitungen und ließ einen Skandal erwarten, der zu Kiderlens Absetzung hätte führen können. Tatsächlich trat, ganz im Unterschied zu den englischen Fällen, zumindest Letzteres nicht ein. Bemerkenswert war vielmehr die Toleranz, mit der auf die Vorwürfe geantwortet wurde. So ließen der Kanzler und das Auswärtige Amt die Presse wissen, ihnen sei diese Anschuldigung längst bekannt. Ein Legationsrat hätte sich be259 260 261 262 263 264 So Berliner Tageblatt Nr. 561 3. 11. 1908; BZ 267 12. 11. 1908, Echo der Gegenwart 14. 11. 1908; weitere entsprechende Artikel in: BAB/L, R 8034 III-237. Zur KladderadatschAffäre vgl. Kap. VI. 3. Vgl. mit Bezug auf die BZ am Mittag: Leipziger Neueste Nachrichten 11. 11. 1908. Vgl. Artikel zu Puttkamer wie: „Willst Du mein Kusinchen sein?“ Berliner Tageblatt Nr. 208, 25. 4. 1907; „Mein ‚Cousinchen‘ bist Du!“ Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906. Auch der Biograph Kiderlens stützt sich daher vielfach auf diese Quelle; vgl. Forsbach, Kiderlen, S. 52, 195, 203, 206, 442, 705, 730. Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1930, S. 415. Holstein an Bülow 16. 12. 1908, Faks. abgedr.: ebd., S. 416. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 213 reits 1906 beim Auswärtigen Amt beschwert, weil seine aus den USA kommende Frau nicht mit der Haushälterin an einem Tisch sitzen wollte. Daraufhin sei jedoch nicht Kiderlen, sondern der Denunziant zum Verlassen seines Postens gezwungen worden.265 Damit setzte das Ministerium erstaunlich liberale Grenzen für das Verhalten von Diplomaten und Politikern und sprach eine strenge Warnung gegenüber ähnlichen Denunzianten aus. Beides sollte künftig derartige Skandalisierungen von Seiten der Presse verhindern und den Informationsvorsprung der Regierung unterstreichen. Eine bemerkenswerte Toleranz zeigten auch, wie zu Beginn der vorherigen Homosexualitätsskandale um Moltke und Eulenburg, die liberalen Zeitungen. So forderte die Vossische Zeitung, man solle sich um die Politik von Kiderlen kümmern, nicht um dessen Privatleben: „Aber was schert es die deutsche Nation, ob ein Gesandter verheiratet oder unverheiratet ist, ob seinem Haushalt ein Kammerdiener oder eine Hausdame vorsteht, ob er ein Einsiedler oder ein Lebemann ist?“ Eine Zirkusreiterin sei genauso ehrenwert wie eine bürgerliche Ehefrau.266 Andere liberale Blätter formulierten eine erstaunliche Anerkennung für die „wilde Ehe“, die viel inniger und sittlicher sein könne als eine legitime, auch wenn das Auswärtige Amt nicht der richtige Ort dafür sei.267 Selbst die sozialdemokratische Presse hielt sich bei diesem Fall auffällig zurück. Der Vorwärts druckte nur den Hinweis, im Unterschied zu bürgerlichen Blättern ging ihn Kiderlens „Liebesangelegenheiten gar nichts an.“268 Die Sozialdemokraten profilierten sich folglich mit einem Moralismus, der dem politischen Gegner eine amoralische Sensationsgier vorwarf. Damit äußerten die Konservativen die größte Kritik gegenüber Kiderlens Normbruch, obgleich er ihnen politisch am nächsten stand. Aber auch ihre Zeitungen diskutierten, ob überhaupt das Privatleben eines Politikers oder Beamten öffentlich relevant sei. Die Grenze sahen die konservativen Blätter dann erreicht, wenn sie „das Ansehen eines Vertreters der deutschen Reichsinteressen“ schmälerten, wobei diese Zeitungen für den angeprangerten Reputationsverlust zugleich verantwortlich waren.269 Diese Skandalisierung des Privatlebens ging mit erpresserischen Forderungen einher. Der Kronprinz drohte im Dezember 1908 sogar, er würde dem Kaiser – wie einst bei dem Eulenburg-Skandal – von der in allen Zeitungen thematisierten Liebesaffäre Kiderlens erzählen, wenn Kiderlen seine Südost-Europa-Politik nicht ändere. Holstein und Bülow konnten ihm dies jedoch ausreden, und Bülow stellte sich weiter vor Kiderlen.270 Tatsächlich konnte Kiderlen-Wächter trotz der Skandalisierung im Dezember auch offiziell den Posten des Außenstaatssekretärs übernehmen. Der Fall zeigte so265 266 267 268 269 270 Berliner Tageblatt Nr. 328 12. 12. 1908; Welt am Montag 14. 12. 1908. Vossische Zeitung Nr. 586, 14. 12. 1908. Vgl. auch die Ausschnitte in: BAB/L, R 8034 III-237. Vorwärts 15. 12. 1908. Tägliche Rundschau Nr. 587, 15. 12. 1908. Holstein an Bülow 16. 12. 1908, Faks. abgedr.: Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1930, S. 415 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 214 III. Ehebruch als Politikum mit, dass die Grenzen des moralisch zulässigen Verhaltens in Deutschland deutlich weiter gesteckt waren als in Großbritannien. Gerade nach dem EulenburgSkandal bemühten sich die Regierung und weite Teilen der Medienöffentlichkeit erfolgreich, durch tolerante Nachsicht einen erneuten politischen Skandal um moralische Fragen zu vermeiden. Diese größere moralische Toleranz im Vergleich zu Großbritannien zeigte sich auch bei den Vorwürfen, die zeitgleich im Herbst 1908 gegen Bülows engen Vertrauten Otto Hammann aufkamen. Hammann hatte seit 1893 die Pressearbeit der letzten drei Kanzler geführt und dabei eine zunehmend starke beratende Stellung in der Reichsleitung eingenommen.271 Dank der von ihm gepflegten offiziösen Pressepolitik, die nur ausgewählten Zeitungen Informationen zukommen ließ, war er bei vielen Journalisten wenig beliebt. Hammann wurde nun vorgeworfen, er habe dem berühmten Kunstprofessor Bruno Schmitz, seinem früheren Freund, die Frau ausgespannt, die Hammann dann später heiratete. In einem Unterhaltsprozess 1903, so der Vorwurf, hätte Hammann zudem einen Meineid geschworen, als er aussagte, er hätte vor der Ehe mit ihr keinen Geschlechtsverkehr gehabt.272 1903 hatte der Scheidungs- und Unterhaltsprozess weder einen Skandal noch eine öffentliche Berichterstattung ausgelöst. Dies belegt erneut, wie diskret in Deutschland Politiker in Scheidungsprozessen aussagen konnten, die in Großbritannien bereits das Ende der politischen Karriere bedeutet hätten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass die Öffentlichkeit bei den deutschen Scheidungsprozessen ausgeschlossen blieb. Dass diese Affäre ausgerechnet 1908 an die Öffentlichkeit kam, lag zunächst weniger an einer politischen Kampagne als an der Rachsucht von Schmitz. Um nachzuweisen, dass Hammann entgegen seines Eides bereits vor der Scheidung ein geschlechtliches Verhältnis mit seiner bisherigen Frau pflegte, hatte der Professor damals die Wohnung unter den beiden gemietet, die Decke mit kleinen Löchern ausgehöhlt und die beiden permanent belauschen und beobachten lassen.273 Da Schmitz als Schöpfer der KaiserDenkmäler an der Porta Westfalica, auf dem Kyffhäuser und am Deutschen Eck in Koblenz eine äußerst prominente patriotische Persönlichkeit war, ließ er sich nicht einfach als „Verrückter“ pathologisieren. Vielmehr bildeten sein sozialer Status, seine groteskes Nachspionieren und die Vorwürfe gegen Hammann das Gerüst für einen Gesellschaftsskandal. 271 272 273 Zu Hammanns Rolle: Peter Jungblut, Unter vier Reichskanzlern: Otto Hammann und die Pressepolitik der deutschen Reichsleitung 1890 bis 1916, in: Ute Daniel und Wolfram Siemann (Hrsg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789– 1989, Frankfurt a. M. 1994, S. 101–116. Schmitz hatte seiner Frau 200 000 Mark für die Erziehung der Kinder versprochen, angeblich gegen das Versprechen, dass sie dafür bis zu ihrer Wiederverheiratung keinen Verkehr mit Hammann haben dürfe; in dem Prozess sagte Hammann deshalb am 17. Oktober 1903 aus, dass der „Akt der Beiwohnung“ nicht vollzogen wurde; Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198. Vgl. Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 215 Die Journalisten wurden erst durch das Aufgreifen dieser Vorwürfe aktiv, die ihnen Schmitz in zahlreichen expliziten Berichten zuschickte. Zudem adressierte Schmitz zahllose beschuldigende Briefe an die Staatsanwaltschaft, von der er eine Ermittlung wegen Meineids verlangte, sowie an diverse Politiker.274 So informierte er Matthias Erzberger, der sich in den Kolonialskandalen gerade einen Namen als Enthüllungspolitiker gemacht hatte, und schließlich auch Kanzler Bülow direkt.275 Nachdem die Staatsanwaltschaft nicht aktiv wurde, veröffentlichte Schmitz seine Unterlagen zudem mit verschärften Angriffen in einer Broschüre, die ebenfalls an die Presse und die Abgeordneten ging.276 Intern war der Fall daher den Journalisten und Politikern frühzeitig bekannt. Gerade weil Hammann unter den Journalisten viele Feinde hatte, wurde schon vor der expliziten Publikation Hammanns Rücktritt erwartet und dieser Bülow nahegelegt, um einen Skandal zu verhindern.277 Ein Initialtext mit der vorsichtigen Andeutung, Hammann wolle aus „privaten Gründen“ demnächst aus seinem Amt ausscheiden, erschien erneut zuerst in einem konservativen Blatt, der Militärischpolitischen Korrespondenz, was die Tagespresse dann Mitte Oktober 1908 sofort weiter tradierte.278 Damit baute die Presse Hammann erpresserisch eine Brücke für seinen Abschied, ohne die Vorwürfe selbst zu veröffentlichen. Hammann erhielt dennoch, wie nahezu zeitgleich Kiderlen-Wächter, starke Rückendeckung durch den Reichskanzler. Bülows Unterstaatssekretär Loebell bemühte sich gegenüber Journalisten und Verlegern, die Publikation über den Fall zu verhindern.279 Rückendeckung erhielt Hammann zudem durch die Justiz, die eine öffentliche Anklage mangels Beweisen ablehnte.280 Die von Schmitz daraufhin verschickte Broschüre ließ sie sofort beschlagnahmen. Obgleich es im ganzen Deutschen Reich wohl keinen Politiker oder politischen Beamten gab, der mehr Einfluss auf die Medien hatte als Otto Hammann, konnte dieser den Ausbruch des Skandals nicht verhindern. Zunächst griffen die liberalen Zeitungen von Mosse und Ullstein die Vorwürfe auf und druckten sogar Auszüge aus Schmitz Broschüre, dann zogen die Zeitungen des regierungstreuen Scherl-Verlages nach.281 274 275 276 277 278 279 280 281 Vgl. seine Briefe in: BAB/L, N 2106-45. Schmitz an Bülow und Staatssekr. AA Schoen 29. 11. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198; Bruno Schmitz 14. 10. 1908 u. 24. 10. 1908, in: BAB/L, N 2106-45. Walter Steinhoff (Bearb.), Der Fall Hammann. Zur Personalakte des Preßdezernenten des Berliner Auswärtigen Amtes nach aktenmäßigen Material, Reihe „Reichstags-Broschüren (Dem deutschen Reichstage gewidmet und vorgelegt) Berlin 1908, in: BA/L, N 2106-45. Harden an Rathenau 24. 10. 1908 u. Holstein an Harden 27. 10. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 354 u. 357. Vgl. etwa: Berliner Börsen Courier Nr. 490, 17. 10. 1908. Die Militärisch-politische Korrespondenz ist laut ZDB-Opac in keiner deutschen Bibliothek für 1908 überliefert. Loebell an Hammann 28. 11. 1908, in BAB/L, N 2106-29; hier auch weitere Schreiben, in denen Loebell sich für Hammann einsetzt. Staatsanwalt 26. 11. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198. Sogar mit Vorankündigung; vgl. BZ Nr. 288, 8. 12. 1908; Berliner Tageblatt 5. 12. 1908. Berliner Tageblatt Nr. 628 10. 12. 1908; Berliner Morgenpost 6. 12. 1908; dann auch: Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 629, 10. 12. 1908; weitere Zeitungssauschnitte in: BAB/L, N 2106-45. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 216 III. Ehebruch als Politikum Darauf folgten Leserzuschriften über Hammanns Vorleben, die wiederum neuen Stoff zur Verspottung boten – etwa mit Andeutungen über Hammanns wilde Studentenzeit, als die Frauen vom „schönen Otto“ gesprochen hätten.282 Offensichtlich entluden sich hier die Spannungen, die sich seit den 1890er Jahren zwischen Hammann und den liberalen Journalisten aufgebaut hatten. Das Zusammenspiel der Skandale im Herbst 1908 verstärkte den Eindruck, die Elite des Kaiserreiches stünde an einem moralischen und politischen Abgrund. So standen die Enthüllungen über Hammanns Liebesleben oft in den gleichen Artikeln wie die über Kiderlen-Wächters Verhältnis. Parallel dazu erschienen Berichte über die Daily-Telegraph-Affäre, und die nicht abgeschlossenen Homosexualitätsprozesse von Eulenburg und Moltke schwebten ebenfalls noch durch die Öffentlichkeit. Die Zeitungen selbst betonten auch beim Fall Hammann, dass sie eigentlich auf keinen Fall derartiges darüber schreiben wollten, denn es „geht die deutliche Absicht hervor, Skandale hervorzurufen und durch diese Skandale private Zwecke zu fördern.“283 Selbst solche expliziten „Verweigerungen“ waren jedoch eine Thematisierung. Die Distanz zum Skandalinhalt gehörte erneut zur selbstlegitimatorischen Rhetorik der Journalisten. „Die Schlammflut öffentlicher Skandale, die sich seit Jahr und Tag über Deutschland ergossen hat, scheint kein Ende nehmen zu wollen“, schrieb etwa die auflagenstärkste Tageszeitung Berliner Morgenpost.284 Damit beklagten die Zeitungen einen Zustand, den sie gerade durch diese Artikel erst schufen. Ihre Anspielung auf andere Skandale weckte Assoziationen, die Hammanns Verhalten als wahrscheinlich und typisch für die Führungsschicht erscheinen ließen. Im Juli 1909 kam es durch Schmitz’ Provokationen tatsächlich zu einem Beleidigungsprozess, der ähnlich wie in Großbritannien einen großen Eheskandal auszulösen schien. Wie bei Eulenburg war Hammanns Stellung weniger durch den sexuellen Normbruch bedroht als durch den Vorwurf des Meineids, der die Ehre und das Vertrauen in den Politiker gefährdete und natürlich auch strafbar war. Dass dieser Prozess im Unterschied zu den britischen Fällen jedoch nicht mit einer Diskreditierung von Hammann endete, war zunächst dem strengen Ausschluss der Öffentlichkeit zu verdanken. Zudem hatte Hammmann abermals das Gericht auf seiner Seite, das die Möglichkeit eines Meineides als „unlogisch“ bewertete, so dass Hammann großzügig freigesprochen wurde.285 Wie sehr sich der Verlauf von den britischen Eheskandalen unterschied, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass Hammann seinen Posten bis 1916 behalten konnte. Ebenso wie bei Kiderlen zeigte der Skandal damit, dass in Deutschland Politik und Öffentlichkeit auf Ehebrüche vornehmlich mit Spott reagierten und die Normen des Zulässigen nicht so eng setzten wie in Großbritannien. Da die 282 283 284 285 BZ Nr. 289 9. 12. 1908. O.D. in Sammlung von Zeitungssauschnitten Okt. 1908 in: BAB/L, N 2106-45. Berliner Morgenpost 6. 12. 1908. Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 217 deutschen Regierungen nicht gewählt wurden, mussten sie allerdings auch nicht so sensibel reagieren wie in Großbritannien. Ganz folgenlos war der Skandal für Hammann und die Reichsleitung jedoch nicht. Hammann verlor gegenüber den Journalisten deutlich an Autorität. Dementsprechend konnte er etwa in der Daily Telegraph-Affäre nur recht zurückhaltend auftreten. „In dieser Zeit hat er aber völlig versagt. Gewiß nur, weil er von seinen Privatgeschichten präokkupiert ist“, stellte etwa Holstein gegenüber Bülow fest, „weil jeder geärgerte Journalist ihn durch Anspielungen und Artikel in der verschmitzten Sache lästig werden kann. Wenn erst mal so viel halböffentlich über den ‚Einfluß‘ des Preßdezernenten geschwatzt worden ist, ist’s mit dem Einfluß auf die Zeitungen vorbei.“286 Insofern trug die Veröffentlichung der Liebesaffäre mit dazu bei, dass die von Hammann organisierte offiziöse Pressepolitik an Einfluss verlor. Es wäre jedoch voreilig, aus diesen Beispielen zu schließen, in Deutschland seien politische Kampagnen mit derartigen Enthüllungen per se folgenlos geblieben. Wie öffentliche Grenzen gesetzt wurden, lässt sich an einer dritten Fallanalyse zeigen – dem Schack-Skandal von 1909. Er war erneut Ergebnis jener Skandaldynamik, die durch Kettenreaktionen ähnliche Fälle an die Öffentlichkeit brachte. Mit Wilhelm Schack stand ein antisemitischer Reichstagsabgeordneter der „Wirtschaftlichen Vereinigung“ im Mittelpunkt, der zugleich Mitbegründer und Vorsitzender des einflussreichen „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands“ war. Schack hatte nur wenige Monate nach den Skandalen um Hammann und Kiderlen-Wächter unter falschem Namen per Zeitungsanzeige eine junge Reisebegleiterin gesucht, die ihm eine sexuelle Dreisamkeit mit seiner Ehefrau ermöglichen sollte.287 Als er diesen Wunsch in einem Antwortschreiben andeutete, hielt die Mutter einer Bewerberin ihn für einen Mädchenhändler und sorgte für seine Verhaftung, der Schack sich unter Verweis auf seine Immunität als Abgeordneter entzog. Gerade die exponierte und antisemitische Positionierung Schacks dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich gerade hieraus ein folgenreicher Skandal mit einer breiten Empörung entwickelte. Aufgebracht wurde der Skandal durch die Sozialdemokraten. Ein der SPD nahestehendes Blatt, die „Handlungsgehilfen-Zeitung des Zentralverbandes der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutschlands“, nannte als erste die Vorwürfe. Damit startete jene Zeitung den Skandal, die das Blatt des sozialdemokratischen Pendants von Schacks Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband war. Um eine hinreichende Fallhöhe für Schack aufzubauen, nannte der Artikel zunächst Beispiele für Schacks moralistisches Auftreten. Er berichtete über Schacks Reden gegen die außerhäusliche Arbeit von Frauen, da sie beim unbeaufsichtigten Verlassen des Hauses sittlichen Gefahren ausgesetzt seien, und sei286 287 Holstein an Bülow 3. 1. 1909, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 431 f. Die Anzeige im Hamburger Fremdenblatt 29. 6. 1909 lautete: „Reisebegleitung. Gebildete junge Dame, nicht über 21 Jahre, ab Mitte Juli für 4 Wochen als Reisebegleiterin in Holstein. Schweiz gesucht. Offerten mit näheren Angaben u. Bild unt. C. 4834 an die Exp. D. Hamb. Frbl.“ Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 218 III. Ehebruch als Politikum ne skandalisierenden Schriften gegen die jüdische Unternehmerschaft, die nur deshalb Frauen einstellen würde, „weil sie sich im Stillen eine gewisse orientalische Einrichtung leisten möchte, die wohl der Sultan gestattet, aber hier in Deutschland verboten ist.“288 Unter Nennung von Schacks Namen und politischen Ämtern enthüllte der Artikel dann, wie der Reichstagsabgeordnete eine junge „Reisebegleitung“ für den Geschlechtsverkehr zu dritt suchte. Der Abdruck von Schacks Briefen an die Bewerberin belegte und kolorierte diesen Vorwurf, der vermutlich durch eine Indiskretion bei den Behörden an die Zeitung gelangt war.289 Somit überführte erneut ein kleines politisches Blatt die sensationelle Neuigkeit in die gesamte überregionale Qualitätspresse. Die anderen Zeitungen hatten auf eine derartige Legitimation bereits gewartet. Da der Vorwärts nahezu zeitgleich mit zum Teil identischen Formulierungen berichtete, ist eine arbeitsteilige Absprache wahrscheinlich.290 Offensichtlich wollte der Vorwärts nach Sexualitätsskandalen wie um Friedrich Alfred Krupp das Risiko vermeiden, als Sensationsblatt zu erscheinen oder sich durch Falschinformationen zu diskreditieren. Das Berliner Tageblatt meldete sogar, es habe bereits vor fünf Wochen von Schacks Verfehlungen gewusst und die diskreditierenden Briefe zum Druck angeboten bekommen: „Wir hatten von einer Veröffentlichung aber Abstand genommen, weil wir grundsätzlich der Meinung sind, dass derartige Dinge, soweit sie rein persönlich sind und das Privatleben eines einzelnen Mannes und einer Familie angehen, nicht vor die Öffentlichkeit gehören.“ Da Schack aber nicht selbst die Konsequenzen hieraus gezogen habe und bisher nicht zurückgetreten sei, und die Sache nun ohnehin öffentlich wäre, sei nun ein Bericht nötig.291 Dies belegt abermals, dass die Journalisten nicht sofort jede „sensationelle“ Meldung druckten, sondern vermutlich auch aus Angst vor Falschmeldungen, Prozessen und dem Vorwurf der „Skandalsucht“ abwarteten, bis sie sich auf einen Bericht in einem abseitigen Blatt berufen konnten. Auffällig war zudem, dass zahlreiche Blätter Schack zunächst nicht mit Namen nannten, sondern nur von „einem Reichstagsabgeordneten“ sprachen.292 Die konservative Presse sah 288 289 290 291 292 Handlungsgehilfen-Zeitung Nr. 18, 8. 9. 1909; die Zeitung kursierte bereits ein paar Tage zuvor. In dem Brief Schacks, den am nächsten Tag zahlreiche Zeitungen abdruckten, hieß es: „Wir wollen mit der jungen Dame, die wir suchen, das Leben und die Freuden der Liebe, ihre Schönheiten in allen Teilen gemeinschaftlich genießen in körperlicher und seelischer Gemeinschaft. Sie soll als richtig Gleichberechtigte in unseren Bund eintreten und müsste bei gegenseitiger Neigung natürlich ebenso wie meine Frau die Gefühle für einen Mann und eine Frau in sich vereinen.“ In dem Brief fragt er, ob sie damit einverstanden sei; zit. etwa in „Ein dreieckiges Verhältnis“, Hamburger Neueste Nachrichten Nr. 210, 8./9. 9. 1909. Unklar ist, ob diese Briefe über eine Indiskretion bei den Behörden oder über die beteiligte Frau an die Presse gelangten. Vorwärts Nr. 208, 7. 9. 1909. Berliner Tageblatt Nr. 467, 7. 9. 1909. So selbst die linksliberale Frankfurter Zeitung nicht, Nr. 248, 7. 9. 1909. Vgl. die umfangreiche Pressesammlung in: HStAH, 331-3 Polit. Polizei S 5260. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich 219 Schacks Schuld zwar nicht als erwiesen an und druckte vornehmlich dessen Rechtfertigung, er habe nur eine Pflegerin für seine kranke Frau gesucht und sei nun Opfer einer jüdischen Schmutzkampagne gegen sein Privatleben geworden. Aber selbst damit berichteten die konservativen Blätter ebenfalls über die Vorwürfe.293 Die liberalen Zeitungen, und erst recht die sozialdemokratischen, zogen aus den Enthüllungen schnell den Schluss, dass sich dieses Verhalten nicht mit einem Reichstagsmandat vertrage. Der Vorwärts forderte sogleich Schacks Rücktritt,294 und das Berliner Tageblatt verlangte, „wer nicht Herr seiner Triebe ist, wer sich nicht selbst beherrschen kann, der mag ein Privatleben führen, wie er es will, aber auf die Bühne des politischen Lebens gehört er dann nicht mehr.“295 Solche Formulierungen zeugten auf den ersten Blick von einer Toleranz gegenüber dem sexuellen Verhalten in der Privatsphäre. Zugleich verband die Formulierung Privatleben und öffentliche Repräsentation.296 Ähnlich wie bei den britischen Skandalen erhielt Schack von seinem Umfeld und seinem Verband zunächst noch Rückhalt, wobei ihn auch zahlreiche rasch einberufene lokale Versammlungen öffentlich unterstützten.297 Angesichts der breiten und spöttischen Rücktrittsforderungen kündigte jedoch Schack drei Tage nach dem Aufkommen der Vorwürfe seinen Rücktritt von der Verbandsführung und dem Reichstagsmandat an. Im Unterschied zu den britischen Skandalen, wo die Betroffenen oft das Land verließen, wählte Schack eine eher deutsche Form des Rückzuges: Die Flucht in die Krankheit und die Überweisung in ein Sanatorium aufgrund nervlicher Zerrüttung.298 Die angebliche oder tatsächliche „Nervenkrankheit“ bot, wie kurz zuvor im Eulenburg-Skandal, eine letzte Rettung: Sie vermied erstens eine Entscheidung über die Schuldfrage, indem sie diese vertagte, erlaubte zugleich aber einen politischen Rückzug ohne Schuldeingeständnis. Sie bot zweitens eine mögliche und eher tolerierbare Erklärung für den Normbruch (falls er nachgewiesen wurde) und war zugleich eine Aufforderung zum Mitleid. Und sie schützte drittens vor Gerichtsprozessen. Bei den zahlreichen Verfahren, bei denen sich politische Gegner von Schack selbst anzeigten, um ihn als Zeugen vorzuladen, konnte er per Attest sein Erscheinen verhindern.299 Diese „Flucht in die Krankheit“ gab den Gerichten die Möglichkeit, je nach politischer Opportu293 294 295 296 297 298 299 Post Nr. 418, 9. 9. 1909; Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 211, 10. 9. 1909. Vorwärts Nr. 208, 7. 9. 1909. Berliner Tageblatt Nr. 457, 9. 9. 1909. So die Grundargumentation bei Sennett, Tyrannei. Allein in Berlin kam es wohl in 14 Lokalen zu Versammlungen, die Schack das Vertrauen aussprachen; Weser-Zeitung, 11. 9. 1909; zur Stellung des Bundesverbandes: Deutsche Blätter 10. 9. 1909. Berichte über Versammlungen auch in: Polizeibericht 18. 9. 1908 in: HStAH, V544 Bd. 2. Dies ließe sich im Sinne von Joachim Radkau auch als spezifischer Ausdruck der wilhelminischen Zeit deuten; vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Hamburger Echo 26. 5. 1910. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 220 III. Ehebruch als Politikum nität von Prozessen abzusehen. Ein großer Skandalprozess blieb zudem aus, da es Schacks Fraktionskollegen gelang, die umworbene junge Frau unter Verweis auf Schacks Zusammenbruch von der Zurückziehung ihrer Anzeige zu überzeugen. Bei den Vorwürfen gegen Schack war allerdings weiterhin umstritten, inwieweit derartiges Teil der Privatsphäre sei oder in die politische Öffentlichkeit gehöre. Konservative Zeitungen warfen der SPD und den Liberalen vor, sie hätten private Verfehlungen politisch ausgeschlachtet, und Schacks Fraktionskollegen stellten den Politiker in umfangreichen Schriften als einen Kranken dar, der ein Opfer der „Revolverpresse“ sei.300 Zudem verteidigten Teile der politischen Rechten Schacks Makellosigkeit weiterhin, indem sie ihn als Opfer „verjudeter Blätter sozialdemokratischer und bürgerlicher Richtung“ stilisierten: „Mancher wird bei diesem Vorfall die gefährliche Macht des Judentums in unserer Presse kennengelernt haben“, hieß es etwa in der Staatsbürgerzeitung.301 Tatsächlich beklagte die äußerste Rechte einen Journalismus, den sie selbst maßgeblich mit aufgebracht hatte. Denn die antisemitischen Kampagnen dieser Zeitungen und Abgeordneten hatten seit Jahrzehnten immer wieder gegen die angebliche „Lüsternheit“ der Juden gewettert, wie auch Schack selbst. Ähnlich wie bei den Korruptionsskandalen wurden die Antisemiten nun Opfer ihrer eigenen politischen Kampagnenformen, indem sich derartige Vorwürfe spiegelverkehrt gegen sie selbst richteten. Noch 1911 tradierten SPD-Blätter das Bild des perversen Antisemiten mit einem Bericht darüber, dass Schacks Sekretär wegen Diebstahl von Damenwäsche von einer Wäscheleine verurteilt worden sei, und man in seiner Wohnung eine Sammlung davon vorfand.302 Von seinen Folgen her kann man den Schack-Skandal dementsprechend als wirkungsmächtig einschätzen. Der Skandal führte nicht nur zum Rücktritt eines führenden antisemitischen Abgeordneten und Verbandsfunktionärs, sondern diskreditierte den moralischen Überlegenheitsanspruch der Antisemiten insgesamt. Er förderte einen humoresken Spott über sie und verbreitete Stereotype, die wie beim Antisemitismus leicht in die Alltagskommunikation einfließen konnten. Der Fall zeigte schließlich, dass die moralischen Toleranzgrenzen nicht allein vom Normbruch selbst abhingen. Entscheidend war vielmehr der gesellschaftliche Konflikt, in den die Enthüllung eingebettet war. In diesem Fall war der Skandal folgenreich, weil die Mehrheit der Öffentlichkeit für die Ausgrenzung eines radikalen Antisemiten eintrat. 300 301 302 Aufklärungsschriften des Reichsverbandes der deutschsozialen Partei Nr. 10, Okt. 1909. Vgl. die Erwiderung im Vorwärts Nr. 211, 11. 9. 1909. Zit. Staatsbürgerzeitung Nr. 74, 15. 9. 1909, und Deutsche Blätter Nr. 75, 21. 9. 1909. Hamburger Echo 15. 3. 1911. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Zwischenfazit 221 5. Zwischenfazit Weder im spätviktorianischen England noch im wilhelminischen Deutschland kam es zu einer zunehmenden Tabuisierung der Sexualität zwischen Männern und Frauen. Vielmehr etablierte sie sich als ein öffentlich verhandelbares Thema, bei dem Normen und Abweichungen diskutiert wurden. Dies galt besonders für den außerehelichen Geschlechtsverkehr, aber auch für die Prostitution. Ausgelöst und ermöglicht wurde das Sprechen über die außereheliche Sexualität maßgeblich durch Skandale von Prominenten, zu denen auch Politiker zählten. Nicht nur im viktorianischen Großbritannien, sondern auch im wilhelminischen Deutschland lancierte die Presse entsprechende Beschuldigungen gegen missliebige Politiker. Welche Konsequenzen daraus folgten, war bei den Skandalen in beiden Ländern zunächst überraschend offen. In beiden Ländern musste erst öffentlich ausgehandelt werden, ob jemand, der sich nicht an das eheliche TreueIdeal hielt, weiterhin als Repräsentant des Volkes oder des Staates akzeptabel erschien. Somit legte nicht eine vorher bestehende Norm den Ausgang von Skandalen fest, sondern die Norm wurde erst durch die Skandale und ihren Verlauf etabliert. Dabei zeigte sich, wie sehr die unterschiedlichen rechtlichen Strukturen die öffentlichen Sprechweisen und damit die Skandale prägten. Während in Großbritannien das strenge Scheidungsrecht mit seinen öffentlichen Prozessen Geständnisse und eine breite Thematisierung nicht-ehelicher Beziehungen förderte, wahrten in Deutschland selbst Prozesse über Politiker eine gewisse Diskretion über das Privatleben. Obgleich auch für Großbritannien eine Protektion der Politiker durch die Justiz nachweisbar war, griff dieser Schutzmechanismus in Deutschland wesentlich stärker. Und obwohl in Deutschland generell wesentlich freier über die Sexualität geschrieben wurde, hielten sich bereits die Journalisten des Kaiserreiches tendenziell mit einer Benennung und Politisierung von öffentlich gemachten Ehebrüchen zurück. Dennoch sind ähnliche Entwicklungen in beiden Ländern erkennbar, die sich aus der Medialisierung und dem verstärkten politischen Wettbewerb erklären lassen. So zeigte die Presse in beiden Ländern zunächst Zurückhaltung. Obgleich viele Journalisten von entsprechenden Normbrüchen wussten, setzten sie sich selbst recht strenge Grenzen, ab wann und in welcher Form sie über Ehebrüche berichteten. Auch in Großbritannien veröffentlichten sie vor den Scheidungsprozessen allenfalls versteckte Andeutungen, die die Politiker warnend zur moralischen Einkehr bewegen sollten und nur eine spöttische Empörung der „Eingeweihten“ erlaubte. Liebesaffären wurden folglich selbst im spätviktorianischen England solange toleriert und nicht veröffentlicht, bis sie gerichtsnotorisch wurden. Legitim erschien eine solche Publikation erst in Verbindung mit einem juristisch fassbaren Vergehen, einer öffentlichen Lüge hierüber oder einer Beeinflussung eines politischen Amtes. In beiden Ländern zeigte die Presse dabei eine deutliche Scheu, mit der ersten expliziten Meldung aufzutreten. Deshalb verlagerte sie dies in kleinere politische Zeitungen, auf die dann die anderen Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 222 III. Ehebruch als Politikum Blätter zitierend verwiesen. Auch die deutschen Journalisten nahmen dabei durchaus eine initiative Rolle ein. Allerdings fand sich in Deutschland kein Journalist, der mit einem derartig hartnäckigen moralischen Engagement Ehebruchsskandale forcierte und lenkte wie W. T. Stead in Großbritannien, der insbesondere beim Fall Dilke den Ablauf maßgeblich bestimmte, aber auch bei Parnells Ehebruchskandal. Selbst der gut organisierte politische Katholizismus in Deutschland bildete kein Pendant zum britischen non-konformistischen Journalismus und trat vielmehr für ein Verschweigen des außerehelichen Verkehrs ein. Bei der Veröffentlichung der Enthüllungen und der anschließenden Empörung dominierten überwiegend politische Motive. Dementsprechend richteten sie sich besonders gegen exponierte Politiker, die für eine umstrittene Politik standen – sei es für die Autonomie Irlands (Parnell), radikalen Liberalismus (Dilke), eine offiziöse Pressepolitik (Hammann) oder den Antisemitismus (Schack). Da die sexuellen Vorwürfe in den Parlamenten nicht thematisierbar waren, übernahmen die jeweiligen parteinahen Medien dies. Dementsprechend korrespondierte das Aufkommen der Ehebruchsskandale erneut mit politischen Konfliktphasen und der jeweiligen Medienentwicklung. Von ihrer Chronologie her verliefen sie dabei auffällig ähnlich wie die Homosexualitätsskandale: In Großbritannien traten seit Mitte der 1880er Jahre entsprechende Skandale auf, die um 1890 ihren Höhepunkt erreichten, in Deutschland setzten sie hingegen seit den 1890er Jahren ein, kulminierten jedoch abermals erst um 1908. Offensichtlich befruchteten sich Skandale um Homosexualität und unehelichen Verkehr gegenseitig, indem sie das Sprechen über Sexualität und entsprechende politische Kampagnen wechselseitig förderten. Ob die betroffenen Politiker zurücktreten sollten, war jeweils relativ offen. Insbesondere die liberalen Zeitungen in beiden Ländern zeigten beim Aufkommen der Vorwürfe eine bemerkenswerte Toleranz gegenüber heterosexuellen Normverstößen. Außereheliche Verhältnisse ordneten sie der Privatsphäre zu, die unabhängig von der Politik zu betrachten sei. Zugleich zeigten die politischen Lager jedoch eine starke moralische Opportunität, je nachdem, gegen wen sich die Vorwürfe richteten. Die ihnen politisch nahestehenden Betroffenen unterstützten die jeweiligen Teilöffentlichkeiten erstaunlich lange, selbst wenn ihre katholische oder konservative Weltanschauung grundsätzlich eine andere Bewertung außerehelicher Verhältnisse erwarten ließ. Da die Enthüllungen als Teil einer polarisierten politischen Auseinandersetzung galten, förderten sie bei der angegriffenen Partei notgedrungen eine größere moralische Toleranz. Ebenso zeigten die Regierungen und die Fraktionskollegen in beiden Ländern eine bemerkenswerte Nachsicht gegenüber dem publizierten außerehelichen Liebesleben und versuchten gegenüber besonders engagierten Journalisten mit Gesprächen zu vermitteln. Wenn sich die liberalen Politiker Großbritanniens schließlich doch für Rücktritte aussprachen, so geschah dies vor allem mit Blick auf die nonkonformistischen Wähler und die Angst, andere politische Ziele sonst nicht durchsetzen zu können. Die mediale Dynamik des Skandals, Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Zwischenfazit 223 die tabubrechende Geständnisse produzierte und die Politiker der Lüge verdächtigte, beschleunigte dann die öffentliche Forderung nach einem Rücktritt. Die unmittelbaren Folgen der Skandale um außerehelichen Verkehr unterschieden sich somit in den beiden Ländern: In Großbritannien führten sie zum Rücktritt der Politiker, in Deutschland konnten sie zumeist ihre Posten behalten. Allerdings lässt sich auch dieser Befund differenzieren. Selbst in der spätviktorianischen Zeit erschien es als zulässig, dass moralisch diskreditierte Politiker zumindest in der zweiten Reihe ihr öffentliches Amt behielten. Selbst die intensiven Kampagnen W. T. Steads gegen Charles Dilkes Rückkehr ins Unterhaus konnten diese nicht verhindern. Umgekehrt bestanden in Deutschland, das sich insgesamt als toleranter erwies, durchaus auch Grenzen des moralisch Zulässigen, etwa, wenn ein besonders umstrittener Politiker wie der Antisemit Wilhelm Schack beschuldigt wurde. Im Vergleich zur Homosexualität zeigte sich hingegen in beiden Ländern eine größere Toleranz. Die Skandale prägten die moralische Selbstwahrnehmung der Gesellschaft. Dabei korrespondierten sie mit sensationellen Enthüllungen über Ehebrüche von Adligen und Prostitution in den Metropolen, die kurz zuvor das Themenfeld geöffnet hatten. Während die Berichte über unmoralische Adelige und Prostituierte der bürgerlichen Mittelschicht eine moralische Abgrenzung erlaubten, thematisierten die hier analysierten politischen Skandale sexuelle Normbrüche inmitten der bürgerlichen Elite. Gerade dies dürfte dafür gesorgt haben, dass die Fälle nicht nur zu einer spöttischen Empörung führten, sondern auch zu einer Verunsicherung über den Status der bürgerlichen Ehe. Die Skandale suggerierten auf unterschiedliche Weise die Gefährdung des monogamen Ehe-Ideals; sei es durch einfache Untreue, durch die „wilde Ehe“ oder durch den Wunsch nach dem sexuellen Verkehr zu dritt. Dabei konstruierten die Skandale in beiden Ländern das Bild des triebhaften Mannes, der selbst die Ehefrauen von Freunden verführt, wenn er sich nicht zügelt. Zugleich differenzierten sie dieses archaische Männerbild, indem sie die Verzweiflung von betrogenen Männern dokumentierten, die aus Rache und Hilflosigkeit den Ehebruch schließlich öffentlich machten. Die Skandale veränderten jedoch vor allem in Großbritannien die Vorstellungen über die Sexualität der Frau. Die weiblichen Geständnisse verbreiteten das Bild einer aktiven Sexualität bürgerlicher Frauen, die souverän ihre Ehemänner betrogen. Gerade dies löste eine weitere Verunsicherung in der männlich geprägten Öffentlichkeit aus. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek IV. BÜRGERLICHE ENTGRENZUNGEN: KOLONIALSKANDALE 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse im 19. Jahrhundert Die Kolonien bildeten Projektionsflächen für vielfältige Sehnsüchte und Ängste. Für europäische Männer schien hier eine Überschreitung bürgerlicher Grenzen möglich – sei es bei der außerehelichen Sexualität, der Ausübung autoritärer Gewalt und dem übermäßigen Alkoholkonsum, sei es bei gewinnbringenden Geschäften, die im eigenen Land gegen die kaufmännische Ehre verstoßen hätten. Obgleich nur wenige Kolonialisten derartiges auslebten, speisten deren Berichte doch die öffentliche Imagination über die fernen Kolonialreiche.1 Derartige Grenzüberschreitungen wurden als Kompensation für die Entbehrungen in den Kolonien und als notwendige Anpassung an die äußeren Bedingungen gerechtfertigt und lange Zeit im höheren Maße toleriert als in den Heimatländern. Die geringere bürgerliche Sozialkontrolle und die fehlende Medienöffentlichkeit schufen ebenfalls Spielräume für ein Verhalten, das in den Heimatländern schneller zu Skandalen geführt hätte. In den Kolonien kursierten zwar schnell Gerüchte, die mitunter über Leserbriefe auch in europäische Zeitungen einflossen. Aber Recherchen durch Journalisten, Politiker, Richter oder Privatdetektive waren bei Verstößen gegen bürgerliche Regeln und Gesetze zunächst kaum zu befürchten, wenn diese lediglich die Eingeborenen benachteiligten. Sexuelle Sehnsüchte spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Kolonien bildeten in vielfacher Hinsicht eine „Chiffre für sexuelle Träume“.2 Vorstellungen über die ungezwungen triebhafte afrikanische oder orientalische Frau, die zugleich das Bild der sittlichen heimischen Frau mit konstruierten, weckten erotische Phantasien. Damit verbunden kursierte die Angst vor Geschlechtskrankheiten und einer rassischen Vermischung.3 Tatsächlich verkehrten zahllose Kolonialisten mit einheimischen Frauen. Sie prahlten damit untereinander, mitunter auch 1 2 3 Dies stellten bereits diverse Studien zum Kolonialismus heraus. Vgl. für Deutschland bes. Birthe Kundrus (Hrsg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003; dies., Moderne Imperialisten; für das Empire frühzeitig, aber eher literaturwissenschaftlich: Martin Green, Dreams of Adventure, Deeds of Empire, London 1980. Dass das Empire für die meisten Briten kein größere Bedeutung gehabt habe, betont dagegen: Porter, The Absent-Minded Imperialist. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 407; aus der umfangreicheren angelsächsischen Literatur zu diesem Feld vgl. etwa: Ann Laura Stoler, Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham 1995. Beispiele für die seit langem bestehende Zuschreibung einer ungezügelten Sexualität der Afrikaner in: Anne McClintock, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Context, New York 1995, S. 22 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 226 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale in ihren Memoiren, oder rechtfertigten dies zumindest als „Notlösung“. Eine „schwarze Freundin“, so schrieb etwa Max Buchner 1887 über das Leben in Kamerun, würde gegen „die Verkümmerung des Gemüts“ in der Einsamkeit schützen.4 Wie Ronald Hyam mit zahlreichen Beispielen argumentierte, war diese populäre sexuelle Imagination sogar ein wesentlicher Motor für die koloniale Expansion im späten 19. Jahrhundert.5 Das galt auch für Homosexuelle, für die die Spielräume in den Kolonien ebenfalls deutlich größer waren. Die Flucht vor dem klassischen Familienleben bildete vielfach ein Motiv für die weiten Reisen prominenter Kolonialisten.6 Schließlich waren gerade in vielen britischen Kolonien die Gesetze gegen Homosexualität weniger rigide als im Mutterland. Die besonders hierarchischen Beziehungen, etwa zu einheimischen Haushaltshilfen, erleichterten den homosexuellen Kontakt ebenso wie bei den heterosexuellen Geschlechtsbeziehungen. Die zahlreichen homoerotisch gefärbten literarischen Kolonialberichte lassen sich ebenfalls als Ausdruck dieser Sehnsüchte fassen.7 Die öffentlichen Normen und tolerierbaren Praktiken waren jedoch auch in den Kolonien variabel und mussten jeweils erst ausgehandelt werden. Der offizielle Verhaltenskodex, der im Mutterland für die Kolonisation angestrebt wurde, war selbstverständlich von Beginn an ein anderer. Die Kolonialmächte legitimierten ihre Eroberungen als „Zivilisierungsmissionen“ (Barth/Osterhammel). Wie bereits die Berliner „Kongo-Konferenz“ 1884/85 zeigte, formulierten sie durchaus die Absicht, Afrikaner durch „Erziehung“ und Ausbildung an der Zivilisation teilhaben zu lassen.8 In Deutschland herrschte durch den späten Erwerb von Kolonien von Beginn an ein besonders hoher moralischer Anspruch vor. In ihrer Selbstlegitimation sahen die Deutschen ihre kolonialen Eroberungen stärker als eine Kulturarbeit, während die Engländer angeblich nur wirtschaftliche Interessen verfolgen würden. Entsprechend grenzten sich die Deutschen auch von der brutalen Ausbeutung der Einheimischen ab, die die westeuropäischen Nachbarn durch die Sklaverei betrieben hätten. Der Kampf gegen 4 5 6 7 8 Max Buchner, Kamerun. Skizzen und Betrachtungen, Leipzig 1887, S. 154. Vgl. auch Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 222–226; Lora Wildenthal, German Women for Empire 1884–1945, London 2001, S. 81 f. Hyam, Empire and Sexuality, S. 1 f.; zur Kritik an Hyams darüber hinaus gehender These, die Sexualkontakte hätten erst zu Interaktionen geführt, die das Empire zusammenhielten, vgl.: Mark T. Berger, Imperialism and Sexual Exploitation: a Review Article, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 17 (1988), S. 83–98; sowie: Ronald Haym, A Reply, in: ebd. Aldrich, Colonialism and Homosexuality, S. 408. Vgl. etwa: Philipp Holden und Richard Ruppel (Hrsg.), Imperial Desire. Dissident Sexualities and Colonial Literature, Minneapolis und London 2003. Entsprechende Quellen aus Reiseberichten in: Lee Wallace, Sexual Encounters. Pacific Texts, Modern Sexualities, Cornell 2003. Andreas Eckert, Die Verheißung der Bürokratie. Verwaltung als Zivilisierungsagentur im kolonialen Westafrika, in: Boris Barth und Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 269–283, S. 270. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse 227 die Sklaverei legitimierte Ende der 1880er Jahre sogar den deutschen Einsatz von Truppen in den Kolonien und damit die eigene Gewalt.9 Gerade dieser explizit moralisch-kulturelle Anspruch, der sich an den westlichen Nachbarländern maß, setzte jedoch die Fallhöhe für deutsche Kolonialskandale entsprechend hoch. Eine weitere Vorbedingung für das Aufkommen von Skandalen waren auch beim Kolonialismus die gesetzlichen Vorgaben. Weder die britischen noch die deutschen Kolonien kannten ein einheitliches Recht, sondern wiesen starke Variationsbreiten auf. Ein gewisses Spezifikum des deutschen Rechts war die stärkere rassistische Abstufung, während bei den Briten die den Einheimischen individuell zugeschriebene Kulturstufe eine größere Rolle spielte.10 Auffällig war zudem, dass bereits als anachronistisch geltende Strafen in den deutschen Kolonien eine intensivere Anwendung fanden. Obgleich die Prügelstrafe in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hatte, erlebte sie in den Kolonien eine ebenso starke Blüte wie die Todesstrafe, die im Deutschen Reich um 1900 immer seltener vollstreckt wurde.11 Da eine klare Regelung der gesetzlichen Grundlagen in den Kolonien ausblieb, verfügten die jeweiligen Kolonialbeamten über große Spielräume bei ihren Urteilen. Kontrollinstanzen fehlten häufig allein deshalb, weil ein Beamter alle drei Gewalten vereinte. Dass die rechtlichen Normen so variabel waren, dürfte ebenfalls Skandale gefördert haben, da nur eine öffentliche Empörung Strafen korrigieren konnte, die als willkürlich empfunden wurden. Die Entwicklung der juristischen und normativen Regeln ging in der kurzen deutschen Kolonialgeschichte in etwa mit den Phasen der kolonialen Erschließung einher. So setzte nach einer Phase der ungeordneten Eroberung seit Mitte der 1880er Jahre in den 1890er Jahren eine Phase der Konsolidierung ein, in der nicht zuletzt im Kontext von verschiedenen Skandalen moralische und juristische Regeln austariert wurden. Seit 1907 begann, wiederum nach zahlreichen Skandalen, eine gewisse Reformphase.12 In ihr wurden administrative und ökonomische Praktiken hinterfragt, aber auch der Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Die dabei erkennbare Verrechtlichung moralischer Standards bezog 9 10 11 12 Zu diesem Diskurs vgl. Michael Schubert, Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart 2003, bes. S. 194–216, 224 u. 261–267. Harald Sippel, Typische Ausprägungen des deutschen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems in Afrika, in: Rüdiger Voigt und Peter Sack (Hrsg.), Kolonialisierung des Rechts. Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung, Baden-Baden 2001, S. 351–372, S. 360. Thomas Kopp, Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts, in: Voigt und Sack (Hrsg.), Kolonisierung, S. 71–94, S. 81; Nils Ole Oermann, The Law and the Colonial State. Legal Codification versus Practice in a German Colony, in: Geoff Ely und James Retallack (Hrsg.), Wilhelminism and its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meaning of Reform, 1890–1930, New York und Oxford 2003, S. 171–184. Vgl. generell zu Zäsuren in der deutschen Kolonialgeschichte, die freilich allenfalls in der Tendenz sinnvoll sind: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 2004 (Erstausgabe 1985), S. 241. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 228 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale sich auch auf die sexuellen Beziehungen zu Afrikanerinnen, was sich insbesondere in den vielfältigen Debatten und Gesetzen zur „Mischehe“ niederschlug.13 Für die britischen Kolonien lässt sich dank der längeren Kolonialtradition noch deutlicher die Zunahme normativer Regeln ausmachen, wobei diese mit den moralischen Debatten auf der britischen Insel korrespondierten. Gegenüber kolonialer Korruption und Gewalt lässt sich bereits für das späte 18. Jahrhundert ein Zusammenspiel zwischen der öffentlichen Kritik und politischen Reformversuchen erkennen. Aufklärerische Interventionen wie Edmund Burkes berühmte Anklagen gegen den indischen Generalgouverneur Warren Hastings und die East India Company, die er als „one of the most corrupt and destructive tyrannies“ bezeichnete, modifizierten das zulässige Verhalten.14 Ebenso trug seit den 1780er Jahren die Anti-Sklaverei Bewegung durch die Veröffentlichung schockierender Berichte mit dazu bei, diese zunehmend moralisch illegitim erscheinen zu lassen.15 Eine freie Presse in den Kolonien wurde dabei bereits als Katalysator gesehen, um dort das willkürliche Auspeitschen, Verwaltungsmissstände und die „Unmoral“ zu beseitigen. Seit den 1850er Jahren nahmen in den Medien auch explizite Berichte über die Gewalt in den Kolonien zu. Sie führten mitunter, wie 1865 nach einer blutigen Vergeltung in Jamaica, zur Bestrafung der Kolonialbeamten, ohne dass dies jedoch in eine breitere mehrheitliche öffentliche Kolonialkritik mündete.16 Ebenso kam es bei der blutigen Niederschlagung des indischen Aufstandes 1857 in Großbritannien zwar zu zahlreichen öffentlichen Berichten, nicht aber zu einer breiten britischen Empörung über die Gewalteskalation.17 Mit Blick auf die sexuellen Normen lässt sich bereits im 19. Jahrhundert eine enge Interaktion zwischen dem britischen Mutterland und seinen Kolonien ausmachen. Parallel zu den Sexualitätsskandalen, die innerhalb von England um 1820 auftraten, kam es auch innerhalb der britischen Kolonien zu entsprechenden Normbrüchen, die zumindest in den dortigen, stärker mündlich ge13 14 15 16 17 Vgl. auch: Cornelia Essner, Zwischen Vernunft und Gefühl. Die Reichstagsdebatten von 1912 um koloniale „Rassenmischehe“ und „Sexualität“, in: ZfG 45 (1997), S. 503–519. Die Rede ist abgedr. in: Peter J. Marshall (Hrsg.), The Speeches of the Right Hon. Edmund Burke, Bd. 5: India: Madras and Bengal, 1774–1785, Oxford 1981, S. 385 u. Bd. 7: India: The Hastings Trial 1789–1794, Oxford 2000. Zu Burkes Ignoranz gegenüber der Presse: Clark, Scandal, S. 84–112. Zum Kontext vgl. etwa: Andrew Porter, Trusteeship, Anti-Slavery, and Humanitarianism, in: ders. (Hrsg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 3: The Nineteenth Century, Oxford 1999, S. 198–221. Zu dem öffentlichen Druck auf die Politik vgl. Seymour Drescher, ‚Whose Abolition‘? Popular Pressure and the Ending of the British Slave Trade, in: Past and Present 143 (1993), S. 136–166. So die Einschätzung von Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire, Cambridge 2005 (3. Aufl.), S. 200–204. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung der Presse als moralische Kraft in den Kolonien vgl. etwa: Leicester Stanhope, Sketch of the History and Influence of the Press in British India, London 1823. Allerdings etablierte die brutale Niederschlagung des Aufstandes zumindest in fiktionalen Arbeiten und Erinnerungen Schulddiskurse; vgl. Gautam Chakravarty, The Indian Mutiny and the British Imagination, Cambridge 2005. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse 229 prägten Öffentlichkeiten für Empörung sorgten. So brachte in dieser Zeit ein südafrikanischer Skandal das Bild des ehebrechenden Missionars auf.18 Nicht zufällig führte gerade das Verhalten der Missionare zu Skandalen, da diese in den Kolonien des frühen 19. Jahrhunderts am stärksten den heimischen Normen verpflichtet waren. Ebenso entstanden mit der Etablierung regionaler Zeitungen in den Kolonien Skandale, die Gerüchten über unzulässiges Sexualverhalten verbreiteten und damit über Exklusion und Inklusion in den sich neu formierenden Gesellschaften entschieden.19 Darüber hinaus lassen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits Kolonialskandale um sexuelle Normen ausmachen, die auch die britische Öffentlichkeit diskutierte und mit generellen Fragen der Kolonialpolitik verband. Als etwa Sir John Eardley-Wilmot, dem Vize-Gouverneur der Strafkolonie Van Diemen’s Land, 1845 Homosexualität vorgeworfen wurde, und der damalige Kolonialminister Gladstone auf seiner Abberufung bestand, führte dies im Parlament und der britischen Presse nicht nur zu einer Debatte über dessen „private and public character“. Vielmehr entstand hieraus auch eine generelle Kritik an der Kolonialverwaltung, die sich vornehmlich gegen die Regierung und ihren Umgang mit dem Fall richtete.20 Die Intensivierung der britischen „Sexualpolitik“ seit den 1860er Jahren zeigte sich auch in den Kolonien. So wurden die erwähnten Gesetze zur medizinischen Kontrolle von Bordellen im Heimatland bereits vorher in einzelnen Kolonien erprobt.21 Die damit einhergehende Gründung von Bordellen in den Kolonien stand zugleich für eine gewisse Tolerierung des sexuellen Verkehrs mit den dortigen Frauen. Sowohl die Angst vor der rassischen Vermischung und illegitimen Kindern als auch die Furcht vor einer „notgedrungenen“ Homosexualität förderten diese Bordellgründungen, die wiederum Kampagnen gegen sie hervor riefen. Die moralischen Kontrollansprüche nahmen um 1860 insbesondere in Indien zu. Die Verdichtung der Kommunikation mit der britischen Insel, die steigende Heiratsquote der Soldaten und die häufigere Anwesenheit von Ehefrauen führten dazu, dass nun auch in den Kolonien außerehelicher Geschlechtsverkehr im höheren Maße zum Normbruch wurde. Zudem sorgte die Präsenz von Missionaren für eine Anbindung an die heimische Öffentlichkeit. All dies förderte das Aufkommen von Skandalen. 18 19 20 21 Julia Wells, The Scandal of Rev. James Read and the Taming of the London Missionary Society by 1820, in: South African Historical Journal 42 (2000), S. 136–160. Einen weiteren Fall für Australien beschreibt: Ken R. Manley, A Colonial Evangelical Ministry and a „Clerical Scandal“. James Taylor in Melbourne (1857–1868), in: Baptist Quarterly 39 (2001), S. 56–79. Kirsten McKenzie, Women’s Talk and the Colonial State: The Wylde Scandal, 1831–1833, in: Gender & History 11 (1999), S. 30–53. Auch abgedruckt in: McKenzie, Scandal, S. 17–45. Vgl. Times 8. 6. 1847, S. 2, 3 u. 5, 11. 6. 1847, S. 3 u. 5, 23. 6. 1847, S. 6. Knappe Erwähnung des Falls in: Shannon, Gladstone, Bd. 1, S. 191. Besonders Hongkong war hier ein Vorreiter; vgl. Philippa Levine, Prostitution, Race and Politics. Policing Veneral Disease in the British Empire, London 2003, S. 15. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 230 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale In den 1880er Jahren überlagerten sich die Kampagnen gegen die heimischen Prostitution und die in den Kolonien. Auch im Kolonialdiskurs setzte W. T. Steads Pall Mall Gazette entscheidende Akzente, um die Kolonien als Ort der illegitimen Sexualität erscheinen zu lassen. Unter dem Aufmacher „Is the Empire a Moloch?“ monierte sein Blatt 1887, dass zumindest die ‚schwarzen‘ Kolonien nur mit Gewalt beieinandergehalten würden und die rund 260 000 Engländer in den Kolonien, weil sie fast alle ohne Frauen seien, „immoral relations with natives“ führten, die sie selbst zu Wilden machten.22 Daraufhin reiste der Herausgeber der christlichen Zeitschrift Sentinel, der Quäker Alfred S. Dyer, der durch seine White Slave-Kampagne bereits für Westeuropa das Thema gesetzt hatte, nun nach Indien und berichtete ab 1888 von dort anklagend, die britischen Behörden würden sogar Bordelle gründen. Insbesondere seine Veröffentlichung einer diskreditierenden Anfrage eines hohen Militärs („Please send young and attractive women“) im Sentinel löste entsprechende Reformen aus.23 Welche Normen und welche Gesetze in den einzelnen Kolonien galten, hing jedoch im hohen Maße von den jeweiligen rassistischen Vorurteilen ab. So blieben im Empire auch Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere in Westafrika, Kenia, Uganda, Burma und Malaysia noch einheimische Konkubinen üblich, so lange der Verkehr mit ihnen nicht öffentliche Empörungen auslöste.24 Die Skandalisierung war somit ein Mittel, um die jeweilige Zulässigkeit des kolonialen Verhaltens auszuhandeln. Die neue Massenpresse förderte zweifelsohne in beiden Ländern Verbindungen zwischen dem Kolonialismus und sexuellen Phantasien, Zuschreibungen und Praktiken. Illustriertenfotos von halbnackten Frauen aus den Kolonien, wie sie von Europäerinnen undenkbar waren, wurden umstandslos gedruckt. So zeigte bereits eines der ersten publizierten Fotos in der Illustrated London News nackte Afrikanerinnen.25 Auch ihr Berliner Pendant, die Berliner Illustrirte Zeitung, druckte bei ihren ersten regelmäßigen Fotostrecken unbekleidete Busen aus den Kolonien.26 Zudem kreierten sie populäre Imaginationen über die freizügige Lebensweise der indigenen Bevölkerung.27 Diese vielfältigen Presseberichte über die Kolonien trugen zur Faszinationskraft der Kolonien bei. Umge22 23 24 25 26 27 Pall Mall Gazette 19. 5. 1887, S. 1–3; vgl. zu dieser Debatte: Kenneth Ballhatchet, Race, Sex and Class under the Raj. Imperial Attitudes and Policies and their Critics 1793–1905, London 1980, S. 57 f. Vgl. Sentinel Mai 1888 (der Untertitel der Zeitschrift war: „A monthly journal devoted to the exposition and advancement of public morality and to the suppression of vice“); im Unterhaus versprach die Regierung eine Untersuchung, wies den Vorwurf der regierungsgeförderten Zwangsprostitution aber zurück: Times 24. 2. 1888, S. 5, 24. 4. 1888, S. 6, u. 11. 12. 1888, S. 6; Alfred Dyer, The Black Hand of Authority in India, London 1888. Vgl. hierzu: Hyam, Empire, bes. S. 118, 151 u. 201; Levine, Prostitution, S. 91 f. u. 323. Illustrated London News 17. 10. 1885, 23. 2. 1889 und 21. 12. 1889. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 3 16. 1. 1898 u. Nr. 20 14. 5. 1899; ebenso fanden sich Artikel und Bilder über Harems; Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 1, 5. 1. 1896. Vgl. generell: Eleanor M. Hight und Gary D. Sampson, Colonialist Photography. Imag(in)ing Race and Place, London 2002. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse 231 kehrt lässt sich aber auch der Aufschwung der Massenpresse und insbesondere der Illustrierten im hohen Maße mit dem Interesse an den Kolonien erklären.28 Insbesondere die 1896 gegründete Daily Mail, die mit dem Motto „for the power, the supremacy and the greatness of the British Empire“ antrat, verdankte ihren schnellen Aufstieg zur auflagenstärksten Zeitung nicht zuletzt ihrer Kolonialbegeisterung, mit der sie im Burenkrieg mobilisierte.29 Exotismus, Nationalismus und sensationelle Abenteuergeschichten vermischten sich in den Berichten über die Kolonien und gaben ihnen damit per se das Antlitz des Außergewöhnlichen, das wiederum nur durch ebenso außergewöhnliche Berichte zu steigern war. Dabei zeigten die kolonialen Medienberichte oft eine beträchtliche Selbstreferentialität, da vielfach die Erfahrungen der Reporter selbst in den Mittelpunkt rückten und den Kern der Neuigkeiten ausmachten. Nachrichten aus den Kolonien fanden ihren Weg zumeist über recht verschlungene Wege in die Zeitungen. Kabeldepeschen ermöglichten bereits im späten 19. Jahrhundert eine sofortige Meldung wichtiger Vorfälle, was ein kommunikatives Zusammenwachsen mit den Kolonien förderte. Allerdings waren Telegramme so teuer, dass sie sich auf Kurzmeldungen beschränkten und ausführliche Berichte weiter über mehrere Wochen per Post unterwegs waren.30 Zudem schränkte gerade in Deutschland die Kontrolle der Telegramme die freie Kommunikation ein.31 Für Großbritannien galt zumindest während des Burenkrieges Ähnliches. Die Presseberichte aus den Kolonien beruhten deshalb häufig auf Zuschriften von Afrikareisenden, die eher die dortigen Gerüchte über Ereignisse schilderten und seltener Augenzeugenberichte waren. Eine weitere Quelle für die britische und deutsche Presse waren die Zeitungen in den Kolonien. Insbesondere die Nachrichtenagenturen sorgten durch das Aufgreifen von Zeitungsmeldungen in den unterschiedlichen Ländern für einen wechselseitigen Austausch von Meldungen, der eine kommunikative Verflechtung schuf.32 Die deutschen Zeitungen waren dabei aufgrund der rigideren Zensur bei ihren Kolonialberichten häufig auf die britischen Blätter und die englische Nachrichtenagentur Reuters angewiesen, wie sie beklagten.33 Beim Aufkommen von Skandalen gingen die Nachrichten dementsprechend derartig vielfältige Wege, dass 28 29 30 31 32 33 So argumentierte bereits: Winfried Baumgart, Der Imperialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880–1914, Wiesbaden 1975, S. 36 f. Vgl. zu ihrer patriotistische Kriegsberichterstattung: S. J. Taylor, The Great Outsiders: Northcliffe, Rothermere and the Daily Mail, London 1996, S. 55–72. Vgl. bereits als zeitgenössische Reflexion: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894), S. 332. Vgl. etwa die Anweisung: an von Soden 27. 5. 1891, in: BAB/L, R1001-4694. Diese Verflechtung zeigen anschaulich: Simon J. Potter, News and the British World. The Emergence of an Imperial Press System, 1876–1922, Oxford 2003; Chandrika Kaul, Reporting the Raj: The British Press and India, 1880–1922 Manchester 2003. Vgl. generell zur Presse in Kolonien, leider ohne Hinweise zur Verflechtung mit der Öffentlichkeit in den europäischen „Mutterländern“: Andreas Osterhaus, Europäischer Terraingewinn in Schwarzafrika. Das Verhältnis von Presse und Verwaltung in sechs Kolonien Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens von 1894 bis 1914, Frankfurt a. M. 1990. Vgl. die Beschwerde dazu in Berliner Tageblatt Nr. 572, 11. 11. 1891. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 232 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale sie sich leicht von dem eigentlichen Geschehen ablösen konnten und eher Deutungen der jeweils Beteiligten waren. Eigene Korrespondenten, die direkt für eine Zeitung aus den Kolonien berichteten, waren dagegen noch die große Ausnahme. Die Afrika-Korrespondentin der Times etwa, Flora Shaw, verfügte zweifelsohne über exzellente Kontakte zur Regierung in Südafrika und zum Kolonialministerium, auf dessen Vorschlag sie überhaupt bei der Times eingestellt wurde.34 Beide Seiten informierten sie exklusiv und vorab mit Informationen. Allerdings berichtete sie gewöhnlich von London aus. Eine größere Zahl von eigenen englischen Berichterstattern kam erst im Zuge des Burenkrieges nach Afrika, wobei diese oft weniger journalistische Erfahrungen und als kolonialtaugliche Abenteuerlust und Kompetenzen wie „Reitfähigkeit“ mitbrachten.35 Die deutschen Zeitungen priesen ebenfalls vereinzelt eigene Korrespondenten in den Kolonien an. Diese waren jedoch nicht unbedingt vor Ort. So stellte das Berliner Tageblatt hämisch fest, dass der afrikanische „Spezialberichterstatter der Vossischen Zeitung“ nicht aus den Kolonien, sondern aus Berlin berichtete.36 Diesen Spott konnte sich das Berliner Tageblatt erlauben, da es zu den ganz wenigen Zeitungen mit einem eigenen „Berichterstatter für Ost-Afrika“ gehörte. Obgleich auch dieser meist nur von der Küste melden konnte, was ihm über einige hundert Kilometer gerüchteweise zugetragen wurde, erhöhte gerade diese zunehmende persönliche Präsenz von Journalisten die Möglichkeit, Missstände in Skandale zu überführen.37 Öffentliche Kritik am imperialen Vorgehen war seit den 1880er Jahren auch zunehmend aus der Politik zu vernehmen. Obgleich in nahezu jeder Partei einzelne Abgeordnete unterschiedliche Bedenken formulierten, bildete in beiden Ländern zunächst der linke Flügel der Liberalen die Keimzelle der Kritik. In Großbritannien waren es vor allem Linksliberale wie Henry Labouchere, John Hobson oder Edmund Morel, die den Kolonien eine stärkere Selbstverantwortung geben wollten. Während des Burenkrieges profilierten sich vor allem die späteren Premierminister Lloyd George und Campbell-Bannermann mit moralischen Argumenten gegen die koloniale Eroberung. In Deutschland kritisierten in den 1880er vor allem die Freisinnigen um Eugen Richter den Kolonialismus. Neben ökonomischen Bedenken, etwa am fehlenden Freihandel und den Steuerbelastungen, formulierten sie auch eine moralische Kritik – etwa daran, dass die Gewinne vor allem mit dem Export von Alkohol, Waffen und Munition erzielt würden.38 Seit 34 35 36 37 38 Vgl. auch: History of the Times 1884–1912, S. 161 f. Vgl. Andreas Steinsieck, Ein imperialistischer Krieg. Kriegsberichterstatter im Südafrikanischen Krieg (1899–1902), in: Ute Daniel (Hrsg.) Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. bis 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 87–112. Berliner Tageblatt Nr. 572, 11. 11. 1891. Unterlagen zu Eugen Wolfs Arbeit und seinen Verbindungen zum Kolonialamt in: BAB/L, R1001-4694 und 4695. Vgl. Maria-Theresia Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“. Die deutsche Kolonialkritik am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zur kolonialen Haltung von Links- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse 233 den 1890er wuchs jedoch bei Teilen der Linksliberalen die Akzeptanz der Kolonien, so dass es nach 1907 sogar zu einer Unterstützung der Kolonialpolitik im „Bülow-Block“ kam. Die wichtigste und dauerhafteste moralische Kolonialkritik kam dagegen in Deutschland aus den Reihen der Sozialdemokraten. Sie deuteten den Kolonialismus vor allem als Element des kapitalistischen Ausbeutungssystems und des Militarismus. Daher lehnten sie die Kolonialpolitik sowohl wegen der Ausbeutung der dortigen Einheimischen als auch wegen der Nachteile für die deutschen Arbeiter ab. Das schloss allerdings nicht aus, dass auch Teile der Sozialdemokraten einzelne Kolonialgesetze tolerierten, die etwa kulturelle Aufgaben betrafen.39 Dieses Zusammenspiel aus zunehmender politischer Kritik, verstärkter medialer Berichterstattung und wachsenden moralischen Normanforderungen dürfte dazu geführt haben, dass der „Scramble for Africa“ seit den späten 1880er Jahren zunehmend von Kolonialskandalen begleitet wurde. Wie sie aufkamen und was sie verhandelten, sollen im Folgenden exemplarische Fallanalysen der wohl wichtigsten Kolonialskandale dieser Jahrzehnte zeigen. Sie konzentrieren sich auf afrikanische Kolonien, was nicht nur der besseren Vergleichbarkeit von Deutschland und Großbritannien geschuldet ist, sondern sich auch aus den Skandalen selbst ergibt. Untersucht werden dabei einerseits Skandale um prominente „Eroberer“ bei der Erschließung Afrikas, die ihre Dynamik bereits durch den bekannten Namen der Involvierten erhielten. Im Mittelpunkt stehen die Skandale um Henry Morton Stanley und Carl Peters, die beide schnell zu „Stars“ der Kolonialbewegung wurden. Die Skandale, die um sie herum entstanden, hinterfragten ihre oft rücksichtslosen Expeditionen. Andererseits werden Skandale analysiert, die aus der Verwaltung der Kolonien entstanden. Dabei werden Fälle untersucht, die ökonomische Misswirtschaft verhandelten (Rear Column Scandal und Woermann/Tippelskirch-Skandal) und Fälle, bei denen es um den Missbrauch der Amtsgewalt ging, was insbesondere in Deutschland häufig vorkam – von den frühen Skandalen um Leist und Wehlan bis hin zu späteren Skandalen um den Kameruner Gouverneur Puttkamer. Der Blick auf deutsche und britische Kolonialskandale, die sich aus Afrika heraus entfalteten, verspricht einen Einblick in die unterschiedlichen Praktiken, Normen und Deutungen, die um 1900 ihren Kolonialismus kennzeichneten. Sie dürften vor allem zeigen, wie die zeitgleiche Medialisierung und die Politisierung die Kolonialpolitik, die Kolonialvorstellungen und das Bild über die eigene Gesellschaft veränderten. 39 liberalismus und Sozialdemokratie, Frankfurt a. M. 1999, S. 93 u. 306; Gründer, Geschichte, S. 71. Hans-Christoph Schröder, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem und der „Weltpolitik“ vor 1914, Hannover 1968; Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 237; Gründer, Geschichte, S. 74–77; zeitgenössisch: Gustav Noske, Kolonialpolitik und Sozialdemokratie, Stuttgart 1914. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 234 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys REAR COLUMN Im Jahr 1890 erschien Henry Morton Stanleys Expeditionsbericht „In Darkest Africa“.40 Wie der Titel suggerierte, sollte das Buch Licht in jenen geheimnisvollen dunklen Kontinent bringen, den Stanley gerade erneut durchquert hatte. Tatsächlich entfaltete sich bei der Veröffentlichung ein Skandal, der vor allem die dunklen Seiten der europäischen Kolonialisten beleuchtete. Nicht verborgene Flüsse, Tiere und Stämme, sondern verborgene Überschreitungen jeglicher moralischer Standards durch Europäer wurden durch einen Skandal aufgedeckt, der schrittweise das unmenschliche Verhalten von Stanleys Truppe rekonstruierte. Wie die Leser der britischen und internationalen Presse durch diesen Skandal detailliert erfuhren, hatten englische Offiziere aus Stanleys Expeditionstruppe Afrikaner zu Tode gepeitscht, sexuell missbraucht oder wegen kleiner Vergehen hingerichtet; sie hatten Truppen von Sklavenhändlern bezogen und den Kannibalismus an einem Mädchen gefördert, um einige Bilder davon zu malen. Die Zeitungsartikel machten auf diese Weise deutlich, wie fließend die Übergänge zwischen Zivilisation und brutaler Barbarei in den Kolonien sein konnten. Insofern lässt sich an dem Fall exemplarisch zeigen, auf welche Weise sich im späten 19. Jahrhundert Gewalt in den Kolonien zu einem Skandal entwickeln konnte, der diesem Verhalten moralische Grenzen setzte. Stanley verkörperte in gewisser Weise jene Kommunikationsverdichtung zwischen Afrika und der westlichen Welt, die für Kolonialskandale nötig war. Dass gerade um ihn ein derartiger Skandal entstehen konnte, lag zunächst an seiner öffentlichen Bekanntheit. Stanley zählte zweifelsohne zu den berühmtesten Entdeckern Afrikas. Selbst kritische Biographen verglichen seine Leistungen mit denen von Marco Polo und Columbus.41 Zugleich stand Stanley wie kaum ein anderer für eine neuartige Verbindung zwischen Kolonialismus und modernen Massenmedien. Schließlich war Stanley ein Journalist, der sich Ende der 1860er Jahre durch Berichte über Kämpfe in Abessinien, Kreta und Spanien einen Namen machte. Den Auftrag für seine erste spektakuläre Afrikaexpedition erhielt er vom amerikanischen Massenblatt New York Herald. Dessen Herausgeber James Gordon Bennett, der Vater des Boulevardjournalismus, beauftragte ihn 1869, den in Zentralafrika verschwundenen schottischen Missionar David Livingstone zu finden und darüber zu berichten. Die Reise war somit ein „Stunt“, also eine von der Presse fabrizierte sensationelle Abenteuergeschichte. Derartige „Stunts“ initiierten die damaligen amerikanischen Massenzeitungen bereits ebenso mit spektakulären Ballonfahrten oder Nordpolexpeditionen.42 40 41 42 Henry Morton Stanley, In Darkest Africa, London 1890; im selben Jahr bereits auf Deutsch: ders., Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Pascha’s, Gouverneur der Aequatorialprovinz, Leipzig 1890. Vgl. bes. die Biographie von: Frank McLynn, Stanley. Sorcerer’s Apprentice, London 1991, S. 391. Zu Stanleys Expeditionen selbst, die hier nicht im Vordergrund stehen, liegen zahlreiche weitere, vor allem biographische Arbeiten vor, die jedoch den Skandal kaum untersuchen; vgl. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 235 Das tatsächliche Aufspüren von Livingston war zudem ein herausragender „Scoop“, also eine exklusiv und vor allen Zeitungen gedruckte Topmeldung, welche die anderen Blätter dann übernahmen. Diese mediale Vermarktungstrategie prägte alle weiteren Entdeckungsreisen Stanleys. Seine Artikel, Bücher und Vortragsreisen brachten ihm um 1890 sechsstellige Dollar-Honorare ein, und auch in Deutschland erschienen sofort regelmäßige Zeitungsberichte und Übersetzungen seiner Werke. Gerade aus dieser großen Öffentlichkeit, die seine Afrikaexpeditionen erreichten, erwuchs jedoch das Potential für Skandale. Der Journalist Stanley band den „dunklen Kontinent“ so dicht an die europäische Öffentlichkeit, dass die vielfältigen publizistischen Berichte leicht außer Kontrolle geraten und sich gegen die beteiligten Expeditionsteilnehmer selbst richten konnten. Auch für seine Emin-Pasha-Expedition von 1887/89 lässt sich eine von vornherein geplante journalistische Vermarktung nachweisen. Offiziell organisiert wurde die Reise zwar von einigen Geschäftsleuten, die unter der Leitung von William Mackinnon das Emin Pasha Relief Committee bildeten und durch die Expedition den englischen Handel und Einfluss stärken wollten.43 Um die Finanzierung der Reise und eine kontrollierte fortlaufende Berichterstattung zu sichern, schloss das Komitee mit den großen britischen Zeitungen vorher Exklusivabkommen. Die Times bekam für 500 Pfund das Recht, zuerst die regelmäßigen Berichte von Stanley zu erhalten, wobei das Komitee den Abdruck der Briefe extra berechnete.44 Der Standard, der Daily Telegraph, die Daily News und der Manchester Guardian erhielten für Beträge von je 200 bis 500 Pfund zeitgleich von der Times die Meldungen.45 Zudem verlangte Stanley vertraglich von den Expeditionsteilnehmern, sie dürften sich nicht eigenständig in der Presse äußern. Jede Korrespondenz der Teilnehmer hatte deshalb in London beim Komitee einzugehen, die diese prüfte und gegebenenfalls in redigierter Form der Presse übergab. Ebenso durften die Teilnehmer ihre Erlebnisse auch in Buchform erst sechs Monate nach der Publikation von Stanleys Buch drucken, um entsprechend hohe Verlagshonorare für Stanley zu sichern und ihm auch hier die Deutungshoheit zu gewähren.46 Damit war die Reise von vorneherein auf unterschiedliche Medienlogiken eingestellt. Aktualität, Exklusivität und der Versuch, Nachrichten zentral zu kontrollieren, standen nebeneinander. Die so 43 44 45 46 bes. James J. Newman, Imperial Footprints. Henry Morton Stanley’s African Journeys, Washington 2004, S. 27 u. 49; zum Kontext der „Stunts“: Bollinger, Die goldenen Jahre, S. 59. Vgl. das Sitzungsprotokoll des Committee of Emin Pasha Relief Expedition (EPRE) 29. 12. 1886, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93). William Mackinnon war als Direktor der Imperial East Africa Company einer der führenden Köpfe bei der kolonialen Expansion Englands in Afrika. Sitzungsprotokoll EPRE 2. 2. 1887, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93). Vgl. rückblickend: Sitzungsprotokoll EPRE 11. 11. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/ 2b/53 (Box 93). Vgl. zu diesen Verträgen: Harwood an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/ 2B/10 (Box 84); Winston an Troup 2. 5. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/55 (Box 93) Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 236 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale sichergestellten fortlaufenden Berichte schufen jene mediale Aufmerksamkeit und Fallhöhe, die für den Skandal nötig war. Die gewünschte Pressekontrolle, die im Unterschied zu Deutschland im Inselreich ja kaum bestand, organisierte die Expedition quasi privatwirtschaftlich. Von ihrem Verlauf her war die Expedition zugleich ein Erfolg und ein katastrophaler Fehlschlag. Auf der einen Seite erreichte Stanley sein offizielles Hauptziel, den Gouverneur der ägyptischen Äquatorialprovinz, Emin Pascha, zu befreien, der mit einigen Truppen nach Aufständen eingekesselt war. Da der in Deutschland geborene Emin Pascha durch zahlreiche Medienberichte eine ebenso mythenumwobene Figur war wie Livingstone, konnte Stanley so an seinen ersten „Stunt“ anknüpfen. Zudem gewann er bei der prestigeträchtigen Suche im Kongogebiet den Wettlauf mit der später gestarteten deutschen Expedition von Carl Peters und konnte für sich reklamieren, mit sechs Herrschern Verträge ausgehandelt zu haben, die auch wirtschaftliche Vorteile versprachen. Andererseits dauerte Stanleys Reise viel länger als geplant, die Kosten stiegen immens und die Todesrate war äußerst hoch. Sogar Stanley selbst ging von 311 Toten aus, wobei neben Einheimischen auch einige der englischen Begleiter verstarben.47 Die Erfolgsmeldung von Emin Paschas Befreiung wurde dadurch gemindert, dass dieser überhaupt nicht „befreit“ werden wollte und erst nach längerem Zögern Stanley zur Ostküste folgte. Die frühzeitig einsetzenden Zeitungsmeldungen über die Brutalität von Stanleys Begleittruppe trübten die Erfolgsbilanz zusätzlich. Die Regierung Salisbury hatte sich sicherheitshalber aus der Expedition heraus gehalten. Vermutlich hatte sie für den Fall eines Scheiterns eine ähnliche Krise gefürchtet, wie Premierminister Gladstone sie wenige Jahre zuvor beim Tod des von ihm in den Sudan entsandten General Gordon erlitten hatte.48 Diese fehlende direkte politische Verantwortung senkte sicherlich das Potential für einen Skandal. Indirekt hatte die Expedition allerdings durchaus offiziellen Charakter. Die Regierung unterstützte sie, indem sie über die ägyptische Regierung die Hälfte der Kosten gewährte, Schutzbriefe vergab und Verträge sanktionierte, die die Expedition abschloss.49 Vor der Abreise erklärte Stanley dem Prince of Wales persönlich sein Vorgehen, und auch die regelmäßigen Berichte über den Verlauf an Premierminister Salisbury zeigten ihre offiziöse Bedeutung.50 Ebenso unterstützten einzelne Minister die restriktive Informationspolitik des Komitees.51 Für den Skandal reichten bereits die Berichte über die 47 48 49 50 51 Als kritische Bilanz zu der Expedition vgl. bereits: Ian Smith, The Emin Pasha Relief Expedition 1886–1890, Oxford 1972, S. 293 f.; McLynn, Stanley, S. 321. Der Kolonialheld Gordon („Chinese-Gordon“) war nicht zuletzt wegen einer Pressekampagne von Stead 1884 von Gladstone zu einer militärischen Mission in den Sudan geschickt worden und dort umgekommen; vgl. Schults, The Tribute, S. 66–88. Vgl. die Anfrage in: Mackinnon an Dermott 8. 1. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/ 2B/12 (Box 84). Vgl. die Briefe von Lord Vivian an Salisbury in: Mackinnon Papers, SOAS, Box 88. Vgl. etwa: Winton (War Office) an Mackinnon 2. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/ 2B/30 (Box 86); Lord Vivian an Salisbury in: SOAS, SCRR PP MS 2/EPRE (Box 88). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 237 Brutalität von bislang unbescholtenen bürgerlichen Engländern, die den militärischen Rang eines Major und Leutnants hatten. Der Hauptbeschuldigte, Major Barttelot, war immerhin der Sohn eines Unterhausabgeordneten und hatte bereits Truppen durch den Sudan und Afghanistan geführt. Gerade weil die Presse ihn als „English Officer und Gentleman“ beschrieb, der in den letzten Jahren regelmäßig mit Billigung des Emin Pasha Komitees in den Zeitungen über Stanley berichtet hatte, besaß er die nötige Fallhöhe für einen Skandal.52 Der Skandal entwickelte erst nach der Rückkehr der europäischen Expeditionsteilnehmer im Herbst 1890 seine volle Dynamik, als unterschiedliche Beteiligte über die Medien und ihre Memoiren eine Kontroverse um die Deutung der vergangenen Ereignisse begannen. Erste Meldungen über das brutale Verhalten von Stanleys „Rear Column“ hatten allerdings schon zwei Jahre zuvor eingesetzt. Sie begannen im September 1888 mit den Mutmaßungen über die Todesursache von Major Barttelot, der die Versorgungstruppe von Stanleys Expedition angeführt hatte und von einem afrikanischen Träger erschlagen worden war. So meldete der Standard unter Berufung auf den syrischen Übersetzer der Truppe, Barttelots Brutalität habe zu einem Racheakt geführt.53 In der Times deutete zugleich eine Zuschrift des Missionars Graham Wilmot-Brooke an, dass die Afrikaner zur Teilnahme an Stanleys Expedition mit brutalster Gewalt gezwungen würden, um Elfenbein auszubeuten.54 Diese Meldungen wurden über ebenso verschlungene Wege dementiert, etwa von einer Zuschrift eines Afrikareisenden in einer Brüsseler Zeitung, die dann die Times wieder abdruckte.55 Ebenso erschienen selbst in dänischen und schwedischen Zeitungen Berichte mit Titeln wie „Ein europäischer Kannibale“.56 Berichte aus Afrika von englischen Journalisten spielten dagegen bei diesen Mutmaßungen überhaupt keine Rolle. Der Skandal machte somit deutlich, dass auch um 1890 Zentralafrika für britische Journalisten kein Recherchegebiet war. Vielmehr entstand der Skandal aus afrikanischen Gerüchten von Kolonialreisenden, die in einer europäischen Öffentlichkeit kursierten. Diese erste Empörung ebbte jedoch schnell ab. Denn offensichtlich waren für einen Skandal Sprecher vor Ort nötig, die die Debatte mit kontinuierlichen und aktuellen Beiträgen am Laufen hielten. Die Zuschriften, die einzelne entfernte Beobachter mit großer Verzögerung aus Afrika schickten, reichten bei den aktualitätsfixierten Medien nicht aus, um akzeptierte „Wahrheiten“ zu ermitteln. Der wichtigste Zeuge bei diesen ersten Andeutungen, der syrische Übersetzer aus der Expedition, konnten die englischen Organisatoren der Expedition zudem durch finanzielle Mittel und Drohungen zu einem Widerruf bewegen. Das 52 53 54 55 56 Zit. Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 4. Standard 19. 9. 1888. Times 20. 9. 1888, S. 3. Times 24. 9. 1888, S. 5. Vgl. die Zusendungen und Übersetzungen in: Cridland an Winton 2. 11. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/27 (Box 86). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 238 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Emin Pasha Relief Committee brachte ihn in London dazu, Barttelot öffentlich zu rehabilitieren und dessen Strafmaßnahmen gegen die Afrikaner als absolut notwendig zu bezeichnen.57 Der Übersetzer Assad Farran erhielt dafür vom Komitee trotz seines Vertragsbruchs seinen vollen Lohn und eine Einzelkabine für die Schifffahrt von London.58 Zudem regte das Komitee an, ihm in Syrien vom Britischen Konsul ein Gehalt zu gewähren.59 Einzelne Zeitungen bemerkten zwar die korrupte Medienpolitik des Komitees und hinterfragten den plötzlichen Meinungswechsel.60 Die Mehrheit der Presse akzeptierte jedoch vorerst den offiziellen Bericht, ein Afrikaner habe Barttelot erschossen, als er sich nachts über deren Trommeln beschwerte.61 1889 überwogen daraufhin wieder die anteilnehmenden fortlaufenden Berichte über Stanley, die jedes Lebenszeichen erfreut aufgriffen und mit ausführlichen Artikeln gespannt seine Expedition verfolgten. Diese ersten kritischen Töne konnten Stanleys Ruf kaum schmälern. Das zeigte sich besonders bei seiner Rückkehr nach England im Sommer 1890. Obwohl Stanley schon als Junge mittellos in die USA ausgewandert war, wurde er nun als großer Engländer in London begrüßt. Die Queen empfing Stanley, unter den 10 000 Zuschauern bei seinem Vortrag in der Royal Albert Hall war auch die Königsfamilie, bei seiner Hochzeit war Gladstone Trauzeuge und er erhielt die Ehrendoktorwürde von Oxford und Cambridge.62 Sein Reisebericht „In Darkest Africa“ verkaufte sich sofort allein 150 000 mal auf Englisch und wurde zudem in zahllose Sprachen übersetzt. Nicht minder triumphal war sein Empfang in den USA, wo er mit einem eigenen Sonderzug seine Vortragsreise in ausverkauften Großveranstaltungen antrat. All dies schuf eine entsprechende Fallhöhe für einen Skandal und lenkte die breite öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Expedition. Für den Ausbruch des Skandals im Oktober 1890 waren ebenfalls nicht die Recherchen von Journalisten, Gerichten oder kolonialkritischen Politikern verantwortlich. Seinen Ausgang nahm er vielmehr, was die Kontigenz der Entstehung von Skandalen belegt, aus einem Streit unter den Angehörigen verstorbener Expeditionsteilnehmer, die über die Zeitungen deren Ehre verteidigen wollten. Insbesondere die Angehörigen des verstorbenen Majors Barttelot und Leutnants Jameson sahen ihre Verwandten öffentlich in ein schlechtes Licht gerückt und gaben Stanley die Schuld an deren Tod, da er zur Mehrung seines Ruhmes die „Rear Column“ zu lange ohne Vorräte und Versorgung habe war57 58 59 60 61 62 Daily Telegraph 12. 11. 1890, S. 7. Secretary EPRE an Consul von Cairo 16. 10. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/55 (Box 93); Sitzungsprotokoll EPRE 13. 10. 1888, in: ebd. Sitzungsprotokoll EPRE 3. 12. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93). Star 2. 10. 1888, S. 1; Pall Mall Gazette 28. 9. 1888. Diese Version übermittelte aus dem Lager: Jameson an Mackinnon 3. 8. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/19 (Box 85). Vgl. zu seinem Empfang bereits: Smith, Emin Pasha, S. 293; Newman, Imperial Footprints, S. 303. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 239 ten lassen.63 Diese Auffassung untermauerten sie mit der Publikation von internen Dokumenten. So edierte Barttelots Bruder posthum dessen „Diaries and Letters“, Jameson Witwe die letzten Briefe ihres Mannes, und überlebende Expeditionsteilnehmer wie Troup, Bonny und Ward druckten ihre Reiseberichte, auf die wiederum Stanley und andere Beteiligten mit Gegenverlautbarungen und weiteren kritischen Enthüllungen antworteten. Neben regelmäßigen Presseverlautbarungen erschienen nun auch diverse Bücher der Beteiligten, die um die Deutung der Ereignisse rangen.64 Diese Bücher, die auszugsweise wiederum alle Zeitungen abdruckten, beschrieben die Gewalttaten der jeweils anderen englischen Expeditionsteilnehmer. Mit jedem Vorwurf und Gegenvorwurf kam es zu neuen Enthüllungen, die umso drastischer die koloniale Gewalt mit eindringlichen Einzelbeispielen beschrieben. Zudem versuchten die Beteiligten sich gegenseitig zu widerlegen, so dass auch ohne Gerichtssitzungen Anklagen und öffentliche Zeugenaussagen entstanden. Die Journalisten hingegen agierten während des Skandals vornehmlich in der Rolle des Kommentators und Moderators. So druckte die Times etwa Barttelots Memoiren mit dem Hinweis, diese würden eine Antwort Stanleys erfordern. Tatsächlich diskutierten die Expeditionsmitglieder nun über den Atlantik hinweg per Zeitungsinterviews, die sich wechselseitig, mitunter täglich, aufeinander bezogen. So antwortete Stanley auf Barttelots Veröffentlichung sofort mit einem Interview aus New York, worauf Troup am nächsten Tag in der Times reagierte, was wiederum Barttelots Angehörige zu Stellungnahmen herausforderte, die dann Bonny und Ward mit Zuschriften kommentierten.65 Diese Aussagen wurden durch Einschätzungen von anderen Kennern der Kolonien ergänzt, etwa von deutscher Seite von Carl Peters und Georg Schweinfurth.66 Auch die Journalisten der Qualitätsblätter vermarkteten die Enthüllungen mit sensationellen Ankündigungen. Im Stile von Steads Maiden Tribute-Kampagne versprach etwa die Times: „These Statements will send a thrill of horror throughout the civilised world.“67 Andere Blätter betitelten die Berichte mit „The African Horrors“ oder sprachen von einer „cloud of horror“.68 Gerade das herausgestellte Wort „horror“ fasste jene Angstlust gegenüber dem Grauen, die den Artikeln ihre Faszinationskraft und ihr Empörungspotential gaben. „What a season of disaster! 63 64 65 66 67 68 Erste Andeutungen von Barttelots Bruders in: Times 7. 12. 1889, S. 8. Vgl. von den gedruckten Memoiren etwa: Walter George Barttelot (Hrsg.), The Life of Edmund Musgrave Barttelot, Captain and Major Royal Fusiliers Commander of the Rear Column of the Emin Pasha Relief Expedition, London 1890 (dt.: Stanleys Nachhut in Nambuya unter Major Edm. M. Barttelot, Hamburg 1891); J. S. Jameson (Hrsg.), The Story of the Rear Column of the Emin Pasha Relief Expedition by the Late James S. Jameson, London 1890; Herbert Ward, Five Years with the Congo Cannibals, London 1890; J. Rose Troup, With Stanley’s Rear Column, London 1890; John Scott Keltie, The Story of Emin’s Rescue as Told in H.M. Stanley’s letters, London 1890. Vgl. etwa Times 27. 10. 1890, S. 8; 28. 10. 1890, S. 8; 29. 10. 1890, S. 5. Pall Mall Gazette 11. 11. 1890, S. 4 u. 14. 11. 1890, S. 6. Times 8. 11. 1890, S. 11. Daily Telegraph 12. 11. 1890, S. 7; Pall Mall Gazette 12. 11. 1890, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 240 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale The sickening horrors of the Stanley-Barttelot controversy!“, trug etwa auch Viscount Esher empört in sein Tagebuch ein, als er anscheinend zugleich angezogen und angewidert die Zeitungsdebatte verfolgte.69 Der wörtliche Abdruck der Beschuldigungen erleichterte es, Sagbarkeitsgrenzen zu erweitern. Wie beim Prozessbericht und beim New Journalism legitimierte die Wiedergabe von Interviewaussagen, Briefen und Memoiren, sonst kaum druckbare Details zu publizieren. Die Leser erfuhren etwa, dass Major Barttelots Logbuch nahezu täglich das Auspeitschen von Afrikanern verzeichnet habe, bei dem verschiedene Männer starben, da sie 200 bis 300 Schläge bekamen. Ebenso sei ein 10-jähriger Junge durch Barttelots Stiefeltritte gestorben. Barttelot sei selbst von dem Mann erschossen worden, dessen Ehefrau er wie andere Frauen zum sexuellen Missbrauch gelegentlich in seiner Hütte festgehalten habe.70 Die Erinnerungen gaben den Einzelfällen eine lebhafte Anschaulichkeit. So berichtete der Expeditionsteilnehmer Bonny etwa ein Gespräch mit Barttelot über einen Afrikaner, dem sie Diebstahl vorwarfen: „‚If I don’t shoot him, I will cut his ears off.‘ I replied to this: ‚What will the people in Europe think of that? Would you like to read an account of this in the papers?‘ He said he would not and than we discussed the question as to what should be done.“71 Schließlich verurteilten sie ihn zu 100 Peitschenhieben, an denen der Afrikaner starb. Einen Nubi, der eine Ziege stahl, wollte Barttelot erst erschießen, begnadete ihn dann aber zu 300 Peitschenhieben, wonach sein Rücken in blutige Stücke zerfiel. Als dieser nach Genesung fliehen wollte, band er ihn laut Erinnerung eines Beteiligten an eine Art Kreuz und erschoss ihn.72 Auch wenn diese grausamen Praktiken nicht unbedingt neu waren, markierte diese explizite Gewaltdarstellung in den Massenmedien und die Empörung hierüber einen bisher kaum beachteten Einschnitt in der Kolonialgeschichte.73 An den New Journalism der 1880er Jahre knüpften auch die Berichte über die Beteiligung eines englischen Offiziers an einem Kannibalismusakt an. Wie Stanley und andere in den Zeitungen berichteten, habe sein Expeditionsteilnehmer Leutnant Jameson mit dem Sklavenhändler Tippoo Tib über den Kannibalismus gesprochen und gesagt, dass er nicht daran glaube, da noch kein Weißer dies gesehen habe. Tippoo Tib habe entgegnet, dass Jameson es für zwölf Taschentücher aus Baumwolle erleben könne. Daraufhin wurde ein 12jähriges Mädchen gekauft, in Jamesons Anwesenheit mit einem Messer getötet 69 70 71 72 73 Eintrag Tagebuch Esher 19. 11. 1890, in: CAC, ESHR 2/8. Vgl. etwa: Pall Mall Gazette 7. 11. 1890, S. 3, 8. 11. 1890, S. 4; Times 8. 11. 1890, S. 11, 9. 11. 1890, S. 9. Times 10. 11. 1890, S. 9. Pall Mall Gazette 17. 11. 1890, S. 6. Keine Erwähnung findet der Stanley-Skandal trotz seiner großen Bedeutung für die Zeitgenossen selbst in umfangreichen Standardwerken wie: Andrew Porter (Hrsg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 3: The Nineteenth Century, Oxford 1999; Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire, Cambridge 2005 (3. Aufl.); Roland Oliver und Anthony Atmore, Africa since 1800, Cambridge 2005 (5. Aufl.). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 241 und aufgegessen.74 Jameson habe daraufhin zur Erinnerung einige Bilder davon gemalt und seinen Kollegen im Camp gezeigt. Die emotionalisierenden Elemente der Geschichte – wie etwa das junge Alter des Opfers und der niedrige Preis für ihre Ermordung – erinnerten im hohen Maße an Steads berühmte Maiden Tribute-Geschichte von 1885, in der berichtet hatte, wie man in London für fünf Pfund ein 13-jährigen Mädchen zur dauerhaften Verfügung kaufen könne. Ebenso knüpfte auch der Kannibalismusbericht an eine menschliche Urangst an, die schon vorher zahllose Kannibalismusgeschichten aus Schwarzafrika produziert hatte.75 Während zunächst die Zweifel an der Geschichte überwogen, erschien sie der Mehrheit der Zeitungen seit November 1890 als wahr, da Stanley und andere Teilnehmer sie stützten. Zudem hatte Jamesons Frau zur Verteidigung ihres toten Mannes Briefe publiziert, die ihn de facto belasteten. Wie Jameson kurz vor seinem Tod in einem Brief berichtet hatte, habe er dem Kannibalismus beigewohnt und gezeichnet, konnte jedoch nicht eingreifen, weil alles so schnell gegangen sei.76 Auch wenn er nach seiner eigenen Version den Mord nicht angeordnet hatte, war danach immer noch ein Engländer Komplize kannibalistischer Slavenhändler. Neben Barttelots Gewalträuschen bildete diese Szene eine zweite Ikone für den Rückfall in die Barbarei. Die öffentliche Debatte, die der Skandal aus diesen Einzelfällen entfachte, verhandelten verschiedene generelle Normen und Deutungen. Sie hinterfragte vor allem die Zulässigkeit der Gewalt gegen Afrikaner. Bereits die ersten vorsichtigen Andeutungen von 1888 entflammten diese Diskussion kurz. Die eher konservativen Blätter verteidigten zunächst die Gewaltanwendung.77 Beim neu gegründeten linksliberalen Massenblatt The Star führten hingegen bereits diese ersten Andeutungen zu einer massiven Kritik am britischen Kolonialismus: It is no private interest which is at stake. It is the whole system of opening up Africa – ,rushing up‘ would be a more appropriate term – by tiny bands of English explorers, personally conducted by cannibals, the villy scum of slave-raiding and slave-trading Africa, who will only stick to their employers so long as they are given a free hand – getting a free hand meaning, in its turn, liberty to shoot, burn, torture and eat aborigines on the way.78 74 75 76 77 78 Diese Geschichte bildete in allen Zeitungsberichten den zweiten Hauptanlass der Empörung (neben Barttelots Strafen) und wurde ausführlich dargestellt und diskutiert; vgl. etwa Pall Mall Gazette 7. 11. 1890, S. 3. Selbstverständlich ist der Kannibalismus-Diskurs älter; vgl. Hedwig Röckelein (Hrsg.), Kannibalismus und europäische Kultur, Tübingen 1996. Vgl. Jameson an Mackinnon, 3. 8. 1888, abgedr. in Daily Telegraph 15. 11. 1890, S. 5; Times 15. 11. 1890, S. 11. Diese in den Zeitungen gedruckte Passage entstammte den post mortem gedruckten Briefen von Jameson, die 1890 auch als Buch erschienen; Jameson, The Story of the Rear Column, S. 291. Verschiedene Expeditionsteilnehmer bestritten die Wahrheit der Kannibalengeschichte; vgl. etwa die Aussagen von Troup in: Pall Mall Gazette 12. 11. 1890, S. 6. Bes. die Times; vgl. ihre Leserbriefe ab 15. 9. 1888; besonders deutlich: „Discipline had to be enforced by flogging – no other means could maintain discipline with such a class of man.“ Times 22. 9. 1888, S. 6. Star 2. 10. 1888, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 242 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Selbst die linksliberale Öffentlichkeit warf somit zunächst den englischen Kolonialisten keine direkte Brutalität vor, wohl aber deren Förderung. Mit dem Verweis auf den Sklavenhandel knüpfte das Blatt zudem an eine Debatte an, die seit dem 18. Jahrhundert durch die Anti-Sklaverei-Bewegung etabliert war. Nach Offenlegung der Details über die Brutalitäten erschien diese koloniale Gewalt deutlich weniger legitim. Der zunehmend konservativere Daily Telegraph tolerierte sie noch am ehesten, als er die Rechte eines kolonialen Eroberers reflektierte: „it may also be necessary that he should strike, flog and occasionally hang indolent treacherous natives under his command“, gestand er zu. Allerdings seien viele große Kolonialisten ohne Gewalt ausgekommen, weshalb auch Stanley und Barttelot nicht über Leben und Tod entscheiden brauchten.79 Die Expeditionsteilnehmer rechtfertigten dagegen ihr Verhalten mit Analogien aus dem Kriegsrecht, da auch die Tötung eines desertierten Soldaten gerechtfertigt sei. In der liberalen Öffentlichkeit führte der Skandal hingegen zu einer vehementen Ablehnung derartiger Praktiken. So forderte die Pall Mall Gazette die Bestrafung der überlebenden Expeditionsteilnehmer vor einem Kriegesgericht, da sie unter einem Schutzbrief gereist seien und sich Befugnisse wie Todesstrafen angemaßt hätten, was als Mord zu bewerten sei. Damit wurde die Vorstellung aufgebracht, dass für Schwarzafrikaner und Europäer in Schwarzafrika ähnliche moralische Standards und Gesetze zu gelten hätten wie in England.80 In visueller Form legte dies auch eine Karikatur zu dem Skandal im Punch nahe, bei der Justitia trauernd am Grab von Jameson und Barttelot stand, während ein Kolonialist sie zu umarmen versuchte.81 Auch wenn sich kein Konsens über die zulässige Gewalt herausbildete, machten die drastischen Zeitungsberichte insgesamt zumindest deutlich, dass diese Form des Kolonialismus der Vergangenheit angehören müsse. Ausländische Presseberichte über den Stanley-Skandal förderten diese Einschätzung in England. Gerade die deutschen Zeitungen sparten nicht mit ausführlichen Berichten, die täglich detailliert die grausamen Handlungen schilderten. Insbesondere die konservativen Zeitungen empörten sich über Stanleys Verhalten, meinten damit aber zugleich den englischen Nationalcharakter. Stanley sei es nur um seine Bereicherung gegangen, insbesondere um Elfenbein, nicht aber um Emin-Pasha, der gar nicht von ihm gerettet werden wollte.82 In England wurden diese deutschen Artikel wiederum als Argument für einen dringenden Reformbedarf aufgegriffen. Bezeichnenderweise beklagten die Briten noch mehr als den deutschen Spott den der französischen Presse.83 Dies erklärt sich nicht nur aus der älteren Rivalität mit Frankreich, die nun bei der Aufteilung Afrikas neu aufflammte, sondern auch aus dem gerade gegenüber 79 80 81 82 83 Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 5. Aussage Ward in: Pall Mall Gazette 22. 11. 1890, S. 6; Pall Mall Gazette 10. 11. 1890, S. 5. Punch 22. 11. 1890. Vgl. die Artikel in der Neuen Preussischen Zeitung 25. 10.–20. 11. 1890, bes. 8. 11. 1890 Nr. 523, S. 2; aber auch etwa: Vossische Zeitung 31. 10. 1890 Nr. 509, S. 2. Star 10. 11. 1890, S. 1; Times 10. 11. 1890, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 243 Frankreich artikulierten Anspruch auf moralische Überlegenheit, der in fast allen Skandalen sichtbar wurde. Die wechselseitige Beobachtung der internationalen Presse verstärkte in England die Auseinandersetzung darüber, inwieweit das Ansehen des Empires und der Anspruch auf moralische Humanität durch den Skandal gefährdet seien. So sah die Times in dem Verhalten der Expeditionsteilnehmer „a disgrace to the English name“.84 Der Star deutete den Skandal als Zeichen eines derartigen moralischen Verfalls, dass die ausländische Kritik gerechtfertigt sei: „The Turks in Armenia, the Bashi Bazouks in Bulgaria never committed more horrible outrages than these [English officers]. [...] In the face of all these stories of horrible and ghastly beastly barbarities we cannot blame the Paris Débats for saying that they ,seriously interfere with the Biblical varnish with which pious England likes to cover her most selfish enterprises.‘“85 Die Pall Mall Gazette, die unter der Überschrift „Are we a cruel nation?“ das Ansehen des Empires diskutierte, sah in dem Skandal die schlimmsten Vorwürfe „against the reputation of the Anglo-Saxon race for humanity“ seit der Veröffentlichung von Onkel Toms Hütte. Obgleich sie das Auspeitschen und Kidnappen im Kongo als Ausnahmen bezeichnete, erwog das Blatt, ob im englischen Charakter ein latenter Hang zur Grausamkeit durch die Sozialisation angelegt sei: „Our innate love for bullying, repressed but always present in English schoolboys as a class, in favourable surroundings develops into ferocious cruelty for cruelty’s sake. [...] Schoolboy bullying is a purely British institution. It is without parallel on the continent.“86 Die Kolonialreiche erschienen damit als Gebiete, in denen sich geheime, sonst unterdrückte menschliche Abgründe zeigen konnten. Dagegen unterstrich Stanley selbst trotz seiner Anschuldigungen die überlegene Humanität der Engländer „in dealing with the Negro races.“ Gerade die Empörung über Barttelots Handeln sah Stanley als Beweis dafür, dass dies eine Ausnahme war, die nun wieder durch moralische Überlegenheit bewältigt werden müsse.87 Dennoch dürfte gerade die internationale Vernetzung der Presseberichterstattung mit dazu geführt haben, dass sich die britische Öffentlichkeit umso vehementer von der kolonialen Erschließung mit der Peitsche distanzierte. Bei der Suche nach den „wahren“ Begebenheiten löste der Skandal zugleich Diskussionen darüber aus, inwieweit Aussagen von Farbigen eine glaubwürdige Quelle für Vorwürfe gegenüber Europäern sein könnten. Dies bezog sich zunächst auf den syrischen Übersetzer der Expedition, der als einer der Urheber der Gewaltberichte galt. Obwohl er als Araber in der rassistischen Abstufung der Zeitgenossen den Schwarzafrikanern übergeordnet war, galten seine Vor- 84 85 86 87 Times 24. 12. 1890, S. 6. Star 10. 11. 1890, S. 1. Pall Mall Gazette 25. 11. 1890, S. 1. Times 9. 12. 1890, S. 8. Die überwiegend respektvolle Behandlung der Afrikaner durch die Briten betont etwa: Bernhard Porter, The Lion’s Share. A Short History of Imperialism 1850– 1900, London 1996, S. 70 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 244 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale würfe als wenig glaubwürdig. Der Pariser Korrespondent der Daily News interviewte hierzu als Experten einen französischen Kolonial-Gouverneur, der alle Syrer als arrogant und unzuverlässig bezeichnete.88 Dagegen sprach die liberale Pall Mall Gazette dem Syrer eine gewisse Glaubwürdigkeit zu, da seine Kleidung und sein Stil sehr britisch seien.89 Insgesamt überwog jedoch der Tenor, einer derartigen Aussage wenig Bedeutung beizumessen. Erst als europäische Expeditionsteilnehmer die Berichte stützten, wurde der Syrer als ergänzender Zeuge akzeptiert und sein detaillierter Bericht auch in der Times abgedruckt.90 Als nicht vertrauenswürdig galten generell schwarzafrikanische Zeugen, deren Aussagen kaum Berücksichtigung fanden. Der Daily Telegraph bezeichnete deshalb einen Prozess gegen die Expeditionsteilnehmer als schwer denkbar, da er eine „cloud of dark witnesses“ ins Gericht bringen würde, die eine Urteilsbildung verhindere.91 Kaum verhandelt wurden in dem Skandal dagegen sexuelle Gewalt und sexuelle Beziehungen zwischen Kolonialisten und indigenen Frauen. Stanley und andere deuteten zwar an, dass Barttelots Tod mit seiner gewaltsamen Verfügung über Frauen zusammenhing, aber offensichtlich schien es der englischen Öffentlichkeit leichter, Peitschenhiebe zu thematisieren als die Zwangsprostitution.92 Nur einzelne Zeitungsartikel berichteten etwas detaillierter über die Gefangennahme von Frauen, die sich nachts im Raum der Offiziere aufhalten mussten und dann ihren Männern wieder gegen Nahrungsmittel verkauft wurden.93 Stattdessen diskutierte die Öffentlichkeit eher generell den Sinn und Zweck von derartigen Expeditionen. So fragte Henry Laboucheres The Truth, ob das hohe Blutopfer berechtigt sei, um noch einen See im Urwald zu verzeichnen.94 Gerade die liberalen Zeitungen beschuldigten Stanley, nicht an Entdeckungen oder an der Rettung von Emin Pasha interessiert gewesen zu sein, sondern nur an kommerziellen Interessen. Vor allem die riesigen Elfenbeinvorräte von Enim Pascha und seinem Territorium seien Stanleys Hauptinteresse gewesen, nicht das Leben des kurzsichtigen Naturforschers.95 Dies leitete zu jener ökonomischen Kolonialkritik über, die in den 1890er Jahren im hohen Maße Skandalisierungen prägten. Der Skandal zeigte zudem, dass auch bei der Kolonialberichterstattung eine Kontrolle der Medien fehlschlug. Die Exklusivverträge und die bevorzugte Nachrichtenvergabe an die fünf ausgewählten Qualitätszeitungen sollte ursprünglich eine kontrollierte positive Berichterstattung sichern. Tatsächlich spar88 89 90 91 92 93 94 95 Daily News 11. 10. 1888, S. 5. Pall Mall Gazette 28. 9. 1888. Times 14. 11. 1890, S. 9. Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 4. Zuerst Stanleys Beschuldigung in: New York Herald 26. 10. 1890; auch in: Times 8. 11. 1890, S. 11. Pall Mall Gazette 13. 11. 1890, S. 6. Truth 11. 4. 1889. Daily News 1. 11. 1890, Pall Mall Gazette 30. 10. 1890; Truth 6. 11. 1890. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column 245 ten auch die Times, die Daily News oder der Manchester Guardian nicht mit Kritik, obgleich sie das Emin-Pasha-Komitee finanziell für ihre Exklusivnachrichten unterstützt hatten. Ebenso gelang es kaum, das vertraglich fixierte Deutungsmonopol für Stanley und das Komitee zu sichern. Die hohe öffentliche Nachfrage nach entsprechenden Meldungen aus Afrika, die Stanleys Medienpolitik selbst mit geschaffen hatte, führte vielmehr frühzeitig zu vielen Berichten von unterschiedlichen Afrikareisenden, die nicht vertraglich gebunden waren. So erschien bereits 1889, vor Abschluss der Expedition, das erste Buch von einem Deutschen.96 Ebenso gelang es anderen Zeitungen wie dem New York Herald, vor dem Nachrichtenkartell Meldungen von Stanley zu drucken.97 Nicht zu verhindern war zudem, trotz der Verträge, die frühzeitige Publikation der Erinnerungen der Beteiligten, die durch die große mediale Nachfrage alle vor der festgelegten Frist erschienen. Die geplante Veröffentlichung von Troups Memoiren 1889 konnte lediglich ein Jahr verzögert werden.98 Bezeichnenderweise verzichtete Stanley auf die angedrohte Klage gegen die publikationsfreudigen Expeditionsteilnehmer. Vermutlich wusste er, dass die detaillierten Zeugenaussagen vor Gericht vor allem auf ihn selbst zurückgefallen wären. Auf den ersten Blick schienen diese wochenlangen Diskussionen über detailliert dargestellte Gewalttaten wenig Folgen zu haben. Da sich die konservative Regierung mit einer direkten Unterstützung zurückgehalten hatte, blieb sie weitgehend außer Gefahr, auch wenn Zeitungen wie die Pall Mall Gazette ihre politische Verantwortung anprangerten. Ebenso blieb ein Prozess und damit eine Verurteilung der Offiziere aus, zumal die beiden Hauptbeschuldigten bereits in Afrika verstorben waren. In den Medien verlor der Fall zudem ab Mitte November 1890 langsam an Bedeutung. Das lag nicht zuletzt an der Überschneidung unterschiedlicher Skandale. Vor allem Parnells Ehebruch raubte seit Ende 1889 dem Kolonialskandal viel Aufmerksamkeit. Auch für Stanley selbst schien der Skandal kaum direkte Folgen zu haben. Er vergrößerte eher das Interesse an seinen Vorträgen und seine Berühmtheit. Ohnehin wurde ja weniger ihm selbst als seiner Truppe die brutale Gewalt vorgeworfen. Dennoch sank Stanleys Reputation zumindest bei Teilen der Öffentlichkeit dauerhaft. Immerhin hatten ihm zahlreiche Zeitungsartikel Ruhmsucht, Ausbeutung, Kooperation mit Sklavenhändlern, die Tolerierung hoher Todesraten unter den afrikanischen Truppen und vor allem die Deckung der Gewalt der britischen Teilnehmer vorgeworfen. Seine widersprüchlichen Aussagen hierzu und seine aggressiven Anfeindungen gegenüber seinen Expeditionsteilnehmer 96 97 98 J. R. Werner, A Visit to the Rear-Guard at Major Barttelot’s Camp on the Aruhwimi, Edinburgh und London 1889. Vgl. die Proteste des Komitees dagegen am 7. 5. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2b/55 (Box 93). Tatsächlich ist dieses Buch auch gegenüber Barttelot recht wohlgesonnen. Vgl. die Beschwerden in: Walter Wood/The Standard an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/10 (Box 84). Vgl. Harwood an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/10 (Box 84); Woodhouse an Dermott 29. 8. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/14 (Box 84). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 246 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale minderten sein Ansehen auf allen Seiten. Kolonialisten hielten ihm vor, dass er überhaupt derartige Veröffentlichungen über die Gewalt in Afrika gemacht habe, selbst wenn sie wahr wären. Eine erneute große Expedition unter Stanley schien nun wenig wahrscheinlich, und er selbst verzichtete darauf. Stattdessen hielt er sich für einige Zeit in den USA auf, wo er sich angemessen empfangen fühlte.99 1891 kam er mit Vortragsreisen nach Großbritannien zurück und wurde ein Jahr später britischer Staatsbürger, um als Kandidat der Unionisten für das Unterhaus zu kandidieren. Wie sehr Stanley als Sinnbild des brutalen Kolonialisten umstritten blieb, zeigten die Proteste bei seinen Wahlkampfauftritten und seine Niederlage bei der Wahl.100 Bei seiner erneuten Kandidatur 1895 gelang ihm zwar der Einzug, doch es kam erneut zu einigen Angriffen in der Presse. Als Backbencher blieb seine Parlamentsarbeit eher unauffällig. Die entscheidenden Folgen des Skandals lagen jedoch weniger auf dieser individuellen Ebene. Er diskreditierte vielmehr den Typus des kolonialen Eroberers und Entdeckers, den Stanley repräsentierte. Damit hinterfragte der Skandal zugleich die männlich geprägte koloniale Imagination. Das Bild des „kolonialen Retters“, für das Stanley zunächst gestanden hatte, verkehrte sich in die Figur des brutalen Eroberers, den allein Ruhm und Reichtum antrieben. Ebenso verkehrte sich die Figur des kultivierenden Europäers in das Bild des Weißen, der in Afrika in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückfällt. Um dies zu verhindern, markierte gerade die Empörung im Skandal einen Übergang von der ungeordneten Besitznahme Afrikas durch kleine Expeditionstruppen hin zu einer geordnet erscheinenden kolonialen Verwaltungsstruktur. Der Skandal führte darüber hinaus zu einer generellen Verunsicherung über die menschlichen Abgründe, die, so die hier aufgebrachte Annahme, auch in gewöhnlichen Briten steckten und ausbrechen könnten, wenn sie sich in den moralisch entgrenzten Räumen der Kolonien befänden. In der Presse wurde zwar die entlastende Erklärung gesucht, Barttelot sei wohl verrückt gewesen.101 Dennoch formierten die Berichte ein generelles Unbehagen über die menschliche Seele. Joseph Conrads psychologisierender Roman Herz der Finsternis, der durch diesen Skandal und die Figur Barttelots maßgeblich inspiriert wurde, gab dieser Verunsicherung einige Jahre später einen besonders prägnanten und wirkungsmächtigen Ausdruck. Die dort beschriebene Kongo-Reise zum Reich des Elfenbeinhändlers Major Kurtz nähert sich nach außen hin der geheimen Welt Afrikas an, stand aber zugleich für eine Reise in die geheime Welt des Unterbewussten.102 Die breite öffentliche Euphorie für das Empire konnte der Skandal um Stanley zwar nicht erschüttern, aber gleichwohl setzte er einen nachhaltigen Kontrapunkt zur kolonialen Euphorie der 1880er Jahre. 99 100 101 102 Stanley an Mackinnon 25. 12. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/218 (Box 55). McLynn, Stanley, S. 373. Vgl. etwa: Times 10. 11. 1890, S. 9. Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich 2004 (Heart of Darkness, London 1899). Die filmische Adaption Apokalypse Now (USA 1979) übertrug Conrads Deutung bekanntlich auf den Vietnamkrieg. Zu Conrads und anderen Adaptionen in Romanen vgl.: Green, Dreams. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 247 3. Bereicherung in Südafrika: Vom JAMESON RAID zum WAR STORES SCANDAL Seit den späten 1890er Jahren entzündete sich die britische Kolonialkritik seltener an den Einzeltaten von „kolonialen Kraftmenschen“ wie Stanley. Vielmehr rückten mit der beginnenden Erschließung Afrikas die koloniale Administration und die organisierte Kriegsführung in den Vordergrund. Vor allem die Konflikte in Südafrika bildeten in den Jahren um 1900 einen Kulminationspunkt für die Skandale und Skandalisierungen in Großbritannien. Da die koloniale Expansion gegen die Buren sich gegen „Weiße“ richtete, reagierte die Öffentlichkeit auf Gewalttaten sensibler. Bezieht man die Vor- und Nachgeschichte des Burenkriegs zwischen 1895 und 1905 mit ein, so fällt zudem die starke Fixierung auf den Vorwurf der illegitimen Bereicherung auf. Natürlich war dies ein bekannter Topos der Kolonialkritik, der ja auch beim Skandal um Stanley aufgeflackert war. Im „Scramble for Africa“ gewann er jedoch besonders in Südafrika an Bedeutung.103 Die zunehmende öffentliche Präsenz von Linksliberalen und Sozialisten dürfte diese kapitalismuskritische Lesart des Kolonialismus um 1900 zusätzlich verstärkt haben. Nicht minder wichtig war, dass seit 1895 mit Joseph Chamberlain ein Minister die britische Kolonialexpansion leitete, der im besonderen Maße mit ökonomischen Argumenten angreifbar erschien. Denn Chamberlain blieb auch als Minister ein erfolgreicher Geschäftsmann, der durch vielfältige Investitionen sein Vermögen mehrte, wozu etwa größere Aktienanteile am South African Gold Trust zählten.104 Kapitalismuskritik, Korruptionsverdächtigungen und Antikolonialismus gingen damit eine Liaison ein, die künftigen Skandalen den Boden bereiteten. Zunächst ist jedoch auffällig und erklärungsbedürftig, wie viele Skandalisierungsversuche im Kontext des Burenkonfliktes scheiterten. Ein großer Skandal lag bereits beim Vorspiel zum Burenkrieg in der Luft, dem sogenannten Jameson Raid Ende 1895. Leander Starr Jameson war mit Wissen und informeller Unterstützung des Premiers der Kapkolonie, Cecil Rhodes, mit Truppen in die Burenrepublik Transvaal einmarschiert, um einen Putsch auszulösen und so eine Anbindung ans Empire zu erreichen. Allerdings wurde Jamesons Truppe rasch gefangen genommen. Kurz darauf hielten linksliberale Journalisten und Politiker Kolonialminister Chamberlain und Kap-Premier Rhodes ein Mitwissen 103 104 Vgl. als frühes Zeugnis des Bereicherungsvorwurfes: Seymour Keay, Spoiling the Egyptians. A Tale of Shame, London 1882. Entsprechend waren zeitgenössische kritische Lesarten des Burenkriegs ausgerichtet; vgl. etwa: J. A. Hobson, The War in South Africa. Its Causes and Effects, London 1900; ders., Imperialism. A Study, London 1902. Vgl. als grundlegende Biographie: Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in Politics, New Haven und London 1994. Etwas knapper, aber ebenfalls quellenfundiert: Denis Judd, Radical Joe. A Life of Joseph Chamberlain, Cardiff 1993. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 248 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale über den Einmarsch vor, was diese leugneten.105 Im Unterhaus und dem dazu eingesetzten Select Committee attackierten zudem besonders radikale Abgeordnete in Südafrika aktive Firmen, zur Bereicherung einen Angriff gegen die Burenrepublik zu fördern. Deren Wortführer Henry Labouchere argumentierte zugleich in seiner Wochenschrift The Truth, auch Rhodes und Chamberlain seien vornehmlich an den dortigen Bodenschätzen interessiert. Dabei hielt er ihnen vor, durch die koloniale Expansion ihre Aktiengewinne zu verbessern.106 Den meisten Liberalen waren diese Vorwürfe jedoch zu heikel, zumal sie bis 1895 vielfach selbst mit Rhodes kooperiert hatten, so dass die Kritiker in der Minderheit blieben.107 Chamberlain selbst entging dennoch nur haarscharf einem folgenschweren Skandal, da er durch das Beseitigen von einigen Telegrammen gerade noch sein tatsächliches Mitwissen über den Putschversuch verheimlichen konnte.108 Dabei lässt sich abermals eine enge Verbindung zwischen den Kampagnen eines zunehmend investigativen Journalismus und Politikern ausmachen. Wie bei vielen Skandalen zuvor trat auf Seite der Kritiker vor allem der Starjournalist W. T. Stead hervor. Und erneut waren die Grenzen des unabhängigen Journalismus erkennbar: Während Stead aus einer alten Freundschaft heraus Cecil Rhodes schützte und einen ihn belastenden Untersuchungsausschuss verhindern wollte, lenkte er seine Vorwürfe ganz auf seinen alten Widersacher Chamberlain, wobei Stead durch interne Hinweise dessen Verwicklung in den Putschversuch belegen konnte.109 Um seine investigative Recherche in eine politische Kampagne umzumünzen, verschickte Stead an diverse Politiker vorab das Manuskript seiner Schmähschrift „The History of a Mystery“, die Rhodes reinigen und Chamberlain steinigen sollte. Ebenso traf er sich mit dem radikalen Abgeordneten Labouchere, um ihn mit Informationen zu versorgen und selbst Einschätzungen zu erhalten.110 Stead schickte selbst dem vorherigen liberalen Premierminister Lord Rosebury unaufgefordert Material für dessen Agitation gegen die konservative Regierung.111 105 106 107 108 109 110 111 Diverse Akten mit offiziellen Dokumenten und der Korrespondenz zum Jameson Raid finden sich in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 10/2. Nahezu ohne Archivbestände, aber grundlegend zum Ereignisablauf: Elizabeth Longford, Jameson’s Raid. The Prelude to the Boer War, London 1982. Vgl. R. J. Hind, Henry Labouchere and the Empire 1880–1905, London 1972, S. 24; A. L. Thorold, The Life of Henry Labouchere, London 1913, S. 390–391. Searle, Corruption, S. 49 u. 66; Marsh, Joseph Chamberlain, S. 401. Grundlegend zur gesamten politischen Reaktion: Jeffrey Butler, The Liberal Party and the Jameson Raid, Oxford 1968. Die Debatte um Chamberlains Wissen über den Putsch wurde bereits untersucht in: Marsh, Chamberlain, S. 378–402; Judd, Radical Joe, S. 197. Vgl. bes. Review of Reviews Febr. 1896, S. 117 f., sowie fortlaufend in der Review of Reviews 1897, bes. S. 2 f., 37, 107, 140, 205, 313, 351, 417 u. 546. Bezeichnenderweise war seine wichtigste Schrift ein halbfiktionaler Text: W. T. Stead, History of the Mystery or The Skeleton in Blastus’s Cupboard, London 1896. Hinweise zu Stead Agitation, die hier jedoch um einige Quellenfunde ergänzt sind, auch in: Joseph Baylen, W. T. Stead’s ‚History of a Mystery’ and the Jameson Raid, in: Journal of British Studies 4 (1964), S. 104–132. Vgl. auch die Briefe Laboucheres an Stead, in: Churchill Archives/Cambridge, Sted 1-45. Rosebury an Stead 25. 11. 1896, in: CAC, Sted 1/63. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 249 Wiederum suchte Stead sogar die Nähe derjenigen Politiker, die er bekämpfte. Chamberlain lehnte es jedoch ab, sich mit Stead zu treffen oder seine Beweise anzusehen – vor allem, weil er Stead seit dessen Kampagne gegen seinen Freund Dilke verachtete.112 Dennoch kam es selbst in diesem Fall zu der für England typischen Gesprächsbereitschaft zwischen Politikern und kritischen Journalisten. Vor allem der konservative Fraktionsvorsitzende Arthur Balfour versuchte, Stead mit diversen persönlichen Briefen zu beruhigen.113 Diese Interaktion zwischen Journalisten und Politikern zeigte sich auch auf der anderen Seite. Hier setzte sich vor allem die Times mit äußerstem Engagement für Chamberlain ein und kooperierte eng mit dem Kolonialministerium. Chamberlain stand von Beginn an im regelmäßigen Kontakt zu der Afrikaredakteurin der Times, Flora Shaw. Da die Times sie auf Vorschlag des Kolonialministeriums eingestellt hatte und Chamberlain einer der aktivsten Medienpolitiker war, mag diese enge Beziehung wenig erstaunen.114 Bezeichnenderweise war die Journalistin nicht nur vorher in den Jameson Raid eingeweiht, sondern die Times bot sich erneut vorauseilend als Verlautbarungsorgan an, um den Putsch am gleichen Tag in der gewünschten Form mit einem fingierten Hilferuf aus der Burenrepublik zu rechtfertigen. Die enge Verbindung zwischen der Regierungspolitik und der Times zeigte sich auch darin, dass sich ihr Management in der Journalistenzunft für Chamberlain einsetzte und versuchte, die Presseberichterstattung über ihn zu verbessern. Dem Journalisten und Herausgeber des Spectators, John Loe Strachey, der kritisch über Chamberlains Aktiengeschäfte berichtet hatte, versicherte der Times-Manager Moberly Bell etwa nachdrücklich die Haltlosigkeit der Vorwürfe: „I can only say that after patient searching with average intelligence that we never found a vestige of evidence which would justify such a suspicion.“115 Ebenso verteidigte der Times-Manager Cecil Rhodes Verhalten gegenüber Strachey und Labouchere mit dem Argument, es sei normal, einen bestimmten Aktienanteil für Freunde zu reservieren.116 Wie sehr sich die Times-Redakteurin Shaw dem Kolonialminister und Rhodes andiente, belegen auch die Briefwechsel, die 1897 im Select Committee verlesen wurden und die Times insgesamt bloßstellten.117 Chamberlain lancierte über die Redakteurin 112 113 114 115 116 117 Memorandum Stead für Hawsley, in: CAC, Sted 5/3. Vgl. die Anschreiben von Balfour an Stead, in: CAC, Sted 1/4. Weitere besänftigende Zuschriften von anderen Politikern: an Stead o. D. (Saturday), in: CAC, Sted 5/5 Dieser Hinweis bereits in: History of the Times 1884–1912, S. 161 f. Zu ihrer Vita: Dorothy Helly und Dorothy Callaway, Journalism as Active Politics: Flora Shaw, The Times and South Africa, in: Donal Lowry (Hrsg.), The South African War Reappraised, Manchester 2001, S. 50–66. Bell an Strachey 15. 2. 1896, in: House of Lords Record Office (HLRO), Strachey Papers, STR 2/9/2. Bell an Strachey 22. 2. 1896 und 26. 2. 1896, in: HLRO, Strachey Papers, S 2/9/4 f. „Can you advise when will you commence the plans, we wish to send at earliest opportunity sealed instructions representative of the London Times European capitals; it is most important using their influence in your favour, Flora Shaw.“ Abgedr. in: History of the Times 1884–1912, S. 232. Dort abgedruckt auch der rechtfertigende Artikel für den Einmarsch aus der Burenrepublik, der Jameson zur Rettung von Frauen und Kinder zum Einmarsch herbei rief: ebd., S. 211. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 250 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale regelmäßig seine Positionen in die Medien. Der Jameson Raid bedeutete somit im Grunde genommen abermals eine Blamage für die Times, da sie, wie sich herausstellte, mit dem Abdruck eines gefälschten Briefes einen Gewaltakt unterstützte und durch die Verwicklung ihrer Redakteurin ihr Ansehen als unabhängige Instanz Schaden erlitt. Die vorauseilende Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Politikern, die sich sowohl bei den Kritikern als auch die Unterstützern des Kolonialministers zeigte, spricht dabei erneut gegen die oft formulierte Annahme einer wachsenden Trennung von Politik und Presse. Da die Kritiker beim Jameson Raid in der Minderheit bleiben, die Beweislage gegenüber Chamberlain unklar war und sich keine breite Empörung über ihn einstellte, konnte der Kolonialminister seinen Posten behalten. Lediglich Cecil Rhodes musste seinen Posten als Premier der Cape Colony verlassen, nachdem seine Verwicklung deutlich geworden war. Neben Jameson wurden fünf Offiziere und ein Oberst gerichtlich verurteilt und entlassen.118 Obgleich insbesondere Steads Kampagne diesmal auf investigativen Recherchen beruhte, blieb seine Agitation damit relativ folgenlos. Er erreichte lediglich, dass Chamberlain unter Rechtfertigungszwang geriet. Die Liberalen um William Harcourt hielten sich dagegen zurück, obwohl sie von Chamberlains Wissen um den Putsch ausgingen.119 Gerade der regelmäßige Wechsel der Regierungsmacht dürfte im Unterschied zu Deutschland dazu beigetragen haben, dass eine harte Fundamentalkkritik mit skandalösen Beschuldigungen ausblieb, da sie sich an der Mehrheitsstimmung der Öffentlichkeit orientierte. Wie sehr weite Teile der Öffentlichkeit die imperiale Politik in Südafrika stützten, zeigte sich auch im Burenkrieg selbst. Der weit überwiegende Teil der Zeitungen stellte sich hinter den Angriff gegen die Buren, wohingegen von den größeren Blättern nur der Manchester Guardian und die Arbeiterzeitung Morning Leader die Anliegen der Buren vertraten und sich gegen die Kriegspolitik der Regierung richteten.120 W. T. Stead, der sich ebenfalls frühzeitig gegen den Krieg positionierte und sogar ein Blatt namens War against War in South Africa gründete, blieb erneut, trotz seines großen Namens, recht einflusslos und wurde zunehmend zum Außenseiter.121 Auch seine persönlichen Treffen mit dem liberalen Oppositionsführer Campbell-Bannerman, dem er erneut Belege gegen Chamberlain vorlegte, sicherten Stead keine breitere Unterstützung bei den Liberalen.122 Seine mitunter scharfen Briefe, die er an den Premierminister und einige Minister schickte, blieben anscheinend bewusst 118 119 120 121 122 Unterlagen zu dem Fall und den Verurteilungen in: TNA, WO 108/414. Diese Zurückhaltung der Liberalen unter Harcourt belegt durchweg die Studie von: Butler, The Liberal Party. Denis Judd und Keith Surridge, The Boer War, London 2002, S. 239 f. Stead begann seine Antikriegskampagne schon vor Kriegsbeginn, wobei er Chamberlains Kriegsplanungen mit dem Dreyfus-Skandal verglich, da letzterer ebenfalls als Angehöriger einer „unpopular race“ verfolgt würde; vgl. ders., Shall I Slay My Brother Boer? An Appeal to the Conscience of Britain, London 1899, S. 6. Zur Reaktion der Liberalen vgl. Butler, The Liberal Party, S. 235 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 251 unbeantwortet.123 Die kriegsbegeisterten Zeitungen erhöhten dagegen ihre Auflagen. Insbesondere die 1896 vom späteren Lord Northcliffe gegründete Daily Mail stieg gerade durch ihre patriotische Unterstützung des Krieges zur auflagenstärksten Zeitung auf, die erstmals die Millionengrenze überschritt.124 Dennoch kam im Zuge des Krieges eine Imperialismuskritik auf, die an die vorherigen Skandalisierungen gegen das Kolonialministerium anknüpfte und die Kriegsbegeisterung zu bremsen versuchte. Sie richtete sich zunächst erneut gegen die Korruption und den Profit, den insbesondere Kolonialminister Chamberlain aus dem Krieg ziehen würde. Wiederum bestand eine enge Interaktion zwischen Politikern und Journalisten. Von politischer Seite untersuchte zwischen Mai und August 1900 ein Select Committee on War Office Contracts elf Firmen auf Irregularitäten – etwa auf überteuerte Preise, minderwertige Ware und Bestechung von Inspektoren. Tatsächlich konnte das Komitee in einigen Fällen Bestechungen feststellen.125 Die radikalen Liberalen verdächtigten besonders die Firma Kynoch & Co, der Chamberlains Bruder vorstand, weil sie Angebote revidieren konnte und trotz hoher Preise und schlechter Qualität Zuschläge bekam. Radikale Journalisten trieben diese Vorwürfe weiter voran. Insbesondere der sozialistische Morning Leader erwies sich als investigativer Ankläger. Er veröffentlichte detaillierte Informationen über die minderwertige Qualität der Kynoch-Produkte und über den Aktienbesitz von 140 000 Pfund, den Chamberlains Familie an ihr habe. Detaillierte Listen über ihre Aktien veranschaulichten die Verquickung und ihren Reichtum. Ebenso berichtete das Blatt über die Geschäfte von Chamberlains Sohn, dessen Firma Hoskins & Sons bis vor kurzem die Armee ausgestattet hatte.126 Chamberlain habe zudem aus seinem politischen Wissen bei Aktienspekulationen profitiert. Damit übernahm das linke Blatt die Rolle des investigativen Anklägers, die gerade im Krieg die bürgerlichen Blätter nicht mehr innehatten. Obgleich die Journalisten auf diese Weise Chamberlain mit Korruption in Verbindung brachten, vermied das Blatt jedoch aus Angst vor kostspieligen Verleumdungsklagen direkte persönliche Vorwürfe.127 Ähnlich wie bei der deutschen Presse zeigte sich hier ein formeller Kodex, um diese britische Form der 123 124 125 126 127 So hielt er Salisbury vor, er erstrebe die Kapitulation der Buren, „[…] by systematically torturing their women and children to death by first burning their homes, then destroying their means of subsistence then herding them in huge pestilence camps where children perish for the lack of milk […]“. Stead an Salisbury 3. 7. 1901 und Notiz Salisbury, in: NL Salisbury, Hatfield House. Balfour, der einen ähnlichen Brief erhielt, verzichtete in Absprache mit dem Premierminister ebenfalls auf eine Antwort. Notiz für Salisbury 9. 7. 1901, ebd. Vgl. Taylor, The Great Outsiders, S. 39–54; Catherine Hughes, Imperialism, Illustration and the Daily Mail 1896–1904, in: Michael Harris und Alan Lee (Hrsg.), The Press in English Society from the Seventeenth to Nineteenth Centuries, Rutherford 1986, S. 187–200. Zur Einsetzung, Zusammensetzung und zum Bericht vgl. die Times in der Zeit zwischen dem 9. 5. 1900, S. 12 und 8. 8. 1900, S. 4. Knappe Hinweise bei: Doig, Corruption, S. 75. Vgl. Morning Leader 3. 8. 1900, S. 4 u. 18. 9. 1900, S. 3. Wichtige Hinweise bereits in: Searle, Corruption, S. 52–62. Nur erstaunlich knapp erwähnt ist die Kynoch-Affäre in: Judd, Radical Joe, S. 226; Marsh, Chamberlain, S. 502 f. Vgl. zu der Schwierigkeit, daraus eine Verleumdungsklage zu machen, Chamberlains Aufzeichnungen von 15. 12. 1900 in: Univ. Birmingham Special Collection, JC12/2/2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 252 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Zensur zu umgehen. Dennoch erreichten die Verwandten Chamberlains erfolgreiche Verleumdungsklagen.128 Im Unterhaus griff vor allem der junge radikalliberale Abgeordnete Lloyd George die Anklagen des Morning Leaders auf. Er erweiterte sie mit einer parlamentarischen Rhetorik, die, wie in Shakespeares Brutus-Rede, die Ehrenhaftigkeit Chamberlains zugleich betonte und diskreditierte. Auch Lloyd George kritisierte den Krieg nicht aus pazifistischen Motiven heraus, sondern als Akt der Korruption.129 Die liberalen Kampagnen gegen Chamberlain und den Burenkrieg wurden durch den von Lloyd George mit ausgehandelten Aufkauf der Daily News verstärkt, die sich nun, dank einer Finanzhilfe des Schokoladenfabrikanten Cadbury, zum Blatt der Kriegsgegner entwickelte.130 Auffällig ist dabei, dass diese linksliberale Kritik mitunter durchaus antisemitische Untertöne aufwies, wenn sie sich etwa gegen den internationalen Kapitalismus von „Jewburg“ richteten.131 Antideutsche Töne kamen hinzu, da bereits die Namen einiger Unternehmer eine deutsche Abstammung verrieten. Trotz dieser Mischung aus Populismus und detaillierten Finanzaufstellungen verpufften diese Skandalisierungen jedoch, was nicht zuletzt die geringe Wirkungsmacht des Antisemitismus in Großbritannien zeigte. Abgefedert wurden die Vorwürfe auch durch Chamberlains gewandten Umgang mit den Medien. Schon vor Kriegsbeginn hatte der Kolonialminister seine Verbindungen zur Presse weiter intensiviert. Mit der Nachrichtenagentur Reuters hatte er den Ausbau des wechselseitigen Informationsflusses und den täglichen Besuch eines Reuters-Journalisten im Ministerium vereinbart, um Meldungen oder Korrekturen aufzunehmen.132 Ebenso pflegte Chamberlain guten Kontakt zu dem neuen Großverleger Alfred Harmsworth, dem späteren Lord Northcliffe. Wie sehr er auf ihn einging, berichtete ein Journalist Northcliffe nach einem Gespräch mit Chamberlain: „Joseph continues very anxious to meet your views [...] He stated that he values your support very highly, and is much in debt for your proposal. [...] I think he will do all he can do to meet you.“133 Mit seinen Popular Politics sah Chamberlain sich generell als ein Geistesbruder der Großverlegers. „Just as Harmsworth knows what the public want to read, 128 129 130 131 132 133 Aufzeichnungen zu Times 21. 3. und 27. 3. 1901 in: Univ. Birmingham Special Collection, JC12/2/2. Gleiches galt für den Sozialisten Keir Hardie; vgl. Kenneth O. Morgan, Lloyd George, Keir Hardie and the Importance of „Pro-Boers“, in: South African Historical Journal 41 (2000), S. 290–311. Vgl. bereits: John Grigg, Lloyd George and the Boer War, in: A. J. A. Morris (Hrsg.), Edwardian Radicalism 1900–1914. Some Aspects of British Radicalism, London 1974, S. 13–25; Stephen Koss, Fleet Street Radical. A.G. Gardiner and the Daily News, London 1973, S. 40. Vgl. die Hinweise bei: Colin Holmes, Anti-Semitism in British Society 1876–1939, London 1979, S. 67–69. Englander (Reuters) an Chamberlain 26. 5. 1897, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 6/4m/2. Wilson an Northcliffe 1. 10. 1903, in: BL, Northcliffe Mss. Add. 62201:1. Vgl. generell zu ihrer Beziehung: Thompson, Northcliffe, S. 32. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 253 so I know what the elector wants; it is an instinct in both of us.“134 Bei den konkreten Skandalisierungsversuchen wandte sich Chamberlain persönlich an kritische Journalisten. Den Herausgeber des Spectator, John Strachey, lud er etwa zum Dinner ein und schrieb ihm mehrere rechtfertigende Briefe.135 Auch wenn Strachey darauf beharrte, enge Verwandte von Ministern sollten keine Geschäfte im Kontext der Regierungspolitik machen, so förderten die Briefe zumindest einen respektvollen Umgang.136 Zudem reagierte Chamberlain auf die Vorwürfe mit einer Gegenskandalisierung und hinterfragte den Aktienbesitz der Liberalen. Die Times flankierte offensichtlich seine Strategie. Sie sprach Chamberlain von jeglichem begründeten Verdacht frei und erwog spöttisch, auch als Drohung an die Liberalen, die Offenlegung aller Aktienanteile von Regierungsmitgliedern der letzten 30 Jahre.137 Die zunehmenden Kriegserfolge überdeckten die Vorwürfe zusätzlich. Wie begrenzt die Wirkung dieser ersten Skandalisierung war, zeigte sich nicht zuletzt der Ausgang der vom Burenkrieg geprägten Wahlen im Herbst 1900, die die Liberalen deutlich verloren.138 Dass Regierungen im Krieg nur schwer mit Skandalen zu treffen waren, zeigte sich selbst bei der Aufdeckung der grausamen Kriegsführung in Südafrika. Im Burenkrieg berichteten rund 300 bis 400 Kriegsberichterstatter aus aller Welt, vornehmlich aus Großbritannien und den USA. Obgleich sie prinzipiell der britischen Zensur unterlagen, ließ sich diese durchaus umgehen. Als kritische unabhängige Journalisten, die etwa Gewalt an der Zivilbevölkerung anprangerte, verstanden sich die britischen Journalisten jedoch kaum.139 Dementsprechend war es kein Journalist, sondern die englische Krankenschwester Emily Hobhouse, die die skandalösen Berichte über die britischen „Concentration Camps“ an die Öffentlichkeit brachte.140 Als Leiterin des Women’s Branch of the South Africa Conciliation Committee hatte sie in den Camps Hilfsmittel an Frauen und Kinder verteilt und anschließend 1901 in öffentlichen Reden und Publika134 135 136 137 138 139 140 So ebenfalls wiedergegeben in: Wilson an Northcliffe 1. 10. 1903, in: BL, Northcliffe Mss. Add. 62201:1. Vgl. die Korrespondenz Strachey – Chamberlain 3. 3.–8. 3. 1900, in: HLRO, Strachey Papers, STR 4/6/11. Vgl. bes. Strachey an Chamberlain 21. 8. 1900, in: HLRO, Strachey Papers, STR 4/6/13. Strachey an Chamberlain 23. 8. 1900, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC12/2/2; so schrieb Strachey hier: „I never doubted your patriotic devotion and absolute rectitude of intention and action.“ Times 11. 12. 1900, S. 11. Dass die Kriegsbegeisterung auch bei unteren Schichten das Wahlverhalten von 1900 prägte, betont: Paul Readman, The Conservative Party, Patriotism, and British Politics. The Case of the General Election of 1900, in: Journal of British Studies 40 (2001), S. 107–145. Zu der Kriegsberichterstattung vgl. Raymond Sibbald, The War Correspondents: the Boer War, Stroud 1993; Jacqueline Beaumont, The British Press and Censorship during the Boer War, in: South African Historical Journal 41 (2000), S. 267–289; Steinsieck, Ein imperialistischer Medienkrieg. Vgl. mit Blick auf die Reuters Berichte: Simon J. Potter, News and the British World: The Emergence of an Imperial Press System, 1876–1922, Oxford 2003, S. 112. Zu ihrem gut dokumentierten Wirken vgl. Emily Hobhouse, Boer War Letters, hrsg. v. Rykie van Reenen, Cape Town und Pretoria 1984. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 254 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale tionen Berichte über die katastrophalen Zustände verbreitet. Immerhin kamen von den rund 160 000 eingesperrten Buren mindestens 25 000 um – überwiegend Frauen und Kinder.141 Verschiedene linksliberale Politiker und Journalisten griffen Hobhouse’ Berichte auf, um einen Skandal auszulösen, der die Kriegsführung stoppen sollte. Journalisten und Politiker arbeiteten dabei erneut eng zusammen. Da der Bruder von Emily Hobhouse für den Manchester Guardian schrieb, der sich unter dem Herausgeber C. P. Scott gegen den Krieg engagierte, konnte das Blatt seine Schlüsselrolle in der Anti-Kriegs-Agitation ausbauen. Scott wiederum kooperierte in der einsetzenden Kampagne eng mit dem liberalen Oppositionsführer Campbell-Bannerman und dem Nachwuchspolitiker Lloyd George.142 Mit C. P. Scott trat dabei erneut ein Journalist hervor, der zugleich Abgeordneter war und durch diese Doppelfunktion öffentliche Kampagnen vorantrieb. Sein Manchester Guardian druckte Teile des Berichts ab, und Campbell-Bannerman klagte in seiner berühmten Unterhausrede die Zustände in den Lagern als „methods of barbarism“ an. Ihre Anfragen nach den Todesraten bezogen sich vor allem auf „white persons“, was das Skandalpotential vergrößerte.143 Damit engagierten sich Stead und Scott gegen die mehrheitliche Meinung der Leser, was unterstrich, dass es diesen Ausnahmejournalisten nicht um hohe Auflagen, sondern um politische Ziele und Debatten ging. Ebenso griff Reynolds’s Newspaper emotionalisierend die Vorwürfe auf. So druckte sie unter der Überschrift „Our War on Women and Children. One of the victims“ das Bild eines völlig ausgemergelten Jungen auf dem Sterbebett ab und warb mit Auszügen für Hobhouse’ Broschüre.144 Auch Hobhouse’ Schrift zog dabei ihre schockierende Wirkung daraus, dass sie über einzelne Frauen und Kinder im Sterben berichtete und damit abstrakte Kriegsgrausamkeiten anschaulich greifbar machte. Die Mehrheit der Presse, allen voran die Times und die Daily Mail, stellte sich dennoch klar auf die Seite der Regierung und lehnte Hobhouse’ Bericht und den Barbarei-Vorwurf als überzogen ab. Vielmehr gaben diese Blätter der Nachlässigkeit der Mütter die Schuld an den toten Kindern und berichteten stattdessen über die großzügige Versorgung der Kriegsgegner.145 Ebenso blieb Lord 141 142 143 144 145 Judd/Surridge, The Boer War, S. 196. Scott an Campbell-Bannerman 28. 11. 1900, Campbell-Bannerman an Scott 1. 2. 1902 in: BL, Campbell-Bannerman MS Add. 41236; Stead an Campbell-Bannerman 15. 8. 1901, in: ebd. Vgl. auch: Mark Hampton, The Press, Patriotism, and Public Discussion. C. P. Scott, the Manchester Guardian and the Boer War, in: Historical Journal 44 (2001), S. 177–197. Vgl. bes. die Unterhausdebatten am 17. 6., 21. 6. u. 24. 6. 1901 Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 44, Sp. 541, 573, 597, 887, 1053. Reynolds’s Newspaper 23. 6. 1901, S. 4. Ein ähnliches Bild in: Reynolds’s Newspaper 7. 7. 1901, S. 6. Bei Studien, die den kaum vorhandenen Protest gegen den Krieg in den britischen Medien betonen, wird das Massenblatt Reynolds’s Newspaper stets übersehen, obwohl es sich mit ausführlichen Artikeln gegen den Krieg wandte. Vgl. Times 26. 6. 1901, S. 14 u. 2. 7. 1901; zur Daily Mail: Taylor, The Great Outsiders, S. 70. Zur öffentlichen Debatte über die Concentration Camps vgl. Paula M. Krebs, Gender, Race, and the Writing of Empire. Public Discourses on the Boer War, Cambridge 1999, S. 32–54. Im Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 255 Kitchener, der für diese brutale Kriegsführung maßgeblich verantwortlich war, in der Öffentlichkeit weiterhin ein Kriegsheld.146 Obgleich die Grausamkeit der britischen Kriegsführung durchaus publik wurde, galt sie folglich nur bei kleineren Teilen der Öffentlichkeit als ein skandalöser Normverstoß. Die Konzentrationslager blieben damit zunächst eher Gegenstand einer politischen Debatte als eines emotionalisierenden Skandales. Vielleicht lag dies auch daran, dass diese Auseinandersetzung zunächst vornehmlich mit Statistiken geführt wurde und weniger mit einzelnen Geschichten wie sonst bei Skandalen üblich. Lediglich der fortlaufende Verweis auf die sterbenden Kinder trieb die Empörung voran. Zugleich minderten die Gegenskandalisierungen der konservativen Politiker und verschiedener Zeitungen die Vorwürfe ab. Artikel über Erschießungen, die die Buren angeblich an Verletzten vornahmen, wogen anscheinend die Anklagen auf. Gleiches galt für den ebenfalls von einer Frau verfassten Regierungsbericht über die Lager, demzufolge die Buren die tödlichen Seuchen in den Lagern durch ihre Schmutzigkeit selbst auslösen würden.147 Immerhin konnten die von Hobhouse ausgestoßenen Proteste jedoch bewirken, dass die Regierung die Zustände untersuchte, Verbesserungsvorschläge aufnahm und sich so die Todesrate in den letzten Kriegsjahren senkte. Mit dem Ende des Krieges nahm zudem auch die Kritik in den Zeitungen zu. Die Berichte über die Concentration Camps und die toten Zivilisten häuften sich nun, wobei besonders die Times weiterhin die britischen Kriegsverbrechen und Toten ignorierte.148 Dass diese Nachrichten jedoch keine schlagartige Empörung gegen die Regierung auslösten, lag vermutlich an dem geringen Neuigkeitswert der Meldungen. Sie führten eher zu einer kontinuierlichen Unzufriedenheit, die nicht plötzliche Rücktritte, sondern künftige Verluste bei Wahlen förderte. Wesentlich stärkere Kritik am Burenkrieg formulierte die Öffentlichkeit auf dem europäischen Kontinent. Obgleich sich die deutsche Regierung mit Kommentaren zurückhielt, um die außenpolitischen Beziehungen nicht zu gefährden, warfen die deutschen Zeitungen nahezu einhellig und kontinuierlich den Engländern vor, aus Geld- und Machtgier furchtbarste Kriegsgräuel an den Buren zu verüben.149 Die Zuschauer bei Filmberichten zum Krieg feuerten die Buren auf 146 147 148 149 Unterschied zu Krebs ist aber zu betonen, dass Hobhouse’ Berichte selbst in der Times wiedergegeben wurden. Von einem Ausblenden der tödlichen Gewalt in den britischen Medien, die verschiedene Studien betonten, kann man somit nicht sprechen; so jedoch etwa: Glenn R. Wilkinson, Depictions and Images of War in Edwardian Newspapers, 1899–1914, London 2003, S. 132 f. Keith Surridge, More than a Great Poster: Lord Kitchener and the Image of a Military Hero, in: Historical Research 74 (2001), S. 298–313. Vgl. den positiv gefärbten offiziellen Bericht „Report on the Concentration Camps in South Africa by the Committee of Ladies“, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 33/3/4. Kenneth O. Morgan, The Boer War and the Media (1899–1902), in: Twentieth Century British History 13 (2002), S. 1–16, bes. S. 3. Vgl. Geppert, Pressekriege, S. 125–132; Ulrich Kröll, Die internationale Buren-Agitation 1899–1902. Haltung der Öffentlichkeit und Agitation zugunsten der Buren in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden während des Burenkrieges, Münster 1973. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 256 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale der Leinwand an,150 und die Presse druckte äußerst detaillierte Schilderungen über die ‚bestialische‘ Gewalt der Briten, was sonst eher bei Berichten über Kriegsgegner üblich war.151 Auch im Umfeld des deutschen Kaisers deutete man den Krieg mit dem „schmutzigen Geldinteresse“ und skandalösen Verstrickungen der Briten. Verlören die Engländer den Krieg, so Prinz Albert, „würde ein Panama folgen, ärger als das französische.“152 Die von der Polizei aufgezeichneten Kneipengespräche zeigen ebenfalls eine starke Empörung über das britische Vorgehen, wobei die Gespräche besonders emotionale Gewaltberichte aus der Presse aufgriffen. So beklagten einige Gäste, dass Großbritannien „Frauen und Kinder gemordet hat, um einen Volksstamm mit Haut und Haaren auszurotten.“153 Ähnlich wie der Stanley-Skandal verstärkte der Burenkrieg damit die deutsche Vorstellung von den zwei Gesichtern Großbritanniens, dessen „dunkle“, geheime Seite nun erneut offenbar würde. Als Chamberlain im Oktober 1901 das Vorgehen in Südafrika, ähnlich wie ein Times-Leserbrief kurz zuvor, damit rechtfertigte, die deutschen Soldaten hätten im deutsch-französischen Krieg weitaus schlimmere Gewalt verübt, kulminierten die emotionalen Proteste in Deutschland. Hunderttausende Menschen kamen zu öffentlichen Protestversammlungen zusammen und die Reichsregierung erhielt zahllose Protestresolutionen.154 Damit bildete allerdings nicht mehr allein die Gewalt, sondern die angegriffene nationale Ehre das eigentliche Skandalon. Überdies löste die britische Gewalt gegen die Buren sogar von konservativer Seite Kritik an der Reichsleitung und am Kaiser aus, die der Öffentlichkeit zu englandfreundlich erschienen.155 Auch wenn sich die Reichsleitung diesen Stimmungen nicht direkt anschloss, veränderten sie doch langfristig das deutsch-englische Verhältnis, zumal die Berichte in Großbritannien wiederum das Gefühl deutscher Feindseligkeit stärkten.156 In Großbritannien kam es hingegen, trotz dieser zahlreichen Versuche, erst nach Kriegsende zu einer erfolgreicheren Skandalisierung der Verhältnisse in Südafrika. Der sogenannte War Stores Scandal, der von 1904 bis 1906 die Öffentlichkeit beschäftigte, lässt sich dabei als eines der wichtigsten öffentlichen Nachgefechte zum Burenkrieg fassen. Nicht die Kriegsgewalt oder die Bereicherung von Ministern führten zu einer breiten öffentlichen Empörung, sondern die Verschwendung von Steuergeldern.157 Der Skandal entfaltete sich aus 150 151 152 153 154 155 156 157 Vgl. Iris Kronauer, Vergnügen, Politik und Propaganda. Kinematographie im Berlin der Jahrhundertwende 1896–1905, Ms. Diss. Berlin 2000, S. 67; Kröll, Die internationale BurenAgitation. Vgl. Daniel, Einkreisung und Kaiserdämmerung, S. 308–311. Eintrag Waldersee 29. 10. 1899, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 437. Zit. Bericht Graumann 17. 6. 1902, abgedr. in: Evans (Hrsg.), Kneipengespräche, S. 351; hier bereits weitere entsprechende Gespräche, ebd. S. 347–352. Zur Reaktion in Deutschland vgl. Fälschle, Rivalität, S. 47–53. Vgl. zu dieser Spannung jetzt: Geppert, Pressekriege, S. 132–141. Kennedy, The Rise, S. 251. Die Literatur zum Kolonialismus hat den War Stores Scandal bislang weitgehend übergangen. Einige Hinweise in: Searle, Corruption, S. 75–79. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 257 der Kriegsabwicklung, die mit großen finanziellen Transaktionen einherging. Da sich die Truppen aus eigenen staatlichen Farmen versorgt hatten, kam es nach ihrem Abzug aus Südafrika zu umfangreichen Verkäufen von überschüssigen Lebensmitteln, Tieren, Ausrüstungsteilen und Ländereien, aus denen sich die Regierung insgesamt über 9 Millionen Pfund erhoffte.158 Dass es bei diesen unüberschaubaren Aktionen zu Unregelmäßigkeiten kam, deuteten am 4. Juni 1904 Berichte in der Daily News und der Times an. Wie die Blätter mit Verweis auf ein Gerichtsurteil in Südafrika meldeten, hatte der Bruder des südafrikanischen Director of Supplies Oberst Morgan, aus Armeebeständen für 300 britische Pfund Spreu verkauft, dann jedoch wieder die gleiche Menge für rund 2 300 Pfund zurückgekauft und den Gewinn mit den beteiligten Händlern und Offizieren aufgeteilt.159 Da Oberst Morgan angeblich auch 300 Pfund erhielt, erschien er beiden Zeitungen als Teil eines kolonialen Korruptionssystems, bei dem nur die Spitze des Eisberges zufällig entdeckt worden sei. Die Daily News prägte bereits mit der ersten Überschrift anklagend den Begriff „War Stores Scandal“, den der Fall auch in den nächsten Jahren behalten sollte. Ihr Kommentar fasste unter der Überschrift „Shame and Scandal“ gleich ein generelles Urteil: „The story of sordid corruption in South Africa grows daily more shameful. The wrested land, now that the murder has done its worst, seems delivered over to the kites and the vultures.“ Um die Leser emotional aufzuwühlen, formulierte sie gleich beim ersten Bericht das zentrale Argument des Skandals: „The British public must remember that it’s their pockets which are being plundered.“160 Auch wenn sie den Fall nicht selbst recherchiert hatte, prägte sie durch ihre Begriffe den Skandalverlauf. Die Daily News hatte, seit sie sich 1901 durch ihren Aufkauf durch den Schokoladenfabrikanten Cadbury zu einem parteinahen liberalen Blatt und Kritiker des Burenkrieges entwickelt hatte, auch in den Jahren zuvor nicht mit skandalisierenden Anklagen gegen die konservative Politik gespart.161 In diesem Fall griffen jedoch selbst die konservativen Blätter die Beschuldigungen auf. Die Times benutzte zwar bei ihrer ersten Meldung nicht vergleichbar starke Kraftausdrücke, verband aber immerhin den Vorwurf mit der nachdrücklichen Forderung nach einer Aufklärung, zumal entsprechende Gerüchte seit langem virulent seien. Bei Skandalbeginn zeigte sich, dass die Medien durch die Telegraphenberichte und Nachrichtenagenturen besser und schneller informiert waren als die Ministerien. Der Kriegsminister erfuhr, wie seine Telegramme belegen, erst über die Times-Artikel von den Vorwürfen und verlangte daraufhin zügig Berichte aus Südafrika. Die Regierung nahm die Pressestimmen äußerst ernst und leitete so- 158 159 160 161 Detaillierte Angaben in: Memorandum Wilson/Director of Army Finance o. D, in: TNA, WO 32/9260; Memoranda Butler 21. 1. 1905, in: TNA, WO 108/383, S. 46. Daily News 4. 6. 1904, S. 4; Times 4. 6. 1904, S. 7. Daily News 4. 6. 1904, S. 4. So zuletzt nur einen Tag vorher mit einem Bericht über „Scandal of Office“; Daily News 3. 6. 1904, S. 8. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 258 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale fort breitere Untersuchungen ein.162 Noch im selben Monat pries der Kriegsminister seine Reformvorschläge als „new system“ an, das, so wörtlich, zukünftig derartige Skandale verhindern solle.163 Korruption in den Kolonien und die Verschwendung von Steuergeldern wurden offensichtlich sofort als ein besonders sensibler Bereich angesehen. Zugleich sorgte das Parlament für einen entsprechenden Handlungsdruck, da die liberalen Abgeordneten die Artikel umgehend in Anfragen aufgriffen. Sie bedienten sich ebenfalls der Steuerzahler-Rhetorik, als sie auf die Verschwendung von Militäreigentum hinwiesen, „for which the ratepayers of this country had to pay.“164 In den parlamentarischen Antworten gab sich die Regierung allerdings abwartend und verwies mehrfach nur auf laufende Ermittlungen in den Verleumdungsprozessen, um Zeit zu gewinnen. Seine weitere Dynamik entfaltete der Skandal, weil Oberst Morgan die beiden Zeitungen auf Verleumdung verklagte, da er nicht an den Geschäften seines Bruders beteiligt gewesen sei. Wie bei allen Skandalen gaben die Prozesse der Presse erneut Anlass, ausführlich den Fall zu räsonieren. Beide Seiten richteten ihre Appelle abermals an die Steuerzahler: Während Morgan betonte, seine sparsame Verwaltung habe den Briten zwei Millionen Pfund erspart, betonte die Daily News in ihren Kommentaren, „the matter affects the administration of hundreds of thousands of pounds worth of goods paid for, and belonging to the people of this country.“165 Obgleich das Gericht den Oberst in beiden Prozessen davon freisprach, an diesem korrupten System beteiligt gewesen zu sein, urteilte die Jury im Prozess gegen die Times, „that the trial reveals a very lax state of affairs, and urge a rigid investigation on the part of the Government.“166 Da Medien, Parlament und Gericht skandalöse Zustände ausmachten, war die Regierung zum Handeln gezwungen. Tatsächlich setzte sie schon vor den Prozessen ein Departmental Committee unter William Butler ein, das generell die Abwicklung der Militärbestände untersuchen sollte. Obgleich in dem kleinen Gremium nur hohe Militärs saßen, legte es bereits im Juni 1905 einen kritischen öffentlichen Bericht vor, wie er in Deutschland damals undenkbar gewesen wäre. Diese von der Regierung angeregte Untersuchung, und nicht etwa eine Recherche der Zeitungen, stieß in dieser zweiten Phase des Skandals maßgeblich eine breite Empörung an. Butlers Bericht, der eingangs ebenfalls auf die Last der Steuerzahler hinwies, druckten auch regierungsnahe Blätter in umfangreichen Dokumentationen ab.167 Zudem griff selbst die Times in ihren Kommentaren 162 163 164 165 166 167 Vgl. Secretary of State for War an General Officer Commanding Pretoria 6. 6. 1904 und 20. 7. 1904, in: TNA, WO 108/384. Memorandum o.D, in: TNA, WO 32/9260. So der Ire Swift MacNeill 25. 7. 1904 Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 138, Sp. 1039. Daily News 2. 3. 1905, S. 12. Times 7. 4. 1905, S. 3. Eingangs kommentierte der Bericht dies mit der Frage: „Are the tax-payers of this country to continue to be the sport of the many questionable contractors who are ready to follow their several advocations in the wake of the war […]?“ Report of Committee Appointed by the Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 259 emotionalisierend seine Vorwürfe auf: Seit 1902 sei fortlaufend versucht worden, die Bestände zu möglichst geringen Preisen an einen möglichst kleinen Kreis von Abnehmern zu verkaufen. Nicht minder skandalös fand die Times, dass in einem „dual system“ Armeegüter zu geringen Preisen verkauft und dann zu hohen Preisen von Zwischenhändlern zurückgekauft worden seien und zahlreiche wichtige Dokumente fehlten.168 Lediglich das angeblich besonders unabhängige und skandalorientierte Boulevardblatt Daily Mail ignorierte den Skandal und stützte die Regierung, indem sie auf Fehler im Butler Committee hinwies, die Parlamentsberichte unkommentiert ließ und sie mit wohlwollenden Überschriften versah.169 Die Empörung der liberalen Blätter war dagegen äußerst groß. Reynolds’s Newspaper beschuldigte unter der Schlagzeile „Great Scandal“ die Regierung Balfour, die Wahrheit zu verdecken, das Unterhaus nicht informiert zu haben und jene zu unterstützen, „[which] have been stealing the money wrung from the poor in war taxation“.170 Ihre Forderung, die Regierung per Impeachment zu entlassen oder im Strafgericht Old Bailey zu verurteilen, unterstrich den scharfen und populistischen Ton. Sowohl der Kriegsverlauf als auch die seit 1886 währende Dominanz der Konservativen führten zu diesen für England ungewöhnlich polarisierten Kommunikationsstil, der sich im Skandal weiter zuspitzte. Reynolds sprach nun regelmäßig von „The Thieves Government“, das sich wie die russische Regierung mit Gewalt an der Macht halte und den Steuerzahler um 7 000 000 Pfund betrogen habe – obgleich dies nur der geschätzte Verkaufswert aller Kriegsbestände war.171 Gerade in Großbritannien, wo im Parlament der Respekt gegenüber jedem Abgeordneten zentral war, bildete diese Gleichsetzung mit Dieben zweifelsohne einen Affront, der nur über die Medien, nicht aber im Parlament sagbar war. Bei dieser journalistischen Kritik kam es wiederum zu einer Zusammenarbeit zwischen der parteinahen Presse und der Politik. So kündigte der liberale Oppositionsführer Campbell-Bannerman dem Herausgeber der Daily News schon vorher an, was er Premierminister Balfour im Unterhaus fragen werde.172 Visualisiert wurde der erdrückte Steuerzahler zudem in den Karikaturen des Punch, der die südafrikanischen Profiteure als Schlange darstellte, die den Steuerzahler als Hasen verspeiste, der sich mit Geld und Verträgen wehrt (Abb. 6).173 168 169 170 171 172 173 Army Council to Consider the Question of Sales and Refunds to Contractors in South Africa, 1905, S. 59. Vgl. Times 15. 6. 1905, S. 3 f., S. 9. Das gesamte Blue-Book des Berichtes hatte 530 Seiten. Times 17. 6. 1905, S. 12. Vgl. auch die interne Darlegung der Vorwürfe in: Evidence Ward, in: TNA, WO 32/9260, S. 21. Vgl. etwa: Daily Mail 17. 7. 1905, S. 5 u. 22. 7. 1905, S. 3. Reynolds’s Newspaper 18. 6. 1905, S. 1. Zit. Reynolds’s Newspaper 2. 7. 1905, S. 1. Über „The Thieves’ Governmment“, das der Korruption überführt sei, spricht fast jede ihrer Ausgaben im Juli und August 1905. Campbell-Bannerman an Gardiner 16. 6. 1905, in: LSE, NL Gardiner 1/6. Punch 21. 6. 1905. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 260 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Abb. 6: Weniger die Gewalt im Burenkrieg als die Angst, der Steuerzahler würde von korrupten Kolonialverträgen und dem „Thieves Government“ ausgenommen, führte zu einem großen Kolonialskandal; Punch 21. 6. 1905. Charakteristisch für Großbritannien war, dass die Regierung auf die Medienvorwürfe mit einer umfassenden Untersuchung und mit Sanktionen reagierte. Bereits nach dem Butler-Bericht entließ sie einige Offiziere in Südafrika. Da sich auch im Unterhaus die Klagen über die Verschwendung von Steuergeldern häuften, setzte die Regierung zudem in Abstimmung mit König Edward VII. eine Royal Commission ein, die eidesstattlichen Ermittlungen vornahm und alle Käufe und Verkäufe zwischen 1902 und 1904 überprüfte.174 Nicht minder bereitwillig stellte das Kriegsministerium umfangreiche Auflistungen zur Verfügung.175 Die von der Regierung eingesetzte Kommission erstickte den Skandal jedoch nicht mit Aktendetails, sondern hielt ihn durch die Vernehmung von zahlreichen prominenten Zeugen, wie sogar des Kriegsministers selbst, ein weiteres Jahr am Leben.176 Sie machte zahlreiche neue Korruptionsverdächtige aus, 174 175 176 Vgl. Bericht Balfour an Edward VII. und Kabinettsprotokoll. 22. 6. 1905, in: TNA, CAB 41/30/23. Von den zahlreichen Unterhausdebatten hierzu vgl. bes. die Sitzungen zwischen dem 21. 6. 1905 und 4. 7. 1905, vor allem 26. 5. 1905, in: Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 148, Sp. 79–367. Vgl. Akten wie in: TNA, WO 108/383 bis 386. 75 Zeugen wurden an 26 Sitzungstagen vernommen; Times 10. 8. 1906, S. 4 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 261 was zu weiteren Suspendierungen führte.177 Ihr Bericht, der im Oktober 1906 endgültig offiziell vorlag, war zwar weniger kritisch als der von der ButlerKommission. Dennoch bestätigte er fast alle bisherigen Vorwürfe. Die Misswirtschaft hatte demnach das Land zwischen 750 000 und 1 250 000 Pfund gekostet und nur Profit für einige „Commissioned officer“ und viele „Non-commissioned officers“ gebracht. Er zeigte die chaotische Kommunikation zwischen dem War Office und der Verwaltung in Südafrika und belegte erneut das Fehlen wichtiger Dokumente.178 Vor allem machte der Bericht die Bestechung zahlreicher Militärbeamter deutlich, die insbesondere von der Firma Meyer größere oder auch erstaunlich kleine Geldgeschenke erhalten hatten und dafür unter Preis Waren verkauften. Alles dies belegte, welche bemerkenswerte Selbstkritik und Selbstreinigung die britische Regierung bei Skandalen zeigte. Obgleich die Kommissionsmitglieder der Regierung nahe standen, führten ihre Recherchen zu derartig unliebsamen Ergebnissen. Die Presse reagierte entsprechend. Selbst die Times kritisierte in ihrer Bilanz die Misswirtschaft und Gleichgültigkeit gegenüber Steuergeldern, die das Kriegsministerium nicht verhindert habe, auch wenn die Regierung selbst nicht korrupt sei.179 Die Folgen des Skandals waren immens. Parallel zur Diskussion über den Butler-Report verlor die konservativ-unionistische Regierung ihre Vormachtstellung. Schon bei den zeitgleichen Abstimmungen zu anderen Themen konnte sie keine Mehrheit mehr bilden, was die liberalen Opposition triumphieren ließ und Rücktrittsforderungen an Premierminister Balfour bescherte.180 Ende des Jahres zerbrach die konservative Regierung schließlich ganz und verlor bei den anschließenden Wahlen erdrutschartig an die Liberalen. Diesen Verfall erklärte die bisherige Forschung gewöhnlich mit den Konflikten über den Freihandel, die Gewerkschaftsrechte und billige chinesische Arbeiter in Südafrika. Die „taxpayer“-Kampagne im Zuge des War Stores-Skandals dürfte jedoch ebenfalls einen größeren Anteil an ihrem Reputationsverlust gehabt haben.181 Im Vergleich zu anderen Skandalen zog der Fall umfangreiche personelle Konsequenzen nach sich. Zwölf Personen aus der Militärverwaltung, darunter ein Oberstleutnant, wurden entlassen, fünf pensioniert und zwölf getadelt.182 Noch schwerer wog vermutlich, dass die Presse ihre Namen veröffentlichte.183 177 178 179 180 181 182 183 Ward an Royal Commission 27. 1. 1906, in: TNA, WO 32/9258; Ward an Royal Commission 28. 12. 1905, in: TNA, WO 108/384. Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA, WO 32/9259. „They were guilty of irresponsibility, indifference to public interest, and want of intelligence.“ Times 10. 8. 1906, S. 7. Ähnlich auch: Times 30. 8. 1906, S. 10; 17. 10. 1906, S. 7; 31. 12. 1906, S. 6. Daily Mail 21. 7. 1905, S. 5. In den gängigen Darstellungen zum Regierungswechsel finden sich keine Hinweise auf den „War Stores Scandal“. Vgl. etwa die umfassende Wahlkampfstudie von: A. K. Russell, Liberal Landslide. The General Election of 1906, Newton/Hamden 1973. Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA, WO 32/9259. Times 16. 19. 1906, S. 9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 262 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Einen Tadel erhielten diejenigen, die lediglich Armeebestände zu schlechten Preisen verkauft hatten oder sich von den Käuferfirmen Kredite geben ließen. Entlassen wurde, wer Geld von den Agenten der Käufer angenommen hatte. Die Bestechungssummen betrugen bei einigen Beschuldigten 100, 200 und 500 Pfund, also oft mehr als ihre Monatsgehälter. Andere erhielten mehrmals kleine Beträge von nur ein bis zwei Pfund.184 Wie bei späteren Korruptionsskandalen zeigte sich damit, dass es keine feste Summe der Käuflichkeit gab, sondern oft symbolische Bestechungsbeträge ausreichten. Gerade weil das korrupte Handeln von den Beteiligten kaum als Straftat wahrgenommen wurde, fielen die Bestechungen wohl vergleichsweise gering aus. Umgekehrt formuliert: Gerade die Etablierung von Korruptionsnormen durch derartige Skandale dürfte in späteren Fällen die Summen erhöht haben, die für die Senkung von Hemmschwellen nötig waren. Damit war auch bei diesem Skandal die entscheidende Folge, dass er Normen für das Verhalten in den Kolonien setzte. Die große Zahl von bestochenen Offizieren machte deutlich, wie unproblematisch dort bisher korrupte Geschenke erschienen. Die rigorosen Untersuchungen, die Entlassungen und die öffentliche Empörung verfestigten nun die Norm, dass auch in Afrika ein derartiges Verhalten nicht mehr tolerierbar war und von der heimischen Öffentlichkeit geahndet wurde. Die Kritik an der nachlässigen Aktenführung legte zudem heimische Bürokratiestandards fest. Der sparsame Umgang mit Steuermittel wurde ebenfalls zur Leitlinie erhoben. Die Regierung setzte dafür maßgebliche Akzente, die aber durch die Zeitungskommentare angestoßen worden waren, auch wenn die Presse den Skandal kaum durch eigene Recherchen forciert hatte. Bekräftigt wurden diese normativen Anforderungen durch eine Gesetzesreform. Die Verschärfung des Prevention of Corruption Act gehörte 1906 zu den ersten Handlungen der neu gewählten liberalen Regierung, mit der sie Bestechungen über den Kreis des öffentlichen Dienstes hinaus unter Strafe stellte.185 Dass es um 1900 ausgerechnet zu Skandalen in der Verwaltung gekommen war, erklärt sich auch aus der zunehmenden Bürokratisierung des Kolonialismus in Afrika. Erst das Entstehen formeller Verfahren setzte Normen, was Korruptionsskandale begünstigte. Skandale, die sich wie bei Stanley um Gewalt und sexuellen Missbrauch kolonialer „Eroberer“ drehten, traten dagegen in den Hintergrund. Dass jedoch weiterhin derartige Skandale um sexuellen Missbrauch in die englischen Medien wandern konnten, mag etwa ein abschließender kurzer Seitenblick auf den Silberrad-Skandal 1908/9 im Britisch-Ostafrika verdeutlichen. Er entstand, nachdem ein Leserbriefschreiber in der Times berichtete, sein Nachbar, der Assistant District Commander Hubert Silberrad, hätte sich verschiedene einheimische Mädchen zum sexuellen Verkehr zukommen lassen, sei deshalb aber lediglich von der Beförderung ausgeschlossen worden.186 Die 184 185 186 Memorandum o. D., in: TNA, WO 32/9259. Doig, Corruption, S. 77. Times 3. 12. 1908, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Bereicherung in Südafrika 263 kleine Meldung, die die Times reißerisch mit „An East African Official and native Women“ überschrieb, löste wie der War Stores Scandal eine rasante Eigendynamik aus. Abgeordnete brachten bei ihren Anfragen an die liberale Regierung gleich noch andere Fälle auf, wie das tödliche Auspeitschen von Afrikanern in Rhodesien, den Kauf von Frauen durch Beamte oder den Missbrauch von eingeborenen Frauen in Ost-Afrika.187 Wie beim Skandal um Stanleys Rear Column kamen gerade durch die Rechtfertigung des Hauptangeklagten weitere Vorwürfe auf und überführten den Verkehr zwischen afrikanischen Mädchen verstärkt an die Öffentlichkeit.188 Der Skandal zeigte zudem, wie sich nach dem Regierungswechsel von 1905 die moralische Entrüstung in den Medien komplett veränderte: Liberale Blätter wie die Pall Mall Gazette oder Reynolds’s Newspaper, die bisher gerade bei derartigen Skandalen besonders ausführlich und emotional berichtet hatten, beschränkten sich nun auf ganz wenige versteckte Kurzmeldungen.189 Offensichtlich ging ihre journalistische Unabhängigkeit nicht so weit, dass sie mit derartigen Meldungen der liberalen Regierung hätten schaden wollen. Uneingeschränkter Wortführer bei diesem Kolonialskandal war dagegen die Times, die sich nun unter ihrem neuen Besitzer Northcliffe scharf polarisierend gegen die Liberalen richtete. Dieses Beispiel belegt damit, dass man aus den Skandalen und Kampagnen im Kontext des Burenkrieges nicht den Schluss ziehen darf, die liberale Öffentlichkeit sei prinzipiell besonders kolonialkritisch gewesen und hätte nur deshalb Skandale forciert. Vielmehr ging es vor allem darum, die regierende konservative Partei zu attackieren, weshalb die Liberalen nach dem Regierungswechsel von 1905 plötzlich mehr Zurückhaltung zeigten. Sexuelle Normbrüche hatten in britischen Kolonialskandalen bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Der Silberrad-Skandal löste nun auch in diesem Feld in der Presse und dem Parlament eine koloniale Normendebatte aus. Dabei wurde zum einen vornehmlich verhandelt, ob afrikanische Mädchen von 12 bis 13 Jahren schon so geschlechtsreif seien, dass mit ihnen, im Unterschied zu englischen Frauen, bereits sexueller Verkehr zulässig sei. Einige Leserzuschriften und der Staatssekretär im Kolonialministerium argumentierten mit der früher entwickelten Geschlechtsreife der Afrikanerinnen, während vor allem die Leserzuschriften der Times besagtes Alter als zu jung ansahen.190 Zudem ging es generell um die Frage, ob britische Beamte mit afrikanischen Frauen verkehren dürften. Immerhin hatte der Silberrad-Skandal zur Folge, dass das Kolonialministerium eine neue Norm per Anweisung festigte: Ein Rundschreiben warnte alle zukünftigen Kolonialbeamten, dass der sexuelle Verkehr mit Einheimischen 187 188 189 190 Vgl. die Parlamentsberichte in: Times 8. 12. 1908, S. 7, Times 11. 12. 1908, S. 8; Hinweise zu dem Skandal in: Hyam, Empire, S. 160–170. Times 10. 8. 1909, S. 8. So nur ganz knapp mit dem Hinweis auf Parlamentsdebatten: Pall Mall Gazette 27. 7. 1909; Reynolds’s Newspaper 1. 9. 1909, S. 9. Times 9. 12. 1908, S. 6; Times 7. 12. 1908, S. 8. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 264 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale ein Entlassungsgrund sei.191 Dass dieses Rundschreiben speziell für Afrika galt, unterstrich den rassistischen Unterton. Im Vergleich zu Deutschland, wo zur gleichen Zeit ebenfalls der sexuelle Verkehr mit Afrikanerinnen und „Mischehen“ debattiert wurde, blieb diese Debatte jedoch weniger ausgeprägt. Dennoch zeigte der Fall Silberrad, dass neben der Gewalt und der Korruption im edwardianischen England nun auch sexuelle Normverstöße in den Kolonien öffentlich benennbar waren. Diese Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen führte allerdings nicht zu einer Liberalisierung, sondern zu einer verstärkten Kontrolle. 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch: Leist und Wehlan Nur wenige Jahre nach dem Skandal um Stanleys Nachschubtruppe kamen auch in Deutschland zahlreiche Skandale auf, die die grausame Gewalt in Afrika in die breitere heimische Öffentlichkeit überführten. Die ausführlichen Berichte über den britischen Skandal trugen sicherlich dazu bei, auch bei deutschen Kolonialhelden und Kolonialbeamte Gewalttaten denkbarer zu machen. Zugleich legte der Spott über den britischen Kolonialismus die moralische Messlatte der Deutschen höher und spornte zu gegenseitigen Bloßstellungen an. So hatte insbesondere Stanleys deutsches „Pendant“ Carl Peters während des Skandals in Interviews dessen Charakter kritisiert. Nicht einmal die Mahdi seien, so Peters, am oberen Nil eine so große Gefahr für die Zivilisation wie Stanley.192 Die öffentliche Kritik an kolonialen Missständen ging in Deutschland frühzeitig vom Reichstag aus. Obgleich der Reichstag zwar nicht den kolonialen Kurs bestimmen durfte, erlaubte seine Mitsprache über das Budget doch eine Korrektivfunktion.193 Die Debatten über die Kolonialhaushalte entwickelten sich immer wieder zu Anklagen gegen Normbrüche in den Kolonien, aus denen vielfach Skandale entstanden. Denn gerade weil die Mehrheiten häufig unsicher waren und insbesondere Teile der Zentrumspartei und der Linksliberalen sich nicht unbedingt festlegten, versprachen emotionalisierende Anklagen konkrete politische Folgen.194 Mit den steigenden Kolonialausgaben gewann der Reichstag so an kommunikativer Macht, da die Debatten öffentliche Zuschreibungen über die Kolonien prägten. Weniger Beachtung fand bisher, dass die Kolonialkritik seit Anfang der 1890er Jahre auch mit der Ausbildung eines deutschen Korrespondentenjournalismus in Afrika zusammen hing. Damit entstand zumindest ansatzweise eine eigenständige investigative Berichterstattung aus den Kolonien, wie sie bisher selbst England nur vereinzelt besaß. Dies lässt sich gut an der Tätigkeit des Journa191 192 193 194 Hyam, Empire, S. 168. Vgl. Pall Mall Gazette 4. 11., 11. 11. u. 14. 11. 1890; Carl Peters, Die Deutsche Emin Pascha Expedition, München und Leipzig 1891. Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 313. Als Überblick zur Haltung der einzelnen Parteien vgl. Gründer, Geschichte, S. 63. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch 265 listen Eugen Wolf rekonstruieren. Wolf firmierte seit 1891 beim linksliberalen Berliner Tageblatt als „Berichterstatter für Ost-Afrika“. Damit berichtete er aus genau dem Gebiet, das Peters Expeditionen maßgeblich für das Deutsche Reich erschlossen hatte. Entsprechend war er der erste, der Peters Gewalttaten, die später zu einem Skandal führten, in Zeitungsartikeln zumindest andeutete.195 Wolf verdankte diese Stelle weniger seinen journalistischen Fähigkeiten als seiner Kolonialerfahrung. So war er bereits 1885 kaufmännischer Beirat des Reichskommissars für Ostafrika gewesen, hatte an Expeditionen unter Wissmann teilgenommen und 1889 Indien bereist. Für eine „wissenschaftliche“ Arbeit mit gelegentlichen „handelspolitischen Berichten“ erbat er beim Kolonialamt 1890 einen Schutzbrief.196 Bereits seine frühen Berichte überführten die afrikanischen Geschehnisse kritisch und recht aktuell in die deutsche Öffentlichkeit. So meldete das Berliner Tageblatt 1891: „Blutige Kämpfe im Kilimandjaro-Gebiet (Kabeltelegramm unseres Ostafrikanischen Spezialberichterstatters. Sansibar, 5. März; 7 Uhr 45 Min. Abends.) Reichskommissar v. Wissmann hat den Stamm der Kibosho wegen zahlreicher an Karawanen begangener Räubereien blutig gezüchtigt.“197 Obgleich Wolf zumeist nicht vor Ort war und oft nur aus Sansibar schrieb, waren die Zeitungsleser damit wie in Großbritannien oft besser über die Vorgänge in den Kolonien informiert als das Auswärtige Amt, wie Caprivis Reichskanzlei feststellte.198 Allerdings zeigt sich schnell, dass die journalistischen Spielräume in den deutschen Kolonien deutlich enger waren als in den britischen. Das Kolonialamt reagierte auf die kritische Berichterstattung sofort mit repressiven Maßnahmen, die an Bismarcks Pressepolitik erinnerten. Alle Telegramme aus Afrika, die einen politischen Inhalt aufwiesen, sollte nach einer geheimen Anweisung vorher der Gouverneur prüfen.199 Die Bewegungsfreiheit des Journalisten Eugen Wolf wurde durch ein „Küstenverbot“ eingeschränkt, und nach eigener Aussage erhielt er eine Freifahrt nach Deutschland geschenkt, um seine journalistische Arbeit zu unterbinden.200 Ebenso wies der Justizminister an, dass Wolf „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt“ nicht die Namen von verstorbenen Europäern berichten dürfe.201 Das Modell eines freien Journalismus 195 196 197 198 199 200 201 Berliner Tageblatt 23. 6. 1892. Vgl. Franz Giesebrecht, Ein deutscher Kolonialheld. Der Fall „Peters“ in psychologischer Beleuchtung, Zürich 1897, S. 27. Das Berliner Tageblatt hatte mit dem Major August Boshart offenbar schon 1888–90 einen Berichterstatter aus Ostafrika; Boshart spätere Schriften zeigen ihn als einen extremen Rassisten, der für Ausrottung der Afrikaner eintrat, da sie sich durch ihre Unproduktivität gegen die Zivilisation stellen würden; vgl. seinen Beitrag in: Franz Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien, Berlin 1898, S. 39–47. Wolf an Kayser 24. 10. 1890, in: BAB/L, R1001-4694-7. Berliner Tageblatt 6. 3. 1891. Caprivi/Reichskanzleramt an von Soden 6. 3. 1891, in: BAB/L, R1001-4694. Vgl. an von Soden 27. 5. 1891 u. von Soden an Caprivi 21. 9. 1891, in: BAB/L, R1001-4694. Wolf an Kayser 12. 2. 1892, in: BAB/L, R1001-4694-77; Berliner Tageblatt Nr. 860, 16. 12. 1891. Justizamt an Caprivi 9. 11. 1891, in: BAB/L, R1001-4694-43. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 266 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale im englischen Sinne kollidierte folglich in den Kolonien noch stärker mit der obrigkeitlichen Kontrolle als es im Reich üblich war. Eine weitere Strategie des Auswärtigen Amts war die Verleumdung. Der Journalist wurde etwa durch lancierte Meldungen als unzuverlässig denunziert, da er mit englischer Hilfe reisen würde.202 Begrenzen ließen sich die Berichte des Afrika-Korrespondenten dennoch nicht. Auch wenn Wolf und das Berliner Tageblatt gelegentlich Meldungen über Missstände erst dem Kolonialamt übergaben und nicht gleich veröffentlichten, spornte die Zensur ihn eher an, zumal sie ihn im Reich berühmt und selbst zum Thema machte.203 Seine Artikel gegen das „System Soden“, den Gouverneur von Ostafrika, gewannen gerade durch die Repressionen an offener Schärfe. Er schrieb über Aufstände, gefallene Soldaten und blutige Vergeltungsmaßnahmen: „Es geht so weit, daß man den Eingeborenen ihre Lebensmittel wegnimmt, ohne dafür zu bezahlen, daß Soldaten das gestohlene Vieh nach der Küste senden und es da verkaufen, daß die Weiber der Eingeborenen sich flüchten müssen, um sich nicht Vergewaltigungen ausgesetzt zu sehen.“204 Artikel über koloniale Gewalt, Willkür und sexuellen Missbrauch waren damit bereits vor den ersten großen Kolonialskandalen in der deutschen Öffentlichkeit präsent. Ein prinzipieller Gegner des Kolonialismus war Eugen Wolf freilich nicht. Dem von ihm kritisierten „System Soden“ hielt er idealisierend den früheren Reichskommissar Hermann von Wissmann entgegen, obgleich auch dieser Widerstand in den Kolonien hatte blutig niederschlagen lassen.205 Erst mit den Skandalen um Leist und Wehlan entstand 1894 jedoch eine ausführliche Berichterstattung über die deutsche koloniale Gewalt in der gesamten Presse, die zugleich in der breiten Öffentlichkeit eine massive emotionale Empörung auslöste. Obgleich der Ablauf dieser Skandale bisher kaum erforscht ist, wurde zumindest ihr Anlass bereits in der Literatur erwähnt: Dem stellvertretenden Gouverneur und Kanzler von Kamerun, Heinrich von Leist, wurde unter anderem vorgeworfen, dass er mehrere dahomeyische Frauen nackt vor den Augen ihrer Männer auspeitschen ließ, weil sie die unbezahlte Arbeit verweigert hatten, was wiederum zu einer blutigen Revolte geführt hatte.206 Seinem Stell202 203 204 205 206 Meldung AA 23. 8. 1892, in: BAB/L, R1001-4694-121. Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 860, 16. 12. 1891; Berichte etwa in: Weser-Zeitung 3. 6. 1892. „Neues aus Ostafrika“, Berliner Tageblatt 1. 9. 1892. So hatte Wissmann den sogenannten Araberaufstand unter Hassan Buschiri blutig niedergeworfen, ebenso den der Wahehe unter Mkwawa; im kollektiven Gedächtnis blieb er jedoch eine positive Gegenfigur zu Peters u. a.; vgl. Joachim Zeller, „Deutschlands größter Afrikaner“. Zur Geschichte der Denkmäler für Hermann von Wißmann, in: ZfG 44 (1996), S. 1089– 1111. Vgl. zum Ereignisablauf bereits die knappen Hinweise in: Martin Schröder, Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas, Münster 1997, S. 35– 38; Walter Nuhn, Kamerun unter dem Kaiseradler. Geschichte der Erwerbung und Erschließung des ehemaligen deutschen Schutzgebietes Kamerun. Ein Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte, Köln 2000, S. 140 f.; Gotthilf Walz, Die Entwicklung der Strafrechtspflege in Kamerun unter deutscher Herrschaft 1884–1914, Freiburg 1981, S. 59–64. Keine Hinweise auf Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch 267 vertreter, dem Vizekanzler Alwin Karl Wehlan, wurde zudem die Verantwortung für mehrere grausame Gewaltexzesse seiner Truppen vorgehalten, vom blutigen Auspeitschen über willkürliche Tötung bis hin zur bestialischen Leichenschändung.207 Nicht nur das Ausmaß der Gewalt übertraf den Skandal um Stanleys Expeditionstruppe deutlich. Es handelte sich bei den beiden Juristen auch um offizielle Vertreter des deutschen Staates, deren moralische Fallhöhe damit noch größer war. Zudem gewann der Skandal um Leist eine emotionalisierende Dynamik, weil er zugleich den sexuellen Missbrauch von Afrikanerinnen verhandelte. Aufgebracht wurden die Skandale wiederum durch das Berliner Tageblatt, das sich damit als das Organ einer investigativen Kolonialkritik etablierte. Über den Publizisten Franz Giesebrecht erhielt die Zeitung die Tagebuchaufzeichnungen des Kameruner Beamten Wilhelm Vallentin, aus denen es anonymisiert und mit abschwächenden Auslassungen zitierte. Sie wiesen auf die Auspeitschung der Frauen wegen ihrer Arbeitsverweigerung hin, was einen Aufstand ausgelöst habe, und nannten es gut denkbar, dass die Eingeborenen nun englischen Schutz suchen würden.208 In ihren täglichen kampagnenartigen Berichten forderte sie den Rücktritt von Kanzler Leist und seine Bestrafung. Ihr Selbstbewusstsein als investigatives Blatt unterstrich das Berliner Tageblatt nach den ersten Zugeständnissen der Regierung durch das Eigenlob, sie habe „die schreienden Mißstände der Regierung des Kanzlers Leist in Kamerun schonungslos aufgedeckt“.209 Unverkennbar verfolgte die linksliberale Zeitung weitergehende politische Ziele. Nicht zufällig platzierte sie ihre Vorwürfe gut eine Woche vor der Reichstagsdebatte über den Etat der Schutzgebiete, um so kolonialpolitisch Einfluss zu nehmen. Dennoch blieb selbst das Berliner Tageblatt mit seinen Enthüllungen zunächst erstaunlich zurückhaltend. Die Redaktion sparte die drastischen Passagen des Tagebuchs offensichtlich aus, um nicht zu „sensationell“ zu wirken und sich so selbst zu diskreditieren. Den ausführlichen Abdruck überließ es der Neuen Deutschen Rundschau im April 1894. Erst diese Veröffentlichung beschrieb nicht nur blutige Prügelstrafen wegen Lappalien, sondern auch Leichenschändungen („Die Soldaten, nämlich einer, hätten es famos raus, den Feinden die Haut über den Schädel zu ziehen.“).210 Ebenso berichtete sie über den mehr- 207 208 209 210 Leist und Wehlan gibt erstaunlicher Weise: Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, Zürich 1970. Hinweise bereits in: Rudi Kaeselitz, Kolonialeroberung und Widerstandskampf in Südkamerun (1884–1907), in: Helmuth Stoecker, (Hrsg.), Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Bd. 2, Berlin (Ost) 1968, S. 11–54, S. 21. Berliner Tageblatt Nr. 64, 5. 2. 1894. Der promovierte Jurist Vallentin war 1893 nach Kamerun gekommen; vgl. die biographischen Hinweise auf Vallentin, in: Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen, S. 141 f. Berliner Tageblatt Nr. 67, 6. 2. 1894. „Tagebuch eines in Kamerun lebenden Deutschen“ in: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894), S. 332–353, zit. S. 340. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 268 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale fachen sexuellen Missbrauch von Frauen durch den Kameruner Kanzler, der sie als Zwangsprostituierte eingesperrt hatte. So hieß es: Am 5. VIII 93 abends hat sich der stellvertretende Gouverneur Kanzler Leist aus dem Gefängnis drei Weiber holen lassen (Kassenverwalter Hering sagte es mir am selben Abend) und dieselben über Nacht bei sich behalten [...] und sah, wie ein Weib unter Sträuben und Schreien von drei Schwarzen in die Richtung des Kanzlerhauses hinweggeschleppt wurde.211 Diese Berichte sorgten in allen Zeitungen für Aufsehen und Wiederabdrucke und gaben dem Skandal erst seine Dynamik. Auch wenn die katholische Presse diese Vorwürfe zunächst aus sittlichen Bedenken nicht wörtlich publizierte, da sie „sich auf dem Gebiet des 6. Gebotes bewegen“212, führten sie zu einer breiten emotionalen Empörung über das Verhalten der Kolonialverwaltung. Da das Tagebuch von einem deutschen Beamten stammte, galt es als eine glaubwürdige Quelle. Zudem legitimierte der wörtliche Abdruck, ähnlich wie bei Gerichtsaussagen, die Publikation von Tabus – wie dem erzwungenen Geschlechtsverkehr zwischen hohen deutschen Beamten und Afrikanerinnen. Bemerkenswerter Weise stand im weiteren Verlauf gerade dieser sexuelle Missbrauch im Vordergrund der öffentlichen Debatte. Die gesamte Presse forderte unter Verweis auf die Zeitungsberichte von der Regierung eine Erklärung. Verschiedene Reichstagsabgeordnete griffen dies auf und trieben so den Skandal maßgeblich voran. Der Freisinnige Eugen Richter forderte Gefängnisstrafen, und der Zentrumspolitiker Prinz Arenberg beklagte später, dass selbst die Misshandlung eines Pferdes gewöhnlich höher bestraft werde.213 Der Sozialdemokrat August Bebel trug weitere Vorwürfe vor und brachte in den Reichstag, wie einen Tag zuvor angekündigt, eine Nilpferdpeitsche mit, um anschaulich zu verdeutlichen, womit die nackten Frauen und andere Afrikaner blutig gezüchtigt worden seien.214 Bebel passte sich damit der Logik der Medien und des Skandals an, indem er zur emotionalen Visualisierung beitrug und den Journalisten auf der Tribüne ein Beispielobjekt vorführte. Die Peitsche erwies sich dabei als ein Kernsymbol, in dem sich die barbarische Willkür verdichtete. Auch im folgenden Verlauf forcierten vor allem Reichstagsabgeordnete den Skandal. Sie fragten nach dem Ermittlungsstand und nannten namentlich verschiedene Zeugen, die man zu den Folterungen und Hinrichtungen befragen könne.215 211 212 213 214 215 Ähnlich ein weiterer abgedruckter Eintrag: „Kanzler Leist [hat] gestern Abend Weiber aus dem Gefängnis zum Tanze holen lassen, aber dann nach beendigten Tanz nicht wieder alle zurückgeschickt.“ Neue Deutsche Rundschau April 1894, zit. S. 343 u. 347. So: Der Westfale Nr. 14, 14. 4. 1894; ähnlich: Kölnische Volkszeitung Nr. 219, 13. 4. 1894. Vgl. Richter 13. 4. 1894, IX. Legislatur Periode, II. Sess., 1893/94, 81. Sitzung, Bd. 135, S. 2078. Arenberg RT 13. 3. 1896, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1421. RT 16. 2. 1894, IX Leg. Per., II. Sess., 1893/94, Bd. 135, 51. Sitzung, S. 1294. Angeblich war das Mitbringen der Nilpferdpeitsche, die Arbeiter aus Kamerun übermittelt hatten, eine Reaktion auf Caprivis Ausspruch, er wisse nichts von Nilpferdpeitschen. Vgl. auch: Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 285. Vgl. bes. Vollmar RT 28. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 71. Sitzung, S. 1751 f.; zu der Debatte auch: Schröder, Prügelstrafe, S. 45–47. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch 269 Das Kolonialamt nahm die öffentlichen Vorwürfe zunächst sehr ernst und reagierte mit erstaunlicher Konzilianz. Bereits seine offiziöse Antwort über die „Kreuzzeitung“ gestand die Auspeitschung der Frauen ein, da Leist dies in einem Selbstbericht beschrieben habe, und es veröffentlichte diesen amtlichen Bericht.216 Schon nach den ersten Gerüchten über den Aufstand schickte es zudem den Regierungsrat Friedrich Wilhelm Rose zur Untersuchung der Fälle nach Afrika.217 Dass auch dieser Bericht Leist „auf das Schwerste belaste“, konzedierte Außenstaatssekretär Marschall von Bieberstein bereits im April 1894 im Reichstag.218 Leist und Wehlan wurden zumindest suspendiert und vor deutsche Disziplinargerichte gestellt. Zudem ermittelte das Auswärtige Amt aber auch sofort gegen den Beamten Vallentin, dessen Aufzeichnungen den Skandal ausgelöst hatten. Obgleich sich seine Vorwürfe als stichhaltig erwiesen, leitete es seine Entlassung ein, da er, so Marschall später, seine Vorwürfe „öffentlich in der Presse erhoben hat, seiner vorgesetzten Dienstbehörde aber nichts davon gemeldet hat“.219 Die vergleichsweise transparente Aufklärung der Regierung ging folglich mit einer Abschreckung gegenüber Beamten einher, die Missstände veröffentlichen wollten. Die Disziplinarverfahren intensivierten die öffentliche Debatte darüber, in welchem Maße Gewalt gegen Schwarzafrikaner und der sexuelle Verkehr mit Afrikanerinnen legitim sei. Sowohl vor Gericht als auch in Presseartikeln verteidigte Leist sein Verhalten als allgemein in Afrika üblich und notwendig. Selbst nach dem Prozess beharrte er darauf, die Prügelstrafe sei wegen der Faulheit und Frechheit der Neger nötig, und wegen ihrer Primitivität würde ihre Nacktheit nicht das weibliche Schamgefühl verletzen.220 Ebenso verteidigte der Kameruner Kanzler den sexuellen Verkehr mit Afrikanerinnen. „Die Befriedigung des Geschlechtstriebes“ unverheirateter Männer sei ja auch in Europa üblich, nur dass in Afrika keine Prostituierten zur Verfügung stünden: Die Prostitution wird dadurch ersetzt, daß die Farbigen ihre Weiber den Europäern vermiethen. Die Benutzung der Pfandweiber bot nun an und für sich, d. h. ohne die Veröffentlichung Vallentins, weit mehr Garantie für einen unauffälligen Geschlechtsverkehr als die Benutzung erst aus den Towns herbeigeholter Personen. Ich wies die Pfandweiber, deren Bestellung dem Diener am Bequemsten war, nicht zurück, da sie für denselben Entgelt sich preiszugeben hätten, auch wenn sie nicht zufällig den Gläubigern ihrer Eigentümer verpfändet gewesen wären.221 Auch vor Gericht gab Leist den Verkehr mit den „Pfandweibern“ zu und rechtfertigte dies mit der sexuell stimulierenden Wirkung des Tropenklimas, den verschiedenen Landessitten und damit, dass alle Weißen so verfahren würden. „Was 216 217 218 219 220 221 Neue Preussische Zeitung 6. 2. 1894, morgens. Berliner Tageblatt Nr. 69, 7. 2. 1894 Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten, Nr. 560, 4. 11. 1894. RT 13. 4. 1894, IX. Legislatur Periode, II. Sess., 1893/94, 81. Sitzung, Bd. 135, S. 2078 f. So seine Begründung im: Reichstag 28. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 71. Sitzung, S. 1753. Leist, Der Fall Leist, in: Die Zukunft Nr. 45, 8. 8. 1896. Leist, ebd. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 270 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale ich gethan, haben vor mir alle anderen gethan – heute laufen noch schwarze Weiber da herum, die den Namen ihrer ehemaligen Besitzer (Deutsche) tragen.“222 Damit knüpfte er an frühe Argumentationen von Kolonialisten an, die ein derartiges Sexualleben als legitim und notwendig ansahen.223 Das Disziplinargericht schloss sich diesen Deutungen im hohen Maße an. Um zu ermitteln, was in Afrika eine legitime sexuelle Moral und Prügelstrafe sei, hatte der mit der Untersuchung beauftragte Regierungsrat Rose vor Ort zahlreiche Gespräche geführt. Dabei gewann er die Erkenntnis, dass das Schlagen von nackten Frauen nicht landesüblich sei. Das Gericht bewertete jedoch afrikanische Frauen als „Sache“, da „sie der freien Verfügung des Mannes ähnlich wie eine Sache unterliegt“ und etwa bei Schulden als Pfand verliehen oder gegen Entgelt vermietet würden.224 Das Gericht akzeptierte zudem zugunsten von Leist die „eigenartigen Kameruner Verhältnisse und andererseits das dortige Klima, das eine größere Erregbarkeit hervorruft“.225 Die Aussagen von afrikanischen Frauen, sie seien mit Gewalt zu Leist gebracht worden, sah das Gericht dagegen als unwahrscheinlich an, „da den dortigen Weibern Schamgefühl und Geschlechtsehre unbekannte Begriffe seien und von einer Weigerung keine Rede sei, sobald wie hier Bezahlung in Aussicht stehe.“226 Aussagen von Afrikanern wurde generell, ähnlich wie in England, keine eigenständige Beweiskraft zugesprochen. Dementsprechend milde fiel das Urteil aus: Leist wurde lediglich versetzt, bei 80 Prozent seiner Bezüge. Der Prozess machte somit den regen Sexualverkehr zwischen Deutschen und Afrikanerinnen öffentlich. Wie die Leser aller Zeitungen erfuhren, sagten zahlreiche Zeugen aus, es sei durchaus üblich, dass Weiße diese gegen Entgelt „fleischlich gebraucht hätten.“ Die Zahl der Pfandweiber sei bei den Kolonialisten so stark angewachsen, dass sie im Gefängnis oder „der sog. Pfandkammer“ untergebracht würden. Dass Leist etwa einem Marine-Offizier solche Frauen zur Verfügung gestellt habe, hätte nur der üblichen Gastfreundschaft entsprochen. Dabei würden die Frauen nachts nur eingeschlossen, um sie vor der „Benutzung“ durch schwarze Polizisten zu schützen, die oft geschlechtskrank seien.227 Die afrikanischen Frauen wurden folglich einerseits als sexuell frei verfügbare Ware imaginiert, andererseits als Gefahrenherd.228 Die afrika222 223 224 225 226 227 228 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 527, 9. 11. 1894. Zu Leist Verteidigung vgl. die zahlreichen Presseberichte in: BAK, ZSg 113-629. Zum generellen Diskurs: Wildenthal, German Women, S. 81 f. So etwa Freiherr von Soden oder von Schuckmann. Diese und folgende Zitate nach dem ‚Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist‘, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 560, 4. 11. 1894. Begründung zit. nach: Berliner Tageblatt Nr. 176, 6. 4. 1895. Disciplinar-Urteil nach: Kölnische Zeitung Nr. 893, 4. 11. 1894. So seine Verteidigung vor Gericht laut: Kölnische Volkszeitung Nr. 619, 18. 10. 1894; ‚Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist‘, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 560, 4. 11. 1894. Die Ambivalenz, die der Wahrnehmung von Prostituierten ähnelte, wurde bereits verschiedentlich herausgestellt; vgl. Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 87. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch 271 nischen Kolonien selbst erschienen somit wie ein einziges, nahezu kostenfreies Bordell. Die Öffentlichkeit wies diese Deutungen des Gerichts und der Kolonialisten jedoch klar zurück. Alle politischen Lager empörten sich über das Urteil, dessen Begründung und die Enthüllungen selbst. Jede Parteirichtung führte Fälle an, bei denen Beamte bereits wegen politischer Äußerungen viel härter bestraft worden seien. Konservative und katholische Blätter gingen zwar davon aus, dass Prügelstrafen bei den „Negern“ noch nötig seien, waren aber bestürzt, dass Deutsche sich den „landesüblichen Sitten“ anpassen würden und „barbarisch“ handelten.229 Auch der Reichskanzler und der Kolonialdirektor sprachen sich sofort gegen die Haltung von „Pfandweibern“ aus, und das Auswärtige Amt weigerte sich, Leist weiter zu beschäftigen.230 Ebenso legte der untersuchende Rat Rose Berufung ein. Damit zeigte sich, dass die konservative Justiz im Skandal keine Normen zu setzen vermochte. Vor allem die kolonialkritischen Parteien verallgemeinerten den Fall mit scharfem Spott. Die sozialdemokratischen Blätter schrieben über die „Frauenpeitscher und Haremshalter“ und die „nächtlichen Orgien im Kameruner Kanzlerpalais“.231 Frühzeitig leiteten sie anhand des Skandals eine Umdeutung der kulturellen Zuschreibungen ein und bezeichneten deutsche Kolonialisten wie Leist als die eigentlichen „Wilden“.232 Die liberale Frankfurter Zeitung karikierte: „Wenn fürderhin die Nilpferdpeitschen lustig auf den Rücken von nackten Negerweibern klatschen, so wundere sich darüber der gute Unterthan in Europa weiter nicht“, denn dies sei Teil unserer „Kulturmission“.233 Auch die englische Presse berichtete mit Überschriften wie „The Flogging Scandal“ regelmäßig detailliert über die deutschen Folterungen. Auffälliger Weise blieb die Times bei der Darstellung des sexuellen Missbrauchs sehr zurückhaltend, da die schwarzweiße Sexualität in England noch kaum publizierbar war. Gerade im Kontext der deutsch-englischen kolonialpolitischen Verstimmungen 1894 waren jedoch selbst solche Artikel bereits ein moralischer Triumph über den kolonialen Nachzögling Deutschland.234 Die breite, parteiübergreifende und internationale Empörung trug wesentlich dazu bei, die kolonialen Normen und die Gerichtsurteile zu revidieren. Im Revisionsprozess betonte der Ermittler Rose nun plötzlich, dass auch afrikanische Frauen ein Schamgefühl kennen würden. Das Auspeitschen galt jetzt als Überschreitung der Amtsgewalt. Leist wurde von 229 230 231 232 233 234 Kölnische Volkszeitung Nr. 619, 18. 10. 1894; Deutsche Reichszeitung Nr. 479, 18. 10. 1894; Reichsbote Nr. 245, 19. 10. 1894. Reichskanzler i.A. Kayser an Zimmerer 8. 11. 1894, in: BAB/L, R 1001/5003. Würzburger Journal Nr. 279, 19. 10. 1894. Vorwärts 9. 2. 1894, S. 2. Frankfurter Zeitung Nr. 288, 17. 10. 1894. Vgl. etwa Times 6. 2. 1894, S. 5; 9. 2. 1894, S. 5; 17. 10. 1894, S. 5; 19. 10. 1894, S. 3; 24. 10. 1894, S. 5. Zu den deutsch-englischen Spannungen in der Kolonialpolitik 1894: Fröhlich, Konfrontation, S. 149 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 272 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale seinem Posten enthoben, bei eingeschränkter Pension aus dem Staatsdienst entlassen und wanderte in die USA aus. Während der Leist-Skandal vor allem die Zulässigkeit des (erzwungenen) Verkehrs mit Afrikanerinnen verhandelte, thematisierte der gleichzeitige Skandal um Vizekanzler Wehlan stärker die Zulässigkeit kolonialer Gewalt. Die Gewalttaten, die er zu verantworten hatte, waren zweifelsohne von einer bisher undenkbaren Brutalität, und dennoch berichtete die Medienöffentlichkeit besonders im Zuge seines Disziplinarverfahrens ausführlich darüber. Die Leser erfuhren etwa, dass Köpfe als Trophäen abgeschnitten wurden, Leist Gefangene töten ließ, weil sie ohnehin sterben würden, und er blutende Gefangene an Masten binden ließ, bis Würmer in die Wunden traten.235 Wie Leist entschuldigte Wehlan sich damit, dass das Töten von Afrikanern etwas Gewöhnliches sei. So berichtete er: „Ich weiß, daß ein preußischer Offizier, der fieberkrank war, sich in einer Hängematte herumtragen ließ und mit einem Revolver mit scharfen Patronen schoß. Kein Hahn krähte danach [...].“236 Auch in diesem Skandal entlastete der Disziplinargerichtshof den Beschuldigten, da die Tötung der Gefangenen wegen des Kriegszustandes legitim sei und die Sicherheit der Truppe gewährleistet habe. Zudem wurde das angeblich junge Alter des Juristen (von 34 Jahren) als strafmildernd bewertet, weshalb Wehlan mit einer Versetzung ohne Gehaltseinbußen davon kam. Jedoch setzte auch bei diesem Skandal der öffentliche Protest der Interpretation des Gerichts und den Kolonialisten Grenzen. Linke und bürgerliche Zeitungen lehnten abermals empört die Rechtfertigung ab, dies sei in Afrika so üblich. Vielmehr klagten sie auch für Afrikaner gewisse Humanitätsforderungen ein.237 Auch in Missionarskreisen fand die Affäre eine entsprechende Kritik.238 Trotzdem veränderte selbst der Revisionsprozess das Urteil nicht, und eine strafgerichtliche Verurteilung blieb aus. Dennoch waren die Folgen dieser frühen deutschen Kolonialskandale beträchtlich. In der Öffentlichkeit diskreditierten sie im hohen Maße das Ansehen der Kolonialbeamten und den deutschen Kolonialismus insgesamt. Sie wurden nun mit blutiger Gewalt und sexuellem Missbrauch assoziiert. In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel Stammtischgespräche wie: „Deutschland als einer der kultiviertesten Staaten der Welt hat in den letzten Jahren leider durch die schlechte Behandlung der Eingeborenen in Afrika gezeigt, wie mangelhaft es mit der Kultur bestellt ist.“ Ein anderer Gast nannte es „unglaublich, 235 236 237 238 So die Einträge des Tagebuches von Vallentini, das im Prozess verlesen wurde; vgl. Beilage Vorwärts Nr. 6, 8. 1. 1896. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 527, 9. 11. 1894 „Wir protestieren dagegen, daß die einfachsten Forderungen der Humanität und des Völkerrechtes für die Schwarzen nicht gelten sollen.“ Frankfurter Zeitung Nr. 8, 8. 1. 1896; Reichsbote Nr. 5, 7. 1. 1896; Beilage Vorwärts Nr. 6, 8. 1. 1896. Vgl. die Position des Theologieprofessors und Redaktionsleiters der Allgemeinen Missionszeitschrift, Gustav Warneck, in: Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen, S. 152–158. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch 273 wenn man hört, wie die höheren Beamten dort über Leben und Tod der Menschen urteilen.“239 In anderen Kneipen klagte man über die zu geringen Strafen für Leist und Wehlan.240 Auch die Kolonialskandale trugen damit zur politischen Urteilsbildung bei. Wie beim Skandal um Stanleys Rear Column dominierte vor allem die Erschütterung darüber, dass unbescholtene Beamte sadistische Taten begehen konnten und quasi selbst zu „Wilden“ wurden.241 Die Skandale standen damit ebenfalls für eine Verunsicherung über die Zivilisiertheit der Europäer. Die Skandale führten zudem zu Reformen, die über die Entlassung und Versetzung von Beamten weit hinausreichten. So leiteten sie eine rechtliche Neuordnung in den Kolonien ein, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass keine klaren rechtlichen Regeln bestanden, sondern eher individuelle Willkür dominierte. Die Skandale führten zunächst zu einer Wissensbildung über das afrikanische Recht, auf das sich die Deutschen bei ihren Willkürakten berufen hatten. So fanden unmittelbar nach den Skandalen zahlreiche Umfragen unter den Eingeborenen über deren rechtlichen Verhältnisse und Sitten statt.242 Parallel dazu setzten juristischen Ermittlungen ein, die ebenfalls Fragebögen entwickelten, die unter dem Eindruck des Skandals standen; sie fragten etwa: „Ist die Vielweiberei allgemein verbreitet? [...] Kommt es vor, daß eine Frau mehrere Männer hat? Wieviel? [...] Kommt der Frauenraub in Wirklichkeit vor oder nur als Form des Abschlusses der Ehe?“243 Bereits 1894/95 wurden daraufhin in verschiedenen Regionen Eingeborenen-Schiedsgerichte und eine Soldatengerichtsbarkeit eingeführt, um Konflikte vor Ort besser zu lösen.244 Vor allem kam es Anfang 1896 zur Reform der „Gerichtsbarkeit über Eingeborene in den afrikanischen Schutzgebieten“. Unter dem Eindruck der Skandale forderte die Budgetkommission des Reichstages den Reichskanzler in einer Resolution auf, eine Gesetzvorlage gegen einen derartigen „Missbrauch der Amtsgewalt“ zu machen.245 Nach den darauf folgenden Verordnungen waren Geständnisse nur noch nach deutscher Prozessordnung zu ermitteln. „Ingleichen ist die Verhängung von außerordentlichen Strafen, insbesondere von Verdachtsstrafen, verboten.“ Auch die Prügelstrafen wurden nach den Skandalen reformiert, wobei England als Vorbild diente. Nur schwarzafrikanische Männer ab 16 Jahren (nicht Inder oder Araber) sollten sie noch erhalten, mit maximal 25 Schlägen pro Züchtigung.246 Um der Prügelstrafe ihre Willkür zu nehmen, wur239 240 241 242 243 244 245 246 Vigilanzbericht Schutzmann Graumann 19. 3. 1896, in: StAH, S 3930-23 Bd. 3. Vigilanzbericht Schutzmann Erxleben 17. 3. 1896, in: StAH, S 3930-21 Bd. 3. Einzelne Hinweise hierzu auch in: Walz, Entwicklung, S. 69. Vgl. die Berichte an die Kolonialabteilung, in: BAB/L, R 1001/5000. Vgl. Bericht Stradoniutz/Gesellschaft für vergleichende Rechts- und Staatswissenschaft an Kolonialabteilung 14. 8. 1895, in: BAB/L, R 1001/5000; ähnlich der „Fragebogen der internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“, sowie der Fragebogen von Prof. Dr. Kohler, 1896, in: ebd. In: BAB/L, R 1001/5003. RT 13. 3. 1896, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1422. Vgl. Reichs-Anzeiger Nr. 53, 29. 2. 1896, in: BAK, R 1001-5626. Zur Reform im April 1896 auch: Walz, Entwicklung, S. 77. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 274 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale de sie bürokratisiert. So wurden die genaue Beschaffenheit des Schlaginstrumentes, die ärztliche Aufsicht und Regenerationsphasen festgelegt. Nachdem die Presse mehrfach gefordert hatte, dass Vergehen wie die von Leist und Wehlan auch durch das Strafrecht ahndbar sein müssten, erfolgten seit Anfang 1896 mehrere entsprechende Verordnungen. Ebenso erließ der Kanzler 1895 eine Anordnung über das moralische Verhalten von Beamten, die ein Einschreiten im Falle des Amtsmissbrauches forderte.247 Die Skandale trugen somit eindeutig dazu bei, Normen und Gesetze zu verändern. Die Skandale stärkten ebenso das Selbstverständnis der deutschen Presse als „vierter Gewalt“. Vor allem das Berliner Tageblatt beanspruchte dies für sich, da es die Skandale angestoßen hatte. Das Blatt betonte, die Fälle hätten gezeigt, wie nötig die Veröffentlichung von Missständen und eine „Censorrolle der Presse“ seien. Weiter hieß es selbstbewusst: Das Treiben des ersten Beamten einer der größten Kolonien des deutschen Reiches, die Unmoral der öffentlichen Auspeitschung nackter Weiber und der geheimen Orgien mit den Pfandweibern, würde sicherlich auch heute noch ein Geheimnis, allenfalls ein öffentliches, vielleicht auch ein amtliches (!) sein, wenn nicht das ‚Berliner Tageblatt‘ durch die Veröffentlichung der nun historisch gewordenen ‚Tagebuch-Blätter eines deutschen Kolonisten über die Meuterei in Kamerun‘ im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit den Schleier von den skandalösen Vorgängen in jener Kolonie fortgezogen hätte.248 Die Veröffentlichung des Geheimen erschien somit als Pflicht der Presse. Auch die Neue Deutsche Rundschau, die durch die Veröffentlichung des Tagebuches an Bedeutung gewonnen hatte, verstärkte durch zahlreiche weitere investigative Berichte über Missstände in den Kolonien ihren Einfluss. Dabei stützte sie sich auf Augenzeugenberichte und Akten, um durch die Aufdeckung von skandalösen Zuständen eine humane Behandlung der Afrikaner zu erreichen.249 Vor allem eröffneten die Skandale den Kolonialismuskritikern breiteren Raum für ihre Positionen. Dabei deutete sich zaghaft eine Verschiebung an. Zumindest einzelne Staatsdiener mit Kolonialerfahrung forderten nun öffentlich für Afrikaner ähnliche Menschenrechte wie für Europäer. So bewertete der Premierleutnant Graf von Schweinitz nach seinen Erfahrungen in Ostafrika die Prügelstrafen als kontraproduktiv: „Der Neger ist Prügelstrafe nicht gewöhnt.“250 Auffällig humanitär argumentierten verschiedene Schriften von anderen höheren Militärs, die eine gewisse Zeit in Afrika verbrachten. So schrieb der bayrische Leutnant Rudolf Hofmeister, der vier Monate in Afrika war, unter Ein247 248 249 250 Walz, Entwicklung, S. 65. Berliner Tageblatt Nr. 182, 9. 4. 1895. Vgl. etwa: Carl R. Henneke, Zum Sklavenhandel, in: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894), S. 1135–1143; Franz Giesebrecht, Koloniale Spekulationen, in: Neue Deutsche Rundschau 6 (1895), S. 1084–1100; ders., „Kolonialgreuel“, in: ebd., S. 143–157. Hans Hermann Graf von Schweinitz, Deutsch-Ost-Afrika in Krieg und Frieden, Berlin 1894, S. 37. Vgl. auch die Schrift von Hauptmann Richelmann, Die Nutzbarmachung Deutsch-Ostafrikas, Magdeburg 1894. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 275 druck der Skandale: „Die Charaktereigenschaften sind bei den Negern ebensogut ausgebildet, wie bei uns.“ Die „Weißen“ würden jedoch dazu beitragen, schlechte Charaktereigenschaften wie das Lügen zu verbreiten.251 Neben philanthropischen Argumenten führte diese Schrift ein weiteres Argument für Reformen an, das auch das bürgerliche Lager bewegte: Das schwindende Ansehen des deutschen Kolonialismus im Ausland. „Warum kommen die Engländer, unsere afrikanischen Nachbarn, ohne die vielen Peitschenhiebe aus und warum wollen die Schwarzen lieber auf englischen Gebiete arbeiten als auf deutschen?“, fragte er.252 Auch der 1890–92 in Togo stationierte Hauptmann Herold glaubte, England sei im Unterschied zu Deutschland eine erfolgreiche Kolonialmacht, weil es „stets nur vorzügliche, besonders ausgewählte Beamte in die Kolonien sendet.“253 Gerade diese Angst vor einem Ansehensverlust im Ausland dürfte ein weiteres Motiv für die Reformen gewesen sein, die die Medien durch die Skandale anstießen. 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ Die ersten großen Kolonialskandale förderten sofort weitere Enthüllungen über die koloniale Gewalt und sexuellen Missbrauch. Nachdem die Öffentlichkeit für diese Normbrüche sensibilisiert war, schien eine große Aufmerksamkeit garantiert. Afrikareisende publizierten über ähnliche Vergehen, und Journalisten und Reichstagsabgeordnete griffen sie in kolonialkritischer Hinsicht auf – insbesondere wenn gerade die Kolonialetats diskutiert wurden. Der Blick erweiterte sich dabei über Kamerun hinaus auf andere Kolonien. So konnte August Bebel im März 1895 Berichte vorbringen, ein Gouverneur habe sieben Männer wegen Nichtigkeiten aufhängen lassen.254 Und sein Parteifreund Georg von Vollmar wies auf einen Bahnangestellten hin, der „nachts gewaltsam in die Häuser des Negerdorfes drang, ‚um sich Weiber zu holen‘“, und einen Plantagenangestellten, der afrikanische Mädchen kaufte und deren afrikanische Liebhaber schlug. Zudem deutete der Sozialdemokrat Vollmar bereits im März 1895 im Reichstag Vergehen des berühmten Kolonialisten Carl Peters an, ohne ihn namentlich zu benennen. Dieser habe, so Vollmar, seine afrikanische Geliebte und deren Liebhaber aus Eifersucht hängen lassen.255 Vor allem die just veröffentlichte Broschüre des bayrischen Leutnants Hofmeister dürfte ihm dabei als Quelle gedient haben.256 Der Kolonialdirektor des Auswärtigen Amtes, Paul Kayser, wies die Vorwürfe über die Eifersuchtsmorde jedoch als bekannt, aber 251 252 253 254 255 256 Rudolf Hofmeister, Kulturbilder aus Deutsch-Ostafrika, Bamberg 1895, S. 5. Ebd. (H.i.O.). Anton Bruno Herold, Die Behandlung der afrikanischen Neger, Köln 1894, S. 8. RT 19. 03. 1895, IX. Leg. Per., III. Sess., 64. Sitzung, S. 1582. Gemeint waren „7 arme Teufel“ in Deutsch-Ostafrika, für deren Hinrichtung Gouverneur von Schele verantwortlich sei. RT 18. 3. 1895, IX. Leg. Per., III. Sess., 63. Sitzung, S. 1571. Hofmeister, Kulturbilder, S. 20. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 276 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale unglaubwürdig zurück, da sie nur von Engländern stammten. Das Mädchen sei eine Spionin gewesen und deshalb hingerichtet worden.257 Öffentlich wurde die Skandalisierung zwar als Ausdruck der englischen Rivalität abgetan, intern nahm die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes die sozialdemokratischen Vorwürfe jedoch ernster. So erstellte sie Dossiers zu den einzelnen Beschuldigungen, prüfte die genannten Quellen und holte Berichte ein.258 Die sozialdemokratische Reichstagskritik prägte damit erneut das Regierungshandeln, das stark unter Rechtfertigungszwang geriet. Unter den zahlreichen Enthüllungen entwickelten sich die über Carl Peters zu dem herausragenden Skandal. Dieser trug maßgeblich dazu bei, die durch die Skandale um Leist und Wehlan aufgebrachte Kolonialkritik zu erweitern und zu verfestigen. Dass ausgerechnet die Enthüllungen über Peters zum wichtigsten Kolonialskandal der 1890er Jahre führten, lag zunächst an Peters Prominenz. Der Pastorensohn, der in Geschichte promoviert hatte und bei seinem englischen Onkel in London die Kolonialbegeisterung erlernte, gehörte zu den „Kolonialhelden“ der ersten Stunde. Seinen Ruhm begründete er damit, dass er frühzeitig koloniale Gebiete mit „Schutzverträgen“ sicherte, in der Öffentlichkeit für deutsche Kolonien warb und seit 1891 als Reichskommissar in Deutsch-Ostafrika diente.259 Bekannt wurde Peters vor allem durch spektakuläre Expeditionen, die er ähnlich wie Stanley mit regelmäßigen Berichten und Buchveröffentlichungen vermarktete. Das galt vor allem für seine Emin-PashaExpedition.260 Sowohl in den deutschen als auch in den englischen Medien fanden sich zeitweise tägliche Berichte über ihn, die mitunter spekulierten, ob Peters noch am Leben sei.261 Trotz seines ausgeprägten Rassismus und übersteigerten Nationalismus war Peters damit, ähnlich wie Stanley, bereits vor dem Skandal eine Art „Medienstar“. Dass Peters in Afrika rücksichtslos vorging, wurde ebenfalls frühzeitig öffentlich thematisiert, zumal er selbst damit in seinen Schriften prahlte. So rezensierte die zentrumsnahe Kölnische Volkszeitung 1891 sein Buch Die Deutsche Emin-Pasha Expedition mit den Worten: „er ist ein Draufgänger, der rasch den Finger am Drücker hat und was nicht rasch biegen will, das bricht er. Er fordert, 257 258 259 260 261 RT 18. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 64. Sitzung, Bd. 139, S. 1573; vgl. hierzu auch: von Buol-Berenberg: RT 18. 3. 1895, ebd., S. 1593. Vgl. die Dossiers in: BAB/L, R 1001: 7249: 141 ff.; z. B. 3. 12. 1895 und 7. 5. 1896 in: BAB/L, R 1001: 7249: 165 f. und 177; Anfragen wie: Kolonialamt an Puttkamer 30. 11. 1895, in: BAB/L, R 1001: 7249: 28. 1891 war diese Anstellung kommissarisch, ab 1894 fest; vgl. seinen eigenen Lebenslauf in: BAK, ZSg 113-621. Zu seinem Werdegang: Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856–1918. A Political Biography, Oxford 2004. Völlig unzureichend dagegen: Uwe Wieben, Carl Peters. Das Leben eines deutschen Kolonialisten, Rostock 2000. Carl Peters, Die deutsche Emin-Pasha-Expedition, München und Leipzig 1891. Vgl. etwa, als Stichprobe zum Jahreswechsel 1890: Frankfurter Zeitung Nr. 1, 1. 1. 1890; Kölnische Zeitung Nr. 361, 30. 12. 1889; Berliner Tageblatt Nr. 661, 31. 12. 1889; Times 3. 1. 1890, S. 3; 4. 1. 1890, S. 5; Daily News 4. 1. 1890, S. 4; Daily Telegraph 1. 1. 1890, S. 5; Frankfurter Zeitung Nr. 228, 16. 8. 1889. Presseausschnitte für 1889, in: BAK, ZSg 113-624. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 277 und wenn man verweigert, so wird genommen und unter Umständen geschossen.“262 Tatsächlich berichtete Peters, wie er Afrikaner in Ketten legte und auspeitschte.263 Ebenso hörte die Kolonialabteilung schon seit 1892 von dem Vorwurf, Peters habe einen Mann und eine Frau aus Eifersucht getötet. Englische Missionare hatten dies übermittelt und Gouverneur Soden prüfte dies. Peters rechtfertigte jedoch die nicht gemeldeten Todesurteile, er habe sie wegen Diebstahl und Hochverrat ausgesprochen.264 Dieser Vorwurf wurde sogar Reichskanzler Caprivi und Außenstaatssekretär Marschall vorgetragen.265 Nach den sozialdemokratischen Andeutungen im Reichstag 1895 verhörte das Auswärtige Amt erneut Zeugen und bat Peters um eine Stellungnahme über die Vorkommnisse, wobei Peters am 9. April 1895 über die gehängte Afrikanerin sagte: „Sie hat sich als eine Art von Freudenmädchen auf der Station aufgehalten, und ich gebe zu, daß ich sie auch in der allerersten Zeit ihrer Anwesenheit ein- oder zweimal benutzt habe.“266 Damit verhärtete sich zwar der Verdacht auf einen Eifersuchtsmord, nachweisbar erschien dies aber nicht. Auch aus Angst, es könne ein weiterer Skandal entstehen, sah die Kolonial-Abteilung von einer Entlassung ab und bot Peters stattdessen eine hoch dotierte Stelle als Landeshauptmann in Ostafrika an.267 Die vorherigen Skandale um Leist und Wehlan hatten folglich zwar den Willen zur Aufklärung von kolonialer Gewalt gestärkt, ihr aber aus der Angst vor der Öffentlichkeit zugleich gewisse Grenzen gesetzt. Der drohende Skandal wurde auch dadurch forciert, dass Peters offensichtlich nicht mehr unbedingt zurück nach Schwarzafrika wollte. So verlangte er vergeblich einen Posten als Beamter im Auswärtigen Amt oder ein attraktives Generalkonsulat, und kandidierte ebenso erfolglos für den Reichstag. Einen Posten als Landeshauptmann lehnte er schließlich ab und ging mit 39 Jahren mit Pension in den einstweiligen Ruhestand.268 Peters nutzte in Berlin seine freie Zeit für die Kolonial- und Flottenagitation und bemühte sich, den dortigen Vorsitzenden der Kolonialgesellschaft, den Zentrumsmann Prinz Arenberg, zu stürzen. Ebenso brachte er sich, wenn auch chancenlos, als Nachfolger des Leiters der Kolonialabteilung ins Gespräch, da Kaysers Position durch die Skandale angeschlagen war.269 Gerade diese aktionistische Präsenz förderte Ent262 263 264 265 266 267 268 269 Kölnische Volkszeitung 11. 2. 1891. Vgl. etwa: Peters, Emin-Pasha, S. 54 f., 59 u. 89. Bischof Smythies übermittelte dies; vgl. hierzu bereits: Reuss, The Disgrace, S. 121 f. So zumindest nach der späteren Rechtfertigung Kaysers im RT 13. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1441. Kolonial-Abteilung an Peters 6. 4. 1895, in: BAB/L, N 2223/42: 16; Aussage Peters 9./10. 4. 1895, in: BAK, NL 1067-21. Antwort auch verlesen in: RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Band 144, S. 1452. Bei 25 000 Mark Gehalt; Kolonial-Abteilung an Peters 31. 5. 1895, in: BAB/L, N 2223/42: 21. AA an Peters 18. 11. 1895 abgedr. „Dr. Carl Peters, Mißbrauch der Amtsgewalt, Berlin 1899“, S. 19 in: BAK, ZSg 113-621. So sah es Kayser selbst; ders. an Eulenburg 18. 3. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1654. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 278 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale hüllungen durch seine zahlreichen Gegner. Da entsprechende Gerüchte über ihn in Berlin längst kursierten, war absehbar, dass sich die Reichstagsdebatte über den Kolonialetat am 13. März 1896 auch um Peters drehen würde.270 Die Reichstagssitzung, bei der der Peters-Skandal seinen Ausgang nahm, zeigte die enge Verbindung zu den vorherigen Skandalen um Leist und Wehlan. Schon die ersten Reden griffen sie erneut auf, wobei sich eine gewisse Normverschiebung andeutete. Die Kolonialkritik reichte nun weiter ins bürgerliche Lager. Der Zentrumsabgeordnete Prinz Arenberg, immerhin vormals Präsident der Berliner Abteilung der Kolonialgesellschaft, sprach etwa von Wehlan als einem „ungewöhnlich brutalen, jeder Menschlichkeit baren und geradezu von einer krankhaften Grausamkeit beseelten Menschen“, und forderte, dass „Neger“ zumindest die Rechte von Tieren bekommen müssten, deren blutiges Auspeitschen bestraft würde.271 Der konservative Pastor Schall forderte sogar, die „Neger“ nach den gleichen Gesetzen zu behandeln wie die eigenen Landsleute in der Heimat. Unter Anspielung auf die Vergehen von Carl Peters fragte er, wie „noch einmal wieder sich ein Fall ereignen konnte, der nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten civilisierten Welt tiefste Entrüstung hervorrufen musste“.272 Enthüllt wurden die Vergehen von Peters gleich im Anschluss von August Bebel. Seine Rede ließ verschiedene rhetorische Strategien erkennen, die ihre Wirkung mit erklären dürften. Zunächst knüpfte Bebel seine Enthüllungen eng an die bekannten Untaten von Leist und Wehlan an, um Peters Handeln wahrscheinlicher erscheinen zu lassen. Das Vergehen von Peters nannte er nicht einfach, sondern rahmte es in eine detailreich ausgeschmückte Geschichte ein, die bildhaft Phantasien freisetzte und zugleich verallgemeinerte. Vor allem legte sie explizit seinen sexuellen Normbruch dar, der besondere Empörung versprach. Peters habe sich am Kilimandscharo als erstes, wie das bei den Zivilisatoren drüben in Afrika mit Ausnahme der Missionare, wie ich wieder hervorhebe, fast ausnahmslos die Regel ist, eine Eingeborene als Beischläferin erworben. Diese Beischläferin war ein sehr schönes Dschaggamädchen, namens Gidschagga, die Schwester des Häuptlings Manamia in Maba. Gidschagga mochte von den erzwungenen Zärtlichkeiten des Dr. Peters nicht sehr befriedigt sein und sie knüpfte ein intimes Verhältnis an mit einem seiner Diener mit Namen Mabrucki. Das erfuhr Dr. Peters. Jetzt gab er sofort den Befehl, das junge Mädchen und den jungen Mann an den Galgen zu hängen (Bewegung), weil das junge Mädchen ihm gegenüber einen Vertrauensbruch begangen habe.273 Mit den zahlreichen Details und Namensnennungen versuchte Bebel, die Zuverlässigkeit seiner Kenntnisse über Gerüchte hinaus zu zeigen. Als Belege nannte Bebel vor allem Quellen aus kirchlichen Kreisen, um auch katholische 270 271 272 273 So die Presse rückblickend: Hamburger Nachrichten Nr. 64, 15. 3. 1896. RT 13. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1421. Ebd., S. 1422. Ebd., S. 1432 f. Zum Skandal vgl. bisher, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf die Ereignisrekonstruktion: Reuss, The Disgrace, S. 214–230. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 279 und konservative Abgeordnete zu überzeugen. Neben namentlich genannten Zeugen von Mission und Station und Auszügen aus Peters eigenen Schriften war sein Hauptbeleg ein angeblicher Brief von Peters an den englischen Bischof Tucker, in dem Peters sich rechtfertigte, dass er „nach afrikanischem Gebrauch verheiratet gewesen sei, und daß ihm nach afrikanischen Recht zustand, die Ehebrecherin mit dem Tode zu bestrafen“.274 Damit ähnelte Bebels Rede einem Staatsanwalt, der detailliert eine Tat rekonstruierte, Zeugen und Belege nannte und die Wahrscheinlichkeit der Vergehen prüfte. Zugleich zeigte Bebels Spott über Peters Sexualität, die nicht zur Befriedigung seiner Geliebten ausgereicht hätte, Züge eines sensationellen Boulevardjournalismus auf, wie er in Deutschland bisher kaum existierte. Die Quellen für Bebels Enthüllungen können nicht abschließend geklärt werden. Einiges spricht dafür, dass neben Rudolf Hofmeister auch der Journalist Eugen Wolf ihm Material gab, wie auch Peters intern vermutete.275 Bereits im Reichstag kündigte sich an, dass die Vorwürfe eine starke Empörung und damit einen großen Skandal auslösen würden. Da Bebel Sozialdemokrat war, unterlagen seine Enthüllungen per se dem Misstrauen der Abgeordneten. Glaubhaft wurden sie aber dadurch, dass der Kolonialdirektor Kayser in seiner Antwort zwar widersprach, prinzipiell jedoch die Vorwürfe gegen Peters bestätigte. Der Kolonialdirektor gestand Peters Liebesaffären und die Hinrichtungen wegen Diebstahl, was nicht nur die Verdienste Peters, sondern auch die Kolonialpolitik insgesamt verdunkeln würde. Das Protokoll verzeichnete sofort „stürmische Unterbrechungen“. Auch wenn Kayser in seiner Rede am nächsten Tag einen „geschlechtlichen Zusammenhang“ mit der Hinrichtung zurückwies, suggerierten die von ihm vorgetragenen Aussagen doch Peters Schuld.276 Den Kolonialkritikern war es mit dieser Skandalisierung folglich gelungen, die Kolonialpolitik insgesamt maßgeblich in Frage zu stellen, da deren Verwalter offensichtlich trotz besseren Wissens versagten. Vor allem rückten die Sozialdemokraten öffentlich in die Rolle des moralischen Tugendwächters, die im Unterschied zum Auswärtigen Amt für die Einhaltung von Recht und Sitte eintraten, wie auch Wilhelm II. verbittert bemerkte.277 Die Sozialdemokratie schien zudem über Informationskanäle zu verfügen, die bis nach Afrika reichten, kirchliche Kreise einschlossen und die der Regierung übertrafen. Bebels Vorwürfe erschienen sofort in allen Zeitungen.278 Nahezu die gesamte Öffentlichkeit rückte von Peters ab und empörte sich spöttisch über ihn. Selbst die „Kreuzzeitung“ erklärte ihre angeblich schon immer bestehende Distanz zu Peters damit, dass er kein Christlich-Konservativer sei.279 Die Zentrumspresse 274 275 276 277 278 279 RT 13. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1434. Peters an Harden 21. 3. 1896, in: BAK, N 1062: 79. RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452. Vgl. die Marginalien des Kaisers in: Hohenlohe an Wilhelm II. 22. 3. 1896, in: BAK, NL 106721. Vgl. etwa: Frankfurter Zeitung ab Nr. 75, 15. 3. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 242, 15. 3. 1896. Neue Preussische Zeitung Nr. 130, 17. 3. 1896. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 280 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Abb. 7: Die Verkehrung der Stereotype: Nicht mehr die laxe Moral der Afrikaner, sondern die der Kolonialisten erschien nach den zahlreichen Skandalen Mitte der 1890er Jahre als Gefahr. Aus: Kladderadatsch Nr. 12, 22. 3. 1896. drohte damit, die Unterstützung des Kolonialismus zu überlegen, wenn derartige Vorfälle nicht aufhörten.280 Peters wurde, wörtlich und in Karikaturen, als triebgesteuerter Lüstling dargestellt, der sich Afrika als Harem aneignet.281 Wie bei den Skandalen um Leist und Wehlan erschien auch hier nicht mehr die moralische Laxheit der Afrikaner, sondern die der Kolonialisten als eigentliche Bedrohung (vgl. Abb. 7). Gerade wegen des Rassismus und Moralismus der Kolonialbewegung traf die Herausstellung des Geschlechtsverkehrs einen empfindlichen Nerv. In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel zahllose Gespräche über Bebels Rede, die Peters Vergehen mit denen von Wehlan und Leist verglichen. So sagte ein Gast etwa laut Polizeiprotokoll: „Wenn 280 281 Germania Nr. 63, 15. 3. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 177, 14. 3. 1896. Sie verwies dabei auf die Rede von Lieber im Reichstag, der diesen Schluss jedoch laut Protokoll nicht so klar zog; RT 16. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 61. Sitzung, Bd. 144, S. 1494. Kladderadatsch Nr. 12, 22. 3. 1896, S. 48. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 281 man die Aufzeichnungen von B. [Bebel] lese, so denke man es könnte gar nicht möglich sein, daß Deutsche so handeln können, aber man müsste es glauben, da es ja nicht die ersten Fälle von Grausamkeiten sind, außerdem B. sehr vorsichtig ist, unwahre Behauptungen an den Tag zu bringen.“282 Die vorherigen Skandale machten damit die neuen Enthüllungen glaubhafter. Trotz der breiten öffentlichen Empörung missbilligte die politische Rechte allerdings nicht durchweg derartige Hinrichtungen. Justizminister Schönstedt wandte sich etwa dezidiert dagegen, Reichsgesetze auch in den Kolonien gelten zu lassen, und bezeichnete die Todesurteile eines Kriegsherrn rechtens.283 Ebenso nannte der konservative Abgeordnete von Manteuffel die Hinrichtung von Spionen im Krieg als üblich; problematischer sei, dass Peters sich bei seiner Liebschaft „muselmanischen“ Regeln unterworfen hätte.284 In der Presse unterstützte besonders Maximilian Harden derartige Strafen. Während Harden bei anderen Themen Toleranz zeigte, erwies er sich gegenüber Afrikanern immer wieder als Rassist. So verteidigte er Peters Verhalten mit den Worten: „Die schwarzen Brüder sind blutgierige und raubsüchtige Halunken, die einstweilen nur durch die Furcht zu bändigen sind.“ 285 Ebenso sei es unter den afrikanischen Bedingungen normal, dass keine Keuschheit herrsche. Carl Peters, der mit Harden nun fast täglich korrespondierte, schrieb dem Journalisten daraufhin, „ich konnte keinen besseren Anwalt finden als Sie sich diesmal erwiesen haben.“286 Gerade im Rückblick ist diese Liaison zwischen dem antisemitischen Kolonialisten und dem später wegen seiner jüdischen Herkunft attackierten Harden bemerkenswert. Das Beispiel zeigte zudem einmal mehr, dass Harden eben nicht einfach auf moralische Empörung und Sensationsgeschichten abzielte, sondern vor allem auf eine unabhängige und provokative Positionierung. Zumindest Teile der politischen Rechten sprachen sich weiterhin dagegen aus, derartige Vorwürfe öffentlich zu verhandeln, da man eine „Selbstschändung“ vor dem Ausland vermeiden müsse.287 Sie fürchteten insbesondere um das Ansehen beim Kolonialvorbild und -rivalen England. Tatsächlich spotteten viele ausländische Berichte über den deutschen Kolonialismus. Die Pall Mall Gazette fragte, ob Deutschland wirklich als Kolonialmacht geeignet sei,288 und der englische Spectator deutete die Skandale direkt als Zeichen der angelsächsischen kolonialen Überlegenheit: „This is the third case and yet German officials wonder why, even when they have acquired colonies, German settlers prefer to immig282 283 284 285 286 287 288 Vigilanzberichte Schutzmann Erxleben 17. 3. 1896, in: StAH, S 3930-21 Bd. 3. „Kann bei diesen uncivilisierten, wilden, jeder Erziehung, sittlicher und geistiger Erziehung entbehrender Völkerschaften seitens der Beamten mit den Mitteln operiert werden, wie wir sie in unseren civilisierten Land für ausreichend halten?“ Schönstedt RT 14. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1461. Ebd., S. 1480. Harden, Struwelpeters, in: Zukunft 21. 3. 1896, S. 529–536, hier S. 536. Peters an Harden 20. 3. 1896, in: BAK, N 1062: 79. Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 74, 15. 3. 1896; Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 91, 31. 3. 1896. Pall Mall Gazette 16. 3. 1896. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 282 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale rate to America or to the British Colonies.“289 Die Times berichtete wie meist im Auslandsteil mit ruhiger Distanziertheit, machte den Terror durch den deutschen Kolonialhelden aber unmissverständlich deutlich und hoffte, dass sich künftig „Christianity, humanity and morals“ gegenüber der rücksichtlichlosen Grausamkeit durchsetzten.290 Diese Deutungen standen im Kontext der zeitgleichen deutsch-englischen Spannung in der Kolonialpolitik, die der Jameson Raid in Transvaal und die Krüger-Depesche von Wilhelm II. ausgelöst hatten.291 In der moralischen Rivalität darüber, welches Land einen besonders legitimen Kulturauftrag in den Kolonien erfüllte, war dieser Peters-Skandal ein weiterer Rückschlag. Auch die deutsche Debatte über die koloniale Gewalt blickte vielfach auf die englischen Skandale. Die politischen Milieus zogen aus der britischen Kolonialpolitik allerdings unterschiedliche Schlüsse. Konservative wie von Arnim führten an, dass man in England aus Patriotismus nie die Grausamkeiten von Stanley kritisiert habe.292 Auch der Justizminister relativierte die Vorwürfe gegen Peters damit, dass Stanley und andere grausamer gehandelt hätten, und verschiedene rechte Zeitungen schlossen sich dem an.293 Dagegen wies der liberale Abgeordnete Richter zwar Vergleiche mit Stanley zurück, argumentierte aber ebenfalls mit englischen Skandalen. Er verglich Peters Eroberungen mit dem Jameson Raid in Transvaal. Jameson sei zu Recht vor Gericht gestellt worden, Peters hingegen bisher nicht.294 Das Empire blieb folglich ein Referenzraum, der vielfältige Argumente bediente. Besonders die Sozialdemokraten führten nach den deutschen Skandalen den englischen Kolonialismus als Vorbild an. So betonte Wilhelm Liebknecht im Reichstag, England habe überall Freiheit und Kultur gebracht, Deutschland hingegen weise nur eine beschämende „Liste der Peters, Leist und Konsorten auf“. Dies liege an Englands freiheitlicher Verfassung, während in Deutschland Parteiwillkür und Unfreiheit herrsche.295 Dieser wohlwollende Blick auf das britische Empire verkoppelte somit die Reform der Kolonien und des Staates. Der Vergleich eröffnete innerhalb der Sozialdemokratie zudem eine gewisse Akzeptanz eines reformierten humanen Kolonialismus. Vor allem Eduard Bernstein verstärkte im Zuge der Kolonialskandale diesen Transfer, indem er den englischen Kolonialismus als Vorbild aufwertete und daraus Überlegungen ableitete, wie sich Sozialismus und humaner Kolonialismus vereinbaren ließen.296 289 290 291 292 293 294 295 296 Spectator 21. 3. 1896, S. 399. Zit. Times 16. 3. 1896, S. 5; Times 14. 3. 1896, S. 11. Zu den Spannungen vgl. Fröhlich, Konfrontation, S. 314 f. RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452. Ebd., S. 1461. Vgl. etwa: Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 91, 31. 3. 1896. RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1465. So Liebknecht rückblickend RT 21. 6. 1899, X. Leg. Per., I. Sess., 1898/99, 98. Sitzung, Bd. 159, S. 2708; vgl. auch Schröder, Sozialismus, S. 166. Selbst im Burenkrieg bekräftigte er diese Position; vgl. Bernstein, Sozialdemokratie und Imperialismus, in: Sozialistische Monatshefte (1900), S. 238–251 u. 549–562; Francis Ludwig Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 283 Auch Carl Peters selbst reagierte auf die Vorwürfe. Über den befreundeten Abgeordneten von Arnim wies er sie bereits einen Tag später im Reichstag zurück, was damit die gesamte Medienöffentlichkeit erreichte. Zudem dementierte er, jemals einen Brief an Bischof Tucker verfasst zu haben.297 Ebenso gab er sofort entsprechende Erklärungen an die Presse und ließ den „einzigen Brief“ veröffentlichen, den er je an einen englischen Missionar geschrieben habe, bis die Regierung Peters tagsdrauf jede weitere öffentliche Stellungnahmen untersagte.298 Wie Peters’ Korrespondenz mit seiner Schwester zeigt, sah er sich selbst als verletzter Held, der einer Intrige zum Opfer gefallen war. Trost suchte er in religiösen Deutungen und in der Vorstellung, er könne den Reichskanzler und Leiter der Kolonialabteilung stürzen.299 Immerhin gelang es Peters und der ihm nahe stehenden Presse, Kolonialdirektor Kayser die Hauptschuld an dem Skandal zu zuschreiben, da dieser ihn nicht energisch verteidigt habe.300 Dass Kayser die Vorwürfe nicht vorher genügend untersucht hatte und Peters einen Posten anbot, machte ihn auch für die Kolonialkritiker zur Zielscheibe. Tatsächlich zermürbte dies Kayser so sehr, dass er um eine Versetzung an das Leipziger Reichsgericht bat, was ihm mit einem großzügigen finanziellen Ausgleich schmackhaft gemacht wurde.301 Damit zeigte sich wieder einmal, dass gerade bei deutschen Skandalen zuerst diejenigen ihre Posten verloren, die in der Bürokratie nicht an deren Vertuschung mitarbeiteten. Angesichts der massiven Vorwürfe leitete Reichskanzler Hohenlohe sofort nach Bebels Enthüllungen eine Untersuchung gegen Peters ein, die im September in ein förmliches Disziplinarverfahren mündete.302 Bebels Hauptbeweis, Peters Brief an Bischof Tucker, erwies sich rasch als nicht existent. Bebel hatte zwar in London Eduard Bernstein gebeten, das Original zu finden, musste aber einsehen, dass wohl nur ein Brief an Bischof Smithies vorlag, der jedoch kein vergleichbares Schuldeingeständnis barg.303 Dafür brachte die Ermittlung andere Belege zu Tage, die sowohl eine illegitime Tötung als auch ein Eifersuchtsmotiv nahe legten. So schrieb der Kompanieführer Freiherr von Bülow etwa am 297 298 299 300 301 302 303 Carsten, Eduard Bernstein 1850–1932, München 1993, S. 51 f. u. 68; Markku Hyrkkanen, Sozialistische Kolonialpolitik: Eduard Bernsteins Stellung zur Kolonialpolitik und zum Imperialismus 1882–1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Revisionismus, Helsinki 1986, S. 184 f. RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452. Hohenlohe an Peters 18. 3. 1896, in: BAB/L, N 2223/42: 43. Vgl. seine Erklärung im Kleinen Journal 17. 3. 1896, die in alle Zeitungen wanderte. Vgl. die Briefe: Peters an Elli o. D. (1896), in: BAB/L, N 2223/89: bes. 6 u. 11. Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 91, 31. 3. 1896. Vgl. auch Kaysers Selbstwahrnehmung: Kayser an Eulenburg 18. 3. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1653 f. Schreiben Kayser 28. 9. 1896, in: BAK, N 1007-1604; sowie: Kayser an Eulenburg 4. 9. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1737. Hohenlohe an Peters 18. 3. 1896, in: BAB/L N 2223/42: 43; 21. 9. 1896 förmliches Disziplinarverfahren (Urteil in Druck von 1907) in: BAB/L, R 8034 II 347: 103. Vgl. den Bericht in: Bebel an W. Liebknecht 17. 5. 1896, in: BAB/L, NY 4034-134. Vgl. auch Perras, Peters, S. 224 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 284 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale 7. Juni 1892 an den zuständigen Gouverneur: „Dr. Peters hat das Frauenzimmer und den Diener deswegen aufgehangen, weil sie geschlechtlichen Umgange zusammen getrieben haben.“304 Ähnliche Aussagen machten ein Konsul, ein Maler, zwei Ingenieure und ein Leutnant. Damit erschien eine Verurteilung nahe liegend. Die Urteilsbegründungen der kaiserlichen Disziplinarkammern deuteten ebenfalls eine gewisse Verschiebung der Normen an. Abermals erfolgte diese allerdings bei den Richtern zögerlicher als in der Öffentlichkeit, was ein Vergleich der ersten Urteilsbegründung und der der Revision belegt. So sprachen die Richter zunächst den Afrikanern weiterhin nur eine untergeordnete Menschenwürde zu. Die Hinrichtung Mabruks bezeichneten sie als „Dienstvergehen“, da der Einbruch oder eine geschlechtliche Beziehung eine „nicht todeswürdige Handlung“ sei. Bei der Tötung von Jagodjo sowie der Prügelung und Kettenlegung der Frauen hatte sich das Gericht dagegen „von der Schuld des Angeklagten nicht überzeugen können.“ Wie bei Leist und Wehlan legitimierte es die Entlastung mit Verweisen auf das angebliche afrikanische Stammesrecht: Da die Frau ein Geschenk eines Häuptlings gewesen sei, sei eine Zurückweisung nicht möglich gewesen. Ebenso sei die Prügelstrafe legitim, und die zweite Flucht sei „geeignet, die Todesstrafe zu rechtfertigen“. Als schwerstes Vergehen sah es Peters falsche Berichterstattung, „weil es vorsätzlich begangen ist“.305 Besonders aus diesem Grunde lautete das Urteil Dienstentlassung ohne Pension. Noch schwerer als das Urteil wogen für Peters aber die Aussagen im Prozessverlauf und die Urteilsbegründung, die erneut Details über den sexuellen Missbrauch dokumentierten; etwa, dass Peters Frauen blutig ausgepeitscht und mit seinen Gefährten drei schwarze Frauen in der Vorratskammer festgehalten hatte. Damit wurde erneut das Bild der afrikanischen Zwangsprostituierten belebt, das bereits beim Leist-Skandal seine Wirkungsmacht entfaltet hatte. Gerade diese erneuten Enthüllungen im Zuge des Urteils sorgten für eine vernichtende Empörung über Peters, obgleich das Gericht ihn von dem eigentlichen Vorwurf freigesprochen hatte. Selbst die nationalliberalen, konservativen und offiziösen Zeitungen richteten sich ausnahmslos gegen ihren einstigen Kolonialhelden. So stellte etwa die „Kreuzzeitung“ resigniert fest, dass die Deutschen statt der Kulturmission „die herbe Enttäuschung erleben müssen, daß nacheinander drei hervorragende Beamte unserer deutschen Kolonial-Verwaltung sich grobe Ausschreitungen haben zu schulden kommen lassen“.306 Auch wenn sie die Prügel- und Todesstrafe für Frauen für nötig ansah, seien die Konkubinen und der deutsche Ansehensverlust eine Schande. Die nationalliberale Presse sah das Urteil als schweren Schlag „für unsere Colonialsache“. Von der 304 305 306 Zit. nach Urteil Disziplinargericht in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 94. Urteil in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 100. Neue Preussische Zeitung Nr. 197, 29. 4. 1897. Ähnlich auch die rechte Deutsche Tageszeitung Nr. 192, 26. 4. 1897. Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung sah zwar von Kommentaren ab, druckte aber alle Vergehen Peters; dies. Nr. 174, 25. 4. 1897. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 285 Regierung forderte sie in Zukunft, die Klagen ernster zunehmen und von der „Geheimhaltung der Acten“ abzusehen, damit die Sozialdemokratie nicht noch einmal Profit aus einer „Vertuschung“ ziehen könne.307 Selbst Peters größter Verteidiger, Maximilian Harden, erkannte nun dessen Schuld an, obgleich er dessen frühere Verdienste würdigte.308 Ähnlich äußerten sich die Stammtische. Laut Spitzelprotokollen sahen sie das Urteil als eine Niederlage für die Kolonialisten und für die Regierung, die die Sache übergehen wollte. Peters müsse unbedingt hart bestraft werden und die Kolonien seien neu zu gestalten, denn Leute wie Peters, Leist und Wehlan seien eine Schande für Deutschland, das als „zivilisiertester Staat der Welt“ zur Kultivierung in den Kolonien beitragen wollte.309 Ähnlich wie Leist ging Peters in Revision, und erneut führte die öffentliche Empörung dazu, dass das Gericht die Verurteilung verschärfte. Die Justiz reagierte damit auf den Normenwandel im Skandal. Peters wurde nun in allen Punkten für schuldig gesprochen. Der Schuldspruch bezog sich jetzt auch auf die Hinrichtung von Jagodjo aufgrund einer geschlechtlichen Beziehung. Ebenso machte es Peters für unzulässige Auspeitschungen und kriegerische Verwicklung verantwortlich. Dabei wurde den Aussagen der Afrikaner jetzt zumindest ein „gewisser Wert“ beigemessen.310 Vor allem machte der zweite Prozess weitere Aussagen öffentlich, die Peters vollends diskreditierten; etwa den Bericht eines österreichischen Konsuls, dem Peters prahlend über die Hängung des Mannes erzählt hatte („Ich bin ein stiller ernster Pastorensohn, aber die Lochbruderschaft mit diesen Schweinen paßte mir nicht“) oder Berichte, wie Peters im Bambusstuhl sitzend der blutigen Auspeitschung der Frauen zusah.311 Neben der Dienstentlassung und der Aberkennung von Pension und Titel musste Peters die Prozesskosten zahlen. Eine strafrechtliche Verfolgung, wie sie Sozialdemokraten, Liberale und Teile anderer bürgerlicher Parteien forderten, fand dagegen nicht statt, da Peters Vergehen im Ausland begangen worden seien und dafür keine Regelungen vorgelegen hätten. Das Versäumnis, hier entsprechende Regeln zu erlassen, fiel dabei erneut negativ auf die Kolonialadministration zurück. Der Skandal hatte erneut Folgen, die über die Entlassung Peters und Kaysers Rücktritt hinaus reichten. Vor allem sorgte er für die Fortführung der rechtlichen Reformen, die bereits nach den ersten Kolonialskandalen kurz zuvor eingesetzt hatten. So wurde bereits sechs Wochen nach Bebels Enthüllung die Zuständigkeit für die Strafgerichtsbarkeit, die Art der Strafen, ihre Vollstreckung und die Diziplinarbefugnisse der Bezirksmänner und Stationschefs im Innern 307 308 309 310 311 Kölnische Zeitung 26. 4. 1897. Harden, Peters, in: Zukunft 1. 5. 1897, S. 236. Vgl. etwa die Berichte: Schutzmann Graumann 30. 4. 1897 und 5. 5. 1897 in: StAH, S 3930- 22 Bd. 4. Urteil in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 110. Vgl. stellvertretend: Vossische Zeitung Nr. 537, 15. 9. 1897. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 286 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale festgelegt. Teile davon verwiesen direkt auf die Skandale. So hieß es nun: „Die endgültige Verhängung der Todesstrafe steht allein dem Gouverneur zu.“ Ebenso bedurften höhere Haft- und Geldstrafen seiner Genehmigung. Bei schweren Verbrechen seien zudem bei der Strafverhängung Eingeborene hinzuzuziehen. Direkt auf die Skandale bezog sich auch § 4: „[...] gegen eine Frauenperson irgend welchen Alters darf auf Prügel- oder Ruthenstrafe nicht erkannt werden.“312 Auch dieser Skandal verstärkte somit die Eindämmung der individuellen Befugnisse und die Stärkung von Zentralisierung und Reglementierung von Verfahren. Da der sexuelle Verkehr zwischen Deutschen und Afrikanerinnen erneut den Kern des Skandals gebildet hatte, suchte die Kolonialbewegung nach Maßnahmen dagegen. So diskutierte die Deutsche Kolonialgesellschaft bereits bei ihrem Treffen 1896 die Frage der „Mischehen“, die als Gefahr gesehen wurden. Aus dieser Debatte heraus entstand die Anregung, die Ansiedlung weißer Frauen in Afrika zu organisieren, um die sexuellen Kontakte zwischen schwarz und weiß zu unterbinden. So gewährte die Deutsche Kolonialgesellschaft Reisehilfen für die Verschiffung von Bräuten und Verwandten. Da Frauen als das sittlich überlegene Geschlecht angesehen wurden, erhoffte man sich von ihrer Umsiedlung generell eine Hebung der Moral, von den Kolonisierten und den Kolonisten.313 Der Peters-Skandal förderte zudem die öffentliche Aufdeckung weiterer Fälle, die die grausame Gewaltwillkür in den Kolonien dokumentierten und nun härter bestraft wurden. Sie wiesen vielfach ähnliche Vergehen wie die bisherigen Skandale auf. So erfuhren die Leser schon im Sommer 1896 von dem Pflanzungsleiter Friedrich Schröder, der in Ostafrika willkürlich auf Farbige schoss, sie folterte und „wüste Orgien“ mit afrikanischen schwarzen Mädchen abhielt. Wiederum scheint das Berliner Tageblatt durch ihren Afrikakorrespondenten Eugen Wolf zuerst entsprechende Berichte aufgebracht zu haben.314 Auf die Meldungen folgten Zuschriften von Mitarbeitern Schröders an die Presse, die zahlreiche Geschichten über ihn verbreiteten; so habe er einen Häuptling einfach mit Schrot in den Rücken geschossen oder Schwarze an einen Pfahl gebunden.315 Infolge der bisherigen Skandale wurde Schröder härter bestraft: Auch wenn die Richter abermals ausführten, dass die afrikanischen Frauen auf einer 312 313 314 315 Reichs-Anzeiger Nr. 104, 1. 5. 1896, in: BAK, R 1001-5626. Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur.“ Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2005, bes. S. 125– 131. Vgl. zur Ansiedlung deutscher Frauen: Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 78–83; Wildenthal, GermanWomen, S. 90; Nils Ole Oermann, Mission, Church and State Relations in South West Africa under German Rule (1884–1915), Stuttgart 1999, S. 213 f.; Daniel Joseph Walther, Creating Germans Abroad. Cultural Policies and National Identity in Namibia, Ohio 2002. Berliner Tageblatt Nr. 375, 25. 7. 1896. Germania Nr. 171, 28. 7. 1896 u. Nr. 179, 6. 8. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 523, 1. 8. 1896. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ 287 „äußerst niedrigen sittlichen Stufe stehen und gerade über Geschlechtsehre die laxesten Begriffe haben“, erhielt Schröder erst 15 Jahre Haft, dann in zweiter Instanz zumindest fünf Jahre wegen Vergewaltigungen und Körperverletzungen.316 Innerhalb der Kolonialadministration sprach man sich dabei gegen jede Milde aus, zumal Schröder für „das Mehrfache“ des Verhandelten verantwortlich sei.317 Noch härter bestraft wurden die Vergehen von Prosper von Arenberg, der einen „Bastard“ betrunken gemacht, an die Decke gebunden, gefoltert und dann erschossen hatte. Nachdem ein Militärgericht ihm erst nur zu drei Jahren verurteilt hatte, führte die Revision nach öffentlichen Protesten zu 15 Jahren Haft.318 Offensichtlich sollten derartige Urteile abschreckend wirken und die Öffentlichkeit beruhigen. In gewisser Weise waren sie ein Ersatz für die ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung der Kolonialbeamten Peters, Wehlan und Leist. Zugleich gelang es der Regierung aber, die genauen Umstände dieser Vergehen stärker als bei den vorherigen Skandalen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die vor Gericht gegen Schröder vorgebrachten Details, wie die versuchte Vergewaltigung einer zehnjährigen Afrikanerin, wurden etwa nicht öffentlich, um einen neuen großen Skandal zu vermeiden. Ebenso trug der Peters-Skandal dazu bei, auch nach 1896 die Diskussion darüber fortzusetzen, in welcher Form Afrikaner zu bestrafen seien. So befragte Franz Giesebrecht in Reaktion auf den Skandal 35 Kolonialbeamte und andere Kolonienexperten, „Welches ist die beste Methode der Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien?“ Die Antworten, die ausgewählt in der Neuen Deutschen Rundschau und in ausführlicher Form 1898 als Buch erschienen, wiesen vor allem vier gemeinsame Elemente auf: Die Eingeborenen seien wie große Kinder, und müssten dementsprechend „streng, aber gerecht“ behandelt werden; sie müssten zur Arbeit erzogen werden; und der Kolonisator müsse ein moralisches Vorbild sein.319 Dass zur Erziehung in Afrika zumindest gegenwärtig Prügelstrafen nötig seien, betonten auch bei dieser umfangreichen Bestandaufnahme fast alle Befragten. Gerade die Infantilisierung der Eingeborenen wies dem Kolonisator aber vornehmlich die Rolle eines Erziehers zu. Konsequenzen hatte der Peters-Skandal natürlich auch für den Protagonisten selbst. Peters emigrierte schon 1896 nach London. Er publizierte regelmäßig Artikel und Bücher und gründete hier eine Firma zur Erschließung von Bodenschätzen in Afrika, wohin er weiterhin reiste. Wie viele „Skandalopfer“ kämpfte 316 317 318 319 Wörtlich: „wegen gewaltsamer Vornahme unzüchtiger Handlungen an zwei Frauenspersonen, versuchter Unzucht an einer nicht geschlechtsreifen Frauensperson unter 14 Jahren, Freiheitsberaubung begangen an drei Personen, Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs beziehungsweise einer das Leben gefährdenden Handlung in 14 Fällen, leichter vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen.“ Urteile in: BAB/L, R 1001-4812/2. Stellvertretende Gouverneur Bennigsen an AA 7. 9. 1896 u. an Hohenlohe 8. 9. 1896, in: BAB/L, R 1001-4812/1. Vgl. Frankfurter Zeitung Nr. 310 und Berliner Tageblatt Nr. 571, 9. 11. 1900. „Die Behandlung der Neger“, in: Neue Deutsche Rundschau 8 (1897), S. 77–97. Langfassung der Beiträge in: Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 288 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale er weiter um seine Rehabilitierung – mit Schriften, Klagen und Eingaben von seinen politischen Freunden.320 Nach 1900 setzte sich vor allem die rechte Tägliche Rundschau wieder für Peters ein. Immerhin erreichten Vertreter der Nationalliberalen, der Reichspartei und der Deutsch-Konservativen 1905 mit Unterstützung von 51 Abgeordneten, dass Peters wieder seinen Titel tragen durfte. Die Pension blieb aber weiter aus.321 Zwischen 1906 und 1908 stand der Skandal erneut regelmäßig in der Presse. Das lag zum einen an den zahlreichen neuen Kolonialskandalen, die rückblickend an Peters erinnerten, zum anderen daran, dass Peters nun kämpferisch für seine Rehabilitierung eintrat. Er hielt Vorträge, schrieb Darstellungen über die damaligen Vorgänge und prozessierte gegen Journalisten, die sich ihn kritisierten.322 Die Zeitungen stellten daraufhin erneut Material zusammen, das Peters der Lüge überführte.323 Dass ihm 1908 ein Gericht bei einem Prozess gegen einen Journalisten der Kölnischen Zeitung zugestand, er hätte die afrikanische Frau nicht wegen einer Liebesaffäre gehängt, verbuchten Peters und die rechte Presse als juristische Rehabilitierung, die restliche Öffentlichkeit jedoch nicht.324 Zumindest für die politische Rechte wurde Peters so wieder zu einer legitimen Ikone des Kolonialismus. Dass der Kaiser ihm 1914 wieder seine Pension gewährte, verfestigte diesen späten Ansehensgewinn. Sein jahrelanger Kampf für eine öffentliche Rehabilitierung trug aber auch mit dazu bei, dass sich die Erinnerung an den Skandal bis heute verfestigte. In gewisser Weise markierte der Peters-Skandal eine gewisse Zäsur in der Wahrnehmung und Praxis des Kolonialismus. Der Typus des „kolonialen Kraftmenschen“, der mit dem Gewehr Afrika durchschreitet, galt nunmehr als unzeitgemäß.325 An seine Stelle traten, wie in Großbritannien nach dem Skandal um Stanley, eine verwaltungsmäßige Erschließung und eine geplante Kriegsführung. Die Skandale markierten diesen Übergang und kamen gerade deshalb auf. Abermals verschoben sie Normen und waren Ausdruck dieser Normverschiebung. 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 Die Skandale in den 1890er Jahren hatten sicherlich dazu beigetragen, die öffentliche Wahrnehmung des Kolonialismus und den kolonialpolitischen Rahmen zu verändern. Dies bedeutete freilich nicht, dass die koloniale Praxis automatisch humaner wurde. Vielmehr kam es bekanntlich gerade nach der 320 321 322 323 324 325 Vgl. etwa die Broschüre: „Dr. Carl Peters, Mißbrauch der Amtsgewalt, Berlin 1899“, in: BAK, ZSg 113-621. Vgl. hierzu auch: Perras, Carl Peters, S. 231–234. Bülow an Peters 16. 6. 1905, in: BAB/L, N 2223/42: 45. Vgl. hierzu die zahlreichen Briefe von Peters an Hermann Peters, in: BAB/L, N 2223/95. Vossische Zeitung Nr. 389, 23. 7. 1907. Vgl. die Positionen in: Der Tag Nr. 177, 10. 4. 1908; Vossische Zeitung Nr. 37, 23. 1. 1908. Zu Peters Selbsteinschätzung: Peters an Hermann Peters 27. 1. 1909, in: BAB/L, N 2223/95: 104. Den Begriff auf Peters und Schröder bezogen: Frankfurter Zeitung 9. 8. 1896. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 289 Jahrhundertwende zu jenen blutigen deutschen Kolonialkriegen, die die bisherige Brutalität weit übertrafen. Das galt zunächst für den deutschen Einsatz gegen den Boxeraufstand in China, den die Sozialdemokraten zu skandalisieren versuchten. Der Vorwärts veröffentlichte allein zwischen August 1900 und Januar 1901 47 Briefe von dort kämpfenden Soldaten, die bildreich das grausame Vorgehen der Soldaten schilderten, und August Bebel las einzelne Passagen aus diesen Berichten im Reichstag vor. „Alles was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, alles wurde abgeschlachtet“, hieß es etwa in den von Bebel zitierten Passagen.326 Andere Artikel beschrieben, wie an den Zöpfen aneinander gebundene Chinesen unter Peitschenhieben ihr eigenes Grab ausheben mussten. Dennoch blieb eine vergleichbar breite Empörung wie bei den vorherigen Skandalen um hohe Kolonialbeamte aus. Ähnliches galt für den deutschen Truppeneinsatz gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika 1904 bis 1907, der mindestens 80 000 Afrikanern das Leben kostete, und die Kämpfe im deutschen Ostafrika, die wahrscheinlich noch höhere Opferzahlen aufwiesen.327 Bei ihrer öffentlichen Rezeption im Reich zeigte sich ein ähnliches Phänomen wie beim Boxeraufstand und beim Burenkrieg in Großbritannien: Trotz, oder vielleicht gerade wegen des zehntausendfachen Tötens im Krieg blieb die öffentliche Empörung begrenzt. Erneut protestierten immerhin die sozialdemokratischen Abgeordneten und Zeitungen gegen das brutale Vorgehen gegen die Hereros und veranstalteten zahlreiche Protestveranstaltungen.328 In ihren Flugblättern sahen sie die Aufstände nicht nur als eine Folge der Ausbeutung, sondern auch der „Untaten der Leist, Wehlan, Peters, Arenberg, Kossak, um nur die bekanntesten zu nennen.“329 Ebenso führten Bebels Reichstagsreden von 1904 die Aufstände auf „Mißhandlungen schlimmster Art“ und „sittliche Verfehlungen der Weißen gegen Hererofrauen“ zurück.330 Aber im Unterschied zu den medienwirksamen Skandalen der 1890er Jahre fehlte 326 327 328 329 330 Vgl. die Reden 19. 11. 1900 und 23. 11. 1900 in: RT, X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 33 u. zit. S. 113. Vgl. auch: Ute Wielandt und Michael Kascher, Die Reichstagsdebatten über den deutschen Kriegseinsatz in China: August Bebel und die „Hunnenbriefe“, in: Susanne Kuss und Bernd Martin (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2002, S. 183– 201; in diesem Band weitere Beiträge zur Stichhaltigkeit der Vorwürfe. Vgl. aufgrund der zahlreichen jüngeren Publikationen nur als Auswahl: Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003; Janntje Böhlke-Itzen, Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904–1907, Frankfurt a. M.. 2004. Die Opferschätzungen für den Maji-Maji-Krieg liegen oft deutlich höher; vgl. Ludger Wimmelbücker, Verbrannte Erde. Zu den Bevölkerungsverlusten als Folge des MajiMaji-Krieges, in: Felicitas Becker/Jigal Beez (Hrsg.), Der Maji-Maji-Krieg in DeutschOstafrika 1905–1907, Berlin 2005, S. 87–99; Walter Nuhn, Flammen über Deutsch-Ost. Der Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika 1905–1906, München 1998. Immerhin 33 Veranstaltungen kündigte sie an, die sich auch gegen die Zwanzigjahrsfeier des deutschen Kolonialreiches richteten; Meldung an AA 7. 11. 1904, in: BAK, N 1016-29; vgl. zudem Vorwärts 16. 6. 1905; Schröder, Sozialismus, S. 163 u. 186. Flugblatt „Protest gegen die Kolonialpolitik“ 1904, in: BAK, N 1016-29. Beispiele bereits in: Schubert, Der schwarze Fremde, S. 254. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 290 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale anscheinend ein konkretes, emotionalisierendes und anschauliches Narrativ zur öffentlichen Mobilisierung. Wie beim britischen Burenkrieg sorgte vielmehr die Kriegssituation für eine patriotische Toleranz gegenüber der deutschen Gewalt. Dagegen kursierten genau umgekehrt emotionalisierende Berichte über die Grausamkeit der Afrikaner. Als die Regierung vom Reichstag zusätzliche Mittel für die Bekämpfung des Aufstandes erbat, enthielt sich selbst die SPD der Stimme, was zumindest eine gewisse Zustimmung verriet.331 Und selbst ein kolonialkritischer Abgeordneter wie Matthias Erzberger stimmte für die Mittel für den Truppeneinsatz gegen die Herero mit der Begründung, dass „eine deutsche Frau, die diesen Unmenschen in die Hände fällt, von einem ganze Dorf mißbraucht wird, worauf man sie förmlich hinschlachtet“.332 Stärker noch malten die rechten Abgeordneten die Brutalität der Afrikaner aus und verwiesen dabei ebenfalls emotionalisierend auf die Vergewaltigung weißer Frauen und auf kannibalistische Praktiken.333 Nachdem die Skandale in den 1890er Jahren das Bild des schützenswerten Afrikaners etabliert hatten, der barbarischen Kolonialisten ausgeliefert sei, verkehrte sich dies in das Stereotyp des brutalen Schwarzen, dem weiße Kolonialisten schutzlos ausgeliefert seien. Das Bild des brutalen deutschen Kolonialisten verstärkte sich dagegen nur in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit und in Teilen Großbritanniens.334 Mittelfristig trugen die Kolonialkriege jedoch ähnlich wie der Burenkrieg in Großbritannien zum erneuten Aufkommen wirkungsmächtiger Kolonialskandale bei, die diese Deutungen wieder veränderten. Generell führten die Kolonialkriege ab 1905 zu einer verstärkten Reflektion über die stark gestiegenen Kosten des Kolonialismus, dessen Akzeptanz und seine Folgen. Sie förderte eine öffentliche Sensibilisierung für die Kolonialpolitik, die schließlich 1906 in zahllose Kolonialskandale mündete. Bemerkenswerterweise hingen sie jedoch kaum direkt mit den massenhaften Morden in Südwest- und Ostafrika zusammen. Vielmehr thematisierten sie einerseits, wie in den 1890er Jahren, einzelne Gewalttaten und sexuelle Missbräuche von höheren Kolonialbeamten, andererseits die ökonomische Misswirtschaft und Korruption in den Kolonien. Letzteres wies damit deutliche Parallelen zur britischen Entwicklung auf. Aus dem Zusammenfall dieser unterschiedlichen Skandale mit den Kolonialkriegen entstand die schwerste Krise des deutschen Kolonialismus. Stärker als in den 1890er Jahren wurden diese Skandale direkt vom Reichstag aus angestoßen. Die Enthüllungen gingen erneut vor allem von sozialdemokratischen und linksliberalen Abgeordneten aus. Mit detaillierten Kenntnissen 331 332 333 334 Vgl. auch: Schröder, Sozialismus, S. 187; Hyrkkanen, Sozialistische Kolonialpolitik, S. 221 f. Reichstagsbrief anon., 2. 4. 1904, zit. in: Leitzbach, Erzberger, S. 317. Vgl. Schubert, Der schwarze Fremde, S. 235; zur Zuschreibung der schwarzen „Zügellosigkeit“: Helmut Walser Smith, The Talk of Genocide, the Rhetoric of Miscegenation: Notes on Debates in the German Reichstag Concerning Southwest Africa, 1904–14, in: Sara Friedrichmeyer et al. (Hrsg.), The Imperialist Imagination. German Colonialism and Its Legacy, Michigan 1998, S. 107–123, bes. S. 112. Fröhlich, Konfrontation, S. 234–238. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 291 traten neben Bebel besonders der freisinnige Justizrat Bruno Ablaß und der Sozialdemokrat Georg Ledebour hervor.335 Zudem förderten Abgeordnete der Zentrumspartei durch investigative Ermittlungen die Skandale. Vor allem die Abgeordneten Hermann Roeren und Matthias Erzberger beklagten detailliert verschiedene koloniale Missstände, die in Skandale mündeten. Die Zentrumsabgeordneten verdankten ihr Engagement und ihr Wissen vor allem dem Austausch mit katholischen Missionaren und Kolonialbeamten. Hieraus entstand ein Informationsnetzwerk, das dem der Presse und der Sozialdemokratie mitunter überlegen war. Die katholischen Abgeordneten und Beamten agierten dabei als Anwälte für die Klagen der Missionare und machten die Konflikte zwischen Staat und Kirche in den Kolonien öffentlich. Gerade weil das Zentrum den Kolonialismus bisher vor allem wegen der Christianisierung Afrikas unterstützt hatte, waren die Klagen der Missionare von großer Bedeutung für den politischen Katholizismus. Die Vorwürfe der katholischen Missionare und Beamten bildeten dadurch einen wichtigen Ausgangspunkt für die zahlreichen Skandale des Jahres 1906. In den Kolonien war es von Beginn an zu Spannungen zwischen Missionaren und Kolonialbeamten gekommen. Die Missionare beschwerten sich über die Misshandlung von Afrikanern und den Lebenswandel der Europäer, die ihre Arbeit konterkarieren würden, gingen damit aber selten direkt an die deutsche Öffentlichkeit.336 Ein wichtiger Schlüsselkonflikt für die Kolonialskandale entstand in Togo, das aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation als deutsche „Musterkolonie“ galt. Hier kam es zu einem „Kulturkampf in Übersee“ (H. Gründer) zwischen Beamten und katholischen Missionaren. Und selbst wenn es sich dabei oft, wie Ralph Erbar argumentierte, um individuelle Streitigkeiten handelte, so wurden die Spannungen in Afrika zumindest in Deutschland mit den Konfliktlinien des Kulturkampfes verbunden.337 Bereits 1890 kam es zu Spannungen, als Missionare beklagten, der Leiter der Regierungsstation lasse sich nachts schwarze Frauen kommen. 1902 monierten sie, der Stationsleiter Geo A. Schmidt sei gewalttätig gegenüber Eingeborenen und habe „ein noch nicht geschlechtsreifes Mädchen Adgaro gewaltsam mißbraucht“, wie ein Bericht des Kolonialamtes vermerkte.338 Schmidt ließ darauf335 336 337 338 Vgl. etwa die Reichstagssitzungen 15. 12. 1905 u. 19. 3. 1906, in: RT 15. 12. 1905, XI. Leg. Per., II. Sess., 1905/06, 13 Sitz., S. 344–349; 70. Sitz., S. 2147. Vgl. zu den internen Berichten: Oermann, Mission, S. 178. Horst Gründer, Kulturkampf in Übersee. Katholische Mission und deutscher Kolonialstaat in Togo und Samoa, in: AfK 69 (1987), S. 453–472; den „Kulturkampf“-Begriff weist dagegen zurück: Ralph Erbar, „Ein Platz an der Sonne“? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884–1914, Stuttgart 1991, S. 264 f. Bericht Kolonialamt 5. 2. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 25 ff. Im Prozess wurde Schmidt freigesprochen, weil das Mädchen seiner Aussage zufolge 14 Jahre alt war. Einzelne Quellen zur Verhaftung der Missionare in: Karl J. Rivinius, Akten zur katholischen Togo-Mission. Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der Steyler Missionsgesellschaft und den deutschen Kolonialbeamten in den Jahren 1903–1907, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 35 (1979), S. 123–132 u. 171–190. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 292 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale hin jedoch die Missionare wegen Verbreitung beleidigender Gerüchte verhaften. Dieser Streit spaltete die weiße Bevölkerung und führte zu Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken. Dabei wurde auch gegen den etatmäßigen Bürovorsteher des Gouverneurs von Togo namens Wistuba, der sich auf die Seite der Missionare stellte und diese mit Material unterstützte, ein Disziplinarverfahren eingeleitet und dessen Tropenuntauglichkeit festgestellt. Dieser scheinbar recht marginale Konflikt zwischen Missionaren und Kolonialbeamten übertrug sich von Togo schrittweise auf das Deutsche Reich und weitete sich rasant aus. Das Disziplinarverfahren animierte den Kolonialbeamten Wistuba nur, weitere Missstände aufzudecken.339 Ebenso wie die Mission informierte er den Zentrumsabgeordneten Hermann Roeren, der im November 1904 ein gemeinsames Gespräch zwischen Missionsleitung und Berliner Kolonialabteilung vermittelte.340 Zudem überreichte er zahlreiche skandalträchtige Informationen an einen vertrauten Beamten in der Berliner Kolonialabteilung namens Oskar Poeplau, der diese im November an den Reichskanzler weiterleitete. Das Material verwies auf unterschiedliche Fälle von Machtmissbrauch: etwa auf den Kauf von Afrikanerinnen durch höhere Beamte in Kamerun, eine Passfälschung, die der Kameruner Gouverneur Puttkamer für eine Geliebte persönlich vorgenommen hatten, eine tödliche Auspeitschung unter Anwesenheit des Gouverneurs von Togo oder auch auf Beamtenbestechung durch koloniale Lieferfirmen mit überzogenen Preisen.341 Diese Unterlagen aus dem katholischen Kommunikationsnetz bildeten somit die Kerninformationen für die Skandale, die sich im Laufe des Jahres 1906 entfalteten. Die Reichskanzlei und die Kolonialabteilung vergaben die Chance, den drohenden Skandal durch eine frühzeitige Reaktion auf diese Berichte zu verhindern. Daraufhin informierte der Kolonialamtsbeamte Poeplau Anfang 1905 den Freisinnigen Abgeordneten Ernst Müller und anschließend den jungen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, die die Reichskanzlei nacheinander drängten, gegen die willkürliche Gewalt durch Kolonialbeamte und deren Frauenkauf vorzugehen.342 Somit stand zunächst also gerade nicht der Weg an die Öffentlichkeit oder zur Presse im Vordergrund, sondern der Versuch, die gemeldeten Missstände durch interne Gespräche mit der Regierung zu beheben. Die Reichstagsabgeordneten dienten dabei als informelle Anwälte, die zugleich über das Druckmittel einer potentiellen Veröffentlichung der Missstände verfügten. 339 340 341 342 Bericht Kolonialamt 5. 2. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 22 ff. Knappe Hinweise auf Poeplau/ Wistuba in: Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin 1962, S. 457–459; Hinweise zu dem Skandal jetzt auch in: Bettina Zurstrassen, Die Steuerung und Kontrolle der kolonialen Verwaltung und ihrer Beamten am Beispiel des Schutzgebietes Togo (1884–1914), Ms. Diss. München (Univ. der Bundeswehr) 2006, S. 218–224. Rechtfertigung Stuebel April 1907, in: BAB/L, R 43 941: 304 ff. Seine Eingabe vom 22. 11. 1904 an Bülow enthielt etwa Hinweise auf das Verhalten von Thierry, Horn, Puttkammer, Brandeis, Prinz Arenberg, Besser, Wegener, Kannenburg; so Aufzeichnung für Loebell 11. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 47 ff. Vgl. auch: Prozessprotokoll 23. 4. 1909, in: BAB/L, R 43 945: 238 ff. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 293 Andere Skandale des Jahres 1906 beruhten auf der Verdichtung von Vorwürfen, die verschiedene Zeitungen und Abgeordnete schon längere Zeit vorbrachten. Das galt insbesondere für den Skandal um die Amtsführung des Kameruner Gouverneurs Jesco von Puttkamer. Bereits im Kontext des Peters-Skandal hatte das Berliner Tageblatt dem Gouverneur 1896 vorgeworfen, er sei ein Trinker, tropenunfähig, neun Monate im Jahr auf Urlaub, verschuldet und für die pekuniäre Misswirtschaft und Abhängigkeit von Handelsfirmen verantwortlich.343 Der Staatsanwalt, der sofort gegen die Zeitung ermittelte, riet kurze Zeit später dem Justizminister Zurückhaltung, da die Vorwürfe weitgehend berechtigt seien und eine Klage „alle Ergebnisse der Voruntersuchung zur öffentlichen Kenntniß“ bringen würde.344 Um einen Skandal zu vermeiden, verzichtete die Regierung aber auch auf Puttkamers Absetzung. Als Neffe Bismarcks und Sohn eines Innenministers war sein Spielraum besonders groß. Dafür folgten in regelmäßigen Abständen weitere Vorwürfe, wie im Jahr 1900 etwa durch die konservative süddeutsche Deutsche Reichs-Post. Da ihr Herausgeber, Friedrich Christian Schrempf, zugleich Reichstagsabgeordneter war, begleitete er seine Pressekampagne gegen Puttkamers Misswirtschaft mit Vorwürfen im Reichstag, womit es erneut zu einem Zusammenspiel von Presse und Politik in einer Person kam.345 Wiederum musste Puttkamer sich rechtfertigen, und schob die Schuld auf denunziatorische Berichte von Missionaren.346 Zudem suchte er in zahlreichen Briefen und persönlichen Gesprächen den engen Kontakt mit dem Journalisten Maximilian Harden, den er, wie einst Carl Peters, mit Material für dessen wohlwollende Artikel versorgte.347 Den Journalisten, die ihn beschuldigten, warf Puttkamer dagegen seinerseits den Verkehr mit Prostituierten vor.348 Zudem trat bei diesem Skandal eine weitere Informationsquelle hinzu, die bislang kaum eine Rolle gespielt hatte: Beschwerden, die afrikanische Stammeshäuptlinge einreichten. Nachdem „King Akwa“ sich bereits 1902 über Puttkamers Regierung beim Auswärtigen Amt beschwert hatte und mit vagen Vertröstungen beruhigt worden war, richtete er im September 1905 mit 27 Häuptlingen eine Petition an den Reichstag und die Reichskanzlei. Neben Hinweisen auf exzessive Auspeitschungen, Enteignungen und ungerechtfertigte Urteile fand sich etwa auch der Vorwurf, der Deutsche Oberrichter Meyer und Regierungsrat von Brauchitsch hätten in Kamerun für je 650 Mark bereits verlobte Frauen ge343 344 345 346 347 348 Berliner Tageblatt Nr. 404, 10. 8. 1896. Vgl. die gewandelte Einschätzung der Justiz von ihrer zunächst kämpferischen Haltung gegen die Zeitung: Hohenlohe an Justizminister Schönstedt 19. 8. 1896, Bericht Staatsanwalt an Schönstedt 11. 7. 1897, in: GStA, HA I 84a Nr. 49811. RT 11. 03. 1901, X. Leg. Per., II. Sess., 1900/01, 65. Sitz., S. 1796; Deutsche Reichs-Post Nr. 189–213, 15. 8. bis 12. 9. 1900. Vgl. die Rechtfertigung 28. 8. 1901, in: BAB/L, R 1001: 7250: 33 ff.; Abschrift, 10. 1. 1901, geschickt von Schrempf an Kolonialdirektor Stuebel 11. 3. 1901, in: BAB/L, R 1001: 7249: 236. Vgl. etwa Puttkamer an Harden o. D. (wohl März. 1906), 26. 4. 1906, 15. 6. 1906 u. 20. 6. 1906, in: BAK, N 1062-83. Bericht Puttkamer, 29. 3. 1906, in: BAB/L, N 2231-9:15 ff. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 294 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale kauft. Die Duala-Häuptlinge verlangten mit diesen Vorwürfen die Absetzung von Puttkamer, der Richter und der Bezirksamtmänner.349 In dieser Konstellation stärkte die Veröffentlichung der Missstände die Position der Kameruner vermutlich mehr als eine kriegerische Gegenwehr. Die Skandale entstanden nicht allein aus diesen ganz unterschiedlich übermittelten Berichten. Sie entzündeten sich nahezu im gleichen Maße an der Reaktion auf diese Vorwürfe. So ließ Gouverneur Puttkamer, als er zur Petition der Häuptlinge Stellung beziehen sollte, kurzer Hand alle 27 Unterzeichner festnehmen und teilweise zu langen Haftstrafen verurteilen, da sie nicht den Dienstweg eingehalten hätten.350 Ähnlich reagierte die Reichsregierung auf die Vorwürfe, die der Beamte Poeplau überreichte. Sie ermittelte zunächst weniger gegen die Beschuldigten als gegen diejenigen, die die Beschuldigungen an die Öffentlichkeit gebracht hatten. Gegen Poeplau leitete sie sofort ein Disziplinarverfahren ein und ließ seine Wohnung durchsuchen, wobei sie den Bürovorsteher Wistuba als Informationsübermittler ausmachte.351 Erst derartige Reaktionen führten zur öffentlichen Konfrontation mit den Zentrumspolitikern. Erzberger und Roeren drohten in Gesprächen mit der Reichskanzlei, das Zentrum würde den Kolonien keine Etats mehr bewilligen, wenn die Regierung so mit den Übermittlern umgehe.352 Roeren trat zuerst an die Öffentlichkeit. Bereits Anfang 1905 brachte er einen „Klagebrief aus Togo“ in die Presse, dann verteidigte er in der Kolonialhaushaltsdebatte am 18. März 1905 im Reichstag die Missionare gegen den Vorwurf, sie hätten tadellose Beamte beschuldigt.353 Auch Erzbergers anklagende Reden in der Kolonialhaushaltsdebatte im März 1906 verurteilten weniger die Missstände als die Reaktionen der Kolonialabteilung, die auf Anfragen stets mit unzureichenden Informationen geantwortet hätte.354 Wie bei vielen Skandalen stand mit Matthias Erzberger ein einzelner Ankläger im Mittelpunkt der Öffentlichkeit, obgleich sich 1906 zahlreiche Abgeordnete von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokratie bei der Skandalisierung engagierten. Die typische Duellstruktur der Skandale machte Erzberger zu einem öffentlichen Star, der emotional polarisierte. Besonders von linksliberaler und sozialdemokratischer Seite erhielt der Zentrumsmann hohe Anerkennung. So lobte das auflagenstärkste deutsche Blatt, die Berliner Illustrirte Zeitung, Erz349 350 351 352 353 354 Das Anschreiben ist auch abgedr. in: Horst Gründer (Hrsg.), „... da und dort ein junges Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 137 f. Zu den Duala-Protesten vgl. Walz, Die Entwicklung, S. 121–141; Andreas Eckert, Die Duala und die Kolonialmächte. Eine Untersuchung zu Widerstand, Protest und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg, Münster 1991, S. 139–159. Vgl. ebd. Hohenlohe an Chef der Reichskanzlei 31. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 182 ff. Loebell an Staatssekretär des AA u. a. 26. 9. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 17 ff.; Aufzeichnung Schnee 20. 9, in: BAB/L, R 43 945: 69 ff. Erzberger selbst wies diese Äußerung im Gespräch mit Loebell später zurück. RT 18. 03. 1905, XI. Leg. Per., I. Sess., 1903–05, 167. Sitzung, Bd. 203, S. 5390. RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1975. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 295 Abb. 8: Der Zentrumspolitiker Erzberger in der Pose des Enthüllungsjournalisten, der die Missstände in der „Kolonialküche“ von Reichskanzler Bülow und Landwirtschaftsminister Podbielski aufdeckt, welche diese ignorieren. Das „Küchenkabinett“ und die Kolonien erscheinen als verschlossener Bereich, in den Erzberger durch investigative Beobachtung einzudringen vermag. Aus: Kladderadatsch Nr. 33 19. 8. 1906, S. 482. bergers „enorme Sachkenntnis, Witz und Schlagfertigkeit“ und druckte verschiedene Bildberichte über ihn, denn er sei „mit einem Schlage ein populärer Mann geworden.“355 Ebenso beschrieb die Times ihn als besten Sprecher des Reichstages, da er Humor, Aufrichtigkeit, Klarheit und Ausgewogenheit verbinde.356 Karikaturen zeigten Erzberger, wie er die Missstände in der „Kolonialküche“ aufdeckte (Abb. 8), wie er ein gemästetes Schwein namens Tippelskirch schlachtete (was auf das gleichnamige Unternehmen mit seinen überteuerten Lieferungen an die Kolonien verwies), oder nach der Wahl vom Bülow-BlockStier auf die Hörner genommen wurde.357 Selbst wenn Erzberger in einer abseitigen Stadt wie Lüdenscheid eine Rede mit bekannten Enthüllungen hielt, führte dies zu zahlreichen Zeitungsmeldungen.358 Wie sehr Erzbergers Artikel die Beamten der Reichsleitung beschäftigten, dokumentieren die bis zu zehn Text355 356 357 358 Zit. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 49, 9. 10. 1906 u. Nr. 34, 26. 8. 1906; vgl. auch ebd. Nr. 31, 5. 8. 1906. Times 10. 12. 1906, S. 6. Kladderadatsch 8. 4. 1906 u. 19. 8. 1906 (Beiblatt); Simplicissimus 7. 1. 1907. National Zeitung Nr. 396, 28. 6. 1906. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 296 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale markierungsstriche nebeneinander, die sie beim Lesen seiner Schriften neben die Zeilen schrieben.359 Auch die Hamburger Kneipenbesucher sprachen vielfach über Erzberger und lobten ihn überwiegend. So hieß es etwa laut einem Spitzelbericht: „Erzberger ist ein Mann der mir gefällt. Er sucht alle Fehler aufzudecken und zu besprechen. Leider wird dieser Mann von seiner Partei verleugnet wie sogleich von Schädler öffentlich getan wurde. Jede andere Partei würde stolz auf ihn sein. Auf welche Weise er dies alles erfährt, wissen wir nicht, aber man darf wohl annehmen, daß er Gewährsmänner hat.“360 Auch nach der Reichstagsauflösung glaubten Kneipengäste, das Zentrum würde allein seinetwegen keine Stimmen verlieren.361 Die Schlüsselstellung, die Erzberger durch seine erfolgreich betriebene Skandalisierung gewann, zeigte sich aber ebenso in den harten Attacken der politischen Rechten gegen seine Person. Die „Kreuzzeitung“ sprach etwa vom „Fall Erzberger“, die Leipziger Neueste Nachrichten vom „fanatischen Feldzug des Abg. Erzbergers“ und der Hamburger Courier schuf das Wort „Erzbergereien“.362 Erzberger wurde dabei vorgehalten, die Techniken des „Sensationsjournalismus“ in die Politik zu überführen. Auf seine Veröffentlichungen reagierte die Rechte und insbesondere der Flottenverein sogar mit der Publikation „Die Lügen von Herrn Erzberger“.363 Auch diese Gegenreaktionen belegen die Personalisierung bei Skandalen. Wie kam es, dass unter den verschiedenen Enthüllern ausgerechnet Erzberger diese Schlüsselrolle erhielt? Erzbergers souveräner Umgang mit der Öffentlichkeit lässt sich zunächst mit seiner journalistischen Berufserfahrung erklären. Von 1895 bis 1903 war er Redakteur der Württembergischen Zentrumszeitung Deutsches Volksblatt gewesen, und 1904/05 hatte er überwiegend für die auflagenstärkste Zeitung des politischen Katholizismus geschrieben, die Kölnische Volkszeitung. Danach verfasste er zahllose Artikel für diverse, auch nicht-katholische Zeitungen wie Der Tag.364 Ähnlich wie bei vielen anderen deutschen und englischen Skandalen wurden die Enthüllungen damit durch jemanden vorangetrieben, der an der Schnittstelle von Politik und Medien stand. Erzberger hob in seinen anonym verfassten Artikeln auch sein eigenes Handeln hervor, um seine Prominenz zu fördern. So schrieb er Ende 1905 über sich selbst: „Bekannt ist der scharfe Kampf, den diesen Sommer über der Zentrumsabgeordnete Erzberger gegen die Kolonialpolitik in der K. Vztg. [Kölnischen Volkszeitung] 359 360 361 362 363 364 Vgl. BAB/L, R 43 941: 70. Polizeibericht Schutzmann Lücke 1. 12. 1906, in: StAH, S 3930-33; ähnlich auch: 18. 8. 1906, in: StAH S 3930-33. Polizeibericht Schutzmann Lücke 14. 12. 1906, in: StAH, S 3930-33. Kritische Stimmen zu Erzberger in: ebd. 17. 12. 1906. Neue Preussische Zeitung Nr. 332, 22. 7. 1906; Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 190, 12. 7. 1906; Hamburger Courier Nr. 341, 8. 7. 1906. Epstein, Erzberger, S. 660. Vgl. die Aufstellung von: Leitzbach, Erzberger, S. 16. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 297 führte, und der, wie angekündigt, im Reichstage eine Fortsetzung finden soll.“365 In seinen Reden und Artikeln verstand er es, anschauliche Beispiele aufzubringen, die zugleich detailliert recherchiert wirkten. Dank seiner Arbeit in der Budgetkommission und seinen finanzpolitischen Artikel konnte er souverän mit großen Zahlenkolonnen umgehen, die er in plastischen Bildern beschrieb. So erklärte er etwa in Interviews die Konsequenzen der Monopolverträge anhand überzogener Socken- und Schuhpreise oder verdeutlichte die schlechte Belieferung durch die Woermann-Linie mit dem Verfaulen von Kartoffeln auf ihren nicht gelöschten Schiffen.366 Seine Vorwürfe brachte Erzberger nicht auf einmal vor, sondern in dosierten Abständen, wodurch er den Zeitungen laufend neuen Stoff bot. Seine Vorankündigungen auf neue Enthüllungen sicherten bereits eine mediale Aufmerksamkeit. In einer abschließenden Buchpublikation bündelte er schließlich seine gesamten skandalösen Kolonialenthüllungen, die 1906 anfielen, zu einer übersichtlichen Generalabrechnung.367 Die Untersuchungen und Beschlagnahmungen in seinem Büro gaben ihm zusätzlich eine herausgehobene Märtyrerrolle, die er ebenfalls medial vermarktete. In Interviews und Artikeln mit Ich-Form berichtete Erzberger hierüber und stellte dabei seine eigene Recherche-Arbeit gegenüber den Beschuldigungen in den Vordergrund.368 Besondere Aufmerksamkeit erhielt er durch seine Parteizugehörigkeit. Als Zentrumsmann der politischen Mitte war er politisch anschlussfähiger als die Sozialdemokraten, zu denen die restliche Öffentlichkeit selbst bei berechtigten Anklagen Distanz hielt. Da das Zentrum in der Kolonialpolitik nicht eindeutig positioniert war, hatte es eine Schlüsselstellung bei der Annahme der Kolonialhaushalte, auch wenn Erzbergers Position innerparteilich umstritten war. Trotz des leichten Tadels, den Erzberger vom Fraktionschef Peter Spahn wegen seiner Kolonialkritik im März 1906 erhielt, zeigte sich der Machtgewinn des Abgeordneten schnell: Bereits im Mai 1906 brachte das Zentrum zusammen mit der SPD zwei Kolonialvorlagen zu Fall. Die zahlreichen Skandale, die Erzberger und andere Abgeordnete 1906 anstießen, verhandelten unterschiedliche Normen. Eine erste Gruppe von Skandalen ähnelte den Fällen der 1890er Jahre. Sie schufen erneut eine breite Empörung über Kolonialbeamte, die Afrikaner körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht hatten. Damit warfen sie abermals die Frage auf, inwieweit gewaltsame Strafen und sexueller Verkehr in den Kolonien zu tolerieren seien. Diese Fälle brachten vor allem die sozialdemokratischen und freisinnigen Reichstagsabgeordneten in die Öffentlichkeit. So erinnerte Bebel an einen Fall, bei dem ein Hauptmann auf eine Mutter und deren schreiendes Kind schoss, weil das Kind 365 366 367 368 Zit. nach: Leitzbach, Erzberger, S. 304 f. Der Tag 15. 8. 1906. Matthias Erzberger, Die Kolonial-Bilanz. Bilder aus der deutschen Kolonialpolitik auf Grund der Verhandlungen des Reichstags im Sessionsabschnitt 1905/06, Berlin 1906. Freisinnige Zeitung Nr. 327, 31. 7. 1906; Germania Nr. 256, 7. 11. 1906. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 298 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale ihn geweckt habe. Und der linksliberale Bruno Ablaß schilderte, wie der Togoer Gouverneur Waldemar Horn bei einer Auspeitschung wegen Diebstahls teilnahm und den an einem Pfahl gebundenen Afrikaner danach in der Sonne sterben ließ.369 Ebenso monierte Ablaß im Reichstag die ausbleibende Bestrafung eines Hauptmanns, der ein vor ihm geflohenes Kind der katholischen Mission erschoss.370 Vor allem freisinnige und sozialdemokratische Abgeordnete brachten zudem neue Vorwürfe über sexuelle Normbrüche im Reichstag auf. So berichteten sie, hohe Beamte in Togo hätten verlobte Afrikanerinnen für sich gekauft, in Kamerun seien mit Steuergeldern Hütten zur Unterbringung von afrikanischen Konkubinen gebaut worden, und Puttkamer habe das unsittliche Anfassen der Frau eines afrikanischen Übersetzers nicht bestraft.371 Vielfältigen Spott löste die Enthüllung aus, dass Gouverneur Puttkamer eine deutsche Geliebte unter falschem Namen nach Kamerun geholt, als Cousine ausgegeben und ihr bei ihrer Abreise eigenhändig einen Pass mit einen Decknamen gefälscht hatte. „Cousin’chen“ wurde in dem allgemeinen Spott zum geflügelten Wort, um eine Geliebte zu bezeichnen.372 Obwohl die Zentrumspolitiker um diese sexuellen Missstände wussten, scheuten sie sich, sie zu benennen. Für die Sozialdemokraten war dies dagegen bereits ein eingeübtes Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen und mit einer derartigen Moralisierung des Politischen die Kolonialisten an einer besonders empfindlichen Stelle zu treffen. Erst als die Vorwürfe bereits in der Presse kursierten, griffen auch Erzberger und Roeren sie auf. Sie argumentierten hier allerdings stärker mit der ausbleibenden Bestrafung der Täter und der unzureichenden Reaktion der Kolonialabteilung. Ähnlich wie in den 1890er Jahren lösten die Fälle eine breite Empörung aus. Dies mochte auch daran liegen, dass die Vorwürfe weitgehend zutrafen und die regierungsnahe Presse keine plausiblen Hinweise zur Widerlegung erhielt.373 Unter den wenigen Verteidigern der Vergehen fiel erneut Maximilian Harden auf, der für Toleranz gegenüber den Sexualdelikten warb: Man solle „unsere Kolonisatoren nicht an mönchischen Mustern messen“. „Die liebe Frau ist fern und die Stillung menschenthierischer Lust hat mit wahrer Treue nichts zu thun.“ Denn dies sei doch auch bei den Berliner Parlamentariern üblich, so Harden in der Zukunft.374 Einig war sich die restliche Presse mit Harden zumindest in dem Punkt, dass Liebesaffären wie von Puttkamer privat seien und nicht zur Debatte stehen dürften, die Urkundenfälschung für die Geliebte hingegen 369 370 371 372 373 374 Bebel RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1982. Ablaß RT 15. 12. 1905, S. 344–349 u. 19. 3. 1906, 70. Sitz., S. 2148. Ablaß RT 15. 12. 1905, XI. Leg. Per., II. Sess., 1905/06, 13. Sitzung, S. 344–349; erneut hierzu Erzberger RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1977. Ablaß RT 19. 3. 1906, 70. Sitz., S. 2147; Ledebour RT 20. 3. 1906, 71. Sitz., S. 2159 f. Vgl. Artikel wie: „Willst Du mein Kusinchen sein?“ Berliner Tageblatt Nr. 208, 25. 4. 1907; „Mein ‚Cousinchen‘ bist Du!“ Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906. Vgl. etwa: Aufzeichnung, überreicht Loebell 11. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 47 ff. Zit. Harden, in: Die Zukunft 17. 3. 1906, S. 398 und 31. 3. 1906, S. 479. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 299 schon.375 Insgesamt zeugte dieser Tenor somit erneut von einer gewissen Toleranz gegenüber außerehelichen Beziehungen, solange diese nicht mit einem Machtmissbrauch verbunden waren.376 Zudem verhandelten die Skandale 1906, und das war ein eher neuer Akzent, administrative Inkompetenz, Vorteilsnahme und Korruption in den Kolonialverwaltungen. Damit wurden auch die ökonomischen und administrativen Normen des Mutterlandes auf die Kolonien übertragen. Gerade hier profilierte sich Erzberger im Reichstag und in der Öffentlichkeit.377 Diese Vorwürfe bezogen sich besonders auf die überteuerten Lieferungen der Firmen Woermann und Tippelskirch. Tippelskirch hatte 1903 einen achtjährigen Monopolvertrag über alle Lieferung der Kolonialtruppe erhalten, wodurch sich ihr Umsatz verfünffachte.378 Wie Erzberger vorrechnete, führte dies bei einigen Produkten zu überzogenen Preisen, die bis zu 70 Prozent über den Marktpreisen lagen, zu schlechter Qualität und zur Nicht-Erfüllung von Verträgen.379 Zudem wurde vom Berliner Tageblatt aufgebracht, dass diese Firma von dem amtierenden Landwirtschaftsminister Victor von Podbielski gegründet worden war und ihm zur Hälfte gehörte, auch wenn er seine Anteile im Jahr 1900 formell seiner Frau überschrieben hatte.380 Wie eine interne Bücherprüfung belegte, waren die Gewinne tatsächlich trotz formell getrennter Konten an den Minister als stillen Teilhaber geflossen.381 Ähnlich wie in Großbritannien stand damit ein Minister in der Kritik, von unwirtschaftlichen kolonialpolitischen Entscheidungen zu profitieren. Noch schwerwiegender als diese Vorteilsnahme des Ministers wog allerdings der damit verbundene Korruptionsvorwurf. Bereits bei Woermann hatte Erzberger korrupte Strukturen mit kleineren Leistungen ausgemacht.382 Ein echter kolonialer Korruptionsskandal kam dann Ende Juli gegenüber Tippelskirch & Co. auf. Dabei gab abermals, wie bei den Sexualitätsskandalen, eine geschiedene Frau mit Aussagen gegen ihren Ex-Mann einen wichtigen Anstoß.383 Ihr Hinweis führte zur Verhaftung und Anklage von Major Fischer von der Bekleidungskommission beim Oberkommando der Schutztruppe. Wie sich herausstellte, war Fischer nicht nur ein Duzfreund von Tippelskirch und Podbielski, sondern hatte von ihnen neben kleineren Waren und Geldgeschenken auch größere Kredite bekommen, von denen er über 2 000 Mark nicht zurückbezahlte.384 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 Vgl. die Presseausschnitte in: BAB/L, R 8034 III/351. Vgl. Kap. III. RT 23./24. 3. 1906 11. Leg. Per. II. Sess. 1905/06, Bd. 3 (216), S. 2235–37 u. 2257–58. Kempner an Dernburg 30. 10. 1906, in: BAB/L, R 43 944: 71. Erzberger, Die Kolonial-Bilanz, S. 70. Berliner Tageblatt Nr. 534, 19. 10. 1905 u. Nr. 543, 24. 10. 1905. Gutachten Schunck 6. 9. 1906, in: BAB/L, N2106/72: 13 ff.; Gutachten 22. 10. 1906, in: BAB/L, N2106/72. Vgl. Erzbergers Korrespondenz mit dem Kolonialamt, bes. 19. 5. 1906, in: BAB/L, R 1001: 7249: 51: 99. Am 5. 7. 1906 schrieb sie an Fischers Vorgesetzen. Abschrift an Bülow, 21. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 943: 5-7. Verfügung 13. 10. 1906, in: BAB/L, R 43: 943: 23 ff. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 300 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Rund 2 000 Mark kamen laut Tippelskirch auch von Minister Podbielski.385 Zudem bezeugte der Vorgesetzte von Fischer, genau dieser Beamte habe „beim Abschluß aller Verträge mit der Firma von Tippelskirch u. Co. mitgewirkt und hat im August 1895 die Denkschrift bearbeitet, die die Grundlage für den Abschluß der Verträge mit vorgenannter Firma bildete“.386 Gerade weil die deutsche Bürokratie das Ethos der Unbestechlichkeit pflegte und Korruptionsskandale bisher kaum vorkamen, sorgte auch dieser Vorwurf für besondere starke Entrüstung in der Öffentlichkeit.387 Das Berliner Tageblatt titelte unter Anspielung auf den bisher größten Korruptionsskandal Westeuropas „Ein Panama?“ und erinnerte, dass auch in Frankreich ein Privatunternehmen den Staat bestochen habe.388 Dabei verfügte das Berliner Tageblatt abermals über Quellen aus Beamtenkreisen, auf die der konservative Rivale Berliner Lokal-Anzeiger mit offiziösen Noten entlastend antwortete.389 Der Spott der liberalen und linken Presse zeigte sich auch darin, dass sie die im Skandal Beschuldigten vorwiegend mit Kosenamen ansprachen („Pod“, „Tippel“ oder „Jeskolein“).390 Wie die vielen empörten Ausrufezeichen der Presseausschnittssammlung der Reichsleitung zeigen, rannte die Ministerialbürokratie den Enthüllungen der Abgeordneten und Zeitungen verzweifelt nach.391 Auch in den Kneipen führte der Korruptionsfall um Tippelskirch, Podbielski und Fischer zu besonders heftigen Diskussionen. Wie in England bewegte die Stammtische vor allem die Verschwendung von Steuergeldern zulasten der Bevölkerung. So sagte ein Gast laut Spitzelbericht: „Da hat immer einer vom anderen genommen und dieser Major Fischer ist nur der dumme, der muß die ganze Geschichte ausbaden, genommen haben sie alle. Dieser Firma Tippelskirch haben sie das Geld nur so in den Hals geworfen, und wenn man da ein paar tausend Mark springen läßt, so hat das gar nichts zu bedeuten. Da kann man mal sehen, wie mit den Staatsgeldern gewirtschaftet wird.“392 Ebenso große Empörung löste in den Kneipen aus, dass der Landwirtschaftsminister nicht sofort seinen Posten räumte. Dass er vorerst weiter im Amt blieb, sah ein Kneipengast zu Recht als Strategie der Regierung, nicht die Macht der Öffentlichkeit einzugestehen.393 385 386 387 388 389 390 391 392 393 Aussage 6. 9. 1906, in: BAB/L, N2106/72: 22; vgl. auch Vernehmung Fischer 10. 9. 1906, ebd. Oberstleutnant Quade/Vertreter des Oberkommandos der Schutztruppe an Reichskanzlei, 10. 8. 1906, in: BAB/L, R 43 944: 24 ff. Erwähnt wird der Fall in: Lermann, The Courtier, S. 156 f., die allerdings zu Unrecht betont, die Beschuldigungen gegen Podbielski seien weitgehend ungerechtfertigt. Berliner Morgenpost 20. 7. 1906; Berliner Tageblatt Nr. 382 u. 383, 30. 7. 1906. Berliner Tageblatt Nr. 383, 30. 7. 1906. Vgl. die entsprechende Beobachtung in: Freisinnige Zeitung 31. 7. 1906. Vgl. etwa: Morgenpost Nr. 180, 4. 8. 1906; Freisinnige Zeitung Nr. 99, 26. 4. 1907; Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906. Vgl. BAB/L, R 43: 941: 38. Polizeibericht Schutzmann Ziegler 7. 8. 1906, in: StAH, S 3930-35 Bd. 1; ähnlich: Polizeibericht Schutzmann Lücke 18. 8. 1906, in: StAH, S 3930-33. „Nun bleibt dieser ‚Pod.‘ doch noch in seinem Amte, dieser Schweinehund hätte gerne gehen können und ich kann nicht begreifen wie so ein Gauner noch auf einen solchen Posten bleiben Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 301 Sowohl die deutsche als auch die britische Öffentlichkeit zog dabei wechselseitig Vergleiche zwischen dem etwa zeitgleichen „War Stores Scandal“ und dem Tippelskirch/Woermann-Skandal. Während die Times Ähnlichkeiten sah, titelte die BZ am Mittag erleichtert „Ein englisches Panama. Ein Kolonialskandal in England.“394 Besonders für die Deutschen war das Empire weiterhin Vorbild, Schreckbild und Entlastungsargument zugleich. Auch wenn rechte Zeitungen immer noch betonten, in England seien die Skandale schlimmer, so akzeptierten sie dies nicht mehr als Trost.395 Die wechselseitigen Beobachtungen zeigten sich etwa darin, wie ausführlich die Times über eine Rede des Zentrumsführers Peter Spahn berichtete, als dieser Großbritannien als Vorbild anführte, da dort die Schuldigen bestraft und Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Fälle getroffen würden, während in Deutschland keine ernsthafte Untersuchung erfolgte. Dies würde daran liegen, so Spahn, dass in England Regierungen wechselten und die Opposition dann die Akten sähe.396 Die Mitte/Linksparteien forderten zudem unter Verweis auf die englische Skandalbewältigung eine unabhängige parlamentarische Untersuchungskommission, was der Direktor der Kolonialabteilung jedoch ablehnte, da es die Autorität der Regierung erschüttern würde.397 Während die Deutschen also England als Vorbild priesen, übernahm die englische Öffentlichkeit dies zugleich, um ihr eigenes Selbstwertgefühl gegenüber dem kolonialen Nachkömmling Deutschland zu festigen. Welche Folgen hatten diese zahlreichen Kolonialskandale, die im Jahr 1906 kulminierten? Insgesamt lässt sich feststellen, dass sie durchaus mehr Konsequenzen hatten als es Spahns Vergleich mit England andeutet. Im Bereich der Kolonialwirtschaft führten sie nach den Korruptions- und Monopolvorwürfen zur Kündigung der Verträge mit den Firmen Woermann und Tippelskirch. Bülow erwies sich hier als treibende Kraft, der sich gegen Widerstände aus der Kolonialabteilung und der restlichen Reichsleitung durchsetzte.398 Zudem waren die personellen Folgen erheblich. Bereits vor 1906 führten die ersten Vorwürfe zu Untersuchungen der Reichskanzlei, die Entlassungen nach sich zogen. So verlor der Gouverneur von Togo, Waldemar Horn, bereits 1905 seinen Posten. Ebenso wurde im gleichen Jahr der Direktor der Kolonialabteilung, Stuebel, durch Hohenlohe-Langenburg ersetzt, da ersterer mit der Bewältigung der Vorwürfe 394 395 396 397 398 kann.“ Ein anderer Gast antwortete: „Sie wollen ihn bloß nicht gleich rausschmeißen, damit es nicht aussieht, als wenn sie den Zeitungen einen Gefallen tun, denn im Amte kann er nach allem was vorgefallen ist nicht mehr bleiben.“ Polizeibericht Schutzmann Ziegler 22. 8. 1906, in: StAH, S 3930-35 Bd. 1. Vgl. Times 30. 8. 1906, S. 3, BZ am Mittag Nr. 186, 10. 8. 1906. Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 210, 1. 8. 1906; Deutsches Blatt Nr. 66, 18. 8. 1906. Times 30. 8. 1906, S. 3. Dernburg an Bülow 12. 11. 1906, in: BAB/L, R 43 941: 242 f.; Denkschriften des AA und Reichsjustizamts an Bülow, 7. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 185 ff. Vgl. sein Drängen in: Bülow an Hohenlohe 21. 8. 1906, in: BAB/K, R 43 944: 23 ff.; ReichsJustizamt/Nieberding an Oberkommando der Schutztruppen 24. 10. 1906, in: R 43 944: 89; Auflösungsvertrag 27. 11. 1906, in: R 43 944: 94. Der Vertrag wurde zum 31. 3. 1907 aufgelöst, ab 1. 10. 1906 galten aber bereits andere Vertragspreise. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 302 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale überfordert schien. 1906 verstärkte die Regierung unter dem Eindruck der zahllosen Enthüllungen ihre Ermittlungen, die zu weiteren Absetzungen führten, bis 1907 selbst Gouverneur Jesco von Puttkamer zum Rücktritt gedrängt wurde, wenn auch ohne Verurteilung und bei voller Pension.399 Erneut trieb vor allem Reichskanzler Bülow die Untersuchung mit nachfragenden Briefen voran, während Kolonialdirektor Hohenlohe eine eher passive Rolle einnahm.400 Dass eine schnelle Aufklärung nötig sei, machte Bülow selbst Wilhelm II. klar. Er richtete nicht nur entsprechende Briefe an den Kaiser, sondern gab auch die Anweisung, den Monarchen mit ausgewählten Zeitungsartikeln auf seinen Kurs zu bringen.401 Denn intern kam die Reichsleitung vielfach zu dem Schluss, dass die Vorwürfe von Erzberger und anderen durchaus zutrafen.402 Der spektakulärste Rücktritt infolge der Skandale war der des Staatssekretärs und preußischen Landwirtschaftsministers Podbielski. Auch er wurde von Bülow zum Abschied gedrängt, nachdem sich der Verdacht auf Vorteilsnahme und Korruption erhärtet hatte. Allerdings konnte sich Podbielski zunächst noch halten, da Wilhelm II. sich für dessen Verbleib stark machte.403 Bülow lancierte daraufhin in der Presse die Meldung, Podbielskis Rücktritt stehe bevor, was Podbielski wieder mit Gegenmeldungen konterkarierte.404 Wie sehr sich dieser lancierte Rücktritt aus einem Wechselspiel von öffentlicher Meinung und offiziöser Pressebeeinflussung entwickelte, verdeutlicht ein Anschreiben des offiziösen Journalisten Eugen Zimmermann vom Berliner Lokal-Anzeiger: Herr Scherl telegraphierte mir heute aus Tirol, daß ihm die Haltung des Blattes zu sehr Podbielski-offizös ist. Diesen Eindruck teile auch ich seit einiger Zeit. Da die Sache sich weiter zuspitzen wird und auch weil es im allgemeinen Interesse liegt, müßte ich jetzt umschwenken. Hierzu fehlt mir eine Information über die Intentionen des Kanzlers, da nämlich von der Seite Podbielski fortlaufend Nachrichten an uns gelangen, ich aber ohne Direktiven bin [...].405 Kanzler, Minister und Journalisten suchten folglich im internen und öffentlichen Austausch nach einer Lösung des Skandals. Zusammen mit dem Druck der Öffentlichkeit und den restlichen Staatsministern setzte sich Bülow schließlich gegen den Kaiser durch, und Podbielski verließ im November 1906 sein Amt. Besonders der Ministersturz war ein klares Zeichen für die gewachsene Macht der Medien und des Reichstags. Eine weitere Konsequenz aus den Skandalen war die Neubesetzung der Spitze der Kolonialabteilung. Da Hohenlohe während der Skandale keine Initiative ge399 400 401 402 403 404 405 Vgl. BAB/L, R 43-945: 58 ff.; Dernburg an Bülow 21. 9. 1906, in: ebd. 67 f.; Bülow an Wilhelm II. 6. 7. 1908, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 32474. Reichskanzlei an Hohenlohe 13. 8. 1906, in: R 43: 942: 58 f. Bülow an Hammann 30. 6. 1906 u. 4. 7. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 30 u. 35. Dernburg an Erzberger 12. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7250: 157. Bülow an Hammann 5. 10. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 20. Loebell an Bülow 21. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 142; Berliner Tageblatt Nr. 422, 21. 8. 1906. Berliner Lokal-Anzeiger-Redakteur Eugen Zimmermann an Scheefer 2. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 185 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 303 zeigt hatte und somit für ihr Aufkommen verantwortlich erschien, stieß auch hier Kanzler Bülow Veränderungen an. Dass die Wahl auf Bernhard Dernburg fiel, war geradezu spektakulär und zeigte Bülows Reformwillen nach den Skandalen.406 Bereits Dernburgs Biographie unterstrich einen Neuanfang. Als Bankier, der in den USA gearbeitet hatte, stand er für eine Außenexpertise und wirtschaftspolitischen Sachverstand.407 Und als Sohn des amtierenden Feuilleton-Redakteurs des Berliner Tagesblattes – also genau der Zeitung, die die aktivste Rolle bei allen Kolonialskandalen gespielt hatte – hatte er keine Berührungsängste gegenüber Journalisten. Dementsprechend leitete Dernburg sofort eine intensive Öffentlichkeitsarbeit ein. Schon gleich nach seinem Amtsantritt suchte er den engen Kontakt zur Presse.408 Ebenso beantragte er umgehend einen Fonds für Publikationen des Kolonialamtes und plante, durch die Ernennung eines „Pressdezernenten“ in der Kolonialabteilung die Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren.409 Mit Dernburg wählte der Kanzler schließlich einen Liberalen aus einem jüdischen Elternhaus. Dementsprechend sah sich Dernburg zunächst dem Spott von antisemitischen konservativen Beamten ausgesetzt, die seine Wahl als eine Kapitulation vor der „jüdischen Presse“ ansahen.410 Dernburgs Ernennung war jedoch ein Signal für einen Neuanfang, das sich an die liberale Medienöffentlichkeit und an den bislang kolonialkritischen Freisinn richtete, um dessen Unterstützung in der Kolonialpolitik zu sichern. Wie sehr Dernburg die neuen normativen Anforderungen an einen Politiker, die sich durch den Skandal um Podbielski ausgebildet hatten, bereits bei seinem Amtsantritt akzeptierte, zeigte sich bereits darin, dass er seine 38 Aufsichtsratssitze niederlegte und seinen gesamten Aktienbesitz verkaufte.411 Tatsächlich leitete Dernburg nach seiner Ernennung sofort eine verstärkte Untersuchung der Skandale und möglicher weiterer Missstände ein. Um der Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu begegnen, sollten in der Kolonialabteilung drei richterliche Beamte die Vorwürfe zusätzlich prüfen.412 In Afrika wurden Zeugenaussagen gesammelt, die häufig die kursierenden Beschuldigungen erhärteten.413 Auch in Berlin machte Dernburg 406 407 408 409 410 411 412 413 Der Vorschlag stammte wohl von Loebell, wie er in seinen unveröffentlichten, 1930 abgeschlossenen Memoiren schreibt, in: BAK, N 1045-27-48. Vgl. Werner Schiefel, Bernhard Dernburg 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland, Zürich 1974. Vgl. etwa mit dem Chefredakteur der Hamburger Nachrichten: 6. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7250: 154; Theodor Wolff an Dernburg 27. 11. 1906, in: BAB/L, 1001: 7253: 56. Dernburg an Bülow 27. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 224; Hamburger Nachrichten Nr. 671, 23. 9. 1906. Aufzeichnung Holstein 29. 4. 1908, in: Geheimen Papiere Bd. 4, S. 472. Schiefel, Dernburg, S. 38. Dernburg an Bülow 14. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 209, Protokoll der Sitzung 13. 9. 1906, in: ebd.: 216 ff. Vgl. etwa Kay Pitter aus Duala: „Ich habe eine Togofrau und habe auf Verlangen des H. v. Brauchitsch, des Herrn Diehl und des Herr Drees ihnen Togofrauen zugeführt. Die drei Frauen haben mit der meinigen in dem Hofgebäude gewohnt“. Protokoll Duala 29. 9. 1906, in: BAB/L, 1001/7252: 12. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 304 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Vorladungen, bei denen sich hohe Kolonialbeamte wie Gouverneur Puttkamer einzeln rechtfertigen mussten.414 Um die öffentliche Debatte zu entschärfen, untersagte Dernburg zugleich den beschuldigten Kolonialbeamten, sich öffentlich zu rechtfertigen.415 Bülow erhielt von Dernburg bereits bis zur Reichstagsdebatte Ende 1906 zahlreiche Berichte über Disziplinarverfahren, zudem entließ Dernburg verschiedene ältere Beamte.416 Die in der Presse vielfach benutzte Metapher, Dernburg miste mit eisernem Besen aus, hatte insofern eine Berechtigung.417 Eine weitere Folge der Skandale war, dass es im Dezember 1906 nach einer langen Reichstagsdebatte zur Ablehnung der Haushaltsmittel für Deutsch-Südwest kam und damit zur Auflösung des Reichstags und zu Neuwahlen. Diese berühmte Reichstagsdebatte war in ganz Deutschland mit Spannung erwartet worden. In zahlreichen Hamburger Kneipen sprachen die Arbeiter bereits vorher darüber, welche Enthüllungen diesmal aufgebracht würden. So sagte ein Gast laut Protokoll: „Gespannt bin ich nur auf die Rede von August [Bebel]. Über die Kolonien hat er schon manches mal ordentlich losgedonnert. Dieses Mal wird er es ihnen aber noch viel dicker [unter] die Nase reiben, denn August hat es von Anfang an mit der Politik in den Kolonien gehabt. Daß nun die Schweinereien da vorgekommen sind, aber ist ja erst recht Wasser auf der Mühle.“418 Im Reichstag war wegen der vorausgegangenen Kolonialskandale die Tribüne gefüllt, unter anderem saß dort der Kronprinz und machte sich Notizen.419 Reichskanzler Bülow hatte angesichts der erwarteten Bedeutung der Debatte seine Rede Monate lang vorbereiten lassen.420 Alle genannten Vorwürfe wurden seit August systematisch erfasst und mögliche neue skandalträchtige Enthüllungen durchgespielt.421 Bülow stilisierte sich in seiner Rede, nicht ganz zu unrecht, selbst als Aufdecker und Reformer, um gegenüber den Skandalisierern nicht in die Defensive zu geraten.422 Um möglichen neuen Vorwürfen Erzbergers begegnen zu können, erfragte Dernburg drei Wochen vor der Debatte von Erzberger eine „Liste derjenigen ‚Fälle‘, welche Ihres Erachtens noch der Untersuchung bedürfen“, und bot ein persönliches Treffen an, um mündlich über seine Nachforschung zu berichten.423 Statt auf Konfrontation setzte die Regierung damit auf die Einbindung des Enthüllers. In der tagelangen Reichstagsdebatte erkannte Erzberger dann tatsächlich Dernburgs Bemühungen an. 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 Kurzprotokoll: 6. 11. und 14. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7252: 22. Aufzeichnung Guenther 16. 11. 1906, in BAB/L, R 43 945: 116. Dernburg an Bülow 4. 10. 1907, in BAB/L, R 43 941: 317 ff.; Dernburg an Bülow Dez. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 271 ff. Vgl. etwa Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 52, 30. 12. 1906. Weitere Artikel mit dem Topoi des „Ausmistens“ in: BAB/L, R 8034 II: 6343. Polizeibericht Schutzmann Ramming, 1. 12. 1906, in: StAH, S 3930-29 Bd. 3. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 49, 9. 12. 1906. Bülow an Hammann 25. 8. 1906, in: BAB/L, N2106/12. Verfügung Rose 10. 8. 1906, in: BAB/L, R 1001- 7249: 118. RT 4. 12. 1906, XI. Leg. Per., II. Sess., 1905/06, 133. Sitzung, Bd. 218, S. 4124 f. Dernburg an Erzberger 12. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7250: 157. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 305 Zur Ablehnung des Haushaltes führte weniger die Empörung über das Massentöten in den Kolonialkriegen – wie bisher in der Literatur argumentiert – als die gebündelte Empörung über die aufgezeigten Skandale von 1906.424 Erzberger sowie insbesondere Roeren und Bebel schilderten in der Reichstagsdebatte Anfang Dezember 1906 erneut ausführlich grausame, korrupte und sexuelle Normbrüche durch die Kolonialveraltung. Neben den bekannten Skandalstoffen berichtete Bebel etwa emotionalisierend, wie 52 Kinder getötet worden seien.425 Beide Seiten setzten in der Debatte abermals auch visuelle Zeichen, um Abgeordnete und Journalisten einzunehmen. Während Roeren einen Knüppel aus der kolonialen Strafpraxis mit zum Rednerpult brachte, untermauerte Dernburg seine nüchterne Sachkenntnis durch aufgetürmte Akten, aus denen heraus er seine neu aufgestellte positive Kolonialbilanz begründete.426 Gleichzeitig gelang es Dernburg, den Zentrumspolitiker Roeren mit dem skandalösen Makel zu behaften, dieser habe mit seinen Enthüllungen die Reichsleitung zu erpressen versucht, um den Willen des Zentrums durchzusetzen, was er mit Auszügen aus internen Akten zu belegen versuchte.427 Der Ankläger Roeren und die Zentrumspartei wurden so selbst als unzuverlässige Elemente gebrandmarkt, die im Einklang mit der SPD das Ansehen der Nation gefährdeten. Die bereits vorher einkalkulierte Reichstagsauflösung war ein weiterer Schritt Bülows, um nach dem Machtgewinn des Reichstags im Zuge der Skandale die eigene Autorität wieder zu stärken. Wie die folgende Wahl verdeutlichte, die unter der Bezeichnung „Hottentottenwahlen“ in die Geschichte einging, hatten die Skandale die moralische Legitimität des Kolonialismus zum beherrschenden Thema gemacht. Die äußerst hohe Wahlbeteiligung belegte, wie sehr die Skandale die Politisierung der Gesellschaft gefördert hatten. Beide Seiten begründeten im Wahlkampf ihre Position mit emotionalisierenden Narrativen. So warf ein Wahlkampf-Flugblatt der Rechten dem Zentrum und der SPD vor, aus Parteiegoismus nicht die europäischen Siedler zu unterstützen, obgleich die Afrikaner „unsere Krieger auf das scheußlichste mißhandelten, sie bei lebendigem Leibe verstümmelten. Den Halbtoten das Genick umdrehten, weißen Frauen in viehischer Weise Gewalt antaten und unschuldigen Kindern den Kopf an Türpfosten zerschmetterten.“428 Die Reichsleitung förderte diese Ausgrenzung des Zentrums aus dem 424 425 426 427 428 Ohne Berücksichtigung der Skandale, sondern lediglich mit Verweis auf die Kolonialkrieg argumentiert etwa: Winfried Becker, Kulturkampf als Vorwand: Die Kolonialwahlen von 1907 und das Problem der Parlamentarisierung des Reiches, in: Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 59–84. Vgl. bes. RT 3./4. 12. 1906, Sten. Ber., 132. Sitzung, S. 4089. RT 3./4. 12. 1906, Bd. 132. Sitzung, S. 4089. Zu Dernburgs Akten: Kölnische Zeitung Nr. 1294, 4. 12. 1906. Inwieweit dies zutraf, ist nicht klar zu ermitteln, da Roeren die Richtigkeit des Gesprächsprotokolls bestritt; Hinweise auch in: Schiefel, Dernburg, S. 52 f. Zit. nach: Frank Mergenthal, „Ohne Püffe und Knüffe geht es da nicht ab“. Die „Hottentottenwahlen“ 1907 im Regierungsbezirk Düsseldorf, Siegburg 1995, S. 183. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 306 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Kreis der national zuverlässigen Parteien, indem das Staatsministerium offiziell die Beamtenschaft anweisen ließ, „die Kolonialpolitik zur Wahlparole zu machen“ und sich dabei gegen die SPD, je nach regionaler Konstellation aber auch gegen das Zentrum zu richten.429 Ähnlich argumentierte Bülows Wahlbrief.430 Die Überbringer der schlechten Nachrichten wurden damit für deren Konsequenzen verantwortlich gemacht. Dass sich der „Bülow-Block“ aus Konservativen und Liberalen gegenüber dem Zentrum behaupten konnte, lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass nicht nur der Freisinn, sondern auch Bülow selbst nach den Skandalen für Reformen eingetreten war. Dass die Sozialdemokraten hingegen zahlreiche Sitze verloren, war vornehmlich dem Wahlsystem und den Wahlabsprachen geschuldet.431 Dennoch hatte der Wahlkampf einen Stimmungsumschwung eingeleitet, der mit imperialer Euphorie einen kolonialen Neubeginn einforderte. Die Reichstagsauflösung und der Wahlkampf hatten so den Charakter eines Reinigungsrituals. Die Bedeutung des neuen Kolonialstaatssekretärs Dernburg war dabei kaum zu überschätzen. Er erschien im nationalen Lager schon unmittelbar nach der Reichstagsdebatte wie eine Erlösergestalt, auf die sich alle Hoffnungen richteten. Unmittelbar nach seiner Rede gegen den Zentrumspolitiker Roeren erhielt er hunderte Telegramme und Briefe von Stammtischen, Vereinen, Journalisten und Einzelpersonen aus der Bevölkerung, die ihn mit oft antikatholischem Unterton priesen. Neben Gedichten, Büchern oder Bildern bekam Dernburg zahllose Interview-Anfragen, Einladungen zu Ferienurlauben in Hotels, die Bitte eines Hamburger Zigarren-Hersteller, seine Zigarren nach ihm benennen zu dürfen, und ein Verlag bat, Ansichtskarten mit seinem Bild verkaufen zu dürfen. Auch eher antisemitische Massenvereine beglückwünschten ihn jetzt euphorisch.432 Dernburg setzte zugleich seine intensive Öffentlichkeitsarbeit fort, um nach den Skandalen dem Kolonialamt den Nimbus der Misswirtschaft zu nehmen und für den Kolonialismus insgesamt zu werben. Um das Image der Kolonien zu verbessern, wurde bereits im Mai 1907 eine Kolonialausstellung eröffnet, bei der „Afrikanische Schönheiten“ (so die Berliner Illustrirte Zeitung) und Kriegsspiele zu sehen waren.433 Dernburgs umfassende Medienpräsenz reichte von Interviews bis zum Titelfoto auf der Berliner Illustrirte Zeitung, mit der Unterschrift „Der erste Mann der neuen Ära: Bernhard Dernburg, der neue Leiter des Kolonialamtes.“434 Ebenso reiste er mit Reden durch das Land, die für die 429 430 431 432 433 434 Staatsministerium 17. 12. 1906, in: GStA, Rep 90 Bd. 153. Erklärung Bülow in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung 3. 1. 1907. Absolut gewann die SPD über 200 000 Stimmen dazu, durch die höhere Wahlbeteiligung sank ihr prozentualer Anteil aber von 31,7 Prozent auf 28,7. Vgl. die zahllosen Zuschriften in: BAK, N 1130-12, 13 und 14. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 21, 26. 5. 1907. Zur Ausstellung vgl. Ulrich van der Heyden, Die Kolonial- und die Transvaal-Ausstellung 1896/97, in: ders. und Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 135–142. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 37, 16. 9. 1906. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 307 Kolonien warben und damit die Seiten der lokalen Generalanzeiger füllten.435 Im Juli 1907 fuhr Dernburg nicht nur medienwirksam persönlich nach Afrika, um sich ein eigenes Bild über die dortigen Zustände zu machen, sondern er nahm auf seine Reise neben Wirtschaftsvertretern auch sieben Journalisten und einen Fotografen mit. In Afrika setzte sich Dernburg für die mitreisenden Journalisten vielfältig in Szene, was die Medialisierung der Kolonialpolitik durch die Skandale unterstrich.436 Diese Öffentlichkeitsarbeit ging 1907 mit einer Ausgrenzung derjenigen einher, die die Missstände aufgedeckt hatten. Die Beamten, die die Vorwürfe an die Abgeordneten weitergeleitet hatten, erhielten zur Abschreckung Haftstrafen wegen Verletzung des sogenannten „Arnim-Paragraphen“, der die Veröffentlichung von Amtsgeheimnissen im Auswärtigen Amt bestrafte.437 Die Regierung versuchte zudem die beteiligten Zentrumsabgeordneten weiter zu diskreditieren. So leitete die Reichskanzlei interne Gesprächsaufzeichnungen über ihre Treffen mit Erzberger an die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung weiter, um ihn als erpresserischen Verteidiger von querulantischen Beamten darzustellen.438 Erzberger wies diese Beschuldigung zwar zurück, geriet aber im Reichstag und in der breiteren Öffentlichkeit deutlich in die Defensive, da sich nun auch die linksliberale Presse gegen ihn stellte.439 Ebenso versuchte Dernburg, gegen die publizistische Aktivität von Erzberger zu klagen. Er bat den Reichskanzler um die Genehmigung, gegen Blätter einzuschreiten, die die Schutztruppen schlecht machten, und verwies besonders auf ein kleines Blatt aus Erzbergers Heimatort Biberach, in dem dieser entsprechende Artikel veröffentlichte. Die Reichskanzlei bestätigte dies mit den Worten: „Es würde endlich auch von politischer Bedeutung sein, wenn eine Verurteilung – namentlich des Abg. Erzberger – erfolgte.“440 Ebenso strebte der Justizminister ein Disziplinarverfahren gegen den Zentrumsabgeordneten Roeren wegen Beleidigung und Eingriff in ein schwebendes Disziplinarverfahren an.441 Auch wenn die Immunität die Abgeordneten schützte, förderten derartige Kampagnen doch einen gewissen Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Die rechten, aber auch die liberalen Medien griffen dies begierig auf und sprachen vom „Fall Roeren“ und vom „skandalösen öffentlichen Vorbringens von Skandalaffären“.442 Auch ein libe435 436 437 438 439 440 441 442 Vgl. etwa Münchner Neueste Nachrichten Nr. 14, 9. 1. 1907 u. Nr. 20, 12. 1. 1907. Zahlreiche Artikel zu den Vorträgen in: BAB/L, R 8034 II. 6342 Als Buchform erschienen die Berichte von: Adolf Zimmermann, Mit Dernburg nach Ostafrika, Berlin 1908. Die Zeitungen warben sogar mit diesen Reiseberichten; vgl. die Anzeige „Mit Dernburg in Ost-Afrika“ Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 34, 1907. Zum Prozess gegen Poeplau vgl. Berliner Tageblatt 5. 6. 1907. Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 41, 17. 2. 1907. Vgl. im Reichstag die Debatte: Erzberger RT Sten. Ber. 10 Sitzung 5. 3. 1907, S. 244, Loebell, ebd., S. 247 ff. Kritische Zeitungsausschnitte (wie Berliner Tageblatt 3. 3. 1907) in: BAK, N 1045:16. Dernburg an Bülow, 20. 12. 1906, in: BAB/K, R 43/798: 30ff; Guenther an Dernburg 7. 12. 1907, in: RA, R 43/798: 36. Loebell 19. 12. 1906, in BAB/K, R 43 945: 156. Vgl. Deutsche Tageszeitung Nr. 571, 6. 12. 1906; Deutsche Zeitung Nr. 288, 9. 12. 1906. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 308 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale rales Blatt wie die Münchner Neuesten Nachrichten verurteilte die neue „üble Sitte“, „geheime amtliche Dokumente, die nur durch Vertrauensbruch auf die Schreibtische der Redakteure fliegen konnten, zu veröffentlichen.“443 Wie bei vielen Skandalen erschien nun die Offenlegung der Missstände als eigentlicher Skandal. Man wird den Folgen der Kolonialskandale dennoch nicht gerecht, wenn man sie auf diese Gegenkampagnen reduziert. Moralisch legitimierbar war die Kolonialeuphorie nur durch den Vorsatz, einen kolonialpolitischen Neuanfang einzuleiten. Tatsächlich führten die Skandale zu einer Reformphase, die über die bereits skizzierten Entlassungen und Wirtschaftsreformen hinausreichten. Insgesamt gesehen kam es seit 1907 zu einer kolonialen Reformära unter Ausschluss des Zentrums, obwohl gerade diese Partei die Reformen gefordert hatte.444 Strukturell schlug sich dieser Neuanfang in der Gründung eines eigenständigen Kolonialamtes nieder, das direkt dem Reichskanzler (und nicht mehr dem Auswärtigen Amt) unterstellt war.445 Ebenso förderte Dernburg die Einrichtung eines an das Reich angelehnten Pressegesetzes in den Kolonien.446 Zudem bemühte sich die Kolonialverwaltung erneut um die Eindämmung der grausamen Bestrafung in den Kolonien. So regte Dernburg 1907 unter ausdrücklichem Verweis auf die Kritik im Reichstag eine Modifikation der Prügelstrafe an und regelte in einer Verfügung vom Juli 1907 die körperliche Züchtigung.447 Körperlichen Strafen musste nun ein Prozess vorausgehen, ihre Durchführung war zu protokollieren und das Verlaufsprotokoll war dem Gouverneur vorzulegen. Die koloniale Rechtsprechung wurde dadurch professionalisiert, dass seit 1908 die Anwärter für das Kolonialrichteramt im Reich eine theoretische Ausbildung erhielten. Für eine bessere Ausbildung künftiger Kolonialbeamter sollte die Gründung des Hamburger Kolonialinstituts sorgen, an dem diese zumindest eine einjährige Ausbildung erhielten.448 Großbritannien diente bei diesen Reformen teilweise als Vorbild. Besonders Dernburg bemühte sich um Anregungen aus dem britischen Empire. So schickte er bei der Reform des Strafsystems Legationsrat von Jacobs 1907 im amtlichen Auftrag nach London und Paris, um Erkundigungen über das dortige „Eingeborenenrecht“ einzuholen.449 Dernburg selbst reiste 1907 und 1908 in die britischen Kolonien in Ost- und Südafrika, um von den dortigen Erfah443 444 445 446 447 448 449 Münchner Neueste Nachrichten Nr. 489, 19. 10. 1906. Vgl. zu dieser Zäsur, die in der Literatur vielfältig betont wird, etwa: Henderson, German Colonial Empire, S. 98; Gründer, Geschichte, S. 241 f. Vgl. die Selbstdarstellung in: Reichs-Anzeiger Nr. 119, 18. 5. 1907, in: BAK, R 1001-5629. Entwurf in Schreiben Gouverneur Deutsch-Ostafrika 16. 10. 1906, in: BAB/L, R1001-469623. Schröder, Prügelstrafe, S. 87 f. Vgl. Thomas Kopp, Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts, in: Voigt und Sack, Kolonisierung, S. 71–94, S. 75; Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005, S. 49. Harald Sippel, Typische Ausprägungen, S. 354. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 309 rungen zu lernen. Vor seiner Reise ins britische Südafrika 1908, wo er sich immerhin sechs Wochen aufhielt, machte er in London einen einwöchigen Zwischenstopp, um unter anderem mit Kolonialminister Crewe, Handelminister Churchill und König Edward VII. über die britischen Kolonien zu sprechen. Zumindest punktuell lassen sich direkte Übernahmen englischer Verwaltungstechniken ausmachen, wie bei der Einrichtung einer zentralen „Beschaffungsstelle für die Schutzgebiete“, die den Wettbewerb verschärfen sollte.450 Inwieweit die Reformeuphorie nach den Skandalen allerdings im kolonialen Alltag griff, ist schwer zu beurteilen, zumal sich die Praktiken, Rechte und Normen in den einzelnen Kolonien deutlich unterschieden. In Kamerun bemühte sich anscheinend Puttkamers Nachfolger, Gouverneur Theodor Seitz, trotz militärischer Auseinandersetzungen und fortgesetzter Ausbeutung der Einheimischen die alltägliche Gewalt einzugrenzen und die Afrikaner an der Verwaltung zu beteiligen.451 In Deutsch-Südwestafrika folgte dagegen den Kolonialkriegen eine drastische Eingrenzung der Eingeborenenrechte.452 Die statistisch erfassten Prügelstrafen stiegen in den folgenden Jahren ebenso wie die Verurteilungen.453 Auch wenn die Todesurteile dafür sanken, kam es nicht andeutungsweise zu einer rechtlichen Gleichbehandlung mit den Europäern. Dass weitere vergleichbare Skandale und Aufstände jedoch nach 1907 in den deutschen Kolonien ausblieben, wurde in der Öffentlichkeit auf eine insgesamt humanere Praxis zurückgeführt.454 Wie ambivalent die Folgen der Skandale sein konnten, zeigten besonders die Skandale, die die sexuellen Beziehungen zwischen Kolonialisten und Afrikanerinnen offen gelegt hatten. Wie in den 1890er Jahre führten sie zu einer öffentlichen Debatte über die Zulässigkeit von Konkubinaten und „Mischehen.“ Um zumindest den besonders anstößigen sexuellen Verkehr mit Mädchen unter 14 Jahren einzudämmen, verbot ein Erlass der Kolonialabteilung 1907 die „Aufnahme unerwachsener weiblicher Eingeborener“ in den Hausstand von unverheirateten Beamten.455 Neben dem erneuten Vorschlag, deutsche Frauen nach Afrika zu verschiffen, wurde die Einrichtung von Bordellen mit weißen Prostituierten angeregt, um auch Geschlechtskrankheiten zu kontrollieren.456 Ab 1905/06 nahmen Verordnungen zu, die Ehen zwischen Deutschen und Afrikanern in einzelnen Kolonien untersagten und mit Sanktionen belegten. Obgleich ihre Zahl 450 451 452 453 454 455 456 Schiefel, Dernburg, S. 73 f. u. 198. So Hausen, Kamerun, S. 252–255. Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 45–63; vgl. etwa die Verordnung Deutsch-Südwestafrika 18. 8. 1907, abgedr. in: Gründer (Hrsg.), „... da und dort ein junges Deutschland gründen“, S. 154 f. Walz, Entwicklung, S. 201; Hausen, Kamerun, S. 173, Helmuth Stoecker (Hrsg.), Drang nach Afrika. Die deutsche Expansionspolitik und Herrschaft in Afrika von den Anfängen bis zum Verlust der Kolonien, Berlin 1991 (2. überarb. Aufl.). Berliner Tageblatt Nr. 424, 22. 8. 1910. Erbar, „Ein Platz an der Sonne“, S. 261. Letztere Hinweise für 1908 in: Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 222. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 310 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale verschwindend gering war, diskutierte auch der Reichstag ein entsprechendes Verbot, das schließlich 1912 am Zentrum scheiterte.457 Obwohl sich diese Diskussion aus der stark rassistischen Rechtsauffassung und den Kriegen in den deutschen Kolonien erklärte, hatten doch die Skandale erneut die Vorstellung verbreitet, die Deutschen würden zahllose sexuelle Beziehungen zu Afrikanerinnen unterhalten und deshalb „verwildern“, weshalb entsprechende Gesetze notwendig seien. Die Skandale förderten insofern eben nicht nur eine koloniale Liberalisierung, sondern zugleich auch eine rassistische Verschärfung. Im Vergleich zu den Kolonialskandalen der 1890er Jahre lässt sich weniger eindeutig ausmachen, inwieweit die Skandale von 1906 die Vorstellungen über die Kolonialisten und die afrikanischen Einheimischen verschoben. Die entworfenen Zuschreibungen waren vielmehr oft gegenläufig. Auffällig war jedoch, dass die Stereotype des grausamen und des gequälten Afrikaners um das Bild des kultivierten „Negers“ ergänzt wurden, für das der Kameruner Prinz Akwa stand. Der Kameruner Misswirtschaft unter Gouverneur Puttkamer wurden Berichte über Akwa gegenüber gestellt, der in Deutschland das Anliegen der Afrikaner vertrat. Akwa, der in Deutschland erzogen worden war und in katholischen Adelskreisen verkehrte, wurde in der Massenpresse wie ein kultivierter Gelehrter mit Anzug und Büchern präsentiert; „er kleidet sich elegant und führt eine anregende Konversation“, schrieb etwa der eher konservative Berliner Lokal-Anzeiger.458 Freilich war diese Form der Konversion umstritten. Maximilian Harden sprach von „Destillen-Akwa“ und spottete, Akwa sehe aus „wie jeder andere im Faulenzen fett gewordene Negerlümmel“.459 Die Ambivalenz der kursierenden Afrikabilder zeigte besonders der Bildhaushalt der Berliner Illustrirten Zeitung von 1906/07. Neben zahlreichen Fotos von deutschen Kolonialisten bei der Jagd und „südwestafrikanischen Schönheiten“460 erschienen auch Bilder von abgemagerten gefangenen Hereros und gefolterten Bewohnern der belgischen Kongo-Republik.461 Die Kolonialskandale hatten zu einer Polarisierung der öffentlichen Deutungen geführt, und das Berliner Massenblatt versuchte diese gleichzeitig zu bedienen. 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern Eine ähnliche Lesart wie für die Kolonialskandale bietet sich an, um die berühmte Zabern-Affäre zu interpretieren, die sich 1913 aus dem „Reichsland“ Elsaß-Lothringen heraus zu einem zentralen Skandal des Kaiserreiches ent- 457 458 459 460 461 Vgl. Wildenthal, German Women, S. 98 f. u. 107; Essner, Zwischen Vernunft, S. 503–519. Berliner Lokal-Anzeiger 25. 3. 1906; ähnlich: Frankfurt Zeitung Nr. 64, 6. 3. 1906. Harden, Puttkamer, Die Zukunft 31. 3. 1906, S. 473–482, ebd. 16. 6. 1906, S. 396. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 30, 29. 6. 1906; Nr. 5, 3. 2. 1907; Nr. 9, 3. 3. 1907; Nr. 47, 24. 11. 1907. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 4, 27. 1. 1907 u. Nr. 21, 26. 5. 1907. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 311 wickelte. Zumindest verhandelte auch dieser Skandal die Verhaltensgrenzen für deutsche Beamte und Militärs in einem annektierten Gebiet. Machtmissbrauch, Gewaltwillkür und die Verletzung der Ehre gegenüber den Einheimischen gaben ebenfalls den Anstoß für eine breite öffentliche Empörung. Die Interaktion zwischen der peripheren Öffentlichkeit im elsässischen Zabern und der reichsweiten Öffentlichkeit bildete eine weitere Parallele. Und auch hier überführte der Skandal eine Gewalttat fern von Berlin in eine grundsätzliche gesellschaftliche Debatte, wobei er insbesondere die Stellung der Zivilverwaltung gegenüber dem Militär verhandelte. Natürlich war Elsaß-Lothringen keine Kolonie. Die Diskriminierung der Elsässer entsprach nicht dem Rassismus gegenüber Afrikanern, und die Selbstlegitimierung der deutschen Besatzer betonte gerade die aus dem Mittelalter stammenden deutschen Wurzeln des Landes. Allerdings war Elsaß-Lothringen, nachdem es 1871 gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit aus strategischen, ökonomischen und nationalistischen Gründen annektiert worden war, auch kein normaler Bundesstaat, sondern als „Reichsland“ unmittelbar dem Kaiser unterstellt. Seit 1879 verwaltete es ein vom Kaiser ernannter Statthalter wie eine „Kronkolonie“ (W. J. Mommsen), unter Mitwirkung eines nicht gewählten und kaum für die Bevölkerung repräsentativen „Landesausschusses“.462 Erst 1902 wurde der „Diktaturparagraph“ aufgehoben, der der Zivilverwaltung Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und eine Pressezensur ermöglichte. 1911 bekam Elsaß-Lothringen zwar endlich eine Verfassung, wurde aber weiterhin von einem vom Kaiser ernannten Statthalter geleitet und erhielt neben einer gewählten Kammer eine weitere Kammer, in der Honoratioren und vom Kaiser ausgesuchten Persönlichkeiten. Die nun zulässigen Wahlen verstärkten die Politisierung und parteipolitische Formierung der Gesellschaft, zumal die vollen Rechte eines Bundesstaates verwehrt blieben. Insofern waren Spannungen nicht allein durch die Annexion selbst, sondern auch durch die politische Praxis zwischen der einheimischen Bevölkerung und den deutschen Beamten und Militärs vorprogrammiert. Kolonial geprägt war auch die Wahrnehmung der zugewanderten Beamten, die vielfach koloniale Begriffe wie „Eingeborene“ benutzten. Dagegen reagierte die Bevölkerung auf die „Fremdherrschaft“ mit vielfachem symbolischem Protest und einer Trennung der Lebenswelten im Alltag.463 Diese Spannungen entluden sich in der Zabern-Affäre, die neben dem Eulenburg-Skandal und der Daily-Telegraph-Affäre sicherlich der bis heute bekannteste Skandal des Kaiserreiches ist.464 An ihm lässt sich die Interaktion 462 463 464 Mommsen, Bürgerstolz, S. 395. Zu diesem kolonialen Blick und dessen Grenzen vgl.: Günter Riederer: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004, bes. S. 410–414 u. 424 f. Der Ereignisablauf des Skandals braucht deshalb nicht erneut breit ausgeführt werden, da ihn selbst Überblicksdarstellungen skizzieren; vgl. etwa: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1125–1129; Mommsen, Bürgerstolz, S. 440–445; Volker Ullrich, Als der Thron ins Wanken kam. Das Ende des Hohenzollernreiches 1890–1918, Bremen 1993, S. 65–85; Stöber, Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 312 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale zwischen Medien und Politik als auch die Aushandlung der Grenzen militärischer Machtausübung ausmachen. Ausgelöst wurde der Skandal durch die Presse. Am 6. November 1913 berichteten zwei elsässische Zeitungen, Leutnant Günter Freiherr von Forstner vom dortigen Infanterie-Regiment hätte in einer Instruktionsstunde seinen Rekruten gesagt: „Wenn Du einen ‚Elsässer-Wackes‘ zusammenschießt, erhältst Du keine 2 Monate, für jeden Dreckswackes den Du mir bringst, erhältst Du 10 M.“465 Die Zeitungsredaktion hatte dies von drei Rekruten erfahren. Die sozialdemokratische Freie Presse für Elsaß-Lothringen titelte schon einen Tag nach den ersten Berichten ironisch „Schießt die ‚Wackes‘ zusammen“.466 Die offiziell ermittelte Version des Ausspruches, die der Statthalter in seiner Untersuchung ausmachte, war allerdings nicht minder diskreditierend, auch wenn sich der Leutnant angeblich nur auf Notwehr bezogen hatte („Wenn Sie aber angegriffen werden, dann machen Sie von Ihrer Waffe Gebrauch. Wenn Sie dabei so einen Wackes niederstechen, dann bekommen Sie von mir noch 10 M.“).467 Der Statthalter setzte sich beim Militär vergeblich für die Versetzung des Leutnants ein, so dass dieser nach nur wenigen Tagen Hausarrest wieder die Stadt betrat, begleitet von einer Eskorte. Menschenmengen folgten und verspotteten ihn. Die Empörung und Protestversammlungen gegen die Offiziere, die die Zeitungsmeldungen auslösten, beantwortete das Militär mit harten und willkürlichen Maßnahmen, die weitere empörte Zeitungsberichte und Unruhen in der Bevölkerung nach sich zogen. So hieb Leutnant von Forstner mit seinem Säbel auf einen halbgelähmten 19jährigen Schuster ein, der in einer weglaufenden Gruppe übrig blieb. Zahlreiche Verhaftungen erfolgten wegen Gelächter und Versammlungen. Auf einen spöttischen Zuruf von Jugendlichen hin ließ der örtliche Regimentskommandeur Oberst von Reuter recht willkürlich Personen festnehmen und über Nacht in einen Kohlenkeller bringen. Zu den wahllos Festgenommenen zählten ein Landgerichtsrat, ein Staatsanwalt, ein Rechtsanwalt und ein Redakteur.468 Zudem durchsuchten seine 465 466 467 468 Pressepolitik, S. 174–179. Eine aktenfundierte ausführliche Darstellung bietet: David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982. Den Ereignisablauf schildert erneut ohne Archivquellen, mit einer einleitenden Schuldzuweisung an die „Junker“: Richard W. Mackey: The Zabern Affair, 1913–1914, Lanham 1991. Aus preußischkonservativer Sicht über den „Einzelfall“ bereits: Erwin Schenk, Der Fall Zabern, Stuttgart 1927. Die Affäre führte frühzeitig zu politisch kontroversen Interpretationen des Kaiserreiches, die etwa die hier manifestierte Dominanz des Militärs betonte: Hans-Ulrich Wehler, Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfassungskrise des Wilhelminischen Deutschlands, in: Die Welt als Geschichte 23 (1963), S. 27–46; vom Hauptargument ähnlich, aber aus marxistischer Perspektive: Kurt Stenkewitz, Gegen Bajonett und Dividende. Die politische Krise in Deutschland am Vorabend des ersten Weltkrieges, Berlin (Ost) 1960, S. 125–140. Die Artikel aus der zentrumsnahen „Elsässer Presse“ und dem liberalen „Zaberner Anzeiger“ vom 6. 11. 1913, die in den meisten Darstellungen falsch zitiert werden, finden sich in: BAB/L, R 43-170. Sozialdemokratische Freie Presse 7. 11. 1913; vgl. Presseausschnitte in: BAB/L, R 43-170. Bericht Wedel an Bethmann 16. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170. Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 313 Truppen Zeitungsredaktionen. Auch der in der Presse übermittelte Ausspruch des Leutnants, sie könnten „auf die französische Fahne scheißen“, verstärkte die Empörung in Elsaß-Lothringen und innerhalb weniger Tage auch im gesamten Reich. Der Zusammenhang zwischen den lokalen Verhaltensweisen, den Medienberichten und den kollektiven Emotionen ist somit unübersehbar. Die Presse übertrug diese Empörung aus dem Elsaß weltweit. Nachdem französische Zeitungen wie Le Matin hierüber berichtet hatten, gingen die Meldungen über die Nachrichtenagentur WTB in die Presse des Kaiserreiches und die internationalen Zeitungen.469 Der Stellenwert der Ereignisse war den Journalisten zunächst noch unklar. Das gut informierte Berliner Tageblatt übernahm anfangs nur eine kurze Meldung aus der Straßburger Post, und selbst der Vorwärts startete seine ersten Berichte erst fünf Tage später mit einer knappen Meldung, die auf dem offiziösen Wolff’schen Telegraphenbureau beruhte.470 Das Berliner Tageblatt sandte dennoch einen Tag nach den ersten Artikeln einen eigenen Korrespondenten nach Zabern, der über das geringe Vertrauen in die offiziösen Meldungen berichtete, aber eine Beruhigung annahm.471 Erst in den folgenden Tagen, mit der Eskalation der Gewalt, entwickelte sich Zabern zu einem Medienereignis, das über Wochen die ersten Seiten mit Berichten über die „Militärdiktatur“ füllte, wegen der es überall zu einer „leidenschaftlichen Erregung“ komme. Abermals sorgte die Verhandlung des Skandals im Reichstag dafür, dass auch die medial vermittelten Emotionen besonders intensiv wurden und der Skandal seinen Zenit in der Medienöffentlichkeit erreichte. Insbesondere der Vorwärts dramatisierte die Ereignisse als „Anfang der Revolution von oben“, die ins Altreich übergreifen werde: „Was gestern in Zabern möglich war, soll morgen im Ruhrgebiet und übermorgen in Berlin möglich sein: dass konfliktlüsterne Kriegsknechte mit souveräner Handbewegung die Zivilbehörden beiseite schieben und ein schrankenloses Säbelregiment errichten.“472 Von den Medien verlagerte sich die Empörung auch auf die Straße. So organisierte die SPD allein am 7. Dezember 1913 17 Protestversammlungen, bei denen nach eigenen Angaben 50 000 Leute kamen, weitere sollten folgen.473 Ebenso hielten zahlreiche liberale Vereinigungen im Land Versammlungen ab und veröffentlichten Protestnoten.474 Nachdem die reichsweite Bedeutung des Skandals deutlich wurde, reisten zahlreiche Journalisten nach Zabern, um eigene Eindrücke zu übermitteln. Dabei zeigte sich, welches kritisches Potential das Aufkommen von Korrespon469 470 471 472 473 474 Die ersten Meldungen der Times bauen etwa auf dem WTB auf; Times 11. 11. 1913, S. 7; vgl. Schoenbaum, Zabern, S. 99 u. 113. Die ersten Meldungen dieser Zeitungen waren: Berliner Tageblatt 10. 11. 1913, S. 3; Vorwärts 11. 11. 1913, S. 2. Berliner Tageblatt 11. 11. 1913, S. 3. Vorwärts Nr. 323, 8. 12. 1913, S. 1. Ebd. Der Aufruf im Vorwärts hatte die Titelüberschrift: „Massen heraus! Auf zum Protest gegen die Säbelherrschaft! Nieder mit der Militärdiktatur!“ ; ebd., 7. 12. 1913. Berliner Tageblatt Nr. 617, 5. 12. 1913, S. 2 u. Nr. 619, 6. 12. 1913, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 314 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale dentenreportagen besaß. So gab der Korrespondent der nationalliberalen National-Zeitung Impressionen über eine verängstigte Stadt und Soldaten, die mit aufgepflanzten Bajonetten durch die Straße zögen.475 Der Korrespondent des Vorwärts verfasste eine Reportage, die bereits die Anfahrt als einen Weg in ein Kriegsgebiet schilderte, während er Zabern selbst als „Kriegsschauplatz“ bezeichnete.476 Sogar der Korrespondent der offiziösen Nachrichtenagentur WTB berichtete explizit über das willkürliche Eindringen der Soldaten in Wohnungen unter Eintreten von Türen.477 Auch wenn der WTB-Korrespondent bei anderen Berichten die Offiziere eher in Schutz nahm,478 zeigte dies, dass die Journalisten vor Ort nicht einfach parteipolitischen Richtlinien folgten. Während nationalliberale Abgeordnete das Verhalten des Militärs verteidigten, eröffneten die Berichte ihres Parteiorgans andere Deutungen. Die Wirkungsmacht der Presse wurde in dem Skandal nicht nur von der Linken und der Mitte hoch eingeschätzt, die deren aufklärende Rolle hervorhoben, sondern auch von der Rechten. Staatsführung, Militär und Justiz beschuldigten die Zeitungen, die Massen durch aufgeblähte Halbwahrheiten erregt zu haben. Kaiser Wilhelm II. machte „zu 75%“ die Presse verantwortlich, ebenso entschuldigte das Gericht das Verhalten der Offiziere mit den „Hetzereien in der Presse“, und General Falkenhayn sprach im Reichstag von „hetzerischen Preßorganen“, was einen empörten Tumult auslöste.479 Allen Deutungen von links bis rechts war damit gemein, dass sie den Zeitungen eine entscheidende politische Macht zuschrieben. Der Skandal verhandelte mehrere Konflikte. Zunächst war er eine Auseinandersetzung über das Ansehen der Einheimischen des „Reichslandes“ in den Augen der Deutschen. Dieser kulturelle Konflikt verdichtete sich in dem Begriff „Wackes“, mit dem der Leutnant die Elsässer beschimpft hatte, weshalb die Berliner Zeitungen auch häufig von der „Wackes-Affäre“ sprachen.480 Wie auch der Statthalter dem Reichskanzler erklärte, war das Wort „Wackes“ ein unter Rekruten gebräuchlicher Spottbegriff für Elsässer, der eigentlich „Vagabund“ und „Nichtnutz“ bedeutete.481 Seine Verwendung war zwar in der Armee untersagt482, aber wie die Presse feststellte, war dieses Wort in den letzten Jahrzehnten „hunderttausendmal“ gefallen. Die lokalen Zeitungen und die internen Ermittlungen des Statthalters vermerkten sogar, dass sich Elsässer Rekruten mit den 475 476 477 478 479 480 481 482 National-Zeitung o. D. in: BAB/L, R 43-170. Vorwärts 4. 12. 1913, S. 2; 1. 12. 1913. Bericht WTB 29. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. So erklärte das WTB dem Statthalter zufolge die Festnahme eines Schumachers durch Leutnant Forstner, weil er sich auf ihn gestürzt „habe“, während Forstner selbst nur aussagte, dieser „wollte“ sich auf ihn stürzen; Wedel an Bethmann 2. 12. 1913, in: BAB/L, R 43-170. RT 181. Sitzung, 3. 12. 1913, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6158; Urteil Kriegsgerichtsrat 10. 1. 1914, in: BAB/L R43-172; Der Hinweis auf Wilhelm II. in: Schoenbaum, Zabern, S. 121. Vgl. etwa Vorwärts 29. 11. 1913 u. 12. 12. 1913. Bericht Wedel an Bethmann 16. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170. RT 3. 12. 1913, 181. Sitz, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6140. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 315 Worten „ich bin ein Wackes“ bei besagtem Leutnant melden mussten.483 Damit handelte es sich um einen klassischen Begriff des „Othering“, der eine Bevölkerungsgruppe abwertete, um die eigene Dominanz herauszustellen. Diese verbale Herabsetzung erleichterte und legitimierte zugleich den Einsatz einer maßlosen Gewaltrhetorik und -praxis, was erneut an die Kolonialskandale erinnerte, auch wenn die Repression im Elsaß keine Todesopfer forderte. Im Skandal wurde mit der Zulässigkeit des Begriffes „Wackes“ der Status der Elsässer austariert. So riefen die protestierenden Elsässer „wir sind keine Wackes“ und beschimpften die deutschen Soldaten ebenfalls; angeblich etwa mit Worten wie „Dreckschweine, dreckige Hunde, Sauschwaben, Schwobesäckel“.484 Angesichts der Unruhen setzte sich sogar der Statthalter von ElsaßLothringen beim Reichskanzler und dann auch beim Kaiser dafür ein, den Begriff „Wackes“ in allen Garnisonen zu verbieten.485 Zahlreiche Konservative sahen dies jedoch anders. Kriegsminister Falkenhayn sprach sich dagegen aus, weil dann nur neue Schimpfwörter aufkommen würden.486 Dass die Elsässer im Reich mit kolonialer Herrenattitüde abgewertet wurden, machten selbst nach Ausbruch des Skandals zahlreiche Äußerungen deutlich. Der nationalliberale Abgeordnete Röchling bezeichnete die Elsässer als „Eingeborene“487, und der Berliner Polizeipräsident verlangte mehr öffentliche Unterstützung „gegenüber dieser Wackesbevölkerung, der ich lieblose Behandlung wünsche“.488 Vermutlich ein indiskreter Telegrafenbeamter veröffentlichte den Kommentar des Kronprinzen, der den beschuldigten Oberst Reuter mit einem „immer feste druff“ zum gewaltsamen Vorgehen gegen die „Unverschämtheit des Zaberner Plebs“ und die „Eingeborenen“ ermunterte.489 Gerade diese brachiale Abwertung aus dem Mund des Thronfolgers, die an seinen Vater erinnerte, schürte die Empörung weiter. Als im Elsaß kurze Zeit später ein betrunkener Oberveterinär die Einheimischen mit „Wackes“ beschimpfte und grundlos auf die Gäste einschlug, ließen sich die Journalisten von Berichten hierüber nur mit dem Versprechen abhalten, dass die Garnison verlegt würde.490 Die massiven Proteste der Elsässer im Zuge des Skandals machten somit deutlich, dass sie weder eine verbale noch eine körperliche Herabsetzung durch die Deutschen hinzunehmen bereit waren. 483 484 485 486 487 488 489 490 Bericht Wedel an Bethmann 23. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170. Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat 13. 1. 1914, in: BAB/L, R43-172. Wedel an Bethmann 23. 11. 1913, in: BAB/L R 43-170 u. Wedel an Wilhelm II 7. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171. Falkenhayn an Bethmann 2. 12. 1913, in: BAB/L, R 43-170. Zu Falkenhayns Positionierung in dem Skandal vgl. Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, S. 115–125, hier S. 120. Preußisches Abgeordnetenhaus, 2. Sitzung, 13. 1. 1914, S. 116. Polizeipräsident Berlin an Wahnschaffe (Unterstaatssekretär Reichskanzlei) 2. 12. 1913, in: BAB/L, R43-170. Valentini an Bethmann 29. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171. Krieger an Wedel 6. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 316 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Der Skandal verhandelte jedoch nicht nur das Ansehen der Elsässer, sondern zugleich das Ansehen des Militärs und die Frage, mit welchen Mitteln es seine Ehre verteidigen dürfe. Bereits in den Jahrzehnten zuvor war es zu mehreren kleinen Skandalen gekommen, weil Offiziere auf angebliche Ehrverletzungen mit brutaler Gewalt reagierten hatten; etwa 1896, als ein Offizier mit seinem Säbel einen Schlosser erstach, weil der in einem Gasthof seinen Stuhl angestoßen und sich nicht adäquat entschuldigt hatte; oder 1903, als ein angetrunkener Soldat einen Unteroffizier auf der Straße nicht grüßte und daraufhin bei seiner Festnahme erstochen wurde.491 Skandale entstanden aber auch durch die Verabschiedung von Offizieren, die sich wegen geringfügiger Ehrverletzungen nicht duellieren wollten, wobei die Kriegsminister ihren Ausschluss tolerierten.492 Willkürliche Gewalt von Offizieren thematisierten zudem Veröffentlichungen über Misshandlungen von Soldaten, wie sie auch die SPD kurz vor der ZabernAffäre im Reichstag vorbrachte.493 Dass gerade in den Kasernen in ElsaßLothringen die Offiziere keineswegs nach einem strengen Ehrenkodex lebten, hatte bereits 1904 ein Skandal gezeigt, den ein kaum verschlüsselter Roman des Leutnant Oswald Fritz Bilse über seine Grenzgarnison in Lothringen auslöste. Er beschrieb die dortigen Schikanen, Misshandlungen, und Duelle sowie Günstlingswirtschaft, Prostitution, Ehebruch, Alkoholismus, Schulden und Desertionen.494 Prozess und Beschlagnahmung machten das Buch berühmt, demaskierten die beschriebenen Soldaten und führten zur Verabschiedung von sechs Offizieren. Da das Buch in Frankreich sofort eine Auflage von über 100 000 erreichte, dürfte es gerade im französischen Grenzgebiet die Vorstellungen über das zügellose Verhalten deutscher Offiziere in Elsaß-Lothringen und damit auch die Wahrnehmung der Zabern-Affäre geprägt haben. Der Zabern-Skandal zeigte mehrfach, dass die Soldaten völlig überzogen auf Beleidigungen reagierten. Dass ein paar Schüler etwa dem umstrittenen Leutnant Forstner ein Schimpfwort nachriefen („Bettschisser“), beantwortete dieser mit willkürlichen Verhaftungen.495 Auf andere Zurufe reagierte er per Säbelhieb. Das dort stationierte Militär unterstrich zudem verbal seine maßlose Gewaltbereitschaft bei Ehrverletzungen. So entgegnete der dortige Oberst einem Kreisdirektor, der vermitteln wollte, „er betrachte es im Gegenteil als ein Glück, wenn jetzt Blut fließe“ und er werde scharf schießen lassen, wenn die Menge, die die Offiziere beleidige, auf dem Platz stehen bleibe.496 Wie der Skandal 491 492 493 494 495 496 Germania Nr. 239, 26. 1. 1896; Bringmann, Reichstag, S. 254 f. Zum Krosigk-Prozess Vorwärts Nr. 1, 1. 1. 1903. Vgl. Frankfurter Zeitung Nr. 99, 28. 4. 1912. RT, XIII. Leg.per., I. Sess., 144. Sitz., 19. 4. 1913, Bd. 28, S. 4932. Das Buch erschien unter einem Pseudonym: Fritz von der Kyrburg, Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild, Braunschweig 1903; vgl. Hardtwig Stein, Der BilseSkandal von 1903. Zu Bild und Zerrbild des preußischen Leutnants im späten Kaiserreich, in: Karl Christian Führer et al. (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 259–278. Telegramm Wedel an Bethmann 29. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 317 zeigte, erschien dieser Ehrbegriff jedoch weiten Teilen der Öffentlichkeit anachronistisch. Die maßlosen Reaktionen erinnerten an das Verhalten in den deutschen Kolonien, wo ebenfalls wegen kleiner Anlässe mit größter Härte reagiert worden war, um die Autorität zu sichern. Und ähnlich wie dort hatte dies einen gegenteiligen Effekt, da es zu Aufständen oder zumindest zu einem Ansehensverlust der Deutschen führte. Mit dem in Straßburg stationierten General Berthold von Deimling trat dabei in der Zabern-Affäre sogar ein Offizier hervor, der bereits 1904 bei der Niederschlagung der Aufstände in Deutsch-Südwest beteiligt gewesen war. Das Kriegsministerium, die konservativen Abgeordneten und auch der Reichskanzler versuchten dennoch diesen Ehrbegriff zu verteidigen. „Der Rock des Königs muß unter allen Umständen respektiert werden“, formulierte Reichskanzler Bethmann unzweideutig, selbst wenn die Maßnahmen den rechtlichen Rahmen überschritten hätten.497 Bestärkt wurde dieser Freibrief, der den Schutz der soldatischen Ehre gewähren sollte, durch die Justiz. In den späteren Prozessen gegen die Beteiligten verteidigten die Richter das Verhalten der Soldaten damit, dass sie sich wegen der Angriffe auf ihre Ehre „in einer Art Notstand“ befunden hätte, der ihr Eingreifen berechtigt erscheinen lasse.498 Damit wurde wie bei den Kolonialskandalen deutlich, wie weit die Normen der öffentlichen Meinung und der staatlichen Instanzen divergierten. Nicht nur das Militär verlor so an Ansehen, sondern auch jene staatlichen Repräsentanten, die die gewaltsame Wahrung der Ehre verteidigten. Ein weiterer zentraler Konflikt, der in diesem Skandal ausgetragen wurde, war das Machtverhältnis zwischen Militär und Zivilverwaltung. In Zabern hatte sich die Armee polizeiliche Kompetenzen angemaßt, die ihr nicht zustanden. Das galt insbesondere für die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Legitimiert wurde dies als Notwehr, mit dem angeblichen Versagen der zivilen Behörden oder mit dem Argument, die Truppen stünden im „Feindesland“, wie es der Berliner Polizeipräsident in einem Beitrag zur „Kreuzzeitung“ rechtfertigte.499 Dagegen war sich die katholische, die liberale und die sozialdemokratische Presse einig, dass das Militär nicht einfach die zivile Gewalt an sich reißen dürfe.500 Zahlreiche Zeitungen prangerten die „Säbelherrschaft“ in Deutschland an. Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblattes, fragte etwa: „Leben wir in einer südamerikanischen Republik, wo jeder Oberst den Gerichtsbehörden das Gesetz diktieren darf, und hängen Leben und Freiheit der Bürger von den Ent497 498 499 500 RT 181. Sitzung, 3. 12. 1913, Bd. 291, S. 6157. Preußisches Abgeordnetenhaus, 2. Sitzung, 13. 1. 1914, S. 116. Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat 10. 1. 1914 u. (zit.) 13. 1. 1914, in: BAB/L, R43172. Vgl. als Belege etwa: General Deimling/Chef des Generalstab XV. Armeekorps an Oberst Scheuch 2. 12. 1913; Bericht Wedel 30. 12. 1913, Wedel an Bethmann 2. 12. 1913; Polizeipräsident Berlin an Wahnschaffe (Unterstaatssekretär Reichskanzlei) 2. 12. 1913, alle in: BAB/L, R43-170. Vgl. die Kommentare der Frankfurter Zeitung, Vorwärts u. a. Anfang Dezember 1905. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 318 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale schlüssen einer Kasinogesellschaft ab?“501 In der Zabern-Affäre flammte damit jene Empörung über die Amtsanmaßung von Uniformenträgern auf, die wenige Jahre zuvor bei der Farce um den „Hauptmann von Köpenick“ noch harmlosen Spott ausgelöst hatte. Bei beiden Skandalen zeigte die Empörung mit ihren Schuldzuweisungen, dass der Militarismus im Kaiserreich nicht die Gesellschaft dominierte, sondern hochgradig umstritten war.502 Auch im Reichstag kam es seit Anfang Dezember 1913 zu zahlreichen Auseinandersetzungen über die Zabern-Affäre, bei denen das Verhältnis von Militär, Zivilverwaltung und Verfassung im Mittelpunkt standen. Wiederum fragten Vertreter des katholischen, sozialdemokratischen und liberalen Milieus, ob eine Diktatur des Militärs bevorstehe. Wie der Zentrumsabgeordnete Erzberger spottete, könne das Militär nach dieser Logik selbst den Reichskanzler und die gesamten Ministerien der Wilhelmstraße verhaften, wenn es seine Ehre durch eine unliebsame Reichstagsrede gefährdet sehe.503 Wie wenig die Ansichten der Reichsleitung der öffentlichen Meinung entsprachen, zeigte schließlich das Mißbilligungsvotum des Reichstages, das dem Kanzler mit 293 gegen 54 Stimmen das Misstrauen aussprach.504 Nur die Konservativen stützten Bethmann noch. Damit hatte der Skandal auch im Reichstag verdeutlicht, dass die konservative Verteidigung der militärischen Härte keine Mehrheitsfähigkeit besaß. Auch wenn man das Votum keinesfalls mit der Bedeutung der Nationalversammlung von 1789 vergleichen kann,505 eröffnete der Skandal mit dieser Abstimmung einen Schritt zur Parlamentarisierung, indem sie die vom Kaiser eingesetzte Reichsleitung öffentlich demütigte. Die Zivilbehörden im Elsaß, wie der Statthalter, der Kreisdirektor und der Bürgermeister, verdeutlichten in ihren Berichten an den Kanzler ebenfalls, dass das Militär seine Zuständigkeit massiv überschritten hatte.506 Der Statthalter Graf von Wedel bat sogar dringend um ein Gespräch mit dem Kaiser, „da die von mir eingeleitete Untersuchung in Zabern so schwere Excesse und derartige Ungesetzlichkeiten des Oberst von Reuter festgestellt hat, dass ich eine Remedur für unbedingt geboten erachte.“507 Der Staatssekretär des Ministeriums für Elsaß-Lothringen, Freiherr Zorn von Bulach, untermauerte diesen Standpunkt sogar öffentlich in einem Interview mit der Berliner Morgenpost, und sprach 501 502 503 504 505 506 507 Berliner Tageblatt Nr. 609, 1. 12. 1913, S. 1. Dass der Spott über den „Hauptmann von Köpenick“ die Grenzen des Militarismus zeigte, betont auch: Benjamin Ziemann, Der „Hauptmann von Köpenick“ – Symbol für den Sozialmilitarismus im wilhelminischen Deutschland?, in: Vilém Precan (Hrsg.), Grenzüberschreitungen oder der Vermittler Bedrich Loewenstein, Prag 1999, S. 252–264; zum Köpenick-Fall vgl. bereits ausführlich: Müller, Auf der Suche. RT 11. 12. 1913, 187. Sitzung, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6361. 1912 hatte der Reichstag Anträge formell erlaubt, die einem Minister explizit das Misstrauen aussprachen. Vgl. Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 188 f. So jedoch die überspitzte Deutung von Mackey, Zabern, S. 230. Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, Bürgermeister Knöffler an RK Bethmann 29. 11. 1913, alle in: BAB/L, R43-170, in: BAB/L, R43-170. Abschrift in Wedel an Reichskanzler 30. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 319 von einer „ungesetzlichen“ Überschreitung.508 Bemerkenswerterweise kamen zumindest intern auch das preußische Justizministerium und die Reichsleitung zu dem Fazit, dass das Militär tatsächlich seine Kompetenzen übertreten habe. Sowohl der Reichskanzler als auch die Mehrheit des Staatsministeriums vertraten diese Interpretation.509 Allerdings beschlossen sie, das auf keinen Fall öffentlich zuzugeben, da dies „politisch gefährlich“ sei.510 Auch Reichskanzler Bethmann stellte sich daher im Reichstag entgegen seiner Überzeugungen nicht auf die Seite der Zivilverwaltung, obgleich er das Verhalten des Leutnants tadelte.511 Zugeständnisse sollten insbesondere deshalb nicht gemacht werden, weil dies als Beeinflussung der Heeresführung durch die Öffentlichkeit und den Reichstag hätte gesehen werden könnte. Kaiser Wilhelm II. förderte in diesem Konflikt zwischen Armee und Verwaltung zunächst die kompromisslose Verteidigung des Militärs mit entsprechenden Weisungen an die Reichsleitung. Die Bitte seines Statthalters, ihm einen persönlichen Bericht zu erstatten, lehnte er zunächst ab und ließ sich stattdessen von der Generalität informieren.512 Dann stilisierte er sich als Schlichter im Streit zwischen Militär und Zivilverwaltung, indem er ihre Vertreter nach Donauesching einlud, wo er sich zur Jagd aufhielt.513 Tatsächlich gelang es hier, einen gewissen Kompromiss zu erringen: Die Garnison von Zabern sollte bis auf weiteres auf einen Truppenübungsplatz verlegt und die Kriegsgerichtsverfahren beschleunigt werden, Leutnant Forstner in ein anderes Regiment kommen und Oberst von Reuter nach Abschluss des kriegsgerichtlichen Verfahren seinen Abschied nehmen.514 Damit zeigte sich ein typisches Verhalten, das bei den deutschen Skandalen immer wieder auftrat: Während aus Angst vor Autoritätsverlusten in öffentlichen Äußerungen unbeirrt an der Rechtmäßigkeit des administrativen und militärischen Handelns festgehalten wurde, kam es zumindest intern zu Reformbemühungen, die die Öffentlichkeit beruhigen sollten. Dadurch, dass Teile dieses Kompromisses in der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurden, erschien der Kaiser als der maßgebliche Löser des Konfliktes.515 Dieses Wechselspiel zwischen öffentlicher Kompromisslosigkeit und internen Reformen wird auch erkennbar, wenn man abschließend die Folgen des Skandals betrachtet. Zunächst spricht tatsächlich einiges dafür, dass die Zabern-Affäre vor 508 509 510 511 512 513 514 515 BZ am Mittag 6. 12. 1913, ausführlich in Berliner Morgenpost 7. 12. 1913. Staatssekr. Reichjustizamt an Bethmann 10. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171, sowie Denkschrift RKA ebd. So selbst noch: Protokoll Staatsministerium 18. 3. 1914 in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3620. Bethmann 3. 12. 1913, 181. Sitz, XIII. Leg.per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6157. Vgl. die Abschrift seiner Antwort in Wedel an Reichskanzler 30. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170. Zur Haltung von Wilhelm II. vgl. auch: Mommsen, War der Kaiser, S. 205 f. Wilhelm II. an Bethmann 4. 12. 1913, in: BAB/L, R43-170. Scheüch an Wahnschaffe 6. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171; Bethmann an Reichskanzlei 5. 12. 1913, in: BAB/L, R43-170. Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 287, 6. 12. 1913. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 320 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale allem ein Sieg des Militärs war, wie bereits oft hervorgehoben wurde.516 Dies zeigte sich vor allem mit Blick auf die personellen Konsequenzen des Skandals: Während Kriegsminister Falkenhayn seinen Posten behielt, wurde der Statthalter Graf von Wedel, der auf das Fehlverhalten des Militärs aufmerksam gemacht hatte, durch den konservativen Johann von Dallwitz ersetzt. Ebenso musste Staatssekretär Zorn von Bulach seinen Posten räumen, der per Interview auf die Missstände aufmerksam gemacht hatte. Für einen Sieg des Militärs sprach auch der Ausgang der Prozesse gegen die Offiziere. Leutnant Forstner, angeklagt wegen „Körperverletzung begangen unter rechtswidrigem Gebrauch der Dienstwaffe“, wurde im Berufungsverfahren ebenso freigesprochen wie Oberst Reuter, der wegen „unbefugter Ausübung eines öffentlichen Amtes, Freiheitsberaubung, Nötigung und Mißbrauch der Dienstgewalt“ angeklagt war.517 Gerade diese Urteile hatten eine hohe symbolische Qualität in der gespalteten Öffentlichkeit. So zog die liberale Frankfurter Zeitung hieraus den Schluss: „In der Auseinandersetzung zwischen Militärgewalt und Zivilgewalt hat das Kriegsgericht das Recht der unbeschränkten Herrschaft der ersten gegenüber dem Bürgertum statuiert.“518 Auch die rechte Presse sah die Urteile, im positiven Sinne, als grundsätzliche Festschreibung, dass „die Armee in Deutschland ein Organ der öffentlichen Gewalt, eine Obrigkeit ist, die das Schwert nicht umsonst trägt.“519 Wie bei vielen deutschen Skandalen erhielten dagegen ausgerechnet diejenigen Freiheitsstrafen, die den Missstand an die Öffentlichkeit gebracht hatten – in diesem Fall die Elsässer Rekruten. Ein symbolischer Sieg der Militärs war schließlich auch die Rückkehr der zunächst ausgelagerten Garnison nach Zabern. Obwohl selbst der kommandierende General in Straßburg sich dagegen aussprach und ebenso wie der Statthalter Unruhen befürchtete, setzte Kriegsminister Falkenhayn dies durch.520 Am 18. April 1914 zog die Garnison unter Anwesenheit zahlloser Journalisten aus unterschiedlichen Ländern mit Musik ein, um die Beharrungskraft der Armee zu zeigen.521 Dagegen schlief die Kommission des Reichstages, die die Befugnisse des Militärs genauer klären sollte, schon nach kurzer Zeit ein. Dennoch bietet sich zugleich eine andere Lesart der Folgen der Zabern-Affäre an. Denn ähnlich wie bei den Kolonialskandalen, wo ja ebenfalls die Kolonialbeamten in der Regel nicht verurteilt wurden und der Kolonialismus als solcher fortbestand, sorgte auch dieser Skandal für eine Erschütterung des Status quo. Erstens bescherte die Zabern-Affäre, ähnlich wie 1906 nach den Kolonialskan516 517 518 519 520 521 So die Einschätzung bei: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1129; Ullrich, Nervöse Großmacht, S. 134. Urteil Forstner Kriegsgerichtsrat 10. 1. 1914 u. Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat 13. 1. 1914, in: BAB/L, R43-172. Frankfurter Zeitung Nr. 12, 12. 1. 1914. Deutsche Zeitung 10. 1. 1914. Vgl. zu dieser internen Kontroverse: Wedel an Falkenhayn 13. 2. 1914; Deimling an Falkenhayn 5. 2. 1914, Falkenhayn an Bethmann 7. 2. 1914 u. 17. 2. 1914, in: BAB/L, R43-173. Vgl. den Bericht in Vossische Zeitung Nr. 196, 19. 4. 1914. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern 321 dalen, der Reichsleitung eine Niederlage und stärkte die Macht des Reichstages. Während sich dies bei den Kolonialskandalen in der mehrheitlichen Ablehnung des Nachtragshaushaltes für Deutsch-Südwest manifestiert hatte, machte nun das von sechs Siebtel des Reichstages getragene Missbilligungsvotum gegen Kanzler Bethmann die fehlende parlamentarische Mehrheit deutlich. Entsprechend erwartete man vielfach Bethmanns Rücktritt und spekulierte bereits über Nachfolger.522 Die öffentliche Missbilligung traf zugleich das Ansehen des Kaisers und des Thronprinzen, die das Militär besonders vehement gestützt hatten.523 Insofern stärkte der Skandal nicht nur die militärische Dominanz, sondern schwächte zugleich eine politische Herrschaftsform, die auf keinen Mehrheiten beruhte. Zweitens erlitt das Militär trotz seiner symbolischen Erfolge vor Gericht einen massiven öffentlichen Ansehensverlust. Die Urteile überzeugten die Mehrheit der Zeitungen und Abgeordneten nicht. Vielmehr galt das Militär als Instanz, deren Machtmissbrauch der Zabener Fall aufgedeckt hatte. Der Skandal zeigte, dass die Armee in dem annektierten Gebiet eben nicht als Schule des Deutschtums wirkte, sondern einen gegenteiligen Effekt hatte. Gerade diese offen gelegte Kulturlosigkeit der angeblichen Kulturträger erinnerte dabei an die Kolonialskandale. Drittens kam es trotz der nach außen getragenen Halsstarrigkeit schließlich doch noch zu einer Reform, die das Verhältnis von Militär und Zivilverwaltung im Sinne der Zivilverwaltung regelte. Reichskanzler Bethmann beharrte im Staatsministerium darauf festzuschreiben, dass das Militär nur dann aus eigener Entschließung gegen Zivilpersonen einschreiten dürfe, „wenn die Zivilbehörden außer Stand gesetzt seien, die Requisition ergehen zu lassen.“524 Gegen den Willen von Kriegsminister Falkenhayn kam es am 19. März 1914 zu einer neuen Dienstvorschrift über den Waffengebrauch des Militärs, die eine eigenmächtige Vergeltung und die Ausübung von Polizeimaßnahmen ohne Anfrage der Zivilbehörden untersagte.525 Um Falkenhayns Gesicht zu wahren und nicht den Eindruck zu erwecken, das Militär gebe der Öffentlichkeit nach, wurde das Gesetz allerdings nicht vom Reichstag erlassen, sondern als Kabinettsorder. Viertens wurden die Offiziere trotz Freispruch zumindest versetzt. Leutnant Forstner kam, in weitmöglichster Entfernung vom Elsaß, nach Bromberg an die polnische Grenze. Auch wenn dies keine adäquate Strafe für einen Rechtsstaat war, bedeutete es immerhin ein deeskalierendes Zugeständnis an den öffentlichen Protest. Eine fünfte Folge des Skandals betraf schließlich den Nationalismus in Elsaß-Lothringen. Der Skandal belebte die antideutschen Ressentiments in dem „Reichsland“ und förderte eine an Frankreich orientierte Vergemeinschaftung. In der nun gegründeten „Liga zur Verteidigung ElsaßLothringens“ fand sie ein Forum. Der Skandal zeigte damit die Grenzen jener 522 523 524 525 Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 620, 6. 12. 1913, S. 1. Dass der Kaiser geschwächt wurde, sieht auch: Mommsen, War der Kaiser, S. 208. Protokoll Staatsministerium 3. 2. 1914, in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3620. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 4, S. 601 f.; Schoenbaum, Zabern, S. 160 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 322 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Germanisierungsversuche und Kulturmissionen, die sich im hohen Maße auf Soldaten stützten. Wie bei den Kolonialskandalen führten die Sozialdemokraten erneut das britische Empire als Vorbild für den Umgang mit eroberten Gebieten an. In diesem Fall bildete Südafrika für sie ein Pendant. Die Briten banden, so ihre Argumentation, „durch freigiebigste Gewährung staatsbürgerliche Rechte die Bewohner der früheren Freistaaten so fest an das Mutterland, daß sich heute niemand mit mehr Stolz englischer Bürger nennt als der Bur, der vor nicht langem noch jedem Briten als dem Erbfeind mit der Büchse entgegen trat.“526 Auch wenn diese Argumentation überzogen war, blieb Großbritannien durch seine demokratischere Struktur trotz imperialer Expansion für die Linke ein Modell. Dagegen verstärkte die Zabern-Affäre in der ausländischen, insbesondere in der französischen und britischen Öffentlichkeit das Stereotyp von der Dominanz des deutschen Militärs und dessen Aggressivität.527 In der britischen Wahrnehmung rückte Deutschland durch die Zabern-Affäre, was die Freiheitsrechte anging, in die Nähe von Russland. Der Daily Telegraph schrieb, Deutschland würde lediglich mit Gewalt erobern, was immer zu Widerstand führe, und die Times hinterfragte zumindest, ob sich das Militär tatsächlich den Zivilbehörden unterordnen würde.528 Besonders weitsichtig erwies sich der Kommentar der englischen Zeitschrift Nineteenth Century. Sie sah die Gefahr, „that the powers of feudalism and absolutism, which, under the cloak of parliamentarism at present govern the country, will try to avoid a domestic conflict by provoking a foreign one.“529 Gerade hiermit hatten die englischen Beobachter Recht, da der kurze Zeit später losgeschlagene Weltkrieg zumindest kurzzeitig die Grundprobleme des Staates überdecken sollte, die die Zabern-Affäre ins öffentliche Bewusstsein gerufen hatte. Zabern war keine Kolonie. Aber sein Status als annektiertes Gebiet förderte nicht nur die Entgrenzung der Gewalt, sondern auch den kritischen Außenblick auf diese Gewalt. Wie bei den Kolonien ging es nicht nur um die Durchsetzung von Autorität, sondern auch darum, sich in den Augen der westlichen Nachbarländer als würdige Gebietsverwalter zu erweisen. Zabern stand dabei für das erneute Scheitern dieses Anspruches. 8. Zwischenfazit Am Anfang der Eroberung Afrikas standen zahllose koloniale Träume. Durch die zahlreichen Skandale verwandelten sich die afrikanischen Kolonien jedoch 526 527 528 529 Vorwärts 12. 11. 1913, S. 1. Zur französischen Presse vgl. Schenk, Zabern, S. 111–121; zur britischen: Schoenbaum, Zabern, S. 180 f. Daily Telegraph u. a. zit. in: Vorwärts 3. 12. 1913, S. 2; vorsichtiger: Times 5. 12. 1913, S. 9. Nineteenth Century Febr. 1914. Dagegen betont Reinermann, Der Kaiser, S. 512 f., mit Blick auf Wilhelm II., die englische Presse habe eher freundschaftlich im Kontext der ZabernAffäre reagiert. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8. Zwischenfazit 323 Abb. 9. Vom Traum zum Albtraum: Die Verkehrung der kolonialen Imagination Europas durch die Skandale; Karikatur der Lustigen Blätter Nr. 13 (1896) nach den Skandalen um Leist, Wehlan und Peters 1896. vielfach in einen Albtraum (vgl. Abb. 9). Dies förderte eine intensive und auch kritische öffentliche Debatte über den Kolonialismus. Auch in dieser Hinsicht lässt sich also kaum die Annahme aufrecht erhalten, die Kolonien hätten in der heimischen Öffentlichkeit kaum eine Rolle gespielt, wie etwa mit Blick auf die Mitgliederzahlen von Kolonialvereinen oder Inhalte von Schulbüchern argumentiert wurde. Die oft monatelangen Berichte über die Kolonialskandale, die Karikaturen, die Parlamentsdebatten und die Prozesse zwangen die breitere Öffentlichkeit dazu, sich über die kolonialen Praktiken ein Urteil zu bilden, wie nicht zuletzt auch die Auswertung der Kneipengespräche belegt. Die Kolonialskandale trugen maßgeblich dazu bei, die Idee des Sozialimperialismus zu verkehren. Laut dieser vieldiskutierten These hatte die deutsche Reichsleitung gehofft, durch die koloniale Expansion die innere Einheit zu fördern und von Problemen im eigenen Land abzulenken, um so ein weiteres Erstarken der Sozialdemokratie zu verhindern. Durch die Skandale trat jedoch genau das Gegenteil ein. Gerade der Sozialdemokratie gelang es durch das Aufbringen entsprechender Skandale, die Kritik an den kolonialen Zuständen auf das Reich zu beziehen und so ihre öffentliche Position zu stärken. Durch die Kolonialskandale konnten sie alte Feindbilder und Narrative über Adlige, Offiziere und das Bürgertum revitalisieren, da diese in den Kolonien ein Verhalten zeigten, das im Deutschen Reich zunehmend beispiellos war – wie tödliche Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 324 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen, Bereicherungen durch Monopole oder den sexuellen Missbrauch des Personals. Statt die Linke in die Nation zu integrieren, schufen die Kolonialskandale eher einen regierungskritischen Schulterschluss, der die Sozialdemokratie punktuell mit Teilen des Zentrums und der Linksliberalen verband. Die Kolonialskandale bildeten transnationale Medienereignisse, die Vorstellungen über den eigenen und den fremden Kolonialismus schufen. Sie beeinträchtigte den Anspruch auf moralische Überlegenheit, wobei sich die Deutschen besonders um ihr Ansehen im Ausland sorgten. Dagegen festigten die deutschen Skandale in Großbritannien die Selbstwahrnehmung als eine etablierte, moralisch überlegene Kolonialmacht, während die Briten an den deutschen Skandalen deren koloniale Unreife ausmachten. Zugleich waren die Skandale auch ein Motor für Transfers. In den Auseinandersetzungen, die die Skandale auslösten, blickten vor allem die deutschen Reformer immer wieder nach Großbritannien. Um weitere Skandale zu verhindern, wurden rechtliche Regelungen, institutionelle Formen und Anregungen für die koloniale Praxis vom britischen Empire befürwortet und teilweise übernommen. Von der Typologie der Skandale her zeigten sich bei beiden Ländern ähnliche Entwicklungslinien, wobei in Großbritannien die entsprechenden Fälle etwas frühzeitiger auftraten. In den 1890er Jahren dominierten zunächst Skandale um die Gewalt kolonialer „Conquistatoren“, wobei die Skandale Grenzen setzten und deren Gewalt anachronistisch erscheinen ließen. Die festeren Verwaltungsstrukturen, die diesen „Eroberern“ folgten, lösten in einer zweiten Phase vor allem Skandale aus, die Normbrüche wie Bereicherung oder Amtsmissbrauch thematisierten. Die breite Empörung über diese Fälle zeigte, dass trotz aller rassistischen Stereotype die Mehrheit der wilhelminischen Öffentlichkeit verlangte, dass auch in den deutschen Kolonien die englische Verhaltensstandards zu gelten hätten. In Deutschland kam es zu deutlich mehr Kolonialskandalen als in Großbritannien. Die geringe koloniale Erfahrung, die größere Willkür der Beamten und die stärkere Etablierung von kolonialkritischen Gruppen im Reich, wie insbesondere der Sozialdemokratie, dürften dafür verantwortlich gewesen sein. Blickt man auf die in den Kolonialskandalen verhandelten Themen, so werden weitere Unterschiede deutlich. Auch in Großbritannien thematisierten Skandale, wie am Beispiel von Stanleys Expedition gezeigt wurde, Formen exzessiver Gewalt. Größere Bedeutung hatten im Empire jedoch Skandale, die eine illegitime Bereicherung in den Kolonien anprangerten. Sowohl die Angriffe gegen Chamberlain als auch der größte Skandal im weiteren Kontext des Burenkrieges, der War Stores Scandal, bezogen sich auf materielle Normbrüche und Nachteile für den einfachen Steuerzahler. Dies etablierte wiederum auch in Deutschland die Wahrnehmung, der britische Kolonialismus diene vor allem der Bereicherung. In Deutschland traten zwar mit den Enthüllungen über die Geschäftspraktiken der Firmen Woermann und Tippelskirch ebenfalls ökonomische Skandale auf, die wie in Großbritannien die Belastung der Steuerzahler und die teils Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8. Zwischenfazit 325 korrupte Verflechtung zwischen einzelnen Politikern, Beamten und monopolartigen Kolonialfirmen kritisierten, aber eine Schlüsselrolle spielten sie nicht. Im Vordergrund standen in Deutschland vielmehr zahllose Skandale, die die brutale Tötung oder Misshandlung von Afrikanern durch deutsche Beamte thematisierten. Zudem legten die deutschen Skandale vielfach den sexuellen Verkehr mit Afrikanerinnen offen, der zumeist unter Missbrauch ihrer Macht erfolgte. Diese Unterschiede zwischen den deutschen und den britischen Kolonialskandalen lassen sich sicherlich nicht damit erklären, dass die deutsche Öffentlichkeit kritischer war oder medial besser vernetzt. Vielmehr verweisen die Skandalthemen auch auf entsprechend unterschiedliche Praktiken in den deutschen und britischen Kolonien. Allerdings fiel es den Briten schwerer, über sexuellen Missbrauch in ihren Kolonien zu sprechen. Obgleich die puritanische Bewegung auch hier Anstöße für entsprechende Skandalisierungen gab, verengte sie zugleich die Grenzen des Sagbaren. Aufgebracht wurden die Kolonialskandale durch eine Verdichtung des Kommunikationssystems zwischen den Kolonien und Europa. Die analysierten Beispiele zeigten, dass die Formen der medialen Interaktionen vielfältig waren. Korrespondentenberichte förderten zwar die Kolonialkritik, entscheidend waren jedoch weiterhin briefliche Zusendungen von Beteiligten, konkurrierende Buchpublikationen, die Kommunikation über Missionare und juristische Untersuchungen. Berichte aus den Kolonien waren nicht ausreichend, um Kolonialskandale zu etablieren. Vielmehr mussten sie durch Vermittler im Mutterland vorgebracht werden, die vor Ort reaktionsschnell und kontinuierlich die Debatte vorantreiben konnten. Im Vergleich zu anderen Skandalfeldern fällt auf, dass in Deutschland das Parlament eine zunehmend größere Rolle beim Anstoß der Kolonialskandale spielte als die Presse. Gerade die geringe Möglichkeit des Reichstages, die Kolonialpolitik inhaltlich mitzugestalten, dürfte mit erklären, dass die Abgeordneten auf sensationelle Enthüllungen setzten. Die Kolonialskandale waren jedoch mehr als ein Feld der politischen Profilierung. Vielmehr zeigten sie in Deutschland und Großbritannien die Grenzen der eigenen Zivilisiertheit. Die detailliert über die Medien aufgedeckten Untaten von Barttelot, Wehlan oder Leist waren gerade deshalb ein Schock, weil sie das entgrenzte Verhalten von Angehörigen des Bürgertums illustrierten, von denen aufgrund ihrer akademischen und militärischen Ausbildung ein diszipliniertes Verhalten erwartet wurde. Die Skandale führten so zu einer Verkehrung der Stereotype: Das Bild von „wilden Schwarzen“, der durch den Kolonialismus zivilisiert würde, verkehrte sich zum Bild wild gewordener Kolonialisten, die eine Gefahr für die Afrikaner darstellten. Zugleich etablierten die Skandale zahlreiche Normen, Verhaltensregeln und Gesetze in den Kolonien. Ob ein Europäer mit afrikanischen Frauen sexuell verkehren dürfe, wie alt diese zu sein hätten und in welcher Form dies geschehen solle (Prostitution, Kauf, Heirat oder Affären), wurde ebenso öffentlich diskutiert wie die Formen der Züchtigung und Bestrafung (körperliche Strafen, Haft, Hinrichtungen oder die Zahl der zulässigen Peitschenhiebe). In beiden Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 326 IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale Ländern führten die Skandale dazu, den sexuellen Verkehr mit Afrikanerinnen als illegitim zu stigmatisieren. Die Beamten riskierten nun nicht nur die Veröffentlichung ihrer Namen in neuen Skandalen, sondern auch Sanktionen. So führte der Silberrad-Skandal in Großbritannien zu einer Anweisung an die neuen Beamten, dass Liebesverhältnisse künftig ein Entlassungsgrund seien, und in Deutschland förderten die Skandale Verbote von „Mischehen“ in verschiedenen Kolonien. Die körperliche Bestrafung der Afrikaner, die trotz der Skandale in der öffentlichen Diskussion weiterhin mehrheitlich als notwendig galt, wurde in Deutschland dank der Skandale rechtlich zumindest auf das Maß der Briten reduziert, stark normiert und besser überwacht. Ebenso kam es dank der Skandale zur Umstrukturierung der Kolonialverwaltung und der Versorgung. Obgleich die englischen Skandale durch die parlamentarischen Ausschüsse mitunter genauere Enthüllungen offen legten, hatten die Skandale in Deutschland mehr Konsequenzen. Denn offensichtlich bestand hier aus den genannten Gründen ein größerer Regelungsbedarf. Gemeinsam war beiden Ländern, dass ihre äußerst brutal geführten Kriege in den Kolonien, also insbesondere der Burenkrieg der Briten und die deutschen Kriege in Südwest- und Ostafrika, kaum zu wirkungsmächtigen Skandalen führten. Zwar kam es in beiden Ländern zu öffentlichen Protesten gegen die Kriegsführung, die eher linke Zeitungen und einzelne Abgeordnete im Parlament vorbrachten. Eine breite gesellschaftliche Empörung blieb bei den Kriegen jedoch aus. Offensichtlich legitimierte in den Kriegen die angenommene Gefährdung der eigenen Landsleute das inhumane Vorgehen stärker als bei Einzelfällen, bei denen Beamte oder Eroberer ihre individuelle Macht brutal ausnutzten. Dem Massentöten an Zehntausenden von Menschen fehlten zudem jene emotionalisierenden Narrative über Einzelschicksale, aus denen sich sonst die Skandale entfalteten. Allerdings lösten sie in den jeweils anderen europäischen Ländern eine Empörung über die brutale Kriegsführung des Nachbarlandes aus. Wie der abschließende Exkurs über die Zabern-Affäre zeigte, bietet sich für die Interpretation dieses bekannten Skandals im „Reichsland“ Elsaß-Lothringen zumindest tendenziell eine ähnliche Lesart wie bei den Kolonialskandalen an. Auch hier führte in einem annektierten Gebiet, dessen Loyalität mit eingeschränkten Rechten militärisch gesichert wurde, eine lokale Demütigung der Einheimischen dazu, dass es zu einer Gewalteskalation kam, die nach den Maßstäben im Reich als völlig unangemessen galt. Der Skandal stellte die Art der militärischen Machtausübung in Frage. Durch die internationale Empörung über das Verhalten des Militärs diskreditierte der Fall den Anspruch auf eine kulturelle Überlegenheit ebenso wie die Kolonialskandale, zumal die ZabernAffäre offen legte, dass die deutsche Herrschaft in dem besetzten Gebiet im Zweifelsfall auf Gewalt beruhte. Entsprechend wäre mit Blick auf Großbritannien zu überlegen, ob sich Auseinandersetzungen und Skandale in Irland ebenfalls aus kolonialen Diskursen heraus interpretieren ließen, auch wenn Irland natürlich ebenfalls keine Kolonie war. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 8. Zwischenfazit 327 Durch die Skandale entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien das Bild des grausamen deutschen Kolonialismus. Wie nachhaltig die Skandale gerade den deutschen Anspruch auf Kolonien im Ausland diskreditierten, zeigte sich 1919 im Versailler Vertrag. Der berühmte und umkämpfte Artikel 119 über die Abtretung der deutschen Überseegebiete knüpfte in seiner Begründung explizit an die deutschen Kolonialskandale an, wobei ein britisches Blue Book die Vorwürfe kurz zuvor erneut zusammengestellt hatte. In ihrer Erwiderung auf den deutschen Protest verwiesen die Alliierten sogar explizit auf Erzbergers und Noskes Anklagen gegen die kolonialen Missstände im Reichstag.530 Damit sorgten die Skandale noch bei der Auflösung der deutschen Kolonien für wirkungsmächtige Zuschreibungen. 530 Vgl. Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte 16. 6. 1919, abgedr. in: Gründer (Hrsg.), „...da und dort ein junges Deutschland gründen“, S. 316. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek V. JOURNALISMUS UND PRESSEPOLITIK ALS SKANDALON Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Normen des Journalismus. Als zentrale moralische Anforderung etablierten sich seine Unabhängigkeit gegenüber Regierungen und sein Anspruch, zuverlässige Quellen zu verwenden. Beides war eng miteinander verbunden. Denn unabhängige und zuverlässige Berichte waren nur zu erreichen, wenn Medien nicht tendenziösen Regierungseinflüsterungen folgten. Insbesondere in Großbritannien versuchte die Presse diese Norm auch semantisch festzulegen, indem sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Fourth Estate verstand. Damit grenzte sie sich von einer „korrupten Presse“ ab, wobei die Zeitungen wegen ihrer Machtstellung, so die Times 1846, besonders starken Versuchungen ausgesetzt seien.1 In Deutschland blieb eine vergleichbar engagierte Selbstbeschreibung als „vierte Gewalt“ aus. Als Errungenschaft galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade eine parteinahe „gesinnungstreue“ Presse.2 Aber auch diese deutsche Selbstverortung der Medien operierte mit ähnlichen Unterscheidungen. So beschworen die deutschen Publizisten ihre Machtstellung und grenzten sich vehement vom offiziösen Journalismus ab, der direkt Nachrichten von der Regierung übernähme und damit nicht unabhängig sei. Ebenso distanzierten sich die parteinahen Blätter von den Generalanzeigern, die wegen ihrer Anzeigenfinanzierung als ein „Herd der Korruption“ bezeichnet wurden.3 Dagegen sahen sich die Generalanzeiger gerade wegen ihrer Anzeigenfinanzierung als besonders unabhängig an. Gegen die Korruption der gesamten Presse richteten sich wiederum einzelne Publizisten wie Maximilian Harden, der gleich die ersten Ausgaben seiner Zukunft mit einer Schelte gegen die „Soldschreiber“ und „Fälschertempel“ startete.4 Trotz der Gegenläufigkeit der Beschuldigungen war somit auch in Deutschland der zunehmende Anspruch zu erkennen, der Journalismus müsse unabhängig und wahrhaftig berichten. Ob die Zeitungen solche Normen erfüllten, wurde besonders bei sensationellen oder skandalösen Meldungen geprüft. Das Aufbringen von Skandalen war deshalb stets mit dem Risiko verbunden, dass sich die Skandale wie ein Bumerang gegen die Zeitung selbst richteten. Einerseits war es möglich, dass die Publikation eines Normbruches und das öffentliche Sprechen hierüber als das eigentliche Skandalon galten. Dementsprechend begannen die Skandale zumeist 1 2 3 4 Times 3. 9. 1846, S. 5. Zum Aufkommen der Selbstbeschreibung als „Vierte Gewalt“ vgl. George Boyce, The Fourth Estate. Vgl. zu diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen: Bösch, Volkstribune; Esser, Die Kräfte, S. 58 f., Requate, Journalismus, S. 269 f. Walter Hammer (= Walter Hoesterey), Die Generalanzeiger-Presse kritisch beurteilt als ein Herd der Korruption, Leipzig 1912; Requate, Journalismus, S. 361 f. Zur längeren Tradition dieser Norm der Unparteilichkeit vgl. Schönhagen, Unparteilichkeit. Die Zukunft 1. 10. 1892, S. 33–40. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 330 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon mit vorsichtigen Andeutungen in der Presse, um die Grenzen des Sagbaren auszutesten. Andererseits bestand die Gefahr, dass die Enthüllung nicht auf präzisen, belegbaren und zuverlässigen Quellen beruhte und der erhobene Vorwurf einer öffentlichen Prüfung nicht standhielt. Denn während gewöhnliche Artikel kaum detailliert überprüft wurden, war bei Aufsehen erregenden Enthüllungen stets von umfangreichen Kontrollen auszugehen, die leicht die Reputation des enthüllenden Journalisten und seiner Zeitung gefährden konnten. Ebenso war mit offensiven Gegenskandalisierungen der Beschuldigten zu rechnen. Ein Bumerang-Effekt konnte zudem dadurch entstehen, dass ein Skandal politische Hintermänner der Enthüllung aufdeckte und damit die Nachricht zur politischen Intrige stilisierte. Da die einzelnen Journalisten durch die von ihnen angestoßenen Skandale selbst zu berühmten Persönlichkeiten wurden, hatten sie die nötige Bekanntheit, Fallhöhe und Umstrittenheit, um selbst zum Objekt von Skandalen zu werden. Dieses Wechselspiel zwischen skandalöser Enthüllung und der nicht minder skandalisierenden Kritik an den beteiligten Journalisten prägte im spätviktorianischen England von Beginn an die Entstehung des New Journalism. So musste sich der Journalist W.T. Stead 1885 bei seiner Maiden-Tribute-Kampagne, die die Kinderprostitution in London aufdeckte, sogleich vorwerfen lassen, dass sowohl seine tabubrechende Darstellungsweise als auch seine unseriöse Recherche der eigentliche Skandal wären. Viele Politiker und Journalisten empörten sich weniger über die beschriebenen Missstände als über den moralischen Verfall, den Steads explizite Berichte angeblich auslösten.5 Ebenso hielten verschiedene Zeitungen Stead Fehler in der Recherche und Darstellung vor, was er vor Gericht tatsächlich eingestehen musste. Deshalb lautete der zentrale Vorwurf in Matthew Arnolds berühmter Kritik am New Journalism: „It throws out assertions at a venture, because it wishes them true, does not correct either them or itself, if they are false.“6 Diese Kritik am New Journalism stilisierte zugleich den „alten Journalismus“ als wahrhaftig und vertrauenswürdig. Auch in Deutschland wurden Ende des 19. Jahrhunderts bedeutende Zeitungen, die bei politischen Skandalen eine größere Rolle spielten, selbst zum Objekt von Skandalisierungen. Ein ähnliches Schicksal wie Stead durchlebte besonders Maximilian Harden, vor allem als der Wahrheitsgehalt seiner Beschuldigungen gegen Eulenburg und Moltke verhandelt wurde.7 Auch der Vorwärts, der ja zahlreiche Skandale in Verbund mit SPD-Politikern angestoßen hatte, erlebte 1903, dass sich ein von ihm angestoßener Skandal gegen ihn selbst richtete, nachdem er über den Bau einer Festung auf der Insel Pichelswerder berichtet hatte, die zum Schutz des Kaisers bei Revolutionen entstehen sollte.8 Diese Ar5 6 7 8 Vgl. etwa die Vorwürfe im Unterhaus und in der Presse in: Times 8. 7. 1885, S. 5, 10. 7. 1885, S. 6, 31. 7. 1885, S. 6. Zu den Reaktionen vgl. bereits: Schults, Crusader in Babylon, S. 148–156. Matthew Arnold, Up to Easter, in: The Nineteenth Century 78 (Mai 1887), S. 620–643, S. 633. Vgl. Kap. II. 7. Vgl. die Artikel „Die Kaiserinsel“ in: Vorwärts Nr. 190–192, 16. 8.–18. 8. 1903. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 331 tikel des Vorwärts beruhten jedoch auf einem anonymen, angeblich aus Hofkreisen stammenden Brief mit bewusst falschen Angaben, der die Glaubwürdigkeit des SPD-Blattes durch eine „Ente“ diskreditieren sollte. So wurde der Vorwärts dem öffentlichen Spott ausgesetzt, und seine Redakteure erhielten hohe Haftstrafen.9 Andere Skandale über die Presse betrafen das moralische Verhalten der Journalisten. So mutierte die „Kreuzzeitung“ 1895, nachdem sie ein Jahr zuvor gerade den Caligula-Skandal angestoßen hatte, selbst zum Skandalobjekt, als bekannt wurde, dass ihr Chefredakteur Wilhelm Freiherr von Hammerstein mehrere 100 000 Mark ihres Vermögens veruntreut hatte und nach Griechenland geflohen war. Da es sich um einen führenden Konservativen handelte, nahm die Staatsanwaltschaft, im Unterschied zu den Sozialdemokraten, eine abwartende Haltung ein, bis die Flucht Hammersteins und die Proteste der Presse sie zum Handeln zwangen.10 Die öffentliche Empörung über Hammersteins Verhalten diskreditierte dabei maßgeblich den moralischen Überlegenheitsanspruch der konservativen Zeitung. Die angedeuteten Fälle zeigen, dass die Presse durch die zunehmenden Skandale nicht nur an Macht und Reputation gegenüber der Politik gewann. Gerade weil die Zeitungen und Journalisten selbst als politische Akteure auftraten, setzten sie sich wie Politiker dem Risiko aus, durch Skandale ihre Reputation zu gefährden. Auf welche Weise derartige Skandale ihren Anspruch auf Wahrheit und Unabhängigkeit hinterfragten, soll an zwei Fallstudien analysiert werden, die jeweils Charakteristika der deutschen und britischen Medienentwicklung zeigen. Für Großbritannien wird der Parnellism and Crime-Skandal um die Times untersucht, der die Grenzen des investigativen und unabhängigen Journalismus im Sinne einer Fourth Estate verdeutlicht. Für Deutschland wird der „Tausch-Leckert-Lützow“-Skandal betrachtet, der die Strukturen der offiziösen Beeinflussung der Presse und deren Kollaps veranschaulicht. Beides sind nicht nur herausragende Skandale in diesem Bereich. Sie stehen auch besonders exemplarisch für die unterschiedlichen journalistischen Traditionen in den beiden Ländern, die durch die Skandale auf den Prüfstein kamen. 1. Die TIMES als Fälscherin und Regierungsorgan? PARNELLISM AND CRIME Die Times des 19. Jahrhunderts galt und gilt als Prototyp eines modernen, soliden und unabhängigen Journalismus. Wie zahlreiche Pressegeschichten 9 10 Vgl. Anklage Isenbiel: BAB/K, R 43/797: 51: 161 ff.; Bericht Staatsanwalt 22. 8. 1903 u. „Beschluß“ Staatsanwalt 26. 8. 1903, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 49718; Stampfer, Erfahrungen, S. 101 f. Oberstaatsanwalt Drescher an Justizminister Schönstedt 28. 6. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58193. Aufzeichnung Waldersee 5. 10. 1895, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 357–360. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 332 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon herausstellten, glänzte sie frühzeitig durch nüchterne und zuverlässige Informationen, eigene Korrespondentenberichte und eine Distanz zu den Parteien, auch wenn ihre Regierungsnähe gelegentlich hervorgehoben wurde.11 Ihre traditionsreiche Ausnahmestellung im britischen und weltweiten Medienverbund schuf jedoch zugleich eine große Fallhöhe, falls sich ein Skandal gegen das Blatt richtete. Ende der 1880er Jahre kam es tatsächlich zu einem Skandal, der diese Reputation der Times maßgeblich erschütterte und hinterfragte. Er entstand, nachdem die Times in einer mit Parnellism and Crime überschriebenen Artikelserie dem politischen Führer der Irish Parliamentary Party, Charles Stewart Parnell, die Unterstützung von terroristischen Gewalttaten vorgeworfen hatte. Dies belegte die Times unter anderem mit einem Faksimile-Abdruck eines Briefes mit Parnells Unterschrift, der einem politischen Mord zustimmte.12 Weitere angebliche Briefe von Parnell und von Patrick Egan, einem Mitbegründer der Irish Land League, ergänzten die Beschuldigungen. Wie sich jedoch nach mehrjähriger öffentlicher Debatte und Untersuchung im Februar 1889 zeigte, beruhte die Kampagne der Times auf den plumpen Fälschungen eines Journalisten. Zudem kam der Vorwurf auf, dass die konservative Regierung und Administration die Times bei ihrer Kampagne unterstützt hatte. Der Skandal nahm damit eine dreifache Wendung: Nachdem die Times zunächst zusammen mit den Unionisten versucht hatte, den Irenführer Parnell zum Objekt eines Skandals zu machen und so die Irlandpolitik zu beeinflussen, wurde die Times in einer zweiten Phase selbst zum Gegenstand des Skandals. Und schließlich musste sich drittens die Regierung des Vorwurfes erwehren, die Times-Kampagnen gegen den irischen Spitzenpolitiker gefördert zu haben. Insofern lassen sich anhand dieses Skandals zugleich die journalistischen Recherchetechniken, Publikationsstrategien und die Interaktionen zwischen Politik und Presse untersuchen. Ausgangspunkt des Parnellism and Crime-Skandals war abermals die politische Polarisierung, die sich aus dem Konflikt um die irische Selbstverwaltung entfaltete. Insbesondere die Abspaltung der unionistischen Home Rule-Gegner von den Liberalen im Sommer 1886, die zum Bruch von Gladstones liberaler Regierung und dem Siegeszug der Konservativen unter ihrem Premierminister Salisbury geführt hatte, verstärkte den Konflikt.13 Salisbury sah, wie andere Unionisten, die Home Rule als eine Gefahr für die nationale Sicherheit an und 11 12 13 Dieses sehr positive Bild mag auch daran liegen, dass die grundlegende umfassende Darstellung zur Geschichte der Times von ihr selbst verfasst wurde; The Times (Hrsg.), The History of the Times, 5 Bde. Vgl. zudem die Artikelserie in der Times am 18. 4. 1887, S. 8 f., sowie die nahezu wöchentlichen Artikel zwischen dem 7. 3. bis 22. 6. 1887. Die ausführlichste Darstellung zu diesem bislang wenig untersuchten Markstein der Pressegeschichte stammt aus den 1940er Jahren von der Times selbst; vgl. The Times, The History of the Times, Bd. 3, S. 43–89. Zudem fand der Skandal Erwähnung in den Biographien über die Beteiligten; vgl. bes. Lyons, Parnell, S. 390–430. Zur Spaltung 1885/86 vgl. Cook und Vincent, The Governing Passion. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 333 war ein Gegner des irischen Nationalismus.14 Die ebenfalls unionistisch ausgerichtete Times unterstützte Salisburys Regierung vorbehaltlos mit entsprechenden Berichten und Kommentaren.15 Als Beleg und Symbol für diese Bedrohung durch gewaltbereite irische Nationalisten galten vor allem die Phoenix Park Morde von 1882. Bei diesem Attentat hatte eine Gruppe radikaler irischer Nationalisten den Chief Secretary for Ireland, Lord Frederick Cavendish, und seinen Untersekretär Burke im Dubliner Phoenix Park erstochen. Obgleich Parnell und andere führende Irenpolitiker sich sofort von den Morden distanzierten und diese verdammten, wurden zahlreiche irische Politiker verhaftet. Die Phoenix Park Morde wurden damit zu einem emotionalisierenden Sinnbild der irischen Gewalt und der englischen Polizeiwillkür.16 Dies erklärt, warum auch der Parnellism and Crime-Skandal besonders in der Frage kulminierte, in welcher Verbindung Parnell zu diesem Attentat stand. Während die Irlandfrage den politischen Rahmen für den Skandal bildete, prägte das zeitgleiche Aufkommen des New Journalism den mediengeschichtlichen Kontext. Öffentlich distanzierte sich die Times von W. T. Steads Kampagnen, der mit sensationellen Meldungen die Politik zu gestalten versuchte. In der Praxis, so lässt sich anhand ihrer Parnellism and Crime-Serie verdeutlichen, knüpfte die Times jedoch an die journalistischen Techniken des New Journalism und insbesondere an Steads berühmte Serie gegen die Prostitution an. Dies zeigte sich bereits darin, dass die Times eine gezielte Kampagne mit einer regelmäßigen Serienberichterstattung startete, die eigenständig ein Thema setzte und so einen „Scoop“ erreichen wollte, also eine zuerst aufgebrachte sensationelle Meldung. Ebenso wie Stead versuchte die Kampagne der Times nicht nur das politische Klima zu prägen, sondern war zugleich auf die Beeinflussung eines einzelnen Gesetzes ausgerichtet. In diesem Fall fokussierte die Times-Serie auf ein Gesetz zur Verbrechensbekämpfung, das vornehmlich die umfassendere Verfolgung irischer Nationalisten ermöglichen sollte. Genau vor der zweiten Lesung, am 18. April 1887 veröffentlichte sie deshalb das Faksimile des vermeintlichen Briefes von Parnell, um die Regierung bei der Mehrheitsbildung zu unterstützen. Gerade weil nicht alle Konservativen anti-irisch dachten, sollten die Artikel latente Ressentiments stärken und so Mehrheiten sichern. An Steads New Journalism erinnerten auch die journalistischen Rechercheund Präsentationstechniken. Die Artikel waren eigenständig recherchiert und 14 15 16 Allerdings war Salisbury gemäßigter als sein Irland-Minister Balfour. Er trat zumindest für eine lokale Selbstverwaltung ein und war zurückhaltender bei der Unterdrückung irischer Zeitungen; vgl. zum Bruch 1886 und zu Salisburys Haltung: Taylor, Lord Salisbury, S. 119 u. 122. Diese abwertende Berichterstattung der Times gegenüber Irland hatte bereits eine längere Tradition; vgl. Leslie Williams, Daniel O’Connell, The British Press and the Irish Famine. Killing Remarks, Aldershot 2003. Vgl. Tom Corfe, The Phoenix Park Murders. Conflict, Compromise and Tragedy in Ireland, 1879–1882, London 1968. Zu Parnells Distanzierung von den Morden, wobei er auch seinen Rücktritt anbot: Lyons, Parnell, S. 209–211. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 334 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon von einer Gruppe von Journalisten und Zuträgern aufbereitet. Sie arbeiteten zwar im Unterschied zu Stead kaum mit Interviews, aber ebenfalls mit langen wörtlichen Zitaten aus Reden, offiziellen Untersuchungsberichten und Dokumenten. Die vergleichsweise großen und emotionalisierenden Überschriften (wie „The Connection between Parnellism and the Irish Murder Societies“17) standen der Pall Mall Gazette wenig nach. Dabei knüpfte die Times auch an Skandalisierungstechniken an, die die Iren Anfang der 1880er Jahre aufgebracht hatten, insbesondere beim dargestellten Dublin Castle-Skandal 1883. Durch Ankündigungen von weiteren Artikeln mit entsprechenden Enthüllungen baute die Times, genau wie bei Steads Kampagne, einen Spannungsbogen auf, der die Leser binden und die Drohkulisse verstärken sollte.18 Wenig seriös war, wie die Times einzelne Zitatfetzen aus ihren Kontexten riss, um die von Parnell organisierte Land League mit brutalen Verbrechen und Morden in Verbindung zu bringen und zu beweisen, dass Parnell zwar offziell gegen Gewalt sei, intern aber die Mörder wohlwollend unterstützte. Einzelne Aussagen von besonders radikalen Iren übertrug die Times grob verallgemeinernd auf Parnell.19 Insofern zeigte sich abermals, dass die Einteilung der Presse in Sensations- und Qualitätszeitungen, wie sie häufig von der zeitgenössischen Kritik übernommen wird, nicht immer zutrifft. Vielmehr waren die Übergänge selbst bei einem journalistischen Flakschiff wie der Times äußerst fließend. Zudem erfuhr die Öffentlichkeit im Laufe des Skandals, dass die journalistische Recherche der Times deutlich weniger gründlich verlief als etwa bei der vermeintlichen Sensationszeitung Pall Mall Gazette. Während deren Herausgeber Stead bei dem Maiden-Tribute-Skandal eigenständig die Recherche leitete und selbst Interviews führte, bezahlte die Times mit hohen Summen freie Mitarbeiter, die entsprechende Ergebnisse versprachen, und kontrollierte deren Recherche kaum. In diesem Fall bot der freie Mitarbeiter Edward Caulfield Houston, der aus Dublin berichtete und bereits über den Phoenix Park-Prozess geschrieben hatte, der Times Belege für Parnells Verbindungen zu den Mördern an. Der Herausgeber genehmigte in Absprache mit dem Manager und dem Verleger immerhin 1780 £ für die Briefe, also mehr als das Jahresgehalt eines Redakteurs.20 Da Houston zugleich Sekretär der unionistischen Irish Loyal and Patriotic Union war, beauftragte die Times einen professionellen Gegner der Irenbewegung mit den Artikeln. 17 18 19 20 Times 2. 5. 1887. Vgl. etwa Times 7. 3. 1887, S. 9. Als interne Einschätzung zur Zuordnung der Zitate vgl. etwa: Healy an Mrs. Nally 5. 12. 1888, in: NLI, Ms 22. 827. Die internen Absprachen, die nicht alle schriftlich überliefert sind, lassen sich vor allem aus den Aussagen in den späteren Vernehmungen der Special Commission rekonstruieren; diese finden sich in: John Macdonald, Diary of the Parnell Commission. Revised from „The Daily News“, London 1890; Parnellism and Crime. The Special Commission, Reprinted from The Times, 6 Bde., London 1888. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 335 Der Journalist und Funktionär Houston bezog die belastenden Briefe wiederum von einem irischen Journalisten namens Richard Pigott. Spätestens bei diesem Namen hätte die Times-Redaktion stutzig werden müssen. Denn wie damals schon bekannt war, hatte Pigott vorher für die irische Bewegung und für deren Gegner gearbeitet, je nach dem, wer von ihnen die größeren Honorare zahlte. Seine permanente Geldnot ließ ihn, wie zahlreiche Briefe belegen, selbst vor Erpressungen nicht zurückschrecken, bei denen er von irischen Politikern Geld für den Verzicht auf diskreditierende Artikel oder für Berichte mit einer bestimmten politischen Tendenz verlangte.21 Houston gab sich dennoch mit Pigotts Erklärung zufrieden, die Briefe stammten aus einem Pariser Hotel. Tatsächlich hatte Pigott sie eigenhändig gefälscht, indem er Versatzstücke aus echten Briefen Parnells an einer Fensterscheibe durchpauste und dann um diskreditierende Sätze ergänzte. Bezeichnender Weise bot Houston diese Briefe zunächst Stead für 1 000 Pfund für die Pall Mall Gazette an, der dies jedoch für ungeprüfte Belege als zu teuer ansah und ihn deshalb an die Times verwies.22 Damit erwies sich der Wegbereiter des New Journalism als deutlich vorsichtiger und quellenkritischer als die Times. Der Skandal zeigte zudem, wie unprofessionell die journalistische Quellenkritik auch bei der Leitung der Times war. Der Herausgeber, der Manager und der Besitzer der Times überprüften allesamt nur eher formell die Authentizität der Briefe. Sie besorgten sich Unterschriften von Parnell und verständigten einen Schriftgutachter zum Vergleich. Anscheinend hinterfragten sie jedoch nicht, wie die Briefe in Houstons Besitz gekommen waren. Auch die Tatsache, dass die Schrift der Signatur und des Briefinhaltes differierte und auf zwei Zetteln verteilt war, machte sie nicht misstrauisch. Vermutlich waren sie aus ihrer weltanschaulichen Überzeugung heraus so geblendet, dass sie die Fälschungen in der Hoffnung auf eine spektakuläre Veröffentlichung und eine politische Kurskorrektur für echt hielten. Bezeichnend für die journalistische Praxis der Times war zudem, dass das Autorenteam, das an der umfassenden Artikelserie schrieb, nicht nur aus Journalisten bestand. Wie üblich waren die Artikel nicht namentlich gekennzeichnet. Den Großteil des Textes verfasste der unionistische irische Katholik Woulfe Flanagan.23 Wesentlich problematischer war jedoch, dass einige Artikel ein 21 22 23 Vgl. etwa seine Drohung an Patrick Egan, angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten der Land League zu veröffentlichen, wenn er nicht ein „Darlehen“ erhalte („there is nothing that prevents me publishing it except my arrangement with you. [...] All I want from you is a temporary loan of £ 300“; Pigott an Egan 9. 3. 1881, in: BL, Althorp Papers Ms. Add. 77117. Zu andere Fällen vgl. Pigott an Lyons 12. 9. 1884, in: ebd; Kommissionsbericht 21. 2. 1889 in: MacDonald, Diary, S. 154. Dies betonte Stead erst, als sich der Skandal gegen die Times richtete; vgl. Review of Reviews Febr. 1890, S. 104; Pigotism and Crime exposed. Pall Mall Gazette „Extra“ No 16. Ein Exemplar hiervon in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 44634: 40. Bestätigt wird dies durch: Brett an Hartington 22. 2. 1889, abgedr. in: Brett (Hrsg.), Journals and Letters, S. 138. So bereits: The Times, History of the Times 1884–1912, S. 777 f. Wenig ergiebig ist hierzu Flanagans Nachlass im TNA, 1189. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 336 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Beamter namens Robert Anderson schrieb. Dieser hatte 1877 bis 1888 nicht nur leitend in der zentralen Strafverwaltung (Prison Commission) in der Bürokratie gearbeitet, sondern war auch über seine zusätzlich entlohnte Geheimdienstarbeit mit dem Innenministerium verbunden. Anschließend stieg er immerhin zum Leiter des Criminal Investigaion Department von Scotland Yard auf.24 Wie er selbst erst zwei Jahrzehnte später öffentlich gestand, verfasste er die Artikel in der Times mit Billigung seines damaligen Vorgesetzen von Scotland Yard, weil er durch die Artikel Dynamitanschläge der Iren hätte verhindern wollen.25 Zudem erhielt die Times vertrauliche Briefe über einen militärischen Agenten namens Henri LeCaron, die ihr ebenfalls vor allem Anderson zuspielte.26 Folglich beruhten die Times-Artikel also nicht nur auf gefälschten Briefen und Angaben von Funktionären der anti-irischen Bewegung, sondern auch auf Material von geheimdienstlich arbeitenden Behörden. Mit dem oft beschworenen Bild einer unabhängigen „vierten Gewalt“ vertrug sich beides kaum. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf die Enthüllungen der Times? Die erhoffte breite Empörung, die zu Parnells Sturz führen sollte, konnte sie selbst unmittelbar nach der Veröffentlichung des Faksimile-Briefes nicht auslösen. Die Mehrheit der Presse blieb entweder zurückhaltend oder zweifelte die Enthüllungen der Times an. Ein irenfreundliches liberales Blatt wie die Reynolds’s Newspaper druckte zwar die Briefinhalte ab, mutmaßte aber gleich, die Times sei getäuscht worden und täusche nun dank ihrer Senilität die Öffentlichkeit.27 Andere, wie der Standard, die Daily News, der Evening Telegraph oder der Daily Telegraph, druckten die Briefe zusammen mit der sofortigen Entgegnung Parnells ab, was ebenfalls seine Schuld relativierte. Denn Parnell erklärte unmissverständlich, das Faksimile sei inklusive der Unterschrift eine Fälschung, und der Haupttext sei von keinem seiner Sekretäre geschrieben worden.28 Offensichtlich war die Autorität der Times nicht so groß, dass ihr Wort mehr als galt als das des irischen Politikers. Ob und in welche Richtung sich der Skandal entwickeln würde, war damit solange unklar, bis die Echtheit der Briefe feststand. Die restlichen Vorwürfe der Times-Artikelserie wurden dagegen eher als Teil einer politischen Auseinandersetzung gesehen, weniger als skandalöse Enthüllung. Intensive Debatten löste die Kampagne der Times dagegen sogleich im Unterhaus aus. Damit erreichte sie zunächst ihr Ziel, die parlamentarische Debatte über die Irlandgesetzgebung zu beeinflussen. Bei ihren Angriffen gegen Parnell 24 25 26 27 28 Vgl. die Angaben zu seinem Lebenslauf in: Memorandum for the Law Officers o. D., in: TNA, HO 144/926/A49962. Vgl. Daily News 7. 4. 1910 und 8. 4. 1910, Times 12. 4. 1910. Sein Vorgänger und Chef bei Scotland Yard, Monro, bestritt diese Zustimmung allerdings – er hätte ihm abgeraten, die Artikel zu schreiben; vgl. TNA, HO 144/926/A49962/43. Vgl. Unterlagen in: TNA, HO 144/926/A49962, bes. Anderson an Matthews 8. 3. 1890, in: ebd. Vgl. auch die Aussage LeCaron in der Untersuchungskommission am 6. 2. 1889: Times 7. 2. 1889. Reynolds’s Newspaper 24. 4. 1887, S. 4. Daily Telegraph 19. 5. 1887, S. 5. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 337 und andere Angehörige stützten sich die unionistischen Abgeordneten explizit auf die Belege der Times, und forderten Parnell auf, falls die Beschuldigungen nicht zuträfen, diese durch eine Verleumdungsklage zu widerlegen.29 Durch die Times-Artikel spitze sich die ohnehin polarisierte Kommunikation weiter zu. So warf der Unionist E. J. Sauderson den irischen Abgeordneten den Umgang mit Mördern vor, woraufhin T. M. Healy ihn als „Liar“ bezeichnete – ein für das britische Parlament empörender Ausdruck, der Healys vorübergehenden Ausschluss zur Folge hatte.30 Auch bei den Spitzenpolitikern differierte die Bewertung der Briefe entlang ihrer Weltanschauung. Der liberale Oppositionsführer Gladstone sah die Briefe von Beginn an als Fälschung an.31 Ebenso kritisierte Gladstone in öffentlichen Reden die Times: Sie würde nicht wegen ihrer moralischen Position gekauft, sondern wegen ihrer guten Parlamentsberichte, den Leserbriefen von wichtigen Leuten und weil sie als mächtig gelte.32 Dagegen sah der konservative Premierminister Salisbury die Kampagne der Times als hilfreichen Rückenwind an und griff die Vorwürfe auf. Selbst nachdem die entscheidenden Briefe als Fälschung entlarvt waren, bezeichnete Salisbury die irischen Politiker als Mordgehilfen, die für die Verbrechen Verantwortung trugen: „When they allowed crime to go forward, it acted; when they suppressed it, it retreated“, kommentierte er öffentlich den abschließenden Kommissionsbericht.33 Die Times-Kampagne löste somit zwar in der politischen Öffentlichkeit eine emotionale Empörung aus, da diese jedoch entlang der parteipolitischen Grenzen verlief, entfaltete sich vorerst noch kein größerer Skandal. Parnell selbst verhielt sich auffallend zurückhaltend und ignorierte lange die Vorwürfe. Auf eine Verleumdungsklage verzichtete er, vermutlich, weil er das Kreuzverhör vor irenfeindlichen Londoner Richtern scheute. Denn wie neuere Forschungen andeuten, waren seine Verbindungen zu den radikalen Fenians (der Irish Republican Brotherhood) enger als bisher angenommen.34 Parnell argumentierte deshalb öffentlich, wenn man ihn tatsächlich für einen Kriminellen halte, solle der Staatsanwalt eingreifen.35 Erst ein Jahr später, nachdem eine Verleumdungsklage gegen die Times eines kaum beteiligten ehemaligen irischen Abgeordneten gescheitert war, forderte Parnell die Einsetzung eines Select Committee. Die konservative Regierungsmehrheit gewährte dagegen jedoch, um kein Risiko einzugehen, nur die Einsetzung einer Royal Commission, die 29 30 31 32 33 34 35 Vgl. etwa die Debatte am 18. 4. 1887, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 313, Sp. 1157– 1162. 15. 4. 1887, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 313, Sp. 1083–1087. Zu Healys Verhalten in diesem Kontext vgl. auch: Callanan, Healy, S. 185. Vgl. bes. Gladstone Diaries 28. 4. 1887, Bd. 12, S. 29. Daily News 21. 8. 1888, S. 3. Times 21. 4. 1887, S. 8; Salisbury im Oberhaus 21. 3. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 312, Sp. 1357–1369, S. 1363 f. Zu Salisburys Haltung vgl. auch: Roberts, Salisbury, 1999, S. 446; Steele, Lord Salisbury, S. 213. So Patrick Maume, Parnell and the I.R.B. Oath, in: Irish Historical Studies 29. 115 (Mai 1995), S. 363–370. Reynolds’s Newspaper 8. 8. 1888, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 338 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon nicht Parlamentarier aller Parteien, sondern drei Richter leiteten, was eine regierungsfreundliche Untersuchung ermöglichte. Dass der Attorney General bei der Leitung der Kommissionssitzung ganz auf Seiten der Times stand, machte er bereits in der ersten Sitzung deutlich.36 Das Kabinett fasste zudem den Beschluss, dass die Kommission nicht nur die Authentizität der Briefe, sondern in aller Breite untersuchen sollte, ob die Führung der irischen Nationalisten mit irgendwelchen Verbrechen in Verbindung stehe.37 Auch interne Schriftwechsel dokumentieren, dass die Kommission zwar offiziell unabhängig erscheinen sollte, tatsächlich aber der Attorney General Richard Webster dem Premierminister Salisbury versprach, sich an mündliche Absprachen zu halten.38 Dabei bediente sich die Kommission ebenso wie die Times einer Politik der Sensationen, indem sie Zeugen vorlud, die emotional bewegend über die bestialische Gewalt der irischen Land League berichteten. So vernahm sie etwa eine schöne Frau, deren Vater ermordet wurde, oder einen tauben Bauern, dem die Ohren abgeschnitten worden seien. Die eingesetzte Kommission diente somit weniger der Überprüfung der Times-Kampagne als ihrer Verlängerung. Die konservative Regierung unterstützte zudem auch bei der Kommissionsuntersuchung die Times mit zahlreichen Informationen. Der Irlandminister Balfour und Premier Salisbury waren sich der Problematik dieser Schützenhilfe durchaus bewusst. Beide waren sich aber einig, dass die Regierung auf jeden Fall eine begleitende Recherche veranlassen müsse. Allerdings war Balfour unsicher, inwieweit diese der Times zugespielt werden sollte. „If we do not it may get wasted – if we do shall we not find ourselves in a somewhat embarrassing position?“39 Salisbury entschied, entsprechende Ergebnisse fallweise zu übermitteln: „[...] if it clearly fixes some one’s guilt, we shall be fullfilling an obvious elementary duty in facilitating the proof of it before the Commission.“40 Dubliner Archivunterlagen belegen tatsächlich die bereits von Zeitgenossen geäußerte Vermutung, dass die Regierung aus ihrer Administration heraus der Times für die Kommissionssitzungen belastendes Material zuspielte. Diese Informationsübermittlung zwischen Ministerium, Scottland Yard und der Times verlief über deren Anwalt, Joseph Soames. Er versorgte die verantwortlichen Journalisten der Times schon vor den Sitzungen mit reichhaltigem Material.41 Wie der irische Ministerialbeamte Joyce später in einem internen Memorandum vermerkte, 36 37 38 39 40 41 Vgl. seine Eingangsrede in: MacDonald, Diary, S. 2 f. „[…] in no sense restricted, but should be as large as possible – so as to bring out the circumstances of the conspiracy in their fullest scope.“ Kabinettsprotokoll 23. 7. 1888, in: TNA, CAB 41/21/14. Vgl. Webster an Salisbury 7. 9. 1888, in: NL, Salisbury Hatfield House. Balfour an Salisbury 17. 8. 1888, abgedr. in: Robin Harcourt Williams (Hrsg.), SalisburyBalfour Correspondence. Letters exchanged between the Third Marquess of Salisbury and his Nephew Arthur James Balfour 1869–1892, Cambridge 1988, S. 253. Salisbury an Balfour 22. 8. 1888, abgedr. in: ebd., S. 254 Vgl. vor allem die Memoranden und Briefe in: NLI, Joseph McGarrity Collection Ms 17. 585; vgl. auch die überlieferten Briefe Soames an Flanagan, bes. 16. 4. u. 15. 5. 1889, in: NLI, Ms 36. 681/1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 339 ernannte der Irlandminister Balfour ihn persönlich „as the chief agent in secretly proving and collating the greater portion of the evidence subsequently used by the Times“.42 Das ermittelte Material habe er unter größter Geheimhaltung Soames gegeben, „collating and conveying to the Times the most secret information filed at Dublin Castle and elsewhere.“43 Hierzu hätten auch geheime Akten des Außenministeriums, der städtischen Polizei und Scottland Yards gehört. Zudem habe er bei regelmäßigen geheimen Treffen über seine Ermittlungen gegen die Iren berichtet, bei denen neben Irland-Minister Balfour der Generalstaatsanwalt, der Times-Anwalt Soames und der Times-Manager MacDonald teilgenommen hätten. Insofern spricht einiges dafür, dass die Regierung und Times bei der öffentlichen Diskreditierung der Iren weiterhin Hand in Hand arbeiteten. Als regierungsunabhängige „Vierte Gewalt“ brillierte die Times also nicht. Neben dieser offiziellen Schützenhilfe erhielt die Times in der Kommission auch Unterstützung von dem Abgeordneten William O’Shea, dessen Ehefrau mit Parnell ein Verhältnis hatte, das zwei Jahre später zu dem bereits dargestellten Eheskandal führte. Bereits hier suchte er eine persönliche Rache. Mit der Begründung, er müsse danach ins Ausland, wurde O’Shea als erster Zeuge bei der Kommission vorgeladen. Er überreichte den Richtern belastende Briefe von Parnell und bezeichnete die Unterschrift des Faksimilebriefes als echt.44 Auch der Times ließ O’Shea Briefe zukommen.45 Stärker noch als beim späteren Eheskandal sprach er dabei jeden Schritt mit dem führenden Kopf der liberalen Unionisten ab, mit Joseph Chamberlain.46 Dabei bestärkte er Chamberlain noch im Sommer 1888 in der Annahme, er wisse von Mitgliedern der irischen Partei, dass Parnells Faksimile-Brief in der Times „undoubtly genuine“ sei.47 Auch bei diesem Fall vermischten sich somit private und politische Kontroversen zu einer Kampagne. Dennoch zeigte sich, wie wenig sich ein Skandal trotz dieses vereinten Aktionismus steuern ließ. Dies betraf zunächst die Aufdeckung der Fälschung. Sie wurde gerade durch den Abdruck jenes Faksimilebriefes ausgelöst, der eigentlich die Iren besonders belasten sollte. Schon unmittelbar nach Veröffentlichung der Briefe hatten verschiedene Iren spontan den Verdacht geäußert, der Journalist Pigott habe sie gefälscht. Wie später beim Dreyfus-Skandal identifizierten Bank- und Postangestellte die in der Zeitung faksimilierte Handschrift.48 Den 42 43 44 45 46 47 48 Memorandum Joyce o. D. (April 1910) in: NLI, Ms 11. 119. Zit. ebd. Vgl. auch: Saundars an Joyce 5. 5. 1889 und Monro an Joyce 28. 3. 1890 u. 23. 5. 1890 (Abschrift 1910) in: NLI, Ms 11. 119. Webster 31. 10. 1888, in: Macdonald, Diary, S. 6 Vgl. O’Shea an Chamberlain 9. 8. 1888 und Chamberlain an O’Shea 11. 8. 1888, in: NLI, Ms 5752. Vgl. die Korrespondenz Chamberlain an O’Shea, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/52 u. 53, sowie JC 8/8/1/93 bis 104. Aufzeichnung Chamberlain 1. 8. 1888, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/92. Erklärung 7. 5. 1887, in: BL Althorp Papers Ms. Add. 77117. Die Annahme, T.M. Healy habe Pigott als erster überführt, geht dagegen wohl auf Healys Memoiren zurück; vgl. T.M. Healy, Letters and Leaders of My Day, London o. D., S. 271. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 340 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon entscheidenden Beleg für die Fälschung brachte der von der Times ebenfalls mit gefälschten Briefen beschuldigte Patrick Egan, der bemerkte, dass diese Satzteile aus seiner Korrespondenz aufwiesen, die um weitere Formulierungen ergänzt waren.49 Da Pigott früher selbst auf Seiten der irischen Nationalisten aktiv gewesen war, erinnerte sich Egan an dessen Handschrift, seine früheren Briefwechsel und seinen Charakter – zumal Pigott ihn einige Jahre zuvor erpresst hatte. Wie bei Parnells Gegnern wurden jetzt bei seinen Verteidigern jene Journalisten und Politiker aktiv, die in fast allen Skandalen eine größere Rolle spielten. Sie schlossen sich zusammen, um die unsauberen Quellen der Times aufzudecken. So bestärkte der irische Journalist und Politiker Tim Healy den radikalen Journalisten und Politiker Henry Labouchere in dem Verdacht, Pigott habe die Briefe gefälscht.50 Labouchere lockte Pigott im Oktober 1888 unter einem falschen Vorwand in seine Wohnung und erreichte dort ein Geständnis, das dieser jedoch sofort widerrief. Labouchere erfuhr hier jedoch bereits alle Einzelheiten der Fälschung und konnte sofort Gladstone die umfassende Überführung Pigotts und der Times mitteilen.51 Als Pigott als Zeuge der Kommission aussagte, konnten sie ihn im Kreuzverhör unter anderem damit öffentlich überführen, dass Pigott beim Aufschreiben diktierter Worten die gleichen Rechtschreibfehler wie bei den gefälschten Briefen machte. Nach einem Schuldeingeständnis floh Pigott unter gefälschtem Namen bis nach Madrid, wo er sich, als die spanische Polizei ihn verfolgte, mit einem Revolver das Leben nahm. Trotz oder gerade wegen des Selbstmordes des windigen Journalisten konnte das Schuldeingeständnis kaum deutlicher ausfallen. Die Aufdeckung der Fälschung führte zu einer breiten Empörung und lautstarkem Spott über die Times und die konservative Regierung. Die vormaligen Ankläger wurden so zum eigentlich Gegenstand des Skandals. Nachdem die Times und die Konservativen den Begriff Parnellism and Crime als feststehende Redewendung aufgebracht hatten, bezeichnete die liberale, irische und die sozialistische Öffentlichkeit die politische Rechte nun konsequent nach dem Namen des Fälschers als „Pigottist“ und „pigottist press.“ Den Titel der Times-Serie griff etwa die Labour World spielerisch in einer Serie über „Unionism and Crime“ auf.52 Ebenso startete Steads Pall Mall Gazette eine ausführliche und gut recherchierte Serie über die falschen Anklagen der Times und ihr Zusammenspiel mit der Regierung, die er „Pigottism and Crime“ betitelte und für nur einen Penny als Broschüre in einer Sonderausgabe publizierte.53 Auch diese 49 50 51 52 53 Labouchere an Gladstone 28. 10. (1888), in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 56449: 208. Labouchere an Healy 10. 10. 1888, in: UCD P6 B 25. Labouchere an Gladstone 28. 10.(1888) und 30. 10.(1888), in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 56449: 208. Ausschnitte in: TNA, HO 144/926/A49962/3. Pigottism and Crime exposed. Pall Mall Gazette Extra Nr. 16, Exemplar in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 44634: 40. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan? 341 Anklage gegen die Times und ihre Verbindungen zu den Tories fiel äußerst drastisch aus: The Times stands convicted of this infamous crime, whose heinousness it is impossible to exaggerate. Behind the Times stands the Government, which as Sir. W. Harcourt truly declared ,endorse, patronize and promote every calumny of the Times against the Irish members.‘ […] Here is the real conspiracy to which the attention of every elector should be directed.54 Mit langem Hintergrundberichten machte die Pall Mall Gazette auf die vorherige journalistische Karriere von Pigott aufmerksam, die die Times leichtsinnig ignoriert hatte. Stead war dabei besonders gut über die interne Arbeit der Kommission informiert, weil sein Mittelsmann bei vielen Skandalen, Viscount Esher, ihn erneut mit internen Berichten versorgt hatte.55 Steads umfassende Berichterstattung über den unseriösen Journalismus der Times war zweifelsohne auch eine Rache für die Schmähungen, die er zuvor durch die „Qualitätsblätter“ erhalten hatte. Indem Stead enthüllte, er habe die Briefe abgelehnt, unterstrich er seine Allwissenheit und seine Seriosität im Unterschied zur Times.56 Besonders scharf fielen erwartungsgemäß die Reaktionen der irischen und irenfreundlichen Öffentlichkeit aus. Publikationen wie „Pigottism and Times“ richteten sich noch direkter gegen die Regierung: „Here is the Tory Government revealed as being in trade and traffic with the employer of an avowed forger and confessed swindler.“57 Vorwürfe wie „conspiracy“ und „corruption“ durchzogen diese Texte. Selbst die deutschen Zeitungen der Zeit spotteten über die Leichtgläubigkeit der Times. Ein deutscher Journalist machte sich anschließend einen Spaß daraus, eine absurde Meldung über angebliche Forschungen von Robert Koch an die Times zu geben, die die Times zur Freude der Pall Mall Gazette erneut leichtfertig druckte.58 Ebenso musste sich die Regierung seit 1888 regelmäßige detailreiche Vorwürfe und Nachfragen im Unterhaus gefallen lassen, wobei radikale und irische Abgeordnete unter Nennung von Namen die Unterstützung der Times durch Beamte öffentlich machten.59 Auch wenn hier keine so markante Überführung wie bei Pigott gelang, wurde Salisburys Regierung durch die parlamentarischen Anfragen dennoch in die Enge getrieben. 54 55 56 57 58 59 Ebd., S. 16. Zu diesem Austauschverhältnis vgl. Baylen, Politics, S. 128. Nicht nur in seinen Artikeln, sondern auch in seinen üblichen Vorabdrucken für Spitzenpolitiker stilisierte Stead sich so; vgl. etwa Steads Schreiben an Premierminister Salisbury: „[…] you may be rather amused to see how easily I might have prevented the publication of Parnellism and Crime and the famous forgeries.“ Stead an Salisbury 5. 2. 1890, in: NL Salisbury, Hatfield House. Pigottism and the Times, Exemplar in: NLI, Ms 24,520 Amy Mander Papers. Die Bemerkungen von Lyons Parnell-Biographie zu dem Fall bauen im hohen Maße auf dieser Broschüre auf. Pall Mall Gazette 27. 11. 1890, S. 2. Vgl. etwa die Anfrage: 12. 11. 1888, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 330, Sp. 908 f.; 28. 3. 1889 Bd. 334; 18. 3. 1889, Sp. 44 f.; 28. 3. 1889 Bd. 334, Sp. 1014 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 342 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Aus heutiger Sicht erinnert der Skandal an die 1983 im Stern veröffentlichten gefälschten Hitler-Tagebücher. Im Vergleich dazu waren die Folgen des Parnellism and Crime-Skandals jedoch weitreichender. Ähnlich wie der Stern erlitt die Times durch den Skandal einen starken Reputationsverlust und hohe finanzielle Einbußen. Da das damalige Ansehen der Times jedoch weitaus größer war und die Times durch die langjährigen Untersuchungen äußerst hohe Kosten von angeblich 200 000 Pfund hatte, traf es sie ungleich härter. Die Times verlor ihren Ruf als quasi unfehlbare Tageszeitung und ihre Auflage sank in den folgenden Jahren um über ein Drittel von 65 000 auf 40 000. 1890 war sie bereits nahezu bankrott.60 Dass sie sich in ihrer Entschuldigung gegenüber Parnell selbst als Opfer einer Verschwörung rechtfertigte, half ihr wenig.61 In der bisherigen Geschichte der Times war dies zweifelsohne ihr dramatischster Einschnitt. Ihr Herausgeber Buckle behielt zwar trotz seines Rücktrittsangebotes seinen Posten, ihr Manager MacDonald überlebte aber die Krise nicht; während Pigotts Überführung erkrankte er und starb Ende 1889.62 Gerade die scharfe Kampagne gegen die Iren förderte zudem die Gründung eines neuen Konkurrenten, des liberalen Massenblattes The Star, das seit 1888 mit einer pro-irischen Haltung schnell rund 200 000 Leser gewann.63 Der Times-Skandal hatte zudem größere politische Konsequenzen als das Stern-Desaster mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern. Durch den Skandal erreichte Parnell den Zenit seines öffentlichen Ansehens. Ganz gegen die Intention der Times und der Regierung stärkte der Fall das Vertrauen in die Integrität des Irenführers und die Lauterkeit der irischen Fraktion. Dass die Konservativen, die Times und der Kommissionsbericht weiterhin andere irische Abgeordnete in Verbindung mit Verbrechen brachten, war nunmehr unerheblich. Die von Parnell noch im gleichen Jahr geführten vertraulichen Absprachen mit William Gladstone über eine irische Selbstverwaltung gingen mit Parnells moralischem Sieg einher. Wäre es im folgenden Jahr nicht zu dem Skandal über Parnells Ehebruch gekommen, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach die Home Rule gerade in Folge des Skandals um die Times umgesetzt worden. Zudem diskreditierte der Skandal nachhaltig die konservative Regierung und die Unionisten insgesamt. Sie erlitten einen Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust, der mit zu einer Reihe von Niederlagen bei den folgenden Nachwahlen 60 61 62 63 Vgl. Buckles Mitteilung an Esher laut: Tagebuch Esher 9. 1. 1891, in: Churchill Archiv Centre ESHR 2/9; Enid Moberly Bell, The Life and Letters of C.F. Moberly Bell, London 1927, S. 134 f. u. 233. Ähnlich auch: Times, History of the Times, Bd. 3, S. 81. Vermutlich waren die Kosten etwas geringer: 60 000 Pfund als Kosten für die Zeugen benennt der Anwalt der Times in: Soames an Buckle 17. 2. 1890, in: NL Salisbury, Hatfield House. Vgl. etwa die Rechtfertigungen in: Times 28. 2. 1889 und 14. 2. 1890. Sein Tod wurde auch öffentlich mit dem Prozess in Verbindung gebracht; vgl. Illustrated London News 21. 12. 1889, S. 786. Zur Gründung vgl. Ian Sheehy, T. P. O’Connor and The Star 1886–90, in: D. George Boyce und Alan O’Day (Hrsg.), Ireland in Transition 1867–1921, London und New York 2004, S. 76–91. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 343 beitrug.64 Dass die Konservativen den Kommissionsbericht insgesamt, trotz der eingestandenen Fälschung, als Beleg dafür interpretierten, dass die irischen Politiker doch in Verbindung zu Mördern standen, half angesichts dieser symbolischen Niederlage bei den Briefen wenig.65 Deshalb empfahl der Irland-Minister Balfour dem Premierminister einen moderaten Kurs gegenüber den Iren, weil die Regierungsposition nach dem Skandal kaum vermittelbar sei.66 Der Fall zeigte vor allem, dass die Zunahme von politischen Skandalen seit den 1880er Jahren nicht nur die Macht einzelner Zeitungen stärkte, sondern sie auch angreifbar machte. Der Fall war ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass die Presse im Zeitalter der Sensationen sowohl Akteur als auch Objekt politischer Konflikte sein konnte, die in Form von Skandalen ausgetragen wurden. Die Kritik an der Times verfestigte zugleich journalistische Normen. Die solide, eigenständige und kritische Recherche sowie die journalistische Distanz zur Regierung und zu Behörden bildeten dabei die wichtigsten Verhaltensregeln, um dem Ideal der „vierten Gewalt“ näher zu kommen. 2. Kollaps eines Spitzelsystems: Der Tausch-Leckert-Lützow Skandal Im Vergleich zu Großbritannien verfügten die deutschen Regierungen vor 1914, insbesondere unter Bismarck, über deutlich größere Möglichkeiten der Presselenkung. Das galt zunächst für Zensurmaßnahmen. Trotz des recht liberalen Reichspressegesetzes von 1874 wurden Journalisten etwa häufig wegen Majestätsbeleidigung, Hochverrat, Aufruf zum Klassenhass, Gefährdung des öffentlichen Friedens oder unzüchtiger Schriften strafrechtlich verfolgt und ihre Zeitungen beschlagnahmt. Insbesondere im Zuge des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze kam es trotz des gerade verabschiedeten Reichspressegesetzes schnell zu einem Anstieg der Verurteilungen, wobei ein Spitzelsystem der Politischen Polizei versuchte, die Namen der meist anonym schreibenden Journalisten zu ermitteln. Nach 1886 nahm die Zahl der Prozesse gegen Journalisten, nach einer kurzen rückläufigen Phase, erneut zu.67 Die deutschen Regierungen gaben zugleich stärkere Anreize zur Kooperation als in Großbritannien. Insbesondere die Bestechungsgelder aus Bismarcks geheimen „Reptilienfonds“ luden ausgewählte Journalisten ein, im Sinne des Kanzlers zu schreiben. Obgleich man die Bedeutung des Reptilienfonds nicht überschätzen darf, ermöglichte er zusammen mit den ebenfalls unterstützten „offiziösen“ Blättern durchaus einen 64 65 66 67 So auch die Einschätzung von: Steele, Lord Salisbury, S. 213. Vgl. Rede Salisburys im Oberhaus 21. 3. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 312, Sp. 1357–1369. Balfour an Salisbury 26. 2. 1890, abgedr. in: Harcourt Williams (Hrsg.), Salisbury-Balfour Correspondence, S. 307. Vgl. einführend Wilke, Grundzüge, S. 254; ausführlich: Wetzel, Presseinnenpolitik, bes. S. 159 u. 189. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 344 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon beachtlichen Einfluss auf die Presse.68 Auch Bismarcks Nachfolger bedienten sich, trotz der Auflösung des Fonds unter Caprivi, weiterhin staatlich alimentierter Journalisten, die heimlich Meldungen verfassten oder Verfasser von Zeitungsartikeln ermittelten. So verfügte das Innenministerium 1896 über eine Liste mit 46 Journalisten, die anscheinend alle in irgendeiner Form mit der Bürokratie kooperierten.69 Im Vergleich zu Großbritannien war in Deutschland zudem der Kontakt zwischen den Regierungsmitgliedern und den Journalisten selektiver. Die deutschen Kanzler, Minister und das Umfeld von Kaiser und Regierung verstanden die Zeitungen vor allem als Sprachrohr, gegenüber dem man auf Distanz blieb. Nur ausgewählten Journalisten gewährten sie eine informelle Übermittlung von Informationen und Einschätzungen, die diese übernehmen sollten. Bei diesen „inspirierten“ Artikeln, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, blieben die Namen der Übermittler anonym. In politischen Kreisen war allerdings recht genau bekannt, welches Regierungsmitglied welchen Journalisten empfing und „inspirierte“. Da derartige Meldungen jeweils den Charakter einer politischen Handlung hatten, lösten sie sofort Diskussionen darüber aus, wer aus welchem Grunde welche Andeutung öffentlich gemacht habe. Dabei schlossen die Politiker von den Zeitungen jeweils auf die möglichen „wahren“ Urheber, die sie dann durch ihnen vertraute Journalisten oder Polizeispitzel zu finden suchten. Dass bürgerliche Zeitungen ohne Einflüsterungen eigenständig einzelne Reichsämter gezielt in Misskredit brachten, erschien dank dieser Wahrnehmung unwahrscheinlich.70 Charakteristisch für diese Pressepolitik war, dass sie sich nicht allein gegen gegnerische Parteien richtete, sondern häufig auch gegen Rivalen in der Reichsleitung. Derartige „inspirierte“ Veröffentlichungen konnten sich selbst gegen den Kanzler wenden, was dieser ebenfalls über offiziöse Mitteilungen beantwortete. Vor allem die Arnim-Affäre machte 1874 derartige Veröffentlichungstechniken bekannt. Sie entstand daraus, dass dem deutschen Botschafter in Paris, Graf Harry von Arnim, Ambitionen auf das Kanzleramt nachgesagt wurden und er eine andere Frankreichpolitik als Bismarck forderte. Letzteres untermauerte Arnim durch lancierte Zeitungsartikel mit Dokumenten, die Bismarcks republikfreundliche Haltung gegenüber Frankreich andeuteten, die dieser natürlich nur taktisch zur Schwächung Frankreichs hegte. Bismarck sorgte dar68 69 70 Vor einer Überschätzung der Wirkung der Reptilienfonds warnt auch: Requate, Journalismus, S. 327 f. Vgl. zur Entlohnung nach 1890 auch: Stöber, Pressepolitik, S. 60 u. 73. Verzeichnis der Journalisten 12. 10. 1896, in: GStA, HA I Rep. 77 CB 5 Nr. 3 I. Darunter sind Namen wie Lützow, Leckert, Normann-Schumann, Huhn, Schwennhagen, Schweinburg, Hoenig und Zimmermann. Eine hervorragende Quelle, um dies auszumachen, sind die Briefe von Holstein und von Eulenburg; vgl. Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz; Rich Fisher (Hrsg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins. Aber auch Erinnerungen und Tagebücher verdeutlichen dies; vgl. etwa Aufzeichnung Waldersees, der sich u. a. des Schwagers des Besitzers der Frankfurter Zeitung „bediente“: Eintrag 6. 1. 1893, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 274 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 345 aufhin nicht nur für Arnims Versetzung nach Konstantinopel und einen Prozess gegen Arnim wegen Entwendung amtlicher Dokumente, sondern für die Veröffentlichung von Aktenauszügen, die Arnim diskreditierten.71 Eine extra verabschiedete „Lex Arnim“, wie sie schnell genannt wurde, sollte künftig vor Indiskretionen durch Beamte des Auswärtigen Amtes schützen. Kontrollierbar war dieses Wechselspiel aus Geheimhaltung, Veröffentlichung und Bestrafung sicher nicht. Das bekam Bismarck insbesondere 1888 in der Geffken-Affäre zu spüren, als er den konservativen Geschichtsprofessor Heinrich Geffken verhaften ließ, weil er angeblich eine gefälschte Version des Kriegstagebuches des just verstorbenen Kaisers Friedrich III. veröffentlicht hätte. Hierauf empörte sich nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch der neue Kaiser rückte von Bismarck ab.72 Bismarck machte bekanntlich dennoch selbst nach seinem Rücktritt von der Lancierung skandalöser Interna an die Presse Gebrauch, um seine politischen Gegner moralisch zu diskreditieren. So lancierte er einen Bericht, wie der verschuldete Schwiegervater des Innenministers Karl Heinrich von Boetticher saniert wurde, und 1896 ließ er über die Hamburger Nachrichten enthüllen, dass der geheime Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht verlängert worden sei.73 Derartige Enthüllungen boten jeweils Stoff für eine doppelte Empörung: einerseits über die aufgedeckte Handlung, andererseits darüber, dass ein ehemaliger Kanzler durch „inspirierte“ Artikel Staatsgeheimnisse öffentlich machte, um seine Nachfolger zu treffen. Dieses kaiserzeitliche Pressesystem aus Einflüsterungen, bezahlten Journalisten und Polizeispitzeln war bereits unter Bismarck durchaus bekannt. Um es jedoch detailliert nachzuweisen und der öffentlichen Kritik zu unterziehen, bedurfte es eines größeren Skandals. 1896/97 implodierte diese Pressepolitik, die längst ein unkontrollierbares Eigenleben entwickelt hatte, im sogenannten Tausch-LeckertLützow-Skandal. Er zeigte, wie mit Hilfe von bezahlten Journalisten Minister verunglimpft wurden und wie die Polizei eigenmächtig eine intrigante Medienpolitik betrieb. Auch dieser Skandal hatte einen längeren Vorlauf. Bereits seit den frühen 1890er Jahren suchten die Minister zunehmend nach den Urhebern von „inspirierten“ Artikeln, die Interna und Falschmeldungen in wichtigen bürgerlichen Zeitungen verbreiteten. Hierzu zählten etwa Meldungen über den angeblich schlechten Gesundheitszustand des Kaisers, vermeintlich bevorstehende Kanzlerwechsel oder Indiskretionen aus dem Bundesrat. Bei letzterem kam das 71 72 73 Vgl. hierzu bereits ausführlich: George O. Kent, Arnim and Bismarck, Oxford 1968, S. 129– 171. In der Bismarckforschung fand die Arnim-Affäre sicherlich zu Unrecht wenig Beachtung; nur knapp erwähnt ist sie in Engelberg, Bismarck, S. 99 f., u. Gall, Bismarck, S. 568; Gall deutet sie als Angst Bismarcks vor einer „Palastintrige“. Engelberg, Bismarck, S. 526 f. Hank, Kanzler, S. 317; Hammann, Der neue Kurs, S. 11; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 281; Stöber, Pressepolitik, S. 159 f. Zum Rückversicherungsvertrag vgl. auch: Notiz Hohenlohe 11. 11. 1896, in: BA/K, N 1007-1604; Eulenburg an Wilhelm II. 3. 11. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1747; Bülow an Eulenburg 6. 11. 1896, abgedr. in: ebd., S. 1749; Aufzeichnung Eulenburg für Bülow 8. 11. 1896, abgedr. in: ebd., S. 1750 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 346 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Staatsministerium noch zu dem Schluss, es handele sich wohl um „Geldgeschäfte, die von Journalisten angestrengt werden bzw. um Indiskretionen der Subalternen in den kleinen Kanzleien“.74 Die Annahme einer untergeordneten Korruption diente damit als Beruhigung, ohne dass Urheber ausgemacht werden konnten. Welche Intention hinter den lancierten Gerüchten aus „offiziellen Kreisen“ steckte, war oft nicht klar zu erkennen. So meldete die Kölnische Zeitung am 28. April 1896, Eulenburg sei als Kanzler auserwählt, weil er gegen die Reform der Militärstrafprozesse war, deren angestrebte öffentliche Prozessführung gerade hart umkämpft war. Diese „inspirierte“ Neuigkeit ließ sich einerseits als Warnung vor den Machtambitionen des Kaiserfreundes Eulenburg verstehen. Dementsprechend interpretierte Eulenburg selbst diese „Attacke in der Kölnischen Zeitung“: „Diese Aktion scheint mir von der Gruppe Marschall, Bronsart lanciert zu sein und beunruhigt mich deshalb. [...] Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kaiser diese Artikel in der Kölnischen Zeitung ganz direkt in Zusammenhang mit dem Ausw. Amt und Bronsart bringt.“75 Andererseits ließen sich solche Meldungen als eine doppelte Intrige interpretieren, die den Außenstaatssekretär Marschall und den Kriegsminister Bronsart von Schellendorf als Urheber von Falschmeldungen gegen Kaiserfreunde darstellen sollte, um sie beim Kaiser gezielt in Ungnade zu bringen. Eine derartige Auslegung lag dann durchaus in Eulenburgs Interesse. Entsprechend deutete Wilhelm II. den Artikel und telegrafierte sofort: „M.[arschall] und B.[ronsart] treiben ihr tolles Spiel in frechster Weise noch schlimmer als je. Der Teufel ist völlig los, es wird ein Blitzstrahl nötig werden.“76 Gerade weil die Presse als Ort der versteckten politischen Verlautbarung galt, konnte eine derartige Zeitungsmeldung gravierende Reaktionen auslösen und als hochpolitische Intrige erscheinen, die über die Karrieren von Politikern entschied und schließlich sogar Minister stürzte. Entsprechend intensiv gestaltete sich die Suche nach den Hintermännern solcher Artikel. Bereits 1893 fiel der Verdacht auf einen Agenten der Politischen Polizei namens Ernst Normann-Schumann. Betroffene Minister, wie Außenstaatssekretär Marschall, mieden daraufhin den Kontakt zur Politischen Polizei.77 Auch der Vorwärts enthüllte 1893, dass Normann-Schumann anscheinend von Bismarck „inspiriert“ intime Kenntnisse von Hof, Diplomatie und Regierung verbreite. Normann-Schumanns Agitation für die Antisemiten und gegen die Regierung führte schließlich mit zu seiner Entlassung.78 Aber auch danach 74 75 76 77 78 Staatsministerium 19. 12. 1895, Bd. 120, Staatsministerium 18. 4. 1896, Bd. 122, beide in: GStA, HA I Rep 90a. Eulenburg 29. 4. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1663. Wilhelm II. an Eulenburg 29. 4. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1664. Vgl. Anklageschrift Tausch 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069. Vgl. Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069; Vorwärts 22. 4. u. 25. 4. 1893. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 347 sparte der Journalist, der weiter den Kontakt zur Politischen Polizei pflegte, nicht mit spektakulären Artikeln, die er in insbesondere in Pariser Zeitungen veröffentlichte. Sie thematisierten etwa die wahnsinnige Unbeherrschtheit des Kaisers, Caprivis Vermögensverluste beim Zusammenbruch seiner Bank oder Lucanus „Handel“ mit Orden, um so außenpolitische Verwirrung zu stiften und die Gerüchte in die deutsche Presse und politische Öffentlichkeit einzuspeisen.79 Bereits der Fall Normann-Schumann deutet damit an, dass sich der von Bismarck geschaffene Polizeiapparat zu verselbständigen drohte. Dass für diese intrigante Pressepolitik nicht allein Minister und das Umfeld des Kaisers verantwortlich waren, sondern die Politische Polizei und ihre journalistischen Spitzel, legte schließlich 1896 der weltweit als sensationell bewerteter Skandal um den Kriminalkommissar Eugen von Tausch offen.80 Die Öffentlichkeit erfuhr nun detailliert, dass die Politische Polizei durch bezahlte Journalisten eigenständig gezielte Falschmeldungen verbreitet hatte, um Minister zu stürzen und eine Politik im Bismarck’schen Sinne zu erreichen. Ähnlich wie der britische Parnellism and Crime-Skandal um die Times machte der deutsche Skandal die komplexen Beziehungen zwischen Regierung und Presse öffentlich und verhandelte, wie eine journalistische Recherche auszusehen habe. Von seinem Ergebnis her stand der Skandal für den Kollaps von Bismarcks Pressesystem, das seiner Eigendynamik erlag. „Wir haben das traurige Schauspiel vor uns, daß das Lockspitzeltum der politischen Polizei, das in der Zeit der Sozialistenverfolgung eine so traurige Rolle spielte, sich schließlich gegen die Regierung selbst gekehrt hat, daß es Ministerstürzerei und Ministerhetzerei mit Erfolg getrieben hat [...]“, fasste die liberale Frankfurter Zeitung diese ebenso groteske wie spektakuläre Enthüllung zusammen.81 Ausgelöst wurde der Skandal im September 1896 durch eine erneute „inspirierte“ Pressemeldung mit intriganten Verdächtigungen. Die Nachrichtenagentur WTB hatte einen Toast des Kaisers auf den russischen Zar Alexander angeblich durch einen Hörfehler so übermittelt, dass sich daraus eine russlandkritische Nuance ergab. Daraufhin setzte die Suche nach dem Urheber der Falschmeldung ein, da sie außenpolitische Konsequenzen zu haben drohte.82 Die liberale 79 80 81 82 So zumindest die Erinnerung von: Hammann, Der neue Kurs, S. 74. Vgl. etwa zur englischen Rezeption die Wertungen in: Times 8. 12. 1896, Standard 8. 12. 1896, Daily Telgraph 7. 12. 1896, Morning Post 9. 12. 1896; Daily News 9. 12. 1896. Frankfurter Zeitung 4. 12. 1896. Wilhelms Toast beim Zarenbesuch in Breslau am 5. 9. 1895 lautete angeblich: „Je puis vous assurer, Sire, que je suis animé des mêmes sentiments traditionels que Vortre Majesté“; das WTB meldet jedoch „[...] que mon Père“, was angesichts der geringen Sympathie von Wilhelms Vater für Russland als Affront galt; zur Rekonstruktion vgl. Anklageschrift Erste Staatsanwalt 3. 11. 1896, in: GStA, HA I. Rep. 84a Nr. 58196. Zum Tausch-Skandal liegen bisher, trotz seiner immensen Bedeutung, so gut wie keine wissenschaftlichen Arbeiten vor; vgl. bisher nur die ältere marxistische Interpretation: Dieter Fricke, Die Affäre Leckert-Lützow-Tausch und die Regierungskrise von 1897 in Deutschland, in: ZfG 7 (1960), S. 1579–1603; Hinweise bes. aus der SPD-Presse in: Hall, Scandal, S. 106–111. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 348 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Welt am Montag behauptete daraufhin in mehreren Artikeln, die erste Depesche sei von einer der jüngst so oft besprochenen ‚unverantwortlichen‘ Stellen der ‚Nebenregierung‘ ausgegangen und dem Vertreter des officiösen Drahtes in die Feder diktiert worden. Unser Gewährsmann steht nicht an, als den Urheber dieser ‚Aktion‘ einen hohen Beamten der kaiserlichen Hofhaltung zu bezeichnen, dessen Person zwar bisher noch nicht unter dem Begriff ‚Nebenregierung‘ fiel [...].83 Damit wies der Artikel, der sofort in der gesamten Presse Beachtung fand, ohne Namensnennung direkt auf den Oberhofmarschall August von Eulenburg und englandfreundliche Kreise hin. Bezeichnenderweise war der zuständige Abteilungsleiter der Politischen Polizei, Eugen von Tausch, der auch in diesem Fall mit der Suche der journalistischen Übeltäter und Hintermänner beauftragt wurde, gleichzeitig der eigentliche Drahtzieher dieser Falschmeldung. Durch die von seiner Behörde bezahlten Journalisten hatte er genau jene Falschmeldung verbreiten lassen, gegen die er jetzt ermitteln sollte. Entsprechend vertuschte der Kommissar die Spur und lenkte den Verdacht auf den Außenstaatssekretär Adolf Marschall von Bieberstein.84 Die antisemitische Staatsbürger-Zeitung benannte den Außenstaatssekretär, durch Hinweise von Tausch und Lützow, dann auch öffentlich als Verantwortlichen für die Verleugnung.85 Da Marschall seit Jahren Hauptopfer derartiger Meldungen war, hatte er jedoch schon seit einiger Zeit eigenständige Ermittlungen begonnen. Als früherer Staatsanwalt in derartigen Dingen geschult, berief er zahlreiche Journalisten ein und befragte sie auf deren Quellen, insbesondere im Verkehr mit Ministerien und der Politischen Polizei. Dabei fand er heraus, dass Tausch bewusst falsche Journalisten als Urheber benannt hatte, die als Vertraute seines Ministeriums galten. Als Urheber des KaisertoastArtikels in der Welt am Montag machte er zwei von Tausch bezahlte Journalisten aus, die angeblich ihre Informationen direkt vom Auswärtigen Amt haben wollten, tatsächlich aber nie von Marschall empfangen worden waren. Hier handelte es sich um den 19-jährigen Journalisten Heinrich Leckert, der erst seit kurzem in Tausch Diensten für verschiedene Zeitungen schrieb, und den 40-jährigen Journalisten Freiherr Karl von Lützow, der seit 1892/93 im geheimen Dienst der Politischen Polizei Artikel und Gerüchte in den Medien platzierte. Gegen beide erfolgte Anfang Dezember 1896 ein Prozess wegen Beleidigung. Damit brachte weder die Presse noch der Reichstag, sondern ein Staatssekretär den Skandal maßgeblich ins Rollen, indem er die Missstände in der Bürokra83 84 85 Welt am Montag Nr. 39, 28. 9. 1896. Am 5. 10. 1896 bekräftigte sie dies. Die hier sehr geraffte Rekonstruktion des Falles stützt sich vornehmlich auf die Ermittlungsakten und die Aussagen bei den späteren Prozessen; vgl. bes. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Prozessaussagen in gedruckter Form auch in: Friedlaender, Interessante Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 72–159. Staatsbürger-Zeitung Nr. 495, 21. 10. 1896 u. Nr. 497, 22. 10. 1896. Wegen des Artikels „Zum Kapitel Offiziöse Pressmisswirtschaft“ wurde dieses Blatt daraufhin konfisziert; vgl. Königliche Amtsgericht 21. 10. 1896, in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 13859. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 349 tie aufdeckte. Allerdings hatten ihm insbesondere Journalisten der liberalen Presse, wie der Chefredakteur des Berliner Tageblattes Eugen Wolf, die maßgeblichen Hinweise auf die Intrigen der Politischen Polizei gegeben. Bei dem Beleidigungsprozess gegen die beiden Journalisten Lützow und Leckert trat Außenstaatssekretär Marschall eigentlich als Zeuge auf, er übernahm aber mit seiner Aussage schnell die Rolle des Anklägers. Dabei klagte er Kommissar Tausch öffentlich an, falsche Informationen zu verbreiten. Seit mindestens 1891, so habe er ermittelt, hätte die Geheime Polizei skandalöse Artikel gegen verschiedene Staatssekretäre lanciert. Die Notwendigkeit, diese Interna nun öffentlich zu machen, rechtfertigte Marschall mit den später viel diskutierten Worten: „Wenn aber die Vertrauensmänner des Herrn von Tausch sich erdreisten, mich, meine Beamten und das Auswärtige Amt zu verleumden, so flüchte ich in die Öffentlichkeit und brandmarke dies Treiben (Große anhaltende Bewegung).“86 Auf Marschalls „Flucht an die Öffentlichkeit“ hin wurde Tausch verhaftet und verschiedene Ermittlungsverfahren gegen ihn begonnen. Bereits diese ersten Enthüllungen galten international als eine Sensation. Die Times sprach in ihren zahlreichen Artikeln etwa von einem „political cause célèbre“, der Spectator titelte sogar „The German Panama“.87 Unverkennbar prägten die zahlreichen Berichte die britischen Vorstellungen über die deutsche Pressepolitik. Steads Review of Reviews beschrieb Deutschland als einen vormodernen Staat, in dem die Geheimpolizei Journalisten einfach verhaften könne und Falschmeldungen verbreite.88 Andere englische Blätter, wie der Daily Telegraph, deuteten den Fall in Verbindung mit den anderen Skandalen als Zeichen für die generell fehlgeleitete Politik in Deutschland.89 Die englischen Zeitungen erwarteten in ihren ausführlichen Berichten dementsprechend als Resultat des Skandals ein Ende der Pressebeeinflussung, die sie vor allem Bismarck und seinem Sohn anlasteten.90 Dem Skandal wurde somit optimistisch eine reinigende Kraft zugeschrieben. Auch in der deutschen Presse fehlte es nicht an Superlativen, um die große Bedeutung des Falles zu betonen. Die Berliner Illustrirte Zeitung meinte, dass ein „Rekord für das Sensationelle, das in jenem Hause [dem Gericht] geboren wird, aufgestellt wurde.“91 Das ebenfalls liberale Berliner Tageblatt kam zu dem Schluss, der Fall würde selbst französische Skandale noch überbieten. Dass die 86 87 88 89 90 91 Aussage in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 129; wortgleich auch von verschiedenen Presse-Stenographen festgehalten, vgl. etwa: Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 571, 5. 12. 1896. Zit. Spectator 12. 12. 1896 u. Times 5. 12. 1896, S. 7; vgl. bes. die Berichte der Times bis 12. 12. 1896, S. 7. Review of Reviews Januar 1897, S. 6. „It is obvious that there is something wrong in Germany, not only in the distant colonies, where men like Wehlan and Leist could work their will upon defenceless savages, but in the very heart of the cultivated fatherland.“ Daily Telegraph 7. 12. 1896. So Times 8. 12. 1896, Reynolds’s Newspaper 13. 12. 1896, S. 1; Standard 8. 12. 1896, Daily Telegraph 7. 12. 1896, Morning Post 9. 12. 1896; Daily News 9. 12. 1896. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 50, 13. 12. 1896. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 350 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Politische Polizei Verdrehungen, Verleumdungen und Urkundenfälschungen begangen habe, deutete sie als Zeichen für den Verfall des preußischen Staates: „Es wurde ein System aufgedeckt, so verrottet und verderblich, wie selbst der härtestgesottene Pessimist es im preußischen Staate, im deutschen Reiche, nicht für möglich gehalten hätte.“92 Damit übernahmen selbst die Liberalen jenes Verfallsnarrativ, das vor allem die Sozialdemokraten heranzogen. So sprach der Vorwärts von einem Prozess gegen türkische „Nebenregierungen“, die aus der Zeit der Sozialistengesetze gut bekannt seien, und zog Analogien zur Halsbandaffäre im Vorfeld der Französischen Revolution.93 Auch in den Kneipengesprächen wurden extrem emotionale Ausbrüche über das Verhalten von Tausch verzeichnet.94 Der Skandal zeigte, wie der für die Presse zuständige Polizeikommissar Tausch über die Medien eigenständig Politik betrieben hatte. Seine zahlreichen Normverstöße lassen sich in drei Kategorien gruppieren. Erstens hatte Tausch, unabhängig von seiner Pressepolitik, gegen den generellen Verhaltenskodex der Beamten verstoßen. So hatte er nicht nur im Dienst, sondern auch vor Gericht falsche Aussagen gemacht. Seinen Journalisten hatte er gegen Bezahlungen falsche Aussagen und Unterschriften mit falschen Namen abverlangt, was den Bestand der Urkundenfälschung erfüllte. Zudem hatte Tausch bei zahlreichen Journalisten und Zeitungsverlegern zum Teil hohe Schulden gemacht, die sich auf bis zu 30 000 Reichsmark und damit auf mehrere Jahreseinkommen beliefen. Diese zinslosen Kredite zahlte er kaum zurück und zum Teil wurden sie ihm erlassen; so erließ der Großverleger Scherl ihm etwa „einige 1 000 M.“95 Gerade diese hohen Geldgeschenke von Journalisten an genau den Beamten, der die Ermittlungen gegen die Presse leitete, erfüllten unverkennbar den Tatbestand der Korruption. Zweitens hatte der Kommissar die ihm unterstehende Aufklärung von Pressemeldungen zur persönlichen Politikgestaltung benutzt. Bei der ihm aufgetragenen Suche nach Journalisten, die die betroffenen Regierungsmitglieder nach beleidigenden Artikeln verlangten, hatte er bewusst falsche Namen genannt, um den Verdacht auf ihm missliebige Staatssekretäre zu lenken oder diese gegeneinander aufzuhetzen. So nannte er etwa den Innenminister als Urheber eines Zeitungsartikels der meldete, das gesamte Preußische Staatsministerium sei für die Öffentlichkeit der Kriegsgerichtsprozesse und der Kaiser entscheide deshalb nun über den Verbleib des Kriegsministers. Gegenüber Lützow und Leckert 92 93 94 95 Berliner Tageblatt Nr. 621, 6. 12. 1896. Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896. Polizeibericht Schutzmann Struve 26. 5. 1897 u. 5. 6. 1897, in: StAH, S 3930-23 Bd. 4. Scherl an Dieterici 10. 11. 1897 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Schulden hatte Tausch etwa bei dem Redakteur Hildesheimer, Chefredakteur Oberwinder und Goldberger. Tausch hatte über den Berliner Tageblatt-Chefredakteur Levysohn auch nach einem Darlehen von Mosse gefragt, der lehnte dies jedoch ab. Die Gesamtsumme der Schulden wurde erst auf 12 000 Mark, dann auf 30 000 beziffert; vgl. Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898 und Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930; Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 351 belegte er diese Ansicht damit, Kriegsminister Bronsart habe dies gesagt und Hohenlohe und Marschall hätten Bronsarts Vermutung bestärkt.96 Durch derartige Verdächtigungen schuf Tausch innerhalb der Regierung ein Klima des Misstrauens, das die ohnehin bestehende Regierungskrise verstärkte. Drittens hatte der Kommissar über bezahlte Journalisten, die 200 bis 300 Mark im Monat dafür erhielten, eigenständig politische Meldungen oder Gerüchte in die Zeitungen lanciert. Dies waren mitunter nur banale Vorschläge für die politische Debatte. Hierzu zählte etwa die Meldung, die Beschäftigung von Ausländern in der Waffenproduktion berge die Gefahr des Geheimnisverrates, die er über seinen Journalisten Wingolf Staerck im Berliner Tageblatt platzierte.97 Zu diesen eher banalen Artikeln zählten auch Berichte über ihn selbst. So gab er Lützow den Auftrag, ihn als Helden eines Prozesses herauszustellen: „Schreiben Sie, dass Kriminalkommissar v. Tausch in dem Landesverratsprozeß sich große Dienste erworben habe“, wies er ihn an und gab ihm per Zettel eine Vorlage.98 Brisanter war bereits, dass der Kommissar intime Gerüchte über den Monarchen verbreitete, wie über eine angeblich bevorstehende komplizierte Ohrenoperation.99 Über Normann-Schumann wurde etwa unter den Reichstagsabgeordneten lanciert, „Der Kaiser hat bei den Juden ungeheure Schulden, weil er seiner Frau Schmuck gekauft hat.“100 Damit versuchte der Polizeiagent einen Skandal auszulösen, der an die Halsbandaffäre anknüpfte. Direkte Politik betrieb Tausch durch von ihm lancierte Artikel gegen den „neuen Kurs“. Marschall hielt dem Kommissar vor Gericht vor, dass er von 1890 bis 1893 den Journalisten Normann-Schumann als Agenten beschäftigte, der „fast alle Skandalartikel“ gegen das Auswärtige Amt verfasste, obgleich Tausch eigentlich gegen diesen Journalisten ermitteln sollte.101 Auch unabhängige Journalisten, wie Maximilian Harden, versorgte Tausch mit Nachrichten gegen Caprivi, Boetticher und Wilhelm II.102 Zudem ergaben die Ermittlungen, dass Tausch in seinen Hintergrundgesprächen mit Journalisten keine unzweideutigen Urteile scheute. So bezeichnete er Marschall und Hohenlohe gegenüber Journalisten als „Schwachköpfe“ und „Waschlappen.“103 Selbst wenn Tausch 96 97 98 99 100 101 102 103 Münchener Neueste Nachrichten 4. 11. 1895; vgl. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195. Vernehmung Tausch 18. 10. 1897, in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Zit. Tausch an Lützow, Dokument verlesen im Prozess, in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 104. Zu Artikeln, die ihn selbst lobten, vgl. Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930; Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930. Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Aussage Oscar Knack laut: Staatsanwalt 10. 6. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a 49813-9. Aussage abgedr. in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 109. Bericht Staatsanwalt 6. 5. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 352 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon nicht alle Meldungen unterbringen konnte, setzte er genügend Gerüchte in die Welt. Schon nach den ersten Enthüllungen erschien der Kommissar wie eine Nebenregierung, die über die Presse politische Weichen gestellt hatte. Der Sturz von Reichskanzler Caprivi und der Rücktritt von Innenminister Ernst Matthias von Köller 1895 wurden öffentlich mit Tauschs Pressepolitik in Verbindung gebracht.104 Aber auch der große Hofskandal von 1894, die sogenannte KotzeAffäre um die skandalösen Briefe im Umfeld des Kaisers, erschienen als sein Werk, das er mit Hilfe von Norman-Schumann inszeniert hätte, wie auch der Kaiser in einer Anfrage vermutete.105 Immerhin hatte Tausch in der Kotze-Affäre nicht nur ermittelt, sondern auch Beweise unterschlagen, was seine Verantwortung an dieser Affäre zwar nicht belegt, wohl aber zeigt, dass er auch hier Verdächtigungen gezielt nach seinen Ansichten kanalisierte.106 Tausch galt durch sein intimes Wissen um den Hof selbst für die Stellung des Kaisers als eine potentielle Gefahr. So berichtete Holstein, die graue Eminenz des Auswärtigen Amtes, gegenüber Eulenburg: „Denn schon jetzt wird in der Gesellschaft emsig verbreitet, der Kaiser habe Angst, weil Tausch gedroht habe, Weibergeschichten zu enthüllen. Natürlich ist das Unsinn; denn Tausch, selbst wenn er was weiß, wird sich wohl hüten, etwas zu enthüllen, weil er sonst später weder Gnade noch Ungnade zu erhoffen hat.“107 All dies unterstrich die Inversion einer bürokratischen Institution und ihrem Verhältnis zum Öffentlichen und Geheimen. Während die Politische Polizei eigentlich staatliche Geheimnisse vor der Presse schützen und so Skandale verhindern sollte, erschien sie nun als Urheber skandalöser Veröffentlichungen. Durch den Vorstoß des Außenstaatssekretärs erhielt der Skandal die übliche Dynamik. Auf Marschalls „Flucht in die Öffentlichkeit“, wie es schnell hieß, meldeten sich zahlreiche Journalisten und Politiker mit weiteren Informationen bei ihm, was die Ausweitung des Skandals beschleunigte.108 Besonders die Sozi- 104 105 106 107 108 So auch bürgerliche Zeitungen wie: Vossische Zeitung Nr. 63, 7. 2. 1897; Frankfurter Zeitung Nr. 29, 29. 1. 1897; Kölnische Volkszeitung Nr. 845, 11. 12. 1896; auch im Reichstag wurden diese Gerüchte angeführt: RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4473 u. 4485. Der Justizminister sah jedoch in seiner Antwort Tausch nicht als Urheber der Briefe, sondern allenfalls Normann-Schumann in Verbindung mit Tausch; vgl. Justizminister an Oberstaatsanwalt 21. 1. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Erste Staatsanwalt an Justizminister 22. 1. 1897 u. Justizminister an Wilhelm II. 24. 1. 1897, in: ebd. Vgl. Beweisanträge Friedmann 14. 12. 1894, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/9; AussageProtokolle 29. 9. und 22. 10. 1894, in: GStA, HA I Rep. 89 3307/5; Protokoll 29. 9. 1894, in: GStA, HA I Rep. 89 3307/5; Oberstaatsanwalt Drescher an Kotze 9. 5. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58193. Zur Kotze-Affäre vgl. Kap. VI. 3. Holstein an Eulenburg 5. 3. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1796. Dass Tausch um die Liebesaffären von Wilhelm II. wusste und daher eine Gefahr für den Kaiser darstellte, deutet auch Röhl an: ders., Wilhelm II., Bd. 2., S. 753. Vgl. die Schreiben an Marschall 5. 12. 1896, und 11. 12. in: PAAA R 1239; Griesemann an Marschall 8. 1. 1897 und Einzelaussagen wie am 17. 4. 1897, in: ebd. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 353 aldemokraten brachten eigene Ermittlungsergebnisse vor. Da sie am meisten unter der Politischen Polizei gelitten hatten, verfügten sie seit längerem über Material. So konnte Bebel im Reichstag enthüllen, dass sozialdemokratische Vertrauensleute den Polizeispitzel Normann-Schumann observiert hatten, seine Besuche im Innenministerium beobachteten und Originalbriefe und Artikel von ihm besitzen würden, die Normann-Schumanns Angriffe auf den Kaiser, Reichskanzler Caprivi und Marschall belegten.109 Damit übernahm die SPD wieder die Rolle des investigativen Anklägers. Zugleich zeigten die Sozialdemokraten, dass sie selbst mit den Methoden der Politischen Polizei operierten und quasi deren Aufgaben übernahmen, um den Staat zu schützen. Auch wenn die SPD diesen Skandal nicht angestoßen hatte, trieb sie ihn so zumindest sichtbar voran. Der Chefredakteur des Vorwärts, Wilhelm Liebknecht, übergab dem Staatsanwalt tatsächlich 21 Briefe von Normann-Schumann und acht Nummern der Mémorial Diplomatique, die dessen Autorschaft dokumentierten.110 Auch Bebel trat im Prozess als Zeuge gegen ihn mit Material auf und kündigte öffentlich an, dass er die Hintermänner von Tausch kenne und diese im Reichstag nennen werde.111 Dabei ging es den Sozialdemokraten selbstverständlich nicht nur um die Verhaftung der korrupten Polizisten und Journalisten. Vielmehr wollten sie den Skandal als verdichteten Beleg für ihre generellen Anklagen gegen das Kaiserreich ausbauen. Intern sah Bebel den Skandal schon vor dem Prozess als „gefundenes Fressen“ für die SPD112, und auch im folgenden Jahr bildete der Skandal ein Zentrum seiner Agitation, wie Bebel in einem Brief unterstrich: „Er lieferte eine Fundgrube von Waffen für uns zur Verwendung im Reichstag. So ist noch kein System bloßgestellt worden. Es ist ein unabwendbares Verhängnis, was unsere Gegner immer thun, sie blamieren sich und nützen uns. Wäre ich Gegner, ich würde aus Verzweiflung an dem von mir zu vertretenden System Social-Demokrat.“113 Der Fall war damit eine Staatskrise, die der SPD im doppelten Sinne zu helfen versprach: Er mobilisierte ihre Anhänger und ließ den Abbau der polizeilichen Willkür erhoffen. Gebremst wurde die SPD-Kampagne allerdings im Mai 1897, als bekannt wurde, dass der Polizeiagent Normann-Schumann selbst für den Vorwärts 1895/96 einige Artikel gegen Caprivi verfasst hatte. Deshalb empfahl Bebel dem Chefredakteur des Vorwärts, keine Artikel hierzu mehr zu publizieren.114 Im Tauschprozess musste Bebel diese Kooperation öffentlich zugeben.115 Auch dies zeigte die unberechenbare Eigendynamik von Skandalen, deren Enthüllungen sich immer auch gegen die Ankläger wenden konnten. 109 110 111 112 113 114 115 RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4482 f. Staatsanwalt 4. 11. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a 49813. Kölnische Volkszeitung Nr. 845, 11. 12. 1896. Bebel an V. Adler 1. 12. 1896, in: Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, Wien 1954, S. 224. Bebel an Frau Bahlmann 10. 6. 1897, in: BAB/L, NY 4022-121: 22. Bebel an W. Liebknecht 15. 5. 1897, in: BAB/L, NY 4034-134. Auch der Vorwärts druckte diese Prozessaussage Bebels: Vorwärts Nr. 123 29. 5. 1897. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 354 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Zwischen Oktober 1896 und Frühjahr 1897 führte der Skandal zu einer breiten öffentlichen Debatte über unterschiedliche Normen, die weit über die konkrete Arbeit einzelner Polizisten und journalistischer Agenten hinausreichte. Dabei ging es zunächst um die gerade in Deutschland virulente Frage, ob man derartige Missstände in der Bürokratie überhaupt öffentlich aufdecken dürfte. Im preußischen Staatsministerium war es schon vor dem Prozess umstritten gewesen, ob Marschall und Tausch generell zu den „Preßhetzereien“ vor Gericht und damit in der Öffentlichkeit aussagen dürften oder sich hinter das Amtsgeheimnis zurückziehen müssten.116 Danach machte auch Wilhelm II. Marschalls öffentliche Aussage direkt für den Skandal verantwortlich und fragte ihn vorwurfsvoll: „Was ist das für ein entsetzlicher Schlamm, der in dem Lützow-Prozeß aufgerührt worden ist.“117 Sein ohnehin bestehender Argwohn gegen den Außenstaatssekretär wurde dadurch verstärkt, und Wilhelms Umfeld riet ihm, Marschall nun umso schneller zu entlassen. Insbesondere Eulenburg flüsterte dem Kaiser ein, dass sich Marschall auf Kosten des Kaisers von den liberalen Stammtischen feiern lasse.118 In der internen Auseinandersetzung verteidigte zumindest Reichskanzler Hohenlohe das Vorgehen Marschalls, da nur so die politischen Verleumdungen beendet und das „ganze Polizeinest“ ausgehoben werden könne.119 In der Öffentlichkeit erhielt Marschalls Anklage eine klare Unterstützung. Die liberale, katholische und linke Presse begrüßte seine „Flucht in die Öffentlichkeit“ als einen vorbildlichen und notwendigen Akt der Reinigung. Nur Teile der Konservativen sahen dies weiterhin anders. Ihnen zufolge sollten Missstände in der Regierung und Bürokratie geheim bleiben, um die Autorität des Staates nicht zu gefährden. Die konservative Presse forderte sogar Marschalls Entlassung, da er die Geschlossenheit der Ministerien durchbrochen und das Ansehen der Beamten vermindert habe, was nur die SPD stärken würde.120 Selbst Maximilian Harden vertrat diese Position und richtete sich gegen Marschalls Vorgehen.121 Als Ideal führten die Konservativen Bismarck an, der solche Missstände „mit eiserner Hand“ beseitigt hätte, ohne sie öffentlich zu machen.122 In der öffentlichen Debatte war diese konservative Deutung jedoch klar in der Minderheit. 116 117 118 119 120 121 122 Insbesondere der Innenminister sprach sich dagegen aus, Marschall, Boetticher und Justizminister Schönstedt waren dafür. Bezeichnenderweise wurde für diesen Sitzungsteil aus Angst vor Indiskretionen extra ein getrenntes geheimes Protokoll angefertigt, das überliefert ist; vgl. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 27. 11. 1896, und 15. 12. 1896 in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3583-202b sowie 263a. Wilhelm II. an Marschall 5. 12. 1896, in: PAAA R 1239. Eulenburg an Bülow 10. 12. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1766. Vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst an Holstein 17. 10. 1896 u. an Wilhelm II. 8. 12. 1896 (Entwurf), in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 269 u. 287 f. Deutsche Zeitung 2. 2. 1897; Berliner Börsen-Zeitung 3. 2. 1897. Die Zukunft 12. 6. 1897, S. 31 f. So Graf von Mirbach: RT IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4480. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 355 Dies zeigte sich ebenso bei den Parlamentsdebatten im Kontext des Skandals. Auch hier hatten verschiedene konservative Landtags- und Reichstagsabgeordnete Marschall angriffen und ihm einen Verstoß gegen preußische Traditionen vorgeworfen.123 Reichskanzler Hohenlohe betonte dagegen die Notwendigkeit, mit solchen Missständen an die Öffentlichkeit zu gehen,124 und der Außenstaatssekretär verteidigte im Reichstag die Veröffentlichung derartiger Vorgänge. Den Vorwurf, er verhalte sich als Minister wie früher als Staatsanwalt, griff er produktiv auf. Unter Verwendung der Licht-Metaphern, mit denen der Begriff „Öffentlichkeit“ historisch verbunden war, argumentierte er im Reichstag: „Mit diesen Feinden im Dunkeln zu kämpfen, habe ich in meiner Jugend nicht gelernt (Sehr gut). Ich kann mich ihrer nur erwehren im hellen Tageslicht des Gerichtsaales.“125 Innerhalb der politischen Führung schwächte Marschalls Aufdeckung zwar seine Position, aber in der Öffentlichkeit etablierte er die Forderung, ein Minister müsse Missstände in der eigenen Regierung benennen. Zu diesem Bruch mit preußischen Traditionen kam es wohl auch deshalb, weil der Kanzler und der Außenstaatssekretär aus dem liberaleren Süddeutschland stammten. Schon als bayrischer Ministerpräsident hatte Hohenlohe die Öffentlichkeit von Kriegsgerichten eingeführt. Die nunmehrige Verteidigung der Veröffentlichung von Missständen verwies auf ihren generellen Einsatz für mehr Transparenz – was auch für die gerade umkämpfte Militärstrafreform galt. Eine weitere Norm, die der Skandal verhandelte, waren die zulässigen Grenzen im Umgang zwischen den Journalisten und den Ministerien. Der Skandal hatte durch die Zeugenaussagen öffentlich gemacht, dass zahlreiche Journalisten in den jeweiligen Ministerien verkehrten und somit Kontakt zu einem politischen Arkanbereich hatten, der sich offiziell von der Medienöffentlichkeit abgrenzte. Insbesondere der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblattes, Arthur Levysohn, berichtete als wichtiger Zeuge von seinen Gesprächen im Auswärtigen Amt. Dementsprechend kritisierten Konservative wie der frühere Außenstaatssekretär Friedrich Wilhelm Graf Limburg-Stirum, dass der Zugang für Journalisten zum Auswärtigen Amt zu leicht sei, zumal diese nur durch „Sensation Abonnenten an sich zu ziehen“ versuchten. Es müsse vielmehr für einen Journalisten eine große Auszeichnung bleiben, Zugang zu Ministern zu haben und er müsse sich dann Beschränkungen auflegen.126 Dabei bezog sich die Kritik einerseits darauf, dass ein Minister wie Marschall überhaupt mit liberalen Journalisten sprach, obgleich diese seine Regierungspolitik mitunter kritisierten. Andererseits waren antisemitische Motive unverkennbar, weil mit Levysohn ein jüdischer Journalist, der für einen jüdischen Verleger schrieb, 123 124 125 126 Vgl. bes. die Rede von Limburg-Stirum im Reichstag IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4489; sowie 18. 1. 1897, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, 20. Sitz., S. 520. Hohenlohe 19. 1. 1897, in: Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, 21. Sitz., S. 532 f. RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz., IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4477. Rede Limburg-Stirum 18. 1. 1897, Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, S. 520 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 356 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon maßgeblich zur Überführung der Politischen Polizei beigetragen hatte. Marschalls „fragwürdige ‚Latitüde‘ gegen jüdische Journalisten“ galt den Konservativen damit ebenfalls als ein Entlassungsgrund.127 Auch in dieser Diskussion traten besonders der Reichskanzler und der Außenstaatssekretär für eine Veränderung der Normen ein. Kanzler Hohenlohe verspottete im Preußischen Abgeordnetenhaus die geforderte Zugangsbegrenzung für Journalisten als Einführung einer „Hoffähigkeit der Journalisten“.128 Marschall entgegnete im Reichstag, dass zwar nicht jeder Journalist mit einem Anschreiben eines Chefredakteurs im Auswärtigen Amt empfangen würde, stellte aber unmissverständlich klar, dass er auch mit Journalisten spräche, die seine Politik kritisierten, da er Informationen nicht als Belohnung oder Strafe für Artikel vergäbe. Wichtig sei vielmehr, ob das Blatt im Inland und im Ausland gelesen werde.129 Obgleich diese Praxis durch den Aufstieg der Massenpresse bereits seit einigen Jahren geläufig war, bedeuteten diese Äußerungen eine bemerkenswerte Anerkennung parteiunabhängiger oder liberaler Zeitungen. Dass sozialdemokratische Journalisten von dieser Praxis ausgeschlossen blieben, erschien allerdings so selbstverständlich, dass es nicht einmal diskutiert wurde. Der Skandal löste zudem eine generelle Diskussion darüber aus, inwieweit eine Politische Polizei überhaupt noch nötig sei. Selbst bei den Konservativen bestand zumindest ein Konsens darüber, dass der Skandal das Ansehen der Politischen Polizei stark herabgesetzt habe.130 Nicht nur die sozialdemokratische, sondern auch die liberale und katholische Öffentlichkeit sprach von der „Korruption“ der Politischen Polizei, was im damaligen Sprachgebrauch nicht nur die konkreten materiellen Bestechungen meinte, sondern auch deren grundsätzliche moralische Verkommenheit.131 Zumindest Teile der konservativen Öffentlichkeit konzedierten eine nötige Verminderung des Beamtenbestandes in der Politischen Polizei, der sich von den 18 Beamten im Jahr 1878 in kurzer Zeit verzehnfacht hatte. Denn gerade weil sie nicht genügend Aufgaben hätten, würden sie eigenständig politisch agieren.132 Für die völlige Auflösung der Politischen Polizei sprachen sich hingegen Linksliberale wie Eugen Richter oder August Carl Munckel aus, da sie bereits von ihrer Struktur her vornehmlich Unheil anrichte und aufgrund ihrer eigenständigen Arbeit naturgemäß Politik betreibe.133 Erwartungsgemäß trat die SPD besonders deutlich für die komplette Auflösung dieser Polizeiabteilung auf, wobei Bebel dies mit zahlreichen historischen Fällen begründete, bei denen die Politische Polizei selbst ihre 127 128 129 130 131 132 133 Zitat: Deutsche Zeitung 2. 2. 1897. Hohenlohe 19. 1. 1897, in: Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, 21. Sitz., S. 533. RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4476. Vgl. etwa von Mirbach im RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4480. Freisinnige Zeitung Nr. 129, 4. 6. 1897; Germania 5. 6. 1897. Tägliche Rundschau 6. 6. 1897. RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4474 u. 4491 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 357 Agenten zu Verbrechen ermuntert habe, die sie dann bekämpfte, um ihre Bedeutung zu legitimieren.134 Der Skandal hinterfragte damit recht erfolgreich die Notwendigkeit einer derartigen Behörde, die Presse, Parteien und Vereine überwachte. Dass ihr Spitzelsystem nun weitgehend überflüssig und sogar gefährlich erschien, war ein Schritt in Richtung Demokratie. Zudem eröffnete der Skandal eine Debatte um illegitime Nebenregierungen, die über die Presse agierten. Insbesondere die Linke ging fest von politischen Hintermännern hinter der Politischen Polizei aus. Waldersee, Bismarck und Eulenburg galten als die wichtigsten Personen, die über lancierte Meldungen und Gerüchte gegen Teile der Regierung agieren würden.135 Nachdem Bebel vorab die Enthüllung der Hintermänner im Reichstag angekündigt hatte, nannte er im Reichstag tatsächlich erneut diese drei Namen, die nicht ganz unzutreffend waren.136 Direkte Kontakte zu den bezahlten Journalisten der Polizei ließen sich noch im geringsten Maße bei Herbert und Otto von Bismarck ausmachen, obwohl diese offensichtlich von der Pressepolitik der Politischen Polizei profitierten.137 Bismarck hatte ohnehin genügend direkte Beziehungen zur Presse für seine Querschüsse, insbesondere zu konservativen Blättern in Hamburg. Berechtigter war der Verdacht gegen Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee, den der Kaiser zunächst als Nachfolger Bismarcks gehandelt hatte und den die Sozialdemokratie wegen seiner scharfen, konfrontativen Haltung ihr gegenüber besonders verachtete. Waldersee scheint seit seiner Versetzung nach Hamburg Verbindungen zum journalistischen Polizeiagenten Normann-Schumann gepflegt zu haben. So hatte Normann-Schumann in Gesprächen und Artikeln Waldersee auffällig oft als kommenden Kanzler gelobt. Tausch informierte Waldersee nach dem Prozess mit Telegrammen, und auch der Chef der Politischen Polizei gestand nach seinem Rücktritt derartige Verbindungen Waldersees ein, die verschiedentlich bereits 1893 vermutet wurden.138 Auch die Tatsache, dass sich Waldersee im Prozess einer Zeugenaussage entzog, erhärtete eher den Verdacht, den Bebel mit Beobachtungen sozialdemokratischer Spitzel im Reichstag belegte. Vor allem rückte aber der Kaiserfreund und vielleicht wichtigste Hintergrundpolitiker dieser Jahre, Philipp von Eulenburg, durch den Skandal in den Verdacht, über die bezahlten Journalisten für den Sturz von Ministern und 134 135 136 137 138 Ebd., S. 4486. Vorwärts Nr. 290 11. 12. 1896. RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4482 f. So auch die Einschätzung von: Hank, Kanzler, S. 324. Quellenhinweise hierauf in: Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069; Holstein an Eulenburg 7. 1. 1897 u. Aufzeichnung Bülow 7. 4. 1897, abgedr. in: ebd., Bd. 3, S. 1778 u. S. 1810; Hammann, Der neue Kurs, S. 83. Vgl. die Rechtfertigung Waldersees gegenüber dem Kaiser, Normann-Schumann habe ihm Briefe geschrieben, er aber durch Nichtbeantwortung den Kontakt abgebrochen; Eintrag Aufzeichnung Waldersee 11. 12. 1896, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 378 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 358 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon Kanzlern gesorgt zu haben und somit den Kern einer „Nebenregierung“ zu bilden. Der Prozess legte direkte Verbindungen zwischen Eulenburg und Tausch offen. Eulenburg und Tausch hatten sich bereits früher kennen gelernt, als Tausch sich um den Schutz des Kaisers auf Reisen kümmerte. Gegenüber seinen Journalisten-Agenten hatte Tausch mehrfach erwähnt, dass er „die Absicht habe, diese Sache an den Botschafter Grafen Philipp Eulenburg mitzuteilen, um ihm dadurch wieder einmal zu zeigen, wie Excellenz v. Marschall gegen die Umgebung des Kaisers konspiriere“.139 Tatsächlich hatte Tausch unmittelbar nach dem falsch gemeldeten Kaisertoast Eulenburg den Artikel geschickt und gemeldet, er müsse ihn besuchen, da er dazu etwas Interessantes zu erzählen habe, worauf Eulenburg auch antwortete.140 Eulenburg, der sonst Briefe sorgsam aufbewahrte und später sogar abtippen ließ, bezeichnete ausgerechnet diese Briefe als „vernichtet“. Dass Eulenburg beim Kaiser für einen Orden für Tausch eintrat, obwohl dessen Vorgesetzter Marschall ihm längst misstraute, spricht ebenfalls für eine Verbindung zwischen Eulenburg und der polizeilichen Pressearbeit. Eulenburg wies diese Vorwürfe scharf zurück. Aber selbst wenn er keinen direkten Auftrag gab, so entsprachen viele der Intrigen doch Eulenburgs Plänen zur Regierungsumbildung, wie sich aus Eulenburgs Korrespondenz vielfältig herauslesen lässt. Insbesondere Marschalls Sturz verfolgte Eulenburg, um seinen Freund Bernhard von Bülow als Nachfolger einzusetzen.141 Selbst den Tausch-Prozess benutzte er als Argument, um Marschall auf einen BotschafterPosten abzuschieben und Bülow zu installieren, was ihm tatsächlich beides plangemäß gelang.142 Insofern verstärkte der Skandal die Annahme, dass nicht nur Bismarcks Umfeld, sondern auch das des Kaisers über Polizeispitzel mit falschen Medienmeldungen Politik gestaltete. Dies belegte zwar keine große politische Verschwörung zwischen Presse und Politik wie zuvor beim PanamaSkandal in Frankreich, es deutete aber an, dass es hinter der nun veröffentlichten Aufklärung noch eine geheime Sphäre gab, deren Dunkelheit nicht ausleuchtbar sei. Dass Kommissar Tausch tatsächlich eine von höheren Instanzen abgesicherte Stellung innehatte, belegten nicht zuletzt die Urteile in den folgenden Prozessen gegen ihn. In einem Rechtsstaat wäre durchaus eine Verurteilung des Beamten zu erwarten gewesen, dem ein mehrfacher Meineid, Urkundenfälschung, Korruption, Amtsanmaßung, Verstoß gegen Amtsgeheimnisse, Unwahrhaftigkeit 139 140 141 142 Aussage Lützow abgedr. in: Friedlaender, Kriminalprozesse, Bd. 4, S. 124. Vgl. ebd. u. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195. Die Belege dafür sind zahlreich; vgl. etwa die Briefe Eulenburgs an Bülow 29. 4. 1896, 23. 7. 1896, 7. 7. 1896, 26. 10. 1896 u. 10. 12. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1663, S. 1701, 1702, 1744, 1766; Eulenburg an Bülow 13. 3. 1896, in: BAK, 1016-76:1. „Es wird nach Ende der Reichstagssession viel darauf ankommen, daß ein alter Botschafter krank wird.“ Eulenburg an Lucanus 4. 2. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1784. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Kollaps eines Spitzelsystems 359 gegen Vorgesetzte und Majestätsbeleidigung nachgewiesen wurden. Immerhin hatten die von ihm angewiesenen Journalisten 1½ Jahre Haft bekommen. Doch obwohl auch die Anklageschrift mehrfache Meineide und „zahlreiche Dienstvergehen“ aufführte, erhielt Tausch schon bei seinem ersten Prozess im März 1897 einen Freispruch mit der eigentümlichen Begründung, er habe seine Pressearbeit nicht politisch aufgefasst.143 Auch die Disziplinarprozesse 1897/98 sprachen Tausch von den Vorwürfen frei und forderten lediglich seine Versetzung. Zu einer Berufung kam es schließlich nur, weil sich der Kaiser darüber wunderte, dass der Beamte, der auch ihn über die Presse verunglimpfen ließ, einen Freispruch bekam.144 Als unwürdiges, tadelbares Verhalten erachtete der Disziplinargerichtshof lediglich, dass der Beamte bei Journalisten Schulden gemacht habe, weshalb Tausch auf ein anderes Amt mit gleichem Rang versetzt werden sollte.145 Eine Verurteilung des Kommissars blieb bereits deshalb aus, weil dies ein Eingeständnis gewesen wäre, dass der Staatsapparat nicht so vorbildlich arbeitete, wie stets nach außen dargestellt. Insofern erwies sich die deutsche Justiz erneut, wie bei anderen Skandalen, als parteilich und weisungsgebunden. Abermals schützte sie konservative Beamte, ohne Rücksicht auf Gesetze oder im Skandal verhandelte Normen zu nehmen. In der Presse und bei den Stammtischen richtete sich deshalb die öffentliche Empörung wiederum gegen die Gerichte.146 Der Verdacht einer Konspiration zwischen Politik, Politischer Polizei und Justiz erweiterte die ohnehin kursierenden Verschwörungsvorstellungen. Die Quellen legen den Schluss nahe, dass das Urteil gegen den Kommissar durch politische Weisungen gezielt milde ausfallen sollte, damit er sein Wissen nicht öffentlich ausspielte. Schon vor dem ersten Prozess hatte Eulenburg dem Kaiser mitgeteilt, dass Tausch für sein Schweigen während des Prozesses hinterher zu entlohnen sei, und auch Reichskanzler Hohenlohe schlug doppeldeutig ein „Tauschgeschäft“ mit dem Kaiser vor: Für die „Beseitigung des Prozesses“ wollte der Kanzler das Vereins- und Militärstrafgesetz durchbringen.147 Hohenlohe maß dem Tauschprozess sogar so große Bedeutung bei, dass er das Drängen verschiedener „Leute“ im Umfeld des Kaisers auf eine Kabinettsumbildung damit erklärte, „daß sie am Ruder sind, wenn der Prozeß verhandelt werden soll“.148 Als das Staatsministerium schließ143 144 145 146 147 148 Zit. Anklageschrift Erste Staatsanwalt 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195. Vgl. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 29. 1. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3590; Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930. Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2 Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898 und Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930. Vgl. stellvertretend etwa: Frankfurter Zeitung 5. 6. 1897; Polizeibericht Schutzmann Struve 5. 6. 1897, in: StAH, S 3930-23 Bd. 4. Hohenlohe-Schillingsfürst an Holstein 29. 4. 1897, Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 333; Fricke, Affäre, S. 1597 f. Allerdings erwähnt Fricke nicht die weitere Entwicklung und Entlassung von Tausch. Journal Hohenlohe, Eintrag 30. 3. 1897, in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 327. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 360 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon lich auf Wunsch des Kaisers Tausch Entlassung verhandelte, schützte und verteidigte ihn der Innenminister. In der Diskussion wurde vorgeschlagen: „Man könne Tausch im Falle der Dienstentlassung später noch Unterstützungen zukommen lassen.“ Ebenso kam im Preußischen Staatsministerium der Vorschlag auf „Tausch finanziell zu stützen; damit behalte man ihn in der Hand.“149 Am Ende entstand so ein Kompromiss zwischen der Forderung des Kaisers und der Absicherung des Kommissars, bei dem das Staatsministerium am 13. März 1899 das Urteil des Disziplinarhofes entsprechend abänderte. Tausch wurde mit immerhin drei Viertel seiner Pension entlassen, wobei die Entlassung mit seinen verschwiegenen Schulden bei Journalisten begründet wurde, die gegen die finanzielle Unabhängigkeit des Beamten verstoßen hätten.150 1901 wurde Tausch schließlich in einem ehrengerichtlichen Verfahren vom Kriegsministerium wegen „Verletzung der Standesehre“ das Recht zum Tragen seiner Uniform aberkannt, das er als Leutnant a.D. noch hatte.151 Nicht die Justiz allein, sondern erst politische Weisungen verhalfen somit zumindest teilweise zu einer Rechtsprechung, die sich auch an Gesetzen orientierte. Dagegen hatte der Skandal für die Opfer der intriganten Pressepolitik weitaus drastischere Folgen. Während der Polizeikommissar zunächst einen Freispruch erhielt, wurde seinen Opfern in der Regierung, den Ministern Marschall und Boetticher, in konservativen Kreisen und vom Kaiser der Rücktritt nahegelegt. Marschall trat deshalb nach seiner „Flucht in die Öffentlichkeit“ eine „Flucht in die Privatheit“ an. Zunächst ging er aus gesundheitlichen Gründen in einen zweimonatigen Urlaub, dann als Botschafter nach Konstantinopel. Boetticher wurde dagegen vom Kaiser gedrängt, unmittelbar nach dem Freispruch von Tausch zurückzutreten, da er die Kritik am „persönlichen Regiment“ im Reichstag nicht genug zurückgewiesen hätte.152 Auch die beiden Journalisten, deren Spitzeldienste den Skandal ausgelöst hatten, mussten sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis eine neue Existenz aufbauen: Von Lützow wurde Angestellter der Inneren Mission, und Leckert arbeitete unter dem neuen Namen Heinrich Larsen wieder als Journalist und wurde Redakteur den Altonaer Nachrichten.153 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche Konsequenzen der Skandal für die offiziöse Pressearbeit hatte. In der Regierung verschärfte er das generelle Misstrauen gegenüber Journalisten. Selbst Reichskanzler Hohenlohe, der sich gegen Zugangsbeschränkungen ausgesprochen hatte, sah den Skandal dennoch als „ein neuer Beweis, daß man sich mit Journalisten jeder Art nicht einlassen 149 150 151 152 153 Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 29. 1. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3590. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 13. 3. 1899, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3594; Abschrift Zusatzsitzungsprotokoll in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2; Beschluss, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930. Vermerk Kriegs-Ministerium 4. 1. 1901 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. So bes. die Reichstagsrede von Eugen Richter am 18. Mai 1897; Röhl, Wilhelm II, Bd. 2, S. 945. So zumindest: Vorwärts 9. 4. 1899 u. 4. 10. 1900. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zwischenfazit 361 darf.“154 Zumindest kurzfristig schien es so, als wenn der Skandal durch das Eingreifen des Kaisers sogar zu einer Verschärfung der Pressepolitik führen würde. So verstärkte sich in seinem Umfeld eher das Misstrauen gegenüber den Journalisten als gegen die Politische Polizei. Unmittelbar nach dem ersten Prozess gegen Lützow/Leckert beschloss etwa das Hofjagdamt, keine Journalisten mehr bei der Hofjagd zuzulassen, anstatt die Politische Polizei abzuweisen.155 Beim Kaiser selbst förderte der Skandal eher den Anspruch, nur er selbst sei berufen, Politik zu gestalten und öffentlich zu formulieren.156 Zugleich verlangte er vom Kanzler den Abbruch jeden Kontaktes zur Kölnischen Zeitung, weil diese Waldersee als Hintermann genannt habe.157 Durchsetzbar war diese Verschärfung der offiziösen Pressepolitik jedoch nicht. Vielmehr wies der Reichskanzler den Kaiser diplomatisch, aber bestimmt zurück und verteidigte dabei sowohl den Kontakt zu kritischen Zeitungen als auch die parlamentarische Auskunft.158 Daher ist eher umgekehrt anzunehmen, dass der Skandal vor allem die Politische Polizei diskreditierte und so die Unabhängigkeit der Presse förderte. Bereits während des Prozesses wurde die Politische Polizei angewiesen, keinen Kontakt mehr zur Presse zu pflegen.159 Ein Indikator für ihren sinkenden Einfluss gegenüber der Presse ist die deutliche Abnahme von Anklagen gegen Journalisten seit 1897. Vergleichbare Skandale, die erneut ein derartiges Agieren der Politischen Polizei offen legten, lassen sich zumindest bis zum Ersten Weltkrieg nicht mehr ausmachen. Insofern stimmte vielleicht doch, was bereits verschiedene Zeitgenossen spotteten: Das Positive an der Politischen Polizei war vor allem, dass sie sich selbst diskreditierte und damit eine antiquierte Repression der Medien. 3. Zwischenfazit Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien traten im späten 19. Jahrhundert Skandale auf, welche die Pressepolitik der Regierungen und die Arbeit 154 155 156 157 158 159 Hohenlohe an Prinz Alexander 17. 10. 1896, in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 269. An Marschall 11. 12. 1896, in: PAAA R 1239. So schrieb Wilhelm II. dem Kanzler: „In wie fern von Zeit zu Zeit außer durch inspirierte Preßartikel das Land über das Fortschreiten der Frage zu informieren sei, darüber erwarte Ich von Eurer Durchlaucht einen jedesmaligen Vortrag oder Mitteilung.“ Wilhelm II. an Hohenlohe 23. 2. 1897 (Telegramm), in: BA/K, N 1016-22. Vgl. Holstein sprach angesichts solcher Briefe von einem „krankhaften Hauch, der das Kaiserl. Telegramm durchweht.“ Holstein an Eulenburg 25. 2. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1788. Zum Kasernenton, den Wilhelm II. um 1897 besonders deutlich anschlug vgl. Röhl, Wilhelm II., Bd. 2., S. 941 f. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 8. 1. 1897, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3585. Vgl. bes. Hohenlohe an Wilhelm II. 23. 2. 1897, in: BA/K, N 1016-22 So Wittig, der Nachfolger von Tausch, laut: Deutsche Warte 4. 6. 1897. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 362 V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon von Journalisten hinterfragten. Sie verfestigten Normen für den Journalismus, die Politik und für ihr Verhältnis zueinander. Durch die historisch unterschiedliche Medienentwicklung in Deutschland und Großbritannien differierten auch die herausragenden Skandale dazu. Während sie in Großbritannien vor allem einen zuverlässigen und eigenständigen Journalismus einforderten, ging es in Deutschland besonders um die Grenzen des staatlichen Einflusses auf die Presse. Dennoch lassen die hier analysierten Skandale einige Ähnlichkeiten erkennen, die Aufschluss über grenzübergreifende Entwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhundert geben. So legten sie in beiden Ländern offen, dass staatliche Institutionen wesentlich mehr Einfluss auf die Presse nahmen als jeweils anzunehmen war und als zulässig erschien. In beiden Ländern waren es zudem verdeckte, geheimdienstliche Organisationen, die ein gewisses Eigenleben entwickelt hatten, die die Zeitungen mit Gerüchten versorgten. In beiden Fällen publizierten die Zeitungen dabei unwahre, gefälschte Behauptungen, die politische Gegner zum Rücktritt zwingen sollten. In beiden Ländern wurden sie jeweils aus materiellen und weltanschaulichen Motiven heraus in die Presse lanciert. Sowohl die Sehnsucht, im neuen publizistischen Konkurrenzkampf einen Scoop zu landen, als auch der Anspruch der Zeitungen, so Politik mitzugestalten, war für dieses Handeln verantwortlich. Dabei zeigte sich, wie wenig die Zeitungsredaktionen in beiden Ländern die Quellen und die Informanten überprüften. Insofern sollte man selbst in Großbritannien und sogar bei der Times die journalistische Professionalität im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht überschätzen. Hierauf verweist auch die Beobachtung, dass die Missstände in der Pressepolitik in beiden Fällen weniger durch Journalisten als durch Politiker aufgedeckt wurden. In beiden Ländern verhandelten die Skandale das Verhältnis zwischen Medien und Politik und die Unabhängigkeit der Medien. In gewisser Weise „normalisierten“ die Skandale die jeweils unterschiedlichen mediengeschichtlichen Entwicklungspfade der 1880er Jahre, indem sie Grenzen aufzeigten. So kam es in Deutschland zu einer Implosion des unter Bismarck ausgebauten journalistischen Spitzelsystems der Politischen Polizei, das zwischen 1890 und 1896, wie der Tausch-Skandal öffentlich machte, eine eigenständige Pressepolitik gegen unliebsame Minister und Kanzler der eigenen Regierung betrieben hatte und über lancierte Artikel, intrigante Denunziationen und bezahlte Journalisten agierte. Für Großbritannien konnte dagegen ausgemacht werden, dass die Times an die Techniken des von Stead etablierten „modernen“ New Journalism anknüpfte, bei ihrem politischen Kampagnenstil jedoch an ihrer schlampigen Recherche und Kooperation mit der Regierung scheiterte und so gerade die Grenzen des professionellen unabhängigen britischen Journalismus bloßlegte. Die herausgestellten Gemeinsamkeiten waren allerdings nur gradueller Natur. Die wechselseitige Wahrnehmung der Skandale unterstrich ihre Verschiedenheit. Während die Times aus deutscher Sicht als naiv galt, erschien der Tausch-Skandal aus englischer Sicht als ein Beispiel für das rückständige deutsche Pressesystem, in dem Journalisten willkürlich verhaftet wurden oder Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Zwischenfazit 363 Anweisungen erhielten. Gemeinsam war den Skandalen dagegen die Empörung über die Fälschungen und die hieraus resultierende heilsame Wirkung. In Deutschland verlor die Politische Polizei und der offiziöse Einfluss auf die Medien deutlich an Bedeutung, in Großbritannien hingegen büßte die Times ihre unantastbare Autorität ein. Für die Ausbildung eines unabhängigen und pluralistischen Journalismus dürften beide Entwicklungen förderlich gewesen sein. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek VI. ENTZAUBERTE MONARCHEN Blickt man auf die Geschichte der westlichen Monarchien im 19. Jahrhundert, so lassen sich zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten. Einerseits verloren die Monarchen signifikant an politischer Macht, insbesondere durch die Ausbildung von Verfassungen, gewählten Parlamenten und den Bedeutungsgewinn von Regierungen. Andererseits nahm die öffentliche Präsenz der Monarchen deutlich zu, was ihre Stellung stärken konnte. Gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich hieraus ein besonders markantes und erklärungsbedürftiges Spannungsverhältnis, in dem sich insbesondere der deutsche Kaiser Wilhelm II. sowie die späte Queen Victoria und ihr Nachfolger Edward VII. bewegten. Beide Prozesse hingen im hohen Maße mit der Medialisierung zusammen. Zweifelsohne begrenzte die rasante Ausdehnung der Medienöffentlichkeit unübersehbar die Spielräume von Monarchen, insbesondere, wenn ihr Handeln als Willkür oder gegen die öffentliche Meinung gerichtet erschien. Diese Kritik entlud sich mitunter in Form von Skandalen, die durch eine breite Empörung die Stellung und das Ansehen der Monarchie erschütterten – wie etwa bei der Halsband-Affäre 1785/86, dem Queen Caroline-Skandal 1820 oder der Daily Telegraph-Affäre 1908. Derartige Skandale schufen eine emotional aufgeladene generelle Kritik an den jeweiligen Monarchen und führten zu nachdrücklich formulierten Verhaltensanforderungen. Die mediale Dauerbeobachtung, unter der die Monarchen im 19. Jahrhundert zunehmend standen, verstärkte dabei die Wahrscheinlichkeit, dass etwaige Normbrüche veröffentlicht wurden. Zugleich konnten die Monarchen die zunehmende Medialisierung im 19. Jahrhundert vielfach nutzen, um auf neue Weise in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Diese verstärkte mediale Präsenz der Königshäuser wurde bereits verschiedentlich hervorgehoben. So bezeichnete John Plunkett Queen Victoria pointiert als „First Media Monarch“1, da sie trotz ihrer zeitweiligen Öffentlichkeitsscheu eine ubiquitäre mediale Verbreitung fand. Ebenso betitelten verschiedene Arbeiten Kaiser Wilhelm II. als „media monarch“2 und „ersten deutschen Filmstar“.3 Nicht nur für den Kaiser war demnach die direkte und mediale Kommunikation mit der Öffentlichkeit essentiell, sondern auch die Medien ihrerseits stellten bevorzugt den Kaiser in den Mittelpunkt. Die Monarchen versuchten dabei, eher bürgerliche Formen der Öffentlichkeit zur Festigung ihrer Stellung zu nutzen. Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts 1 2 3 John Plunkett, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2002. Christopher Clark, Kaiser Wilhelm II, London 2000, S. 160. Martin Loiperdinger, Kaiser Wilhelm II. Der erste deutsche Filmstar, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München 1997, S. 41–53. Zum komplexen Verhältnis zwischen Wilhelm II. und der Presse jetzt auch: Kohlrausch, Der Monarch, bes. S. 452–456. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 366 VI. Entzauberte Monarchen ließen ihre Hemmungen nach, in einen direkten Kontakt mit der Presse zu treten. Eine echte Wahl hatten die Monarchen ohnehin nicht. Zeigten sie sich gegenüber den Medien eher reserviert, wie Queen Victoria in den 1860/70er Jahren, so kritisierten die Zeitungen ihre Distanz zur Öffentlichkeit und suchten ihre Nähe. Diese Medienberichte über die Monarchen lösten wiederum kollektive Handlungen aus. Die weit verbreiteten, anschaulichen und täglich erscheinenden Artikel über ihre öffentlichen Auftritte verstärkten den Zulauf zu derartigen Ereignissen, die einen persönlichen Blick auf den Monarchen versprachen. Von der Taufe über die Krönung bis hin zur Beerdigung entstanden nun regelmäßig Massenaufläufe mit zehntausenden Schaulustigen. Da die mediale Berichterstattung bevorzugt die Menschenmenge um den Monarchen zeigte, suggerierte sie nicht nur seine Beliebtheit, sondern machte auch das populäre Spektakel um ihn herum zu selbst einer sensationellen Attraktion, die das Ansehen des Monarchen steigern konnte. Allerdings verloren die Monarchen zugleich die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung.4 Ihr öffentliches Auftreten machte sie zu Objekten zahlloser Berichte, die durch die große Nachfrage kaum noch kontrollierbar waren. Dabei trugen die Medien bereits durch ihre Bilder dazu bei, bürgerliche Erwartungen an den Monarchen zu fördern. So zeigten sie die Monarchen häufig in bürgerlichen Kontexten – etwa im Kreise der Familie oder bei der Kur.5 Neben dem Aufkommen der auflagenstarken Familien- und Sonntagszeitungen (wie der Illustrated London News oder der Gartenlaube) verstärkte die Etablierung der Fotographie diesen bürgerlichen Blick auf die Könige. Denn im Unterschied zum Gemälde bildeten die Fotos die Monarchen häufiger in Alltagssituationen ab und suggerierten eine intime Nähe und Vertrautheit.6 Für eine größere Nähe zum Monarchen standen aber auch die textlichen Innovationen im Journalismus. Persönliche Augenzeugenberichte oder Interviews vermittelten eine unmittelbare Kommunikation mit den Monarchen. Beides dürfte zugleich die Erwartungen und Maßstäbe mit verändert haben, unter denen die Herrscher bewertet wurden. Die Medialisierung konnte so die Stellung der Monarchen absichern, machte sie aber zugleich auch verletzbarer, wie nicht zuletzt die 4 5 6 So auch mit Blick auf die Bilddarstellungen: Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, S. 391 f. Vgl. zu dieser bürgerlichen Darstellung: Alexa Geisthövel, Den Monarchen im Blick. Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse, in: Habbo Knoch und Daniel Morat (Hrsg.), Kommunikation von Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 59-80. Vgl. zur Etablierung bürgerlicher Bewertungsmaßstäbe für die Monarchie generell: Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993, S. 205; Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der Königin, in: Historische Anthropologie 6 (1999), S. 76-103. Franziska Windt, Majestätische Bildflut. Die Kaiser in der Photographie, in: dies. et al. (Hrsg.), Die Kaiser und die Macht der Medien, S. 67-98. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 367 Skandale zeigten, die ihr moralisches und politisches Verhalten auf den Prüfstein stellten. Auf welche Weise diese Skandale auftraten, wie die Öffentlichkeit jeweils mit den Königshäusern interagierte und welche Rollenerwartungen sie an den Monarchen richtete, wird jeweils an exemplarischen Skandalen für beide Länder geprüft. Zunächst wird vergleichend untersucht, welche Bedeutung sexuelle Normverstöße für die Monarchen im 19. Jahrhundert haben konnten. Da in Großbritannien bürgerliche Moralanforderungen an den Monarchen eine größere Rolle spielten, erfolgt eine vertiefte Fallanalyse anhand des Baccarat-Skandals von 1891, der die Spielleidenschaft des späteren Edward VII. und damit die Bewertung des Glücksspiels thematisierte. In Deutschland hingegen traten herausragende Skandale vor allem im Kontext der politischen Handlungen von Wilhelm II. auf. Neben der berühmten Daily-Telegraph-Affäre werden dementsprechend weitere Skandale systematisch untersucht, die in Verbindung mit seinem eigenen Führungsanspruch standen und diesen zu begrenzen versuchten – wie etwa der Kotze-, Kladderadatsch- und Caligula-Skandal. 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert Die Skandalisierung des Monarchen zählt zu den Formen des politischen Skandals, die sich lange vor dem 19. Jahrhundert etablierten. Neben Empörungen über Formen des Machtmissbrauchs bildete der Spott über sein sexuelles Verhalten vielfach den Ausgangspunkt, wobei die Kritik an seinen Maitressen das Bild des idealen Monarchen entwarf.7 Zu den bis heute vielleicht berühmtesten Fällen zählt sicherlich die Halsbandaffäre der französischen Königin Marie Antoinette im Vorfeld der französischen Revolution. Das ihr vorgeblich von Kardinal Rohan geschenkte Diamantenhalsband bildete dabei nur den Kulminationspunkt einer Reihe von Skandalisierungen, bei der zahllose Pamphlete der Königin sexuelle Normbrüche, Verschwendung und Verletzung ihrer Mutterpflichten vorgeworfen hatten.8 In Westeuropa verstärkten die Presseberichte hierüber eine „sex panic“ (Binhammer), bei der sexuelle Normverstöße und Revolution eng miteinander verbunden wurden.9 Bei späteren MonarchieSkandalen im 19. Jahrhundert blieb die Halsbandaffäre in ganz Westeuropa der 7 8 9 Vgl. etwa für das frühe 18. Jahrhundert: Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Bonn 2000, bes. S. 207–226. Angesichts der umfangreichen Literatur vgl. stellvertretend die Beiträge in: Goodman (Hrsg.), Marie-Antoinette. Zur Visualisierung bes. Lynn Hunt, The Many Bodies of Marie Antoinette: Political Pornography and the Problem of the Feminine in the French Revolution, in: ebd., S. 117–138. Katherine Binhammer, The Sex Panic of the 1790s, in: Journal of the History of Sexuality 6 (1996), S. 409–435. Binhammer argumentiert hier allerdings, dass es zu einer Verschiebung von einer aktiven zur passiven weiblichen Sexualität gekommen sei. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 368 VI. Entzauberte Monarchen Bezugspunkt, an den am häufigsten mahnend erinnert wurde, um die drohenden revolutionären Folgen eines Skandals ins Bewusstsein zu rufen.10 In gewisser Weise bildete die Halsbandaffäre ein Narrativ, das immer wieder an die bedrohliche Macht des Skandals erinnerte. Andere Monarchie-Skandale, die für die Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts ebenfalls spektakulär erschienen, gerieten dagegen eher in Vergessenheit. Dies gilt etwa für den dänischen Skandal um die Absetzung des liberalen monarchischen Beraters Johann Friedrich Struensee, der nach seiner öffentlich angeprangerten Liebesaffäre mit der dänischen Königin wegen „Majestätsbeleidigung“ 1772 hingerichtet wurde.11 Bei derartigen Monarchie-Skandalen ging es bereits vor dem 19. Jahrhundert nicht allein um den Ehebruch des Monarchen. Vielmehr verhandelten sie zugleich den Einfluss von Günstlingen und Beratern, monarchische Verhaltensweisen, Fragen der Gerechtigkeit und grundsätzliche Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung. Auch in England kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu vielfältigen Versuchen, den Adel wie in Frankreich durch die Enthüllung seiner Dekadenz zu skandalisieren. So diffamierte der radikale Publizist John Wilkes in den 1760er Jahren weniger aus moralischen Überzeugungen die sexuellen Affären von Angehörigen des Königshauses, sondern um politische Reformen zu erreichen. Bezeichnender Weise beantworteten die Royalisten die Pressekampagne wiederum mit Enthüllungen über Wilkes Liebesleben.12 Somit setzten beide Seiten die Lauterkeit des Privatlebens zum Maßstab für politische Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit. Ebenso machte der radikale Journalist Charles Pigott Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Pamphleten die sexuellen Normbrüche des Hochadels öffentlich, um ihn als überflüssigen, dekadenten und korrupten Parasiten darzustellen.13 Die in den 1790er Jahren zunehmenden Zeitungsberichte über adlige Scheidungsprozesse verstärkten diesen Eindruck.14 Dennoch lösten derartige Veröffentlichungen in Großbritannien eine geringere Empörung als in Frankreich aus. Der Historiker Nicholas Rogers führte dies nicht nur auf die geringere Zensur zurück, sondern auch darauf, dass weniger der Monarch als bereits das Parlament die Nation verkörperte und dessen stärker pluralistische Struktur den Spott abbremste.15 Ebenso dürften neben einigen Reformen die konservativen Gegenkampagnen retardierend gewirkt haben.16 10 11 12 13 14 15 16 Vgl. etwa die Hinweise im Kontext anderer Skandale in: Times 24. 2. 1870, S. 8; Daily Chronicle 10. 9. 1891; Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 923, 15. 10. 1907. Christine Keitsch, Der Fall Struensee. Ein Blick in die Skandalpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Hamburg 2000. Vgl. zu diesem Wechselspiel: Clark, Scandal, S. 19–52. Vgl. Nicholas Rogers, Pigott’s Private Eye. Radicalism and Sexual Scandal in EighteenthCentury England, in: Journal of the Canadian Historical Association 4 (1993), S. 247– 263. Vgl. Binhammer, The Sex Panic, S. 424 f. Rogers, Pigott’s Private Eye, S. 258. So das Argument von Clarke, Scandal, S. 113. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 369 Welche starke Wirkung diese Form der Skandalisierung auch in Großbritannien haben konnte, zeigte sich im frühen 19. Jahrhundert bei der Queen Caroline Affair. Da sie ein wegweisender Monarchie-Skandal für das britische Inselreich war und eine denkbar breite öffentliche Diskussion auslöste, lohnt ein ausführlicher Blick auf den Fall. Immerhin führte der Skandal zu Massenprotesten, die die Stellung der Krone so sehr herausforderten wie vermutlich kein anderes Ereignis im langen 19. Jahrhundert. Der Skandal kam 1820 auf, als der unbeliebte zukünftige König Georg IV. vor seiner Krönung die Scheidung von seiner Frau durchsetzte, von der er längst getrennt lebte, wobei beide seit längerem mit verschiedenen Partnern verkehrten.17 Da sich weder der bisherige Lebenswandel des Kronprinzen noch der vorheriger Monarchen durch Monogamie ausgezeichnet hatte, wird man die Empörung über die Verstoßung der angehenden Königin im hohen Maße mit spezifischen gesellschaftlichen Veränderungen erklären müssen. Vor allem die Revolutionsangst und -hoffnung der Nach-Napoleonischen Ära, das Aufkommen der Radical Press, die zaghafte Formierung von Proto-Sozialisten sowie die wirtschaftliche und politische Krise ermöglichten erst diese breite Empörung über das Eheleben des angehenden Königs. Die Scheidung löste eine vielfältige Kommunikationsverdichtung aus. Sowohl die Auflagen etablierter Zeitungen wie der Times als auch der neugegründeten radikalen Blätter stiegen im Zuge des Skandals rasant an – von den zahllosen Flugblättern ganz zu schweigen.18 Wie viele Zeitgenossen hervorhoben, beschäftigte und empörte der Skandal darüber hinaus alle Ebenen der Öffentlichkeit. „Since I have been in the world I never remembered any question which so exclusively occupied everybody’s attention, and so completely absorbed men’s thoughts and engrossed conversation“, schrieb etwa Charles Greville in seinem Tagebuch.19 Der radikale Publizist William Cobbett betonte, der Fall bewegte „for a time every tongue and pen in England“, und William Hazlitt betonte etwas später: „It was the only question I have ever known that excited a thorough popular feeling. It struck its roots into the heart of the nation; it took possession of every house or cottage in the kingdom.“20 Nicht allein der Ehebruch elektrisierte die Zeitgenossen somit, sondern bereits das Medienereignis selbst mit seiner grenzübergreifenden breiten öffentlichen Emotionalisierung. Der Hof und 17 18 19 20 Der Ablauf ist bereits in vielfältigen Darstellungen analysiert worden und muss deswegen hier nicht erneut ausgebreitet werden; vgl. zuletzt bes. Flora Fraser, The Unruly Queen. The Life of Queen Caroline, London 1996. Als Quellenedition hilfreich: E. A. Smith (Hrsg.), A Queen on Trial. The Affair of Queen Caroline, Dover 1993. Die Auflage der damals auflagenstärksten Zeitung, der Times, erhöhte sich etwa von 7 000 auf über 15 000 Exemplare; Vermerk Robinson 13. 10. 1820, abgedr. in: Derek Hudson (Hrsg.), Thomas Barnes of The Times, Cambridge 1943, S. 41. Eintrag 15. 10. 1820, in: Lytton Strachey und Roger Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, Bd. 1, London 1938, S. 105 f. In: Commonplaces 15. 11. 1823, zit. nach: T. W. Laqueur, The Queen Caroline Affair. Politics as Art in the Reign of George IV, in: Journal of Modern History 54 (1982), S. 417–466, S. 417. Als einen Höhepunkt der Berichterstattung über Scheidungen bewertet den Fall auch: Stone, Road to Divorce, S. 253. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 370 VI. Entzauberte Monarchen die Regierung versuchten auf vielfältige Weise, den Skandal zu vermeiden. Zunächst boten sie Caroline vergeblich Geld an, um sie umzustimmen. Um einen Prozess zu verhindern, der auch Georgs Ehebrüche thematisiert hätte, ließ der Thronfolger im House of Lords ein Gesetz einbringen, nach dem das Fremdgehen der Königin Hochverrat sei, was allein Caroline bei der Scheidung die peinigenden öffentlichen Geständnisse abverlangte. Dennoch konnten die loyalen Monarchisten nicht verhindern, dass die Medien und die breitere Öffentlichkeit auf Carolines Krönung beharrten, als sie 1820 nach längerer Abwesenheit aus Italien zurückkehrte und so den Scheidungsskandal auslöste. An diesem Skandal lassen sich vor allem drei miteinander verbundene Deutungsebenen der britischen Monarchie ausmachen. Erstens trug die Queen Caroline Affair innerhalb der middle classes zur Konstruktion eines monarchischen Ideals bei, das sich durch bürgerliche familiäre Werte auszeichnete und von der Moral des Adels abgrenzte. George IV. hatte nach dieser bürgerlichen Lesart mit seinem Verhalten seine Pflichten als treu sorgender Ehemann und Vater verletzt. Für Caroline wurde dagegen das melodramatische Narrativ einer Frau konstruiert, die das Opfer adliger Untreue war.21 Durch diese Abgrenzung förderte der Skandal ein bürgerlich geprägtes monarchisches Rollenmodell, wie es dann später Queen Victoria einlöste. Zugleich stärkte die Abgrenzung vom Lebenswandel der Herrscher die kulturelle Herausbildung der middle classes selbst, wie bereits Zeitgenossen bemerkten.22 Der Skandal eröffnete zweitens spezifisch weibliche und proto-feministische Lesarten des Ehebruchs. Radikale Zeitungen veröffentlichten Texte, die Frauen als Besieger der männlichen Tyrannen feierten. So hieß es im Black Dwarf: „Through a WOMAN Rome obtained Liberty. [...] It was a WOMAN that brought down the bloody tyrant, Marat. [...] And a QUEEN will now bring down the corrupt Conspirators against the Peace, Honour, and Life of the INNOCENT.“23 Frauen unterstützten die verhinderte Königin Caroline explizit „in the name of our sex“. Sie schrieben Artikel, die sich gegen die männliche Doppelmoral richteten, sammelten Unterschriften für sie und beteiligten sich an den Straßenprotesten.24 Dabei identifizierten sie sich mit der Opferrolle einer verstoßenen Frau, die sie Caroline zuschrieben, und kämpften zugleich gegen 21 22 23 24 Vgl. neben Laqueur, The Queen, S. 439, zur bürgerlichen Konstruktion der middle classes im Kontext des Falles bes.: Leonore Davidoff und Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle-Class, London 2002 (Erstauflage 1987), S. 150–155. Vgl. Dror Wahrman, „Middle-Class“ Domesticity Goes Public: Gender, Class and Politics from Queen Caroline to Queen Victoria, in: Journal of British Studies 32 (1993), S. 396–432, S. 406. The Black Dwarf, 12. 7. 1820 (H.i.O.), abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen on Trial, S. 100. Vgl. etwa die „Address of the Married Ladies of the Parish of St. Marylebone “ in: Times 28. 8. 1820, S. 2, Times 5. 9. 1820, S. 3; „Address from the Ladies in Edinburgh“ in: Times 4. 9. 1820; Leserbrief einer Frau („of my own sex“) Times 3. 8. 1820. Ähnlich auch die Artikel im Radical Magazine, vgl. die Faksimile-Ausgaben in: Paul Keen (Hrsg.), The Popular Radical Press in Britain 1817–1821, London 2003, S. 291–296 u. 302–305. Vgl. Anna Clark, Queen Caroline and the Sexual Politics of Popular Culture in London 1820, in: Representations 31 (1990), S. 47–68; Laqueur, The Queen, S. 442–445. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 371 sie an, wobei sie die Frauen als Verteidiger von Moral und Familienwerten sahen. Dass Carolines Lebenswandel weder dem puritanischen Ideal entsprach noch diese ein hilfloses Opfer war, unterstreicht nur die Projektionskraft der öffentlichen Zuschreibungen. Drittens förderte der Skandal die Herausbildung einer radikalen popular culture, die Scheidung und Ehebruch als Beleg für den monarchischen Machtmissbrauch deutete. Die Queen erschien in ihrer Interpretation als Opfer und Vorkämpferin des Volkes: „[...] her INTERESTS are the same as the interests of the people!“ (H.i.O.) hieß es etwa im radikalen Black Dwarf.25 Der Kampf für die wehrlose Frau verband diese popular culture mit dem Kampf für eine freie unkorrumpierbare Presse.26 Radikale Journalisten wie William Cobbett, der sich in seinen Artikeln und in direkten Briefen mit Caroline solidarisierte, zogen Parallelen zwischen der Unterdrückung der Queen und der fehlenden Vertretung der Unterschichten im Parlament.27 Cobbetts Engagement ging dabei sogar so weit, dass er im Namen von Caroline einen Brief in der Times veröffentlichte, in dem sich Caroline als weibliches Opfer monarchischer Willkür stilisierte.28 Die Empörung der sich im Skandal formierenden Populärkultur zeigte sich vor allem in Spottschriften, Straßenaufläufen und symbolischen Aktionen. So kam es zum öffentlichen Verbrennen von grünen Tüten als dem Symbol für Korruption, weil laut Medienberichten die vermutlich bestochenen Zeugen aus Italien mit Informationen aus einer „green bag“ versorgt worden waren.29 Ebenso kam es zu Gewalt in den Straßen und eingeworfenen Fensterscheiben, was bei verschiedenen Zeitgenossen die Angst vor einer bevorstehenden Revolution hervorrief.30 Der Skandal entwickelte sich so zu einem generellen Protest gegen die Korruption und Ungerechtigkeit der monarchischen Herrschaft. Insbesondere die Karikaturen zum Skandal forderten gleiches Recht für Monarch und Volk, wobei die Behandlung der Königin die korrupte Willkür des Monarchen verkörperte.31 Dies galt nicht nur für die radikalen Medien, sondern auch etwa für bürgerliche Organe wie die Times. Unter Verweis auf die öffentliche Meinung kritisierte sie die Zeugen als gekaufte „Italian devils“ und monierte, dass der Scheidungsprozess nicht die Moral des Prinzen bewerte.32 25 26 27 28 29 30 31 32 The Black Dwarf 25. 10. 1820, abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen, S. 129. Vgl. etwa die Erklärung der 1335 Londoner Drucker in: Laqueur, The Queen, S. 432. Fraser, Unruly Queen, S. 389. Times 14. 8. 1820, S. 2. Dieser Brief, der offiziell nicht direkt an die Times, sondern am 7. 8. 1820 an den König ging, ohne dass sie eine Antwort erhielt, entwarf vor allem ein Bild der Old Corruption der Monarchie (etwa: „From the very threshold of Your Majesty’s mansion the mother of your child was pursued by spies, conspirators and traitors […]“). Vgl. auch Anthony Burton, William Cobbett: Englishman. A Biography, London 1997, S. 193. Vgl. die Berichte über die zahlreichen Sympathiekundgebungen überall im Land in: Times 21. 11. 1820, S. 3. Vgl. zu dieser Revolutionsangst Tagebucheinträge wie von Greville, 9. 6. 1820, abgedr. in: Strachey und Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, S. 95. Vgl. bes. die Karikaturen abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen, S. 26, 33 u. 47. Times 17. 8. 1820 und 11. 9. 1820, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 372 VI. Entzauberte Monarchen Der Skandal um Prinzessin Caroline entwickelte somit jenseits des Ehebruches vielfältige Lesarten, die soziale Dynamiken auslösten. Zugleich konstruierte der Prozess gegen Caroline öffentliche Vorstellungen über das Intimleben des Königshauses, welche sein Ansehen nachhaltig schmälerten. Um ihren permanenten Ehebruch mit dem jungen Italiener Bergami nachzuweisen, sagten im Prozess Zimmermädchen über schmutzige Bettwäsche aus, Matrosen über ihr gemeinsames Schlafzelt auf einem Schiff und englische Reisende über den Zustand ihrer Kleidung. Die Empörung in dem Skandal hatte zwar nicht die Kraft, den angehenden König George IV. zu stürzen. Vielmehr gewann er den Prozess und bestieg den Thron, während Caroline ohne Krönung kurz darauf verstarb. Aber sowohl die Enthüllungen als auch die breite Debatte über den Fall artikulierten mit Nachdruck künftige moralische Erwartungen an die Krone. Die anfängliche Beliebtheit von Queen Victoria und ihre Verehrung als „Maiden Queen“ lassen sich dementsprechend im hohen Maße aus der Empörung im Queen Caroline-Skandal erklären. Die Queen verkörperte in den Erwartungen ein Gegenmodell zu den männlichen „Georgian Kings“. Dementsprechend zeigten visuelle Darstellungen sie anfangs vor allem als Verkörperung von Tugend und Weiblichkeit, dann als Mutter und Ehefrau. Insbesondere das Aufkommen fotographischer Darstellungen verstärkte die hier bereits angedeutete monarchische Repräsentation im Sinne bürgerlicher Normvorstellungen.33 Dennoch verschob die Queen Caroline Affair die Grenzen des Sagbaren nicht so sehr, dass die sexuellen Normbrüche von Queen Victoria in den Medien artikulierbar wurden. Sagbar war im viktorianischen Großbritannien eine Kritik an der politischen Einmischung der Königin, an ihrer zeitweilig ausbleibenden öffentlichen Präsenz und an den hohen Kosten der Monarchie, die vor allem Reynolds’s Newspaper zunehmend monierte.34 Dagegen erwies sich das in der mündlichen Öffentlichkeit der 1860er Jahre kursierende Gerücht, Queen Victoria sei nach dem Tod ihres Ehemanns Albert eine Affäre mit ihrem Stallmeister John Brown eingegangen, nicht als druckbar. Während in einem amerikanischen Blatt die Meldung erschien, in England würde Victoria überall „Mrs. Brown“ genannt und eine Schweizer Zeitung angeblich bereits ein gemeinsames Kind meldete, hielten sich die britischen Zeitungen mit entsprechenden Andeutungen zurück.35 Eine Ausnahme bildeten etwa die Anspielungen des kleinen Satireblattes Tomahawk. Dies zeigte einen leeren Thron, an dem Brown lehnte, und untertitelte in einer anderen Karikatur das berühmte Bild, auf dem Brown das 33 34 35 Vgl. hierzu: Plunkett, Queen Victoria. Zur Kritik an der politischen Einmischung von Victoria insbesondere 1853/54 vgl. Richard Williams, The Contentious Crown. Public Discussion of the British Monarchy in the Reign of Victoria, Aldershot 1997, S. 99 u. 264; zur Empörung über ihre mangelnde öffentliche Präsenz nach dem Tod ihres Gatten: Antony Taylor, ‚Down with the Crown‘. British AntiMonarchism and Debates about Royalty since 1790, London 1999, bes. S. 81–88. Erstaunlicher Weise lassen diese Studien die Skandale um die Krone weitgehend außen vor. Die ausländischen Berichte erwähnt: Williams, The Contentious Crown, S. 34. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 373 Pferd der Königin im Trauergewand hält, mit „All is black that is not Brown“.36 Der Liebhaber wurde damit einerseits dafür verantwortlich gemacht, dass die Königin nicht mehr ihren öffentlichen Aufgaben nachkomme. Andererseits deutet sich das bekannte Narrativ an, der Liebhaber schwänge sich zum eigentlichen Machthaber auf. Auch der Punch deutete das Verhältnis mit vier versteckten Sätzen an, die Browns Tagesablauf im Stile der täglichen Meldungen über Monarchen berichteten.37 Zumindest im Spott erschien damit der Liebhaber als der heimliche Herrscher. Da die Monarchin mit Anspielungen auf ihr Liebesleben weitgehend verschont blieb, verlagerte sich die Forderung nach einer bürgerlichen Lebensführung stärker auf den Thronfolger. Die Liebesaffären des Prince of Wales, des späteren Edward VII., waren zunächst ebenfalls nicht druckbar, obgleich sie als Gerüchte öffentlich kursierten. Am Hof war man sich der Gefährdung durch Medienberichte bewusst. Da der Prinz extrem unvorsichtig mit Kurtisanen verkehrte und ihnen offene Liebesbriefe schrieb, mussten letztere zurückgekauft werden, um das Aufkommen von Skandalen zu verhindern.38 Medienkompatibel wurde eine derartige moralische Kritik am Königshaus erst im Rahmen des Mordaunt-Skandals von 1870, als der Prince of Wales in einem Aufsehen erregenden adligen Scheidungsprozess als Zeuge auftreten musste. Hierzu kam es, nachdem die 21jährige Lady Harriett Mordaunt ihrem Mann gestanden hatte, dass er nicht der Vater ihres Kindes sei und sie mit mehreren Hochadligen, unter anderen mit dem Prince of Wales, ein sexuelles Verhältnis gehabt hätte. Die dann eingereichte Scheidung überführte diese Vorwürfe in die Medien, die ihr Geständnis über die Ehebrüche in wörtlicher Rede druckten.39 Der Skandal zeigte erneut, dass selbst das Königshaus nicht in der Lage war, die öffentliche Berichterstattung und Empörung zu begrenzen. Dass ein öffentliches Gericht einen Thronfolger als Zeugen vernahm, war bereits Ausdruck dieses Kontrollverlustes. Ebenso war schon das Erscheinen des Prinzen ein Zugeständnis an die bürgerliche Rechtsordnung, die seinen Verzicht auf Privilegien untermauern sollte. Vor Gericht schienen zunächst noch die üblichen Korrekturversuche zu greifen. Indem das Gericht die betrügerische Ehefrau für wahn36 37 38 39 Tomahawk Mai und August 1867; Hinweise hierauf bereits in: Tom Cullen, The Empress Brown. The Story of a Royal Friendship, London 1969, S. 104. Punch 7. 7. 1866, S. 4: „Court Circular/Balmoral Tuesday. Mr. John Brown walked on the Slopes. He subsequently partook of a haggis. In the evening Mr. John Brown was placed to listen to a bag-pipe. Mr. John Brown retired early.“ Theo Aronson, The King in Love. Edward VII’s Mistresses, London 1988, S. 37. Aus dem reichhaltigen populären Buchmarkt über königlichen Mätressen vgl. hier: Stanley Weintraub, Edward the Caresser. The Playboy Prince who became Edward VII, New York u. a. 2001. Vgl. etwa Prozessbericht Times 19. 2. 1870, S. 11: „,Charlie, I have been very wicked: I have done very wrong.‘ I said ‚Who with?‘ She said: ,With Lord Cole, Sir F. Johnstone, the Prince of Wales, and others, often, and in open day.‘“ Zu dem Fall vgl. Elizabeth Hamilton, The Warwickshire Scandal, London 1999. Eher eine Biographie, die auch Zeitungsberichte aufgreift, als eine Studie über die Monarchie in der Öffentlichkeit bietet: Kinley Roby, The King, the Press and the People. A Study of Edward VII, London 1975. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 374 VI. Entzauberte Monarchen sinnig erklärte, machte sie die Schuldfrage irrelevant und bekräftigte das moralische Ansehen des Königshauses, da es demnach nur von einer Verrückten verunglimpft worden sei. Die Zuschreibung des Wahnsinns sollte zugleich die „normale“ weibliche Sexualität herausstellen, die monogam und zurückhaltend war. Ebenso musste sich der Prinz vor Gericht nicht dem üblichen detaillierten Kreuzverhör unterziehen, sondern nur ein paar Fragen beantworten, bei denen er jeden intimen Verkehr mit der Frau zurückwies. Doch selbst diese Fragen des Gerichtes („Has there ever been any improper familiarity or criminal act between yourself and Lady Mordaunt“) rückten den Ehebruch in den allgemeinen Imaginationsraum und unterwarfen den künftigen Monarchen unter ein staatliches und öffentliches Urteil. Tatsächlich löste der Prozess auch in diesem Fall einen unkontrollierbaren Skandal aus, der die Monarchie diskreditierte. Allein die öffentlichen Zeugenaussagen und verlesenen Beweisstücke über das Privatleben des Prinzen führten zu einem moralischen Reputationsverlust des Königshauses. So erfuhren die Leser, dass Lady Mordaunts Mann in ihrem Schreibtisch Hotelrechungen, Briefe, Blumen, Verse und ein Taschentuch des verheiraten Prince of Wales fand. Zur Diskreditierung des Prinzen trugen zudem die Aussagen des Hauspersonals bei, das öffentlich von heimlichen Besuchen des Prinzen bei Lady Mordaunt berichtete, obwohl ihr Ehemann dies in seiner Abwesenheit verboten hatte, und dass während dieser Besuche niemand sonst ins Haus durfte.40 Wie bei anderen Skandalen erhielten Angehörige von Unterschichten so die Möglichkeit, sich aktiv an der Demontage eines künftigen Monarchen zu beteiligen. Visuelle Darstellungen, wie auf der Titelseite der Illustrated Police News, zeigten den Prinzen ebenfalls als erwischten Nebenbuhler (vgl. Abb. 10).41 Obgleich die Bilder nur die innige Zuneigung zwischen Prinz und Lady Mordaunt präsentierten, verstärkte allein schon das hier abgebildete Bett die erotische und spöttische Suggestionskraft. Nicht nur der suggerierte Ehebruch, sondern bereits das heimliche Eindringen in die Privatwohnung des Mannes war dabei ein eklatanter Verstoß gegen die bürgerlichen Normen. Die im Prozess veröffentlichten Privatbriefe des Prinzen an Lady Mordaunt verstärkten die Banalisierung des Königshauses zusätzlich. Ihr Inhalt, den alle Zeitungen abdruckten, war zwar wenig amourös und drehte sich vornehmlich um die Jagd, Reisen und das Wetter. Doch bereits dies ließ den Spott aufflammen. Der Times erschien er „simple, gossiping, everyday,“ der Reynolds’s Newpaper „very silly, very tautological, and very ungrammatical“.42 Reynolds sprach dem Prinzen deshalb generell die Eignung zum künftigen König ab, da die Briefe darüber hinaus eine Abhängigkeit von „sensational pleasures“ zeigten und der Prinz der Nation Schande bereite.43 Auch die Straßenöffentlichkeit 40 41 42 43 Vgl. etwa Prozessbericht Times 21. 2. 1870, S. 10. Illustrated Police News 26. 2. 1870, S. 1 und 5. 3. 1870, S. 1. Times 24. 2. 1870, S. 8; Reynolds’s Newspaper 27. 2. 1870, S. 4. Reynolds’s Newspaper 6. 3. 1870, S. 4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 375 Abb. 10: Der Thronfolger als Ehebrecher in der populären Presse, der durch sein Eindringen in die Privatsphäre das Eheleben zerstört; Quelle: ILLUSTRATED POLICE NEWS 26. 2. 1870. reagierte anscheinend entsprechend. Wie zeitgenössische Berichte andeuten, wurde der Prinz danach auf der Straße verspottet und Schmährufe hinter ihm hergerufen.44 Ähnlich wie bei der Queen Caroline Affair führte der Skandal zu nachdrücklich formulierten bürgerlichen Erwartungshaltungen an das Könighaus. Die Enthüllungen in dem Prozess aktualisierten Vorwürfe gegen das adlige Sexualleben, die nun auch das Königshaus mit einschlossen. Die Aussagen von Lady Mordaunt (wie „Everyone does it“) verstärkten dabei die Vorstellung, weibliche Adlige würden bürgerliche Normen wie die Monogamie permanent überschreiten.45 Welches breite Interesse an derartigen Medienberichten bestand, zeigte sich wie bei der Queen Caroline Affair an den sprunghaft ansteigenden Zeitungsauflagen. Ein kleines Blatt wie The Echo erhöhte seine Auflage auf angeblich 124 000 Exemplare. Das belegte, dass die Fähigkeit und das Interesse Zeitungen zu lesen bereits recht groß war, allerdings die Kaufkraft der Unterschichten nur 44 45 So Havers, Royal Baccarat, S. 20. Reynolds’s Newspaper 27. 2. 1870, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 376 VI. Entzauberte Monarchen für derartig spektakuläre Berichte ausreichte.46 Neben den Zeitungen verkauften Straßenhändler sofort Publikationen mit Titeln wie „The Infidelities of a Prince“ und „Unparalled Revelations.“47 Der Mordaunt Divorce Scandal verstärkte so die um 1870 generell grassierende Monarchiekritik erheblich. Die großen Zeitungen fanden so kritische Worte wie sie in den vorangegangenen fünfzig Jahren wohl nur selten gefallen waren. Selbst in der Times und dem Daily Telegraph war dies deutlich erkennbar. Sie betonten zwar im Sinne des Gerichtes die Unschuld des Prinzen und den Wahnsinn der vermeintlichen Liebhaberin, verurteilten aber scharf seinen Lebenswandel, der angesichts der neuen Massenpresse nicht mehr möglich sei. So formulierte die Times: „He had acted as a young man who does not understand the passion far too many have for scandal, and had given occasion to misconstruction through simple headlessness.“48 Wie bei dem gleichzeitigen Boulton/Park Homosexuellen-Skandal wurde jugendlicher Übermut als Entschuldigung angeführt. Jedoch warnte die Times zugleich, auch Marie Antoinette sei unschuldig gewesen, aber dennoch hätten hinterhältige Indiskretionen zu ihrem Tod und dem Ende der französischen Monarchie geführt. Mit dieser Drohung und der Zuschreibung, dass ein Prinz kein Privatleben habe, verpflichtete sie ihn auf ein künftiges Leben in „domestic purity“. Während die radikalen Zeitungen den Prinzen in die Tradition früherer Könige stellten, betonten auch der Daily Telegraph, dass gerade das moralische Verhalten einstiger Monarchen heute dank einer „modern morality“ nicht mehr toleriert würde.49 Angesichts dieser „modernen Moral“ erschien der Thronfolger wie ein Relikt früherer Unmoral, der durch die öffentliche Verwarnung zu erziehen sei. Auch die politische Führung deutete den Skandal als ernsthafte Bedrohung für das Königshaus. Öffentlich unterstrich der Prinz zwar mit einer Einladung zum Dinner an das Ehepaar Gladstone seine Verbundenheit mit dem Premierminister.50 Intern sprach der Premierminister aber von einem äußerst kritischen Ereignis. Der Königin gegenüber, die ihn um Vermittlung bat, mahnte Gladstone unter Anspielung auf die Queen Caroline Affair warnend zur Zukunft des Throns, „that the revival of circumstances only half a century old tend rapidly to impair its strength and might bring about its overthrow“.51 Queen Victoria teilte diese Ansicht und schrieb dem Skandal ebenfalls ein gesellschaftsveränderndes Potential zu. So bezeichnete sie das Verhalten ihres Sohnes und der anderen beschuldigten Adligen als einen „amount of imprudence which cannot 46 47 48 49 50 51 Vgl. zu diesem : Brown, Victorian News, S. 30. Times 25. 2. 1870, S. 9. Times 24. 2. 1870, S. 8; sehr ähnlich: Daily Telegraph 26. 2. 1870, S. 4. Daily Telegraph 26. 2. 1870, S. 4. Zur Einladung: Gladstone an Queen Victoria 14. 2. 1870, abgedr. in: Philipp Guedalla (Hrsg.), The Queen and Mr. Gladstone, Bd. 1, London 1933, S. 267. Gladstone an Queen Victoria 23. 2. 1870, abgedr. in: Philip Magnus, King Edward VII, London 1975 (Erstausgabe 1964), S. 144. Gladstones Tagebuch verzeichnet hierzu leider nichts; vgl. Matthew (Hrsg.), The Gladstone Diaries, Bd. 7. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 377 but damage him in the eyes of the middle and lower classes, in their frivolous, selfish and pleasure-seeking lives, do more to increase the spirit of democracy than anything else.“52 Dabei sah die Queen die kritischen Zeitungsartikel über ihren Sohn auch als ein heilsames Mittel, wie sie ihrer Tochter gegenüber erwähnte: „He has however received his warnings now. You read I hope The Times article of the 24th – and a still finer one in The Daily Telegraph of the 26th. Have you seen that? B. feels now that these visits to ladies and letter writing are a mistake – to say the least. […] I hope it will get him to change but it is difficult; still I never give up reminding him of the trial.“53 Die Presse galt selbst der Queen somit als moralische Erziehungsinstanz für den kommenden Monarchen, und nicht etwa umgekehrt. Dass das Gericht Lady Mordaunt für wahnsinnig erklärte, um das Königshaus zu schützen, verschärfte zusätzlich die Empörung. So zweifelte die Daily News den Wahnsinn der Ehefrau und die Aussagen des Prinzen an. Damit stellte sie explizit eine gerechte Justiz über das Ansehen der Krone.54 Am schärfsten fiel erwartungsgemäß der Kommentar der Reynolds’s Newspaper aus, die sogar den Ausschluss des Prinzen vom Thron und dem sozialen Leben erwog. Bezeichnender Weise nahm jedoch selbst Reynolds den Fall nicht zum Anlass, die generelle Abschaffung der Krone zu fordern, sondern beschränkte sich auf bürgerliche Normforderungen an den Monarchie. Insofern dürfte der Skandal, pointiert bilanziert, vielleicht sogar mehr dazu beigetragen haben, die Monarchie auf bürgerliche Werte wie Moral, Effizienz und Würde festzulegen, als herausragende ideengeschichtliche Entwürfe wie Walter Bagehots English Constitution (1867).55 Der Mordaunt-Skandal war zumindest maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass die Proteste gegen die viktorianische Monarchie im folgenden Jahr ihr größtes Ausmaß erreichten. Die ständige öffentliche Abwesenheit der Königin und ihre Forderung nach 30 000 Pfund für die Hochzeit ihrer Tochter verstärkten den allgemeinen Unmut.56 „The Queen is invisible and the Prince of Wales is not respected“, fasste Gladstone 1872 deprimiert die Situation zusammen.57 Dennoch blieb es bei diesem kurzen Aufblitzen der Empörung über die Krone. Queen Victoria ging zunehmend auf die öffentlichen Erwartungen ein und 52 53 54 55 56 57 Queen Victoria an Lord Chancellor 21. 2. 1870, abgedr. in: Magnus, King, S. 143. Queen Victoria an Frederick 2. 3. 1870, abgedr. in: Roger Fulford (Hrsg.), Darling Child: Private Correspondence of Queen Victoria and the Crown Princess of Prussia 1871–1878, London 1976, S. 262 f. „The interests of royalty, important as they are, are less important than the interests of Justice.“ Daily News 26. 2. 1870, S. 4. Zur Bagehots Redefinition der Monarchie vgl. William M. Kuhn, Democratic Royalism. The Transformation of the British Monarchy, 1861–1914, London 1996, S. 15–31. Ob man die fünf von Kuhn diskutierten Argumente Bagehots für die Erhaltung der Monarchie als „democratic royalism“ bezeichnen sollte, ist allerdings fraglich, da Bagehot vor allem mit der Suggestionskraft der Krone für die Massen argumentiert. Zur historischen Einordnung: Taylor, Down, S. 81. Abgedr. in: G. E. Buckle (Hrsg.), Letters of Queen Victoria, Bd. 1, London 1926, S. 244. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 378 VI. Entzauberte Monarchen erreichte gerade durch ihre Mischung aus stärkerer öffentlicher Präsenz und gleichzeitiger politischer Zurückhaltung seit den 1880er Jahren den Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Da die Queen kaum selbstständig eine Medienpräsenz suchte, wird man zugleich davon ausgehen können, dass die öffentliche Sehnsucht nach einer visuell präsenten Monarchin zu ihrer inflationären medialen Verbreitung und Beliebtheit führte.58 Der Prince of Wales blieb dagegen zunächst wenig respektiert und änderte sein moralisches Verhalten nach dem Skandal kaum. Vielmehr riskierte er weitere Verhältnisse mit Frauen, die ihn in die Nähe von neuen Skandalen brachten. So wurde er wegen Liebesbriefen erpresst, die eine Geliebte zu veröffentlichen drohte, und 1879 kam es abermals in einem kleinen abseitigen Blatt namens Town Talk zu Andeutungen über eine Affäre. Dabei meldete der junge Journalist Rosenberg, der Prinz sei als co-respondent im Scheidungsprozess des Ehepaar Langtry genannt.59 Dieser Fall machte jedoch deutlich, dass sowohl die Gerichte als auch die britischen Medien es ganz überwiegend vermeiden wollten, erneut das Sexualleben des Prinzen öffentlich zu machen. Rosenberg wurde wegen Verleumdung verklagt, zunächst erwähnte die Times aber keine Hinweise auf die Verwicklung des Prinzen.60 Im Prozess und der Urteilsverkündigung wurde der Vorwurf zwar benannt, die harte Strafe von 18 Monaten Haft gegen den Journalisten aber wegen ihrer abschreckenden Wirkung begrüßt.61 Selbst Reynolds’s Newspaper druckte nur zurückhaltend die Prozessberichterstattung ab.62 Gerade wegen der harten Bestrafung war dieser Fall vor allem ein Signal an die Journalisten, dass der Abdruck von entsprechenden Gerüchten auf keinerlei Toleranz des Staates treffen würde. Tatsächlich folgten, soweit ersichtlich, darauf keine entsprechenden Artikel mehr. Zumindest bei diesem Fall zeigte sich damit, dass die Libel Laws zur Sicherung des Ansehens der Krone eine ähnlich repressive Wirkung entfalten konnten wie die repressive Pressepolitik in Deutschland, die auch nach dem liberalen Reichspressegesetz von 1874 durch die Bestrafung von Majestätsbeleidigung entsprechende Artikel zu unterbinden suchte. Nachdem das Ansehen der Monarchie in zwei großen Sexualitätsskandalen attackiert worden war, verzichtete die Presse mit einem erstaunlichen Konsens auf weitere Enthüllungen. Insofern lässt sich bilanzieren, dass von den Sex-Skandalen des 18. und 19. Jahrhunderts eben keine direkte Linie zu jenen Skandalen des Königshauses führte, wie sie heute in Großbritannien bekannt sind. Die Politisierung der Printmedien und die Ausbildung der Massenpresse verschoben nur punktuell 58 59 60 61 62 Diese öffentliche Sehnsucht zeigt vielfach: Plunkett, Queen Victoria. Die zahlreichen Biographien heben die Figur der „Imperial Matriarch“ zwar hervor, deuten sie aber kaum als Ergebnis der Medialisierung; vgl. etwa Walter L. Arnstein, Queen Victoria, Basingstoke 2003, S. 165–194. Hinweise bei Aronson, Prince, S. 115 f. Times 16. 10. 1879, S. 11. Times 27. 10. 1879, S. 4 und 28. 10. 1879, S. 9. Reynolds’s Newspaper 2. 11. 1879, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 379 die Grenzen des Schreibbaren, etablierten aber keine permanente Skandalisierung entsprechender Normverstöße. Latent bekannte Gerüchte gelangten nur dann in die Presse, wenn Prozesse eine entsprechende Öffentlichkeit schufen und sich gesellschaftliche Konfliktsituationen mit einer Monarchiekritik vermischten, die sich aus anderen Quellen speiste. Die Marginalisierung jener Journalisten, die entsprechende Gerüchte gelegentlich in die Presse brachten, zeigte hingegen, dass vielfach der Schutz der Krone höher stand als eine verkaufsträchtige Enthüllung. Im deutschen Kaiserreich spielten dagegen die sexuellen Normbrüche des Hohenzollernhauses keine vergleichbare Rolle. Sicherlich lassen sich im 19. Jahrhundert einzelne Fälle ausmachen, bei denen auch deutsche Königshäuser an moralischen Tugendmaßstäben gemessen wurden. Parallelen zu einem Skandal wie der Queen Caroline Affair wies am ehesten die Lola Montez-Affäre des bayerischen Königs Ludwig I. 1847/48 auf, die sich aus seiner Liaison zwischen dem Monarchen und einer britischen Tänzerin entwickelte. Lola Montez, die sich als eine spanische Tänzerin ausgab, hatte bereits in ganz Europa Skandale ausgelöst, als sie 1846 nach München kam und die Geliebte von Ludwig I. wurde. Wie bei der Queen Caroline Affair entstand hieraus ein Skandal mit breiten öffentlichen Protesten, die schließlich sogar den Rücktritt des Königs einleiteten und die Dynamik der Revolution von 1848 in Bayern verstärkten. Ebenso ging die Empörung über die Affäre mit Vorwürfen gegen monarchische Willkür und Verschwendung einher. Sie bezog sich auf die Einbürgerung und Standeserhebung von Lola Montez, die Schließung der Münchener Universität nach Protesten gegen die Begünstigung Lola Montez’ sowie die Entlassung von protestierenden Ministern.63 Und ähnlich wie Queen Caroline interagierte auch Lola Montez mit den Medien, um ihre Stellung zu sichern, indem sie sowohl die deutsche als auch die internationale Presse mit Zuschriften versorgte, um auf die öffentlichen Vorwürfe zu antworten.64 Zugleich zeigt jedoch ein Blick in die zeitgenössische Presse, dass sich der bayerische Skandal von dem englischen Fall unterschied. So bezog sich die mediale Kritik im geringeren Maße auf den Monarchen als auf seine Liebhaberin, deren Vertreibung als die Lösung des Problems galt.65 Weniger dem König als der Geliebten wurde die Usurpation willkürlicher Macht, der Bruch von moralischen Verhaltensweisen und die Auslösung von Unruhen vorgehalten. Offensichtlich sorgte die wesentlich rigidere Zensur für eine (Selbst)Beschränkung, die selbst in dem damals relativ liberalen Bayern zu deutlich tabuisierteren Medienberichten als in England führten. Die politische Skandalisierung des 63 64 65 Von den zahlreichen Publikation zu Lola Montez vgl. etwa: Bruce Seymour, Lola Montez. A Life, New York 1996; Ishbel Ross, The Uncrowned Queen. Life of Lola Montez, New York u. a. 1972. Vgl. etwa ihre Zuschriften in: Times 18. 3. 1847, S. 6 u. 9. 4. 1847, S. 5. Ausgewertet wurden von mir die Vossische Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung für die Zeit der Hauptkonflikte um die Mätresse (Febr. 1847, Febr./März 1848). Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 380 VI. Entzauberte Monarchen Monarchen verlief stattdessen stärker über die mündliche Öffentlichkeit, über Flugschriften und Zeitungen aus Nachbarländern, deren Kritik moralischen Druck auf den König ausübte. Sie zeigte den Monarchen etwa kaum bekleidet als Lüstling und teuflischen Bock, während Lola als Höllenwesen ebenfalls in die christliche Ikonographie eingeschrieben wurde.66 Auch bei der Lola Montez-Affäre kam es zu einer intensiven länderübergreifenden Wahrnehmung des Skandals. Englische Presseberichte bezogen dabei das Verhalten von Ludwig I. auf frühere Skandale und Verhaltensweisen der einstigen „Georgian Kings“, nicht ohne auf deren deutsche Herkunft hinzuweisen.67 Damit stellte sich die britische Öffentlichkeit auf eine moralisch höher entwickelte Stufe, da sie angesichts der regierenden Queen Victoria derartige Skandale überwunden glaubte. Insgesamt stand der Lola Montez-Skandal somit trotz der Zensur für einen Kontrollverlust, durch den das private und politische Verhalten des Königs als unzeitgemäß erschien. Wie sehr sich zwischen 1848 und der Jahrhundertwende die Form der Berichterstattung und die verhandelten Normen veränderten, zeigt ein vergleichender Blick auf den Scheidungsskandal der 37jährigen Kronprinzessin Luise von Sachsen, einer Tochter des Großherzogs Ferdinand IV. von Toskana. Sie hatte 1891 den Prinzen Friedrich August von Sachsen geheiratet, der 1904 den sächsischen Königsthron bestieg. Im Jahr zuvor ließ er sich jedoch von seiner Frau scheiden, nachdem sie beim Ehebruch mit ihrem belgischen Sprachlehrer überrascht worden war.68 Da der Scheidungsprozess im Unterschied zu England unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, konnten die Journalisten jedoch weiterhin den Ehebruch selbst nicht derartig detailliert thematisieren wie in Großbritannien. Dennoch publizierten nun alle Zeitungen monatelang umfangreiche Artikel über den Fall, was sowohl das breite Interesse selbst seriöser Zeitungen zeigte als auch erneut die Grenzen der Zensur.69 Auch dieser Gesellschaftsskandal eröffnete vielfältige Zuschreibungen über die Stellung der Monarchie innerhalb der Gesellschaft und die Rolle von adligen Frauen. Während 1847/48 Lola Montez noch als verdammungswürdige Verführerin erschien, zeigten nun zumindest einige Artikel Verständnis für die adlige Ehebrecherin. So urteilte der konservative Reichsbote: „So gerecht das Urteil über den schmachvolle Ehebruch der Prinzessin auch ist, so drängt sich einem doch unwillkürlich der Gedanke auf, wie leicht über den von Männern verübten Ehebruch meistens hinweg gegangen wird, und wie unglückliche Frauen, die unter demselben zu leiden haben, ohne Rechtshilfe ihrem Schicksal überlassen 66 67 68 69 Vgl. etwa die Bilder in: Eduard Fuchs, Ein vormärzliches Tanzidyll. Lola Montez in der Karikatur, Berlin o. D. (1904). Vgl. etwa: Times 2. 3. 1847, S. 5; Times 9. 3. 1847, S. 6; ein Journalist des Fraser’s Magazine sah dagegen Lola Montez als liberale Vorkämpferin; Seymour, Lola, S. 168. Vgl. von den zahlreichen populärwissenschaftlichen Darstellungen bes.: Erika Bestenreiner, Luise von Toscana. Skandal am Königshof, München 2000. Vgl. etwa: Berliner Tageblatt Nr. 81, 14. 2. 1903, Münchner Neueste Nachrichten Nr. 70, 12. 2. 1903. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert 381 werden.“70 Verschiedene Blätter verteidigten sie zudem als Opfer der „Ultramontanen“ und Jesuiten.71 Andere Zeitungen druckten Briefe der Prinzessin, die ihr Leiden und ihre Liebe zu den Sachsen ausdrückten.72 Ähnlich wie Caroline und Lola Montez war die Prinzessin damit nicht nur ein „Opfer“ der Medien, sondern bediente sich dieser, um ihre Position zu verteidigen. Die sozialdemokratischen Zeitungen sahen die Prinzessin nicht nur als Musterbeispiel für die Auflösung des höfischen Ehelebens. Sie galt ihnen auch als ein Opfer von Standesherrschaft und Klerikalismus, die nur frei von den Zwängen des Hofes leben wollte und dafür bestraft würde.73 Ähnlich interpretierten auch die Arbeiter in den Kneipen den Fall. Laut Spitzelberichten sahen sie den Ehebruch und die Verstoßung als typisch für die Hofgesellschaft an: „das traurige wäre ja bei solchen Leuten, daß sie nie nach ihrem Wunsch heiraten könnten.“74 Trotz anderer Stimmen, die wie Maximilian Harden die Prinzessin als „moderne Frau“ karikierten, zeichnete sich damit eine Interpretation ab, die, neben einer moralischer Verdammung des Hochadels, wie bei der Queen Caroline Affair Empathie für die betroffenen Frauen aufbrachte.75 Dass die deutschen Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum in große „Sex-Skandale“ verwickelt waren, lag jedoch sicherlich nicht an ihrer Lebensführung. Die homoerotischen Neigungen des bayrischen Königs Ludwigs II. etwa waren den Zeitgenossen zumindest gerüchteweise bekannt. Dennoch blieben entsprechende Kommentare in den Zeitungen, soweit ersichtlich, selbst im Zuge seiner Entmündigung und seines anschließenden plötzlichen Todes aus.76 Angriffspunkte gewährte auch der Lebenswandel des jungen Kronprinzen und späteren Kaisers Wilhelm II. Wie John Röhl gezeigt hat, verkehrte Wilhelm auch nach seiner Heirat noch recht offen mit verschiedenen Prostituierten, mit denen er nicht nur Briefe und Fotos austauschte, sondern anscheinend auch uneheliche Kinder hatte.77 Die Berater des Kaisers mussten daher mehrfach hohe Erpressungsgelder zahlen. Bismarcks Sohn Wilhelm, der zu den Unterhändlern zählte, riet zu einem großzügigen Aufkauf, da sie „ungeheuren 70 71 72 73 74 75 76 77 Reichsbote Nr. 37, 13. 2. 1903. Vgl. etwa Berliner Extrapost 7. 2. 1903; weitere Meldungen und Zurückweisungen dessen in: Historisches Archiv Köln, 1006 Nr. 189. Berliner Tageblatt Nr. 85, 16. 2. 1903. Vgl. die zahlreichen Beiträge in: BA/K, ZSg 113-517. Vigilanzbericht Schutzmann Struve 24. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9. Harden, Zukunft, 5. 1. 1903, S. 1–13, zit. S. 2. Ob Ludwig II. homosexuell war, ist unter seinen zahlreichen heutigen Biographen nicht nur umstritten, sondern auch weiterhin nur andeutungsweise sagbar; vgl. etwa Hütls Urteil: „Seine zwischenmenschlichen Beziehungen entsprachen nicht der Norm und stempelten ihn zum Außenseiter. Die wechselnden Favoriten, die er auswählte, gaben seit je her Anlaß zu entsprechenden Vermutungen.“ Ludwig Hüttl, Ludwig II., München 1986, S. 388. Keine Belege für die praktizierte Homosexualität sieht: Christopher McIntosh, The Swan King. Ludwig II of Bavaria, New York 2003 (Erstauflage 1982), S. 157. So John C. G. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 465– 67; ders., Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie, München 2001, S. 232–237. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 382 VI. Entzauberte Monarchen Skandal“ hervorrufen könnten.78 Herbert Bismarck verteidigte diese Skandalabwehr seinem Vater gegenüber mit dem Hinweis auf die veränderte mediale Stellung des Monarchen: Nach meiner Auffassung ist die Sache nur ein pudendum. Heutzutage machen solche Sachen nur mehr Lärm als früher, weil die Presse viel verbreiteter u. gemeiner ist, als früher, u. weil der Deutsche Kaiser mehr en vue ist, als irgend ein anderer Mensch oder Monarch, u. von übelsten Elementen, die die verworfenste Presse haben – Franzosen, Jesuiten, Socialisten, Juden – auf das Bitterste gehaßt wird.79 Die Annahme, die „Sensationspresse“ und die politischen Gegner könnten durch solche Informationen die Monarchie stürzen oder beschädigen, führte somit zu verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, um das Privatleben des Monarchen den bürgerlichen Konventionen entsprechend erscheinen zu lassen. Zugleich spielten diese Aufkäufe den Bismarcks belastendes Material in die Hand, dass bei einer Eskalation des Konfliktes mit dem Kaiser durchaus eine letzte Waffe sein konnte. Trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner eigenen früheren Normbrüche sorgte sich Wilhelm II. energisch um das moralisch korrekte Verhalten seiner Verwandtschaft. Verschiedentlich maßregelte er sie mit scharfen Briefen, um Skandale zu verhindern.80 Drangen dennoch entsprechende Meldungen in die Presse, wie bei der Liebesaffäre von Prinz Joachim Albrecht von Preußen mit einer verheirateten Frau, erteilte er Sanktionen. So musste der Prinz zur moralischen Erziehung beim Krieg in Südwest-Afrika teilnehmen. Zudem wurden ihm symbolische Gesten verweigert, wie der Handschlag beim Hoffest.81 Tatsächlich hoben die bürgerlichen Presseberichte über Wilhelm II. immer wieder seine moralische Vorbildlichkeit hervor, während monarchiekritische Blätter selbst im Kontext der Eulenburg-Affäre von Andeutungen über sexuelle Verfehlungen absahen. Anzunehmen ist, dass nicht allein die drohenden Verurteilungen und Zensurmaßnahmen von derartigen Deutungen abhielten. Vielmehr gab gerade sein politisches Engagement genügend Anlass für Kritik und Empörung. Gerade weil Wilhelm als politische Instanz auftrat, brauchte er in geringerem Maße an moralischen Ansprüchen gemessen werden. 2. Der Prinz als Glücksspieler Auch die Skandale des britischen Königshauses drehten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum noch um sexuelle Verfehlungen. Dennoch stand die mo- 78 79 80 81 W. von Bismarck an H. von Bismarck, zit. nach Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau, S. 233. H. von Bismarck an O. von Bismarck 25. 11. 1888, zit. nach ebd. S. 235. Einige Beispiele hierfür in: Lothar Machtan, Wilhelm II. als oberster Sittenrichter: Das Privatleben der Fürsten und die Imagepolitik des letzten deutschen Kaisers, in: ZfG 54 (2006), S. 5–19. Vgl. die Einträge hierzu im Tagebuch Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre, S. 164 u. 190 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Der Prinz als Glücksspieler 383 ralische Lebensführung weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Während Queen Victoria nun, nicht zuletzt aufgrund ihres Alters, wieder uneingeschränkt als moralisches Vorbild galt, bot der Lebenswandel des Prince of Wales weiter Anlässe für kritische Reflexionen. Hierzu zählte insbesondere seine Spiel- und Wettleidenschaft. Sie mündete 1891 in den Baccarat Scandal, dem sicherlich bedeutendsten britischen Monarchie-Skandal im ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch dieser Skandal trug bürgerliche Erwartungen an die Monarchie und den Adel heran und verhandelte zugleich generelle Normen – in diesem Fall die Zulässigkeit von Glücksspielen. Die Kritik an der Spielleidenschaft des Prinzen war nicht neu. Sie zählte bereits seit längerem zu den festen Topoi der radikalliberalen Presse. So berichtete die auflagenstarke Reynolds’s Newspaper schon im Zuge der Monarchiekrise 1870/71, der Prinz würde im Bad Homburger Casino jenes Geld am Roulettetisch verspielen, das die englische Arbeiterklasse in ihrem Schweiß erarbeitet hätte, während der Prinz selbst niemals einen Penny erwirtschafte.82 Selbst wenn man in Deutschland offen zu Glücksspielen auffordere, müsse der Prinz auch im Ausland ein Vorbild für die englische Gesellschaft sein. Anderenfalls tauge er kaum als Thronfolger. Zugleich verwies das Blatt auf die harten Strafen, die normale Bürger für das Glückspielen erhielten. Die grundsätzliche Kritik an der Spielleidenschaft des Thronfolgers bezog sich somit auf die Verschwendung, Ausbeutung und Doppelmoral, auf eine Zweiklassenjustiz und einen fehlenden bürgerlichen Arbeitsethos. Ebenso spielte der linksliberale Star auf die Baccaratleidenschaft des Prinzen an, als es 1889 um die Bewilligung von 40 000 Pfund ging: „What guarantee have we that the money will not go to Monte Carlo or the gambling table?“83, fragte er und sprach von 11 000 Pfund, die der Prinz gerade bei einem Baccaratspiel mit Baron Hirsch gewonnen habe. Der sogenannte Baccarat-Skandal von 1891 knüpfte insofern an eine bestehende Kritik an, die jedoch bisher noch nicht zu einem Skandal geführt hatte. Voraussetzung für die wirkungsmächtige Empörung war zunächst – wie bei den Ehebruchsskandalen – eine Verschiebung der öffentlichen Bewertung des Glückspiels, die in den 1880er Jahren einsetzte. Da es sich bei Baccarat um ein reines Glückspiel handelt, war es unter Geldeinsatz prinzipiell illegitim. Die bürgerliche Presse sah in dem Kartenspiel, wie bei den meisten moralischen Normbrüchen, spöttisch ein französisches Laster.84 Ähnlich wie in Sexualfragen nahmen seit Mitte der 1880er Jahre die Versuche zu, Glücksspiele zu kontrollieren und einzudämmen. Weil der Gaming Act von 1845 nur ungenau die illegitimen Spielpraktiken festschrieb, bestanden wie bei anderen Normbrüchen Spielräume, die durch Präzedenzfälle auszuloten waren. So urteilte ein Richter 1884, nachdem die Polizei eine vornehme Spielstätte namens Park Club ausgehoben hatte, „while baccarat is at common law a lawful game, it can become unlawful 82 83 84 Reynolds’s Newspaper 24. 9. 1871, S. 5. Star 20. 7. 1889, S. 1. Vgl. noch vor dem Skandal: Times 11. 6. 1890, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 384 VI. Entzauberte Monarchen if […] it is played: (i) (per Hawkins J.) to excess (ii) so as to injure public morals (iii) in a house kept for the purpose of playing it […].“85 Da der Ermessensraum selbst nach diesem Urteil groß blieb, fielen die Strafen unterschiedlich aus. Die zeitgenössische Kritik der späten 1880er Jahre wies deshalb wie bei den sexuellen Normverstößen auf die geringen Strafen für Spieler aus den Oberschichten hin, wo das Glückspiel zunehmend verbreitet sei.86 Damit verlagerte sich auch hier der kritische Blick vom armen Londoner East-End auf das reiche WestEnd. 1889 machte die Polizei erneut verschiedene Glücksspielstätten aus. Die ausführlichen Presseberichte dürften mit dazu beigetragen haben, dass sich 1890 die National Anti-Gambling League gründete, die gegen das Glücksspiel und das in England weitverbreitete Wetten allgemein vorging.87 Um 1890 war somit das Narrativ des reichen Spielers, der ungestraft große Einsätze verspielte, im öffentlichen Diskurs recht präsent. Ausgelöst wurde auch der Baccarat-Skandal nicht durch eine investigative Presserecherche, sondern durch einen Gerichtsprozess, der sich aus Streitigkeiten innerhalb des hohen Adels entfaltete. Ein langjähriger Freund und Spielpartner des Prince of Wales, Sir William Gordon-Cumming, leitete ihn im Februar 1891 ein. Der Baron und Oberstleutnant in den Scots Guards hatte mit dem Prince of Wales und anderen Adligen im September 1890 bei einer Einladung auf dem Schloss Tranby Croft Baccarat gespielt. Nachdem er an zwei Abenden vor allem vom Prince of Wales 225 Pfund gewonnen hatte, beschuldigten seine Mitspieler ihn des Falschspieles. Sie nötigten ihn, eine Erklärung zu unterschreiben, in der er sich zu völliger Abstinenz beim Glücksspiel verpflichtete, wofür die Mitspieler stillschweigen wollten. Wie die Beteiligten später aussagten, machten sie dies „to avoid an open row and scandal.“88 Tatsächlich führte genau diese Verpflichtung erst zum Skandal, da Gordon-Cumming einige Zeit später hierin eine Verleumdung sah, von der er sich nun zur Rettung seiner Ehre durch einen Prozess freisprechen wollte.89 Gerade der Versuch, ein Geheimnis mit Nachdruck zu schützen, führte somit auch bei diesem Skandal zu dessen Veröffentlichung. Wie bei allen Skandalen leitete bereits die Prozessankündigung im Februar 1890 Presseberichte, Parlamentsanfragen und öffentliche Diskussionen ein, die jedoch erst mit dem Prozess vier Monate später ihre volle Dynamik erhielten. Da der Reputationsverlust für die Krone absehbar war, weil der Prinz als einer 85 86 87 88 89 Zit. nach: David Miers, Regulating Commercial Gambling. Past, Present and Future, Oxford 2004, S. 67. Vgl. zeitgenössisch zu den Gerüchten über die „West End Clubs“ etwa: G. Studtfield, Modern Gambling and Gambling Laws, in: The Nineteenth Century 26 (1889), S. 840–860. Lediglich auf die recht bedeutungslose Anti-Gambling League, nicht auf Skandale bezogen: David C. Itzkowitz, The (other) Great Evil: Gambling, Scandal, and the National AntiGambling League, in: Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals, S. 235–256. Prozessprotokoll nach: Daily News 2. 6. 1891, S. 2. Zum Ereignisablauf, allerdings ohne eine weitere historische Einordnung, vgl. ausführlich aus der „Classic Crime Series“: Michael Havers et al., The Royal Baccarat Scandal, London 1977; zudem: Magnus, Edward VII, S. 279–289; Roby, King, S. 229–259. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Der Prinz als Glücksspieler 385 der wichtigsten Zeugen erscheinen sollte, versuchte das Königshaus einzugreifen. Allerdings zeigte sich erneut der Kontrollverlust der Krone. Vertraute des Prinzen versuchten vergeblich, den vermeintlichen Falschspieler Gordon-Cumming von seiner Klage abzuhalten. Als das nicht gelang, erbaten sie, ebenfalls vergeblich, Premierminister Salisbury solle gegenüber dem Gericht eingreifen. Der Premierminister hielt sich jedoch zurück – vermutlich gerade wegen seiner Erfahrung im Cleveland Street Scandal kurz zuvor, bei dem Salisbury durch sein Eingreifen selbst in den Mittelpunkt des Skandals gerückt war.90 Eine weitere Taktik war, Gerüchte über den Prozessverlauf in den Medien zu verbreiten. So sprach der Anwalt der Adligen in einem Zeitungsartikel frühzeitig den Kronprinzen von aller Schuld frei. Eine andere Strategie verfolgten liberale Blätter, die aus „well-informed circles“ berichteten, der Prinz müsse vor Gericht nicht ins Kreuzverhör.91 Die so suggerierte Zweiklassenjustiz sollte gerade ein Kreuzverhör unausweichlich machen. Die Zeugenaussagen im Prozess machten wiederum zahlreiche Details über das Privatleben des zukünftigen Monarchen öffentlich, die gerade durch ihre Banalität für Spott sorgten. Das zentrale Bild des Skandals, in dem die Empörung in den Artikeln, Karikaturen und persönlichen Reflexionen kulminierte, war die Annahme, der Prinz führe stets sein eigenes Baccaratspiel bei sich. Offensichtlich hatte der Prinz bei der Einladung in Tranby Croft die Gastgeber, die mit Baccarat wenig vertraut waren, sofort zum Spiel aufgefordert, seine eigenen Spielsteine herausgeholt und die wichtige Rolle der Bank übernommen. Dieses Bild bildete das Grundmotiv der öffentlichen Vorwürfe: „It was played with his counters, specially taken down for the purpose“, monierte die Times, und die Pall Mall Gazette beklagte „a set carried about by him wherever he goes“. Auf der Straße rief man dem Prinzen nach: „Have you brought your counters?“92 Auf diese Weise etablierte sich die Vorstellung eines spielsüchtigen Thronfolgers, der jederzeit seine Spielsteine bereit hielt, genau wie, so die Daily News, ein Mohammedaner seinen Gebetsteppich oder, so ein Abgeordneter, ein Trinker seiner Flasche.93 In dem Skandal wurden wiederum verschiedene Normen ausgehandelt. Zum einen ging es um die offene Frage, inwieweit Glücksspiele generell zulässig seien. Dabei kam es zunächst zu einer bemerkenswerten Umdeutung. Im Parlament antwortete etwa der konservative Innenminister Henry Matthews auf entsprechende Anfragen – nicht zuletzt um den Prinzen zu schützen –, das Glücksspiel sei in einem Privathaus erlaubt.94 Sowohl die zahlreichen Nachfragen der 90 91 92 93 94 Vgl. Kap. II. 4. Zur Anfrage bereits: Magnus, Edward VII, S. 287. Pall Mall Gazette 17. 2. 1891; Echo 17. 3. 1891, nach Times 25. 3. 1890, S. 3. Pall Mall Gazette 4. 6. 1891; Times 10. 6. 1891, S. 9. Eine Sammlung von Karikaturen findet sich in: Review of Reviews Juli 1891, bes. S. 16–22. Daily News 5. 6. 1891, S. 2. „I am advised that it is not an offence against the Gaming laws to play baccarat in a private house.“ 13. 2. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 350, Sp. 613; vgl. auch seine Antwort: 26. 2. 1891, ebd., Sp. 1697. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 386 VI. Entzauberte Monarchen Journalisten beim Innenministerium als auch die internen Vermerke des Ministeriums zeigen, dass dies als erstaunliche Neuinterpretation galt.95 Die Forderung nach einem schärferen Vorgehen gegen das Glücksspiel, das der Abgeordnete Morton vor allem mit der Oberschicht verband, lehnte der Innenminister ab und bezeichnete dies als einen lächerlichen Eingriff in die Privatsphäre, da Agenten der Justiz und Polizei nicht in Privathäusern verfolgen könnten, ob Familien um einige Pennies Baccarat spielten. „Such an investigation of the amusements of every private family would be a most intolerable tyranny, and the country would not bear it.“96 Ebenso hielt der konservative Premierminister Salisbury intern fest, dass er selbst zwar Geldspiele ablehne, sie aber toleriere solange sich die Spieler dies leisten könnten.97 Damit verschob das Verhalten des Prinzen sowohl Rechtsinterpretationen als auch soziale Normen. Diese Umbewertung des Glücksspiels zeigte sich auch in der Urteilsbegründung des Richters. Er äußerte Verständnis für den Prinzen, da man dem einfachen Mann, der sich nach einem harten Arbeitstag ein wenig Vergnügen gönne, dies auch nicht verübeln würde.98 Die meisten Zeitungen vertraten mit Blick auf das Glückspiel im allgemeinen eine ähnliche Deutung. Selbst die moralistische Pall Mall Gazette betonte, das Spielen von Baccarat sei generell kein schweres Vergehen.99 Ebenso bewertete W. T. Stead in der Review of Reviews das Spielen als etwas, was der Prinz zur Entspannung benötige.100 Somit führte der Skandal überraschender Weise eher zu einer Lockerung der Normen, indem Glücksspiele als ein zwar nicht wünschenswertes, aber tolerierbares Privatvergnügen umgedeutet wurden. Kaum Beanstandung fanden zudem die Wetten beim Pferderennen, mit denen sich der Prinz wie gewöhnlich auch an dem besagten Wochenende in Tranby Croft vergnügt hatte. Die Geistlichen und nonkonformistischen Gruppen, die aus dem Fall die öffentliche Forderung nach einem generellen Verzicht auf Glücks- und Wettspiele ableiteten, wurden zwar in den Zeitungen zitiert, blieben jedoch in der Minderheit.101 Diese insgesamt liberale Deutung des Glücksspieles wurde allerdings mit Blick auf den Prinzen eingeschränkt. Fast die gesamte Presse empörte sich über das Verhalten des Thronfolgers. Der Skandal festigte und präzisierte dabei die normativen Anforderungen an sein Leben und seine Aufgaben. So stellte die Times fest, dass der Prinz im Unterschied zu normalen Bürgern kein Anrecht 95 96 97 98 99 100 101 Vgl. etwa den internen Vermerk der verwunderten Mitarbeiter, der Minister habe bisher angewiesen, „the police must not countenance baccarat even in social clubs or private houses.“ 14. 7. 1891, in: TNA, HO 45/9726/ A 52553. 17. 3. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 351, Sp. 1286. Salisbury an Cadogan o. D. (um 6. 6. 1891) und 19. 6. 1913, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 65 u. 81. Gerichtsaussagen nach Prozessbericht nach: Daily News 10. 6. 1891, S. 2. Pall Mall Gazette 10. 6. 1891, S. 1 und 15. 6. 1891, S. 1. Ähnlich etwa: Standard 10. 6. 1891. Review of Reviews Juli 1891, S. 23–34. Vgl. die öffentlichen Stellungnahmen von unterschiedlichen Kirchenvertretern bes. in: Times 10. 6., 12. 6. und 15. 6. 1891, S. 6; Reynolds’s Newspaper 14. 6. 1891, S. 5; Pall Mall Gazette 15. 6. 1891, S. 1 und 5. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Der Prinz als Glücksspieler 387 auf ein Privatleben habe, sondern stets der Öffentlichkeit verantwortlich sei.102 Da ihm die Zeitungen die Aufgabe zuschrieben, ein moralisches Vorbild zu sein, erschien sein Zeitvertreib mit Glücksspielen als völlig unzulässig. Die liberale Daily News formulierte dementsprechend: The Prince of Wales is bound to a pure, a simple, and a cleanly life as rigorously as if the obligations were set down in some constitutional pact. He is not here to command our armies, or even to initiate great measures of policy, but, in some sort, to show, in the higher station, how life in every station should be lived. Woe to the Monarchy when it can not perform what may fairly be called its last surviving use.103 Stärker als beim Mordaunt-Skandal artikulierten die Zeitungen somit die Drohung, der Prinz würde durch sein Verhalten zur Abschaffung der Monarchie beitragen. Noch deutlicher forderte der irenfreundliche liberale Star, das englische Königshaus müsse des Landes Wert sein, da es sonst, wie eine nicht-geachtete Flagge, keinen weiteren Sinn habe.104 Dem zukünftigen Monarchen wurde damit erneut auferlegt, durch sein privates und öffentliches Leben bürgerliche Werte nach außen zu repräsentieren – oder auf den Thron zu verzichten. Die Zeitungen selbst waren sich ihrer exzeptionellen Form der Monarchiekritik bewusst. „Never perhaps during the present reign has there been such an outspoken criticism of one so near the Throne“, resümierte die Pall Mall Gazette ihre ausführliche Presseschau.105 Der Verweis auf die Halsbandaffäre unterstrich in anderen Blättern die drohenden Konsequenzen.106 Lediglich W. T. Stead zog aus dem Skandal einen geradezu konträren Schluss. Er argumentierte, gerade weil der Kronprinz keine politischen Aufgaben habe, würde er sich derartigen Zerstreuungen hingeben. Daher müsse man ihm mehr Verantwortung geben.107 Steads Argument ließ sich vielleicht jedoch eher umgekehrt erweitern: Gerade weil die Krone sich politisch zurückhielt, fand im Unterschied zu Deutschland der Lebensstil des Prinzen eine derartig hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Über das Glückspiel hinaus diskreditierte der Skandal den Hochadel insgesamt, weil er zu einer minutiösen exemplarischen Veröffentlichung ihres Alltags führte. Das Wochenende auf dem Schloss Tranby Croft bestand, wie die Zeugenaussagen deutlich machten, vornehmlich aus Essen, Glückspiel mit hohem Geldeinsatz und dem Besuch von Pferderennen mit entsprechenden Wetten, obwohl zeitgleich der Schwager eines Mitspielers verstorben war. Ebenso spotteten die liberalen Zeitungen über die unbürgerlichen Lebenswege der hochadligen Mitspieler, die etwa das College nach einem Jahr abgebrochen hatten, nur einen Monat in der väterlichen Firma gearbeitet hatten und dann berufslos 102 103 104 105 106 107 Times 10. 6. 1891, S. 9. Daily News 10. 6. 1891, S. 4 (H.i.O.). Star 10. 6. 1891, S. 1. Pall Mall Gazette 10. 6. 1891, S. 6. Daily Chronicle 10. 9. 1891. Review of Reviews Juli 1891, S. 23–34, bes. S. 26. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 388 VI. Entzauberte Monarchen blieben.108 Entscheidend für die Bewertung des Prinzen und der beteiligten Adligen war zudem, dass es sich bei ihnen auch um Inhaber hoher militärischer Ränge handelte. Indem sie das Geldspiel und sogar das Falschspiel deckten, verstießen sie gegen Militärgesetze, die eine sofortige Meldung verlangten. Während der vermeintliche Falschspieler Gordon-Cumming daraufhin von der Queen aus der Armee ausgeschlossen wurde, konnte der Prinz seinen militärischen Rang behalten, was vor allem die Reynolds’s Newspaper als Zeichen der Doppelmoral kritisierte.109 Damit stellte der Skandal erneut die Forderung auf, dass Gesetze gleichermaßen selbst für das Königshaus zu gelten hätte. In dem Skandal entflammte zudem eine Kritik an den Kosten der Monarchie. Da der Prinz in seiner Rolle als „Bank“ jeweils um bis zu 100 Pfund spielte – also mehr als den Monatslohn eines bürgerlichen Einkommens – sah die Öffentlichkeit an einem konkreten Beispiel, wie leichtfertig der Thronfolger mit Geld umging. Die Gerüchte über die hohen Schulden des Prinzen, die in vielen Zeitungen im Zuge des Skandals erneut kursierten, ergänzten diesen Verstoß gegen bürgerliche Leitvorstellungen von Sparsamkeit und solider Wirtschaft. So sprach Reynolds’s Newspaper von 500 000 Pfund Schulden, die durch derartige Vergnügungen entstanden seien, obgleich er seit seiner Volljährigkeit allein über zwei Millionen Pfund vom Steuerzahler bekommen habe.110 Der Fall belebte so den schon vorher angelegten und besonders 1870/71 aufgeflammten Vorwurf, das Königshaus sei ein verschwenderischer Kostgänger der Steuerzahler. Die Reynolds’s Newspaper setzte den Prinzen in eine Traditionslinie mit dem unmoralischen und verschwenderischen Leben früherer Könige, insbesondere mit „Queen Carolines“ Gemahl Georg IV., der sich auch durch eine entsprechende Sinneslust ausgezeichnet habe.111 Der Thronfolger erschien damit wie ein Anachronismus in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Queen Victoria galt dagegen selbst in der Reynolds’s Newspaper als Gegenbild und Garantin der Monarchie. Anschaulich wurde diese Kritik am Prinzen in den Karikaturen. Allerdings blieben die visuellen Darstellungen des Skandals in den englischen Zeitungen wesentlich zurückhaltender als die der internationalen Presse. So beschränkte sich das Satireblatt Punch sogar nur auf die Verspottung der Zuschauerinnen, die es mit Operngläsern drängelnd darstellte, und erwies sich damit einmal mehr als wesentlich unkritischer als sein bis heute bewahrter Ruf.112 Die amerikanischen, französischen und deutschen Blätter zeichneten den Prinzen dagegen als Spieler, Trinker, Schuldenmacher oder Mann mit schlechter Gesellschaft, wobei sie ihn fast immer als kleinen Jungen neben der großen übermächtigen Mutter darstellten. Die Übernahme dieser ausländischen Karikaturen in auf108 109 110 111 112 Daily News 24. 6. 1891, S. 2. Reynolds’s Newspaper 14. 6. 1891, S. 1. Reynolds’s Newspaper 17. 5. 1891, S. 1. Reynolds’s Newspaper 7. 6. 1891, S. 1. Punch 6. 6. 1891. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Der Prinz als Glücksspieler 389 Abb. 11: Der Thronfolger als unreifer Spieler, der sich in schlechte Gesellschaft begibt. Der Spott der internationalen Presse kam, wie hier in diesen Karikaturen, wieder in die britische Öffentlichkeit zurück, um durch sie den Prinzen zu erziehen. Quelle: REVIEW OF REVIEWS Juli 1891. lagenstarke englische Blätter, wie die Review of Reviews, überführte diese spöttischen Deutungen des Thronfolgers freilich wieder in die britische Öffentlichkeit (vgl. Abb. 11).113 113 Vgl. die Zusammenstellung in: Review of Reviews Juli 1891, bes. S. 16–22. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 390 VI. Entzauberte Monarchen Der Prozess selbst wurde allein schon durch die physische Anwesenheit des Prinzen zur Sensation. Im Gericht erhielten die Journalisten trotz des enormen Andranges erneut gute Zugangsbedingungen, was selbst bei diesem Skandal das im Vergleich zu Deutschland gute Verhältnis zwischen Staat und Presse unterstrich.114 Unter den dicht gedrängten Zuschauern vermerkten die Zeitungsberichte nicht nur wie gewöhnlich die zahlreichen Frauen, sondern auch viele Adlige, was die Möglichkeiten vergrößerte, diese exotisierte Gesellschaftsgruppe zu beobachten. Insbesondere der Kronprinz wurde durch seine tagelange Anwesenheit auf der Zeugenbank zu einem Beobachtungsobjekt, bei dem Journalisten und Zuschauer jede seiner Bewegungen festhielten. Genau wie das Verhör nahm dies dem angehenden König die Aura der Unnahbarkeit und des Außergewöhnlichen. Obgleich das Gericht den Prinzen deutlich zurückhaltender befragte und Gordon-Cumming seine Verleumdungsklage trotz fehlender Beweise über sein Falschspiel verlor, banalisierte allein die Prozessteilnahme den Thronfolger. Der Prinz nahm diese Rolle jedoch bereitwillig an und verzichtete auf angebotene Privilegien wie das Sitzen bei der Aussage. Damit vollzog er eine wichtige symbolische Handlung, die der öffentlichen Forderung nach der Gleichheit vor Gericht entgegen kam und ihn für die Zeitungen „like any other man“ erscheinen ließ.115 Nach dem Prozess wurde zwischen der politischen Führung und dem Königshaus diskutiert, wie der Prinz wieder an Reputation gewinnen könne. Schließlich schloss sich auch die Queen dem Urteil der Zeitungen an, dass die Monarchie insgesamt in Gefahr sei, wenn der Prinz derartig verspottet würde. Der liberale Oppositionsführer Gladstone und die Times unterstützten das Ansinnen der Queen, der Prinz solle in einem öffentlichen Schreiben an den Erzbischof von Canterbury das Glücksspiel verdammen.116 Premierminister Salisbury sprach sich jedoch gegen eine öffentliche Entschuldigung aus, da dies von der Wirkung her unberechenbar sei und den Prestigeverlust verstärken könne.117 Schließlich lehnte der Prinz eine solche Erklärung ebenfalls ab, weil sie wie ein Schuldeingeständnis wirken würde, schrieb aber in einer privaten Erklärung an den Erzbischof, dass er das „gambling“ ablehne, nicht aber Pferderennen.118 Eine indirekte öffentliche Entschuldigung gab er jedoch über den Kriegsminister Edward Stanhope im Parlament, als dieser im Unterhaus gefragt wurde, wie er sich zu den militärischen Regelverletzungen verhalte. Der Kriegsminister 114 115 116 117 118 Dies erwähnten die Zeitungen mehrfach lobend: Daily News 2. 6. 1891, S. 2; Times 10. 6. 1891, S. 12. Pall Mall Gazette 2. 7. 1891. Queen Victoria an Cadogan 17. 6. 1891, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 78/3. Salisbury an Cadogan o. D. (um 6. 6. 1891) und 19. 6. 1913, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 65 u. 81. Cadogan an Salisbury 10. 6., 12. 6. u. 17. 6. 1891, in: NL Salisbury, Hatfield House. In dem Entwurf hieß es: „I have a horror of gambling and should always do my utmost to discourage others who have an inclination for it, as I consider that gambling, like intemperance, is one of the greatest curses that a country can be afflicted with.“ Abgedr. in: Magnus, Edward VII, S. 289. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Der Prinz als Glücksspieler 391 richtete von Seiten des Prinzen aus, es sei ein Fehler gewesen, nicht gleich das Fehlverhalten von Gordon-Cumming zu melden. Dies sei aber verständlich, weil jeder so gehandelt hätte, wenn ein enger Freund wegen „dishonourable conduct“ angeklagt wäre.119 Der Prinz erschien damit wieder in der Rolle des gewöhnlichen Bürgers, aber eben nicht als Vorbild. Die indirekte öffentliche Entschuldigung war zwar eine Art Schuldeingeständnis, zugleich ein Zugeständnis, um eine Rehabilitierung einzuleiten. Um das zukünftige öffentliche Bild des Prinzen zu verbessern, suchte die politische Führung auch bei diesem Skandal den Austausch mit dem damals wichtigsten Journalisten, mit W. T. Stead, dem nunmehrigen Herausgeber der Review of Reviews. Gladstone, der mit Verärgerung den Prozess verfolgt hatte, wandte sich danach gleich an den Journalisten.120 Auch der engste Vertraute des Prinzen, Lord Knollys, bot Stead ein Treffen an.121 Umgekehrt engagierte sich Stead eigenständig, um für den Prinzen eine stärker politische Rolle zu finden, die ihn von seinem unmoralischen Müßiggang befreien sollte. Wie sehr sich der Journalist mittlerweile als omnipotenter Staatsmann verstand, verrieten seine geradezu kollegial formulierten Ratschläge an Gladstone über die Lenkung des „somewhat lethargic Prince in the direction that we wish to take him“.122 Um das moralische Ansehen des Prinzen unmittelbar zu heben, schlug Stead etwa dessen Teilnahme bei einem Treffen des nonkonformistischen International Congregational Council vor, der gerade in London zusammen kam, was natürlich keine Zustimmung fand.123 Steads Korrespondenz zeigt erneut, wie sehr der Journalist die Nähe und Abstimmung mit den Mächtigen suchte. So schickte er die Manuskriptfassung seines großen abschließenden Artikels über den Skandal vorher an den Vertrauten des Prinzen und an Gladstone. Deren Kritik oder Kommentare nahm er zumindest teilweise auf.124 Gleichzeitig betonte Stead weiterhin die Rolle des unabhängigen Journalisten. Sein Artikel enthielt, trotz seines vergleichsweise wohlwollenden und konstruktiven Grundtons, weiterhin kritische Passagen. Umso mehr ärgerte er sich, dass er angeblich als „whitewasher“ der Krone verstanden wurde.125 Ein derartig enger Austausch zwischen einem unabhängigen kritischen Journalisten und dem Königshaus wäre in Deutschland sicherlich undenkbar gewesen, auch wenn ein deutscher Starjournalist wie Maximilian Harden ebenfalls die Aufmerksamkeit der Krone und den Austausch mit hohen Politikern suchte. Der Monarchie-Skandal stellte normative Forderungen an den angehenden Monarchen. Seinen Lebensstil änderte er jedoch kaum. Vielmehr spielte er bis 119 120 121 122 123 124 125 15. 6. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 354, Sp. 393 f. Vgl. Tagebucheintrag 19. 6. 1891, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 390. Knollys an Stead 29. 6. und 3. 7. 1891, in: CAC, Sted 1-44. Stead an Gladstone 2. 7. 1885, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:454. Stead an Knollys 16. 7. 1891, in: CAC, Sted 1/44. Gladstone an Stead 25. 6. 1891, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:447; Knollys an Stead 28. 6. 1891, in: CAC, Sted 1/44. Stead an Gladstone, o. D. (Juli 1891), in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:463. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 392 VI. Entzauberte Monarchen zu seinem Tod 1910 weiterhin Glücksspiele. Dennoch blieben Nachfolgeskandale aus. Der Fall zog zwar wie alle Skandale kleinere ähnliche Fälle über adlige Baccarat-Spieler nach sich, aber das Königshaus blieb, soweit ersichtlich, außen vor.126 Man kann dies erneut damit erklären, dass sich die Medien nach dem Skandal bemühten, nicht die Monarchie als Institution zu gefährden, zumal der Thronwechsel immer absehbarer wurde. Ebenso bemühte sich Queen Victoria und die Staatsführung verstärkt, die Veröffentlichung von derartigen Meldungen zu vermeiden. Als kurz nach dem Prozess Gerüchte aufkamen, der Prinz habe erneut Baccarat gespielt, verlangten ihre Vertrauten etwa mit scharfen Briefen Rechtfertigungen vom Prinzen.127 Ebenso setzte sich Premierminister Salisbury 1892 persönlich dafür ein, adlige Ehebrecherinnen davon abzuhalten, den Prinzen öffentlich mit ihren Fällen in Verbindung zu bringen, da gerade aus Prozessen Monarchie-Skandale zu entstehen drohten.128 Ein weiterer Grund für das Ausbleiben von weiteren Skandalen um Prinz Edward war die wachsende Beliebtheit des angehenden Königs. Der Skandal hatte zwar zur Herabsetzung seiner Würde beigetragen und den Respekt gegenüber der Krone gemindert. Seine persönliche Anwesenheit vor Gericht und seine Wett- und Spielleidenschaft gaben dem Prinzen jedoch auch volkstümliche Züge. Angesichts der hohen öffentlichen Nachfrage nach dem Königshaus erschien die permanente Anwesenheit von Edward VII. auf den Rennbahnen als Volksverbundenheit. Dabei profitierte Edward von dem steigenden Ansehen der Monarchie, das sich aus der wachsenden Beliebtheit von Queen Victoria in den 1890er Jahren ergab und sich insbesondere in den Feiern zum Diamond Jubilee 1897 zeigte. Bei seiner Thronbesteigung 1901 blieben schließlich kritische Stimmen ganz aus. Selbst die stets kritische Reynolds’s Newspaper kommentierte eher optimistisch, dass der König seine wilden Jahre hinter sich habe.129 Bereits kurze Zeit später meldete sie zwar wieder, Edward VII. würde wegen seines Kartenspiels seine offiziellen Termine vergessen, löste mit diesen Berichten aber keine breite Empörung mehr aus.130 Gerade die weitere Entwicklung zeigte somit, dass die Reaktionen im Baccarat-Skandal vor allem eine Warnung an das Königshaus waren, dass die Öffentlichkeit bestimmte Ansprüche an dessen Lebensstil hatte. Eine ernsthafte strukturelle Kritik, die auf die Abschaffung der Monarchie hätte zulaufen können, stand nicht dahinter. Mit dem Lebenswandel des Thronfolgers hatte die Öffentlichkeit somit vor allem diskutiert, welche moralische Lebensführung für die Gesellschaft wünschenswert sei. Für die deutsche Presse hatte der Skandal bezeichnender Weise eine gewisse Vorbildfunktion. Zwar betonten selbst die bürgerlichen Blätter mit spöttischer 126 127 128 129 130 So berichteten die Zeitungen im Jahr darauf über einige hohe Adlige, die betrügerisch Baccarat gespielt hätten; Times 21. 10. 1892, S. 8. Brodirck an Cadogan 16. 6. 1891, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 75. Zu dem hier angedeuteten Beresford-Fall vgl. die Hinweise in: Aronson, The King, S. 196; Roberts, Salisbury, S. 559; Magnus, Edward VII, S. 292. Roby, The King, S. 279. Reynolds’s Newspaper, 15. 2. 1903, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments 393 Abgrenzung, dass der englische Prinz im Unterschied zum deutschen Kaiser als der „erste Lebemann im Reich“ gelte und der Fall sich in eine Reihe von zahllosen Skandalen über den hohen englischen Adel einreihe. Aber dennoch bemerkte die liberale Presse voller Bewunderung, dass die konstitutionelle Monarchie so gefestigt sei, dass man dort selbst die Königin wegen Ehebruchs vor Gericht stellen könne, wie man unter Anspielung auf die Queen CarolineAffäre erinnerte.131 Insofern galt für sie selbst der Skandal, der den Prinzen als Lebemann lächerlich machte, indirekt doch als etwas Vorbildliches, da er Rechtsgleichheit und die Freiheit der öffentlichen Meinung verdeutlichte. Zugleich schufen die Skandale um Edward VII. Stereotype, die bei Konflikten mit Großbritannien aktualisiert werden konnten. Bereits die Spannungen, die im Kontext des Burenkrieges gegenüber England auftraten, führten dazu, dass die deutschen Karikaturen Edward VII. vehement als Lebemann und Glücksspieler verspotteten.132 Das durch den Skandal verbreitete Image des Monarchen schuf somit Zuschreibungen, die bei Bedarf pars pro toto zur Abwertung von ganz Großbritannien dienen konnte. 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments In Deutschland kam es kurz darauf ebenfalls zu einer Häufung von MonarchieSkandalen. Diese unterschieden sich jedoch von den englischen Fällen. Während in Großbritannien moralische Fragen für Empörung sorgten, gab in Deutschland vor allem das politische Verhalten von Wilhelm II. den Anstoß. Die stärkere Machtstellung der deutschen Monarchen, die im Unterschied zu Großbritannien noch nicht mit demokratisch gewählten Regierungen kooperieren mussten, begünstigte diesen Unterschied. Auch die bürgerlichen Zuschreibungen dürften eine Rolle gespielt haben. Folgt man Monika Wienforts Studien, so entwickelten sie sich bereits seit dem späten 18. Jahrhundert in unterschiedliche Richtungen: Während den englischen Monarchen eine moralische Tugendbewährung abverlangt wurde, sahen die Deutschen den Monarchen stärker als einen Staatsbürger, womit sie den Herrscher eher in der politischen Sphäre im engeren Sinne verorteten.133 Das verdichtete Aufkommen von Monarchie-Skandalen, die die politische Stellung des Monarchen thematisierten, wurde selbstverständlich durch das Auftreten von Wilhelm II. forciert. Nachdem Kaiser Wilhelm I. sich trotz seiner starken Stellung im Verfassungsgefüge politisch eher zurückgehalten hatte und Bismarck das Tagesgeschäft überließ, zeigte Wilhelm II. bekanntlich schnell 131 132 133 Zit. Vossische Zeitung Nr. 262, 9. 6. 1891, S. 1; Vossische Zeitung Nr. 264, 10. 6. 1891, S. 1. Die meisten Berichte zu dem Baccarat-Skandal fanden sich in der „Kreuzzeitung“, die sich dabei aber kaum Wertungen machte. Vgl. Simplicissismus Bd. 4 Nr. 42 (1899/1900); Geppert, Pressekriege, S. 135 f. So Wienfort, Monarchie, S. 149, 170 u. 205. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 394 VI. Entzauberte Monarchen weitergehende Ambitionen. An dieser Stelle muss nicht erneut die Debatte aufgerollt werden, ob es sich bei ihm nur um einen bramabasierenden schwachen „Schattenkaiser“ handelte oder, wie insbesondere John Röhl argumentierte, um eine „persönliche Monarchie“, in der der Kaiser ein Machtzentrum bildete.134 Zweifelsohne setzte Wilhelm allein durch seine öffentlichen Auftritte, seine deutlich artikulierte polarisierende Weltanschauung und seine Personalpolitik Akzente. Eine erste öffentliche Empörung entstand besonders bei der Entlassung Bismarcks und bei einzelnen politischen Richtungsänderungen, die als „neuer Kurs“ firmierten. Sein „persönliches Regiment“ beruhte dabei nicht nur auf seinem eigenständigen Eingreifen, sondern ebenso auf persönlichen Beratern und Günstlingen, die zunehmend für das skandalöse Auftreten des Kaisers verantwortlich gemacht wurden.135 Zunächst galt der Verweis auf die „Jugendlichkeit“ und „Impulsivität“ des Kaisers noch als Entschuldigung. Bereits Anfang der 1890er führten jedoch insbesondere seine Reden und Selbstinszenierungen zu einem gewissen Unmut, der durch die Vorwürfe der Bismarck-Anhänger stärker politische Formen annahm. Insbesondere der Journalist Maximilian Harden trat hierbei als akzentuierter Kritiker hervor. Sein viel beachteter Sieg in einem Majestätsbeleidigungsprozess im Juni 1893 zeigte, dass auch die juristischen Grenzen des Sagbaren in Bewegung gerieten. Harden wurde nicht nur wegen „seiner besten Absichten“ freigesprochen, sondern auch weil man Ehrfurcht gegenüber dem Monarchen dadurch zeige, dass man „auch ihm gegenüber die Wahrheit hochhält.“136 Im Jahr 1894, als sich der kaiserliche Machtanspruch besonders deutlich artikulierte, kulminierten daher nicht zufällig mehrere scheinbar unverbundene Skandale, die alle auf unterschiedliche Weise das Ansehen des Kaisers oder zumindest seines Umfeldes diskreditierten: Der Caligula-Skandal hinterfragte die persönliche Kompetenz des Monarchen, die Kladderadatsch-Affäre die seiner politischen Freunde und der Kotze-Skandal das moralische Verhalten des Hofes und damit der engsten Umgebung des Monarchen. Gerade ihr zeitgleiches, ineinander verschränktes Auftreten und ihre unterschiedlichen Stoßrichtungen dürften dazu geführt haben, dass in Deutschland die Kritik am Kaiser und seinem Umfeld artikulierbarer wurde. Da die Skandale um Wilhelm II. bereits relativ gut erforscht sind, kann an ihnen gleich ihre Struktur und das Zusammenspiel von Medien und Politik ausgemacht werden. Von ihrem Ablauf her wiesen diese drei Skandale zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Sie entstanden allesamt nicht aus einer direkten journalis134 135 136 Vgl. zu diesen gegensätzlichen Positionen bes.: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1001; Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau, S. 15 f. Eine Herrschaft per „Königsritual“, öffentlicher Sinnstiftung und „kaiserlichem Apparat“ sieht: Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996. S. 86, 103 u. 109. Neben Röhls Biographie weiterhin grundlegend hierfür: Hull, The Entourage. Urteil zit. nach: H. F. Young, Maximilian Harden. Censor Germaniae. Ein Publizist im Widerstreit 1892 bis 1927, Münster 1971, S. 69 Insgesamt ohne nennenswerte Befunde: Neumann und Neumann, Maximilian Harden, S. 95. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments 395 tischen Kritik an einzelnen Handlungen des Kaisers, seiner Ratgeber oder des Hofes. Vielmehr entwickelten sie alle aus versteckt artikulierten Vorwürfen, die ein skandalöses Verhalten umkreisten, das offensichtlich nicht direkt öffentlich sagbar war. Die Journalisten griffen allerdings diesen verdeckt artikulierten Unmut auf und beförderten ihn ebenfalls mit Techniken der Camouflage als gezielte Kaiserkritik in die Öffentlichkeit. So entfaltete sich der Caligula-Skandal aus einer satirisch angelegten Schrift des Historikers Ludwig Quidde, der in einer schmalen Broschüre scheinbar das Leben des wahnsinnigen römischen Kaisers beschrieb, tatsächlich jedoch den deutschen Kaiser meinte.137 Diese Form der Skandalisierung stand damit noch ganz in der Tradition der versteckten Monarchenkritik in Form von Satiren oder Parabeln, wie sie sich gerade in Deutschland durch die harten Zensurbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse im Vormärz entwickelt und lange gehalten hatte. Nicht minder verschlüsselt und poetisch geformt setzte die Kladderadatsch-Affäre ein. Das nationalliberale Satireblatt Kladderadatsch richtete seit dem 3. Dezember 1893 regelmäßige Angriffe gegen drei prominente Reichsbeamte, die dem Kaiser nahe standen und maßgeblich die Außenpolitik, Personalfragen und die Öffentlichkeitsarbeit prägten (Holstein, Kiderlen-Waechter und Philipp von Eulenburg).138 Allerdings nannte es die Angegriffenen nur mit Kosenamen (Austernfreund, Spätzle, Troubador) und schrieb nur in verschlüsselten Versen und Märchenformen über deren Intrigen, die aber für alle politischen Eliten leicht zu enträtseln waren. Die sprachspielerischen Formulierungen ähnelten freilich ebenfalls weniger den englischen Artikeln als jener versteckten Monarchenkritik des Vormärzes. Ihre Brisanz gewannen diese Texte aus der angedeuteten detaillierten Kenntnis der Hinterzimmerpolitik, die auf einen Informanten aus dem Auswärtigen Amt hinwiesen. Ebenfalls mit spielerischen Verschlüsselungen setzte der Kotze-Skandal ein, obgleich er als intriganter Spott innerhalb des Hochadels begann. Seit Anfang 1891 hatten zahlreiche Angehörige des preußischen Hofes insgesamt einige hundert anonyme Briefe erhalten, die ihnen mit äußerst derben Formulierungen insbesondere persönliche sexuelle Normbrüche vorwarfen. Beigelegt waren oft pornographische Fotos, Fotomontagen oder Zeichnungen der Adligen. So lautete einer der Briefe an Hofmarschall Freiherr von Reischach: „Im Bett ist nicht viel los/der Prinzen Schwänze sind klein, und Lokes Loch ist riesengroß/Ein Kürbis geht hinein“, versehen mit gezeichneten Penis-Bilder, die mit Namen 137 138 Vgl. zur Affäre selbst: Karl Holl et al., Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001, S. 89–116 u. 153–160; Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahn. Mit einer Einleitung von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt 1977; Kohlrausch, Der Monarch, S. 118–154. Vgl. Helmuth Rogge, Die Kladderadatschaffäre. Ein Beitrag zur inneren Geschichte des Wilhelminischen Reichs, in: HZ 195 (1962), S. 90–130, S. 90 f. Hinweise auch in: Forsbach, Alfred von Kiderlen-Wächter, S. 127 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 396 VI. Entzauberte Monarchen Adligen des Hofes versehen waren.139 Der Kaiser selbst erhielt zwar keine Briefe, wohl aber seine engeren Verwandten, wie seine Mutter und seine Schwester, und sein persönliches Umfeld am Hof. Ähnlich wie bei der KladderadatschAffäre war schnell deutlich, dass der Briefschreiber ein „Insider“ war und aus dem engeren Hofadel um Wilhelm II. kommen musste, da er detaillierte Kenntnisse über geheime Liebesaffären, Ausflüge des Hofes oder die Einrichtung der Privatzimmer hatte. Seit Juli 1894 wurde die Existenz dieser Briefe schließlich auch in der Öffentlichkeit bekannt, bis heute aber nicht der Autor. Da zunächst der Zeremonienmeister Leberecht von Kotze verdächtigt wurde, erhielt der Skandal seinen Namen. Die verschlüsselte Struktur der Vorwürfe förderte bei allen drei Skandalen die breite öffentliche Kommunikation über sie. Bei Quiddes Schrift konnten die Leser diskutieren, welche der herausgestellten Eigenschaften besonders auf den deutschen Kaiser anspielten. Der Kladderadatsch-Skandal löste ein öffentliches Rätselraten über die genannten Spitznamen aus, und in der politischen Führung ein Rätseln über mögliche Hintermänner. Der Kotze-Skandal führte schließlich zu einem bis heute andauernden Spekulieren über den Autor der denunziatorischen Briefe. Dabei vermutete die Studie von Tobias Bringmann die Schwester des Kaisers, Charlotte von Meiningen, als Autorin, John Röhl dagegen Herzog Ernst Günther zusammen mit „Theaterweibern“.140 Wer auch immer der anonyme Briefschreiber war – er spielte gezielt mit der Öffentlichkeit, um die Aufmerksamkeit auf die Beschuldigten und sich selbst zu richten. So übermittelte er dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, bereits Anfang 1894 Informationen und bot ein Treffen an.141 Dann richtete er direkt anonyme Briefe an das Kleine Journal, das diese abdruckte. Die öffentliche Suche nach dem Briefschreiber verlief dabei, ähnlich wie im Dreyfus-Skandal, über die abgedruckte Handschrift, wodurch sich jeder Leser als Detektiv an der Aufdeckung beteiligen konnte.142 139 140 141 142 Anonymer Brief an Reischach 25. 1. 1893, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/10, S. 73. Der erste Brief war an Graf Hohenau 15. 2. 1891, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/10. Eine Abschrift von ca. 40 der Briefe in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/3, ein dutzend weitere in: ebd., Nr. 3307/4. Vgl. zu dieser Affäre auch: Tobias C. Bringmann, Reichstag und Zweikampf. Die Duellfrage als innenpolitischer Konflikt des deutschen Kaiserreiches 1871–1918, Freiburg 1997, S. 152–201; Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 741–755. Röhl, Wilhelm II, Bd. 2, S. 753; Bringmann, Reichstag, S. 209. Direkte Belege fehlen. Röhl stützt sich auf eine Aussage des dubiosen Kommissar Tausch; Bringmanns Argumenten wäre hinzuzufügen, dass in den Briefen die zahlreichen Verweise auf „Emporkömmlinge“ auf einen Autor schließen lassen, der selbst in der Adelshierarchie denkbar weit oben steht. Die Sprache und die Art der Bilder in den Beschimpfungen lassen meiner Meinung nach ebenfalls den Schluss zu, dass eine Frau einen Großteil der Briefe verfasste. Schreiben an Wolff in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/5; Wolff an Gräfin Hohenau 30. 6. 1894, in: ebd. Zuerst wurde die Handschrift im Kotzefall veröffentlicht in: Das Kleine Journal Nr. 249, 28. 6. 1894. Vgl. die Schriftgutachten, die eine weibliche Handschrift ausmachten, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/6. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments 397 Gemeinsam war den drei Skandalen zudem, dass ihre öffentliche Dynamik eben nicht aus der Monarchiekritik der politischen Linken entstand. Vielmehr brachten konservative Eliten die Fälle in die breitere Öffentlichkeit – sei es aus Verbitterung über Bismarcks Entlassung, über den „neuen Kurs“ oder über den Charakter des Kaisers und Hofes insgesamt. So überführte beim Caligula-Skandal erst eine scheinbar empörte Rezension der konservativen „Kreuzzeitung“ Quiddes versteckte Kaiserkritik in die breite Öffentlichkeit. Auf der Titelseite verurteilte sie zwar Quiddes „krankhafte Sucht “ zur Analogienbildung, benannte jedoch diese Analogien so deutlich, dass die Monarchenkritik nicht mehr zu übersehen war.143 Erst dies machte die Medienöffentlichkeit auf die CaligulaBroschüre aufmerksam, was Quiddes Satire schnell zu einer Auflage von einigen 100 000 Exemplaren verhalf. Ebenso löste bei der Kladderadatsch-Affäre ein nationalliberales Blatt den Skandal aus, wobei die Informationen für die Artikel von konservativen Bismarckanhängern wie Maximilian Harden und aus dem Auswärtigen Amt stammten, insbesondere vom Leiter der Rechtsabteilung Ernst von Bothmer.144 Auch der Kotze-Skandal entbrannte gerade nicht aus einer sozialdemokratischen Adelskritik, sondern aus dem Adel heraus. Dass selbst konservative Kreise eine derartige Form der Kritik am Monarchen und seinen Umfeld lancierten, vergrößerte die Aufmerksamkeit auf die Vorwürfe beträchtlich. Von sozialdemokratischer Seite hätte man derartiges vielleicht erwartet. Eine Skandalisierung von konservativer Seite zeigte hingegen, wie brüchig das Fundament der Staatsführung wurde. Bemerkenswerter Weise sah das Umfeld des Kaisers kaum Möglichkeiten, nach den Regeln der klassischen Zensur und durch Prozesse einzugreifen, da gerade dies die Dynamik der Skandale verstärkt hätte. So hätte im Falle Quiddes ein Prozess dezidiert prüfen müssen, ob und inwieweit die Caligula zugeschriebenen Eigenschaften auch auf Wilhelm II. zuträfen, was den Kaiser leicht in Misskredit gebracht hätte. Tatsächlich kam es zu keinem Verfahren wegen der Schrift.145 Bei der Kladderadatsch-Affäre äußerte der verspottete Kaiserfreund Eulenburg ähnliche Bedenken gegen einen Prozess gegenüber Wilhelm II.: „Man weiß eben, daß ein Prozeß, der zwei Jahre dauern würde, alle möglichen speziellen Diener als Zeugen vorrufen würde, große Unruhe erzeugen und Eurer Majestät Schaden zufügen würde [...] wenn ein Prozeß so sensationeller Art entstünde, daß ihn der demokratisch-fortschrittliche Richterstand unter einem schwachen Justizminister zu einer Art Panamaskandal frisieren könnte.“146 Beim Kotze-Skandal verlor schließlich der Kaiser inmitten der gegenseitigen Beschuldigungen die Nerven und ließ seinen Zeremonienmeister 143 144 145 146 Neue Preussische Zeitung Nr. 226, 18. Mai 1894, Morgen. Rogge, Die Kladderadatschaffäre, S. 116. Erst 1896 wurde Quidde wegen einer beiläufigen anderen Äußerung wegen Majestätsbeleidigung verurteilt; vgl. Holl et al., Caligula, S. 26. Eulenburg an Wilhelm II. 13. 3. 1894, bereits abgedr. in: Rogge, Die Kladderadatschaffäre, S. 106. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 398 VI. Entzauberte Monarchen Leberecht von Kotze verhaften und vor ein geheim tagendes Militärgericht stellen. Dies hatte jedoch zur Folge, dass dadurch die Presse erst auf die brieflichen Verleumdungen aufmerksam wurde und sich zugleich über den Willkürakt des Kaisers empörte, der einfach eine offensichtlich unschuldige Person vor ein nicht-öffentliches Gericht stellen ließ. Nach Kotzes Freilassung lehnte der Staatsanwalt eine strafrechtliche Verfolgung aus Angst vor einem „tendenziösen Skandalprozeß“ ab.147 Auch bei der beabsichtigen Privatklage Kotzes ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass auf diese Weise nur „ein Sensationsprozeß ersten Ranges bezweckt sei, in welchen die gesamte Hofgesellschaft zur Vernehmung herangezogen werden soll“.148 Die Furcht, eine juristische Verfolgung könne den Skandal nur ausweiten, schuf somit der Kritik an Kaiser und Hof neue Spielräume. Die medialen Skandalisierungen waren bereits in diesem Stadium eine massive Herausforderung der Macht. Gerade weil eine juristische Verfolgung wenig opportun erschien, reagierten die öffentlich Angegriffenen trotz ihrer hohen Stellung äußerst verunsichert. In der Kladderadatsch-Affäre verfiel etwa Friedrich von Holstein, gewöhnlich als die mächtige graue Eminenz der Außenpolitik bezeichnet, in völlige Hilflosigkeit. Er fand kaum noch Schlaf und erwog seinen Rückzug aus der Politik, wie zahlreiche seiner Briefe zeigen. So klagte er gegenüber Eulenburg: „Unsere Schutzlosigkeit, ohne Polizei, ohne Gerichte, ohne geeignetes Verständnis für unsere Lage an höchster Stelle, läßt mich wünschen, möglichst bald zur Ruhe zu kommen. [...] Die Gerichte geben sich her zum Resonanzboden derjenigen Verleumdungen, die in keiner Zeitung würden gesagt werden können.“149 Nicht minder empfindlich reagierte der Kaiserfreund Eulenburg auf den Spott in der Presse, obgleich auch er zumindest in den 1890er zu den einflussreichsten Hintergrundpolitikern zählte. Er spornte den Kaiser jedoch zu einem schärferen Vorgehen gegen die Presse an, indem er ihm entsprechende Artikel schickte und die Schuld auf Reichskanzler Caprivi lenkte: „Napoleon und Bismarck wußten solche Dinge nach 24 Stunden zu regeln. Die Polizei bestach entweder einen Redakteur oder setzte Daumenschrauben an. Jetzt läßt sich der Reichskanzler ruhig verspotten, Euere Majestät werden hineingezogen [...].“150 Dass ein derartig repressives Vorgehen gegen Journalisten angesichts des neuen Medienmarktes kontraproduktiv sein musste, war jedoch offensichtlich. 147 148 149 150 Oberstaatsanwalt Drescher an Justizminister Schönstedt 29. 5. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58193; Oberstaatsanwalt Drescher an Kotze 9. 5. 1895, in: ebd. „Information für die Bearbeitung der von Schrader-von Kotze’schen Angelegenheit“, Oberstaatsanwalt Drescher 10. 7. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58193. Holstein an Eulenburg 19. 3. 1894, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 1255. Ähnlich etwa: Holstein an Eulenburg 28. 12. 1893, 10. 1. 1894 u. 7. 2. 1894, abgedr. in: ebd., S. 1172, 1183 u. S. 1214. Eulenburg an Wilhelm II. 23. 1. 1894, abgedruckt in: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz, S. 1194. Ähnlich auch: Eulenburg an Wilhelm II. 1. 2. 1894, 5. 2. 1894 u. 9. 3. 1894, abgedr in: ebd., S. 1203, 1210 u. 1244. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments 399 Da Gerichtsprozesse aus Angst vor der Öffentlichkeit risikovoll erschienen, reagierte das Kaiserumfeld mit einem anderen Mittel, das eine Konfliktlösung ohne eine öffentliche Aussprache versprach: dem Duell. Das Duell lässt sich dabei eben nicht nur als Mittel verstehen, um die männliche Ehre herzustellen, sondern auch als Schutz vor öffentlichen Zeugenaussagen, wenn Einblicke in das Privatleben oder arkane politische Handlungen drohten. So forderte der verspottete Vortragende Rat des Auswärtigen Amtes, Kiderlen-Wächter, anscheinend auf Drängen des Kaisers den Redakteur des Kladderadatsch, Wilhelm Polstorff, zum Duell heraus und verletzte den Journalisten schwer.151 Ebenso führte Leberecht von Kotze in dem nach ihm benannten Hofskandal verschiedene Duelle, um seine Ehre wieder herzustellen, bei denen er unter anderen den Zeremonienmeister Karl Freiherr von Schrader erschoss.152 Auch hier unterstützte der Kaiser diese Form der Konfliktlösung und trat sogar öffentlich für eine Tolerierung der Duelle ein.153 Die Versuche, die Skandale per Duell mit dem Erschießen von Journalisten und vermeintlichen Verleumdern zu lösen, gaben ihnen wiederum eine neue Dynamik. Denn nun empörte sich die Öffentlichkeit mehrheitlich über diese als unzeitgemäß empfundene Form der Konfliktbewältigung. Die Zeitungen sahen darin einen Verstoß gegen Gesetze und kirchliche Gebote.154 Auch in den Kneipen diskutierten die Gäste den Skandal jetzt empört mit Blick auf die Duelle und klagten laut Spitzelbericht, dass „die Kämpfer für Religion, Sitte und Ordnung“ morden würden, ohne bestraft zu werden.155 Im Reichstag führten die Duelle ebenfalls zu einer massiven Empörung, die in eine breit unterstützte Interpellation des Zentrumspolitikers Karl Bachem und eine Resolution des nationalliberalen Eduard Abt mündeten, die schärfere Gesetze gegen Duelle forderten. Hier argumentierten die Abgeordneten gerade damit, dass sich jetzt auch die konservative Presse gegen die Duelle ausgesprochen habe und damit die gesamte Öffentlichkeit hinter der Forderung stehe.156 Als Vorbild dafür, dass solche Skandale auch ohne Duelle lösbar seien, sahen die Abgeordneten England an, wo ja tatsächlich die hier diskutierten Skandale allesamt ohne Duell, sondern vornehmlich mit Beleidigungsklagen verhandelt wurden.157 151 152 153 154 155 156 157 Vgl. Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 670; Forsbach, Kiderlen-Wächter, S. 137. Zu diesen Duellen vgl. auch: Bringmann, Reichstag, S. 178–201. Vgl. auch, allerdings ohne Hinweise auf diese öffentlich besonders wirkungsmächtigen Duelle: Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Vgl. Wilhelm II. an Hohenlohe 15. 11. 1896, in: BA/K, N 1007-1604; Wilhelm II. an Hohenlohe 20. 4. 1897, in: BA/K, N 1007-1606. Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 189, 14. 4. 1895; ein gewisses Verständnis für die Duelle äußerte dagegen das in Adelskreisen beliebte Kleine Journal 11. 4. 1896. Durch die Duelle wanderte der Skandal auch wieder in die internationale Presse, vgl. Times 16. 4. 1895, S. 3. Vgl. Vigilanzberichte Schutzmann Graumann 14. 3. 1896 u. 18. 3. 1896, in: StAH, S 3930-23 Bd. 3. Vgl. die Debatte in: RT 20. 4. 1896, IX. Legislatur-Periode, IV. Sess., 1895–97, 72. Sitzung, Bd. 145, S. 1797–1802. RT 21. 4. 1896, IX. Legislatur-Periode, IV. Sess., 1895–97, 73. Sitzung, Bd. 145, S. 1819. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 400 VI. Entzauberte Monarchen Damit trugen die Skandale dazu bei, Duelle als Form der Konfliktbewältigung zu desavouieren. Aufgrund der Proteste musste der Justizminister Schönstedt im Reichstag bekräftigen, die Duellanten vor Gericht zu stellen.158 Ebenso setzte in der politischen Führung eine Reformdiskussion ein, die erneut den engen Zusammenhang zwischen den Duellen und der Angst vor „Skandalprozessen“ zeigte. Im Staatsministerium wurde argumentiert, daß das Duellwesen dadurch gefördert werde, daß es für einen Angehörigen der gebildeten Klassen heut zu Tage nahezu unmöglich sei, den Weg einer Beleidigungsklage zu beschreiten, da – abgesehen von der Geringfügigkeit der von den Gerichten verhängten Strafen – durch das übliche Strafverfahren thatsächlich der Beleidigungskläger zum Angeklagten werden, sich gegen alle Verleumdungen rechtfertigen und dem Verleumder den Gegenbeweis liefern müsse.159 Deshalb sollten in Zukunft Duelle nur dann stärker bestraft werden, wenn zugleich die Prozessordnung geändert würde, was auch Bachem in seiner Interpellation den Konservativen zugestand. Dabei forderten die Minister, dass neben schärferen Strafen bei Beleidigung „nicht mehr gerichtlich die ganze Vergangenheit der Beteiligten durchforscht wird.“160 Auch wenn die daraus resultierende Kabinettsordre vom 1. Januar 1897 keine direkte Strafverschärfung bescherte,161 setzte die Öffentlichkeit durch die Empörung im Skandal der Duellpraxis neue Grenzen. Kaiser Wilhelm II., der weiterhin bei Skandalen zu Duellen anstiftete, mochte das anders sehen. In der Öffentlichkeit stellte das Duell nun weniger die Ehre her, sondern minderte sie vielmehr, indem es den Skandal verstärkte. Konsequenzen hatten die Skandale zunächst für die Beteiligten. Die CaligulaSchrift des Historikers Ludwig Quidde beendete seine akademische Karriere. Kiderlen-Wächter erlitt einen langjährigen Karriereeinbruch durch die Kladderadatsch-Angriffe, und Kotze, obgleich anscheinend nicht maßgeblich für die Briefe verantwortlich, verlor seine Hofstellung als Zeremonienmeister.162 Eulenburg und Holstein behielten zwar ihre einflussreichen Stellungen, wurden nun aber kritischer beäugt. Eulenburg, der 1894 gerüchteweise auch als nächster Reichskanzler gehandelt wurde, sah sich selbst gegenüber dem Kaiser wegen des Kladderadatsch-Skandals als so angeschlagen an, dass er nicht einmal einen Ministerposten übernehmen wollte: „Es müßte also erst Gras über diesen PreßSkandal wachsen, – was ja nicht ausbleiben wird, – ehe ich überhaupt in Frage komme.“163 Zudem führten die öffentlichen Verdächtigungen zu einem verstärkten Misstrauen, das insbesondere Spannungen im Auswärtigen Amt förderte. 158 159 160 161 162 163 RT 9. 5. 1895, IX. Legislatur-Periode, III. Sess., 1894/95, 88. Sitz., S. 2180. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 18. 4. 1896, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3579. Sitzung Staatsministerium 6. 10. 1897, Punkt 3, S. 283. Vgl. zu der Kabinettsordre: Bringmann, Reichstag, S. 282 f. Kiderlen wurde zunächst Gesandter in Hamburg und Kopenhagen, der Bruch mit dem Kaiser erfolgte erst nach 1899; Forsbach, Kiderlen-Wächter, S. 162. Aufzeichnung Eulenburg für Wilhelm II., 2. 3. 1894, abgedruckt in: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz, S. 1258. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 401 Die weiteren politischen Folgen waren doppelter Natur. Zum einen bemühte sich das Kaiserumfeld um eine gewisse Aussöhnung mit dem Bismarck-Lager. Zum anderen setzte die Justiz zwar nicht in den konkreten Skandalen, wohl aber generell auf eine schärfere Strafverfolgung öffentlicher Kaiserkritik. So erreichte 1894 die Zahl der Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigungen ihren Höhepunkt.164 Auch die im selben Jahr aufgebrachte Umsturzvorlage stand mit den Skandalen in Verbindung. Sich politisch stärker zurückzuhalten, war sicherlich ebenfalls keine Konsequenz, die Wilhelm II. aus den Skandalen zog. Vielmehr vergrößerte sich in den folgenden drei Jahren sein Einfluss. Die wichtigste Folge aller drei Skandale war, dass sie eine kritische öffentliche Auseinandersetzung mit dem Kaiser, seinem Hof und seinen Beratern förderten. Sie brachen Tabus und leiteten Artikel und Gespräche über das Verhalten von Wilhelm II. ein, über die Macht seiner Berater und das moralische Verhalten seines Umfeldes. Alle drei Skandale konstruierten ein Narrativ des dekadenten Verfalls der Monarchie und brachten Analogien zum Niedergang Roms auf. Dieser Rombezug reichte vom Wahnsinn des Monarchen über die Verschwörung einer Kamarilla bis hin zur sexuellen Degeneration und der intriganten Selbstzerstörung des Adels. Während derartige Deutungen bisher eher bei der Sozialdemokratie verbreitet waren, etablierten sie sich so auch im bürgerlichen Lager. Zugleich zeigten die Skandale, wie begrenzt die Andeutungen in direkte Forderungen an den Monarchen umgemünzt werden konnten. Eine explizite Diskussion, inwieweit etwa die Analogie zu Caligula auf Wilhelm II. tatsächlich zutraf, blieb in den Zeitungen weitgehend aus.165 Dennoch waren die Berichte eine Warnung an den Monarchen: Sie machten deutlich, dass das engste Umfeld des Kaisers kein Arkanbereich war, sondern dass insbesondere Rivalitäten nach Bismarcks Entlassung zu Indiskretionen und damit zu Skandalen führen konnten. Auch wenn der Kaiser sich im Zuge der Skandale von 1894 vorerst nicht wandelte, so veränderten sie doch die Zuschreibungen und die Anforderungen gegenüber dem Thron. 4. Der unmündige Kaiser: Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner Die frühen Skandale um Wilhelm II. hatten sich noch eher indirekt gegen Wilhelms Regierungsstil und persönliches Umfeld gerichtet. Seit der Jahrhundertwende traten nun zunehmend Monarchie-Skandale auf, die sich häufiger an konkreten Äußerungen und Verhaltensweisen des Kaisers entzündeten. Die zunehmende Empörung, die insbesondere seine Reden durch ihren aggressiven, polemischen oder größenwahnsinnigen Gestus auslösten, ist bis heute gut bekannt. Angesichts der vielfältigen Studien über Wilhelm II. sind seine Reden 164 165 Statistiken zur Majestätsbeleidigung in: Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 625. So auch Holl et al., Caligula, S. 160. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 402 VI. Entzauberte Monarchen freilich bislang erstaunlich wenig untersucht worden.166 Pointiert ließe sich argumentieren, dass die Reden des Kaisers eigentlich im hohen Maße der medialisierten Gesellschaft entsprachen. Sie waren so zugespitzt und schillernd, dass sie eine hohe Aufmerksamkeit erreichten. Ebenso bargen sie Überraschungen, die Journalisten anzogen, und sie setzten die Agenda für Debatten.167 Insofern hatte die Vossische Zeitung nicht ganz unrecht, dass der Kaiser „der hingebendste indirekte und direkte Mitarbeiter der Presse ist, ein Journalist höherer Ordnung.“168 Zugleich bildete aber gerade die mediale Fixierung der Worte sein Problem. Die Reden, die vor Ort oft Begeisterung fanden, lebten vom freien Vortrag, der körperlichen und stimmlichen Anwesenheit des Kaisers und dem patriotischen Gemeinschaftserlebnis, wobei angesichts fehlender Übertragungsmöglichkeiten gerade bei größeren Veranstaltungen unter freiem Himmel nicht jedes Wort die Zuhörer verständlich erreichte. Erst die Übertragung in das gedruckte Wort der Zeitungen machte sie zum Diskussionspunkt, was bei dem improvisierten Redeakt selbst nicht vorgesehen war.169 Insofern kam der Modus der medialen Darstellung dem Kaiser nicht unbedingt entgegen, sondern bildete den Ausgangspunkt für Skandale. Das wichtigste Beispiel für einen Skandal, der durch eine Rede ausgelöst wurde, ist sicherlich die bekannte „Hunnenrede“ vom 27. Juli 1900. Der Kaiser hatte die deutschen Soldaten mit den Worten zum Boxeraufstand verabschiedet, sie sollten ohne Gnade und ohne Gefangene „wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel“ kämpfen.170 Man würde es sich jedoch zu einfach machen, derartige Reden lediglich als Maßlosigkeit oder Wahn des Kaisers zu interpretieren. Entscheidender ist auch hier die Frage, wie die Regierung und die (Medien-) Öffentlichkeit mit diesen Worten umgingen. Unter dieser Perspektive, und nicht allein von ihrem Inhalt her, bildet die Hunnenrede tatsächlich einen gewissen Wendepunkt, da sie zu einer breiten Empörung und damit zu einem Skandal führte, der grundsätzlich die Mündigkeit des Monarchen hinterfragte. An dem Skandal lässt sich zunächst ausmachen, wie Regierung und Presse um eine freie Berichterstattung über den Kaiser rangen. Dass in der überregionalen Presse am nächsten Tag nur eine stark abgeschwächte Redefassung des Auswär166 167 168 169 170 Wer an der Abfassung der Reden beteiligt war, wie der Kaiser improvisierte oder welche öffentliche Wirkung er jeweils auslöste, ist bisher nur für ganz wenige Ausnahmereden bekannt; zum Veröffentlichungsmodus: Stöber, Pressepolitik, S. 192–201. Gute Beobachtungen zu seinen öffentlichen Auftritten auch in: Clark, Wilhelm II, S. 160–172. Vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 78. Vossische Zeitung 8. 11. 1908, morgens, S. 1. Vgl. Clark, Wilhelm II, S. 168. Wortlaut laut Presseberichten, etwa Vossische Zeitung 28. 7. 1900, S. 1. Vgl. auch: Bernd Sösemann, Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: HZ 222 (1976), S. 342–358; ders., „Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht“. Zeugnisse und Wirkungen einer rhetorischen Mobilmachung, in: Hans Wilderotter und Klaus Pohl (Hrsg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh 1991, S. 79–94. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 403 tigen Amtes erschien, wurde bisher in Anlehnung an Bülows Memoiren als Gentlemen-Agreement zwischen Außenministerium und Journalisten gedeutet.171 Tatsächlich schränkte die Regierung anscheinend schon vorher die Berichterstattung ein. So erhielten die Journalisten nur Zutritt zur Rede, nachdem sie mit ihrer Unterschrift eine vom Auswärtigen Amt ausgestellte Erklärung unterschrieben hatten, nichts von der Kaiserrede zu veröffentlichen, was nicht vorher dem Auswärtigen Amt vorgelegen habe.172 Als ein Journalist der Frankfurter Zeitung anschließend dennoch einen Redetext an seine Redaktion telegraphieren wollte, der dem Wortlaut nahe kam, wurde die Meldung auf Bülows Weisung hin vom Telegrafenamt zurückgehalten, obgleich dies eine gesetzeswidrige Einschränkung der Kommunikationsfreiheit war.173 Diese repressive Strategie, die den Kaiser von vorneherein als freien Redner entmündigte, schien zunächst aufzugehen. Am folgenden Tag druckten die Zeitungen die korrigierte Version des Auswärtigen Amtes ab. Um auf die Redeeindrücke der Anwesenden einzugehen, verbreitete die Regierung sogar noch eine zweite Version im Reichs-Anzeiger, die etwas direkter, wenn auch ebenfalls entschärfend, Passagen aus der Rede enthielt. Zudem veröffentlichte die Reichsleitung einige Tage später eine weitere, eher zurückhaltende Kaiserrede vor Matrosen, die zwar ebenfalls zum Kampf anspornte, aber das Beten für den Sieg in den Mittelpunkt stellte.174 Gleichzeitig entfaltete sich der Skandal jedoch aus der Ausbildung eines eigenständig recherchierenden Journalismus, der dieses Schutzschild um den Monarchen durchbrach. Zeitungen aus dem regionalen Umfeld, wie die Nordwestdeutsche Zeitung, die Neuesten Nachrichten und das Hamburger Fremdenblatt, druckten abweichende Versionen der Rede, die dank ihrer eigenen Korrespondentenmitschriften dem Wortlaut wohl am nächsten kamen.175 Dies unterstrich abermals den Kontrollverlust der Regierung gegenüber der Presse, die sich eben nicht mehr über die Nachrichtenagentur WTB, über offiziöse Blätter wie den Reichs- und Staatsanzeiger und der Norddeutscher Allgemeinen Zeitung oder durch persönliche Loyalitätsabsicherungen des Pressebüros beeinflussen ließ. Die Figur des anwesenden Reporters triumphierte vielmehr über die offiziöse Meldung. Bezeichnend für den entstehenden Skandal war, dass sich die Empörung zunächst erneut weniger gegen den Kaiser richtete. Vielmehr begann er mit Spott über die Reichsleitung, die für die verschiedenen Versionen der Kaiserrede verantwortlich gemacht wurde. So begnügte sich der Vorwärts zunächst damit, die 171 172 173 174 175 Hier baute die Literatur auf: Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1: Vom Staatssekretariat bis zur Marokko-Krise, Berlin 1930, S. 359. Vossische Zeitung Nr. 355, 1. 8. 1900, S. 1. Vgl. Vorwärts 1. 8. 1900; Frankfurter Zeitung 28. 7. 1900 (Abendblatt) u. 30. 7. 1900 (Morgenblatt). Der Text der Seepredigt ging zuerst an: Neue Preussische Zeitung Nr. 356, 2. 8. 1900, S. 1. In der Presse sprach man daher sogar von vier Versionen der Rede. Vossische Zeitung Nr. 355, 1. 8. 1900, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 404 VI. Entzauberte Monarchen unterschiedlichen Versionen nebeneinander zu stellen, um damit die Hilflosigkeit der Regierung im Umgang mit den Kaiserreden vorzuführen.176 Um das Sensationelle an diesem Vorgang zu unterstreichen, wählte man typographisch eine der größten Überschriften („Drei Lesarten!“), die das SPD-Blatt bisher gedruckt hatte. Damit wurde der Monarch, wie in der früheren Camouflage, nur über seine schlechten Berater kritisiert. Das Nebeneinander der Reden kleidete die Kaiserkritik abermals in ein Rätsel, das die Dynamik der Kommunikation stärkte. Journalisten und Leser konnten nun spekulieren, welche Passagen tatsächlich vom Kaiser stammten und wie diese eigentlich zu verstehen seien. In der zweiten Phase des Skandals, als der martialische Inhalt debattiert wurde, hielten zumindest die Zeitungen rechts vom Zentrum die Rede für angemessen. Allerdings belegen interne Aufzeichnungen den Unmut, der auch bei der konservativen Elite bestand.177 Insgesamt verschob die Rede das Kaiserbild. Die Sozialdemokraten pathologisierten Wilhelm II. nun vehementer als zuvor, indem sie zahlreiche andere Auszüge seiner Reden präsentierten, in denen der Kaiser zur blutigen Vergeltung aufgerufen hatte.178 Den Liberalen, die dem Anspruch auf Vergeltung zustimmten, erschien der Kaiser als eine fehlbare Figur, der man explizit Irrtümer und Fehleinschätzungen nachweisen konnte. Dass die Chinesen brutal wie noch kein Volk in der Geschichte gehandelt hätten, wurde ebenso zurückgewiesen wie die Zulässigkeit einer blutigen Rache.179 Die Konservativen hingegen kritisierten den Kaiser zwar nicht offen, düpierten ihn aber zumindest dadurch, dass sie unter offensichtlichen Verrenkungen die problematischen Sätze umdeuteten.180 Wilhelm II. erschien damit als ein Monarch, dessen Reden nur durch die Zensur und Nachinterpretation publizierbar waren. Besonders deutliche Worte fand abermals Maximilian Harden, der den Kaiser als eine der Realität entrückte Figur beschrieb, dessen Reden und Allmachtsvorstellungen für die „monarchische Krise“ verantwortlich seien.181 Andere bürgerliche Blätter kamen zu dem Schluss, wenn der Monarch als Politiker auftrete, müsse er sich auch mit den „Stacheln der öffentlichen Kritik zurechtfinden.“182 Der Skandal legitimierte damit grundsätzlich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Monarchen. Die „Hunnenrede“ verschob die Grenzen des Sagbaren so sehr, dass es zu einer Reichstagsdebatte über den Kaiser kam, obwohl seine Person eigentlich im 176 177 178 179 180 181 182 Vorwärts 29. 7. 1900, S. 1. Vgl. als Kritik an der „Unsicherheit“ der offiziösen Berichterstattung von rechts: Neue Preussische Zeitung Nr. 351, 30. 7. 1900, S. 1. Selbst Generalfeldmarschall Waldersee, dem der Kaiser schon vor der Rede den Oberbefehl für die Niederschlagung des Aufstandes in China anbot, sah die Rede kritisch; Eintrag 5. 7. 1900 (Datum fehlerhaft, gemeint war wohl 5. 8., F.B.), in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 448. Vorwärts 31. 7. 1900, S. 3. Vossische Zeitung Nr. 355, 28. 7. 1900, S. 1. Vgl. etwa Neue Preussische Zeitung Nr. 349, 28. 7. 1900, S. 1. Harden, Der Kampf mit dem Drachen, in: Die Zukunft 11. 8. 1900. Nation 11. 8. 1900, S. 627, zit. nach: Fälschle, Rivalität, S. 200. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 405 Parlament als nicht verhandelbar galt. Der Monarch, so August Bebels Hauptvorwurf im Reichstag, habe mit seinen Rache-Äußerungen direkt zu brutalen Tötungen aufgerufen, die dann tatsächlich umgesetzt worden seien, was zutiefst unchristlich sei.183 Wie bei seiner Kolonialkritik versuchte Bebel durch Verweise auf christliche Grundsätze Teile des Zentrums und der Konservativen zu gewinnen. Die SPD-Presse flankierte dies mit detaillierten quellennahen Berichten über das brutale Vorgehen der Soldaten in China, für das sie den Kaiser persönlich verantwortlich machte.184 Der Linksliberale Eugen Richter schloss sich im Reichstag Bebels Kritik an. Er sprach sich generell für eine Debatte über die Kaiserreden im Reichstag aus, da der Kaiser fortlaufend politische Stellungnahmen mache, Parteien des Reichstages angreife und öffentliche Kritik hervorrufe. Deshalb verlangte er eine direkte Kontrolle der Kaiserreden durch Absprachen mit den Ministern.185 Obgleich Reichskanzler Bülow daraufhin die Redefreiheit des Kaisers verteidigte, entschuldigte er den Kaiser damit, dieser habe erst kurz zuvor von den Morden gehört und als Soldat, nicht als Diplomat gesprochen.186 Selbst diese wenig überzeugende Verteidigung verfestigte das Bild eines unmündigen Kaisers, der durch die Regierung und die Öffentlichkeit kontrolliert werden müsse. Der Skandal um die „Hunnenrede“ hatte zwar nicht zur Folge, dass der Kaiser seinen Ton mäßigte. Jedoch führte die medial ausgelöste Empörung, die der Monarch bei einigen folgenden Reden erneut anstieß, immerhin dazu, dass selbst konservative monarchietreue Eliten eine Begrenzung seiner öffentlichen Auftritte forderten. So entfachten die überzogenen Reden, die der Kaiser nach Krupps Tod Ende 1902 in Essen, Breslau und Görlitz hielt, nicht nur einen breiten Unmut in der Presse. Sie leitete auch eine Resolution der Fraktionsführer der Konservativen, Nationalliberalen und des Zentrums ein, die gegenüber dem Reichskanzler ihre Besorgnis über die Kaiserreden ausdrückte und aus Angst vor Angriffen von links auf mehr Zurückhaltung im Sinne der Verfassung baten.187 Die Skandale um die Reden machten somit das eigenmächtige politische Auftreten des Kaisers zu einem sanktionierbaren Normbruch. Wilhelm selbst betonte immer wieder, dass er der Presse und der öffentlichen Meinung keine größere Bedeutung beimessen würde, sondern nach eigenem Ermessen entscheide. Wie verschiedene Zeitgenossen bemerkten, las er selbst vornehmlich nur das konservativ orientierte Massenblatt Berliner Lokal-Anzeiger. Ansonsten informierte er sich überwiegend über mündliche Berichte und 183 184 185 186 187 Vgl. die Rede 19. 11. 1900 in: RT X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 29. Vgl. auch: Wielandt und Kascher, Die Reichstagsdebatten. Dabei stützte sich der Vorwärts nicht nur auf Soldatenberichte, sondern auch auf bürgerliche Journalisten wie den Kriegsberichterstatter des Berliner Lokal-Anzeigers, Missionare und Professoren; so: Rechtsanwälte des Vorwärts 11. 6. 1901, in: BAB/L, NY 4060-58. Rede 20. 11. 1900 in: RT X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 53 f. Ebd., S. 63 u. 23. 11. 1900, S. 125. Das Schreiben der Fraktionsführer vom 20. 1. 1903 ist abgedr. in: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 439. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 406 VI. Entzauberte Monarchen Zeitungsausschnitte, die das Auswärtige Amt für ihn bereitstellte.188 Trotz dieser gewissen Ignoranz war auch seine Herrschaft durchaus auf komplexe Weise mit der Tagespresse verbunden. Der Kaiser kommunizierte mit der Regierung über seine oft sehr emotionalen Reaktionen beim Lesen der Ausschnitte, die er mit kurzen schriftlichen Kommentaren versah. Da die Auswahl der Zeitungsausschnitte und die Reaktion auf sie das Wissen und Denken des Monarchen zeigte, verlangte Reichskanzler Bülow vom Literarischen Büro nicht nur eine Mitteilung darüber, welche Artikel der Kaiser bekomme, sondern auch die Dokumentation seiner Randnotizen.189 Hierzu zählten Unterstreichungen und Ausrufezeichen, Ausrufe (wie „gut!“ oder „bravo!“) und kurze Anweisungen (wie „Dementi!“), die allesamt verdeutlichen, wie sehr der Kaiser die öffentliche Meinung rezipierte und auf sie zu reagieren verlangte. Diese Anmerkungen wurden oft sogar in abgetippter Form der Reichskanzlei vorgelegt.190 Entgegen Wilhelms Selbststilisierung bildete die Presse damit einen wesentlichen Anstoß für seine politische Kommunikation, mit der er Reaktionen auf die Pressemeldungen einforderte oder sich einer bestimmten vorgeschlagenen Meinung anschloss. Zugleich suchte der Kaiser zunehmend die direkte Kommunikation mit den Medien – bis hin zum Interview. Zahlreiche Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich haben zu Recht die Daily-Telegraph-Affäre als einen Höhepunkt der Kritik am „persönlichen Regiment“ bewertet, bei der sich die Empörung gegenüber den unüberlegten Äußerungen des Kaisers entlud und die mangelhafte Regierungsorganisation enthüllte.191 Die internationale Empörung entzündete sich dabei vor allem an vier Behauptungen, die der Kaiser in einem Interview äußerte, das der Daily Telegraph am 28. Oktober 1908 publizierte: Erstens die Aussage, er gehöre zu einer englandfreundlichen Minderheit in Deutschland, wodurch er, entgegen seinen Intentionen, leichtfertig die englische Angst vor der deutschen Aufrüstung stärkte; zweitens, er habe ein russisch-französisches Vorgehen gegen England im Burenkrieg nicht nur abgelehnt, sondern auch Queen Victoria mitgeteilt, womit er sich als eigenständiger Außenpolitiker im europäischen Bündnis präsentierte; drittens, durch seinen Schlachtplan sei der Burenkrieg gewonnen worden, was eine denkbar große Anmaßung war; und viertens, der deutsche Flottenbau würde sich nicht gegen England, sondern gegen die Fernost-Staaten richten, was insbesondere eine Provokation gegenüber Japan war.192 188 189 190 191 192 Vgl. etwa: von Holstein an Eulenburg 12. 12. 1889, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 1, S. 385 f.; Eintrag Zedlitz-Trützschler 29. 1. 1905, in: ders., Zwölf Jahre, S. 106; öffentlich dazu: Germania Nr. 128, 7. 6. 1907. Vgl. auch: Stöber, Pressepolitik, S. 180 u. 189. Bülow an Minister des Inneren 25. 10. 1901, in: BAB/L, R 43 1567-10. Vgl. etwa die von Wilhelm II. kommentierten Artikel in Bülows Nachlass, in: BA/K, 1016-35. Vgl. etwa: Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 169; Ullrich, Nervöse Großmacht, S. 219; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 303; Mommsen, War der Kaiser an allem Schuld?, S. 143. Daily Telegraph 28. 10. 1908, S. 11; ein Faksimile-Abdruck der Zeitungsseite in: Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1930, S. 352. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 407 Zudem sorgte für Empörung, dass Bülow, dem das Interview vorab zur Durchsicht vorlag, es angeblich nicht durchsah. Dementsprechend ging auch die historische Forschung insbesondere der Frage nach, ob Bülow tatsächlich die Korrektur des Interviews überging. So argumentierte Peter Winzen jüngst, Bülow habe den Text gekannt, was plausibel erscheint, obgleich ein eindeutiger Quellenbeleg auch bei Winzens Darstellung weiterhin fehlt.193 Eine weitere Lesart bot Martin Kohlrausch an, der den Skandal zusammen mit der Eulenburg-Affäre als Ausdruck einer Desillusionierung über den Monarchen bewertete, wodurch radikalerer Führerforderungen aufgekommen seien.194 Blick man dagegen zunächst vor allem auf die Medialisierungsprozesse der Zeit, so bietet sich eine etwas andere Perspektive an. Nicht allein die bekannte Sprunghaftigkeit des Kaisers, sondern auch die Etablierung der medialen Kommunikationsform des „Interviews“ bildet dann einen wichtigen Ausgangspunkt für den Skandal. Dabei lässt sich argumentieren, dass der Daily Telegraph-Artikel auch deshalb eine derartige Wirkung entfachte, weil der Kaiser mit einer in Großbritannien bereits etablierten Medientechnik experimentierte, deren Logik für ihn ähnliche Ambivalenzen aufwies wie der Abdruck seiner Reden.195 Mediengeschichtlich gesehen waren Interviews zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch eine gewisse Neuheit. In den USA und Großbritannien hatten sie sich dagegen schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etabliert. Der Oxford Dictionary verwendete den Begriff bereits 1867 im Pressekontext und schon wenige Jahre später erschienen Interviews mit prominenten Personen wie dem Papst oder mit Bismarck in der englischen Presse, so dass das Gespräch von Wilhelm II. durchaus prominente Vorläufer hatte.196 Etabliert und systematisiert wurde das Interview in Großbritannien vor allem seit 1883 durch den Starjournalisten W. T. Stead in der Pall Mall Gazette.197 Steads Innovation war, dass er Prominente in deren privaten Räumen aufsuchte und neben dem Gespräch in Reportageform auch Person und Umgebung beschrieb. Durch das Interview veränderte sich damit nicht nur das Format des Artikels, sondern auch die Repräsentation des Politischen. Politik wurde auf diese Weise weitaus stärker personalisiert, und das Individuum konnte von allen Institutionen losgelöst in mündlicher Rede Position beziehen, was dem Kommunikationsverhalten von Wilhelm II. stark entgegen kam. 193 194 195 196 197 Winzen, Das Kaiserreich, bes. S. 34. In Winzens Einleitung zu seiner Quellenedition findet sich auch die maßgebliche Rekonstruktion des Ereignisablaufes. Dass Bülow es nicht vorher las, meinen: Lerman, The Chancellor, S. 221; Fesser, Reichskanzler, S. 132 f. Kohlrausch, Der Monarch, S. 261 f. u. 296. Stärker mit der neuen Macht der Presse gegenüber dem Parlament interpretiert die Affäre auch: Platthaus, Novemberrevolution, S. 150 f. sowie generell: Kohlrausch, Der Monarch. Brown, Victorian News, S. 160. Schults, Crusader, S. 61 f. Nicht haltbar ist jedoch, angesichts verschiedener Vorläufer, die oft formulierte Annahme, Stead habe das Interview eingeführt; vgl. etwa zu wichtigen Vorläufer wie Yates: Joel H. Wiener, Edmund Yates: The Gossip as Editor, in: ders. (Hrsg.) Innovators, S. 259–274, S. 260 u. 265; Richard Salmon, A Simulacrum of Power. Intimacy and Abstraction in the Rhetoric of New Journalism, in: Brake et al. (Hrsg.), Encounters, S. 27–39. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 408 VI. Entzauberte Monarchen Diese frühen Interviews sollten bereits in der spätviktorianischen Presse politische Handlungen und gesellschaftliche Debatten auslösen. So leitete 1884 Steads Interview mit General Gordon Großbritanniens militärische Expedition im Sudan ein. Steads Interview mit Admiral Lord Cooper über die Schwächen der Navy führte noch im gleichen Jahr zusammen mit seiner anschließenden Pressekampagne dazu, dass die Navy ausgebaut wurde.198 Ebenso bediente sich Steads berühmte Serie über die Londoner Kinderprostitution im Jahr darauf zahlloser Interviews, um das Alter für legalen Geschlechtsverkehr von 14 auf 16 anzuheben. Für die Leser des Daily Telegraph-Interviews mit Wilhelm II. war somit bereits bekannt, dass per Interview auch direkt Politik gestaltet werden konnte und sollte. Sein Interview-Partner, der damalige Militär-Attaché in Frankreich Edward James Montagu Stuart-Wortley verstand sich dementsprechend auch als diplomatischer Vermittler zwischen den Nationen. Zudem stand das Interview generell für eine soziale Aufwertung der Journalisten, die so stellvertretend für ihre Leser mit Politikern in einen unmittelbaren Austausch treten konnten. Bemerkenswert ist, dass bei angelsächsischen Journalisten und Publizisten dieser Zugang bereits bis zum Kaiser reichen konnte. Der amerikanische Journalist William Bayard Hale, der im Sommer 1908 mit dem Kaiser ein Interview führte, hatte vom deutschen Botschafter eine Empfehlung erhalten. Stuart-Wortley, dessen Gespräch mit dem Kaiser im Daily Telegraph erschien, war hingegen kein Journalist, sondern ein adliger Offizier, den der Kaiser bei seinem Englandbesuch 1907 näher kennen gelernt hatte und daraufhin zu einem weiteren Gespräch im September 1908 als Gast bei einem Manöver in Saarbrücken einlud. In Deutschland war das Interview als Format jedoch um 1900 noch wenig bekannt. Die Lexika der Zeit vermerkten immerhin schon den Begriff „Interviewer“, worunter sie einen Besucher verstanden, der meist ein Journalist sei und berühmte Persönlichkeiten „ausfrage“.199 Gebräuchlicher in der Korrespondenz zwischen Journalisten und Politikern waren jedoch in Deutschland Begriffe wie „Audienz“ oder „empfangen“.200 Im Unterschied zum englischen Wort „Interview“ verwies dies auf eine „Vorlassung“ im Sinne einer gewährten Gnade, weniger auf den Vorgang des Fragens. Zudem war es in Deutschland üblich, dass die Journalisten, die empfangen wurden, die Einschätzungen des Befragten unter Hinweis auf eine „offizielle Quelle“ in ihre Texte einbauten, nicht dagegen als transparentes Frage-Antwort-Spiel präsentierten. 198 199 200 Joseph Baylen, Politics and New Journalism: Lord Esher’s Use of the Pall Mall Gazette, in: Wiener (Hrsg.), Papers for the Millions, S. 114. Vgl. die Ausgaben von Brockhaus’ Konversations-Lexikon (1898) und Meyers Grosses Konversations-Lexikon (1906), das auch auf die englische und amerikanische Vorbildfunktion verweist. Vgl. die Begriffe in Anschreiben von Journalisten wie: Redaktion BZ am Mittag an Bülow 16. 10. 1907, in: BA/K, N 1016-185-43; Hartmann an Bülow 13. 10. 1907, in: BA/K, N 1016185-13. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 409 Für gewöhnlich bewarben sich Journalisten bei Politikern um Gespräche, indem sie lobende Artikel aus Ihrer Zeitung beilegten, die sie jüngst geschrieben hatten. Im Unterschied zu Großbritannien unterstrichen die Journalisten häufig gleich, dass sie nicht als unabhängige Gesprächspartner kamen. So bot der Leiter des Hamburger Fremdenblattes dem Reichskanzler bei einer Interviewanfrage 1907 an, dass es sich nicht „um ein blosses [sic] journalistisches Interview, sondern um einen politischen Schachzug im Interesse der Sache“ handeln würde, um Bülows Politik zu propagieren; eine Antwort erhielt er zunächst trotzdem nicht.201 Eine andere charakteristische Strategie, um eine „Audienz“ zu bekommen, wählte ein Redakteur der Neuen Freien Presse, der bei einem neuen Minister einen Termin mit der Versicherung erfragte, keine „Frage politischer Natur vorzulegen“.202 In der Reichskanzlei und den Ministerien überprüfte man, was und für welche Zeitungen die Journalisten bisher geschrieben hatten, wobei bereits frühere Artikel für ein ungenehmes Blatt ein Ausschlusskriterium waren.203 Um 1907 gewann das Interview in Deutschland deutlich an Bedeutung. So zeigen die Archivüberlieferungen einen unverkennbaren Anstieg der InterviewAnfragen. Der neu designierte Staatssekretär des Kolonialamtes, Bernhard Dernburg, erhielt 1907 etwa gleich dutzende Anfragen, und auch bei Kanzler Bülow nahm in diesem Jahr die Zahl der überlieferten Interviewwünsche und Interviews zu.204 Ebenso hat bereits die Analyse des Eulenburg-Moltke-Skandals gezeigt, dass 1907/08 sogar ein Staatsanwalt und Journalisten wie Harden als Interviewpartner auftraten.205 Gleichzeitig kam es zu wechselseitigen Besuchen deutscher und britischer Journalisten bei den Staatsführungen beider Länder, wobei im Mai 1907 mehrere dutzend britische Journalisten vom Kanzler, Ministern und sogar vom Kaiser empfangen wurden.206 Dieser Austausch dürfte den Siegeszug des Interviews weiter gefördert haben und ist als eine Brücke für die Kaiser-Interviews 1908 anzusehen. Um 1907/08 nutzte auch Reichskanzler Bülow Interviews verstärkt als Mittel der politischen Agitation und Selbstdarstellung. Er reagierte so auch auf die Krisenstimmung, die insbesondere in der Außenpolitik seit 1906 dominierte. So regte Bülow etwa im Mai 1908 ein Interview mit den Hamburger Nachrichten an, um etwas Emotionales über sich in der Presse zu bringen.207 Ebenso flankierte er seine Außenpolitik gegenüber Großbritannien per Interview, als er im August 1908 in Norderney mit einem englischen Journalisten ein ausführliches Gespräch für den britischen 201 202 203 204 205 206 207 Paul Raché (Leiter Hamburger Fremdenblatts) an Bülow 13. 9. 1907, in: BA/K, N 1016-18547; zumindest fragte er vier Wochen später noch einmal nach. Adolf Bondy/Neue Freie Presse an Dernburg, 4. 12. 1906, in: BA/K, N 1130-1. Hierzu zählte etwa die eher konservative Daily Mail; Hartmann an Bülow 13. 10. 1907, in: BA/K, N 1016-185-13. Vgl. zu Dernburg die Anfragen ab: 4. 12. 1906 ff., in: BA/K, N 1130-13. Vgl. Kap. II. 7. Vgl. hierzu jetzt ausführlich: Geppert, Pressekriege, S. 358–382. Bülow an Hammann 1. 5. 1908, in: BAB/L, N 2106/14: 12 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 410 VI. Entzauberte Monarchen Standard machte, das frühere aggressive Äußerungen des Kaisers ein wenig einzudämmen suchte. Hierbei betonte er bereits, dass diplomatische Krisen oft daraus entstehen würden, dass die Presse Dinge aus ihrem Zusammenhang reiße. In Deutschland würde niemand an einen Angriff an England denken, eher müsse Deutschland Angst vor einem englischen Angriff haben.208 Die Interviews, die der Kaiser im November 1907 und Sommer 1908 machte, sind folglich im Kontext dieser Pressepolitik per Interview zu verstehen, die insbesondere den Engländern die Angst vor der deutschen Flottenaufrüstung nehmen sollte. Dementsprechend ermutigte Bülow den Kaiser zu dem im Daily Telegraph gedruckten Interview, das mit seinem Werben um Englands Vertrauen ganz auf Bülows Linie lag. Die Interviews standen somit in gewisser Weise für eine Transformation der Außenpolitik, die statt über diplomatische Absprachen über die Presse verlief. Da der Kaiser den Text, den der englische Interviewer Edward James Stuart-Wortley aus zwei Gesprächen zusammengestellt hatte, persönlich zur Korrektur vorgelegt bekam, kann nicht von einer Überrumpelung durch die Presse gesprochen werden. Ein weiteres Kaiser-Interview mit dem amerikanischen Journalisten William Bayard Hale, den das Auswärtige Amt empfohlen hatte, ergänzte diese verstärkte Diplomatie durch direkte Pressekommunikation. Die Form des Daily Telegraph-Interviews wies zahlreiche Ähnlichkeiten zu den Reden Wilhelm II. auf und entsprach somit durchaus seinen öffentlichen Kommunikationsvorlieben. Von den Formulierungen her blieben die Aussagen äußerst umgangssprachlich und salopp – etwa wenn er den Engländern vorhielt, völlig grundlos vor Deutschland Angst zu haben („You English are mad, mad, mad as March hares“).209 Ähnlich wie in seinen Reden gab der Stil der wörtlichen Wiedergabe Gelegenheit, Bedrohungen farbig auszumalen und sich zugleich selbst als Friedensbringer zu präsentieren. Die Zeitungsleser konnten so den Eindruck haben, der Kaiser würde unmittelbar mit ihnen sprechen. Dabei konnte sich der Kaiser durch die Interviewform selbst als entscheidender politischer Akteur herausstellen, der sein Land außenpolitisch lenkte. Das Wort „Ich“ hatte hier, wie in seinen Telegrammen oder Reden, einen zentralen Stellenwert. Diese Unmittelbarkeit des kaiserlichen Sprechens, die durch die spezifische Struktur des Interviews bedingt war, dürfte wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass unter den zahllosen problematischen kaiserlichen Handlungen gerade das Interview eine derartige Wirkung entfaltete. Die mediale Verschriftlichung der Gespräche brachte allerdings ähnliche Probleme mit sich wie die der Reden des Kaisers. So wählte er auch im Interview recht spontan Formulierungen, um seinem unmittelbaren Gegenüber zu gefallen. Während er im Daily Telegraph-Interview seine Liebe zu England pries, betonte Wilhelm II. in dem nahezu zeitgleichen Interview mit dem amerika208 209 Das Interview führte Sydney Whitman, in: Standard 13. 9. 1908; WTB an Bülow 14. 9. (1908), in: BA/K, N 1016-185-73. Dass das Daily Telegraph-Interview des Kaisers im Kontext von Bülows Interviewpolitik zu sehen ist, zeigte jüngst auch: Geppert, Pressekriege, S. 262 f. Alle folgenden Zitate aus dem Interview nach: Daily Telegraph 28. 10. 1908, S. 11. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 411 nischen Publizisten Hale seine Freundschaft zu den USA und monierte die Bedrohung durch England.210 Dass Kanzler und Kaiser jeweils glaubten, über ein Interview die nationale Stimmung eines Landes beeinflussen zu können, geht dagegen aus ihren Formulierungen recht deutlich hervor. Eine mittlerweile etablierte transnationale Öffentlichkeit, die diese Aussagen in wenigen Stunden weltweit per Telegraph miteinander verglich und auf den Prüfstein stellte, hatte der Kaiser dagegen während der Interviews anscheinend nicht vor Augen. Im Vergleich zur Rede schien das Interview zwar wesentlich kontrollierbarer, da seine Freigabe eine Korrektur durch den Kaiser und anschließend durch das Auswärtige Amt beziehungsweise den Kanzler voraussetzte. Tatsächlich zeigte sich aber, dass Interviews ähnlich schnell mediale Eigendynamiken entwickeln konnten wie die Reden. Wie bei der Hunnenrede machte allein die Geschwindigkeit der medialen Übermittlung eine Pressekontrolle kaum möglich. In diesem Fall präsentierte die BZ am Mittag schon wenige Stunden nach dem englischen Erscheinen eine deutsche Version des Interviews, bevor eine offizielle Erklärung über das WTB ausgegeben werden konnte.211 Beim Hale-Interview gelang es dem Auswärtigen Amt zwar, unter Mühen die gesamte gedruckte Auflage des Century Magazine, immerhin rund 150 000 Stück, vor der Auslieferung aufzukaufen und einstampfen zu lassen, aber dennoch drangen in den folgenden Wochen einzelne Auszüge in die Zeitungen. Zudem erfuhr die deutsche Öffentlichkeit sofort mitten in der Daily Telegraph-Affäre von dieser Maßnahme, was Kaiser und Regierung erneut diskreditierte.212 Dass Wilhelm II., die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und vermutlich auch Bülow die problematischen Stellen der Artikel nicht realisierten, lag sicherlich nicht nur an ihrem mangelnden diplomatischen Gespür. Zugleich dürften sie, wie in ihrer bisherigen Außenpolitik üblich, die Interviews als einen Testballon angesehen haben, um den deutschen Großmachtanspruch zu untermauern und die Flottenaufrüstung zu legitimieren. Insofern stand das Interview eher in einer Tradition von öffentlichen Vorstößen wie der Krüger-Depesche und der Tanger-Landung. Sie alle wurden zwar von ihrer medialen Performanz her allein dem Kaiser zugeschrieben wurden, waren aber tatsächlich oft kollektive Produkte der außenpolitischen Führung – sei es als kalkulierter Affront, sei es als Ausdruck diplomatischer Inkompetenz.213 210 211 212 213 Vgl. Ralph R. Menning und Carol Bresnahan Menning, „Baseless Allegations“. Wilhelm II and the Hale Interview of 1908, in: CEH 16 (1983), S. 368–397. BZ am Mittag 28. 10. 1908. Dass ein zweites Interview in letzter Minute verhindert wurde, war in der Presse gleich bekannt; vgl. Vossische Zeitung 7. 11. 1908, S. 1 u. 9. 11., S. 2. Vgl. zur Unterdrückung auch: Bünz an Bülow 6. 11. 1908, abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 176–178; dazu auch: Winzen, Kaiserreich, S. 86; Menning und Menning, „Baseless Allegations“. In diesem Sinne ist hier der pointierten Argumentation von Wolfgang J. Mommsen zuzustimmen, der die Akteure um den Kaiser herum hervorhebt: Mommsen, War der Kaiser an allem Schuld, passim. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 412 VI. Entzauberte Monarchen Obgleich sich die öffentliche Empörung zunächst vor allem gegen das unprofessionelle Verhalten des Kanzlers und des Auswärtigen Amtes richtete, prägte der Skandal zugleich die kollektiven Vorstellungen über den Kaiser. Stärker als zuvor etablierte er das Bild des unmündigen Monarchen, der weder in der Lage noch befugt war, alleine öffentlich zu sprechen. Denn unabhängig von den Inhalten des Interviews lernten die Zeitungsleser aus Bülows Rechtfertigungen, dass die Kontrolle und Überarbeitung der kaiserlichen Äußerungen in der politischen Praxis nicht nur vorgesehen, sondern auch dringend nötig war. Dass der Kaiser ohne ein zuverlässiges Lektorat aus dem Auswärtigen Amt schweren Schaden anrichte, untergrub jenen Souveränitätsanspruch, den er öffentlich bis hin zum Gottesgnadentum pflegte. Während sich in der Eulenburg-Affäre kurz zuvor die Empörung noch gegen die schlechten Ratgeber des Kaisers gerichtet hatte, erschien der Kaiser bei einem Medienformat wie dem Interview ganz alleine für den skandalösen Inhalt verantwortlich. Die Forderung nach einem Ende des „persönlichen Regiments“, die von allen Seiten artikuliert wurde, stand daher im Mittelpunkt der rasant anwachsenden Kritik. Zudem erschien der Kaiser im Zuge des Skandals wie ein Opportunist, der sich jedoch nicht an den heimischen Volksstimmungen orientierte, sondern am Herkunftsland seiner Interviewpartner. Dass er etwa im Daily Telegraph-Interview mit seinem Schlachtplan für den englischen Sieg im Burenkrieg prahlte, sorgte allein schon deshalb für Empörung, weil die deutsche Bevölkerung mehrheitlich auf Seiten der Buren gestanden hatte. Insofern ging es nicht einmal darum, ob seine Prahlereien über den siegreichen Feldzug der Wahrheit entsprachen, sondern um die Anbiederung an das Empire. Die liberale Öffentlichkeit artikulierte nun eine generelle Unzufriedenheit mit den öffentlichen Auftritten des Kaisers in den letzten zwanzig Jahren. So hätten seine Reisen, seine Reden und seine Vielgeschäftigkeit dem Volk viele „Unannehmlichkeiten“ gebracht.214 Während der Kaiser in der Medienöffentlichkeit für eine Politik der „Sprunghaftigkeit“ verantwortlich gemacht wurde, bildeten „Stetigkeit“, „Ruhe“ und „Einheitlichkeit“ die positiven Leitbegriffe einer zukünftigen Politik. Ebenso störte man sich daran, dass der Kaiser während des Skandals eben nicht direkt auf die öffentliche Kritik reagierte, sondern fernab auf der Jagd in Donaueschingen weilte. Auf diese Weise entstand das Bild eines Monarchen, der sich nicht um die öffentliche Meinung und um die Folgen seiner Äußerungen kümmerte. Was vormals eine anerkannte Repräsentationspflicht war, galt jetzt als Flucht vor der Öffentlichkeit. Ähnlich wie bei den frühen Skandalen um den Monarchen erreichte der Skandal seine Schlagkraft dadurch, dass die Empörung gegen den Kaiser von links bis hin zu den Konservativen und Nationalliberalen reichte und sogar von ihnen ausging. Selbst Reichskanzler Bülow zählte indirekt zu den Kaiserkritikern, als er in seiner Rechtfertigung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und im 214 Vossische Zeitung Nr. 521, 5. 11. 1908, S. 1, 4. 11. 1908, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 413 Reichstag unterstrich, er hätte den Text nicht zugelassen.215 Auffällig war bereits, wie schnell auch das konservative Milieu die Macht der emotionalen Medienwirkung thematisierte. Die Zeitungen, Tagebucheinträge und Berichte geben davon vielfältige Zeugnisse. So sprach die „Kreuzzeitung“ von der „immer noch anwachsenden Erregung im Volke“216, und der badische Gesandte von Berckheim hielt fest, „auch das große Publikum ist hier in allen seinen Schichten tief erregt, und zwar richtet sich der allgemeine Unwille mehr oder minder verblümt gegen die Person des Monarchen.“217 In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel schon zwei Tage nach Abdruck des Interviews Spott über den Monarchen („Diese Schmach werde er nie mehr gut machen“), womit sie das Interview sogleich als einen Wendepunkt fixierten. Andere Kneipengäste sahen es unter taktischen Gesichtspunkten als guten Stoff für die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten.218 Gerade weil die Empörung durch die ganze Gesellschaft ging, standen besonders die Konservativen vor dem Problem, ihren Unmut über Wilhelm II. zu artikulieren, ohne sich in eine monarchiekritische Phalanx bis hin zur SPD einzureihen. Um einer gemeinsamen Erklärung vorzubeugen, preschte der Parteivorstand der Deutsch-Konservativen Partei deshalb bereits eine Woche nach dem Interview mit einer Resolution vor, die dem Kaiser mehr Zurückhaltung abverlangte, da er das Reich in eine schwierige Lage brächte.219 Nicht minder resolut fiel Ernst Bassermanns Erklärung der Nationalliberalen im Reichstag aus, die Öffentlichkeit protestiere einmütig „gegen das Eingreifen Seiner Majestät des Kaisers in die offizielle Politik Deutschlands (lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen und links) gegen das, was man im Lande das persönliche Regiment nennt“.220 Gerade wenn man diese nun sogar im Reichstag formulierte breite Kritik mit jener vergleicht, die in den Skandalen 1894 noch in Form von verschlüsselten Satiren gemacht wurde, wird die immense Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen in nur einem Jahrzehnt deutlich. Diese Verschiebung im Monarchendiskurs entging auch den Zeitgenossen nicht. Maximilian Harden druckte stolz seine Kaiserkritik von 1892 ab, die ihn damals vor Gericht brachte, um aufzuzeigen, dass nun selbst die offiziösen Blätter kritischer schreiben würden als er damals.221 Sein eigener Artikel zu der Interview-Affäre 1908 war sicherlich der schärfste aus dem bürgerlichen Lager. 215 216 217 218 219 220 221 Bülow im RT 10. 11. 1908, 158. Sitz., S. 5395–5397; auch kommentiert abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 197–204. Neue Preussische Zeitung 3. 11. 1908, abends, S. 1. Berckheim an Marschall 2. 11. 1908, abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 14. Polizeibericht Schutzmann Noroschat, 1. 11. 1906, in: StAH, S 3930-30 Bd. 2. Erklärung des Vorstandes der Deutschkonservativen Partei (DKP) 5. 11. 1908, abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 172 f. Erklärung des Parteivorstandes der DKP 5. 11. 1908, abgedr. in: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 440. Harden verwies auf seine Kritik von 1892 in der Zukunft 15. 10. 1892 u. 31. 12. 1892. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 414 VI. Entzauberte Monarchen Der Kaiser erschien in seinen unmissverständlichen Formulierungen als gefährlicher Schmarotzer: Wilhelm der Zweite, der vierzig Jahre nach der Revolution auf den Zollerthron kam und im Reich kein Monarch ist, hat der Nation nie Nützliches geleistet und für seinen Willen dennoch höchste Geltung verlangt. Nun sieht er die Ernte. Wenn ihm, nach allem Geschehenen, möglich dünkt, wird er die Krone auf seinem Haupt behalten. Doch niemals wieder darf an seinem Willen das Schicksal des Deutschen Reiches, deutscher Menschheit hängen.222 Aus diesem Grunde forderte er, dass der Kronprinz frühzeitig den Thron übernehmen sollte. Noch bemerkenswerter als der Inhalt war, wie Regierung und Kaiser mit einem derartigen Artikel umgingen. Reichskanzler Bülow setzte sich, wie beim zeitgleichen dritten Moltke-Harden-Prozess, für Harden ein und überzeugte den Kaiser, gegen den Journalisten keinen Prozess wegen Majestätsbeleidigung einleiten zu lassen. Denn selbst bei einer Verurteilung, die nicht wahrscheinlich sei, „würde der Prozeß unendlich viel Staub aufwühlen und insbesondere dem Angeklagten die (von ihm wahrscheinlich erhoffte) Gelegenheit bieten, die ganzen Vorgänge der letzten Zeit für sich zu verwerten und zu giften.“223 Harden, der über den offiziösen Journalisten Zimmermann von dieser Fürsprache hörte, bedankte sich entsprechend beim Kanzler.224 Der Skandal führte folglich mit dazu, dass es wegen Majestätsbeleidigungen kaum noch zu Prozessen und Verurteilungen kam. Die Kritik am Kaiser wurde durch die Wucht des Skandals vergleichsweise legitim. Ähnlich wie bei den Skandalen um die englischen Monarchen herrschte nach der ersten Empörung dennoch die Vorstellung vor, den Kaiser gerade durch die breite Entrüstung in der Presse erziehen zu können. So wie der Prince of Wales bei seinen Skandalen gezielt bestimmte Artikel zur moralischen Besserung vorgelegt bekommen hatte, so hoffte auch Friedrich von Holstein weiterhin, dass man den Kaiser durch die Vorlage kritischer Artikel zur Vernunft bringen und lenken könne. Schon am Tag der deutschen Publikation empfahl er dem Reichskanzler: „Die Sache ist unbequem, kann aber vielleicht den Nutzen haben, daß S.M. etwas vorsichtiger wird?? [...] Für S.M. ist dies eine harte Lektion. Aber wird sie nützen? Er bekommt doch reichlich fremdländische Ausschnitte?“225 Eine Woche später fragte er Bülow erneut, was der Kaiser zu lesen bekomme und regte an: „Der Artikel von Naumann würde ihm gut tun.“226 Derartige Formulierungen ließen die kritische Presse als eine Art Medizin für einen kranken Kaiser erscheinen. Auch Bülow nutzte die problematischen Interviews als Erziehungsmittel, wenn er ihm etwa ein letztes Exemplar des eingestampften 222 223 224 225 226 Zukunft 21. 11. 1908, S. 296. Bülow an Wilhelm II. 21. 11. 1908, in: BA/K, N 1016-112-100. Die Argumente lieferte dabei: Zimmermann an Bülow 19. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-113. Zimmermann an Bülow 21. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-132. Holstein an Bülow 29. 10. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein und Harden, S. 363. Den Erziehungsansatz betont bereits Kohlrausch, sieht aber stärker sein Scheitern; ders., Monarch, S. 286. Holstein an Bülow 6. 11. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein und Harden, S. 377. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 415 Hale-Interviews mit den Worten zuschickte: „Eure Majestät bitte ich niemanden auf der Welt diesen Auszug zu zeigen und ihn mir zurückzuschicken, damit ich ihn vernichten kann.“227 Der Kaiser bekam damit vorgeführt, dass seine Worte weder für die Öffentlichkeit noch für spätere Historiker geeignet seien, sondern sein Ansehen durch die Vernichtung seiner Interviews geschützt werden müsse. Als folgenlos wird man den Skandal sicherlich nicht bezeichnen können, auch wenn verfassungsrechtlich keine direkte Veränderung eintrat. Der Skandal veränderte vielmehr die faktische Stellung des Kaisers und das Sprechen über ihn. Durch Bülow ließ er sich sogar zu einer Erklärung bewegen, in der er künftig mehr Zurückhaltung gelobte.228 Tatsächlich führte der Skandal dazu, dass sich der Monarch in der politischen Praxis stärker gegenüber der Regierung, dem Reichstag und der Öffentlichkeit zurücknahm. Durch die breite öffentliche Empörung war Wilhelm II. zunächst auch psychisch so verletzt, dass er die folgenden Reden vom Blatt ablas.229 Auf der personellen Ebene hatte der Skandal zur Konsequenz, dass nicht nur Außenstaatssekretär Wilhelm von Schoen kurze Zeit später zurücktrat, sondern auch Bülow an Ansehen verlor, so dass seine 1909 erfolgte Absetzung eine Frage der Zeit wurde, nachdem er schon während des Skandals dem Kaiser seinen Rücktritt angeboten hatte. Bereits die Tatsache, dass der Skandal den gleichzeitigen Urlaub von Kanzler, Außenstaatssekretär, Pressechef und anderer wichtiger Repräsentanten zeigte, erweckte den Anschein von mangelnder Koordinationsfähigkeit und fauler Arbeitsscheu. Ein Hamburger Kneipenbesucher kommentierte dies laut Spitzelbericht etwa mit den Worten: „Dem Bülow wird das Herz auch in die Hose fallen wenn er seine Faulheit erörtern soll. [Ein] Reichskanzler der das ganze Reich blamiert muß fort.“230 Vor allem eröffnete der Skandal eine Debatte über eine Parlamentarisierung. Sowohl die Linksliberalen als auch die SPD verlangten eine dem Reichstag verantwortliche Regierung, die SPD sogar ein Anklagerecht des Reichstages gegenüber dem Kanzler.231 Die Reformforderungen bezogen sich direkt auf das Versagen der Reichsleitung, die Kaiserrede ordnungsgemäß zu redigieren. Der Skandal führte darüber hinaus im ganzen Land zu verschiedenen Protestversammlungen mit Resolutionen, die eine Parlamentarisierung forderten.232 Auch wenn diese Vorstöße chancenlos waren, verstärkte der Skandal zumindest den 227 228 229 230 231 232 Bülow an Wilhelm II. 21. 11. 1908, in: BA/K, N 1016-112-97. Die von Bülow vorher angefertigte Erklärung für den Reichsanzeiger ist abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 247. Aufzeichnung Zedlitz-Trützschler 26. 11. 1908 ff., in: ders., Zwölf Jahre, S. 194–201. Polizeibericht Schutzmann Noroschat, 10. 11. 1906, in: StAH, S 3930-30 Bd. 2. Vgl. etwa Rede Singer RT 10. 11. 1908, 158. Sitz., S. 5389–5392, und die Reichstagsdebatte am 2. 12. 1908, etwa Ernst Müller-Meiningen 174. Sitz., S. 5904-5910; Vossische Zeitung 10. 11. 1908, S. 1 u. 18. 11. 1908, Nr. 543, S. 1. Anders argumentiert Platthaus, die Affäre sei nicht in parlamentarische Reformforderungen gemündet; Platthaus, Novemberrevolution, S. 150. Saldern, Arbeiter-Reformismus, S. 65. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 416 VI. Entzauberte Monarchen öffentlich artikulierten Anspruch auf eine Parlamentarisierung der Monarchie. Die Rechte des Reichstages wurden zumindest über seine Geschäftsordnung erweitert.233 Mit den Kaiser-Interviews ließen sich die Zeitungsauflagen leicht steigern. Dennoch erwiesen sich selbst die stark kommerziell orientierten englischen Zeitungen als recht verantwortungsbewusst. Gerade bei dem Hale-Interview zeigte sich, dass sich auch die britischen Zeitungen bewusst zurückhielten, um eine außenpolitische Krise zu vermeiden. Die englischen Massenblätter von Northcliffe lehnten den Druck ebenso ab wie die amerikanischen Zeitungen, obgleich aus dem Interview heraus ein auflagenstarker Skandal zu erwarten gewesen wäre, der die Daily Telegraph-Affäre noch in den Schatten gestellt hätte. Stattdessen suchten die britischen und die deutschen Journalisten intern den Kontakt zu den Regierungen, um eine diskrete Beilegung zu finden, so dass am Ende nur verzögert Auszüge an die Öffentlichkeit kamen.234 Die Versicherung des Kaisers, er werde sich künftig zurückhalten, dämpfte sich die monarchiekritische Stimmung. Selbst Harden nahm nach der reumütigen Erklärung des Kaisers den Monarchen wieder in Schutz und verteidigte ihn bei seinen zahlreichen Vorträgen.235 Die Kritik am Kaiser und die Frage, ob die Macht des Monarchen durch eine Verfassungsreform eingeschränkt werden sollte, blieben weiterhin in der öffentlichen Debatte virulent. Selbst den runden 50sten Kaisergeburtstag, den Wilhelm II. am 27. Januar feierte, nahmen die liberalen Zeitungen zum Anlass für derartige Reflexionen – während früher an diesem Tag stets ergebene Glückwünsche und Festberichte dominiert hatten. So forderte das Berliner Tageblatt in seinem Kommentar eine genauere Klärung der kaiserlichen Position in der Reichsverfassung und mehr Sparsamkeit bei Festen und Militärausgaben.236 Den kritischsten Geburtstagsgruß unter den bürgerlichen Blättern richtete sicherlich die nationalliberale Rheinisch-Westfälische Zeitung an den Kaiser: „seine Arbeitsmethode sei verfehlt gewesen, sein Wirken ohne Erfolg geblieben, seine Erwartung nicht in Erfüllung gegangen.“237 Eher subtilen Spott zeigte die Berliner Illustrirte Zeitung, die statt der Feierbilder vom 50. Geburtstag vor allem Kinderfotos von ihm abdruckte und ein Kostümbild im Schottenrock von ihm in der Mitte (vgl. Abb. 11).238 Damit zementierten sie fotographisch jenes Bild des unmündigen Monarchen, das die Skandale zuvor etabliert hatten. 233 234 235 236 237 238 Ritter, Der Reichstag, S. 915. Winzen, Kaiserreich, S. 70–73. Zimmermann an Bülow 21. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-124. Berliner Tageblatt 27. 1. 1909, S. 1. Zit. in: Berliner Tageblatt 27. 1. 1909, Abend. Berliner Illustrirte Zeitung 24. 1. 1909, S. 3. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner 417 Abb. 12: Der unmündige Monarch im Bild. Nach der Daily-Telegraph-Affäre zeigt die Berliner Illustrirte Zeitung (Nr. 4 27. 1. 1909, S. 3) Wilhelm II. zu seinem fünfzigsten Geburtstag vor allem als Kind und als Rockträger in schottischer Verkleidung. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 418 VI. Entzauberte Monarchen 5. Zwischenfazit Mit Edward VII. und Wilhelm II. bestiegen im ausgehenden 19. Jahrhundert zwei Monarchen den Thron, die die Öffentlichkeit nicht scheuten und schon früh einer gesteigerten medialen Beobachtung ausgesetzt waren. Wie die Analyse der deutschen und britischen Monarchie-Skandale jedoch zeigte, trafen sie frühzeitig auf recht unterschiedliche öffentliche Erwartungen an die Krone, die Normen für ihr Verhalten prägten. In Großbritannien war die Monarchie vor allem einer moralischen Kritik ausgesetzt, die in gewisser Weise an das Narrativ der französischen Halsbandaffäre anknüpfte. Der Bruch der monogamen Ehe, die finanzielle Verschwendung oder das Glücksspiel bildeten allesamt Themen, bei denen bürgerlich-puritanische Normen ebenso spöttisch wie nachdrücklich an den Monarchen herangetragen wurden. Gerade weil sich das britische Königshaus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker aus der Politikgestaltung zurückgehalten hatte, verlagerten sich die Aufmerksamkeit, die Anforderungen und das mögliche Potential für Skandale auf Fragen der moralischen Lebensführung. Der spätere König Edward VII. wurde deshalb schon lange vor seinem Thronantritt durch Skandale auf die Rolle eines moralischen Vorbildes festgelegt. Dagegen wiesen in Deutschland moralische Fragen eine vergleichsweise geringe Bedeutung auf. Dies erklärt sich nicht nur durch die deutsche Pressezensur, sondern vor allem durch die größeren politischen Gestaltungsspielräume der Monarchen, die eher politische Skandalisierungen begünstigten. Die deutschen Skandale schrieben daraufhin die Rollenerwartung fest, dass der Monarch sich aus der Tagespolitik heraushalten solle. Während die Monarchie in den letzten Lebensjahren von Wilhelm I. und Queen Victoria gerade durch die Medienöffentlichkeit an Glanz gewonnen hatte, trugen die Skandale in beiden Ländern zur Entzauberung der Thronfolger bei. Die Skandale hinterfragten deren Verhaltensweisen, durchbrachen ihre Selbstinszenierung und verspotteten diese. In Großbritannien geschah dies über Veröffentlichungen aus Privatbereichen, die auch und gerade für das Königshaus nicht als privat gelten sollten. Die Publikation privater Briefe des Prince of Wales oder die Berichte über seine stets mitgeführten Spielsteine banalisierten den Thronfolger. In Deutschland kam es dagegen zu Veröffentlichungen über bisher eher arkane politische Handlungsabläufe, die Wilhelm II. als unselbständige und unmündige Figur erscheinen ließen. Bereits die mehrfache Offenlegung von Berater- und Kontrollsystemen, die das politische Handeln des Monarchen eingegrenzten, raubte ihm den Nimbus eines souveränen Herrschers. Stärker als bei allen anderen Skandaltypen unterschieden sich die sprachlichen Formen, in denen in den beiden Ländern während der Skandale über die Monarchen gesprochen wurde. Während in Großbritannien frühzeitig Zeitungskommentare mit mahnenden Worten direkt den Monarchen kritisierten, wiesen die deutschen Skandale noch in den 1890er Jahren eine spielerisch-versteckte Sprache auf, die an die Zeit des Vormärzes erinnerte, aber das Tor zu expliziten Formulierungen öffnete. Erst nach 1900 etablierte sich auch in der deutschen Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 5. Zwischenfazit 419 Tagespresse eine direktere Kritik. Ebenso verlagerte sich erst in dieser Phase die stellvertretend artikulierte Empörung über die schlechten Ratgeber des Kaisers schrittweise auf den Monarchen selbst. In beiden Ländern zeigten sich dabei die geringen Kontrollmöglichkeiten, die die Monarchen gegenüber den Medien bei den Skandalen besaßen. In Großbritannien ließ sich der Skandal nicht dadurch abmildern, dass der Prince of Wales im Kreuzverhör privilegiert behandelt wurde. Und obgleich in Deutschland rigide Zensurmöglichkeiten bestanden, sahen der Kaiser und sein Umfeld bereits seit den 1890er Jahren Prozesse gegen Journalisten als problematisch an, da sie die Dynamik der Skandale intensivierten, so dass seit der Jahrhundertwende zunehmend auf Verfolgungen verzichtet wurde. Nicht bestätigen ließ sich die Annahme, dass die britischen Monarchieskandale stärker durch einen investigativen Journalismus angestoßen und geprägt wurden. Bei den hier untersuchten Skandalen bildeten wie bei andere Skandaltypen Gerichtsprozesse, in die das Königshaus verwickelt war, den Anstoß und die Quellenbasis für kritische Enthüllungen. Über moralische Normverstöße, die zumindest als Gerücht wohl bekannt waren, recherchierte und veröffentlichte hingegen auch die britische Presse des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht eigenständig. Selbst einzelne abseitig veröffentlichte Andeutungen über derartige Normbrüche griff die Mehrheit der Tagespresse nicht auf, um die Krone nicht zu diskreditieren. Und nicht zufällig konzentrierten sich die Skandale vor allem auf den Prince of Wales, während das Verhalten der regierenden Monarchin zwar kritisiert, aber eben kaum skandalisiert wurde. Monarchie-Skandale, die aus Prozessen heraus entstanden, wurden in Deutschland dagegen bereits dadurch verhindert, dass eine gerichtliche Vernehmung eines führenden Mitgliedes des Königshauses undenkbar blieb. Den Anstoß für die MonarchieSkandale gaben in den 1890er Jahren vielmehr konservative Eliten, die verdeckt ihre Kritik am Verhalten des Monarchen und seines Umfeldes artikulierten, was dann wiederum von der restlichen Presse in einer offeneren und kritischeren Form aufgegriffen wurde. Auf diese Weise trug die deutsche Presse durchaus entscheidend dazu bei, die Skandale auszulösen. Die Orte, an denen sich bei den Skandalen die Empörung äußerte, veränderten sich im 19. Jahrhundert. Während sie sich in der ersten Jahrhunderthälfte nicht nur über Medien, sondern auch häufiger durch Proteste in der Straßenöffentlichkeit artikulierte, blieben diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bei Monarchie-Skandalen eher die Ausnahme, auch wenn einzelne Fälle zu Protestversammlungen führten. Stattdessen formulierten die Presse und die Parlamente stellvertretend die Empörung, wobei die emotionale Monarchiekritik im Zuge der Skandale die Grenzen von politischen Milieus überwand. Im Vergleich zu anderen Skandaltypen war das Parlament jedoch bei den Monarchie-Skandalen in beiden Ländern weniger aktiv beteiligt als die Presse. Kritik am König wurde aus Rücksicht auf die Monarchie kaum originär von den Abgeordneten aufgebracht. Diese verstärkten in diesem Skandalfeld eher die Debatten in der Presse. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 420 VI. Entzauberte Monarchen Die Skandale standen in beiden Ländern für den Versuch, die Monarchen zu erziehen. Auch bei starken Befürwortern der Monarchie galten die Skandale oft als verdiente Lektionen. Die kritischen Zeitungsartikel der bürgerlichen Zeitungen sahen sie als pädagogisches Mittel und bittere Medizin, um den Monarchen oder Prinzen auf den rechten Weg zu bringen. Damit galt nicht mehr das Königshaus als Vorbild und Erzieher des Volkes, sondern umgekehrt die Öffentlichkeit als Mentor der Monarchen, die der politischen oder moralischen Lenkung bedurften. Die Folgen der Monarchie-Skandale mögen auf den ersten Blick vergleichsweise gering erscheinen, da sie nur selten zum Rücktritt der Monarchen oder zu direkten Reformen im Verfassungsgefüge führten. In beiden Länder erschien jedoch die zunehmend artikulierte Drohung, die Monarchie verspiele durch die skandalisierten Normverstöße ihre Existenzberechtigung, nicht folgenlos. Dies galt insbesondere, weil die Skandale den Monarchen moralische und politische Grenzen setzten und ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit veränderten. Besonders in Deutschland legte die zunehmende Häufigkeit und Intensität der Skandale seit den 1890er Jahren dem Monarchen und seinem politischen Umfeld nahe, sich allmählich den öffentlichen Forderungen anzupassen. Insofern formten die Skandale eben nicht nur kollektive Deutungen über die Monarchen, sondern auch deren Auftreten und Handeln. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek VII. KORRUPTION UND BEREICHERUNG IM VORFELD DES KRIEGES 1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien In Deutschland entstehen heute die meisten Skandale durch Korruption oder finanzielle Begünstigungen. Obgleich die Praxis der Korruption denkbar alt ist, bot sie jedoch nicht immer das gleiche Potential für Skandale. Vielmehr beruhen auch Korruptionsskandale auf variablen Normen, die sich in der Neuzeit spürbar veränderten. In der Frühen Neuzeit, als der Ämterkauf oder Geschenke an „Beamte“ vielfach eine etablierte Praxis waren, bedeutete dies zumeist kein skandalfähiges Vergehen. Allerdings gab es, je nach regionaler Entwicklung, bereits im 17. und 18. Jahrhundert Proteste gegen korrupte Praktiken, was bereits eine Ausdifferenzierung der zeitgenössischen Normen dokumentiert. So zeigten die unter dem Schlagwort der „Corruption“ geführten englischen Proteste und Verurteilungen der 1720er Jahre nicht allein eine Zunahme der Korruption, sondern auch ein verändertes Gesellschafts- und Verfassungsverständnis. Mit der Klage über die Korruption forderten die Kritiker politische Normen ein, die sich gegen Privilegierungen, Unproduktivität und Verantwortungslosigkeit richteten.1 Da sich die Praxis der Korruption, ihre Bewertung und die Bedeutung des Begriffes im Laufe der Geschichte veränderten, bedarf es zunächst einer analytischen Definition des Wortes. Im Anschluss an die Fachliteratur lässt sich Korruption zunächst als Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Nutzen beschreiben.2 Korruption sollte man dabei weder auf Geldgeschenke noch auf Gesetzesbrüche verkürzen. Vielmehr kann sie bei jeder persönlichen Vorteilnahme und beim Bruch der moralischen Normen der Zeit vorliegen, auch wenn dies nicht strafbar war. Da sich diese Normen wandelten, musste regelmäßig öffentlich ausgehandelt werden, was jeweils als korrupt galt oder noch zulässig 1 2 Zu den Antikorruptionsdiskursen, die von Machiavelli, von protestantisch geprägten Leistungsidealen und von republikanischen Ideen zehrten, vgl. Isaac Kramnick, Corruption in Eighteenth-Century English and American Political Discourse, in: Richard K. Matthews (Hrsg.), Virtue, Corruption and Self-Interest. Political Values in the Eighteenth Century, London 1994, S. 55–75; Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: HZ 234 (1982), S. 33–62. Wichtige Anregungen gibt der Überblick von: Engels, Politische Korruption. Vgl. etwa die Definitionen in: Susan Rose-Ackerman, Corruption and Government. Causes, Consequences, and Reform, Cambridge 1999, S. 9; Arnold Heidenheimer, Parties, Campaign Finance and Political Corruption. Tracing Long-Term Comparative Dynamics, in: ders. und Michael Johnston (Hrsg.), Political Corruption. Concepts and Contexts, New Brunswick und London 2002, S. 764; Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in der Geschichte des Parlamentarismus, in: Ebbighausen und Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, S. 130–148, S. 133. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 422 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges erschien. Gerade dies macht Korruption zu einem wichtigen historischen Untersuchungsfeld, da sie die sich wandelnden Normen über die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft zeigt. Was das Wort „Korruption“ jeweils umschrieb, variierte begriffsgeschichtlich mitunter stark. Zudem unterschied sich der Korruptionsdiskurs von Land zu Land. Dies zeigt auch ein vergleichender Blick auf Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. In Großbritannien entwickelten sich frühzeitig intensive Debatten über das korrupte Verhalten von Adel, Regierung und Administration. Der Kampf gegen die Old Corruption bildete besonders Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts das zentrale Thema einer kritischen Öffentlichkeit, die Reformen einforderte. Vor allem für die Publizisten der Radical Press, die in den 1810ern expandierte, war dies der zentrale Kampfbegriff. In enthüllenden Publikationen listeten sie detailliert ungerechtfertigte Einkommen ohne Gegenleistung auf.3 Der Begriff Old Corruption bezog sich dabei auf unterschiedliche Bereiche. Im weitesten Sinne konnte er auf alle politischen Missstände verweisen, wie die Machtanmaßung der Krone oder die Verschwendung von Steuergeldern. Im engeren Sinne bezog er sich vor allem auf Patronage, Bestechung, Wahlbeeinflussung und die Vergabe von lukrativen Ämtern und Pensionen ohne adäquate Gegenleistungen.4 Die starke öffentliche Resonanz dieser Proteste gegen die Old Corruption förderte zwischen 1780 und 1840 zahlreiche Reformen – etwa eine Reduzierung der Patronage und des Titel- und Ämterverkaufs, die Ausdehnung des Wahlrechtes, die Senkung der Regierungskosten und letztlich eine Minderung des monarchischen Einflusses zugunsten des Parlaments. Zudem entstanden neue Verhaltensregeln für Politiker, die eine Trennung von privaten und öffentlichen Interessen einforderten. Skandale wie die Duke of York Affair 1809, die von dem prominenten Journalisten William Cobbett ausging, gaben hierfür entscheidende Anstöße.5 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese britische Debatte. Vorwürfe im Sinne der Old Corruption spielten öffentlich eine deutlich geringere Rolle. Opposition und Presse suchten vielmehr konsensuale Lösungen für punktuelle Probleme.6 Den öffentlich weiterhin virulenten Vorwurf der „Corruption“ bezogen die viktorianischen Medien vor allem auf Wahlbestechungen, bei denen die Wähler Vorteile aus ihrem öffentlichem „Amt“ zogen. Bis in die 1860er Jahre barg die in Großbritannien besonders auf dem Land übliche Wählerbeeinflussung durch Geld, Geschenke oder Verköstigungen jedoch kaum Potential für folgenschwere Skandale. Insbesondere für adelige Abgeordnete blieb 3 4 5 6 Vgl. bes.: o. V., The Black Book, or: Corruption Unmasked, London 1820; Harling, The Waning of „Old Corruption“. Für eine weite Definition plädiert deshalb: W. D. Rubinstein, The End of the Old Corruption in Britain 1780–1860, in: Past & Present 101 (1983), S. 55–86. Vgl. generell zu diesen Reformen aufgrund der Kampagnen: Harling, The Waning of Old Corruption. Als Fallstudie zudem: ders., The Duke of York Affair (1809) and the Complexities of War Time Patriotism, in: Historical Journal 39 (1996), S. 936–984. Harling, The Waning of Old Corruption, S. 259. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien 423 der gesellschaftliche Ansehensverlust gering, wenn unterlegene Kandidaten Bestechungen öffentlich anprangerten. Erst die Wahl 1865 leitete umfangreiche Untersuchungen ein, die sich 1868 in Gesetzen gegen die Wahlkorruption niederschlugen, die Wahlentscheidungen mit Bestechungen für ungültig erklärten.7 Die Debatte um die Wahlbestechungen führte dazu, dass der Begriff „Corruption“ bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Medien an noch stärkerer Präsenz gewann. In der Times fiel das Wort bereits seit dieser Zeit im Schnitt in jeder zweiten Ausgabe.8 Wie bei anderen Skandalfeldern etablierten sich durch diese Reformdebatten schrittweise Erwartungshaltungen an die Politiker. Diese mündeten seit den 1880er Jahren in umfassende Skandalisierungen. Dabei waren es weniger die Enthüllungen von Journalisten als der Report einer Royal Commission über die korrupten Praktiken bei der Wahl 1880, der zu einer breiten öffentlichen Empörung, Gesetzesreformen mit harten Strafen und einer Begrenzung der Wahlausgaben führte. Tatsächlich sank so die Zahl der wegen Bestechung angefochtenen Wahlkreise deutlich.9 Wie bei der Old Corruption-Debatte zeigte dies, dass in Großbritannien nicht nur Korruptionsvorwürfe eine große Rolle spielten, sondern die Regierungen hierauf auch mit Reformen antworteten, um Korruptionsskandale zu verhindern. Größere politische Korruptionsskandale blieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien selten – besonders im Unterschied zu Frankreich. Neben den Reformen minderte besonders die zurückhaltende Präsenz des Staates das Potential für Skandale. Natürlich traten dennoch einzelne Fälle auf. So entstand 1849 ein Skandal um den Eisenbahnkönig George Hudson, als dessen verdeckte Ankäufe von anderen Gesellschaften und seine unredlichen Aktienspekulationen bekannt wurden. Ein Abgeordneter warf ihm zudem die Bestechung von Politikern vor. Allerdings richtete sich die öffentliche Empörung in den Zeitungen vor allem gegen seine Bereicherung auf Kosten der kleinen Aktienbesitzer.10 In den Jahrzehnten nach 1850 fanden sich in den Zeitungen immer wieder Artikel, die einzelne korrupte Handlungen oder Ver7 8 9 10 Hierzu entstanden frühzeitig grundlegende Studien; vgl. Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1868–1911, Oxford 1962, S. 26 u. 49–53; William B. Gwyn, Democracy and the Cost of Politics in Britain, London 1962; John B. King, Socioeconomic Development and the Incidence of English Corrupt Campaign Practices, in: Arnold J. Heidenheimer (Hrsg.), Political Corruption. Readings in Comparative Analysis, New York u. a. 1970, S. 379–390. Häufigkeit des Wortes corruption in der Times 1786–1985; eigene Auswertung Times Digital Archive. So O’Leary, The Elimination, S. 230; Gwyn, Democracy, S. 91 f. Dennoch sind auch danach in den britischen Archiven weiterhin Fälle von Wahlbestechung dokumentiert, auf die hier nicht eingegangen werden kann; vgl. etwa TNA, HO 45/9883/B16523; ebd., CO 873/29; ebd., ASSI 72/25/9. Vgl. Times 1. 3. 1849, S. 4; 9. 4. 1849, S. 3; 1. 5. 1849, S. 4. Von den zahlreichen Studien zu Hudson vgl. zuletzt: Robert Beaumont, The Railway King. A Biography of George Hudson, London 2002, bes. S. 126–135. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 424 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges untreuungen von Staatsbediensteten anprangerten. So machte die Times 1865 öffentlich, ein Mitarbeiter hätte in einem Patentamt jahrelang insgesamt einige hundert Pfund unterschlagen und sprach deshalb von „corruption“.11 Das Potential für einen größeren oder gar politischen Skandal bot der Fall freilich nicht. Dass er trotz seiner Marginalität solche Beachtung fand, zeigte vielmehr das Fehlen größerer Normbrüche. Die Zahl der Korruptionsvorwürfe nahm mit der Etablierung der Massenpresse in den 1880er Jahren in Großbritannien deutlich zu. Sie bezogen sich auf bis heute typische Korruptionsbereiche – etwa bei Bauaufträgen in den Kommunen oder im Sport.12 Spektakuläre Skandale entstanden daraus jedoch selbst in den 1880er Jahren kaum, soweit der bisherige Forschungsstand und die Quellen diesen Schluss zulassen. Im Unterschied zu Frankreich betrafen die Vorwürfe weder Spitzenpolitiker noch handelte es sich um vergleichbare Bestechungssummen. Zudem reagierte die Regierung schnell, indem sie die Fälle durch Kommissionen untersuchen ließ und gleich mit Gesetzesreformen antwortete. Vor allem der 1889 auf den Music Hall-Skandal folgende Prevention of Corruption Act bestrafte jede Form von Zuwendungen an öffentliche Bedienstete mit bis zu zwei Jahren Haft.13 Im späten 19. Jahrhundert war Korruption damit in Großbritannien ein Phänomen, bei dem die Öffentlichkeit den Staat zu einer fortlaufenden flexiblen Anpassung an sich ändernde Normen zwang. Anders verlief die Entwicklung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Im Vergleich zu Großbritannien spielten bis 1870 öffentliche Korruptionsvorwürfe nur eine untergeordnete Rolle. Der Begriff „Corruption“ war so wenig etabliert, dass er sich in vielen Lexika der Zeit nicht fand oder kaum beschrieben wurde. Selbst bei den revolutionären Bewegungen von 1848 standen Korruptionsvorwürfe nicht im Mittelpunkt. Im Sprachgebrauch bedeutete Korruption noch um 1900 nicht unbedingt Bestechung, sondern generell schwere Verfehlungen, (sittliche) Verdorbenheit oder schlechte Beeinflussungen. So wurde Maximilian Hardens Kampagne gegen die homosexuellen Freunde um Wilhelm II. als Kampf gegen die Korruption gesehen.14 Von Korruption im engeren Sinne sprachen die deutschen Lexika nur, wenn sie die politische Geschichte anderer 11 12 13 14 Zu diesem sog. „Edmund-Scandal“ vgl. Times 15. 3. 1865, S. 9 und 23. 3. 1865, S. 14. Vgl. den „Wimbledon-Scandal“, Times 18. 9. 1880, S. 9 oder den „Cricket Scandal“, Times 15. 5. 1882, S. 12. Zur Korruption etwa beim kommunalen Bau der 1880er, etwa von Music Halls, vgl. bereits: Doig, Corruption 1984, S. 70–72. Beispiele zur Thematisierung von Alltagskorruption auch in: Phil Fennell und Philip A. Thomas, Corruption in England and Wales. A Historical Analysis, in: International Journal of the Sociology of Law 11 (1983), S. 167–189. Doig, Corruption, S. 79. Hamburger Correspondent Nr. 205, 23. 4. 1908. Brockhaus’ Konversations-Lexikon 1898 hat nur den Eintrag „korrumpieren“, hinter dem Korruption mit „Verderbnis, Bestechlichkeit“ übersetzt wird; Meyers Konversationslexikon fasst sie 1888 als „Verdorbenheit, Sittenverderbnis, besonders Bestechlichkeit.“ Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien 425 Länder beschrieben wie die der USA, Englands oder Frankreichs.15 Neuere Arbeiten über deutsche Beamte im frühen 19. Jahrhundert lassen vermuten, dass die Korruption im Deutschen Bund auch alltagsgeschichtlich eine vergleichsweise geringe Bedeutung hatte.16 Erklären lässt sich dies erstens mit der Selektion und Privilegierung der deutschen Beamten, die sich in ihrer guten Besoldung niederschlug. Zweitens bestand in Deutschland frühzeitig eine Gesetzgebung, die entsprechendes Fehlverhalten ahndete. Das galt sowohl für das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, den in Süddeutschland übernommenen Regelungen des Code Napoléon und das Strafgesetzbuch von 1871. Immerhin sah das Strafgesetzbuch für die aktive Bestechung bis zu fünf Jahre Haft vor (§ 332). Drittens begrenzte, wie bei anderen Normbrüchen, die späte Ausbildung einer parlamentarischen Opposition, öffentlicher Gerichtsprozesse und einer freien Presse eine Thematisierung etwaiger Korruption. Viele Handlungen der deutschen Monarchen und Regierungen, wie etwa Bismarcks Umgang mit dem Reptilienfonds aus dem Welfenvermögen, konnten die Medien deshalb zunächst nur im begrenzten Maße recherchieren und öffentlich anklagen. In Großbritannien wäre derartiges ausführlich als Old Corruption attackiert worden. Auch bei preußischen Beamten kam es mitunter zu regelwidrigen Verhaltensweisen, die zu Skandalen führten, die internationale Beachtung fanden. Dies galt etwa für den Skandal um den Berliner Chef der Exekutiv-Polizei 1861, der falsche Papiere ausgestellt hatte. Daraufhin warf die Presse dem Polizeipräsidenten und dem Innenminister vor, den Fall gedeckt und die Flucht ermöglicht zu haben, weshalb die Zeitungen selbstbewusst deren Rücktritt forderten. Sie deuteten das „öffentliche Ärgernis“ bereits als Zeichen einer „Staatskrankheit“, weshalb nur mit grundsätzlichen Personal- und Strukturreformen das „Vertrauen“ wieder hergestellt werden könnte.17 Die Berichte über die Stadtgespräche und die Menschenaufläufe bei der Überführung des verhafteten Polizeichefs belegen, dass der Fall zudem in der Öffentlichkeit der alltäglichen Begegnungen eine größere Empörung hervorrief. Ähnlich wie Großbritannien führte auch in Deutschland die Medialisierung und vorsichtige Demokratisierung der Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Korruption. Ebenso wie in den westlichen Nachbarländern barg der rasante, von monopolartigen Strukturen geprägte Eisenbahnbau Potential für Korruptionsskandale. 15 16 17 Vgl. im Meyers Konservationslexikon 1888 Einträge wie Belknap, Butler, Frankreich (Geschichte: Julirevolution, Ludwig Philipp), Grant, Hayes, Vereinigte Staaten (Geschichte 1874– 1889). Zumindest spielt in den Arbeiten Korruption eine untergeordnete Rolle; vgl. Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830), Göttingen 1999, S. 191; Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M. 1994, S. 41. Vgl. täglich Vossische Zeitung ab 8. 5. 1861, zit. 15. 5. 1861, S. 1; auch in: Times 17. 5. 1861, S. 10. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 426 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Bekannt sind die Korruptionsvorwürfe, die der liberale Abgeordnete Eduard Lasker 1873 im Preußischen Abgeordnetenhaus gegen den Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg und einige hohe preußische Beamte richtete.18 Tatsächlich mussten Handelsminister Heinrich August von Itzenplitz und der Vortragende Rat im Staatsministerium, Wagener, ihre Ämter niederlegen, nachdem Lasker dem Rat Bereicherung im Amt beim Handel mit Eisenbahn-Konzessionen vorgehalten hatte. Unverkennbar handelte es sich dabei um eine politische Skandalisierung, zumal sich Laskers Enthüllungen vor allem gegen Bismarck und seine Minister richteten. Auf den Kanzler richteten sich auch die Angriffe der politischen Rechten gegen das Finanzgebaren seines Bankier Gerson von Bleichröder, die dem Kanzler vor allem im so genannten „Ära-Artikel“ der „Kreuzzeitung“ unlautere Finanztransfers vorhielten.19 Wie in Großbritannien kam es in Deutschland zudem zu Protesten gegen die Wahlbeeinflussung durch Beamte, Pastoren und Unternehmer, die allerdings weniger über Geschenke als Drohungen verlief.20 Seit den 1890er Jahren häufte sich auch in Deutschland die öffentliche Empörung über die Korruption in der deutschen Bürokratie. Das lag zunächst erneut am Aufkommen der sozialdemokratischen Presse. Der Vorwärts scheute keine Berichte über Korruption in der deutschen Politik und verglich etwa Bismarcks Umgang mit dem Welfenfonds mit den Bestechungen im französischen Panamaskandal oder italienischen Skandalen.21 Allerdings dauerte es, bis die bürgerliche Öffentlichkeit derartige Beschuldigungen wahrnahm, zumal der Vorwärts kaum direkte Belege vorbringen konnte. Der Thema Korruption wanderte zudem durch die Rezeption ausländischer Skandale in die deutsche Presse. So thematisierten die relativ wenigen Berichte über Korruption in der auflagenstärksten wilhelminischen Zeitschrift, der Berliner Illustrirten Zeitung, insbesondere die Korruption in den USA, wo der investigative Muckracking-Journalismus um 1900 zahlreiche entsprechende Verstöße aufdeckte.22 18 19 20 21 22 Vgl. Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. München 1991, S. 172–177; knapp zur Biographie: Ralf Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 86–112. Recht ähnlich und ebenfalls antisemitisch geprägt war in Frankreich die Affäre Raynal; vgl. Bruno Marnot, Un scandale parlamentaire oublié. L’Affaire Raynal (1888–1895), in: Journal du Midi 114 (2002), S. 331–349. Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt a. M. 1978, bes. S. 609–616. Vgl. Robert Arsenschek, Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf 2003. Vgl. etwa Vorwärts Nr. 27, 1. 2. 1893. Zum Aufkommen dieses Muckraking-Journalism vgl. Robert Miraldi, Muckraking and Objectivity. Journalism’s Colliding Traditions, New York 1990. Als deutsche Rezeption vgl. etwa den Artikel „New Yorker Polizei-Korruption“, Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 16, 19. 4. 1903. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien 427 Das Thema Korruption trat zudem in Verbindung mit anderen Skandalthemen an die Öffentlichkeit. So schufen der britische und deutsche Kolonialismus nicht nur zahlreiche neue Gelegenheiten für korruptes Verhalten. In beiden Ländern förderte er auch die Thematisierung von Korruption, die zum Arsenal der Kolonialkritik gehörte, um die Regierungen zu treffen. Die bereits analysierten britischen Kampagnen gegen Kynoch oder die Abwicklung der Kriegsbestände zeigten dies ebenso wie die bereits untersuchten deutschen Skandale um Tippelskirch oder Woermann.23 Dabei setzte sich insbesondere in Großbritannien der Verweis auf den Steuerzahler durch, auf dessen Kosten Gelder verschwendet würden. Ebenso machten die Sexualitätsskandale korrupte Handlungen öffentlich, die die Ermittlungen von Polizei und Justiz behinderten; sei es, weil Zeugen, wie im Cleveland Street-Skandal, Geld für ihre Flucht erhielten, sei es, dass Polizisten, wie im Fall Sternberg, durch Bestechungsgelder auf Ermittlungen verzichteten, Falschaussagen machten und andere Polizisten zu bestechen versuchten. Die Aufdeckung der Bestechung eines deutschen Kommissars empörte in diesem Skandal die deutsche Öffentlichkeit sogar mehr als der Missbrauch der jungen Mädchen durch den Bankier.24 Fasst man die Voraussetzungen für Korruptionsskandale in beiden Ländern zusammen, so sind die Unterschiede unverkennbar. In Großbritannien war der Vorwurf der Korruption seit langem etabliert und eine Selbstreinigung durch Reformen erprobt. In Deutschland erhielt der öffentliche Vorwurf dagegen erst Ende des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung, nachdem bislang eher auf die Integrität der Bürokratie vertraut wurde. Während in Großbritannien die Kampagnen gegen die Old Corruption Reformen einleiteten, die den Staatseinfluss eher schwächten, sorgten die deutschen Reformen im 18. Jahrhundert für seine Stärkung.25 Dies schuf unterschiedliche Ausgangsbedingungen für spätere Skandale: In Großbritannien drehten sich die Skandale eher um den Aktienhandel von Politikern, in Deutschland dagegen um korrupte Beziehungen zwischen der Bürokratie und Unternehmen mit einer monopolartigen Stellung und engen Verbindungen zum Staat. Gemeinsam war der deutschen und der britischen Öffentlichkeit, dass sie sich beide von Frankreich abgrenzten, das ihnen als Hort der Korruption galt. Insbesondere der Panama-Skandal Anfang der 1890er Jahre, bei dem die Gesellschaft zum Bau des Panama-Kanals zahlreiche Minister, Abgeordnete, Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bestochen hatte, erwies sich 23 24 25 Vgl. Kap. IV. 3 und 6. Der bestochene Kommissar Thiel bot dabei Kommissar Stierstädter dabei 15 000 Mark sofort und weitere 70 000 bei Sternbergs Freisprechung an; Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Vgl. Eckhart Hellmuth, Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: T. C. W. Blanning und Peter Wende (Hrsg.), Reform in Great Britain and Germany 1750–1850, Oxford 1999, S. 5–23. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 428 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges in beiden Ländern als der entscheidende Referenzpunkt.26 Der Panama-Skandal diente nicht nur der Abgrenzung, er schuf auch Vorstellungen über mögliche korrupte Verschwörungen im eigenen Land. So klagte etwa ein Professor in der intellektuellen Neuen Deutschen Rundschau mit Blick auf den Panama-Skandal, in allen westlichen Ländern würde die Börse die Parlamente und die Presse korrumpieren.27 In beiden Ländern kulminierten die Korruptionsvorwürfe in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in größeren politischen Skandalen. Im Vordergrund standen dabei zwei Fälle, die durchaus vergleichbare Strukturen hatten und sich auch deshalb für eine exemplarische Analyse anbieten: Der Marconi-Skandal von 1912 in Großbritannien, der im Kontext einer langfristigen Kampagne der Konservativen gegen die Liberalen stand, und der KornwalzerSkandal um Krupp 1913 in Deutschland, der sich ebenfalls aus einer langfristigen Kampagne der Sozialdemokraten entwickelte. 2. Konservative Kampagnen gegen RADICAL PLUTOCRATS Die zahlreichen Korruptionskampagnen in Großbritannien, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auftraten, waren erneut Ausdruck und Ergebnis starker politischer Veränderungen. Die Konservativen hatten zwei Jahrzehnte nahezu ununterbrochen die Regierung gestellt, als sie 1905 im Streit über Chamberlains protektionistische Zollreform auseinanderbrachen, worauf eine desaströse Wahlniederlage und der Weg in die Opposition folgte.28 Während bislang vor allem die moralische Kritik der liberalen Journalisten und Politiker Skandale angestoßen hatte, versuchte nun die politische Rechte, die liberale Regierung mit ähnlichen Vorwürfen zu diskreditieren. Da die Einheit der Tories durch den Zollstreit und die Wahlniederlage gefährdet schien und ihr Vorsitzender Arthur Balfour kaum noch Autorität hatte, versprachen scharfe emotionale Kampagnen gegen die Liberalen neuen Zusammenhalt. Besonders der neue Tory-Vorsitzende Bonar Law setzte seit 1911 ganz auf eine polarisierende Agitation gegen die liberale Regierung, um die neu zusammengeschlossenen Konservativen und Unionisten zu einen.29 Gleichzeitig rivalisierten die Liberalen nun mit einer wachsenden Zahl an Labour-Abgeordneten, deren Fraktion 1906 nach der offiziellen Gründung der Partei auf 29 Sitze angestiegen war. Die zahlreichen 26 27 28 29 Vgl. als einführend zum Panama-Skandal: Pierre-Alexandre Bourson, L’affaire Panama, Paris 2000; Jean Bouvier, Les deux scandales de Panama, Paris 1964. J. Platter, Die Corruption, in: Neue Deutsche Rundschau 7 (1896), S. 97–114. Zu dieser Wahlniederlage vgl. Russell, Liberal Landslide. Nachdem sie lange Zeit Balfour angelastet wurde, betonte E. H. H. Green ihre Ursache in einem längerfristigen Niedergang der Konservativen seit den 1890er Jahren; E. H. H. Green, The Crisis of Conservatism. The Politics, Economics and Ideology of the British Conservative Party, 1880–1914, London 1995, S. 308 f. Green, The Crisis of Conservatism, S. 310. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 429 Krisen und politischen Reformversuche der Liberalen verschärften um 1910 das ohnehin polarisierte Klima zusätzlich. Insbesondere die Steuerreform, die Entmachtung des Oberhauses, die Arbeiterstreiks, die komplizierte internationale Lage im Vorfeld des Krieges und der erneute Versuch, die irische Home Rule umzusetzen, sorgten für äußerst emotionale und scharfe Kämpfe zwischen den Parteien. Dabei richtete sich die liberale Reformpolitik im hohen Maße gegen die „landed interest“ des Adels, was die durch die Labour Partei gefährdeten Arbeiterstimmen sichern sollte. Gerade um diese Stimmen rangen nun aber auch die Konservativen mit ihren Kampagnen. Die bisherige liberale Korruptionskritik an den Konservativen hatte zudem die moralische Messlatte der neuen Regierung recht hoch gelegt. Besonders die linksliberale Kritik an Chamberlain, wie sie Lloyd George vorgebracht hatte, prägte Erwartungen. Das gleich nach dem Regierungswechsel verabschiedete Korruptionsgesetz, mit dem die Liberalen nach dem War Stores Scandal ihren Kampf gegen Bestechungen beteuerten, setzte weitere moralische Maßstäbe für Politiker. Die neu gegründete Bribery Prevention League hielt das Thema mit Vorträgen und massenhaft publizierten Schriften in der Öffentlichkeit.30 Wie ernst die Liberalen das Thema Korruption nahmen, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass das Innenministerium alle Verurteilungen wegen Korruption zusammenstellte, um auf Anfragen vorbereitet zu sein.31 Die Antikorruptionskampagnen, mit denen sich die Konservativen seit 1906 profilierten, knüpften an die vorherigen der Liberalen an. Ebenso standen sie in der Tradition der Old Corruption-Agitation hundert Jahre zuvor. Sie warfen den Liberalen vor, seit ihrem Regierungsantritt ein korruptes Patronagesystem entwickelt zu haben. Loyale liberale Unternehmer, die der Partei Großspenden zukommen ließen, würden dafür Aufträge, Orden und Nobilitierungen erhalten. Einzelne fragwürdige Ehrungen, wie für einen Firmendirektor, der der Marine defekte Ruder geliefert hatte, verbanden die Tories bereits 1907 mit der generellen Frage, ob diese Auszeichnungen mit Spenden an den liberalen Parteifond zusammenhingen.32 Dies waren Vorwürfe, die die Konservativen bereits während der kurzen liberalen Regierungszeit von 1892 und 1895 aufgebracht hatten. Tatsächlich hatten seit den 1890er Jahren alle Parteien ihren stark gestiegenen Finanzbedarf mit dem indirekten „Verkauf“ von Titeln aufgebessert, die an ihre Unterstützer gingen.33 Zudem verspotteten die Konservativen die Liberalen nun regelmäßig als Radical Plutocrats. Der Vorwurf der liberalen Doppelmoral sollte das eigene Image 30 31 32 33 Vgl. Searle, Corruption, S. 104. Vgl. die Fälle in: Convictions under the Prevention of Corruption Act, in: TNA, HO 45/10909/R614. Zum Einsetzen der Debatte vgl. Times 12. 7. 1907, S. 6 und 16. 7. 1907, S. 6. Zur öffentlichen Kritik in den 1890er vgl. Times 1. 7. 1895, S. 9; Truth 38 (1895), S. 137. Zu den Titelverkäufen der Parteien vgl. T. A. Jenkins, The Funding of the Liberal Unionist Party and the Honours System, in: English Historical Review 105 (1990), S. 920–938; H. J. Hanham, The Sale of Honours in Late Victorian England, in: Victorian Studies 3 (1960), S. 277–289. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 430 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges der Tories aufbessern, die Partei der Oberschicht zu sein.34 So karikierten die parteinahen konservativen Blätter, wie die National Review und Our Flag, liberale Spitzenpolitiker als neureiche verschwenderische Millionäre. Lloyd George stellten sie etwa als Villenbesitzer und Golfspieler in Nizza dar und Churchill als Hummer- und Kaviaresser.35 Ebenso sprachen ihre Pamphlete vom „gigantic wealth“ der „Radical Plutocrats“, die weit vermögender seien als die konservativen Politiker und deshalb erklären sollten, inwieweit sie von bestimmten Regierungsentscheidungen profitieren.36 In den Debatten verglichen die Konservativen die Bedrohung durch die „radikalen Plutokraten“ sogar explizit mit den spektakulären Fällen der Old Corruption im 19. Jahrhundert.37 Auf diese Weise etablierten sie mit suggestiven Bildern und Begriffen ein politisches Klima, das für das Aufbringen von entsprechenden Skandalen eine wichtige Voraussetzung war. Mit diesen Vorwürfen konnten die stark gespaltenen Konservativen unterschiedliche Schichten ansprechen. Der Angriff gegen die „radikalen Plutokraten“ appellierte gleichzeitig an die Ressentiments der alten Eliten gegenüber sozialen Aufsteigern, an den moralischen Arbeitsethos von Mittelschichten und an das Klassenbewusstsein von Unterschichten. Man wird diese Rhetoriken somit als ein wichtiges Element jener programmatischen Transformation der Konservation sehen müssen, die sich jenseits der „landed interest“ nun mit sozialen Themen profilierten.38 Stärker noch als bei früheren Skandalen zeigte sich dabei ein Zusammenspiel von Politik und Presse, das parteinahe Journalisten und Verleger wesentlich vorantrieben. Das galt bereits für die Skandalisierung von liberalen Unternehmern. Dem Schokoladenfabrikanten Cadbury, der die Liberalen und ihre Daily News wesentlich unterstützte, hielt etwa der konservative Standard vor, er würde seinen Kakao durch Sklavenarbeit gewinnen. Leopold Maxses konservative National Review baute diesen Vorwurf modifiziert weiter aus und hielt dem Philantropen Cadbury eine Doppelmoral vor, die sich in seinen Zeitungsinhalten niederschlage.39 Ebenso starteten Northcliffes Zeitungen eine Kampagne gegen den Seifenfabrikanten William Lever, der ebenfalls einer der wichtigsten 34 35 36 37 38 39 So auch die explizite interne Begründung für die Kampagne; Maxse an Tryron o. D. (1912), in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. Our Flag Febr. 1912, S. 26; National Review 60 (1912), S. 38. Vgl. die Broschüren in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. Die Rhetorik über die „radikalen Plutokraten“ lässt sich bereits vor dem Regierungswechsel ausmachen; vgl. etwa den Leserbrief Frederick Milners in: Times 6. 1. 1905, S. 10: „I venture to assert that if the incomes of the Unionist members of Parliament were added up they would only make a poor show against the income of many wealthy men who sit on the radical side of the House.“ Auch er verweist auf Yachten, Villen u.ä. Vgl. etwa Times 25. 6. 1907, S. 6. Zur programmatischen Transformation der Konservativen generell Green, The Crisis of Conservatism. National Review Mai 1910, S. 402–416. Vgl. auch John A. Hutcheson, Leopold Maxse and the National Review, 1893–1914. Right-Wing Politics and Journalism in the Edwardian Era, New York und London 1989, S. 416 f.; Searle, Corruption, S. 129. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 431 Unterstützer der Liberalen war und 1906 sogar für sie ins Unterhaus einzog. Ihm warf die Daily Mail in einer Artikelserie ein Monopol auf dem Seifenmarkt und überzogene Preise vor. In gewisser Weise knüpfte Northcliffe so an das trust-busting in den USA an, das sich dort gegen die großen Öl- und Stahlmonopole richtete. Die Daily Mail konnte zunächst als Erfolg feiern, dass die Lever-Aktien durch ihre Kampagne um sechzig Prozent sanken („Public Opinion Smashed the Soap Trust“).40 In beiden Kampagnen verteidigten jedoch die Unternehmer in Verleumdungsprozessen erfolgreich ihr Ansehen vor Gericht, was Northcliffe empfindliche Unkosten von rund 150 000 Pfund bescherte. Während Northcliffe sich nach diesen Prozessniederlagen zurückhielt, führten die konservativen Politiker die Vorwürfe fort. Sie warfen Lever etwa vor, er hätte dem Staat nur deshalb einen ehemaligen Adelssitz zur Verpachtung übergeben, um Konzessionen für West-Afrika zu erhalten. Lever zog daraufhin sein Pachtangebot für das Stafford House vorläufig zurück, was wiederum auf die Konservativen zurückfiel.41 Die direkten Pressekampagnen gegen liberale Unternehmer waren somit, so lässt sich zusammenfassen, nur bedingt erfolgreich. Da die Zeitungsverleger an ihre Anzeigen dachten und auch viele Konservative die Unternehmerschelte missbilligten, erwiesen sie sich auch in der eigenen Partei als nicht konsensfähige Strategie, um das Image der Liberalen zu verändern. Die daran anknüpfenden konservativen Korruptionskampagnen gegen liberale Politiker organisierten ebenfalls Journalisten, die den Tories nahe standen. Eine Schlüsselfigur war dabei der Herausgeber der National Review, Leopold Maxse. Maxse schrieb nicht nur für sein einflussreiches Blatt und zahlreiche Tageszeitungen, er stand auch seit den 1890er Jahren mit zahllosen führenden Politikern und Verlegern in regelmäßiger Korrespondenz. Wie sein Nachlass zeigt, wandten sich zahlreiche Spitzenpolitiker Rat suchend an den Journalisten, etwa mit der Frage, wie sie ihre Reden gegen Lloyd George gestalten sollten.42 Maxse war vom „despotism“ der liberalen Regierung fest überzeugt. So schrieb er Northcliffe: „Indeed there is no limit to their powers of mischief and they will have to be fought like the devil.“43 Ebenso wie Northcliffe selbst sprach er dabei intern selbstverständlich von „our party“, was ebenfalls auf ein geringes Bewusstsein von journalistischer Unabhängigkeit schließen lässt.44 Um die Kampagnen der Konservativen systematisch zu organisieren, gründete Maxse die „Radical Plutocracy Enquiry“. In deren Vorstand waren zwar Abgeordnete, allerdings übernahm der Journalist als Sekretär die eigentliche Arbeit. Zur Sammlung von skandalösen Hinweisen über die vermeintlichen Ra40 41 42 43 44 Auch wenn die Artikel von dem heute als Kriminalautor bekannten Edgar Wallace geschrieben wurden, trug Northcliffe eine persönliche Verantwortung; vgl. Taylor, Northcliffe, S. 111; Thompson, Northcliffe, S. 137 f. Times 1. 1. 1913, S. 10 u. 29. 3. 1913, S. 8; Daily News 17. 6. 1913, S. 1. Vgl. die Briefe an Maxse in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 468. Maxse an Northcliffe 24. 2. 1913, in: BL, Northcliffe Papers Add. 62175:56. Für Northcliffe vgl. etwa: Northcliffe an Maxse 20. 12. 1912, in: BL, Northcliffe Papers Add. 62175:55. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 432 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges dical Plutocrats verschickte er 1912 ein Rundschreiben an alle Abgeordneten und an die konservative Öffentlichkeit, das in einem langen Fragebogen denunziatorische Hinweise erbat. Der Fragekatalog began mit den Worten: „I. Are there any Radical millionaires or quasi millionaires or Radicals pass for being plutocrats in your neighbourhood or have you any knowledge of such persons elsewhere? II. Have any of them received any ,honours‘ since the Radical Party came into office in November 1905 […].“45 Zudem fertigte sein Komitee eine Liste „of possible Plutocrats among radical members of the House of Commons“ an, die über 70 Abgeordnete umfasste und dann dank der eingehenden Hinweise auf über 200 anwuchs. Erwartungsgemäß trugen die vielfältigen Antworten gehässigen Klatsch über das Privatleben von reichen Liberalen zusammen, der mitunter auch antisemitisch gefärbt war. So verlangte ein Antwortschreiben „a closer investigation of those Hebrew gentlemen (your friends) who live in this country and do not pay income tax and of course escape all local taxation.“46 Über den Fragebogen versuchte der Journalist eine Art Kartei zusammenzustellen, um in Zeitungsartikeln oder Parlamentsreden Skandale zu starten. Sie sollte sowohl andere Zeitungen als auch konservative Politiker mit skandalösen Informationen versorgen. Gerade dieses Beispiel zeigt somit, dass auch in der scheinbar parteiunabhängigen britischen Presse durchaus Journalisten als aktive Akteure in parteipolitischen Auseinandersetzungen agierten. Große Skandale entstanden aus diesen Vorwürfen jedoch zunächst nicht. Trotz der Fragebögen blieb ihr substanzieller Gehalt zu gering, und ähnlich wie bei den Gerichtsprozessen von Cadbury und Lever konnten die Liberalen die Vorwürfe entkräften. In ihrer breiten und suggestiven Pauschalität förderten sie jedoch generelle Vorurteile und Verdächtigungen. Der liberale Premierminister Asquith wurde daraufhin vorsichtiger. Als Churchill etwa in Rücksprache mit Northcliffe vorschlug, einige liberale Journalisten mit Ehrungen auszuzeichnen, lehnte Asquith dies sogleich ab.47 Selbst oder vielmehr gerade Journalisten sollten vorerst nicht mehr mit Ehrungen an die Regierung gebunden werden, obgleich dies zuvor auch bei den Konservativen durchaus üblich gewesen war. Lord Northcliffe war schließlich selbst auf diese Weise zu seiner Nobilitierung gekommen. Der sicherlich wichtigste britische Korruptionsskandal in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg – der Marconi-Skandal von 1912/13 – lässt sich in gewisser Weise als Ergebnis und Höhepunkt dieser seit 1906 eingeleiteten konservativen Kampagnen gegen die Radical Plutocrats verstehen.48 Der Ereig45 46 47 48 West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. An Maxse 19. 10. 1912, in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467; ein anderer Brief richtete sich gegen „German Jews [...] abusing the hospitality of their adopted country“, in: ebd. Churchill an Asquith 12. 8. 1912, in: CAC CHAR 2/57/30-32; Asquith an Churchill 16. 8. 1912, in: CAC CHAR 2/57/33. Die bislang grundlegende Darstellung des Skandals von Frances Donaldson betrachtet den Marconi-Skandal dagegen als singuläres Ereignis; ders., The Marconi Scandal, London 1962, S. 249. Eingeordnet in die Korruptionsgeschichten bei Searle, Corruption, S. 172–200. Als Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 433 nisablauf des Skandals ist unter England-Historikern bereits gut bekannt. Er entwickelte sich aus der Kritik an einem Vertrag, den die liberale Regierung 1913 mit Marconi‘s Wireless Telegraph Company ausgehandelt hatte, um das Empire mit drahtlosen Telegraphenstationen auszustatten. Die konservative Opposition beklagte, Marconi bekomme zuviel Geld, liefere nicht die besten Anlagen und erhalte quasi ein Monopol. Seit dem Sommer 1913 verbanden konservative Journalisten und Politiker diese Vorwürfe zudem mit zwei skandalfähigen Gerüchten, die schrittweise ihren Weg in die Medien und ins Parlament fanden. Zum einen brachten sie den antisemitischen Vorwurf auf, der Vertrag belaste die Steuerzahler übermäßig, weil der Manager von Marconi der Bruder des Kronanwalts Rufus Isaacs sei und beide, ebenso wie der zuständige Postminister Herbert Samuel, Juden wären, die sich an öffentlichen Mitteln bereicherten. Zum anderen sprachen sie die Vermutung aus, der Kronanwalt Isaacs, der Finanzminister Lloyd George und der ehemalige liberale Fraktionsführer Lord Murray hätten durch ihr Insiderwissen Spekulationsgewinne mit Marconi-Aktien gemacht.49 Da alle Beteiligten eine große öffentliche Prominenz besaßen, schien eine breite Empörung garantiert. Immerhin war der Erfinder und Unternehmer Marconi bereits seit einigen Jahren ein internationaler Medienstar, den auch die deutschen Illustrierten als einen der größten lebenden Erfinder feierten.50 Dass seine Telegraphie zahlreiche Leben beim Untergang der Titanic retten half, vergrößerte seinen Ruhm zusätzlich. Nicht minder prominent war Lloyd George, der durch seine Kampagnen gegen die Korruption der Konservativen seit 1900 eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erreicht hatte und dank seiner radikalen Reformansprüche besonders umstritten war. Mit diesen Vorwürfen konnten die Konservativen ihn an seinen eigenen Ansprüchen messen. Angestoßen und vorangetrieben wurde auch dieser Skandal nicht durch die Boulevard- und Massenzeitungen, sondern durch kleine parteinahe politische Wochenblätter. Die ersten Artikel erschienen im Juli 1912 im Outlook, dann folgten Vorwürfe im Eye-Witness. Bemerkenswert bei diesen Artikeln war bereits ihre äußerst antisemitische Ausrichtung. Den Postminister Samuel und den Marconi-Geschäftsführer Godfrey Isaacs nannten sie „two financiers of the same nationality“, die auf Kosten der englischen Steuerzahler Gewinne machten.51 Stereotype pauschalisierende Verweise auf ihre jüdisch klingenden Nachnamen („these Samuels and Isaacs“) zeigten dabei ebenfalls einen Antisemitismus, 49 50 51 Verteidigung von Lloyd George, der angeblich in den Fall hineingeschlittert sei, vgl.: Bentley B. Gilbert, David Lloyd George and the Great Marconi Scandal, in: Historical Research 62 (1989), S. 295–317. Zum bereits bekannten Ereignisablauf des Marconi-Skandals, der hier nicht im Detail erneut wiederholt werden braucht, vgl. bereits: Donaldson, The Marconi Scandal. Vgl. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 3, 19. 1. 1902, Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 20, 14. 5. 1905, Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 44, 3. 11. 1907. Outlook 20. 7. 1912. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 434 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges wie man ihn eher von konservativen deutschen Zeitungen kannte.52 Die Juden wurden so national und kulturell, im Sinne des „modernen Antisemitismus“, rassistisch über ihr Blut ausgegrenzt, welches ihr korruptes Handeln bedingen würde: „Like the other eminent recipient of public money he [Samuel, F. B.] is not of our blood or tradition and owes no real allegiance to the foreign state which has very unwisely hired him to serve it.“53 Generell sei es ein Fehler der Liberalen gewesen, Juden als Engländer mit einem anderen Glauben anzusehen. Den Liberalen hielten sie deshalb vor, durch ihre korrupte Haltung quasi Marionetten dieser Juden geworden zu sein, die Politiker und die Presse aufkaufen würden: „We know that they [the Liberals, F. B.] sell peerages, that they sell places on the Front-Bench, that they sell policies. We know that a rich financier, though an alien and an unsavoury one at that, can get hold of a politician just as he gets hold of a racehorse.“54 Wie der Besitzer des Eye-Witness auch einige Monate später vor dem Untersuchungsausschuss aussagte, war diese antisemitische Stoßrichtung durchaus ein Hauptziel der Kampagne.55 Der Antisemitismus knüpfte damit an die Stereotype über jüdische Börsenhändler und Aufsteiger an, die sich bereits in den Kampagnen gegen den Burenkrieg angedeutet hatten. Er stand im Kontext einer neuen radikalen Rechten, die sich im Zuge der verstärkten jüdischen Einwanderung aus dem Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts formierte.56 Besonders der antisemitische Akzent korrespondierte mit den vorherigen Skandalen in Frankreich, von wo aus der Panama-Skandal und die Dreyfus-Affäre europaweit Imaginationen über die jüdische Macht prägten. So glaubten die Verleger und Redakteure des EyeWitness, England sei einer ähnlichen jüdischen Verschwörung ausgesetzt, wie sie sich in Frankreich angeblich beim Dreyfus-Skandal gezeigt habe.57 Dass ausgerechnet Hilaire Belloc diese aus Frankreich bekannte Form der Skandalisierung nach Großbritannien transferierte, dürfte auch mit seiner Sozialisation zusammen hängen. Bellocs Vater war Franzose, und durch seine enge Verbindung zu Frankreich hatte er vor Ort die dortigen Bestechungsskandale erlebt. Da Herbert Samuel und Rufus Isaacs zu den ersten gläubigen Juden auf britischen Ministerposten zählten und sich die Londoner Politik erst schrittweise für Juden öffnete, hatte diese Kampagne grundsätzlich eine ähnliche Stoß- 52 53 54 55 56 57 Eye-Witness 8. 8. 1912, S. 227. Eye-Witness 15. 8. 1912, S. 257; vgl. ebenso Eye-Witness 8. 8. 1912, S. 227–230. Eye-Witness 17. 10. 1912, S. 545 f. „The real motives are an attack upon Jews as Jews.“ Aussage Granville in: Select Commitee in: BT, Archives POST 88/34, S. 411. Arnd Bauerkämper, Die ‚radikale Rechte‘ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991, S. 82–87. So schrieb Granville am 6. 4. 1913 an das Select Committee: „I am in short in a position to unmask a conspiracy as dangerous to England as the Anti-Dreyfus agitation was to France. This can be done by me telling the story of the ,Eye-Witness‘ (which I financed from its start up to September last year) […]“ Aussage in: BT, Archive POST 88/34, S. 411. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 435 richtung wie die Dreyfus-Affäre: Es ging darum, welche Rolle Juden im öffentlichen Leben spielen durften.58 Umgekehrt bedienten sich die französischen konservativen Journalisten kurz vor dem Kriegsbeginn dieser britischen Verleumdungsformen. Die französische Kampagne gegen „radikale Plutokraten“, die 1913/14 insbesondere gegen den Premierminister und vorherigen Finanzminister Joseph Caillaux kulminierte, benutzte die gleichen Stereotype – insbesondere den Verweis auf Spekulationsgewinne und Begünstigung jüdischer Financiers.59 Gerade die antisemitischen Enthüllungen wiesen somit besonders starke Ähnlichkeiten auf. Offen war, welche Reaktionen die antisemitischen Vorwürfe in Großbritannien auslösten. Bemerkenswerterweise griffen sie lediglich einzelne kleinere konservative Wochenzeitungen auf, wie die National Review, New Age, und der Spectator.60 Die großen Tageszeitungen wie die Times erwähnten sie zunächst weder negativ noch positiv, sondern ignorierten sie – ganz ähnlich, wie es in Deutschland in den Zeitungen von Ullstein und Mosse bei antisemitischen Kampagnen zumeist üblich war. Ebenso sahen die verleumdeten Minister von Klagen ab, um den Blättern keine Aufmerksamkeit zu geben. Der Antisemitismus innerhalb der Kampagne erwies sich damit für die Liberalen als vorteilhaft, da er die Angriffe insgesamt entwertete und den Ausbruch des Skandals retardierte. Über antisemitische Behauptungen ließ sich in Großbritannien offensichtlich kein Skandal anstoßen. Dennoch belegt die interne Korrespondenz der britischen Konservativen einen gewissen Antisemitismus, auch wenn er nicht die deutschen Ausmaße aufwies. So sprachen Briefe an den konservativen Oppositionsführer Bonar Law etwa von Lloyd George „and his Hebrew associate“.61 Der führende konservative Journalist Loe Strachey vom Spectator verwahrte sich zwar gegen jeden Antisemitismus, meinte aber zugleich: „I am afraid that there is an inveterate habit in the Jewish mind, no doubt the result of persecution, of holding that one Jew must always give a helping hand to another Jew in the financial line.“62 Diese Annahme vertrat auch der konservative Journalist Hilaire Belloc, der die Artikel im Eye-Witness mit verfasst hatte. Er beschrieb sich nicht als Antisemit, da er jüdische Freunde habe und nichts gegen arme Juden einwände. Zugleich verband er dies aber mit dem taktisch vorsichtigen Hinweis: „I recognise, as everyone must, that the racial Jewish element in cosmopolitan finance is a large ele58 59 60 61 62 Vgl. generell zu Isaacs Biographie Denis Judd, Lord Reading. Rufus Isaacs, First Marquess of Reading, Lord Chief Justice and Viceroy of India 1860–1935, London 1982. Der frühere Premierminister Disraeli stammte zwar aus einem jüdischen Elternhaus, war aber getauft. Berenson, The Trial, S. 74. Vgl. National Review Sept. 1913, in Anlehnung an den Outlook-Artikel: „The PostmasterGeneral for the time being bears the name of Samuel. Here we have two financiers of the same nationality pitched against each other, with a third in the background, acting, perhaps, as mutual friends.“ Zurückhaltender dagegen der Spectator 7. 9. 1913 und 14. 9. 1913. Sisley an Bonar Law 26. 5. 1913, in: HLRO, Bonar Law 29/4/25. Strachey an Dicey 23. 3. 1913, in: HLRO, Strachey Papers, S5/6/9. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 436 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges ment.“63 Eine dominante Wahrnehmung war der Antisemitismus jedoch auch bei den Konservativen nicht, selbst wenn man dessen Präsenz höher veranschlagen muss als es lange üblich war.64 Auffällig war erneut, auf welcher geringen journalistischen Recherche die Vorwürfe selbst am Ende des langen 19. Jahrhunderts beruhten. Der Publizist und Schriftsteller Hilaire Belloc musste vor dem Untersuchungsausschuss zum Marconi-Vertrag zugeben, dass er für seine schweren Beschuldigungen im EyeWitness keinerlei Quellenbelege hatte, sondern seine Artikel lediglich auf Gerüchten beruhten und er nicht über mehr Informationen verfüge als jeder Zeitungsleser auf der Straße.65 Er sah es aber gerade als journalistische Leistung und Aufgabe an, diese Gerüchte aus der Straßenöffentlichkeit in die Presse zu überführen. Ähnlich dürftig war die Recherche des Journalisten Wilfrid R. Lawson vom Outlook, der ebenfalls auf die Frage, ob er die von ihm gedruckten Gerüchte überprüft habe, antwortete: „No, I made no special inquiry.“66 Sein Herausgeber Edwin Oliver sagte ebenfalls, er habe lediglich Gerüchte über Aktienkäufe in Clubs gehört, könne sich aber nicht an Namen erinnern.67 In einem späteren Verleumdungsprozess gegen den Journalisten Cecil Chesterton stellte das Gericht erneut fest, dass dessen Artikel teilweise durch rassistische Vorurteile, teilweise durch Unkenntnis von Wirtschaftsfragen geprägt seien, nicht aber durch recherchierte Belege.68 Dementsprechend schien sich die Skandalisierung zunächst ähnlich wie beim Parnellism and Crime-Skandal gegen die konservativen Ankläger selbst zu richten, gegen die sich die Mehrheit der Presse und Parlamentsöffentlichkeit empörte. Selbst die Konservativen zeigten sich enttäuscht und verbittert über das geringe Quellenfundament der Journalisten.69 Die allgemeine Distanzierung von diesem Meinungsjournalismus setzte zugleich den recherchierten Nachrichtenjournalismus als die anzustrebende Norm fest. Weniger die unfundierten Presseangriffe als die parlamentarische Auseinandersetzung und Untersuchung führte die Vorwürfe in die breite Öffentlichkeit. Auffälligerweise distanzierten sich auch im Parlament die konservativen Politiker explizit von den vorgebrachten Gerüchten und referierten sie lediglich. Zu63 64 65 66 67 68 69 Belloc 24. 4. 1913 in Sel. Com. in: BT, Archives POST 88/33, S. 427. Die Biographie von Joseph Pearce geht weder auf den Antisemitismus gegenüber den Ministern noch auf den Skandal ein; vgl. ders., Old Thunder. A Life of Hilaire Belloc, London 2002, S. 149 f. Vgl. als internationale Vergleichsstudie, die auch den Antisemitismus in England betont: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernizations. Studies on Modern Antisemitism 1870–1933/39, Bd. 3: Germany – Great Britain – France, Berlin 1993. Einen relativ starken Antisemitismus bei britischen Akademikern sieht vergleichend auch: Thomas Weber, AntiSemitism and Philo-Semitism among British and German Elites. Oxford and Heidelberg before the First World War, in: The English Historical Review 475 (2003), S. 86–120. Aussage 24. 4. 1913 in Sel. Com. in: BT, Archives POST 88/33, S. 431. Aussage nach: Times 7. 2. 1913, S. 4. Times 11. 2. 1913, S. 5; Times 13. 2. 1913, S. 7. Vgl. Times 29. 5. 1913; vgl. bereits Donaldson, Marconi, S. 184 f. Vgl. die Zuschriften an Maxse im Februar 1913, in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 468. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 437 gleich betonten sie aber, dass diese, auch wenn sie haltlos seien, untersucht werden müssten.70 Selbst in diesem besonders polarisierten politischen Klima hielten die britischen Abgeordneten damit an dem parlamentarischen Kodex fest, politische Gegner als „honourable gentlemen“ anzusprechen. Ebenso zeigte sich die Regierung so konzessionsbereit, wie es in Deutschland undenkbar gewesen wäre. Die Minister unterstrichen eindringlich, sie hätten niemals Aktien „of this company“ gehabt und Rufus Isaacs betonte, er sei nie in die Verhandlungen seines Bruders involviert gewesen. Dennoch stimmten sie sofort der Einrichtung eines Select Committee zu, um den Fall ausführlich zu untersuchen. Trotz dieser konzilianten Zurückweisung und der weiterhin fehlenden Belege war der Korruptionsvorwurf durch die Parlamentsdebatte das Gesprächsthema in London. Lediglich die liberalen Zeitungen im engeren Sinne wie die Daily News, die Pall Mall Gazette und Reynolds’s Newspaper setzten mit einer erstaunlichen Parteiloyalität das Thema nicht auf die erste Seite, wo sie statt dessen die Bedrohung Bulgariens durch die Türken platzierten.71 Im Zuge des Untersuchungsausschusses wurde jedoch deutlich, dass die Minister Lloyd George und Rufus Isaacs im Parlament nur die halbe Wahrheit gesagt hatten. Der konservative Journalist Leopold Maxse, der sich nun zur treibenden Kraft im ausbrechenden Skandal entwickelte, nutzte den Untersuchungsausschuss für die Frage, ob die Minister nicht vielleicht Aktien von Marconi-Unternehmen in anderen Ländern gekauft hätten. Nach dieser Andeutung gestanden Lloyd George und Isaacs in einem Verleumdungsprozess gegen einen französischen Journalisten ganz beiläufig ein, parallel zum Vertragsabschluss mit amerikanischen Marconi-Aktien spekuliert zu haben: Rufus Isaacs erwarb von seinem Bruder, dem Marconi-Geschäftsführer, im April 1912 10 000 Marconi-Aktien, von denen er jeweils 1 000 für je zwei Pfund an Lloyd George und Lord Murray verkaufte. Letztere veräußerten davon die Hälfte zwei Tage später für drei Pfund pro Aktie und kauften mit dem Gewinn 3 000 neue. Wie etwas später zufällig durch die Insolvenz eines Börsenhändlers öffentlich wurde, kaufte zudem der ehemalige Fraktionsvorsitzende Lord Murray Anteile für 9 000 Pfund, um Geld der liberalen Partei anzulegen.72 Diese Enthüllungen waren für die Konservativen ein dringend benötigtes Geschenk. Denn Anfang 1913 zeigte sich bei der Debatte über ihr Parteiprogramm, dass sie in sich so zerstritten waren, dass Abspaltungen bevorzustehen schienen.73 Der nun ausbrechende 70 71 72 73 Vgl. die Formulierungen in den Anfragen von Norman, Archer-Shee und Lansbury bes. Hansard’s Parliamentary Debates 11. 10. 1912, Bd. 42, Sp. 667, 697 u. 712 f. Vgl. auch Times 12. 10. 1912, S. 6. Pall Mall Gazette 12. 10. 1912, S. 3 u. 6; Reynolds’s Newspaper 13. 10. 1912, S. 1; Daily News 11. 10. 1912, S. 5 u. 12. 10. 1912, S. 1 u. 3. Insbesondere die einst kritische Daily News druckte lediglich die Verteidigung der Liberalen, nicht die Vorwürfe. Zu den Gesprächen in der Stadt vgl. etwa: Tagebuch Balcarres 14. 10. 1912, in: Vincent (Hrsg.), The Crawford Papers, S. 280. Vgl. zu diesen Spekulationsgeschäften bereits Donaldson, Marconi, S. 52 f. Green, The Crisis of Conservatism, S. 278. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 438 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Skandal bot die Möglichkeit, die Tories und Unionisten wirklich in einer Partei zu einen. Die große Empörung, die das Bekanntwerden der Aktiengeschäfte allgemein auslöste und so den Ausbruch des Skandals verursachte, lässt sich auf vier Ebenen fassen. Der erste und wichtigste Normbruch war die falsche und unzureichende Aussage der Minister gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit. Beides diskreditierte generell das Vertrauen in ihre Aufrichtigkeit. Mit der offiziell stenographierten Aussage vom Oktober 1912, sie hätten keine Aktien von „this company“ gehabt, hatten Lloyd George und Rufus Isaacs zwar spitzfindig eine direkte Lüge im Parlament vermieden, die ihren sofortigen Rücktritt bedeutet hätte. Allerdings hatten die stenographischen Mitschriften in den Zeitungen berichtet, sie hätten keine Aktien in „the company“, weshalb die Spitzfindigkeit in der Öffentlichkeit übersehen wurde und man allgemein von der falschen Erwartung ausging, die Politiker hätten überhaupt keine MarconiAktien gehabt.74 Umso mehr erschien dies wie eine bewusste Irreführung des Parlamentes und als Verletzung des Ehrenkodex des Hauses. Lloyd Georges Rechtfertigung, er hätte den Aktienbesitz aus Respekt vor dem Select Committee erst dort berichten wollen, versuchte genau diese Hochachtung vor den parlamentarischen Institutionen zu zeigen, wirkte aber kaum glaubhaft. Umso größer war die Empörung, als zwei Monate nach dem verspäteten Eingeständnis zufällig Lord Murrays Marconi-Aktien für die Parteikasse herauskamen. Überall im Land, so der Spectator, würde sich gefragt: „If accident can have disclosed so much, what may not accident now be concealing?“75 Gerade die zufällige Enthüllung verstärkte damit den Eindruck, die Regierung habe viel größere Geheimnisse. Zweitens sorgte für Empörung, dass Minister private Vorteile und internes Wissen aus ihrem öffentlichen Amt vermischten. Die Verbindung von „private interest“ und „public duty“ blieben in der Debatte strukturbildende Begriffspaare.76 Damit verhandelte der Skandal generell, welche Grenzen zwischen Politik und privaten Geschäften bestanden und ob Politiker Vorteile gegenüber der Bevölkerung haben dürften. Festgemacht wurde dies an dem Vorwurf, die Minister hätten die amerikanischen Marconi-Aktien vorab zu einem besonders günstigen Preis bekommen, zu dem die Öffentlichkeit sie weder hätte kaufen können, noch hätte der einfache Mann von ihrem Wertanstieg durch den bevorstehenden Vertragsabschluss mit der englischen Marconi-Firma gewusst. In Wirtschaftsfragen, so die hier aufgebrachte Norm, seien demnach Politiker dem 74 75 76 Vgl. Times 12. 10. 1912, S. 6, Daily Mail 12. 10. 1912, S. 6; Hansard’s Parliamentary Debates 11. 10. 1912, Bd. 42, Sp. 717 f. Die Unterscheidung zwischen „this“ und „the“ wurde zwar in der Literatur bereits erwähnt, nicht aber die Verwechslung in den Zeitungen. Die Konservativen vermuteten daher intern sogar, Samuel habe den Eintrag in Hansard geändert; Amery an Bonar Law o. D., in: House of Lords’ Record Office, Bonar Law 33/2/27. Spectator 14. 6. 1913, S. 1002. Vgl. etwa den Minority-Report der Konservativen in: House of Lords’ Record Office, Bonar Law 41/H/1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 439 „ordinary man“ gleichzustellen. Wie auch C. P. Scott vom Manchester Guardian sogleich feststellte, war die Kampagne damit der Versuch, neue Standards in der Politik zu etablieren. Denn bislang würden alle Politiker mit Aktien spekulieren, mit denen man nicht unbedingt hantieren sollte.77 Die Rechtfertigung der Minister, das amerikanische Unternehmen sei völlig unabhängig und der baldige Vertragsabschluss bekannt gewesen, war dagegen wenig überzeugend. Beide Firmen lebten vom gleichen Patent und hatten zum Teil die gleiche Firmenleitung. Bereits die schnellen anfänglichen Gewinne sprachen für sich. Ein drittes Moment, das für eine breite Empörung sorgte, waren die so eröffneten Einblicke in die privaten Finanzen der Minister und ihre Spekulationen. Der Skandal legte ihr Vermögen und ihren Umgang mit ihm offen. Immerhin erfuhren die Zeitungsleser, dass ein radikaler Liberaler wie Lloyd George mit vierstelligen Beträgen jonglierte und die Minister in zwei Tagen so mehrere Jahresgehälter eines Mittelklasse-Einkommens verdient hatten. Die Stereotype, die die konservativen Kampagnen über die „radikalen Plutokraten“ veröffentlicht hatten, schienen damit tatsächlich zu stimmen. Lloyd George rechtfertigte sich sogleich, er habe insgesamt kein Vermögen mit den Aktien gemacht, sondern einige hundert Pfund verloren. Ebenso legte er seine Vermögensverhältnisse offen.78 Dennoch traf Northcliffes interne Bemerkung zu, dass diese Enthüllung nicht nur Einfluss auf Lloyd Georges Image habe, sondern auch auf seine Politik: „He cannot attack the rich as he has done in the past“, bemerkte er gegenüber George Riddell von der News of the World.79 Da Lloyd George sonst kaum Aktien besaß, fiel um so mehr auf, wie sehr er auf Marconi vertraute. Eine vierte Ebene des Skandals betraf schließlich die Frage, wie mit Parteifinanzen umzugehen sei. Denn in gewisser Weise handelte es sich hier um einen frühen Parteifinanzierungsskandal. Er machte öffentlich, dass der ehemalige liberale Fraktionsvorsitzende Lord Murray ohne Wissen der Partei Gelder akquiriert hatte und diese anscheinend auf undurchsichtige Weise verwaltete. Nachdem die Tories die Liberalen in den letzten Jahren als die reichere Partei hingestellt hatten, die große Summen aus dem Verkauf von Titeln erhalte, schien dies der Beleg dafür.80 Da die Parteien erst seit den 1880er Jahren eine stärker ausgebaute Organisation entwickelt hatten, waren solche Parteivermögen bisher unbekannt und wurden zugleich als inakzeptabel deklariert. Besonders mysteriös wirkte die Parteienfinanzierung über Marconi-Aktien, weil Lord Murray, der 1912 schon aus der Politik ausgeschieden war, während der ganzen Debatte geschäftlich in Südamerika blieb und deshalb im Select Committee keine Aussage machte.81 77 78 79 80 81 Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 8/1/4. In: HLRO, Lloyd George Papers C 24/2/9. Zu seinem Vermögen vgl. auch: Gilbert, Lloyd George, S. 44. Riddell Diary 1. 5. 1913, in: BL, MS 62972. Vgl. die Position der Zeitschrift Nation, in: Times 21. 6. 1913, S. 8. Die Ausgaben der Parteien waren zu dieser Zeit bereits recht beträchtlich. So gaben die Liberalen um 1910 etwa 100 000 Pfund für ihren Wahlkampf aus; Jenkins, Parliament, S. 106. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 440 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Wie gingen die Printmedien mit diesen Vorwürfen um? Dass die konservativen Zeitungen und Politiker nun Korruptionsanklagen erhoben, überraschte wenig. Auffällig war jedoch, wie zurückhaltend die unionistisch-konservativen Zeitungen von Lord Northcliffe berichteten. Obgleich die Daily Mail als die erste Boulevardzeitung Englands gilt, beteiligte sie sich kaum an der sensationellen Berichterstattung. Ebenso wie die von Northcliffe 1908 gekaufte Times nahm er eine recht neutrale Position ein. Alle beteiligten Minister bedankten sich dafür bei Northcliffe mehrfach in persönlichen, recht devoten Briefen, was die starke Ehrerbietung der Politik vor dem mächtigen Verleger zeigte.82 In seinen Antworten begründete Northcliffe seine Zurückhaltung generös damit, dass er die Aktienspekulationen für nichtig halte und angesichts der Lage in Deutschland wichtigere Probleme anstünden. „Moreover, I am neither a rabid party man nor an anti-Semite“, rechtfertigte der Pressebaron seine Position, die die politische Unabhängigkeit der kommerziellen Massenpresse unterstreichen sollte.83 . Dennoch ergab sich auch Northcliffes Zurückhaltung aus einer engen Interaktion von Politik und Journalismus. Wie seine Briefe belegen, hatte sie vor allem der liberale Marineminister Winston Churchill ausgehandelt. Churchill umgarnte Northcliffe mit dem Versprechen, es gäbe keine weiteren Enthüllungen und versicherte ihm eine Woche vor der entscheidenden Parlamentsdebatte, wie sehr die Minister ihr Verhalten bedauern würden.84 Zugleich machte er ihm indirekt ein großzügiges Geschenk: „I should like to take you down in a submarine to testify my appreciation of the fine way in which The Times and the D.M. have treated us.“85 Da Northcliffe äußerst technikbegeistert war und eine U-Bootfahrt selbst für den Millionär etwas Besonderes war, war dies ein Freundschaftsanreiz, der zugleich Werbung für den Ausbau der Marine versprach. Northcliffes Technikbegeisterung dürfte ebenso erklären, warum seine Zeitungen Marconi nicht in Misskredit bringen wollten. So berichtete die Daily Mail vor der ersten entscheidenden Parlamentsdebatte wohlwollend, wie selbstlos Marconi lange Zeit ohne Einnahmen in den Ausbau der drahtlosen Telegraphie investiert habe.86 Die Reaktion des Pressezaren unterstrich somit zugleich Northcliffes parteipolitische Unabhängigkeit, seine enge Beziehung zur Regierung und den großen Einfluss des Verlegers auf seine Zeitungsredaktionen. Ebenso auffällig war, wie kritiklos liberale Zeitungen Lloyd George und die Regierung in Schutz nahmen. Die einst kritische Daily News erwies sich nun als 82 83 84 85 86 Gedruckt sind diese Briefe zumindest in Auszügen in: Reginald Pound und Geoffrey Harmsworth, Northcliffe, London 1959, S. 442. Northcliffe an Lloyd George 24. 3. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 6/8/1 A. Northcliffe an Churchill 8. 6. 1913, in: CAC CHAR 2/62/39. Churchill an Northcliffe 9. 4. 1913, in: CAC CHAR 28/117; Northcliffe an Churchill 11. 4. 1913, in: CAC CHAR 2/62/27. Northcliffe an Churchill (Abschrift) o. D. (nach März 1913), in: HLRO, Lloyd George Papers C 3/15/20. Daily Mail 11. 10. 1912, S. 5. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 441 ein völlig loyales Parteiorgan, was ebenfalls auf den großen Einfluss zurückzuführen ist, den die neuen liberalen Besitzer auf die Redaktion hatten.87 Noch bemerkenswerter ist die große Loyalität, die die Reynolds’s Newspaper der Regierung entgegen brachte, da das radikale Blatt bislang durchweg durch eine kritische Haltung auch gegenüber der eigenen Partei aufgefallen war. Erneut sicherten die Politiker diese Verbundenheit durch intensive Kontaktpflege ab. Die Herausgeber erhielten von den Ministern freundschaftliche Dankesschreiben für ihre wohlwollenden Artikel. „Nothing could be better than your handling of the matter“, schrieb etwa Rufus Issacs dem Herausgeber der Daily News, A. G. Gardiner.88 Ebenso ging Lloyd George mit dem Herausgeber des Daily Chronicle, Robert Donald, am Wochenende vor der großen Unterhausdebatte Golf spielen.89 Wie sehr die Politiker vorab die Positionen der Presse aushandelten, zeigt ein Tagebucheintrag von Lord Riddell kurz vor der Enthüllung des skandalösen Aktienhandels: Masterman said that the press had been arranged with. Northcliffe had promised that The Times and the Daily Mail would not be objectionable and Harry Lawson had agreed to refrain from attacks in the Telegraph. Massingham had been very nasty and they feared an attack in the Nation. Gardiner of the Daily News and Donald of the Chronicle were both friendly.90 Fasst man diese Beobachtungen zusammen, erwies sich die britische Presse in diesem Skandal kaum als eine unabhängige vierte Gewalt, sondern vielmehr als ein symbiotisch mit der Politik verflochtener Teil der Öffentlichkeit. Die parteipolitischen Bindungen der Zeitungen nahmen eher zu. Diese enge Zusammenarbeit zwischen Presse und Politik zeigte sich erneut im Vorfeld der entscheidenden Unterhausdebatte am 18./19. Juni 1913, die den Bericht des Select Committee diskutierte und den Kulminationspunkt des Skandals bildete. Konservative Journalisten wie Strachey (Spectator) und Gwynne (Morning Post) versorgten den Tory-Oppositionsführer Bonar Law vorab mit Hinweisen und Material über Lloyd George.91 Lloyd George erhielt dagegen von C. P. Scott (Manchester Guardian) ausführliche Verhaltensratschläge: wenn er etwas zu bedauern habe, dann solle er das in dieser Form auch im Unterhaus sagen.92 In ihrer ausführlichen Vorberichterstattung zu der Debatte nahmen die Zeitungen bereits die wichtigsten Schlagabtäusche der Unterhaussitzung vorweg. Die konservative Morning Post behauptete dabei neue Enthüllungen. So habe der vormalige Fraktionssprecher Lord Murray 20 000 Pfund Parteigelder 87 88 89 90 91 92 Zum guten Verhältnis von George Cadbury zu Lloyd George noch aus der Anti-Burenkriegskampagne her vgl. Koss, Fleet Street Radical, S. 118. R. Isaacs an Gardiner 22. 3. 1913, in: LSE, NL Gardiner 1/18. Gilbert, Lloyd George, S. 47. Eintrag 19. 3. 1913, in: BL, Riddell Diaries Add MS 62972. Strachey an Bonar Law 17. 6. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/5/31; Gwynne an Bonar Law o. D. (wohl 18. 6. 1913), ebd., 29/5/36. Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in HLRO, Lloyd George Papers C 8/1/4. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 442 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges in eine Ölfirma in Mexiko angelegt, die mit der Regierung Geschäfte mache.93 Ebenso bereitete vor allem Strachey im Spectator Angriffe gegen die Liberalen vor. Nicht mit recherchierten Ergebnissen, sondern abermals mit Verweis auf kursierende Gerüchte über Marconi-Aktien bei anderen Ministern und Angehörigen des Untersuchungsausschusses forderte er den Premierminister zu einer Stellungnahme heraus.94 Zudem warf er den Liberalen vor, bei Silberaufkäufen in Indien einer unerfahrenen Bank von Montagu den Vorzug gegeben zu haben, weil dessen Bruder Unterstaatssekretär im Kolonialministerium war. Die erneut antisemitische Stoßrichtung war dabei unverkennbar.95 Die Medien strukturierten folglich die entscheidende Parlamentsdebatte vor. Nicht nur der konservative Angriff kurz vor den Unterhaussitzungen lief über die Zeitungen, sondern auch dessen Abwehr. Die liberale Daily News antwortete auf die Vorwürfe täglich auf der ersten Seite unter der Überschrift „Slander as a Policy“ und hielt ihnen ebenso skandalisierende Anklagen entgegen. So sprachen sie dem konservativen Eye-Witness die moralische Urteilsfähigkeit ab, weil dessen Financier Charles Granville gerichtlich der Bigamie überführt worden sei.96 Ebenso brachte die Daily News begleitend zur Debatte Vorwürfe über das frühere Verhalten der Konservativen auf; etwa, dass Oppositionsführer Bonar Law als Secretary of Trade zugleich Bankdirektor war und es dabei zu viel engeren Überschneidungen zwischen privaten und öffentlichen Interessen gekommen sei.97 Diese recht scharfe Debatte in der Presse stand im Kontrast zum moderaten Ton des Parlamentes. Die habituellen und sprachlichen Regeln des Unterhauses ließen anscheinend selbst in dieser Situation keine derartig harten Angriffe zu, so dass sie sich in die Medien verlagerten. Bereits vor der großen Debatte zeigte sich, dass im Unterhaus andere Verhaltensstrategien als angemessen galten. So verlangte Premierminister Asquith von Lloyd George und Rufus Isaacs im Kabinett, bei einem privaten Treffen vor der Debatte und über seine Ehefrau, sich defensiv zu verhalten und gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit Bedauern zu zeigen. „This debate must show that nothing of the kind can ever happen again“, betonte Frau Asquith gegenüber Lloyd George.98 Tatsächlich zeigte die Regierung trotz der polarisierten Öffentlichkeit erneut ein defensives Verhalten, wie es den englischen parlamentarischen Riten entsprach und in 93 94 95 96 97 98 Morning Post 14. 6. 1913. Zur Debatte um die Mexican Oil Company vgl. auch Hansard’s Parliamentary Debates 16. 6. 1913, Bd. 54, Sp. 35; Searle, Corruption, S. 212–217. Spectator 14. 6. 1913, S. 1002 f. Vgl. zum Engagement von Journalisten im „Indian Silver Scandal“ etwa: Strachey an Bonar Law 4. 7. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/6/6.; Hansard’s Parliamentary Debates ebd.; Searle, Corruption, S. 201–211. Daily News 18. 6. 1913, S. 2; vgl. zudem: Daily News 16. bis 18. 6. 1913, S. 1. Daily News 21. 6. 1913, S. 5. Zit. Lady Asquith an Lloyd George 13. 6. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 6/12/2; Asquith an Lloyd George 16. 6. 1913, in: ebd., C 6/11/13. Kabinett 17. 6. 1913, in: TNA, CAB 41/34/21. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats 443 Deutschland undenkbar gewesen wäre.99 So betonte der Kronanwalt Isaacs, sein Verhalten im Parlament im Oktober 1912 sei ein Fehler gewesen, und auch der Mehrheitsbericht des Select Committee räumte Versäumnisse ein.100 Ebenso formulierte Lloyd George: „If you will, I acted thoughtlessly, I acted carelessly, I acted mistakenly, but I acted innocently, I acted openly and I acted honestly.“101 Obgleich er seine Unschuld beteuerte, zeigte er damit seine Demut gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament. Premierminister Asquith argumentierte ähnlich zurückhaltend, indem er seinen Ministern fahrlässiges Handeln vorwarf, wenn auch nicht vorsätzliches. In seiner Rede stellte der Premierminister Verhaltensregeln auf, die als Normen für Politiker gelten sollten. So forderte er etwa: […] Ministers ought not enter into any transactions whereby their private pecuniary interest might, even conceivably, come into conflict with their public duties. […] Again, no minister is justified under any circumstances in using official information that has come to him as a Minister, for his own private profit or for his friends. […] Ministers should scrupulously avoid speculative investments in securities as to which, from their position and their special means of early and confidential information they have or they may have advantage over other people in anticipating market changes.102 Damit setzte er genau jene Normen, gegen die seine Minister gerade verstoßen hatten. Verglichen mit den Pressedebatten zuvor reagierten auch die Konservativen konziliant. So sprachen sie nicht direkt von Korruption, sondern von Verstößen gegen die Regeln des öffentlichen Lebens.103 Dabei unterstrichen sie allerdings, dass über das Verhalten der Liberalen kein Konsens bestand und sie die Entschuldigung in dieser Form unzureichend fanden. Ebenso beharrten die Konservativen auf einem Minderheitenbericht im Select Committee. Die Unterschiede zwischen der medialen und der parlamentarischen Korruptionsdebatte, die in Deutschland deutlich geringer waren, lassen sich zunächst mit den seit langem eingeübten parlamentarischen Redekonventionen und der Vertrautheit der Elite untereinander erklären. Nicht nur ihre ähnliche akademische Ausbildung, sondern auch die informellen Begegnungen, etwa in Clubs oder beim Golf, überbrückten selbst bei einem Radical wie Lloyd George die Fraktionsgrenzen. Zudem mussten die britischen Parteien mit Regierungswechseln leben, die bei jedem moralischen Vorwurf die Gefahr bargen, an die eigene Regierungszeit erinnert zu werden. Gerade bei Fragen der Aktienspekulation gingen die Konservativen entsprechende Risiken ein. Beides mag erklären, warum die Redner in der entscheidenden Parlamentsdebatte eher aus der zweiten Reihe kamen. 99 100 101 102 103 Vgl. die Reden der langen Debatte in: Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 391–514; 19. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 542–670. Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 422. Ebd., Sp. 448 f. Ebd., Sp. 548–560; Daily News 20. 6. 1913, S. 2. Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 391. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 444 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Schließlich war unklar, inwieweit der Begriff „Korruption“ überhaupt zutreffend war. Im Unterschied zu den großen Korruptionsskandalen auf dem Kontinent ging es hier ja nicht um direkte Bestechung, sondern eher um Insiderwissen im Aktienhandel. Dass sich in Großbritannien ausgerechnet entlang von Aktienspekulationen ein Skandal entwickelte, war Ausdruck einer Wirtschaftsstruktur, die sich von Deutschland unterschied. Seit den 1850er Jahren hatte sich England zu einer „nation of shareholders“ entwickelt, bei der um 1900 etwa zwei Fünftel des nationalen Vermögens in Aktien investiert waren. Da ein beträchtlicher Teil der Ober- und Mittelklassen von deren Erträgen lebte, waren Spekulationen gängig und nötig. Sie kollidierten jedoch mit den zeitgenössischen Vorstellungen vom moralischen Wirtschaften und der Verdammung des Glücksspieles. Dementsprechend war es um 1900 umstritten, im welchen Maße Aktienspekulationen als legitim galten.104 Im Marconi-Skandal wurde dies an einem prominenten Beispiel diskutiert, ohne dass es zu einer eindeutigen Lösung kam. Insgesamt setzte er zumindest die Norm, dass Politiker keine Aktienspekulationen mit Unternehmen machen sollten, die unmittelbar in Regierungsverträge eingebunden waren. Damit schrieb der Fall erneut fest, wie sich ein idealer Politiker zu verhalten habe. Um dieses Bild des Politikers drehte sich auch die Rechtfertigung von Lloyd George, die er seiner Partei gegenüber im National Liberal Club gab: „In politics there is no cash. […] In politics, men go in, if you like, for fame. Men go in, if you like, for ambition. Men go in for a sense of duty (cheers). But for mere cupidity, never!“105 Gerade weil dieser Idealtypus gefährdet schien, musste er beschworen werden. Zugleich festigte der Skandal bei den Konservativen die Vorstellung, dass gerade die wachsende Zahl von sozialen Aufsteigern im Parlament für die Zunahme der Korruption verantwortlich sei. Dies kulminierte in der Formulierung „you cannot corrupt a millionaire“.106 In dieser konservativen Lesart sollte der ideale Politiker über ein Vermögen verfügen, das ihn angeblich von materiellen Verlockungen unabhängig mache. Die konkreten personellen Folgen des Skandals waren dagegen eher gering. Lloyd George war zwar stark angeschlagen und durchlebte eine seiner bisher schwersten politischen Krisen, konnte aber sein Amt behalten und bis zum Premierminister aufsteigen.107 Rufus Isaacs behielt nur noch kurzzeitig sein Amt und wechselte auf den Posten des Lord Chief Justice. Versetzt wurde nur ein Mitarbeiter der Ministerialbürokratie, der wegen seiner Spekulation mit 104 105 106 107 Vgl. David C. Itzkowitz, Fair Enterprise or Extravagant Speculation. Investment, Speculation, and Gambling in Victorian England, in: Victorian Studies 45 (2002), S. 121–148. Grundsätzlich zu Aktienbesitz und Spekulationen: George Robb, White Collar Crime in Modern England. Financial Fraud and Business Morality, 1845–1929, Cambridge 1992, S. 3 u. 191. Redetext National Liberal Club 1. 7. 1913, in: HLRO, Lloyd George, LG C 36/1/9. Daily News 18. 6. 1913, S. 1. Von den zahlreichen Biographien über ihn vgl. bes. John Grigg, Lloyd George, 4 Bde., London 1973–2002. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 445 englischen Marconi-Aktien schon vor Ausbruch des Skandals auf einen niederen Dienstrang heruntergestuft worden war.108 Die konservativen Journalisten, die den Fall maßgeblich angestoßen und vorangetrieben hatten, versuchten auch nach der Parlamentsdebatte die Vorwürfe weiter am Leben zu halten und zu ergänzen. Wie bei den meisten Skandalen erhielten sie jedoch kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit, und auch die restliche konservative Presse verhielt sich ihnen gegenüber kritisch.109 Journalisten wie Cecil Chesterton hielten dabei an ihrem Antisemitismus fest, blieben aber marginalisiert. Auch nach der Debatte unterschied Chesterton zwischen „Jew and Gentile“-Rassen und kam zu dem Fazit: „and so long as the jews are there the problem is there.“ Deshalb halte er ein spezielles Gesetz für die Juden als die beste Lösung oder auch ihre Auswanderung nach Israel.110 Insbesondere der Ausbruch des Weltkrieges überdeckte die konservativen Kampagnen gegen den „Sales of Honours“. Langfristig zeigten sie dennoch Folgen. Kurz nach dem Krieg entfaltete sie ihre Wirkung in einem Skandal, der den Verkauf von Ehrungen durch die Liberalen aufdeckte und 1922 mit den Sturz des nunmehrigen Premierministers Lloyd Georges auslöste. Die in der edwardianischen Zeit begonnene Kampagne hatte damit die Öffentlichkeit für eine Norm sensibilisiert, die nach dem Weltkrieg nicht mehr überschreitbar war. Mit dem Honours (Prevention of Abuses) Act von 1925 folgte hierauf auch die rechtliche Festlegung der in diesen Skandalen erkämpften Norm, nach der Peerages und andere Ehrungen nicht verkauft werden durften. 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp Die antisemitischen Verschwörungsvorstellungen, die in Großbritannien das Bild vom raffgierigen und korrupten Juden aufbrachten, kursierten auch frühzeitig im deutschen Kaiserreich. Prominent verbreitet wurden sie bereits 1874/75 durch Otto Glagaus Artikel in der Gartenlaube, der eine korrupte Herrschaft reicher Juden ausmachte. Bei der Reichsgründung hätten sich danach die Juden per „Börsen- und Gründungsschwindel“ bereichert und dies dadurch verschleiert, dass sie fast die gesamte Presse kontrollieren würden und zahlreiche verbündete Parlamentarier hätten.111 Nicht nur die konservative Presse, sondern auch katholische Zeitungen schlossen sich dieser Kampagne an, die sich dann gegen Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder verdichtete.112 108 109 110 111 112 So Samuel im Kabinett am 27. 11. 1912, in: TNA, CAB 41/33/72. Vgl. etwa Strachey über Chesterton in: Spectator 21. 6. 1913, S. 1023. Vgl. den Artikel „The Jewish Problem Re-Considered“, in: New-Witness 26. 6. 1913, S. 240 f., ähnlich: New-Witness 3. 7. 1913, S. 264. Die zwölfteilige Serie in der Gartenlaube 1874/75 findet sich, mit Erweiterungen, in: Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Leipzig 1876, ders., Der Börsenund Gründungsschwindel in Deutschland, Leipzig 1877; vgl. auch: Weiland, Otto Glagau. Stern, Gold, S. 608–610. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 446 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Seit Anfang der 1890er nahmen derartige antisemitische Vorwürfe im Reichstag und in der Publizistik zu. Die Etablierung antisemitisch orientierter Massenverbände, die explizit antisemitische Positionierung der Konservativen im Tivoli-Programm 1892 und die Wahlerfolge antisemitischer Reichstagsabgeordneter 1893 repräsentierten und verstärkten den öffentlichen Antisemitismus.113 So warf der antisemitische Reichstagsabgeordnete Hermann Ahlwardt erst Bleichröder korrupte Absprachen mit der Polizei vor und beschuldigte dann 1892 den jüdischen Leiter der Gewehrfabrik Ludwig Loewe & Co, bewusst minderwertige Waffen zu produzieren, um sich zu bereichern und deutschen Soldaten zu schwächen.114 Vor dem Reichstag löste er dadurch stürmische Menschenaufläufe aus, die ihn begrüßten.115 Für den 22. März 1893 stellte Ahlwardt der Presse neue Enthüllungen in Aussicht, weshalb sich die Journalistenränge und Tribünen im Reichstag füllten. Neben einer erneuten Anklage gegen minderwertige „Judenflinten“ versprach er zu beweisen, dass bei der Stiftung des Reichs-Invalidenfonds der Staat von der jüdischen Finanzwelt um 100 Millionen Mark geprellt worden sei und die damalige Regierung, unter anderem Finanzminister von Miquel und einige Abgeordnete, daran beteiligt wären. Indem Ahlwardt größeren Teilen der Regierung, Verwaltung und des Reichstages eine Korruptionsbeteiligung mit jüdischen Hintermännern vorwarf, knüpfte er explizit an den jüngst in Frankreich ausgebrochenen Panama-Skandal an. Zwei umfangreiche Aktenordner, die er bei seiner Rede medienwirksam auf das Pult stellte, sollten seine Vorwürfe bereits visuell erhärten.116 Tatsächlich fanden sich weder unter den mitgebrachten Aktenstücken noch unter den angeblich weiteren „2 Centner Akten“ Beweise. Vielmehr konnte Ahlwardt lediglich eine antisemitische Broschüre Rudolph Meyers von 1877 vorlegen sowie Papiere, die sich auf die Diskontogesellschaft beim rumänischen Eisenbahnbau bezogen, den Otto Glagau bereits in den 1870er Jahren thematisiert hatte.117 Da sich die Vorwürfe eben nicht nur gegen eine jüdische Firma, sondern gegen 113 114 115 116 117 Vgl. zum parlamentarischen Erfolg 1893 durch Übernahme konservativer Wahlkreise: Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland 1881 und 1912, Berlin 1999, S. 85–99. „So weit, wie in Rußland und Frankreich, soll die jüdische Korruption in unserem Volke nicht gedeihen!“ Hermann Ahlwardt, Judenflinten, Dresden 1892, S. 6; vgl. auch: ders., Judenflinten Theil II, Dresden 1892. Bezeichnenderweise hatte Ahlwardt seinen Posten als Schulrektor 1889 wegen der Unterschlagung von Geldern verloren, die seine Schule für die Weihnachtsfeier gesammelt hatte. 1893 hatten die Antisemiten 16 MdR, 1897 13, vgl.: Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Göttingen 2004 (ergänzte Ausgabe von 1964), S. 153 f. u. 215. Vgl. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 50, 12. 12. 1892. RT 18. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 70. Sitz. S. 1736 f.; 20. 3. 1893, ebd., S. 1745–1750; Vossische Zeitung Nr. 138, 22. 3. 1893. Ahlwardt rechtfertigte die nicht vorgebrachten Beweise damit, dass er sie bei entfernten Freunden versteckt habe; RT, 22. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 73. Sitz. S. 1802–1805; Vossische Zeitung Nr. 139, 23. 3. 1893. Vgl. zu den Reaktionen im Reichstag: Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 14, 2. 4. 1893. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 447 Staatssekretäre, Abgeordnete, die Justiz und die Heeresverwaltung richteten, distanzierten sich nahezu das ganze Parlament und selbst die konservative Presse von Ahlwardt.118 In gewisser Weise hatte die fehlgeschlagene Skandalisierung damit vor allem die Konsequenz, dass sie die radikalen Antisemiten diskreditierte.119 An der antisemitischen Skandalisierungsstrategie hielt die politische Rechte dennoch fest. Nur ein Jahr später beschuldigte die „Kreuzzeitung“ die SPD, immer abhängiger von jüdischen Geldern zu werden, was sie mit einer Spende von 300 000 Mark von Leo Arons belegen wollte, die das Blatt zur Fortführung eines Bierboykottes erhalte.120 Die Häufung derartiger antisemitischer Skandalisierungsversuche seit 1892 lässt sich wie in Großbritannien auch als Transfer der französischen Skandale verstehen – insbesondere des Panama-Skandals. Dass an den korrupten Handlungen in Frankreich auch verschiedene jüdische Finanziers beteiligt waren, hatte dort antisemitische Verschwörungs- und Korruptionsvorwürfe verstärkt. Durch die zahllosen Zeitungsberichte über den französischen Skandal wurden sie offensichtlich auch in Deutschland verfestigt. In Deutschland mündete diese antisemitische Agitation allerdings schon deshalb nicht in Skandale, weil sich die Vorwürfe als völlig haltlos erwiesen. Das Kriegsministerium wies Ahlwardts Kampagne in einem Prozess zurück, der ihm eine fünfmonatige Gefängnisstrafe einbrachte. Sowohl Hammerstein als auch Ahlwardt wurden vielmehr selbst Objekt von Gegenskandalisierungen, die ihnen beweiskräftig die Unterschlagung von Geldern vorwarfen. Ahlwardt wurde somit in der liberalen Presse als „Todtengräber des Antisemitismus“ verspottet, weil seine haltlosen Beschuldigungen nur auf Ablehnung stießen.121 Dass Ahlwardt dennoch 1893 im ersten Wahlgang wieder in den Reichstag gewählt wurde, dokumentiert allerdings die latente Unterstützung, die er zumindest in diesem Wahlkreis für seine antisemitischen Kampagnen bekam. Spätere Korruptionsskandale in der Weimarer Republik schlossen an diese antisemitischen Argumentationsfiguren an. Dagegen bot der größte deutsche Korruptionsskandal des Kaiserreiches, die sogenannte „Kornwalzer-Affäre“, keinerlei Ansatzpunkte für antisemitische Angriffe. Er entfaltete sich auffälliger Weise nahezu zeitgleich zum englischen Marconi-Skandal. Seit April 1913 erfuhr die Öffentlichkeit, dass die Fried. Krupp AG jahrelang regelmäßig für kleine Bestechungssummen interne Informationen aus dem Kriegsministerium erhalten hatte, die ihr erhebliche Wettbe118 119 120 121 RT 20. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 71. Sitz. S. 1750–1766; 21. 3. 1893, ebd., S. 1794–1797, 22. 3. 1893, ebd., S. 1796–1817. Auch Adolf Stöcker stellte sich klar gegen Ahlwardt; ebd., S. 1807 f. Vgl. die Presseschau in: Vossische Zeitung Nr. 137, 22. 3. 1893. Die Grenzen von Ahlwardts Agitation und derartiger antisemitischer Anklagen zeigt auch: Barnet Hartston, Sensationalizing the Jewish Question. Anti-Semitic Trials and the Press in the Early German Empire, Leiden und Boston 2005, S. 219–259 u. 264–267. Vgl. die Zurückweisung im Vorwärts Nr. 178, 3. 8. 1894; Hinweise bereits in: Hall, Scandal, S. 145. Vossische Zeitung Nr. 140, 23. 3. 1893, S. 1 f. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 448 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges werbsvorteile bei der Auftragsvergabe verschafften.122 Dass sich ausgerechnet an dem Großunternehmen Krupp ein herausragender Korruptionsskandal entzündete, war sicher kein Zufall. Wie bereits beim Capri-Skandal 1902 deutlich geworden war, vereinigte Krupp als Unternehmen symbolisch vielfältige kritische Deutungen des Kaiserreiches. Kampagnen gegen Krupp richteten sich zugleich gegen den Militarismus, den Kaiser oder einen konservativ-gewerkschaftsfeindlichen Paternalismus. Zudem war die skandalisierende Kritik an der Fried. Krupp AG bereits seit langem eingeübt. Ihre herausragende Stellung im Rüstungssegment hatte immer wieder öffentliche Beschuldigungen über unlautere Wettbewerbstechniken erzeugt.123 Seit 1899 gewannen sie eine neue Intensität und wurden regelmäßig im Reichstag artikuliert. Die Beschuldigung, Krupp besäße durch die enge Verbindung zu Kaiser und Regierung ein Monopol und nutze die Bevorzugung für überhöhte Preise, stand besonders in den Reichstagsdebatten von 1901, 1903 und 1905 im Mittelpunkt.124 Ebenso hatten Teile der Presse schon häufig versucht, Krupp als unpatriotisch hinzustellen, da er auch für das Ausland Waffen produziere und dort sogar billiger anböte.125 Wie die spätere Kornwalzer-Affäre wurden diese Debatten allerdings weniger von der Presse als vom Reichstag aus angestoßen. Der oft unterschätzte Reichstag erfüllte damit gerade in diesem Bereich, ähnlich wie bei den Kolonialskandalen, durchaus eine Kontrollfunktion.126 Die neue Massenpresse trat weniger durch investigative Enthüllungen hervor, sondern griff die Vorwürfe der Parlamentarier kommentierend auf und 122 123 124 125 126 Vgl. ausführlicher zum Ablauf des Falles bereits: Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 270 (2005), S. 337–379. Knappe Hinweise im Standardwerk von Gall, Krupp, S. 336 f.; aus Krupps Perspektive: Gert von Klass, Aus Schutt und Asche. Krupp nach fünf Menschenaltern, Tübingen 1961, S. 337–339; mit sachlichen Fehlern: Manchester, Krupp, S. 269–271; mit Blick und auf Grundlage der SPD-Presse: Hall, Scandal, S. 183–186. Zudem Erwähnungen in politischen Schriften: Aus dem SED-Umfeld und fast ohne Gehalt ist die Broschüre von Walter Bartel, Karl Liebknecht gegen Krupp, Berlin (Ost) 1951; ähnlich: Georg Honigmann, Kapitalverbrechen oder Der Fall des Geheimrats Hugenbergs, Berlin (Ost) 1976; mit kritischem Gestus zu Teilaspekten: Klaus Wernecke und Peter Heller, Der vergessene Führer: Alfred Hugenberg. Pressemacht und Nationalsozialismus, Hamburg 1982, S. 48–54; einige Quellen in: Annelies Laschitza, Karl Liebknecht. Eine Biographie in Dokumenten, Berlin (Ost) 1982. Für die Zeit bis 1900 vgl. Wolbring, Krupp, hier bes. S. 283 f. u. 295 f. Vgl. etwa: Verhandlungen des Reichstages, 11. Leg., I. Sess. 1903/05, 166. und 173. Sitz., 17. 3. 1905 u. 27. 3. 1905, Bd. 7. Berlin 1905, S. 5360–5366 und 5615–5630. Dass Krupps Preise trotz der hohen Reinerlöse dem internationalen Niveau entsprachen, betont: Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991, S. 200 f. Vgl. etwa die Karikaturen in: Kladderadatsch, 17. 3. 1901; Wahre Jacob 6. 5. 1902; Ulk 15. 7. 1900 u. 7. 9. 1902; Presseausschnitte in: HAK, FAH 3 D 19. Grundlegend für Krupps Presse für die Zeit bis 1900: Wolbring, Krupp, hier bes. S. 283 f. u. 295 f. Diese kommunikative Funktion wird in der Debatte über die Schwäche des Reichstages oft vernachlässigt; vgl. etwa Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Anders dagegen: Biefang, Der Reichstag. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 449 förderte damit wiederum die parlamentarische Auseinandersetzung. Zudem traten in den Zeitungen immer wieder Reichstagsabgeordnete als Kommentatoren auf, die so auch in der Presse die parlamentarische Macht unterstrichen.127 Dass sich der Korruptionsskandal ausgerechnet im Militärbereich entzündete, war ebenfalls kein Zufall. Die Rüstungskritik der Sozialdemokraten hatte schon länger eine Bereicherung Krupps auf Kosten der Steuerzahler angeprangert und so dies Narrativ etabliert. Auch andere Beispiele für finanzielle Unregelmäßigkeiten im Rüstungsbereich waren bekannt. So berichteten die Zeitungen wochenlang über einen Prozess gegen Mitarbeiter der Kieler Reichswerft, die systematisch Waren von hohem Wert unterschlagen und zur privaten Bereicherung benutzt hatten.128 Denn gerade die Rüstungsproduktion stand wie wenige andere Sektoren für eine enge Liaison zwischen Staat und Wirtschaft, was die Korruptionsmöglichkeiten erhöhte. Bemerkenswerterweise stammten zahlreiche führende Mitarbeiter des Kruppschen Unternehmens aus der Ministerialbürokratie, was eine vertrauliche Zusammenarbeit erleichterte. So hatte der Direktoriumsvorsitzende Alfred Hugenberg zuvor im Preußischen Finanzministerium gearbeitet, Direktor Max Dreger war früher als Hauptmann Dezernent für Feuerwaffen im Kriegsministerium gewesen und der Aufsichtsratsvorsitzende und quasi-Besitzer Gustav Krupp von Bohlen und Halbach hatte seine Karriere ebenso im Auswärtigen Amt begonnen wie die Direktoren Eccius und Muehlon.129 Der Krupp-Angestellte im Berliner Büro des Unternehmens, Maximilian Brandt, der die vertraulichen Informationen aus der Bürokratie einholte, hatte früher in der Berliner Depotverwaltung der Artillerieprüfungskommission gearbeitet und dort die Lieferung und Verwendung des Artilleriematerials organisiert. Somit kam er genau aus jenem Amt, das maßgeblich die Aufträge koordinierte, die seinen neuen Arbeitgeber Krupp interessierten.130 Seine potentiellen Informanten kannte er vielfach von der gemeinsamen Ausbildung zum Feuerwerker, weshalb er den Posten überhaupt erhalten hatte.131 Gerade diese enge personelle Verflechtung förderte eine Vertrautheit zwischen Unternehmen und Bürokratie, die korrupten Praktiken ermöglichte. Der Resonanzboden für einen großen Skandal ergab sich auch aus der spezifischen Konstellation der Jahre vor Beginn des Weltkrieges. Einerseits bildete die SPD seit der Reichstagswahl 1912 die stärkste Fraktion und trat mit neuem Selbstbewusstsein gegen die massive Erhöhung der Rüstungsausgaben an, die der Reichstag 1912/13 intensiv diskutierte und die im hohen Maße Krupp begünstigten. Andererseits nahm Krupps öffentliche Präsenz im selben Jahr stark 127 128 129 130 131 Vgl. als Beispiel etwa: Otto Wiemer, Unlautere Machenschaften, in: Vossische Zeitung Nr. 199, 21. 4. 1913. Vgl. die täglichen Berichte in Vossische Zeitung Nr. 529, 10. 11. 1909. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 47, 21. 11. 1909. So bereits mit kritischem Gestus: Bernhard Menne, Krupp. Deutschlands Kanonenkönige, Zürich 1936, S. 273 f. Vgl. Personalakte Brandt in: HAK, WA 131/417. Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 450 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges zu. Insbesondere die pompöse „Jahrhundertfeier“ der Fried. Krupp AG unterstrich die enge, geradezu symbiotische Beziehung zwischen Unternehmen und Staat.132 Da hier Kaiser, Kanzler, Kabinettsmitglieder und Generäle in Essen zusammenkamen, erschien Krupp in der bürgerlichen Presse wie ein Teil des Staates. Im gleichen Jahr verstärkte zudem der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums, Alfred Hugenberg, sein (verbands-)politisches Engagement, indem er etwa als Vorsitzender des Vereins für Bergbauliche Interessen Parteispenden zentralisierte und die Agitation gegen die Sozialdemokratie intensivierte.133 Dies förderte Gegenreaktionen. Öffentlich gemacht wurden die korrupten Handlungen und Indiskretionen durch den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht. Ihm war die Wirkungsmacht des Marconi-Skandals im Jahr zuvor bestens bekannt. Liebknecht war kurz vor seinen öffentlichen Enthüllungen über Krupp in London gewesen und hatte vor Ort erfahren können, welche Sprengkraft die dortige Skandalisierung hatte. Unter anderem kam er hier mit J.T. Walton Newbold zusammen, der mit auflagenstarken Broschüren englische Rüstungsfirmen angriff.134 Zudem bestärkten sich 1913/14 die sozialistischen Parteien Westeuropas gegenseitig in ihrer Agitation gegen die Rüstungsindustrie, in deren Profitstreben sie einen wesentlichen Grund für die drohende Kriegsgefahr sahen.135 Liebknechts erfolgreiche Skandalisierung gegen Krupp, die ihn auch in den Nachbarländern berühmt machte, vertiefte diese Kooperation mit französischen und britischen Sozialisten und führte dazu, dass Liebknecht und Newbold gemeinsam eine Schrift über die „Internationale der Rüstungsindustrie“ vorbereiteten.136 Auch wenn beim Krupp-Skandal keine konkrete grenzübergreifende Zusammenarbeit nachweisbar ist, förderten die Reisen des Sozialdemokraten zumindest die Kenntnis der britischen Kampagnen. Das belastende Material erhielt Liebknecht allerdings nicht durch eine eigenständige investigative Recherche, sondern per Zufall. Ein im Streit entlassener Krupp-Angestellter namens von Metzen hatte ihm anonym Anfang November 1912 die Korruptionsvorgänge beschrieben und als Beleg 17 vertrauliche Berichte der Heeresverwaltung zugesandt, die intern an das Krupp-Direktorium weitergeleitet wurden.137 Für verschiedene Rüstungsaufträge beschrieben sie 132 133 134 135 136 137 Vgl. Klaus Tenfelde, „Krupp bleibt doch Krupp“. Ein Jahrhundertfest – Das Jubiläum der Firma Fried. Krupp AG in Essen 1912, Essen 2005; Gall, Krupp, S. 339. Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 54. Vgl. Heinz Wohlgemuth, Karl Liebknecht. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1975, S. 219. Vgl. hierzu für Frankreich: Paul B. Miller, From Revolutionaries to Citizens. Antimilitarism in France, 1870–1914, Durham und London 2002. Laschitza, Karl Liebknecht, S. 196. Anonym an Liebknecht o. D. (Abschrift), in: BAB/L, NY4001-41, sowie in: Erster Staatsanwalt an Justizminister 6. 2. 1913, in: GStA, HA I Rep. 84, 5a Bd. 1. Metzen selbst leugnete die Zusendung an Liebknecht vor Gericht und gab Brandt die Schuld. Allerdings stimmen die Berichte mit den heimlich kopierten Exemplaren von Metzen überein, und auch Metzens sonstiges Verhalten spricht klar für diese Annnahme. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 451 unter anderem die Preisangebote von Krupps Konkurrenten, deren Konstruktionspläne, den Ablauf ihrer Versuche und die Planungen des Ministeriums. Liebknecht stand mit diesem Krupp-Angestellten in keiner Beziehung. Dass ausgerechnet Liebknecht das Material erhielt, lag eher daran, dass er seit vielen Jahren als kompromissloser Gegner von Militarismus und Aufrüstung bekannt war, wozu insbesondere seine Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ und seine anschließende Verurteilung beigetragen hatten.138 Daher war von diesem jungen Abgeordneten vom linken SPD-Flügel am ehesten eine wirkungsmächtige Skandalisierung zu erwarten, mit der sich der ehemalige Krupp-Angestellte rächen wollte. Hätte Liebknecht das Material sofort im Reichstag oder Vorwärts veröffentlicht, wäre die Sprengkraft der Enthüllung vermutlich geringer gewesen. Der SPD-Abgeordnete reichte die Unterlagen jedoch vertraulich an den Kriegsminister weiter, verbunden mit dem Hinweis, dass hier Bestechung und Geheimnisverrat vorlägen.139 Auf diese Weise konnte Liebknecht sicher gehen, dass er nicht wie beim Kaiser-Inselskandal, wo er 1903 als Anwalt agiert hatte, einer Fälschung aufsaß, die zu einem Skandal gegen die SPD hätte führen können.140 Zudem konnte er die Ermittlung von Regierung und Justiz abwarten, um dann eventuell zusätzlich deren Untätigkeit anzuprangern. Tatsächlich reagierten das Kriegs- und das Justizministerium jedoch sofort mit intensiven Ermittlungen, da sie aus früheren Skandalen um den bevorstehenden öffentlichen Rechtfertigungsdruck wussten. Die Militärführung leitete die polizeiliche Observation von Krupps Geschäftsstelle ein und fing Krupps Post zwischen Berlin und Essen ab. Als sich dadurch der Verdacht auf den Verrat von Militärgeheimnissen erhärtete, wurden am 7. Februar 1913 der Kruppangestellte Brandt und mehrere Angehörige der Militärverwaltung verhaftet und bei der Essener Unternehmensführung, im Berliner Büro und bei der Heeresverwaltung umfangreiche richterliche Durchsuchungen und Beschlagnahmungen vorgenommen.141 Immerhin beschlagnahmten die Justizbehörden in Essen allein aus den letzten drei Jahren 741 Geheimberichte mit ähnlich vertraulichen Informationen aus der Militärbürokratie.142 Eine staatliche Protektion Krupps bestand in diesem Stadium des Skandals also nicht. Vielmehr kam es durch die Weiterleitung der Dokumente zu einer bemerkenswerten Zusammenarbeit 138 139 140 141 142 Vgl. einführend: Helmut Trotnow, Karl Liebknecht. Eine politische Biographie. Köln 1980, S. 90. Liebknecht an Heeringen 8. 11. 1912, zit. nach: Anklageschrift 11. 8. 1913, in: GStA, HA I Rep. 84, 5a Bd. 1. Vgl. Vorwärts 16. bis 18. 8. 1903 und Kap. V. 3, S. 330. Vgl. Löwenstein an Dewitz 6. 4. 1914, in: Historisches Archiv Krupp (HAK) WA 4/1672: 33 und Vermerk Krause 3. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672:1. Die falsche Datierung der Untersuchung auf September 1912, die sich mitunter bei kursorischen Erwähnungen in der Fachliteratur findet, beruht auf: Ernst Haux, Bei Krupp. Bilder der Erinnerung aus 45 Jahren von Finanzrat Dr. Ernst Haux, in: HAK, FAH 4 E 16. Laut Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 32. Im Prozess wird auch die Zahl 751 genannt. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 452 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges zwischen Sozialdemokratie und dem Kriegsministerium, die die Konservativen nach der Veröffentlichung anprangerten. Justizminister und Kriegsminister informierten dabei umgehend und fortlaufend Kaiser Wilhelm II., was die Brisanz unterstrich, die die Reichsleitung dem Fall beimaß. Sie sprachen dem Kaiser gegenüber explizit vom Verrat militärischer Geheimnisse durch verbrecherische Methoden und teilten ihm in drastischen Worten mit, dass der von Liebknecht übermittelte Verdacht gegen Krupp zutreffend sei und im Panzerschrank der Unternehmensführung Berichte gefunden worden waren.143 Die frühe und umfassende Einbindung des Kaisers sollte zweifelsohne verhindern, dass Wilhelm sich wie beim Capri-Skandal 1902 erneut mit zu großer Verve vor Krupp und gegen die „verleumderische“ Sozialdemokratie stellte und so den drohenden Korruptionsskandal um einen Monarchie-Skandal ergänzte.144 Stattdessen setzten Justiz, Reichsleitung und Unternehmensführung auf ein Stillschweigen: Die Offiziere und der Krupp-Angestellte wurden zwar verhaftet, aber dies wurde nicht öffentlich gemacht. Liebknechts Enthüllung im Reichstag richtete sich deshalb weniger gegen die Untätigkeit der Justiz als gegen die Geheimhaltung der Ermittlungsergebnisse. Der Zeitpunkt, zu dem der Sozialdemokrat sein Wissen dem Parlament präsentierte, war gut kalkuliert. Am 18. April 1913 diskutierte der Reichstag gerade den Wehretat. Um die öffentliche Meinung einzunehmen, setzten die Parteien auf unterschiedlichste mediale Strategien. Während die Nationalliberalen etwa über eine Sonderausgabe der Illustrierten Zeitung mit Militärfotos Stimmung machten, versuchte die SPD mit vielfältigen sensationellen Enthüllungen gegen die Erhöhung der Militärausgaben vorzugehen. Der Vorwärts veröffentlichte Dokumente über Preisabsprachen bei der Waffenproduktion, und Liebknecht beschrieb detailliert deutsche Rüstungsunternehmen, die sich wie Krupp „unpatriotisch“ durch Waffenlieferungen ans Ausland bereicherten und gezielt falsche Meldungen in der französischen Presse lancierten, um die deutsche Aufrüstung voranzutreiben.145 Schließlich enthüllte Liebknecht plakativ und zugespitzt, Krupp habe einen „Agenten“ in Berlin beschäftigt, „der die Aufgabe hatte, sich an die Kanzleibeamten der Behörden der Armee und der Marine heranzumachen und sie zu bestechen, um auf diese Weise Kenntnis von geheimen Schriftstücken zu erhalten, deren Inhalt die Firma interessiert.“146 Entscheidend für die erregte und intensive öffentliche Rezeption von Liebknechts Vorwurf war vor allem, dass er auf die laufenden Ermittlungen und Verhaftungen verweisen konnte. Dies beglaubigte seine Enthüllungen und zwang selbst die Konservativen, die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Liebknechts 143 144 145 146 Vgl. Kriegsminister an Wilhelm II. 6. 2. 1913 u. 7. 2. 1913; Justizminister an Wilhelm II. 7. 2. 1913 u. 13. 2. 1913, in: GStA, HA I Rep. 84, 5a Bd. 1. Vgl. zu Wilhelms skandalöser Essener Rede bei der Beerdigung von F. A. Krupp bereits Kap. II. 6. Vgl. zu dieser Interaktion zwischen Presse und Reichstagsreden: RT, XIII. Leg., I. Sess., 143. Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4910–4913. RT, XIII. Leg., I. Sess., 143. Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4911. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 453 Beschuldigung führte im Reichstag und in den Medien sofort zu einer polarisierten Debatte, die die breitere Öffentlichkeit über ein halbes Jahr intensiv beschäftigte. Kriegsminister von Heeringen gab in seiner knappen Entgegnung zwar die laufenden Ermittlungen zu, bestritt aber den Verrat von militärischen Geheimnissen und lobte die Verdienste Krupps. Um die Debatte zu deeskalieren, verwandte der Minister ebenso wie andere Repräsentanten der politischen Rechten eine Argumentationsfigur, die im Kaiserreich häufig bei Skandalen benutzt wurde: Da das Verfahren nicht abgeschlossen sei, dürfe man sich zu den Vorfällen nicht öffentlich äußern.147 Damit wurde die Justiz, und nicht die öffentliche Meinung, als einzige legitime Bewertungsinstanz beschworen, um die Anschuldigungen der Mitte-Links Parteien aufzufangen. Entsprechend defensiv kommentierte der Kriegsminister auch am nächsten Tag die gerichtliche Untersuchung im Reichstag: „Erstens geht sie mich nichts an, und zweitens weiß ich tatsächlich nicht, wie sie tatsächlich steht“.148 Gerade diese Mischung aus Unkenntnis, der Zurückweisung der Öffentlichkeit und der Preisung von Krupp erschien mittlerweile jedoch so unpassend, dass diese Reaktion maßgeblich zum Rücktritt des Ministers einige Monate später beitrug.149 Denn alle Parteien, von der Linken über die Nationalliberalen bis hin zur äußersten Rechten, betonten, man müsse, wenn die Vergehen zuträfen, mit „eiserner Strenge“ gegen sie vorgehen. Die kollektive Empörung des Reichstags gegen Rüstungsunternehmen ging sogar soweit, dass eine von den Nationalliberalen und vom Zentrum eingebrachte Resolution angenommen wurde, die forderte, „dass die Beschaffung des Kriegsmaterials tunlichst durch die reichseigenen technischen Institute erfolgen“ sollte.150 Damit wurde durch den Bestechungsskandal die sozialdemokratische Forderung nach einer vornehmlich staatlichen Rüstungsproduktion konsensfähiger. Ebenso musste die Reichsleitung eine von allen Parteien (außer den Konservativen) geforderte Enquete zur Untersuchung von Rüstungslieferungen zugestehen, in der Regierungs- und Parteivertreter sitzen sollten. Auch wenn die Kommission nicht das von der SPD verlangte Recht zur Zeugenbefragung im Sinne eines britischen Untersuchungsausschusses erhielt, war dies für sie ein Teilerfolg auf dem Weg zur Stärkung des Parlamentes. Allerdings bestand die Reichsleitung darauf, dass in ihr auch Fachleute aus der Wirtschaft einbezogen wurden, um eine Frontstellung der Parlamentarier gegen die Regierung und das Antlitz einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu vermeiden.151 Angesichts des drohenden Imageschadens reagierte auch Krupp umgehend. Der Direktoriumsvorsitzende Alfred Hugenberg fuhr sofort nach Berlin, um vor Ort und im Reichstag Einfluss auf die Journalisten und Politiker zu nehmen. 147 148 149 150 151 RT, XIII. Leg., I. Sess., 143. Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4914. Ebd., 144. Sitz., 19. 4. 1913, Bd. 289, S. 4926. Vgl. etwa als unmittelbare Kritik: Vossische Zeitung Nr. 198, 20. 4. 1913, S. 1. RT, XIII. Leg., I. Sess., 161. Sitz., 13. 6. 1913, Bd. 290, S. 5522. Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 454 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Hugenberg und die Friedr. Krupp AG versuchten in ihren öffentlichen Entgegnungen den ausbrechenden Skandal vor allem über vier Argumente zu deeskalieren: Erstens bezeichnete das Unternehmen die Praktiken als gängig, da Geschäftsstellen mit entsprechenden Kontakten in Berlin üblich seien. Zweitens versuchte Krupp, den Stellenwert des Vergehens mit dem Argument herunterzuspielen, es hätte nur ein „Bureaubeamter“ gegen „kleine Geschenke“ an „Subalternbeamte der Militärbehörden“ Informationen erhalten. Und drittens hob die Pressestelle die Unschuld der Unternehmensführung hervor, die erst von der Polizei von dem Fall erfahren hätte und sofort alle Unterlagen zur Verfügung gestellt habe. Auch Hugenberg betonte wider besseren Wissens, die Berichte seien so unbedeutend, dass er sie weder gelesen habe noch ihre Inhalte kenne.152 Viertens ließ die Fried. Krupp AG ebenfalls wider besseren Wissens über die Rheinisch-Westfälische Zeitung verbreiten, der fragliche Angestellte habe kein besonders hohes Einkommen und keine Tantiemen gehabt. Um die Lauterkeit der Veröffentlichung zu diskreditieren, meldete man den Journalisten, es handle sich um einen Racheakt eines wegen Betrugs entlassenen Angestellten von Krupp.153 Krupp konnte zur Verteidigung auf einen privilegierten Pressezugang zurückgreifen. Besonders die von der Schwerindustrie subventionierten Zeitungen, wie die Deutsche Zeitung, die Post und die Rheinisch-Westfälische Zeitung, griffen die Argumentation zuerst auf, die anderen Zeitungen druckten es nach. Die persönlichen Interviews und Erklärungen Hugenberg versuchten auch in den folgenden Tagen, die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens zu sichern.154 Von den Massenblättern setzte sich jedoch während der folgenden Prozesse allein der Berliner Lokal-Anzeiger für Krupp ein. Das Blatt scheute selbst vor direkten Angriffen gegen die Richter und Staatsanwälte nicht zurück, die diese explizit in den Sitzungen zurückwiesen.155 Diese hartnäckige Unterstützung Krupps durch das Blatt aus August Scherls Verlag erklärt sich freilich sowohl aus dessen offiziöser Beziehung zur Regierung als auch aus der finanziellen Unterstützung, die der Verlag durch von Hugenberg organisierte Wirtschaftsgelder erhielt.156 Sie zeigten einmal mehr, dass auch ein modernes Anzeigenblatt eben nicht „parteiunabhängig“ sein musste. 152 153 154 155 156 Vgl. Hugenbergs Interviews in: Berliner Lokal-Anzeiger 26. 4. 1913; Kölnische Zeitung 25. 4. 1913; Rheinisch-Westfälische Zeitung 25. 4. 1913; Neue Preussische Zeitung Nr. 191, 25. 4. 1913. Vossische Zeitung Nr. 198, 20. 4. 1913, S. 1; Neue Preussische Zeitung Nr. 183, 20. 4. 1913, S. 2. Zu diesen gezielten Indiskretionen, gegen die von Metzen klagte: Sello an Bell 27. 6. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 201. Vgl. zu diesem Schritt: Bohlen und Halbach 22. 5. 1913, in: GStA, 1 Rep 92-38. Vgl. Hugenbergs Interviews und Erklärungen in: Rheinische Westfälische Zeitung Nr. 488, 25. 4. 1913; Kölnische Zeitung Nr. 473, 25. 4. 1913; Berliner Lokal-Anzeiger 26. 4. 1913. Berliner Lokal-Anzeiger, 24. 10. 1913, 29. 10. 1913 und 6. 11. 1913. Vgl. die Unterlagen in Hugenbergs Nachlass: Bundesarchiv Koblenz, N 1231- 410 (Annoncenpacht- und Kommissionsverträge mit Scherl bis 1910). Generell zu Scherl: Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, S. 114–129. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 455 Abb. 13: Liebknecht im scheinbar aussichtslosen Kampf gegen Krupp. Quelle: KLADDERADATSCH Nr. 18, 4. Mai 1913. Die folgenden zwei Prozesse machten jedoch deutlich, dass das Unternehmen regelmäßig von bezahlten Indiskretionen profitiert hatte. Wie bei den meisten Skandalen konstruierten erst die Gerichtsverhandlungen ein umfassendes öffentliches Wissen über den Normbruch. Die erste Verhandlung vor dem Berliner Kriegsgericht Anfang August 1913 richtete sich gegen sieben Offiziere aus der Heeresverwaltung, die Krupp über Jahre hinweg mit geheimen Informationen versorgt hatten. Wie sich herausstellte, hatte das Berliner Büro der Fried. Krupp AG seit 1906 jährlich über 300 solcher Geheimberichte an das Essener Direkto- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 456 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges rium verschickt, die nach dem internen Telegrammcode „Kornwalzer“ hießen. Die Anklage lautete auf militärischen Geheimnisverrat, Bestechlichkeit und Ungehorsam gegen militärische Befehle in etwa 900 Fällen.157 Die zuständigen Direktoren von Krupp und der Berliner Bürovorsteher Brandt traten vor dem Militärgericht zwar nur als Zeugen auf, aber immerhin zeigte bereits dieser Prozess ihre Verwicklung. Denn nach Protesten gegen eine nicht-öffentliche Verhandlung erhielten gut ein Dutzend ausgewählter Journalisten Zutritt, um Legendenbildungen zu vermeiden.158 Sowohl die katholischen, liberalen und sozialdemokratischen Zeitungen als auch die konservativen und offiziösen Blätter druckten über mehrere Seiten recht wörtlich die Aussagen ab. Der Prozess zeigte ein erstaunlich geringes Unrechtsbewusstsein. Im Verhör gaben die angeklagten Offiziere bereitwillig ihre systematischen Indiskretionen zu, ohne dies als problematisch zu empfinden. Die Zahlungen und Geschenke von Krupp hätten sie nicht als Bestechung für ihre Informationen gesehen, sondern als gastfreundliche Gabe eines älteren Kameraden.159 Ebenso verteidigte sich der Krupp-Angestellte bei der Zeugenbefragung mit seiner Allwissenheit. Für ihn habe es in Berlin ohnehin keine militärischen Geheimnisse gegeben, und die Geschenke habe er nur aus Gutmütigkeit gemacht.160 Noch gewagter waren die Zeugenaussagen der Direktoren von Krupp. So sagten etwa die Direktoren Mouths und Rausenberger aus, die „Kornwalzer“ hätten nur gewöhnliche Informationen enthalten, die in keinem Fall zu einem materiellen Vorteil für das Unternehmen geführt hätten.161 Die Berichte hätten allenfalls zur Überprüfung von Kalkulationen gedient. Im Prozessverlauf wurde dies jedoch klar zurückgewiesen. Tatsächlich hatten die „Kornwalzer“ der Fried. Krupp AG deutliche Wettbewerbsvorteile beschert. Erstens führten sie Preisangebote von Konkurrenten wie der Phoenix oder der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik auf, so dass Krupp seine Preise leicht unter diese Margen senken konnte.162 Die dabei übermittelten tabellarischen Auflistungen belegen, dass die Offiziere nicht nur beiläufig Zahlen ausplauderten, sondern systematisch ganze Dokumente kopierten. Zweitens berichteten die „Kornwalzer“ sowohl über die Konstruktionen der Konkurrenz als auch über deren Vorführungen. Krupp erfuhr auf diese Weise technische Daten, Stärken und Schwächen der Umsetzung und die Einschätzungen der Offiziere.163 Drittens übermittelten die Schreiben, nach welchen Kriterien sich die Heeresverwaltung jeweils für bestimmte Produkte entschieden hatte. Das er157 158 159 160 161 162 163 Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2. Vossische Zeitung Nr. 381, 30. 7. 1913, S. 3; Vorwärts Nr. 195, 1. 8. 1913, S. 5. Vgl. Prozessprotokolle in: Vossische Zeitung Nr. 384, 31. 7. 1913, S. 1 ff.; Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2 bis ebd. 7. 8. 1913, Nr. 184, S. 3. Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 180, 2. 8. 1913, S. 4. Ebd. Vgl. etwa: Aktennotiz N.B. 2. 3. 1913, in: HAK, WA 4 1414: 6. Da die Kornwalzer selbst nicht überliefert sind, müssen ihre Inhalte vor allem aus den Gerichtsakten rekonstruiert werden. Vgl. etwa: Justizrat Gordon an Königliche Landgericht 10. 9. 1913, in: HAK, WA 4/1415. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 457 möglichte eine bessere Vorbereitung für spätere Angebote.164 Viertens erfuhr Krupp von Lieferschwierigkeiten der Konkurrenz, so dass die Firma im Bedarfsfall ihre Produktpalette darauf einstellen konnte.165 Und fünftens übermittelten die Berichte Informationen über die zukünftigen Bedürfnisse der Militärs. So enthielt ein „Kornwalzer“ Aktenstücke über die nötigen Lieferungen im Falle der Mobilmachung.166 Die durch die Berichte gesteigerte Gewinnmarge lässt sich zwar nicht beziffern, aber sie gaben Krupp einen breiten Informationsvorsprung, der gerade im Vorfeld der Kriegsmobilisierung und steigenden Rüstungsproduktion von großer Bedeutung war. Auch die äußerst geheime Übersendung, Aufbewahrung und Thematisierung belegte, dass das Krupp-Direktorium durchaus um ihre Brisanz wusste. Natürlich war es allgemein üblich, dass Unternehmensangestellte Kontakte zu öffentlichen Auftraggebern hielten und Informationen an die Firmenleitung übermittelten. Dementsprechend lassen sich auch in den Krupp-Akten andere Berichte von Mitarbeitern ausmachen, die Neuigkeiten oder Gerüchte meldeten.167 Die „Kornwalzer“ hatten jedoch eine völlig andere Qualität: Sie beruhten nicht auf vagen Andeutungen, sondern auf regelmäßigen, detaillierten Informationen aus der Verwaltung, die durch materielle Belohnungen erlangt wurden. Sie bestanden nicht nur aus beiläufigen mündlichen Mitteilungen, sondern aus abgeschriebenen Listen oder vorgelegten Geschäftsbüchern, die Brandt für seine Berichte erhielt. Insofern hatte die Aufdeckung dieses Amtsmissbrauchs tatsächlich das Potential für den bislang größten Bestechungsskandal im Kaiserreich. Der Prozess zeichnete juristisch und medial ein desaströses Bild des Unternehmens und der Bürokratie. Er führte zu einem ersten Kulminationspunkt des Skandals, der der symbiotischen Verbindung zwischen dem Staat und Krupp deutliche Grenzen setzte. So betonte ein Sachverständiger der Heeresverwaltung, es gäbe durchaus auch gegenüber Krupp militärische Geheimnisse und gerade die Preise und Konstruktionen der Konkurrenz seien aus gutem Grunde geheim. Ebenso sprach die Anklage von „unlautere[m] Wettbewerb“ und „Bestechung“.168 Insgesamt machte das Kriegsministerium in einem späteren Gutachten 32 „Gegenstände“ aus, „deren Geheimhaltung im Interesse der Landesverteidigung erforderlich ist“. Die Verurteilung erfolgte dementsprechend in fast allen Fällen wegen Bestechung in Verbindung mit der Preisgabe von militärischen Geheimnissen. Die Urteile für die sieben Offiziere lagen freilich deutlich unter der Forderung der Anklage und klar unter der zulässigen Haftstrafe von bis zu fünf Jahren (§ 332). Die Angeklagten erhielten nur zwischen sechs Monaten Gefängnis und drei Wochen Arrest, wobei das Urteil 164 165 166 167 168 Erklärung Eccius 15. 2. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 143f. Staatsanwalt 4. 6. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 154-156. Steinmetz an Muehlon 27. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672. Vgl. etwa die Meldung vom 17. 11. 1908 und 15. 1. 1909, in: HAK, FAH 4 E 58a. Ebd. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 458 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges lediglich in drei Fällen eine Dienstentlassung bedeutete. Das Gericht selbst bezeichnete diese Urteile ebenfalls als sehr milde im Hinblick auf den Ehrverlust, den das Heer und die Beamtenschaft erlitten hätten. Das Urteil war das Ergebnis eines Spagates, der den Prozess prägte: Er sollte einerseits eine deutliche Warnung an die Beamtenschaft und Offiziere sein, anderseits aber zeigen, dass es sich nur um einen kleinen Ausnahmefall handelte. Beides war jedoch kaum gleichzeitig zu vermitteln, weshalb sich auch die Presse über die milden Urteile empörte. Der Prozess machte öffentlich, wie korrupte Praktiken in der scheinbar unkorrumpierbaren preußischen Bürokratie verlaufen konnten. Für Verwunderung und Empörung sorgte zunächst, welche geringen Summen im Spiel waren. So spottete die auflagenstarke BZ am Mittag: „Das hat wohl niemand für möglich gehalten, daß man in Preußen richtiggehende Staatsgeheimnisse zu wahren Schleuderpreisen kaufen kann. Zehn bis zwanzig Mark und gelegentlich ein warmes Abendbrot im ‚Rheingold‘ hat Herr Brandt dem Zeugleutnant Schleuder und Genossen für interessante Nachrichten aus dem Ministerium der Landesverteidigung gezahlt.“169 Gerade im Vorfeld des Weltkrieges löste dies die Angst aus, ausländischen Agenten könnte ähnliches gelingen. Tatsächlich hatte der Krupp-Angestellte Brandt nur geringe, aber regelmäßig fließende Beträge zum Einholen der Informationen benötigt. Das Krupp-Direktorium überwies diese regelmäßig über eine dafür vorgesehene Sonderzulage zu seinem hohen Gehalt.170 Einige Offiziere erhielten nur Essenseinladungen oder Theaterkarten, andere bekamen zudem Beträge von zehn bis zwanzig Mark für besonders interessante Nachrichten. Außerdem machte Brandt zu Weihnachten regelmäßig Geldgeschenke von bis etwa 100 Mark pro Person, was immerhin dem halben Monatslohn vieler Offiziere entsprach.171 Die zudem gewährten Darlehen von etwa 1 000 Mark, die Brandt vergab, wurden in der Regel zurückgezahlt.172 Wie die anfangs noch geführten Einzelaufstellungen Brandts belegen, kam er dementsprechend bei seinem Kontakt mit mindestens acht Zeugoffizieren mit durchschnittlich 200 bis 250 Mark pro Monat aus.173 Gerade die beiläufige Vergabe kleiner Begünstigungen im Kontext eines sorgfältig angebahnten Vertrauensverhältnisses dürfte den dauerhaften Erfolg der korrupten Beziehung erklären. Die kleinen Summen wirkten auf die Beteiligten nicht wie Bestechungen, sondern wie eine freundliche Unterstützung eines ver169 170 171 172 173 Berliner Zeitung Nr. 181, 5. 8. 1913. Sein Verdienst von 12 000 Mark bestand aus 6 500 Mark Grundgehalt, 2 000 Mark Gratifikationen und 3 500 Mark Pauschale für seine „Sonderausgaben“. Metzen an Eccius 7. 9. 1909 (Abschrift in Urteil), in: HAK, WA 4/1415: 271; Vermerk Marquardt 14. 9. 1909, in: HAK, WA 131/417; sowie: HAK, WA 4/1415:176. Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 180, 2. 8. 1913, S. 3. Urteilsbegründung in: HAK, WA 4/1415. Abwegig ist daher die von William Manchester ohne Quellenbeleg angeführte Behauptung, acht „Marineoffiziere“ hätten 50 000 Mark erhalten und ein Offizier der Heeresartillerie 13 000 Mark; Manchester, Krupp, S. 269. Schütz an Rötger 26. 4. 1907, in: HAK, WA 131/417. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 459 trauten Kollegen. Die Vertrauensbildung, und weniger die materielle Vorteilsnahme, erklärt somit den korrupten Akt. Dagegen zeigte sich bei dem zweiten großen Prozess, der sich nun gegen das Unternehmen richtete, wie stark die Justiz Krupp begünstigte, um dem Skandal einzudämmen. Da die Ermittlungen belegten, dass zahlreiche Direktoren von dem korrupten Verhalten gewusst und es durch Extrazahlungen an Brandt gefördert hatten, richtete sich die Anklageschrift zunächst auch gegen die KruppDirektoren Hugenberg, Rötger, Haux, Eccius und Muehlon sowie den stellvertretenden Direktor Marquardt.174 Immerhin sah das Strafgesetzbuch für die aktive Bestechung Gefängnisstrafen ohne eine nähere Eingrenzung vor (§ 333). Tatsächlich ging der zweite Prozess für das Unternehmen denkbar glimpflich aus. So erreichten Krupps Anwälte, dass neben Brandt nur der Krupp-Direktor Eccius „wegen Bestechung, Verrat militärischer Geheimnisse und Beihülfe zur Bestechung“ angeklagt wurde. Der Direktoriumsvorsitzende Hugenberg und die anderen zunächst beschuldigten Direktoren mussten abermals nur als Zeugen aussagen, da ihre Verteidiger im Vorfeld deren Unkenntnis über die Vorgänge vermitteln konnten. Die Justiz akzeptierte großzügig, die Direktoren hätten nicht davon ausgehen können, „daß bei preußischen Militärbeamten [...] Bestechungen, seien es auch nur indirekte, möglich seien“.175 Dass Direktor Eccius stellvertretend die alleinige Verantwortung für das Direktorium vor Gericht übernahm, lässt sich vermutlich mit dem Gesundheitszustand des 45-jährigen erklären: Da er zunehmend kränkelte, schien er sich ohnehin aus dem Berufsleben zurückziehen zu wollen. Von staatlicher Seite wurde schon vorher signalisiert, dass man trotz aller Anschuldigungen auf Krupps Seite stehe. Durch die Verleihung des Roten Adlerordens an Gustav Krupp von Bohlen und Halbach unterstrich Kaiser Wilhelm im Sommer 1913 sein Vertrauen in das Unternehmen. Auch Tirpitz betonte in einem Brief an Bohlen und Halbach vor dem Prozess, „Krupp und die Marine gehören historisch zusammen.“176 Diese Verbundenheit lässt sich nicht allein mit der ökonomischen Stellung von Krupp erklären. Vielmehr ging es darum, einen moralischen Sieg der Sozialdemokratie über die Monarchie, Bürokratie und Wirtschaft zu verhindern. Ähnlich argumentierte auch Bohlen und Halbach: Es sei nötig „selbst wenn alles, was die Sozialdemokraten behaupten, wahr wäre, [...] trotzdem für eine Firma wie die Kruppsche Partei zu ergreifen und den Sozialdemokraten nicht den billigen Triumph zu lassen, den sie jetzt scheinbar vor aller Welt davongetragen haben.“177 174 175 176 177 Staatsanwaltliche Unterlagen 4. 6. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 163; außer Verfolgung waren dagegen zu setzen: Dreger, von Dewitz und Metzen. Justizrat Gordon an Königliche Landgericht 10. 9. 1913, in: HAK, WA 4/1415. Brief vom 5. 10. 1913, zit. nach: Michael Epkenhans, Grundprobleme des Verhältnisses von Staat, Militär und Rüstungsindustrie in Deutschland, 1871–1933, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 81–112, S. 82. Krupp von Bohlen Halbach an Bueck 19. 6. 1913, in: HAK, FAH 4 E 328. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 460 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges Mit dem Verlauf der Verhandlung war das Unternehmen ebenfalls zufrieden.178 Das Gericht akzeptierte ihre Verteidigung, die Informationen hätten vor allem zur Senkung der Preise beigetragen und damit dem Staat keinen Schaden und dem Unternehmen keinen zusätzlichen Profit zugefügt. Statt von Korruption zu sprechen, führte die Verteidigung den Begriff „Schwatzhaftigkeit“ ein. Das Besondere wurde so in das Alltägliche überführt, der Vertrauensbruch in eine Vertrauensseligkeit. Quasi ein Schuldeingeständnis war auch díe offensiv vorgetragene Verteidigung, Krupps Konkurrenz hätte genau die gleichen Methoden angewandt und auch bei Krupp spioniert. Diese Strategie mochte Krupp entlasten, aber ihre Verbreitung über die Medien dürfte zugleich dazu beigetragen haben, das Vertrauen in die Unternehmenskultur insgesamt zu untergraben. Darüber hinaus konnte Krupp durch statistische Berechnungen recht erfolgreich die Bedeutung der „Kornwalzer“ herunterspielen. Danach hätten die ausgeschriebenen Lieferungen an die preußische Heeresverwaltung, die die Berichte beträfen, nur 0,15% des Gesamtumsatzes ausgemacht und wären somit irrelevant.179 Die nüchternen Zahlen verschleierten freilich, dass die Informationen über die Konkurrenz und die Bedürfnisse des Heeresministeriums einen viel größeren Stellenwert hatten, der sich nicht in direkten Gewinnmargen zeigen ließ. Ansonsten betonten die Krupp-Direktoren durchweg ihre Erinnerungslücken und behaupteten, sie selbst hätten die von ihnen abgezeichneten Geheimberichte nicht gelesen.180 Obgleich das Gericht das Unwissen der Direktoren und die geringe Bedeutung der Berichte zurückwies, fiel auch das Urteil denkbar milde aus. Brandt wurde nach 13 Verhandlungstagen wegen „fortgesetzter Bestechung“ zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, die mit der Untersuchungshaft bereits als verbüßt galten. Direktor Eccius wurde wegen „Beihülfe zur fortgesetzten Bestechung“ zu 1 200 Mark Geldstrafe verurteilt, während der Staat die Verfahrenskosten übernahm.181 Die geringe Höhe der Bestechungsgelder und die Ansicht, dass der Geheimnisverrat weder zur Preiserhöhung noch zum unbefugten Verrat von Militärgeheimnissen geführt hätte, galten als strafmildernd. Eine weiterführende Ermittlung über den Fall hinaus blockte das Gericht ab. So schnitt es Karl Liebknecht bei seiner Zeugenvernehmung sofort das Wort ab, als er andeutete, Brandt habe auf ähnliche Weise mit dem Reichsmarineamt verkehrt und Krupp besteche ausländische Zeitungen.182 Dem Gericht ging es vielmehr darum, den Vertrauensverlust in die Beamtenschaft, das Militär und das Unternehmertum einzudämmen, ohne selbst einen Reputationsverlust zu erleiden. Deshalb diskutierte es äußerst ausführlich die gesellschaftliche Bedeutung des 178 179 180 181 182 Vgl. Berichte wie Klöpfer an Vielhaber 28. 10. 1913 und Antwort 29. 10. 1913, in: HAK, WA 4/1415: 214. Auflistungen in: HAK, FAH 4 E 58a. Aussage in Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 262; Prozessprotokoll in Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 259, 2. 11. 1913, S. 7. Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 214. Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 261, 5. 11. 1913, S. 2. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 461 Bestechungsfalles. In der Urteilsverkündung verbreitete es, die Untersuchung habe gezeigt, dass „kein Makel auf unser deutsches Beamtentum im allgemeinen fällt“.183 Gerade die bürgerliche Presse sah dies als das entscheidende Urteil. Die Bedeutung des Falles verdichtete sich in der Öffentlichkeit und vor Gericht in der Frage, ob ein „Panama“ vorliege. Damit näherte sich der Skandal seinem Ausgangspunkt. Bereits Liebknecht hatte bei seiner Enthüllung im Reichstag mit dem Vorwurf Emotionen ausgelöst, „Es handelt sich hier um ein Panama, schlimmer als Panama.“184 Damit spielte er, wie viele Skandale zuvor, auf den damals weltweit bekanntesten Bestechungsskandal an, der 1892/93 Frankreich erschüttert hatte und seitdem auch in Deutschland ein geflügeltes Wort für Korruption in größerem Umfange geworden war. Sowohl die Gerichte als auch die bürgerliche Presse stritten nun immer wieder darüber, ob von einem „Panama“ zu sprechen sei. So begründet das Kriegsgericht die Öffentlichkeit des Prozesses damit, „das Wort Panama, wenn irgend möglich, auszumerzen.“185 Der Verhandlungsführer verlas bei der Anklage erneut die entsprechende Panama-Passage aus Liebknechts Rede und stellte sie quasi als Leitfrage zur Debatte.186 Auch die Verteidigung argumentierte von Beginn an, es läge „kein Panama“ vor: „Unter Panama versteht man die Käuflichkeit höherer Stellen, davon ist hier nicht die Rede.“ „Hier handelt es sich um feile Schreiberseelen, die beim Biertopf nicht das Maul halten konnten.“187 Die Anklage kam trotz aller Vorwürfe schließlich ebenfalls zu dem Befund, „daß ein Panama nicht vorliegt“. Zugleich warf der Kriegsgerichtsrat Liebknecht vor, er habe durch den PanamaVorwurf das Ansehen der Heeresverwaltung erheblich herabgesetzt, da bisher „Machenschaften, wie sie in anderen Ländern der Verwaltung nachgesagt werden, im preußischen Beamtentum und im deutschen Heere nicht gang und gäbe waren.“ Auch in der Urteilsbegründung hieß es, „Unter Panama versteht das Gericht Korruption schlimmster Sorte.“188 Dies sei nicht der Fall, da es sich um wenige untergeordnete Personen handele, die Mitteilungen gegen kleine Beträge gemacht hätten. Deshalb sprach das Gericht sogar von „einem glücklichen Ausgang des Prozesses, weil ein ‚Panama‘ nicht aufgedeckt worden sei“.189 Die bürgerliche Presse schloss sich erleichtert diesem Deutungsmuster an, um einen Schlussstrich zu ziehen. Warum kulminierte die Korruptionsdebatte ausgerechnet in dem Wort „Panama“? Der Begriff war seit zwei Jahrzehnten ein allgemeines Synonym für den größtmöglichen Skandal, und wurde von den Zeitgenossen wesentlich 183 184 185 186 187 188 189 Urteilsverkündung Neue Preussische Zeitung Nr. 527, 9. 11. 1913, S. 9. RT, XIII. Leg., I. Sess., 144 Sitz., 19. 4. 1913, 4926. Vossische Zeitung Nr. 394, 6. 8. 1913, S. 4. Prozessprotokoll in: Vossische Zeitung Nr. 391, 4. 8. 1913, S. 2; Norddeutsche Allgemeine Zeitung 6. 8. 1913 Nr. 183, S. 3. Prozessprotokoll in: Vossische Zeitung Nr. 393, 5. 8. 1913, S. 2 und Vorwärts 6. 8. 1913 Nr. 200, S. 6. Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 184, 7. 8. 1913, S. 3. Vossische Zeitung Nr. 394, 6. 8. 1913, S. 1 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 462 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges häufiger aufgegriffen als etwa der heute bekannteste französische Skandal, die Affäre Dreyfus. Nicht allein Korruption, sondern alle Formen von Machtmissbrauch wurden in der öffentlichen Debatte mit dem assoziationsreichen Wort Panama angeprangert, das eine breite Verschwörung suggerierte und gerade deshalb so umkämpft war.190 Panama stand dabei nicht allein für den heute benutzten Begriff „Bananenrepublik“, sondern war vor allem eine Bezeichnung für die französischen Verhältnisse im Vorfeld der Dreyfus-Affäre, von denen sich gerade die preußische Verwaltung in jeder Hinsicht abgrenzen wollte. Im Hinblick auf den französischen Panama-Skandal 1892/93 galt es vor allem zu belegen, dass keine Regierungsmitglieder involviert waren. Von ihrem Ausmaß war die Kornwalzer-Affäre tatsächlich in keiner Weise mit dem Panama-Skandal zu vergleichen. So waren weder Minister, Abgeordnete oder Journalisten bestochen worden, noch ging es um hohe Bestechungssummen. Dennoch, und das war entscheidend, erreichte die öffentliche Empörung 1913 ein vergleichbares Ausmaß, sei es, weil die Maßstäbe andere waren, sei es, weil die Berichte aus Frankreich derartiges prinzipiell auch für Deutschland möglich erschienen ließen. Der Begriff „Korruption“ blieb hingegen in dem Skandal wenig gebräuchlich. In den Debatten um den Krupp-Skandal sprachen die Beteiligten vornehmlich von „Schmierereien“ oder „Bestechungen“. Gängiger war das Wort vornehmlich bei der Linken. So sprach der Vorwärts von einem „ganzen Korruptionssystem“.191 Die Erklärungen für die Ursprünge der Korruption divergierten erwartungsgemäß in den Medien, standen aber insgesamt im Zeichen einer gewissen Kapitalismuskritik. Während die linke Presse die Korruption explizit als Folge des Kapitalismus interpretierte und deshalb eine rein staatliche Rüstungsproduktion forderte, erklärte die konservative Presse das „Schmiergeldwesen“ als ein Zeichen des zunehmenden „Amerikanismus“. Um dem Skandal trotz der Nichtbeteiligung von Juden antisemitisch zu interpretieren, verband die konservative „Kreuzzeitung“ dies mit der Behauptung, der Fall wäre nicht angeklagt worden, wenn es um „Herrn Cohn“ ginge.192 Eine große Übereinstimmung zwischen der Presse und dem Gericht gab es bei der Bewertung der bestochenen Staatsdiener, die als verführte Opfer eines geschickt agierenden Unternehmensangestellten gesehen wurden.193 Die Ehre des Beamten wurde damit über das Unternehmen gestellt, obwohl beide prinzipiell die gleiche Schuld traf und das Fehlverhalten der Staatsdiener schwerer wog. 190 191 192 193 Vgl. die bereits oft angeklungene Diskussion des Wortes „Panama“ bei den unterschiedlichsten Normbrüchen: Dem Polizeiskandal um Tausch (Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896, Spectator 12. 12. 1896, Tägliche Rundschau 6. 6. 1897), den Kolonialskandalen 1906 (Berliner Tageblatt Nr. 383, 31. 7. 1906; BZ am Mittag Nr. 186, 10. 8. 1906) oder auch bei den Skandalen um die Vorwürfe, F. A. Krupp und Eulenburg seien homosexuell (Vorwärts Nr. 293, 16. 12. 1902; Neue Preussische Zeitung 4. 11. 1908, abends, S. 2). Vorwärts Nr. 195, 1. 8. 1913 S. 5. Neue Preussische Zeitung Nr. 363, 6. 8. 1913, S. 1 f. Vgl. selbst die ansonsten kritische Vossische Zeitung Nr. 384, 31. 7. 1913, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 463 Welche Folgen hatte der Skandal? Trotz der milden Urteile führte er zu einer Diskreditierung tragender Säulen des Kaiserreiches. Durch die ausführlichen und kritischen Presseberichte verloren die preußische Bürokratie, das Militär und Krupp massiv an Ansehen. Gerade in Verbindung mit der sich anschließenden Zabern-Affäre, bei der deutschen Offizieren die Misshandlung von Elsässer Rekruten vorgeworfen wurde, bildeten sie eine schwere Niederlage für die Eliten des Kaiserreichs, insbesondere für das Kriegsministerium. Während sich die politische Rechte, wie bei allen Skandalen, zugleich um einen Ansehensverlust Deutschlands im Ausland sorgte, sahen sich die Mitte-Links-Parteien und insbesondere die Sozialdemokratie durch ihre öffentlichen Anklagen gestärkt. Personelle Konsequenzen hatte die Kornwalzer-Affäre vor allem für den Kriegsminister von Heeringen. In der Presse waren bereits unmittelbar nach Liebknechts Enthüllungen im Reichstag entsprechende Rücktrittsgerüchte aufgekommen, da Heeringen die Beschuldigungen schlecht gemeistert hatte.194 Nachdem von Heeringen nur mit Mühen die Erhöhung der Militärausgaben durchgebracht hatte, war sein schwaches Krisenmanagement ein weiterer Sargnagel für seine Karriere. Auch die politische Rechte sparte nicht mit einer harten Kritik am Kriegsminister und dem Kriegsministerium insgesamt, die verantwortlich für das Ausmaß des Skandals seien.195 Nach seinem Rücktritt sprachen selbst regierungstreue Blätter wie die Leipziger Neuesten Nachrichten davon, dass Heeringens „parlamentarische Entwicklung eine ununterbrochene Kette von Blamagen war, dessen letzte und größte an den Namen Krupp anknüpfte“.196 Damit konnte die von der SPD angestoßene Kampagne trotz der fehlenden Ministerverantwortlichkeit immerhin zu einem Ministersturz beitragen. Zudem löste auch dieser Skandal Gesetzesreformen aus, um die Handlungsbereitschaft der Regierung zu unterstreichen und Wiederholungsfälle zu verhindern. Bereits ein halbes Jahr später, am 3. Juni 1914, trat eine Novelle über den Verrat militärischer Geheimnisse in Kraft, die das Strafmaß deutlich herauf setzte. Darüber hinaus wurde sogar die Veröffentlichung schwebender Ermittlungen über Verstöße gegen das Gesetz mit bis zu einem Jahr Haft bestraft, um gegen derartige Skandalisierungen vorgehen zu können.197 Auch wenn diese Novelle im Zeichen des wachsenden Misstrauens im Vorfeld des Krieges stand, war sie doch eine Antwort auf den Krupp-Skandal. Um Gesetzestreue zu zeigen und Risiken zu vermeiden, ließ die Fried. Krupp AG das neue Gesetz überall 194 195 196 197 Vgl. Germania Nr. 183, 21. 4. 1913. Zur Rhetorik der konservativen Kritik vgl. als Quelle: Zimmermann, Prozeß gegen Brandt, S. XI. Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 187, 6. 7. 1913 § 11 Reichs-Gesetzblatt 3. 6. 1914 Nr. 32 (1914) S. 195–199, S. 198. Selbst der Geheimnisverrat ohne den Vorsatz, die Sicherheit des Reiches zu gefährden (was in dem Skandal der Fall war), wurde hier mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft, ebenso, wie im Skandal vorgefallen, die Beschaffung der Kenntnisse mit bis zu drei Jahren. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 464 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges aushängen, und jeder Angestellte musste per Unterschrift die Kenntnisnahme bestätigen.198 Im Unterschied zu Großbritannien blieb zwar erneut eine parlamentarische Untersuchung des Vorganges aus, aber der Skandal verhalf immerhin zu bemerkenswerten Ansätzen. So setzte die Regierung eine von der Reichstagsmehrheit geforderte „Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen“ ein. Gleichzeitig blockierte sie jedoch eine weiterführende Untersuchung von Missständen bei Rüstungslieferungen.199 Um dies sicherzustellen, lehnte die Regierung die von der SPD geforderte Beteiligung Liebknechts ab, da die Kommission ein „unparteiisches objektives Organ“ sein solle, und schlug als SPD-Mitglieder mit Gustav Noske und Albert Südekum zwei Vertreter des rechten Parteiflügels vor.200 Die SPD verzichtete daraufhin im November 1913 ganz auf eine Beteiligung an der Kommission, was deren kritisches Potential weiter schmälerte. In der Kommission diskutierten die bürgerlichen Abgeordneten mit den Regierungs- und Unternehmensvertretern die Preise und Verflechtungen der Rüstungsindustrie sowie Möglichkeiten ihrer Verstaatlichung. Trotz des Engagements von Matthias Erzberger, der auf gemäßigte Weise Liebknechts Rolle übernahm, verloren sich die Berichte aber im Ergebnislosen. Die Regierungsvertreter setzten weiter auf Krupp: Andere Konkurrenten hätten nicht genügend Erfahrung, keine vergleichbare Vertrauensstellung, und selbst Unternehmen wie Ehrhardt und die staatlichen Institute würden oft nicht an Krupps Qualität heranreichen.201 Die Bildung einer gemischt-wirtschaftlichen Produktion konnte Krupp umgekehrt mit dem Hinweis auf den Verlust von 100 000 Arbeitsplätzen und den Anschlussverlust an internationale Rüstungsstandards abwenden. Selbst der linke Zentrumsflügel unter Erzberger rückte von der Staatsproduktion 1914 ab und stellte sich gegen die fortgesetzte Agitation der SPD.202 Innerhalb des Unternehmens hatte der Skandal kaum Konsequenzen. Die Rüstungsaufträge boomten 1914 durch die expandierende Aufrüstung und die folgende Mobilmachung, und die Führungsspitze veränderte sich durch den Skandal kaum. Alfred Hugenberg blieb bis zum Kriegsende Vorsitzender des Direktoriums, und in der Führung schied niemand wegen des Skandals aus. Lediglich der verurteilte Direktor Eccius trat nach dem Prozess aus dem Unter198 199 200 201 202 Kruppsche Mitteilungen 30. 6. 1914, in: HAK, WA 41/5-7. So äußerte der Staatssekretär des Inneren, Clemens von Delbrück, bereits in einer Vorbesprechung mit Vertretern der Ministerien: „Die Verhandlungen [in der Kommission, F.B.] müssen m. E. von vornherein darauf angelegt werden, daß eine Erörterung darüber, ob Mißstände bei Rüstungslieferungen vorliegen, ausgeschieden und im wesentlichen allgemeine Fragen wirtschaftlicher Natur erörtert werden. Dies wird dadurch erleichtert werden, daß ich die Führung der Verhandlungen übernommen habe. [...] Wenn Fragen erörtert werden, dann wird das Ergebnis sein, daß keine angeblichen Mißstände als solche zur Erörterung gelangen.“ Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13. Aufzeichnung 15. 10. 1913, in: BAB/L, N 2176-13. Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13. Zu der weiteren Diskussion in der Kommission ab 1914 vgl. bereits Epkenhans, Flottenrüstung, S. 377–389. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp 465 nehmen.203 Sein weiterhin äußerst gutes Verhältnis zur Friedr. Krupp AG legt nahe, dass dieser Entschluss freiwillig und mit einer gütlichen Einigung geschah.204 Die in dem Korruptionsfall verwickelten Mitarbeiter des Unternehmens wurden intern allesamt äußerst großzügig abgefunden, um ein Wiederaufflammen der Vorwürfe zu verhindern. Bei Eccius übernahm die Fried. Krupp AG die Geldstrafe und alle anderen „Auslagen“, die durch den Prozess entstanden seien.205 Ebenso bekam der ehemalige Direktor Marquardt, der die Zulage für Brandt ausgehandelt hatte, alle Auslagen erstattet.206 Das Unternehmen versuchte so Konflikte zu vermeiden, durch die weitere interne Informationen an die Öffentlichkeit hätten kommen können. Am bemerkenswertesten war jedoch die Versorgung des Krupp-Angestellten Brandt, dessen korrupte Angebote die ganze Affäre ausgelöst hatte. Die Unternehmensführung bemühte sich, Brandt durch eine hohe Abfindung loyal zu stimmen, nicht an Konkurrenzfirmen zu verlieren „und in der Hand zu behalten“.207 Schließlich wurde im nächsten Jahr eine äußerst großzügige Entschädigung von insgesamt rund 65 000 Mark ausgehandelt, die er verdeckt erhielt.208 Brandt verpflichtete sich dafür, „keine neue Stellung anzunehmen, die der Firma nicht zusagt.“209 Um sein Wohlwollen zu bewahren, bemühte sich der Anwalt von Krupp noch lange Jahre um ihn. Er verschaffte Brandt eine neue Stellung beim Hanfverband210 und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass Brandts Straftaten im Zuge der Amnestie zum Kaisergeburtstag 1916 per Sondergenehmigung aus dem Strafregister gelöscht wurden.211 Gleichzeitig stieg Brandt zum Leiter der Hanfabrechnungsstelle auf, die vom Kriegsministerium geschaffen wurde.212 Damit erreichte er abermals eine Position, die zwischen Verwaltung und Wirtschaft vermittelte. Noch im Inflationsjahr 1923 bemühte sich die Fried. Krupp AG um eine Stellung für Brandt und gewährte ihm eine einmalige Zahlung.213 Auch bei den verurteilten Offizieren beobachtete das Unternehmen die weiteren Karriereverläufe, um 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 Eccius an Vielhaber 28. 11. 1913, in: HAK, WA 4/1416: 26 und Vielhaber an Loewenstein 29. 2. 1916, in: HAK, WA 4/1416: 59. Vgl. die Korrespondenz in: HAK, FAH 4 C 239. Direkte Hinweise auf die Abfindungssumme fanden sich hier allerdings nicht. Gordon an Vielhaber 2. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1416: 62. HAK, WA 4/1416: 4. Eccius an Vielhaber 28. 11. 1913, in: HAK, WA 4/1416: 25; Muehlon an Loewenstein 17. 11. 1913, in: HAK, WA 131/417. Brandt bekam sein Gehalt für 1 ½ Jahre und Extra-Gratifikationen von jährlich 1 000 Mark für zehn Jahre, die sein Vertrag noch lief, auf einmal gutgeschrieben (30 000 Mark). Zudem zahlte die Firma 35 000 für Verluste, die Brandt angeblich beim Verkauf seines Hauses hatte; Schickler an Fried. Krupp AG, 14. 4. 1914, in: HAK, WA 131/417. Direktorium Fried. Krupp, 10. 12. 1913, in: HAK, WA 131/41. Loewenstein an Vielhaber, 11. 6. 1914, in: HAK, WA 131/417. Dies gelang, obwohl Brandts Verurteilung erst zwei Jahre her war und die Amnestie eigentlich eine Zehn-Jahres-Regelung vorsah; Loewenstein an Vielhaber 8. 3. 1916, in: HAK, WA 4/1416: 124; Anschreiben Erster Staatsanwalt 6. 6. 1916, in: HAK, WA 131/615. Loewenstein an Vielhaber 28. 1. 1916, in: HAK, WA 4/1416: 117. Vielhaber an Baur 23. 8. 1923, in: HAK, WA 131/417. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 466 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges sich abzusichern. Der Krieg ermöglichte den verurteilten Männern der Militärverwaltung ebenfalls einen Neuanfang, da sie trotz des eingeleiteten ehrengerichtlichen Verfahrens bei Kriegsausbruch eingezogen wurden.214 Zudem sorgte das Unternehmen für die Vernichtung des Beweismaterials. Das Direktorium drängte nach dem letzten Prozess auf eine schnelle Rückgabe der Kornwalzer, „damit wir sie hier unter Aufsicht verbrennen“. Dies sei nötig, da „sie im Interesse der Landesverteidigung unbedingt geheimgehalten werden müssen“.215 Auch wenn ihr Anwalt empfahl, mit der Verbrennung noch etwas zu warten („Man kann ja doch nicht wissen, was etwa Herr Liebknecht oder sonst jemand noch bringt“216), fielen die Berichte offensichtlich schnell der Vernichtung anheim. Der Skandal dürfte zudem auch eine fundamentale Umstrukturierung der Medien mit gefördert haben. Bei dem Skandal hatte Alfred Hugenberg wie nie zuvor die Macht der Presse zu spüren bekommen. Diese Erfahrung dürfte Hugenbergs Entschluss gefördert haben, sogleich nach der Affäre mit einem schwerindustriellen Kreis die „Ausland GmbH“ als eine Holdinggesellschaft zu gründen. Dieser Vorläufer der späteren „Allgemeinen Anzeigen GmbH“ (AlA) versuchte über Anzeigen die Tagespresse zu beeinflussen, was sich vor allem gegen die Anzeigen-Expedition des liberalen Verlegers Rudolf Mosse richtete. Institutionell war sie zusammen mit dem zeitgleich eingefädelten Kauf des Scherl-Verlages der Beginn von Hugenbergs späterem Medienimperium.217 Liebknecht bemühte sich, seine Kampagne gegen den Militarismus über die Aufdeckung von Korruption fortzuführen. So verteidigte er kurz nach dem Krupp-Prozess einen ehemaligen Angestellten von Siemens-Schuckert vor Gericht, der das Unternehmen mit Firmenbriefen erpresst hatte, welche die Bestechung von hohen japanischen Offizieren und Beamten nachwiesen, um gute Preise und Monopole zu erreichen.218 Nicht minder brisant war seine gleich darauf folgende Enthüllung, ein Geschäftsführer des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie“ habe für 40 000 Mark Professorentitel gehandelt.219 Die Kornwalzer-Affäre hatte damit einen dreifachen Effekt: Sie ermutigte Liebknecht, der Sozialdemokratie über Prozesse und Enthüllungen Aufmerksamkeit zu sichern; sie war für Firmen eine Bedrohung, da sie um Nachahmungsfälle bei scheidenden Angestellten fürchten musste; und sie bestärkte die deutschen Gerichte darin, möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit hart gegen Enthüller vorzugehen, während sie das Ansehen der deutschen Unternehmen zu schützen suchten. So wurde der ehemalige Siemens-Angestellte mit zwei Jahren Haft bestraft, während die entsprechenden Briefe des Unternehmens nicht vorgelesen 214 215 216 217 218 219 Loewenstein an Vielhaber 11. 8. 1914 und 20. 11. 1914, in: HAK, WA 4/1416: 101 u. 103. Direktorium an Loewenstein 27. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672:6. Gordon an Dewitz 11. 3. 1914, in: HAK, WA 4/1672:21. Vgl. zum Aufbau dieses Medienimperiums: Dankwart Guratzsch, Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, Düsseldorf 1974, S. 183–343. Vossische Zeitung Nr. 36, 21. 1. 1914, S. 15, Vorwärts 21. 1. 1914, S. 6. Vorwärts 20. 5. 1914, S. 1, mit Abdruck eines belastenden Briefes. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 4. Zwischenfazit 467 werden durften. Wie im Fall Krupp ließ sich diese Geheimhaltung jedoch durch das Zusammenspiel von aktiven Parlamentariern und Journalisten nicht mehr aufrechterhalten. Liebknecht kündigte auch in diesem Fall in parlamentarischen Debatten die Veröffentlichung der entsprechenden Briefe an, die dann im Vorwärts mit erneutem Bezug auf den Krupp-Skandal erfolgte.220 Was jedoch auch für Politiker wie Liebknecht nicht zu kalkulieren war, war das öffentliche Interesse. Und das erlahmte nach dem spektakulären Kornwalzer-Fall und dem Beginn der Kriegsmobilisierung. Die allgemeine Diskussion über die Aufrüstung hatte den Resonanzboden für diesen Skandal geschaffen, nun aber sorgte der ausbrechende Krieg dafür, dass der Skandal in Vergessenheit geriet. 4. Zwischenfazit In Deutschland und Großbritannien bestanden bis 1870 unterschiedliche Traditionen im öffentlichen Umgang mit Korruption. Während sie in Deutschland kaum Gegenstand öffentlicher Debatten war, bildete sie in Großbritannien ein zentrales Schlagwort, mit dem zunächst ungerechte Formen von Herrschaft bekämpft wurde und seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt die materielle Beeinflussung von Wählern. Dennoch kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu ähnlichen Formen von Korruptionskampagnen und -skandalen. Dabei bildete Frankreich einen gemeinsamen Bezugspunkt. Einerseits grenzten sich beide Länder von der französischen Korruption ab, andererseits speisten sich ihre Skandale aus Imaginationen, die vor allem der französische Panama-Skandal grenzübergreifend aufgebracht hatte. Die Skandale zeigten jedoch schnell, dass in Deutschland und Großbritannien keine vergleichbaren korrupten Praktiken wie in Frankreich vorherrschten. Vielmehr handelte es sich jeweils um kleinere Summen oder eher symbolische persönliche Vorteile. Diese Enthüllungen waren dennoch für die Öffentlichkeit so ungewöhnlich, dass sie spektakulär und außergewöhnlich erschienen und die gewachsenen moralischer Ansprüche dokumentierten. Genährt wurde diese Empörung in beiden Ländern aus einer latenten Kapitalismuskritik, die Großunternehmen mit monopolartiger Stellung vorwarf, sich auf Kosten der Steuerzahler bei Staatsaufträgen zu bereichern. Diese Kritik artikulierten nicht nur Radicals und Sozialdemokraten, sondern in beiden Ländern auch eine neuartig kampagnenorientierte populistische Rechte. An den französischen Pananama-Skandal erinnerte zudem der Antisemitismus, der auch bei den britischen Korruptionsskandalen einen wichtigen Subtext bildete. In Großbritannien wurde er zwar nur von einer Minderheit offen formuliert und mehrheitlich öffentlich ignoriert oder zurückgewiesen. Die Annahme einer Verschwörung zwischen zwei jüdischen Ministern und dem jüdischen Geschäftsführer von Marconi prägte jedoch die ersten Vorwürfe in dem größten Korruptionsskandal vor 1914. Ähnlich antisemitisch gefärbte Skandalisierungen 220 Vorwärts 2. 6. 1914, S. 1. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 468 VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges traten auch in Deutschland insbesondere Anfang der 1890er auf. Gerade weil ihnen Belege fehlten, diskreditierten sie jedoch eher die Antisemiten. Dass antisemitische Vorurteile keine notwendige Komponente für Korruptionsskandale war, zeigte sich zudem daran, dass der bedeutendste Korruptionsskandal des Kaiserreichs, die Kornwalzer-Affäre um Krupp, sich gegen ein Unternehmen richtete, das sich vielmehr wegen seiner engen Verbindung zur Ministerialbürokratie und zum Kaiser angreifbar machte. Die Presse spielte bei den Korruptionsskandalen in Deutschland und Großbritannien eine unterschiedliche Rolle. Während in Großbritannien die parteinahe konservative Presse die Vorwürfe aufbrachte, stieß in Deutschland das Parlament die Veröffentlichung und Empörung an, dem dann die Printmedien folgten. Dabei zeigte sich in Großbritannien eine überraschend enge Zusammenarbeit zwischen einzelnen Zeitungen und den Parteien. Die englischen Zeitungen organisierten die Korruptionskampagnen, recherchierten Vorwürfe, trugen Gerüchte in den parlamentarischen Raum und führten scharf polarisierte Debatten im Kontext von Unterhaussitzungen. Da der Ehrenkodex des Unterhauses derartig schwere und kaum belegbare Vorwürfe nicht zuließ, forcierten die Zeitungen stellvertretend die politische Konfrontation. In Deutschland versprach dagegen der Angriff aus dem Parlament eine größere Öffentlichkeit, wobei insbesondere im Unterschied zu den Monarchie-Skandalen im Reichstag keine engen Sagbarkeitsgrenzen blockierend wirkten. In beiden Ländern versuchten die Regierungsparteien den Verlauf der Ermittlungen zu beeinflussen. In Großbritannien nutzten sie ihre Mehrheit im Untersuchungsausschuss, in Deutschland unterbanden sie Ermittlungen. Wie bei den meisten Skandalen schützte die deutsche Justiz großzügig die angeklagten konservativen Eliten. Dennoch diskreditierten die Korruptionsskandalen gesellschaftliche Repräsentanten, die jeweils einen gewissen Vertrauensvorschuss hatten: in Großbritannien Regierungsmitglieder, in Deutschland die Bürokratie. In beiden Fällen schuf die Empörung über die aufgedeckten Normbrüche ethische Entwürfe für die Zukunft. In Deutschland beschwor der Kornwalzer-Skandal Grenzen zwischen Unternehmen und Bürokratie, und in Großbritannien konstruierten die Korruptionsvorwürfe das Ideal eines Politikers, dessen private Geldanlagen in keiner Verbindung zu seinem politischen Handeln steht und der keinen Wissensvorsprung gegenüber dem „ordinary men“ ausnutzt. Ein solches egalitäres Argument lag auch der deutschen Empörung zugrunde, die einen fairen Wettbewerb der Unternehmen einforderte. In beiden Ländern waren schließlich die Korruptionsvorwürfe in den Jahren vor 1914 der Auftakt für systematische Korruptionskampagnen, die nach dem Weltkrieg die politische Debatte prägten. Die Figur des politischen Aufsteigers, der durch korrupte Handlungen sich selbst und Parteifreunde begünstige, prägte in den zwanziger Jahren ebenso die konservativen Kampagnen gegen Lloyd Georges Regierung wie die Attacken gegen Erzberger, Barmat oder Sklarek. Dabei knüpften sie nach dem Weltkrieg vielfach an Begriffe, Kommunikationsstile und Konfliktlinien an, die vor 1914 etabliert worden waren. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek VIII. FAZIT In der westlichen Welt setzte im späten 19. Jahrhundert eine rasante Medialisierung und Politisierung der Gesellschaft ein. Das schlagartige Anwachsen der Zeitungsauflagen, der Protestversammlungen und der weltanschaulichen Vereine waren Zeichen dafür, dass sich die politische Kommunikation veränderte. Politik beruhte nun in geringerem Maße auf Entscheidungen in arkanen Räumen als noch wenige Jahrzehnte zuvor. Die zeitgleich in Westeuropa zunehmenden Skandale, so die Ausgangsüberlegung, bildeten einen Ausdruck und Motor dieser medialen, politischen und kulturellen Umbrüche. Die Analyse der Skandale versprach daher Erkenntnisse über die sich verändernde Beziehung zwischen Politik, Medien und weiteren Formen der Öffentlichkeit. Darüber hinaus zeigten die Skandale, wie gesellschaftliche Normen im Aufbruch zur Moderne ausgehandelt wurden und welche nationalen Besonderheiten diese transnationale Entwicklung aufwies. Die Untersuchung steht somit für einen Perspektivwechsel im Sinne einer „Kulturgeschichte der Politik“, die eine andere Sichtweise auf Machtstrukturen ermöglicht. Wie die Studie zeigte, waren die politischen Eliten selbst in einem eher autoritären Staat wie dem deutschen Kaiserreich oder einer Weltmacht wie dem britischen Empire äußerst verletzlich. Diese Verletzlichkeit beruhte eben nicht auf revolutionären Bedrohungen, sondern auf zunächst unscheinbaren Medienberichten in kleinen Zeitungen, aus denen heraus sich eine Dynamik entwickeln konnte, die die moralische Integrität gesellschaftlicher Systeme in Frage stellte. Die Skandale forderten die Inhaber von Machtpositionen öffentlich heraus, indem sie mit der Enthüllung von Tabus in einer medialisierten Öffentlichkeit drohten. Sie standen für eine „Politik der Sensationen“, bei der Techniken der medialen Aufmerksamkeitsökonomie auf die Politik übertragen wurden, um übergeordnete politische Ziele zu erreichen. Auf diese Weise veränderten die Skandale politische Themen, Kommunikationsweisen und Partizipationsformen. Selbst marginale und für gewöhnlich belanglos erscheinende Ereignisse, die sich fern von den Metropolen London oder Berlin abspielten, konnten die Machthaber in schwere Krisen versetzen, wenn sie als Skandal kommuniziert wurden und so als „öffentliche Geheimnisse“ die moralische Legitimität von Herrschaft hinterfragten. Die Beleidigung eines Rekruten im Elsaß, eine homosexuelle Handlung am Starnberger See, das Auspeitschen von Frauen in Ostafrika oder ein überteuerter Getreideverkauf in Südafrika führten die Regierungen in stärkere Bedrängnis als es eine klassische Oppositionspolitik vermocht hätte. Die Telegraphie und die Reporter vor Ort ermöglichten dabei eine mediale Kommunikationsgemeinschaft, bei der diese Vorgänge ins Zentrum der nationalen und weltweiten Öffentlichkeit rückten. Vordergründig hatten diese Enthüllungen oft nur wenig mit den Machthabern zu tun. Aber spätestens in der Auseinandersetzung mit den Vorwürfen gewannen sie eine poli- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 470 VIII. Fazit tische Dimension, die die Responsivität und Legitimität politischer Herrschaft herausforderte. Mit Deutschland und Großbritannien standen zwei westeuropäische Länder im Mittelpunkt der Untersuchung, deren mediale und politische Kultur im ausgehenden 19. Jahrhundert als recht unterschiedlich gilt. Dennoch zeigten sich, so lässt sich bilanzieren, durchaus bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern – sei es bei der Veränderung der politischen und mediale Strukturen, den verhandelten Wertkonflikten oder den staatlichen Reaktionsweisen. Während sich im deutschen Kaiserreich stärkere Modernisierungsprozesse als erwartet ausmachen ließen, zeigten die britischen Skandale vielfach, dass man die politische und kulturelle Liberalität Großbritanniens nicht überschätzen sollte. Gerade im deutschen Kaiserreich waren die Skandale ein wichtiger Indikator für die vielfältigen Grenzen, die der Reichstag, die Medien und die breitere Öffentlichkeit dem autoritären Machtstaat setzten. Direkte kulturelle Transferprozesse und Interaktionen zwischen den beiden Ländern ließen sich hingegen seltener ausmachen als erwartet. Wenn dies der Fall war, so verliefen die Transfers vornehmlich von Großbritannien nach Deutschland und bestanden vornehmlich in einem indirekten Aufgreifen von Konflikt- und Deutungsmustern. Dennoch ist von einer wechselseitigen Beobachtung und von parallelen Entwicklungen zu sprechen, die auf ähnlichen Medialisierungs- und Demokratisierungsschüben beruhten. Die nahezu gleichzeitige Ausdehnung der Wählerschaft und der Zeitungsleser gab hierfür den Anstoß. Anhand von rund dreißig untersuchten Skandalen ließen sich zudem typische Verlaufsformen im ausgehenden 19. Jahrhundert ausmachen. Anhand dieser Anatomie der damaligen Skandale, von ihrem Aufkommen bis zu ihren Folgen, lassen sich abschließend einige Befunde der Studie bündeln. Welche Normen in den Skandalen ausgehandelt wurden, wird anschließend in einem zweiten Schritt bilanziert. 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten Skandale waren kein neues Phänomen. Aber ihr verstärktes Auftreten im späten 19. Jahrhundert markierte durchaus Zäsuren. In Großbritannien kamen die Skandale jeweils rund ein Jahrzehnt früher als in Deutschland auf und gewannen bereits Mitte der 1880er Jahre an Intensität. In Deutschland lassen sie sich hingegen erst seit 1894 verstärkt beobachten. Die etwas frühere Ausbildung der britischen Massenpresse erklärt dies nur teilweise. Nicht minder bedeutend war die zeitgleiche Umstrukturierung des politischen Feldes durch neue Spieler, die andere Regeln einführten. Das signalisierte im Großbritannien der 1880er Jahre die Formierung der Irish Parliamentary Party, die Spaltung der Liberalen und das verstärkte Auftreten der Radicals. Im deutschen Kaiserreich korrespondierte das Aufkommen der Skandale nach 1890 mit der Re-Etablierung der Sozialdemokratie nach den Sozialistengesetzen und den politischen Spannungen, die den Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten 471 Anspruch von Wilhelm II. auf ein „persönliches Regiment“ auslöste. Die Skandale waren insofern in beiden Ländern auch Ausdruck neuer politischer Konfliktstrukturen. Das frühere Auftreten von Skandalen in Großbritannien lag auch am rechtlichen Rahmen. Einerseits wies das Inselreich bei tabubesetzten Themen wie Homosexualität oder Ehebruch eine besonders restriktive Gesetzgebung auf, die spektakuläre Prozesse und damit die Veröffentlichung des Normbruches erzwang. Andererseits förderten die größere Pressefreiheit und stärkere Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen das Entstehen von Skandalen. Die von der Justiz eingeforderten Geständnisse über Normbrüche in der privaten oder arkanen Sphäre waren so detaillierter publizierbar. Dass in Deutschland dagegen spektakuläre Skandale lange Zeit seltener auftraten, war ganz überwiegend der restriktiven Begrenzung der Öffentlichkeit geschuldet, sei es vor Gericht, in den Medien oder in Parlamenten. Ein gewisses Maß an Pressefreiheit und pluralisierter öffentlicher Kommunikation war offensichtlich eine wesentliche Vorbedingung. Als nicht haltbar erwies sich dagegen die naheliegende Annahme, dass vor allem die neuen Boulevard- und Massenzeitungen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierten, die Skandale auslösten. In beiden Ländern waren es vornehmlich kleinere politische Blätter und Qualitätszeitungen, die Skandale anstießen. Die Skandale waren aber auch nur bedingt ein Zeichen für eine neue unabhängige Presse im Sinne einer „vierten Gewalt“. Vielmehr starteten häufig jene Zeitungen Skandale, deren Herausgeber und Journalisten eine enge Beziehung zu bestimmten Parteien pflegten. Mitunter waren es sogar die Politiker selbst, die in diesen Zeitungen Enthüllungen vorbrachten. Die Skandale begannen zudem nur selten mit Aufmachern und Überschriften, die eine sensationelle Enthüllung anpriesen. Typischer waren vielmehr recht versteckte Andeutungen, die erpresserisch die Änderung von politischen oder moralischen Zuständen verlangten. Bei verschiedenen Fällen wurden die sensationellen Enthüllungen sogar zunächst bewusst in abseitige Zeitungen verlegt, um sie dann als Zitat gleich aufzugreifen. Alle diese Befunde weisen darauf hin, dass man das Aufkommen der Skandale weniger mit kommerziellen Zielen als mit einer Veränderung der politischen Kommunikationsformen erklären muss. Sowohl Politiker als auch politische Journalisten wählten zur Durchsetzung ihrer Ziele Techniken, die sich Medienlogiken anpassten. Gerade weil sie die „Masse“ als „sensationssüchtig“ einschätzten, wählten sie diesen Weg, der in einer medialisierten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und eine emotionale Unterstützung ihrer Politik versprach. Insofern standen die Skandale für eine Medialisierung der Politik. Bereits diese Beobachtungen deuten einige Korrekturen an der bisherigen mediengeschichtlichen Forschung an. So ist die oft gezogene normative Trennung zwischen einer sensationsorientierten Massenpresse und nüchternen Qualitätsblättern für Deutschland und Großbritannien zu relativieren. Neben den kleineren parteinahen Zeitungen (wie United Ireland, North London Press, Vor- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 472 VIII. Fazit wärts, „Kreuzzeitung“) waren es auch überparteiliche Qualitätszeitungen (wie die Times oder das Berliner Tageblatt), die sensationelle Enthüllungen aufbrachten. Dabei bedienten sie sich durchaus Techniken des New Journalism, wobei ihre Recherchen oft weniger solide ausfielen als bei einem „Sensationsjournalisten“ wie W. T. Stead. Vielmehr druckten sie vielfach Gerüchte ab, um die Reputation des politischen Gegners zu schwächen. Selbst die Times bediente sich, wie der Parnellism and Crime-Skandal belegte, kaum geprüfter und sogar gefälschter Quellen oder übernahm, wie sich bei den Kolonialskandalen zeigte, Verlautbarungen der Regierungspartei. Erst im Zuge der folgenden Gerichtsprozesse starteten die meisten Journalisten Recherchen. Und erst in dieser Phase setzte eine ausführliche Berichterstattung in der Massenpresse ein, die die Dynamik der Skandale verstärkte. Ebenso belegen die Skandalverläufe, dass der oft betonte Gegensatz zwischen der deutschen Parteipresse und der überparteilichen britischen Presse zu relativieren ist. Vielmehr standen die britischen Journalisten generell in einem überraschend engen Austauschverhältnis mit weltanschaulich nahe stehenden Politikern. Besonders nach 1900 zeigte sich bei den britischen Skandalen eine wachsende Loyalität gegenüber den Parteilinien. Die britischen Journalisten organisierten Kampagnen für einzelne Parteien oder verteidigten sie loyal gegen die Vorwürfe, auch wenn diese eine gewisse Berechtigung hatten. Getrennte, autonome Felder waren Politik und Medien damit nicht. Maßgeblich bestimmt wurde die Ausrichtung der Zeitungen durch die weltanschauliche Präferenz der Verleger. Diese konnten allerdings auch, wie etwa Lord Northcliffe im Marconi-Scandal 1912/13, mäßigend auf den Kurs der Zeitungen wirken und Parteiloyalitäten abschwächen. Doch selbst dies bedeutete eine gewisse Begrenzung der oft postulierten journalistischen Unabhängigkeit in Großbritannien. Die Zahl derjenigen, die im weiteren Verlauf der Skandale als Akteure auftraten, war auffällig begrenzt. Bei zahlreichen Fällen trafen immer wieder ähnliche Politiker, Journalisten, Vermittler, Staatsanwälte und Anwälte aufeinander. Angestoßen wurden die Skandale oft von Politikern der Oppositionsparteien, die gleichzeitig journalistische Erfahrungen hatten und für Zeitungen schrieben (wie Healy, Labouchere oder Erzberger). Dies mag auch erklären, dass besonders die Sozialdemokraten, die Iren und die Radicals diese medial ausgerichtete Kommunikation pflegten, da sie im Parlament stets den größten Anteil an Journalisten aufwiesen. Offensichtlich übertrugen die journalistisch erfahrenen Politiker die ihnen vertrauten Medienlogiken auf den politischen Raum. Zudem traten durch die Skandale einzelne unabhängige Journalisten, wie W. T. Stead und Maximilian Harden, als Schlüsselfiguren hervor, die jene neue Macht verkörperten, die die Presse durch das Aufbringen von Skandalen gewinnen konnte. Diese Personalisierung wurde dadurch verstärkt, dass die Skandale häufig als Duelle zwischen zwei Protagonisten inszeniert wurden, die für unterschiedliche weltanschauliche Ziele standen. Ob Skandale im Parlament oder in Zeitungen angestoßen wurden, hing mit vom Themenfeld ab. Besonders tabubeladene Vorwürfe wie Homosexualität, Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten 473 Ehebruch oder das Fehlverhalten der Monarchen formulierten die Journalisten zuerst, da die parlamentarischen Kommunikationsregeln bei diesen Bereichen engere Grenzen setzten. Dagegen ging die Initialzündung bei Themen wie Korruption und kolonialem Machtmissbrauch häufiger vom Parlament aus – insbesondere in Deutschland. Die Schilderung mediengerechter emotionalisierender Einzelfälle im Parlament machte dabei auf generelle Missstände aufmerksam. Insofern kann man nicht davon sprechen, dass der Reichstag und das Unterhaus im Zuge der Medialisierung ihre Macht verloren hätten. Die Skandale zeigten vielmehr eine enge Interaktion zwischen den Parlamenten und der Presse, die auch die Machtstellung der parlamentarischen Gremien förderte. Insbesondere die weniger mächtigen deutschen Reichstagsabgeordneten gewannen durch das Aufbringen von Skandalen an politischem Einfluss – selbst wenn sie nur an medial gesetzte Skandale anknüpften und die oft verletzenden Enthüllungen kaum normativen Demokratiekonzepten entsprachen. Gerade in Deutschland stärkten die Skandale damit die Stellung des Reichstages. Sie standen für den erfolgreichen Versuch, den Parlamenten in einer medialisierten Gesellschaft eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen und Reformen zu erreichen, auch wenn sich der formale institutionelle Rahmen durch die Skandale kaum änderte. Die kommunikative Wirkungsmacht dieser Parlamentsdebatten zeigte sich nicht nur in den ausführlichen Medienberichten und der großen Zuhörerschaft auf den Tribünen, sondern auch in den Alltagsgesprächen über die Debatten. Die Polizeiberichte verzeichneten bereits vor entsprechenden Parlamentssitzungen in den Kneipen erwartungsvolle Gespräche und anschließend Diskussionen über die Enthüllungen. Die Aufwertung der Parlamente belegten zudem die Folgen der Skandale, da selbst der Reichstag trotz fehlender Ministerverantwortlichkeit die Reichsleitung zu Zugeständnissen und Rücktritten von Ministern und hohen Beamten zwingen konnte. Erreichen konnte der Reichstag dies, weil er in enger Kooperation mit den Medien und der breiten Öffentlichkeit agierte. Gerade dieses Wechselspiel gab den Skandalen ihre Dynamik: Die Abgeordneten griffen Zeitungsmeldungen auf, die sie mitunter selbst verfasst hatten, ergänzten die Enthüllungen und Kommentare vom Rednerpult und brachten so Forderungen in die Medien, die wiederum Ermittlungen starteten, die der Reichstag erneut aufgriff. Innerhalb der Parlamente werteten die Skandale insbesondere die Rolle der politischen Opposition gegenüber den Regierungen auf. Durch die Skandale etablierte sie Feindbilder, Stereotype und Narrative über die politische Führung, die die eigenen Anhänger mobilisierten und ihre Gegner verunsicherten. Die irischen Nationalisten und die Sozialdemokraten wiesen dabei auffällige Gemeinsamkeiten auf, die ihre spezifische Rolle beim Aufbringen der Skandale erklären dürfte. Ihre Konflikterfahrungen mit Staat und Regierung verstärkten ihre Bereitschaft, in der politischen Kommunikation eher zum Schwert als zum Florett zu greifen. Ihre Außenseiterstellung erleichterte den Bruch ungeschriebener Kommunikationsregeln. Die provokativen Enthüllungen gewährten den irischen und den sozialdemokratischen Abgeordneten eine herausgehobene Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 474 VIII. Fazit öffentliche Aufmerksamkeit, die sie zu „Stars“ machte. Politiker wie Healy, Parnell, Bebel oder Karl Liebknecht wurden, wie auch die Kneipenberichte belegen, gerade durch die von ihnen angestoßenen Skandale zu berühmten und verehrten Parlamentariern, die erfolgreich die scheinbar unumstößliche Obrigkeit herausforderten und lächerlich machten. Im weiteren Skandalverlauf besaß das britische Unterhaus jedoch allein schon deshalb eine größere Machtstellung, weil es in Untersuchungsausschüssen Zeugen vernehmen konnte und so den Verlauf der öffentlichen Debatte gestaltete. Obgleich die jeweilige Mehrheitspartei ihre Machtstellung ausnutze, ermöglichte diese Befragung immer wieder überraschende Wendungen, die sich auch gegen die Regierungsmehrheit richten konnten. Im Zuge der Skandale forderten die deutschen Parteien – mit Ausnahme der Konservativen – immer wieder ähnliche parlamentarische Untersuchungsausschüsse wie in Großbritannien. Obgleich die deutsche Reichsleitung dies grundsätzlich ablehnte, musste sie im Laufe der Skandale einige entsprechende Zugeständnisse machen – vom Einsetzen von Ermittlungskommissionen, wie bei den Kolonialskandalen 1906, bis hin zu Ausschüssen, bei denen allerdings neben Parlamentariern auch Vertreter der Regierung und Wirtschaft saßen, wie 1913 bei der Zabern-Affäre und dem Kornwalzer-Skandal. Auch wenn diese Kommissionen bereits durch ihre Zusammensetzung die Ermittlungen nicht vorantrieben, waren sie zumindest der Beginn einer institutionellen Umgestaltung des Parlaments. Ebenso trugen die Skandale besonders in Deutschland dazu bei, die Pressefreiheit zu stärken. Bereits in den 1890er Jahre lässt sich erkennen, dass sich aus Angst vor Skandalen die Toleranzspielräume für journalistische Berichte gerade in Deutschland vergrößerten, da sich die mediale Aufmerksamkeit auf Missstände durch gerichtliche Vernehmungen zu erhöhen drohte. Weil der Ausbruch von Skandalen massive Folgen für die bestehende Ordnung haben konnte, setzten Regierung, Justiz und die Betroffenen seltener auf Repressionen wie Zeitungsverbote und Anklagen gegen die Journalisten. Wenn dennoch Verleumdungsprozesse folgten, so geschah dies oft im Vertrauen auf das Wohlwollen der Justiz. Zudem forcierte Kaiser Wilhelm II. durch seinen überspannten Ehrbegriff, sein mangelndes Verständnis für die gewandelte Öffentlichkeit und sein taktisches Unvermögen Gerichtsprozesse. Allerdings zeigte sich schnell, dass angesichts der auflagenstarken reaktionsschnellen Presse und der aktiven Opposition derartige Repressionen drohende Skandale nur verstärkten. Gefördert wurde das Aufkommen von Skandalen auch durch den Niedergang des Duells, den sie zugleich weiter beschleunigten. Im Unterschied zum Prozess stand das Duell für eine Wiederherstellung der Ehre, ohne dass Vorwürfe wie beim Verleumdungsprozess öffentlich ausgetauscht und untersucht wurden. Insofern trugen sie vormals mit dazu bei, Skandale zu verhindern. In den 1890ern bedeutete nun auch in Deutschland eine Konfliktlösung per Duell, wie sich beim Kladderadatsch-Skandal und Kotze-Skandal zeigte, selbst neuen Stoff für Skandale und einen zusätzlichen Reputationsverlust, obgleich Wilhelm II. diese Form der Konfliktlösung weiterhin unterstützte. Die Medienbe- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten 475 richte über die Duelle und deren Anlässe verstärkten jedoch nur die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Vergehen und damit die Dynamik des Skandals. Der weitere Verlauf der Skandale hing im hohen Maße vom Verhalten der Regierungen ab. Generell reagierten sie mit einem starken Aktionismus, was belegt, welche Macht sie den Medien zuschrieben. Dabei schöpften die Regierungen in beiden Ländern ihre Eingriffsmöglichkeiten aus und übertraten sie sogar, um das Ausbrechen von Skandalen zu verhindern. Gegenüber den beteiligten Journalisten und Politikern setzten sie sich vielfach für einen informellen Ausgleich ein. Diese Annäherung, oft über Unterhändler arrangiert, stand ebenfalls für eine neue Anerkennung der medialen Öffentlichkeit und der politischen Opposition. Die Journalisten erhielten nicht nur persönliche Aufmerksamkeit und Rechtfertigungen, sondern gelegentlich auch Zugeständnisse oder sogar, wie im Moltke-Skandal, hohe Zahlungen aus Sonderfonds. Zudem nahmen die Regierungen beider Länder direkten Einfluss auf die Justiz, um Skandale zu verhindern oder abzumildern. In Deutschland zeigte sich dies häufig schon bei dem Regierungseinfluss auf die Entscheidung, ob die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen Journalisten oder andere am Skandal beteiligte Personen aufnahm oder ein Verfahren einstellte. Während der Prozesse richtete das Reichskanzleramt über den Justizminister vielfach Leitlinien an die Staatsanwaltschaft. Überraschend stark wirkten auch die britischen Regierungen auf offizielle Untersuchungen ein. Sie blockierten mitunter Ermittlungen der Polizei und der Justiz, wie insbesondere der Cleveland Street-Skandal zeigte, sie ermöglichten die Flucht der Beschuldigten, um diskreditierende Enthüllungen in einem Prozess zu verhindern, oder sie riskierten öffentliche Rechtfertigungen, deren Wahrheitsgehalt die Öffentlichkeit zurecht anzweifelte. Auf diese Weise lösten die Regierungen sekundäre Skandaldynamiken aus, die nun den Umgang mit dem Skandal zum eigentlichen Thema machten. Bei den Prozessen zeigte sich mehrfach, dass die Justiz beider Länder nicht unabhängig urteilte, sondern sich häufiger als parteiisch und weisungsgebunden erwies. Zudem orientierte sie sich erst verzögert an der Veränderung der öffentlichen Normen. Auch dies mag für die konservativ geprägte Justiz des deutschen Kaiserreichs weniger erstaunen, obgleich verschiedene historische Darstellungen die Rechtsstaatlichkeit im Reich betonen. So kam es bei so gut wie keinem der untersuchten deutschen Skandale zu einer spürbaren Verurteilung der beschuldigten Eliten. Die Korruption von Beamten, das Foltern, Töten und Halten von Zwangsprostituierten in den Kolonien oder die Homosexualität mündete bei ihnen nicht in Gefängnisstrafen, da es sich um Repräsentanten des Staates handelte, deren Ansehen geschützt werden sollte. So erhielt etwa ein Polizeibeamter wie Tausch in dem nach ihm benannten Skandal einen Freispruch, obwohl ihm nachweisbar Vergehen wie mehrfache Urkundenfälschung, Meineide, Korruption, Amtsanmaßungen, Verstöße gegen Amtsgeheimnisse, Unwahrhaftigkeiten gegen Vorgesetzte und Majestätsbeleidigungen vorgeworfen wurden. Häufiger wurden dagegen die Beamten verurteilt, die Missstände öffentlich gemacht hatten. Aber auch für Großbritannien fiel auf, dass die Justiz Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 476 VIII. Fazit den beschuldigten Staatsrepräsentanten zunächst äußerst wohlwollend gegenüber trat, bis die öffentliche Empörung über das Urteil eine Revision mit einem schärferen Vorgehen nötig erscheinen ließ. Die Richter erreichten derartige Urteile dadurch, dass sie den guten Willen der Beschuldigten unterstrichen und ihre Rechtfertigungen oft ungeprüft akzeptierten, während sie die Aussagen von einfachen Zeugen recht pauschal abwerteten. Frauen, die gegen Männer aussagten, erklärten die Richter immer wieder als „hysterisch“, die Aussagen von Afrikanern galten prinzipiell als „unzuverlässig“ und Aussagen von europäischen Männern wurden als widersprüchlich abqualifiziert. Die Prozesse zogen dementsprechend allenfalls die Versetzung oder Entlassung der Beschuldigten nach sich, wenn es sich um höhere Beamte oder Repräsentanten des Staates handelte. Auf diese Weise verstärkten die Skandale gerade in Deutschland den Eindruck, dass sich die Justiz weit von der öffentlichen Meinung entfernt habe. Die breite Empörung über das ungerechte Verhalten der Justiz ging dabei soweit, dass die Reichsleitung Revisionen der Prozesse anregen musste, damit die Empörung nicht auch auf sie zurückfiel und das Vertrauen in den Staat weiter schwand. Die Urteilsbegründungen in den Revisionsprozessen zeigten dabei, dass sich die Justiz langsam an die durch die Skandale veränderten öffentlichen Normen anpasste. Dennoch lassen sich derartige Urteile nicht allein in das Großnarrativ einer politisch gelenkten übermächtigen „Klassenjustiz“ pressen. Vielmehr unterliefen gerade die Skandale derartige Steuerungsversuche, da sie unkalkulierbare Eigendynamiken auslösten. So starteten die angeklagten Journalisten erst im Zuge der Prozesse ihre eigentlichen Recherchen und versuchten, oft mit Hilfe von Privatdetektiven, Zeugen auszumachen. Pointiert gesprochen förderte nicht das Aufbringen von Skandalen den investigativen Journalismus, sondern die Verfolgung beschuldigter Journalisten. Die Zeugenaussagen gaben den Skandalen immer wieder unkontrollierbare Wendungen. Bereits die Zeitungsmeldungen über die Skandale führten dazu, dass zahllose, oft völlig haltlose Denunziationen eingingen. Die Recherche der Massenpresse vor Ort, die nun ihr neues Potential an eigenen Korrespondenten nutzte, förderte diesen Strom an Neuigkeiten zusätzlich. Die Zeitungsleser waren damit aktiv in die Skandale eingebunden. Auch die Zeugenaussagen vor Gericht lassen sich als ein karnevalesker Vorgang fassen, der die Macht spöttisch herausforderte und Machtkonstellationen verkehrte. Menschen aus unteren sozialen Schichten erhielten durch die Skandale Zugang zu einer weltweiten Medienöffentlichkeit, die ihre Aussagen transportierte. Zimmermädchen, Fischer oder Prostituierte konnten so dazu beitragen, mächtige Staatsrepräsentanten dem allgemeinen Spott auszusetzen und zu stürzen. Insbesondere geschiedene Frauen erwiesen sich bei zahlreichen Skandalen als Schlüsselfiguren, die intimes Wissen vermittelten. Sie alle trugen dazu bei, durch ihre Aussagen die geheimen und privaten Sphären von mächtigen Personen aufzulösen und ihnen so ein banales lächerliches Antlitz zu geben, das Reputation, Vertrauen und Autorität zerstörte. Auch wenn die Beschuldigten Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten 477 durch die Protektion der Richter am Ende oft nicht verurteilt wurden, war bereits diese oft weltweite Veröffentlichung der Aussagen die eigentliche Strafe. Gerade die Prozessaussagen trugen maßgeblich dazu bei, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben und ein öffentliches Wissen über Tabubereiche zu konstruieren. Die im stenographischen Stil gehaltenen Prozessberichte arbeiteten zwar immer noch mit Aussparungen, da viele Aussagen als nicht druckbar galten, dennoch legitimierten sie einen recht offenen Umgang mit tabuisierten Fragen wie Homosexualität, Ehebruch oder sexuellem Verkehr mit Afrikanerinnen. Die Zeitungen wiederum übernahmen diese Bewertungen und führten sie weiter. Auf diese Weise entstand trotz aller offizieller Einflussnahmen ein Steuerungsverlust während der Skandale. Vor Gericht zeigte sich ebenso wie in den Parlamenten, dass die Dynamik der Skandale nicht allein aus der Medienöffentlichkeit entstand, sondern aus ihrer Interaktion mit der Versammlungsöffentlichkeit und der Face-to-Face-Kommunikation. Die mündlichen Debatten in den Gerichtssitzungen, Untersuchungsausschüssen oder Parlamentsdebatten waren serielle Ereignisse, die den Skandalen einen festen Spannungsbogen gaben, zugleich aber täglich neue Überraschungen versprachen. Sie erlaubten zudem eine persönliche Partizipation der Zeitungsleser, die scharenweise entsprechende Parlaments- und Gerichtssitzungen aufsuchten und selbst vor überfüllten Sälen auf Neuigkeiten warteten. Frauen und Unterschichten konnten so erneut aktiv an den öffentlichen Ereignissen teilnehmen. Die Berichte über die Sitzungen griffen wiederum die emotionalen Reaktionen vor Ort auf und offerierten so den Zeitungslesern Rezeptionshaltungen. Die Dynamik des Skandals lebte von anschaulichen Schlüsselsituationen und Bildern, die die komplexen Themen verdichteten und den Normbruch assoziationsreich erfassten. Hierzu zählten amüsant wirkende Szenen, die ein spöttisches Lächeln provozierten; etwa im Parnell-Skandal das Bild, wie der Irenführer vor dem gehörnten Ehemann auf der Feuerleiter floh, oder im BaccaratScandal, wie der Prince auf Wales seine stets mitgeführten eigenen Spielsteine zum Glücksspielen herausholt. Hierzu zählten aber auch Szenen, die Schauer und Mitleid auslösten; etwa wie der Kolonialist Peters seine afrikanische Geliebte hängen ließ, der Kameruner Kanzler Leist entblößte afrikanische Frauen vor den Augen ihrer Männer auspeitschen ließ oder ein Offizier aus Stanleys Expedition einen Kannibalismus-Akt an einem Mädchen zeichnete. Gerade solche Schlüsselszenen, die oft in Karikaturen aufgegriffen wurden, dürften jene breite emotionale Empörung ausgelöst haben, die aus den Skandalen Konsequenzen einforderte. Welche Bedeutung die Skandale für die alltägliche Kommunikation in den Straßen und Kneipen hatten, konnte für Deutschland anhand der Spitzelberichte der Politischen Polizei ausgemacht werden. Hier zeigte sich, dass sämtliche Skandale im Sinne eines Agenda-Settings zu Gesprächen über entsprechende Themen anregten, die dann unterschiedlich aufgegriffen oder bewertet wurden. Erstens lösten die Skandale generelle Diskussionen über ihren Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 478 VIII. Fazit politischen Kontext aus, etwa über die Bewertung des Kolonialismus, der Monarchie oder eines Großunternehmens wie Krupp. Insofern trugen die Skandale auch auf dieser Ebene zur Politisierung der Gesellschaft bei, da sie eine wertende Kommunikation über politische Fragen förderten. Zweitens regten die Zeitungsartikel Gesprächen an, bei denen die Kneipengäste die im Skandal verhandelte Norm auf ihre persönliche Lebenswelt übertrugen. Auf diese Weise entstanden selbst über tabuisierte Themen wie Homosexualität recht offene Gespräche, etwa über persönliche Erfahrungen mit Homosexualität im Militär im Kontext des Moltke-Skandals. Eine dritte charakteristische Reaktionsform waren die emotionale Empörung und der bissige Spott. Gerade dies zeigte, wie sehr die Skandale in alltäglichen Gesprächen zu einem Vertrauensverlust in den Staat und seine Repräsentanten beitrugen. Da polizeiliche Spitzelberichte in aggregierter Form an die politische Führung gingen, konnten solche Stimmungen durchaus, schon vor Erfindung der Meinungsforschung, direkte Rückkopplungseffekte haben. Das Aufkommen der Skandale wurde zweifelsohne durch die zunehmende Ausdifferenzierung der politischen Öffentlichkeiten gefördert. Aus ihr heraus entstanden Konflikte um Lebensweisen und Deutungen, die in Form von Skandalen ausgetragen wurden. Die oft harten Debatten während der Skandale trugen dazu bei, diese Gruppen weiter zu polarisieren. Zugleich hatten die Skandale eine integrative Funktion. Sie sorgten dafür, dass die unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten mit großer Intensität gemeinsam über ein Thema kommunizierten. Somit ist selbst im deutschen Kaiserreich nicht von weltanschaulichen Milieus auszugehen, die unverbunden neben einander existierten. Vielmehr griffen gerade in Deutschland die politischen Teilöffentlichkeiten intensiv die Deutungen der anderen Milieus auf und diskutierten sie. Zudem entstanden durch die Skandale gemeinsame Empörungen über Missstände, die oft Parteigrenzen überbrückten und somit zumindest eine punktuelle Überwindung von weltanschaulichen Grenzen schufen, auch wenn dies nur eine Gemeinschaft auf Zeit war, die sich beim Abflauen des Skandals wieder auflöste. Dennoch: das kommunikative Band des Skandals reichte vom Monarchen bis zum einfachen Zimmermädchen. 2. Normen und Deutungen Ein zweiter Schwerpunkt des Buches widmete sich den Normen und Deutungsmustern, die bei den Skandalen verhandelt wurden. Die Ausdifferenzierung von Lebens- und Gesellschaftsentwürfen machte um 1900 offensichtlich grundlegende Diskussionen hierüber nötig. Die Skandale verschoben Deutungsmuster, schufen wirkungsmächtige Zuschreibungen und Stereotype und konstruierten ein öffentliches Wissen über Bereiche, die bislang in der Sphäre des Geheimen lagen. Generell galt die Zunahme der Skandale als Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls. In Deutschland und Großbritannien regten sie Analogiebildungen Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Normen und Deutungen 479 zwischen der Gegenwart, dem späten Rom und den Zuständen vor der Französischen Revolution an. Dies eröffnete unterschiedliche Zukunftsvorstellungen. Die Konservativen deuteten die Skandale als Niedergang der Kultur und Rückfall in die moralische Barbarei, gegen den mit einer verschärften Zensur und einer Restriktion der Öffentlichkeit vorgegangen werden müsse. Dagegen glaubte die politische Linke, die Skandale würden den Verfall der alten Eliten belegen, weshalb ein Zeitalter der gesellschaftlichen Reformen und der Demokratie bevorstehe. In beiden Fällen eröffneten die Skandale somit Annahmen über die derzeitige und die zukünftige Gesellschaft. Dabei lassen sich einige ähnliche Deutungen für Großbritannien und Deutschland ausmachen, aber je nach Skandalthema auch markante Unterschiede. So eröffneten die Skandale um Homosexualität zunächst ähnliche Deutungsmuster. In beiden Ländern förderten sie die Vorstellung, die Homosexualität hätte sich rasant ausgebreitet und vornehmlich zu einem Phänomen der Oberschicht entwickelt, wobei diese durch ihr Geld junge Männer der Unterschicht verführe. Die Skandale etablierten damit das Stereotyp des reichen, dekadenten Homosexuellen ohne geregelten Arbeitsalltag, der sich durch feminine „weiche“ Charakterzüge auszeichne und daher bereits an seinem Verhalten zu erkennen sei. Homosexualität erschien damit nicht mehr als ein Problem, das mit der Bekehrung von angeblich amoralischen Unterschichten verbunden war, sondern wurde in klassenkämpferische Anklagen eingebunden, die sogar die jungen männlichen Prostituierten als Opfer erscheinen ließen. Zu politischen Skandalen entwickelten sich die Fälle vor allem, weil der Eindruck entstand, die gut situierten Homosexuellen würden von der Regierung und der Justiz geschützt. Die Homosexualitätsskandale führten in beiden Ländern zu einer neuartig breiten öffentlichen Aussprache über das Thema. Wie man Homosexualität feststellen könne, welche Ursachen sie hatte und welche Stellung Homosexuelle in der Gesellschaft einnehmen dürften, wurde in beiden Ländern im Zuge der Skandale erstaunlich offen diskutiert. In Deutschland verbreitete sich so die Ansicht einiger Mediziner, Homosexualität sei angeboren und als eine Art „drittes Geschlecht“ zu verstehen. Neben den Sozialdemokraten, die nur eine als dekadent bezeichnete Form der Homosexualität ablehnten, traten insbesondere liberale Zeitungen zunächst dafür ein, Homosexuellen selbst im Militär und in der politischer Führung gleiche Rechte einzuräumen. Erst im Laufe der Debatte verloren diese Stimmen an Bedeutung, zugunsten einer scharfen Ablehnung Homosexueller. In Großbritannien überwog dagegen von Beginn an eine scharfe Verdammung, wobei die Aussprache zurückhaltender ausfiel und die Tabuisierung stärker blieb. Lediglich einzelne liberale Stimmen räsonierten etwa, ob die elitäre männliche Ausbildung in den Privatschulen für die Homosexualität in der Oberschicht verantwortlich sei. Letztlich führten die Homosexualitätsskandale jedoch in beiden Ländern eher zur Verschärfung der sexuellen Normen. Dies war mit der Furcht verbunden, dass Homosexualität zu einem Verlust der Männlichkeit führe, der nicht nur das Ansehen der Nation, sondern auch die militärische Verteidigung gefährde. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 480 VIII. Fazit Deutlichere Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien zeigten sich bei der Frage, inwieweit frühere außereheliche Beziehungen für ein öffentliches Amt disqualifizierten. Wie bei der Homosexualität förderten auch die Ehebruchskandale die Annahme, außereheliche Verhältnisse seien bei Adligen und bürgerlichen Eliten besonders verbreitet. Auch in Deutschland kamen, insbesondere um 1908/09, verschiedene Kampagnen auf, die Politikern entsprechende Normbrüche vorhielten. Dennoch konnten diese Politiker, ganz im Unterschied zu Großbritannien, zumeist weiterhin ihre Posten behalten, was auf einen größeren moralischen Toleranzspielraum hinweist. Im spätviktorianischen Großbritannien waren die Spielräume allerdings nicht von vorneherein so eng, wie angesichts gängiger Zuschreibungen über die puritanische Moral der Zeit zu erwarten wäre. So machten sich zu Beginn des Dilke-Skandals durchaus liberale Stimmen dafür stark, Privates und Politisches zu trennen. Auch beim ParnellSkandal zeigten die Katholiken recht große Toleranz. Erst die detaillierten Geständnisse, die durch die Öffentlichkeit der britischen Scheidungsprozesse aufkamen, veröffentlichten jeweils soviel über das Privatleben der Politiker, dass die puritanischen Kampagnen obsiegten, die im Skandal die Öffentlichkeit mobilisierten. Dabei etablierten sie die Norm, dass ein Politiker nur dann das öffentliche Vertrauen genießen könne, wenn auch sein Privatleben makellos sei. In Deutschland bremste zumeist der Ausschluss der Öffentlichkeit in Gerichtssälen drohende Eheskandale ab. Zugleich lässt sich feststellen, dass die Journalisten ihr Wissen eher zurückhaltend ausspielten. Lediglich bei dem antisemitischen Abgeordneten Wilhelm Schack griff diese Skandalisierung, um den polarisierenden Politiker zum Rücktritt zu bewegen. Die Skandale um den heterosexuellen außerehelichen Verkehr trugen ebenfalls dazu bei, Annahmen über die Geschlechterrollen zu verschieben. Gerade in Großbritannien verbreiteten diese Skandale Vorstellungen über die aktive und unkeusche Sexualität von bürgerlichen Frauen. Obgleich die Gerichte und Teile der Medien diese Frauen als hysterisch ausgrenzten, durchkreuzten diese Geständnisse unverkennbar bürgerliche Geschlechtszuschreibungen. In beiden Ländern dokumentierten die Skandale zugleich die Verzweiflung betrogener Männer, die den Ehebruch aus Rache öffentlich machten. Neben dem Entwurf des sexuell triebhaften Mannes entstand so die Figur des hilflosen Gatten, der sich in den Skandal flüchtete und so das Scheitern der Ehe eingestand. Auch bei den Kolonialskandalen sorgten sexuelle Normbrüche vielfach für Empörung. Insbesondere in Deutschland gaben Enthüllungen über den sexuellen Verkehr zwischen hohen Beamten und Afrikanerinnen mehrfach den Skandalen ihre Dynamik. Sie etablierten ein öffentliches Wissen über die große Verbreitung solcher Beziehungen und ihre Verbindung mit Gewalt und Zwangsprostitution. In Großbritannien wurde dieser Aspekt allerdings, selbst bei Berichten über deutsche Kolonialskandale, eher zurückhaltend diskutiert, was wie bei der Homosexualität die engeren britischen Sagbarkeitsgrenzen zeigte. In beiden Ländern führten auch diese Skandale zu einer Normverschärfung. Sexuelle Beziehungen zu Afrikanerinnen wurden als illegitim deklariert und mit rassisti- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Normen und Deutungen 481 schen Verordnungen untersagt. Obgleich die deutschen Mischehenverbote weiter reichten, verbot auch Großbritannien seinen Beamten, als Reaktion auf den Silberrad-Skandal, den Verkehr mit Afrikanerinnen. In den 1890er Jahren traten zudem in beiden Ländern Kolonialskandale auf, die der brutalen Gewalt einzelner Kolonialisten Grenzen setzten. Die gewaltsame Bestrafung der Eingeborenen, die diese Skandale zur Diskussion stellten, wurde weiterhin als notwendig gesehen. Aber zumindest sorgten besonders die Skandale um 1896 und 1906 auch in Deutschland für eine Begrenzung, Regulierung und Formalisierung der Prügel- und Todesstrafen. Die festeren Verwaltungsstrukturen, die diesen „Eroberern“ folgten, lösten in einer zweiten Phase verstärkt Skandale aus, die Normbrüche wie die Bereicherung oder den Amtsmissbrauch in den Kolonien thematisierten. Auch hier führten die Skandale insbesondere in Deutschland zu zahlreichen Reformen, wobei eine Professionalisierung der Kolonialverwaltung künftig derartige Missstände eindämmen sollte. Generell spielten Kolonialskandale in Deutschland eine deutlich größere Rolle als im Empire. Dies verweist auf eine stärkere Kolonialkritik, aber eben auch auf das stärkere Auftreten von Praktiken, die als Normbrüche galten und das Potential für Skandale besaßen. Sie minderten den gerade vom Kaiserreich erhobenen Anspruch, eine kulturell überlegene Kolonialmacht zu sein. Bemerkenswerterweise entstanden in beiden Ländern kaum wirkungsmächtige Skandale als die koloniale Gewalt massenhaft in Form von Kriegen auftrat. Eine stärkere Dynamik lösten stattdessen Narrative über einzelne Opfer aus, insbesondere wenn es um die korrupte Bereicherung von einzelnen Politikern, Beamten und Firmen ging oder die Misshandlung von Frauen und Kindern. Die Kolonialskandale schufen dabei Vorstellungen über die moralischen Abgründe von scheinbar zivilisierten Vertretern des Bürgertums. Sie machten Handlungen öffentlich, die bisherige Stereotype über Kolonisierer und Kolonisierte verkehrten: Das Bild vom „wilden Schwarzen“, den die Europäer zivilisierten, vertauschte sich zum Bild des wild gewordenen Kolonialisten, der eine Gefahr für unschuldige Eingeborene darstellte. Besonders markante Deutungsunterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien zeigten sich bei den Monarchieskandalen. In Großbritannien kreisten sie bereits im 19. Jahrhundert vornehmlich darum, dem Königshaus bürgerliche Normen abzuverlangen. Gerade weil die politische Macht des Monarchen bereits gering war, bezogen sich die Skandale auf seinen Lebenswandel, der die Tugenden der Nation repräsentieren sollte. Skandalisiert wurde jedoch nicht jeder Normbruch, sondern insbesondere das Verhalten des Thronfolgers. Der Prince of Wales sollte durch die Empörung der Öffentlichkeit zu bürgerlichen Tugenden erzogen werden, ohne den amtierenden Monarchen direkt zu verspotten und damit die Reputation der Krone zu gefährden. Dagegen konzentrierten sich die Skandale um die deutschen Monarchen, insbesondere bei Wilhelm II., auf ihr politisches Verhalten. Sie legten den Monarchen auf die Rollenerwartung fest, sich aus der Tagespolitik zurückzuhalten und stärker auf Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 482 VIII. Fazit repräsentative Aufgaben zu konzentrieren. Die Skandale unterstrichen damit die unterschiedlichen Anforderungen an die Monarchie, die in Deutschland und Großbritannien bestanden, leiteten aber prinzipiell eine Annäherung der monarchischen Rollen ein. In beiden Ländern ermöglichte die Medialisierung den Monarchien, ihre öffentliche Präsenz im ausgehenden 19. Jahrhundert auszubauen und so zumindest teilweise ihren politischen Machtverlust zu kompensieren. Die zunehmenden Medienberichte über den Hof stärkten jedoch nicht nur die Monarchie. Sie schufen auch Gegenerzählungen, die in beiden Ländern in Skandalen münden konnten, die den Thron entzauberten. Indem diese Skandale detaillierte Berichte über ihren banalen Alltag, die Grenzen ihrer politischen Kompetenz oder die Unfähigkeit ihrer Berater veröffentlichten, raubten sie Edward VII. und Wilhelm II. das Antlitz souveräner und außeralltäglicher Persönlichkeiten und damit die Chance auf eine Charismatisierung ihrer Herrschaft. Vielmehr förderten die Skandale den Spott über die Monarchen und damit eine Abwendung vom monarchischen Herrschaftsanspruch. Ähnliche Erwartungen und Normen förderten in beiden Ländern die Korruptionsskandale, die zulässige Beziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und Verwaltung verhandelten. In Präzedenzfällen machten sie aus, dass die privaten Geldanlagen eines Politikers in keiner Verbindung zu seinem politischen Handeln oder dem der Regierung stehen dürfe. In Großbritannien drehten sich die Skandale eher um den Aktienhandel von Politikern, die keinen Wissensvorsprung gegenüber dem „ordinary man“ haben sollten. In Deutschland kreisten sie dagegen um Wirtschaftsaufträge des Staates, wobei die Skandale einen fairen Wettbewerb einforderten. Antisemitische Vorurteile spielten bei den Korruptionsvorwürfen nicht nur in Deutschland eine größere Rolle, sie bildeten auch in Großbritannien seit 1900 einen entscheidenden Subtext. Gerade in England gingen die Korruptionsskandale mit dem Versuch einher, politische Aufsteiger auszugrenzen, was sich im hohen Maße auch gegen Juden richtete. In beiden Ländern wendeten sich die Skandale aber zugleich umgekehrt gegen jene Antisemiten, die haltlose Vorwürfe aufbrachten und sich wegen ihrer fehlenden Belege so selbst diskreditierten. Letzteres weist daraufhin, dass die Skandale nicht nur für Politiker und Beamte Verhaltensnormen einforderten, sondern auch für Journalisten. Entsprechend kamen auch Skandale auf, die die versuchte Skandalisierung der Journalisten selbst zum Gegenstand der Enthüllung und Empörung machten. Die beiden größten Skandale in diesem Kontext korrespondierten mit den spezifischen mediengeschichtlichen Traditionen in beiden Ländern, deren Grenzen sie zeigten: In Großbritannien markierte der Parnellism and Crime-Skandal die Grenzen des scheinbar unabhängigen Qualitätsjournalismus der Times, und in Deutschland offenbarte der Leckert-Lützow-Tausch-Skandal, wie sich die unter Bismarck etablierte Pressekontrolle und das journalistische Spitzelwesen verselbständigt hatten und im Zuge des Skandals implodierten. In beiden Ländern forderten die Skandale damit als künftige Norm einen unabhängigen und zuver- Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Normen und Deutungen 483 lässig recherchierenden Journalismus ein, während sie die journalistischen Beeinflussungsversuche des Staates scharf zurückwiesen. Bei der Aushandlung dieser Normen durch Skandale beobachteten sich Großbritannien und Deutschland wechselseitig. Auf diese Weise entstanden nicht nur Vorstellungen über die Kultur des jeweils anderen Landes, sondern auch über die eigene. Dabei bildete Frankreich jeweils den wichtigsten Vergleichsmaßstab. Frankreich galt beiden Ländern als unmoralisches Schreckbild, in dem alle Formen von Skandalen auftreten würden. Die Halsbandaffäre bildete zunächst den wichtigsten Referenzpunkt, um im eigenen Land vor Skandalen zu warnen. Seit Mitte der 1890er Jahre übernahm der französische PanamaSkandal, der Korruption im größten Stil offen gelegt hatte, diese vielfältige Leitfunktion. Er machte eine korrupte politische Verschwörung denkbar und löste in Großbritannien und Deutschland ähnliche Vorwürfe aus, die oft wie in Frankreich antisemitisch gefärbt waren. Bei späteren Skandalen bildete der Panama-Skandal zudem einen Gradmesser, eine Art offene Richterskala, um die Schwere eines Skandals zu messen. Insbesondere beim deutschen KornwalzerSkandal wurde deutlich, wie sehr der Begriff „Panama“ auf diese Weise die Semantik eines ganzen Skandals durchziehen konnte. Indem Frankreich als das eigentlich amoralische Land abqualifiziert wurde, versicherten sich beide Länder ihrer moralischen Integrität, auch wenn die Skandale im eigenen Land stets französische Verhältnisse androhten. Kulturelle Transfers zwischen Großbritannien und Deutschland gingen vor allem vom Inselreich aus, wo die Skandale jeweils etwas frühzeitiger auftraten. Besonders deutlich wurde dies bei den Homosexualitätsskandalen, bei denen die Berichterstattung über die britischen Fälle auch in Deutschland eine Auseinandersetzung mit dem Thema einleitete, die schließlich in Skandale mündete. Umgekehrt griff die britische Öffentlichkeit durch ihre Berichte über die deutschen Homosexualitätsskandale zumindest zögerlich die dortigen Debatten auf, die eine wissenschaftliche Neubestimmung versuchten. Bei anderen Skandalen, wie um die Korruption in den Kolonien und im eigenen Land, eröffnete die rasche Abfolge ähnlicher Skandale einen Transfer von Diskurselementen, die entsprechende Normbrüche denkbar machten. Besonders bei den Kolonialskandalen sahen die Deutschen Großbritannien explizit als ein Vorbild an, um Skandale zu bewältigen und konkrete Lösungsvorschläge zu entwickeln. Die Monarchieskandale um Wilhelm II. zeigten schließlich einen direkten Austausch mit der britischen Öffentlichkeit und waren ein weiterer Beleg dafür, dass Skandale grenzübergreifend ihre Dynamik entfalteten. In der britischen Öffentlichkeit wurden die deutschen Skandale aufmerksam und ausführlich verfolgt und kommentiert. Sie trugen maßgeblich dazu bei, Vorstellungen über die Deutschen zu prägen. Besondere scharfe Kommentare lösten die zahlreichen Kolonialskandale und die Zabern-Affäre aus. Sie etablierten das Bild des brutalen Deutschen, der mit Gewalt erobert und selbst vor dem Auspeitschen von Frauen nicht zurückschreckt. Hieraus leiteten die Briten das Bild einer kolonialen Unreife Deutschlands ab. Ähnliches galt für die Skandale Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 484 VIII. Fazit um Wilhelm II. Auch wenn er erst im Weltkrieg zum Abbild des deutschen „Hunnen“ und Barbaren wurde, etablierten diese Skandale doch bereits Annahmen über die deutsche Aggressivität und Englandfeindschaft. Ebenso verbreitete der Leckert-Lützow-Tausch-Skandal Vorstellungen über die autoritäre Presselenkung der deutschen Polizei. Insgesamt waren die britischen Kommentare zu den deutschen Skandalen jedoch zurückhaltender als umgekehrt. Zudem sahen die Briten das Aufkommen der deutschen Skandale zugleich als Beleg eines anderen Deutschlands, das problematische Missstände nicht tolerierte. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte im Zuge der Skandale ein viel größeres Bedürfnis, sich an Großbritannien zu messen und hieraus die eigene kulturelle Überlegenheit abzuleiten. Insbesondere die eher konservativen Zeitungen sahen es immer wieder als schlimmste Folge der Skandale, dass sie das deutsche Ansehen im Ausland minderten. Öffentliche Enthüllungen und Debatten über die skandalösen Missstände wollten sie allein deshalb schon untersagen, um nicht den Spott der englischen und französischen Presse zu riskieren. Die deutschen Berichte über die britischen Skandale übten sich hingegen genau in diesem Spott und verstärkten ebenfalls Stereotype. So dienten die britischen Kolonialskandale als Beleg dafür, dass Großbritannien nur an der ökonomischen Ausbeutung Afrikas interessiert sei und nicht an humanitären Zielen, und aus den Skandalen um den Prince of Wales leitete sich die mangelnde Ernsthaftigkeit der Krone ab. Das wichtigste Ziel derartiger Berichte war jedoch, die deutschen Skandale zu relativieren und so die eigene nationale Reputation zu retten. Allerdings fielen die Bewertungen sehr unterschiedlich aus. So bildete etwa der britische Kolonialismus trotz der Skandale für die Liberalen und Sozialdemokraten ein Vorbild, an dem sich der deutsche Kolonialismus prinzipiell und bei der Behebung skandalöser Zustände orientieren sollte. Als folgenlos wird man die Skandale somit nicht bezeichnen können. In vielen Fällen führten sie nicht nur zu ungeschriebenen Verhaltensmaßregeln, sondern auch zu Gesetzesnovellen, die derartige Skandale künftig verhindern sollten. Sie verschoben die Grenzen zwischen der Sphäre des Privaten und Öffentlichen und ergänzten die politische Kommunikation um neue, nur scheinbar unpolitische Themen. Sie stärkten einen professionellen Journalismus und das Selbstbewusstsein der Presse. Zugleich förderten sie eine enge Verschränkung zwischen der Politik und den Medien, die insbesondere das Parlament aufwertete. Nicht minder folgenreich waren die Skandale auf der Ebene der individuell Betroffenen. Obgleich die beschuldigten Eliten zumeist nicht verurteilt wurden, verloren sie fast durchweg ihre bisherigen Stellungen. Vielfach kam es zu einer sozialen Ausgrenzung, die entweder den Rückzug ins Privatleben oder die Emigration nach sich zog. Auf allen diesen Ebenen entschieden die Skandale damit über soziale Inklusion und Exklusion. Sie formulierten, welcher Lebenswandel als zulässig galt, um eine politische Führungsposition einzunehmen oder als Beamter in den Kolonien zu dienen. Sie markierten, wer als ein zuverlässiger Journalist gelten konnte und welches Wirtschaftsunternehmen als angemessener Partner des Staates. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 2. Normen und Deutungen 485 Im normativen Sinne führten die Skandale mitunter zu Veränderungen, die man als Modernisierungs- oder Demokratisierungsprozess bewerten könnte. Das galt natürlich besonders für Skandale, die sich gegen Korruption, Vorteilsnahme oder Amtsanmaßungen von Beamten richteten. Nicht anders wird man die Konsequenzen der Kolonialskandale bewerten, die etwa die Todes- und Prügelstrafen stärker regulierten, die Ausbildung der Beamten verbesserten oder administrative Strukturen so veränderten, dass monopolartige Wirtschaftspraktiken mit überteuerten Produkten erschwert wurden. Gleiches gilt für Skandale, die das willkürliche Handeln der politischen Polizei oder den politischen Einfluss des Königshauses einschränkten. Dennoch waren Skandale kein Allheilmittel zur Verbesserung der Gesellschaft. Dies wird bereits deutlich, wenn man rekapituliert, was alles nicht zum Skandal wurde, obwohl es uns heute skandalös erscheinen mag. Insbesondere die soziale Ungerechtigkeit blieb nur im sehr begrenzten Maße ein Thema, das in Skandale mit einer wirkungsmächtigen Empörung mündete. Dennoch wiesen fast alle Skandale, trotz ihrer unterschiedlichen Themen, zumindest latent Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auf, indem sie sich gegen Privilegien wandten. Insbesondere die öffentliche Forderung nach einer Gleichheit vor Gericht trat bei fast allen Skandalen auf, wenn sich Eliten vor Gericht zu verantworten hatten. Dass Personen Normen brachen, die eigentlich für ihre Wahrung standen, machte die Skandale interessant und spektakulär. Dass diese Personen aber im Unterschied zum „einfachen Mann“ nicht verurteilt wurden, sorgte in den Medien, den Parlamenten und in den Kneipengesprächen für eine emotionale Empörung. Dennoch ging die „Politik der Sensationen“, die mit den Skandalen betrieben wurde, eben nicht in solchen Demokratisierungstendenzen auf. Die Skandale zeigten vielmehr, dass der Zusammenhang zwischen Medialisierung und Demokratisierung äußerst ambivalent war. Die Skandale politisierten und förderten Debatten, aber ihre Enthüllungen und ihre Folgen entsprachen häufig kaum demokratischen Idealen – etwa wenn sie mit Enthüllungen aus dem Privatleben Politiker diskreditierten und so verschärfte moralische Kontrollen auslösten. Die Skandale förderten eine politische Kritik, übten aber eine Kultur des Misstrauens ein, die das Vertrauen in die Politik schmälerte. Zugleich eröffneten sie jedoch die Chance, durch Reformen und Reinigungsrituale, wie unter Bernhard Dernburg nach den Kolonialskandalen 1906, neues Vertrauen zu schaffen. Wie schmal dieser Grad zwischen destruktiven Kampagnen und konstruktiver Empörung war, zeigte sich vor allem in der Weimarer Republik. Nun übernahm die politische Rechte jene Techniken der Skandalisierung, die bisher vornehmlich von den Sozialdemokraten, dem Freisinn und dem politischen Katholizismus eingeübt worden waren. Ihre Kampagnen, die mitunter in Skandale mündeten, sollten den Reputationsverlust der ersten deutschen Demokratie maßgeblich verstärken. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek DANK Am Beginn dieser Studie stand in gewisser Weise der CDU-Spendenskandal des Jahres 2000. Im Rahmen meiner Doktorarbeit über die Geschichte der Christdemokratie und der bürgerlichen Integration nach 1945 war ich vielfach auf die historische Dimension dieses Skandals angesprochen worden. Beim Versuch, mich hierzu genauer historisch einzulesen, stellte ich jedoch verwundert fest, dass systematische Arbeiten zur Geschichte von Skandalen oder zum Umgang mit Korruptionsvorwürfen bisher kaum vorlagen. Was damals als kleine Recherche begann, entwickelte sich dann zu einem umfangreichen Projekt zur Medien- und Kulturgeschichte der Jahrzehnte vor 1914. Diese Studie entstand dabei an zahlreichen akademischen Stationen, bei denen ich vielfältige Anregungen erhielt. Die ersten Konzeptionen und Forschungen begann ich 2001/02 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Lehrstuhl von Bernd Weisbrod, dem ich zahlreiche Impulse zur deutsch-britischen Geschichte verdanke. Von den damaligen Kollegen waren besonders Habbo Knoch und Daniel Morat wichtige Gesprächspartner, so wie auch andere Mitglieder des „Arbeitskreises Geschichte+Theorie“, mit denen ich die ersten Entwürfe diskutierte. Den Großteil der Quellenstudien und die Niederschrift führte ich dann zwischen 2003 und 2007 während meiner Zeit als Juniorprofessor am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum durch. Trotz meines etwas freischwebenden Status unterstützten mich dabei zahlreiche Kollegen durch einen konstruktiven wissenschaftlichen Austausch. Das galt ganz besonders für Lucian Hölscher und Klaus Tenfelde, die auf sehr unterschiedliche Weise meinen Blick auf das Kaiserreich und die historische Analyse insgesamt schärften, aber auch für Norbert Frei und Regina Schulte. Dem Historischen Institut und der damaligen Geschäftsführung ist zudem dafür zu danken, dass mir als Juniorprofessor, anders als damals in den Medien befürchtet, tatsächlich genug Freiraum für die Forschung blieb. Zudem gewährten sie mir eine Auszeit, um 2005 die Recherchen in den englischen Archiven und Bibliotheken mit einem Stipendium des DHI London vorzunehmen, wo ich zudem in zahlreichen Diskussionen konstruktiven Rat erhielt. Neben Dominik Geppert, der mir stets mit hilfreichen Anregungen zur Seite stand, nahmen sich besonders Karina Urbach, Benedikt Stuchtey und Indra Sengupta Zeit für Gespräche. Bei meinen zahlreichen Archivreisen in Großbritannien stand mir besonders Bernhard Fulda hilfreich zur Seite, der mir dankenswerterweise schon im Sommer 2004 seine Wohnung in Cambridge zur Verfügung stellte. Dank gebührt dem DHI London und seinem Beirat schließlich nicht nur für das Forschungsstipendium, sondern auch dafür, dass die Studie in seine Reihe aufgenommen wurde. Nachdem das Manuskript abgeschlossen wurde, erfolgten 2007 nach meinem Wechsel an die Universität Gießen die letzten Überarbeitungen. Insbesondere die äußerst produktiven Diskussionen im Rahmen des dortigen Graduiertenkollegs „Transnationale Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 488 Dank Medienereignisse“ machten mir deutlich, wie viel man bei der Studie noch hätte ergänzen können. Darüber hinaus ermöglichten mir zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, Teile meiner Studie in ihren Forschungskolloquien zu diskutieren, so etwa in Bielefeld, Braunschweig, Freiburg, Frankfurt a. M., Göttingen, Köln, Stuttgart, Zürich und der University of Sussex, bei denen ich ebenso vielfältige Hinweise erhielt wie bei Tagungsvorträgen zu einzelnen Kapiteln. Produktive Anregungen verdanke ich insbesondere auch dem Arbeitskreis Deutsche England-Forschung (ADEF), dessen Jahrestagung 2007 zu einem entsprechenden mediengeschichtlichen Themenfeld organisiert werden konnte. Zu großem Dank bin ich auch zahlreichen studentischen Hilfskräften verpflichtet, die mich bei der Entstehung des Buches unterstützten. Patrick Buber und Markus Höninger trugen Buchpakete heran und recherchierten historische Zeitungsartikel, ebenso wie Eva Modrey, Jutta Abraham und Marcus Boieck, die zugleich erste Textentwürfe korrigierten. Bei der Formatierung der Buchpublikation und Durchsicht der Fahnen halfen schließlich Alexander Gast, Annalena Schmidt und Paul Berten. Zudem standen mir zahlreiche Kollegen bei der inhaltlichen Durchsicht des Manuskriptes zur Seite. Insbesondere Peter Hoeres und Norman Domeier gaben detaillierte Hinweise zum gesamten Text. Großer Dank gebührt aber auch Manuel Borutta, Jens Ivo Engels und Dominik Geppert, die Teile des Buches Korrektur lasen. Schließlich möchte ich von Seiten des DHI London Markus Mößlang und ganz besonders Jane Rafferty danken, die durch ihre äußerst umsichtige Endkorrektur dem Text seinen letzten Schliff gaben. Gießen, im März 2008 Frank Bösch Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek ABKÜRZUNGEN AA abgedr. AdsD AfK AfS BA/K BAB/L BIZ BL BT CAC CEH EPRE erg. Ausg. Faks. GG GStA HAK H.i.O. HLRO HStAH HZ LB Leg.per. LSE MP NL NPL TNA NLI ÖZG PAAA RT SCRR Sess. Sitz. SOAS Sp. Staatssekr. STAH Sten. Ber. UCD UiO WTB ZfG Auswärtiges Amt abgedruckt Archiv der sozialen Demokratie Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Sozialgeschichte Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde Berliner Illustrirte Zeitung British Library Manuscript Collection British Telecommunications Churchill Archives Centre Central European History Committee of Emin Pasha Relief Expedition ergänzte Ausgabe Faksimile Geschichte und Gesellschaft Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Historisches Archiv Krupp Hervorhebung im Original House of Lords Record Office Hauptstaatsarchiv Hamburg Historische Zeitschrift Landesarchiv Berlin Legislaturperiode London School of Economics Member of Parliament Nachlass Neue Politische Literatur The National Archives National Library of Ireland, Manuscript Department Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Reichstag Special Collections Reading Room Session Sitzung School of Oriental and African Studies Library/London University Spalte Staatssekretär Hauptstaatsarchiv Hamburg Stenographische Berichte University College Dublin Archives Unterstreichung im Original Wolff’s Telegraphisches Bureau Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Ungedruckte Quellen (Kurzverzeichnis) Archive in Großbritannien Birmingham University, Special Collections Department Joseph Chamberlain British Library, Manuscripts Collection, London John Poyntz Althorp (5. Earl Spencer) Viscount Alverstone (Richard Webster) Hugh Oakeley Arnold-Forster Arthur James Balfour Henry Campbell-Bannerman G.K. Chesterton Charles Dilke Thomas Escott James Garvin Viscount Herbert John Gladstone William Gladstone Sir Edwald Hamilton Lord Northcliffe George Alladice Riddell George Bernhard Shaw John Alfred Spender CUP 363 (Sammlung zur Homosexualität) BT Archives, London Bestand Post Office Cambridge University/Churchill Archives Centre Reginald Brett (2nd Viscount Esher) Winston Churchill William Thomas Stead Hatfield House, Hatfield Marquess of Salisbury London School of Economics, Archives Division Alfred George Gardiner The National Archives, Kew Records of the Cabinet Office Colonial Office Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 492 Quellen- und Literaturverzeichnis Records of the Central Criminal Court Records of the Director of Public Prosecutions Pro Domestic Records/Kitchener Papers Pro Domestic Records/Napier Papers Records of the Exchequer Home Office, Ministry of Home Security Records of Justices Records created and inherited by HM Treasury War Office House of Lords Record Office/Parliamentary Archives, London Bonar Law Ralph David Blumenfeld George Henry Cadogan Lloyd George John St. Joe Strachey School of Oriental and African Studies Library (SOAS), Archives & Manuscripts, University of London Sir William Mackinnon West Sussex Record Office, Chichester Maxse Papers Archive in Irland National Library of Ireland, Manuscript Department, Dublin Michael Davitt Harrington Papers Amy Mander Papers Michael McDonough Papers McWeeney Papers Joseph McGarrity Collection William O’Brien W. H. O’Shea Richard Pigott Diverse Unterlagen zu Parnellism and Crime und Parnell vs. O’Shea Trinity College Dublin T. P. O’Connor University College Dublin Tim Healy Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Quellen 493 Archive in Deutschland Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn August Bebel F. 202 Kurt Eisner F. 212 Wilhelm Liebknecht F. 200 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam Rep. 12 B Berlin I Rep. 37 Liebenberg Bundesarchiv Berlin (Lichterfelde) August Bebel NY 4022 Georg Bernhard N 2020 Kurt Eisner NY 4060 Eugen Ernst NY 4025 Otto Hammann N 2106 Eduard Lasker N2167/1-367 Theodor Lewald N 2176 Karl Liebknecht NY4001 Wilhelm Liebknecht NY 4034 Nachlass Carl Peters N 2223 Jesko von Puttkamer N 2231/1-11 Reichskanzlei R 43 Reichspressekammer R 56 Reichskolonialamt R 1001 Behörden Deutsch Südwest R 1002 Reichsjustizministerium R 3001 Reichslandbund Pressearchiv R 8034 II und III Bundesarchiv Koblenz Bernhard Fürst von Bülow NL 1016 Bernhard Dernburg NL 1130 Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld NL 1029 Sammlung Fechenbach ZSg 113 Walter Frank NL 1067 Maximilian Harden N 1062 Hohenlohe-Schillingsfürst N 1007 Alfred Hugenberg N 1231 Friedrich Wilhelm Loebell N 1045 Theodor Wolff NL 1207 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Geheimes Zivilkabinett, Rep. 89 Haus und Hof der Hohenzoller/Wilhelm II., BPH Rep. 53 Justizministerium, HA I. Rep. 84 a, Kronrats-Sitzungsprotokolle, HA I. Rep. 90a Ministerium des Innern, Rep. 77 Oberhofmarschallamt, Rep. 113 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 494 Quellen- und Literaturverzeichnis Staatsministerial-Sitzungsprotokolle, HA I. Rep. 90a Staatsministerium, Rep. 90 Abt. ST von Studt, HA I. Rep. 92 NL Hauptstaatsarchiv Hamburg Bestand Politische Polizei 331-3, Vigilanzberichte und Unterlagen Schack Historisches Archiv Köln Nachlass Bachem 1006 Historisches Archiv Krupp/Essen FAH WA W IV Landesarchiv Berlin Landgericht Berlin Stadtgericht Berlin Polizeipräsident Berlin Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin Deutschland 122 Deutschland 126 Deutschland 126a secr. Gedruckte Quellen Systematisch ausgewertete Zeitungen/Zeitschriften Ausgewertet in: Cambridge University Library, British Library London, Staatsbibliothek Berlin, Institut für Zeitungsforschung Dortmund; nicht aufgeführt sind punktuell oder durch Ausschnittssammlungen erfasste Medien. The Daily Mail Daily News The Daily Telegraph Illustrated London News Illustrated Police News Morning Leader Morning Post The Pall Mall Gazette Punch Reynolds’s Newspaper The Standard The Star The Times United Ireland Westminster Gazette Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Quellen 495 Berliner Illustrirte Zeitung Berliner Lokal-Anzeiger Berliner Tageblatt BZ am Mittag Kladderadatsch Kölnische Volkszeitung Monatsbericht des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“) Simplicissimus Vorwärts Vossische Zeitung Die Zukunft Parlamentsprotokolle Hansard’s Parliamentary Debates, London. Verhandlungen des Reichstages. 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How they evolved, and the effects they had, are analysed by comparing Britain with Germany, but also taking account of the transfer effects across national borders. Approaching politics from the perspective of cultural history, the book addresses the question as to how far the scandals influenced political communication, power structures and cultural norms, and how the relationship between politics and public changed. Thus it contributes equally to cultural, media and political history. Although the structures of politics and public were different in Germany and Britain, the scandals reveal similar tendencies in the two countries. In the German Kaiserreich the media and the Reichtsag imposed limits on the authoritarian state by the scandals, while the British scandals show that Britain’s political and cultural liberalism should not be over-estimated. In both countries the governments sought to prevent scandals by influencing the judiciary, though this was generally counter-productive. What also becomes clear is that the increase in scandals in the two countries was not only attributable to the simultaneous emergence of the mass and popular press. Rather, the revelations were the result of interaction between politicians and those newspapers closely connected with them. They deliberately broke rules of communication in order to attract attention and stir up emotions, and to instrumentalise the revelations for the purposes of their general political aims. The scandals also played a part in removing taboos. They made such issues as homosexuality, divorce or relationships with African women into popular topics of public discussion. They created not only stereotypes, but also new knowledge of spheres that were previously relatively unknown. In this way the scandals developed normative demands as regards the behaviour of monarchs, politicians, or civil servants. Moreover, they led to legal reforms, but also to a pessimistic perception of increasing moral decline. In each case the British commentary on German scandals and vice versa reinforced ideas about the other country. Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek REGISTER Personenregister Fußnoten wurden nicht berücksichtigt. Ablaß, Bruno 291, 298 Abt, Eduard 399 Ahlwardt, Hermann 210, 446 f. Akwa, Prinz 293, 310 Albert Victor („Prinz Eddy“) 75, 80, 94, 256 Alexander, Zar 347 Allers, Wilhelm 100 Anderson, Robert 336 Antoinette, Marie 367, 376 Arenberg, Prosper von 268, 277 f., 287, 289 Argyll, Duke of 164 Aristophanes 8 Arnim, Harry von 283, 344 f. Arnolds, Matthew 330 Arons, Leo 447 Asquith, Emma Alice Margaret 442 Asquith, Herbert Henry 432, 443 August, Heinrich 426 Bachem, Julius 209, 211 Bachem, Karl 210 f., 399 Balfour, Arthur 87, 203, 249, 259, 261, 338 f., 343, 428 Ballestrem, Franz Graf von 111 Ballin, Albert 140 Bankes, William John 55 f. Barmat, Brüder Judko, Henry, Julius und David 468 Barschel, Uwe 108 Barth, Boris 226 Barttelot, Major 237–244, 246 Bassermann, Ernst 147, 413 Beaufort, Duke of 82 Bebel, August 49, 98, 100, 152, 169, 268, 275, 278–281, 283, 285, 289, 291, 294, 304, 305, 353, 357, 405, 474 Bell, Moberly 249 Belloc, Hillaire 434, 436 Belt, George 208 Bennett, James Gordon 234 Berckheim, Sigismund von 413 Bergami, Bartolomeo 372 Berger, Alfred von 123 Bernstein, Eduard 97 f., 101, 128, 130, 282 f. Beseler, Max von 136, 139 Bethmann-Hollweg, Theobald von 317– 319, 321 Bilse, Fritz Oswald 316 Bismarck, Herbert von 357, 382 Bismarck, Otto von 32, 58, 108, 265, 273 f., 315, 344–347, 354, 357 f., 362, 382, 394, 397 f. 401, 407, 426 Bismarck, Wilhelm von 381 Bleichröder, Gerson von 210, 426, 445 f. Boetticher, Karl Heinrich von 345, 351, 360 Bolton, George 62–64, 66, 68 Bonny, William 239 f. Booth, Charles 31 Bothmer, Ernst von 397 Böttcher, Karl 105 Boulton, Ernest 56–58 Bourdieu, Pierre 13 Bradlaugh, Charles 162 Brake, Laurel 78 Brand, Adolf 50, 97, 117, 129 f., 156 Brandt, Maximilian 449, 451, 456–460, 465 Brauchitsch, von (Regierungsrat) 293 Brennam, James 25 Brett, Reginald 75 f., 81 f., 183, 196, 240, 341 Bringmann, Tobias 396 Bronsart von Schellendorf, Walter 346, 350 f. Brown, John 372 f. Buchner, Max 226 Buckle, George Earle 342 Bulach, Zorn von 318, 320 Bülow, Bernhard von 40, 121–123, 125, 129 f., 134 f., 139–141, 147, 151 f., 156, 212–215, 217, 271, 283, 295, 301–306, 357, 403, 405–414 Bülow, Kuno Graf von 119 Burke, Thomas Henry 61, 333 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 532 Register Burkes, Edmund 228, 261 Butler, Josephine 192 Butler, William 258–260 Cadbury, George 36, 252, 257, 430, 432 Caillaux, Joseph 435 Caine, W. S. 183 Campbell, Lord Colin 164, 190 Campbell-Bannerman, Henry 232, 250, 254, 259 Caprivi, Leo von 265, 277, 344, 347, 351–353, 398 Caroline, Queen 365, 369–372, 375 f., 379, 381, 388, 393 Carpenter, Edward 50 f. Castlereagh, Viscout 55 Cavendish, Frederick 61, 333 Chaillaux, Joseph 208, 209 Chamberlain, Joseph 96, 178, 183 f., 188, 196 f., 199, 206, 247–253, 256, 324, 339, 428 f. Chesterton, Cecil 436, 445 Churchill, Randolph 181, 309 Churchill, Winston 430, 440 Clark, Anna 26 Clifford, John 204 Clinton, Arthur 57 Cobain, Edward Samuel Wesley de 86, 87, 89, 94, 207 Cobbet, William 53, 369, 371, 422 Columbus, Christoph 234 Connellan, Corry 62 Conrad, Joseph 246 Cooper, Admiral Lord 408 Cornwall, Gustavus Charles 66 Courtenay, Viscount 53 Crawford, Virginia 185 f., 188, 191 Crewe, Earl of 309 Dallwitz, Johann von 320 Daniel, Ute 17 Dasbach, Georg Friedrich 117 Deimling, Berthold von 317 Dernburg, Bernhard 303–308, 409, 485 Dilke, Charles 24, 173, 177–185, 187– 192, 194–196, 200, 203, 206 f., 222 f., 249 Donald, Robert 441 Donaldson, Frances 24 Douglas, Lord Alfred 89, 91, 100 Dreges, Max 449 Dreyfus, Alfred 2, 25, 98, 111, 250, 339, 396, 434 f., 462 Dyer, Alfred S. 230 Eardly-Wilmot, Sir John 229 Eccius, Direktor 449, 459 f., 464 Edward VII. (bis 1902 Prince of Wales) 71, 75, 180, 236, 260, 309, 365, 367, 373–378, 383–393, 410, 414, 416, 418 f., 477, 481 f., 484 Egan, Patrick 332, 340 Einem, Karl von 147 Eisner, Kurt 101, 107, 113 Elbe, Lilli von 124 Ellis, Havelock 51 Ellis, James 62 Engels, Friedrich 59 Erbar, Ralph 291 Ernst Günther, Herzog von SchleswigHolstein 396 Ernst, Jakob 139 Erzberger, Matthias 290–292, 294–299, 304 f., 307, 318, 327, 464, 468, 472 Esher, Viscount siehe Brett, Reginald Eulenburg, August Graf zu 112, 348 Eulenburg-Hertefeld, Philipp Friedrich Alexander Fürst zu 110 f., 113, 116, 119–140, 142, 144, 146, 148–150, 152– 154, 211–214, 216, 219, 311, 346, 352, 357–359, 382, 395, 397 f., 400, 407, 409, 412 Euston, Lord 77, 80, 85, 89 Falkenhayn, General 314 f., 320 f. Farran, Assad 238 Ferdinand IV., Großherzog von Toskana 380 Fischer, Major 299 f. Fiske, John 17 Flanagan, Woulfe 335 Foucault, Michel 13 f., 159 Forstner, Günter Freiherr von 312, 316, 319–321 French, James Ellis 64, 66 Friedrich III. 345 Friedrich August, Prinz von Sachsen 380 Fröhlich, Michael 30 Gardiner, A.G. 441 Gaß, Flora 210 Geffken, Heinrich 345 Georg IV. 369–372, 388 George, Lloyd 232, 252, 254, 429–431, 433, 435, 437–440, 441–445, 468 Geppert, Dominik 30 Giesebrecht, Franz 267, 287 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Personenregister 533 Gladstone, William 32, 61, 67, 68, 84, 178, 181, 188, 191, 193 f., 197, 202–206, 236, 238, 332, 337, 340, 342, 376 f., 390 f. Glagau, Otto 445 f. Gordon, Charles George 236, 408 Gordon-Cumming, William 384 f., 390 f. Gradenauer, Georg 105 Granville, Charles 442 Greville, Charles 54, 369 Groth, Otto 15 Gründer, Horst 291 Guillaume-Schack, Gertrud 168 Gutmann, Eugen 166 Holstein, Friedrich von 122, 134, 154, 213, 217, 395, 398, 414 Horn, Waldemar 298, 301 Houston, Edward Caulfield 199, 334 f. Huber, Ernst-Rudolf 119 Hudson, George 423 Hugenberg, Alfred 449 f., 453 f., 459, 464, 466 Hughes, Hugh Price 204 Hughes-Hallet, Francis Charles 190 Hülsen-Haesler, Dietrich Graf von 154 Hyam, Ronald 226 Habermas, Jürgen 6 Hale, William Bayard 408, 410 f., 414, 416 Hall, Alex 24 Hall, Stuart 17 Hamilton, Emma 201 Hammann, Otto 40, 129, 173, 214–217, 222 Hammerstein, Wilhelm von 210, 331, 447 Hammond, Charles 74, 85 Hampton, Mark 30 Harcourt, William 250, 341 Harden, Maximilian 1, 44, 106 f., 113, 120 f., 123–134, 136, 139–142, 146, 150– 153, 281, 285, 293, 298, 310, 329 f., 351, 354, 381, 391, 394, 397, 404, 413, 414, 416, 424, 472 Hauptmann, Gerhart 49 „Hauptmann von Köpenick“ 318 Haux, Ernst 459 Healy, Tim 60, 62, 64, 67, 86, 195, 206, 337, 340, 472, 474 Heber, Richard 55 Heeringen, Josias von 453, 463 Heinrich VIII. 159 Heinze, Hermann 35, 169 f., 210 Herold, Anton Bruno 275 Hirsch, Baron 383 f. Hirschfeld, Magnus 49, 98, 100, 106 f., 116 f., 120, 130–132, 142, 148, 153, 157 Hobhouse, Emily 253–255 Hobson, John 232 Hofmeister, Rudolf 274 f., 279 Hohenau, Wilhelm Graf von 116, 138, 144, 148, 153 Hohenlohe-Langenburg, Ernst zu 301 f. Hohenlohe-Schllingfürst Chlodwig Carl Viktor Fürst zu 40, 122, 283, 351, 354–356, 359–361 Isaacs, Rufus 433 f., 437 f., 441–443 Isenbiel, Hugo 133, 139 Israel, Hermann 118 „Jack the Ripper“ 35, 189 Jacobs, Legionsrat 308 Jagodjo 284, 285 Jameson, Leander Starr 238–242, 247, 250, 282 Jeffries, Mary 172 Jenkins, Roy 188 Joachim Albrecht, Prinz von Preußen 382 Jocelyn, Percy (Bishop of Clogher) 52 f. Joyce, Ministerialbeamter 338 Kayser, Paul 275, 277, 279, 283, 285 Kennedy, Paul 30 Kiderlen-Wächter, Alfred von 173, 211– 213, 215–217, 395, 400 Kitchener, Lord 255 Knollys, Lord 391 Koch, Robert 341 Koeppen, Marie 170 Kohlrausch, Martin 25, 149, 407 Köller, Ernst Matthias von 352 Korn, Assessor 102–104, 112 Kotze, Leberecht von 395–400 Krüger, Stephanus Johannes Paulus („Ohm“) 282, 411 Krupp, Alfred 106 Krupp, Friedrich Alfred 1, 5, 94, 96 f., 99–117, 120, 125–127, 141 f., 148, 157, 218, 405 Krupp, Margarethe 112 f. Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 449, 459 Kupffer, Hugo von 49 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 534 Register Labouchere, Henry 34, 69 f., 75, 78, 80–86, 91, 122, 197 f., 232, 244, 248, 340, 472 Larsen, Heinrich 360 Lasker, Eduard 426 Lassalle, Ferdinand 59 Law, Bonar 428, 435, 441 f. Lawson, Harry 441 Lawson, Wilfrid R. 436 Le Caron, Henri 336 Leckert, Heinrich 343, 345, 348–350, 360 f., 482 Lecomte, Raymond 123 Ledebour, Georg 291 Lee, Alan 37 Leid, Carl 103 Leist, Heinrich von 18, 264, 266–274, 276–278, 280, 282, 284 f., 287, 289, 323, 477 Lever, William 430–432 Levysohn, Arthur 355 Liebermann, Max 49 Liebknecht, Karl 450–452, 455, 460 f., 464, 466 f., 474 Liebknecht, Wilhelm 353 Limburg-Stirum, Friedrich Wilhelm Graf 355 Livingston, David 234–236 Loebell, Friedrich Wilhelm von 215 Lucanus, Hermann 347 Ludwig I. 379 f. Ludwig II. 58, 381 Luhmann, Niklas 17 Luise von Sachsen 380 f. Lützow, Karl von 343, 345, 348–351, 354, 360 f., 482 Lynar, Rochus Graf 128, 138, 144, 147, 153 Mabruk 284 MacDonald, Hector 44, 92–97, 104, 339, 342 Mackinnon, William 235 McKenzie, Kirsten 26 Malzan, Reichsfreiherr von 58 Manning, Kardinal Henry Edward 181, 183, 191 Manteuffel, Otto von 281 Marconi, Guglielmo 433 Marquardt, Direktor 459, 456 Marschall von Bieberstein, Adolf von 269, 277, 346, 348 f., 351–356, 358, 360 Marx, Karl 59 Massingham, Henry William 441 Matthews, Henry 73–76, 80, 385 Maxse, Leopold 430–433, 437 Meiningen, Charlotte von 396 Melbourne, Viscount 173–177, 188, 201 Meyer, Oberrichter 293 Meyers, Rudolf 446 Miquel, Johannes von 446 Moll, Albert 116 Moltke, Kuno Graf von 119, 121–124, 127 f., 130–132, 138–142, 144, 146–149, 154, 211–213, 216, 409, 414, 478 Mommsen, W. J. 311 Montefiore, Dora 208 Montez, Lola 379–381 Mordaunt, Harriett 373–376 Morel, Edmund 232 Morgan, Oberst 257 f. Mosse, Rudolf 29, 36, 435, 466 Mouths, Direktor 456 Muehlon, Wilhelm 449, 459 Müller, Ernst 292 Munckel, August Carl 356 Murray, Lord 433, 437–439, 441 Napoleon 398, 425 Naumann, Friedrich 414 Nicholas, Rogers 368 Nicholls, David 188 Nelson, Admiral Horatio 201 f. Newbold, J.T. Walton 450 Newnes, George 29 Normann-Schumann, Ernst 346 f., 351–353, 357 Northcliffe, Lord 21, 29, 36, 38, 252, 263, 431f,. 439 f., 441, 472 Norton, Caroline 173–176 Norton, Richard 173–175 Noske, Gustav 327, 464 O’Brien, William 60 f., 63–67, 122, 203 O’Kane, Timothy Joseph 177 O’Shea, Katherine 194 f., 199, 202 f., 206 O’Shea, William 192–200, 202, 339 Oliver, Edwin 436 Osterhammel, Jürgen 226 Ostwald, Hans 31 Palmerston, Lord 177, 201 Park, Fredrick William 56–58 Parke, Ernest 76 f., 79, 80, 84 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Personenregister Parnell, Charles Stewart 24, 61, 132, 173, 190, 192–208, 212, 222, 245, 332–343, 474, 482 Pascha, Emin 236–238, 242, 244 f., 276 Pearson, Arthur 36 Peel, Robert 54 Peters, Carl 18, 233, 236, 239, 264 f., 275–289, 293, 323, 477 Pfeiffer, Maximilian Joseph 118 Pigott, Richard 335, 339–342, 368 Podbielski, Victor von 295, 299 f., 302 Poeplau, Oskar 292, 294 Polo, Marco 234 Polstorff, Wilhelm 399 Porter, Bernhard 28 Preußen, Joachim Albrecht von 166 Probyn, Dighton 81 Puttkamer, Jesco von 212, 292–294, 298, 302, 304, 309 f. Queensberry, Marquis of 89, 91 Quidde, Ludwig 395–397, 400 Rathenau, Walter 123 Redl, Alfred 149 Reischach, Hofmarschall Freiherr von 395 Requate, Jörg 29 Rhodes, Cecil 247–250 Richter, Eugen 268, 282, 356, 405 Richthofen, Oswalt von 102 Riddel, George 439, 441 Riedel, Georg 139 Rilke, Rainer Maria 49 Robbins, Alfred 197 Roeren, Hermann 291 f., 294, 298, 305–307 Rohan, Kardinal Louis René de 367 Röhl, John 153, 381, 394, 396 Rose, Friedrich Wilhelm 269–271 Rosebery, Lord 91, 178, 248 Rosenberg, Journalist 378 Rötger, Direktor 459 Salisbury, Lord 70, 72–76, 80–84, 188, 203, 236, 332 f., 337 f., 341, 385 f., 390, 392 Samuel, Herbert 433 f. Sauderson, E.J. 337 Schack, Wilhelm 173, 217, 218–220, 222 f. Schall, Martin 278 Scheckell, Edward 55 535 Scheefer, Max 129 Scherl, August 29, 36, 302, 350 Schmidt, Geo A. 291 Schmidt-Gernig, Alexander 25 Schmitz, Bruno 214–216 Schoen, Wilhelm von 211, 415 Schönstedt, Karl Heinrich von 281 Schrader, Karl Freiherr von 399 Schrempf, Friedrich Christian 293 Schröder, Friedrich 286, 287 Schweinfurth, Georg 239 Schweizer, Johann Baptiste von 59 Scott, C. P. (Charles Prestwich) 93, 254, 439, 441 Seitz, Theodor 309 Senett, Richard 6 Shaw, Bernhard 83 Shaw, Flora 232, 249 Silberrand, Hubert 262–264, 326 Sklarek, Brüder Max, Willi u. Leo 468 Smithies, Bischof 283 Soames, Joseph 338 f. Soden, Julius Freiherr von 266, 277 Somerset, Arthur 24, 71–77, 81 f., 85, 89, 94, 101 Spahn, Peter 147, 297, 301 Spencer, Earl 63, 68 Stadthagen, Arthur 211 Staerck, Wingolf 351 Stampfer, Friedrich 108 Stanhope, Edward 390 Stanley, Henry Morton 28, 233–238, 241–247, 256, 262–264, 267, 273, 276, 282, 288, 324, 477 Stead, William T. 13, 39 f., 65, 69, 73, 85, 90 f., 93, 120, 164, 167–169, 171 f., 177– 179, 182 f., 184 f., 187, 189 f., 194–196, 201–203, 222 f., 230, 239, 241, 248–250, 330, 333 f., 340 f., 349, 386 f., 391, 407 f., 472 Stephenson, Augustus 71 Sternberg, August 170–172, 427 Strachey, John Loe 249, 253, 435, 441 f. Strausberg, Bethel Henry 426 Struensee, Johann Friedrich 368 Stuart-Wortly, Edward James 408, 410 Stuebel, Oskar Wilhelm 301 Südekum, Albert 464 Sullivan, Timothy Daniel 194 Tausch, Eugen von 343, 345, 347–354, 358–360, 362, 482 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 536 Register Taylor, Alfred 89 Thiele, Adolf 117, 137 Thyssen, Heinrich 166 Tippelskirch, Kurt von 299–301, 427 Tippoo Tib 240 Tirpitz, Alfred von 459 Tresckow, Hans von 100, 131, 144, 149 Trevelyan, George 62 Troup, John Rose 239, 245 Tschirschky, Heinrich Leonhard von 146 Tucker, Bischof Alfred Robert 279, 283 Uetritz, Leutnant von 146 Ullstein, Leopold 29, 36, 38, 435 Ulrichs, Karl Heinrich 48–50, 59 f. Valentin, Wilhelm 267, 269 Verney, Edmund Hope 207 f. Victoria, Queen 32, 84, 163, 188, 365 f., 370, 372 f., 376–379, 383, 388, 390, 392, 406, 418 Virchow, Rudolf 48 Vollmar, Georg von 111, 115, 275 Wagener, Vortragender Rat 426 Waldersee, Alfred Graf von 357, 361 Wangenheim, Baron von 212 Ward, Herbert 239 Webster, Richard 338 Wedel, Graf Edgar von 128, 136, 153, 318, 320 Wehlan, Alwin Karl 18, 264, 266 f., 269, 272–274, 276–278, 280, 284 f., 287, 289, 323 Wellington, Duke of 55, 202 West-Ridgeway, Joseph 93 Wilde, Oskar 44, 87–92, 94, 97 f., 100 f., 116, 207 Wilkes, John 368 Wilhelm I. 32, 366, 393, 418 Wilhelm II. 3, 25, 99, 102 f., 109–113, 116, 119–125, 127, 131, 136, 138, 141, 148–154, 156, 172, 279, 282, 302, 314 f., 318 f., 347, 350–352, 354, 359–361, 365, 367, 381–383, 393–419, 424, 450, 452, 459, 471, 474, 481–484 Wilmot-Brooke, Graham 237 Winzen, Peter 407 Wissmann, Hermann von 265 f. Wistuba, Emanuel Leopold 292, 294 Woermann, Carl 301, 427 Wolf, Eugen 265 f., 279, 286, 349 Wolff, Theodor 317, 396 Wortley, Colonel Stuart 95 Zastrow, Carl von 59 Zedlitz-Trützschler, Graf Robert 100, 148 Zimmermann, Eugen 139, 302 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Sachregister 537 Sachregister Die Fußnoten wurden nicht berücksichtigt. Zeitungen und Zeitschriften sind nur verzeichnet, wenn sie im Text namentlich und häufiger erwähnt sind. Antisemitismus 118, 128 f., 131, 171, 217, 220, 252, 303, 346, 351, 355, 433–435, 442, 445–447, 462, 482 – Skandale gegen Antisemiten 217–223, 446 f., 467 f. Baccaratskandal 382–392, 418, 477 Berliner Illustrirte Zeitung 22, 29, 40, 105, 120, 164, 230, 294, 306, 349, 416, 417 Berliner Lokal-Anzeiger 21, 29, 39, 49, 105, 137, 150 f., 300, 310, 405, 454 Berliner Tageblatt 21, 94, 105 f., 131, 137, 152, 218 f., 232, 265–267, 274, 286 f., 293 f., 313, 317, 343, 351, 355, 396, 416, 466 Boxeraufstand 289, 402–406 Burenkrieg 92 f., 231 f., 247 f., 250–262, 289 f., 326, 393, 406, 412 BZ am Mittag 21, 29, 38, 40, 105 f., 112, 118, 124, 133, 149, 301, 411, 458 Caligula-Skandal 331, 394–401 Cleveland-Street-Affair 44, 70–85, 88–92, 96, 101, 136, 385, 475 Daily Mail 21, 38 f., 94, 162, 231, 251, 254, 259, 431, 440 f. Daily News 21, 64, 94 f., 187, 198, 207, 235, 244 f., 252, 257–259, 336 f., 385, 387, 430, 437, 440–442 Daily Telegraph 2, 21, 24 f., 64 f., 108, 139, 153, 162, 179 f., 182, 187, 191, 200, 211 f., 216 f., 235, 242, 244, 311, 322, 336, 349, 365, 367, 376–378, 406–408, 410–412, 416 f. Daily-Telegraph-Affäre 24 f., 139, 153, 211 f., 216, 365, 406–417 Detektive 66, 77, 89, 91, 124, 156, 185, 476 Dienstmädchen/Diener 100, 133–135, 143, 164, 174, 176, 182 f., 185 f., 199, 207, 210–213, 216, 278, 284, 374, 397 Dilke-Affaire 24, 173, 177–192, 194–196, 200, 203, 206 f., 222 f., 249 Dreyfus-Affäre 2, 25, 98, 111, 250, 339, 396, 434 f., 462 Dublin-Castle-Scandal 60–69, 192 Duell 123 f., 316, 399 f., 474 f. Ehebruch/außerehelicher Verkehr – Adel 159, 164 f., 173 f., 190 f., 211, 368–382 – Deutungen 175, 179–182, 187, 189, 191, 200–207, 213 f., 218 f., 480 – Enthüllung 164–166, 173 f., 178–180, 193–197, 211 f., 215, 217 f. – Folgen 176 f., 188–191, 207, 215–217 – Toleranz 175 f., 179–181, 198, 201, 203, 212–215, 221, 298 f. Frankfurter Zeitung 118, 141, 271, 320, 347, 403 Frankreich (vgl. auch Panama-Skandal, Dreyfus-Affäre u. ä.) 3, 46 f., 51, 55, 57, 66, 74, 82, 86, 90–92, 97, 108, 161, 182, 188, 208 f., 242 f., 256, 300, 313, 316, 322, 344, 349 f., 358, 367 f., 376, 383, 388, 418, 426, 423–427, 434, 446 f., 452, 461 f., 467 f., 483 Frauen (vgl. Dienstmädchen, Ehebruch, Kolonialismus/Sexualität, Prostitution) – Ehefrau des Skandalisierten 61 f., 66, 68, 99, 103, 112 f., 124, 131, 148, 180, 183–185, 187, 206, 214 f., 241 f., 299, 351, 368–371 – Ehefrauen als Unterhändlerinnen 124, 183–185, 187, 194, 202, 212, 241 f., 253–255, 299, 442, 476 – Frauenbewegung/-verbände 167 f., 170, 192, 286 – Homosexualität 46, 90, 97, 103 – Hysterie-Zuschreibung 131, 180 f., 187, 191, 374–377, 476 – Zuschauerrinnen/Leserinnen 124, 135, 149, 191 f., 390, 477 Freeman’s Journal 62 f., 67, 198, 204 Halsbandaffäre 119, 350 f., 367 f., 376, 387, 418, 483 Homosexualität Kap. II – Adel 58, 70–91, 119–155 – Begriff 43, 48, 51 f., 54, 65, 77, 108, 122, 156 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 538 Register – Bordelle 70–81 – Deutungen 43–60, 65, 67, 77–80, 88–90, 93, 97 f., 106 f., 116, 141–158, 479 – Emigration nach Skandal 53, 55, 56, 66, 74 f., 81 f., 85, 87 – Erpressung von H. 55, 68, 85, 87, 116– 118, 121, 129, 134, 146 f. – Geistliche 52–55, 68, 117 – Justizurteile 44–47, 53, 55 f., 59, 66, 89, 128 f., 153 – Kolonien 92–97 – Militär 57, 92–97, 119, 127, 144–149 – Recht 44–49, 69, 98, 101, 106–108,117, 125, 130, 153, 155 – Schichtübergreifender Verkehr 52 f., 58, 70–81, 92 f., 101, 133–135 – Selbstmorde 11, 94–97, 104–108, 110, 118 f., 147 – Sexualwissenschaft 48–51, 59 f., 98, 107, 116, 141 f., 153 – Toleranz 49, 83 f., 90 f., 106 f., 117, 141 f. Houses of Parliament (Ober- und Unterhaus) 35, 60–69, 79–83, 86, 96, 164, 172, 180, 184, 189, 197, 207 f., 246, 248, 252, 254, 258–260, 263, 336 f., 341, 390 f., 441–443, 468, 473 f. „Hunnenrede“ 402–406 Illustrated London News 18, 22, 36, 230, 366 Illustrated Police News 22, 79, 90, 162, 374 f. Iren/Irish Parliamentary Party – Iren als Skandalisierte 192–208, 332–343 – Irische Presse 53, 60–64, 66 f., 76, 86 f., 177, 198 f., 204–206, 471 f., 477 – Skandalisierung durch Iren 53, 60–69, 86 f., 177, 195, 206, 341, 472 Jameson Raid 247–251, 282 Journalisten (vgl. auch Kolonialismus, Korruption) – Skandale gegen J. Kap. V, 482 f. – New Journalism (vgl. auch W. T. Stead) 37, 39, 65, 76 f., 85, 167–169, 179, 189 f., 239–241, 330, 333–335, 362, 407 f., 472 Juden s. Antisemitismus Justiz – Schutz von Beschuldigten Deutschland 104, 111 f., 132 f., 136, 139 f., 270–272, 284, 358–360, 398, 459 f., 475 – Schutz von Beschuldigten England 53, 55, 66, 71–83, 86, 386, 475 Karikaturen 54 f., 99, 125, 145 f., 186, 200, 205, 242, 259 f., 280, 295, 323, 371–375, 385, 388 f., 393, 448, 477 Katholiken – Großbritannien 34, 63, 68, 174, 181, 183 f., 191, 200, 204–206, 325, 480 – Deutscher Katholizismus (vgl. auch Zentrumspartei/zentrumsnahe Presse) 117 f., 152, 169, 222, 291 f. Kladderadatsch 22, 143, 283, 295, 395, 399 f., 455 Kladderadatsch-Affäre 211 f., 394–401 Kneipen- und Clubgespräche 17, 22, 52, 54, 59, 76, 113–115, 132, 137 f., 146 f., 150, 156, 202, 256, 272 f., 280 f., 296, 300, 304, 323, 350, 381, 399, 413, 415, 473 f., 477 f. Kölnische Volkszeitung 21, 137, 150, 209, 276, 296 Kolonialismus (vgl. auch Korruption, Prostitution) – Deutungen 241–246, 250, 254–258, 263, 268–275, 280–288, 300–310, 480 f. – Enthüllung K.-Missstände 237–239, 248, 251, 257, 263, 266 f., 278 f., 291 – Folgen K.-Skandale 245 f., 261 f., 270–274, 285–287, 301–310 – Gewalt: britischer K. 237–246, 253 f. – Gewalt: deutscher K. 266–286, 289 f., 305 – Journalismus 230–232, 234–236, 244 f., 249 f., 253, 257, 264–268, 274, 296 – K.-Recht 227 f., 263 f., 273 f., 285 f., 308 f. – Sexualität/sexuelle Gewalt 225 f., 228– 230, 240, 244, 262–264, 268–271, 275– 280, 284–286, 291, 293 f., 298, 325 f. Konservative Deutschland – Konservative Presse 1, 21, 49 f., 105, 108–112, 128–130, 133, 136 f., 142, 144, 148–152, 181 f., 189, 210, 219 f., 213, 256, 269, 271, 279, 284, 296, 300, 317 f., 331, 355–357, 380, 393, 397, 399, 404 f., 412 f., 426, 447, 462, 472 – Skandalisierungen durch K. 293, 397, 426, 344 f., 355, 397, 419, 445 – Skandalisierungen gegen K. Kap. II.6 u. 7, III.4, IV.4–7, V.2, VI.3 u. 4, VII.3, bes. 210, 212–217, 331, 344 f., 447, 448–455 Konservative Großbritannien – Konservative Presse 21, 37 f., 80 f., 85, 90, 174–176, 198–200, 210, 231, 241 f., 251, 254 f., 259, 332–341, 354, 413, 428–445, 484 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek Sachregister 539 – Skandalisierungen durch K. 173–176, 198 f., 254 f., 332–339, 428–445 – Skandalisierungen gegen K. 70, 80–87, 190, 247–262, 332, 340 f. Korruption Kap. VII – Begriff 421–425, 444, 461 f. – Deutungen 421–423, 430–435, 443 f., 453, 456, 461–463, 482 – Enthüllungen 423, 426, 429–436, 438 f., 450–452, 455 f. – Folgen 422–424, 431, 440, 443–445, 460, 463–467 – Handel Ehrentitel 429–432, 445 – K. im Journalismus 329, 335, 348–353, 358, 398 – K. in Kolonien 247–253, 256–262, 299–301 – Militär 447–468 – Spekulationsgewinne 433–447 Kotze-Skandal 394–401 „Kreuzzeitung“ s. Neue Preußische Zeitung Krupp-Skandal – Homosexualität 1, 97–117 – Korruption 445 f. – Gewalt 311–322 – Glücksspiel 381–393 Monarchen (s. Queen Victoria, Wilhelm II. u. a.) Kap. VI – Deutungen 370–372, 374–377, 380, 385–392, 394–396, 401, 404, 412–420, 481 f. – Enthüllung 368, 370 f., 372, 374, 380, 384 f., 395–397 – Glücksspiel 381–393 – Kosten 372, 383, 388 – Sex-Skandale 367–382, 395–401 – Umgang der M. mit Medien 365, 371 f., 379, 397 f., 401–412 Morning Leader 84, 250–252 Labour Party 34, 208, 247, 340, 428 f., 450 Leckert-Lützow-Skandal s. Tausch Liberale – Liberale Presse Deutschland (s. auch Berliner Tageblatt u. a.) 21, 58, 103–108, 118, 130 f., 140, 146–153, 155, 158, 210, 212–220, 222, 265–268, 271, 282–287, 293 f., 300, 314, 317–320, 347–350, 354–356, 393, 395–399, 404, 412, 456, 466, 479, 484 – Liberale Presse England (vgl. Daily News u. a.) 21, 37 f., 64, 72–86, 88, 94 f., 179–188, 198, 201, 204, 207, 222, 232 f., 242, 244–259, 263, 341–343, 383, 387, 430, 437, 440–442, 480 – Radicals/„Radikalliberale“ England (vgl. auch Reynolds’s Newspaper, Star u. ä.) 21, 34 f., 44, 69 f., 72 f., 75–91, 95, 108, 122, 173, 177–185, 187–192, 194– 198, 200, 203, 206 f., 222 f., 232, 244, 247 f., 251–254, 340, 336 f., 372, 374, 377 f., 383, 388, 392, 430–433, 437, 441, 472 Offiziöse Presse 139, 214, 217, 269, 284, 300, 302, 307, 313 f., 319, 329, 343–363, 403 f., 412–414, 454 Marconi-Skandal 24, 432–445, 450, 467 Militär s. Duell, Homosexualität, Korruption Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“) 21, 137, 142, 210, 269, 279, 284, 296, 317, 331, 393, 397, 413, 426, 447, 462, 472 Nonkonformisten (s. W. T. Stead) 34, 65, 86, 164, 166 f., 178, 181, 202, 204 f., 222, 230, 325, 386, 391, 480 Norddeutsche Allgemeine Zeitung 21, 307, 319, 407, 412 The Pall Mall Gazette (s. W. T. Stead) 21, 39, 64 f., 69, 72–74, 76, 91, 164, 167–169, 178–180, 184, 187, 197 f., 200 f., 230, 242–245, 263, 281, 334 f., 340 f., 385 f., 397, 407, 437 Panama-Skandal 2, 98, 111, 256, 300 f., 349, 358, 397, 426–428, 434, 446, 461 f., 467, 483 Parlamente s. Reichstag u. Houses of Parliament Parnellism and Crime-Skandal 83, 198 f., 332–343, 436, 472 Prostitution 85, 166–172, 207, 217 f. – Homosexuelle P. 44, 70–81, 92 f., 133, 143 – Kinderp. 92 f., 167 f., 170–172 – P. in Kolonien 92 f., 226, 229 f., 263, 268, 270 f., 277 f.,284, 292 f., 298, 303, 309 Proteste auf Straßen s. Straßenöffentlichkeit Punch 22, 242, 259 f., 373, 388 QueenCaroline Affair 54, 164, 369–372 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek 540 Register Reichstag 30, 49 f., 98–100, 111, 115, 117, 147, 152, 169 f., 210 f., 217–219, 264, 267–269, 273, 275–279, 282, 290, 304– 307, 318, 321, 356, 404 f., 413–415, 448– 453, 468, 473 f. Reynolds’s Newspaper 21, 36, 64 f., 79, 88–90, 95, 108, 177, 179, 187, 198, 205, 254, 259, 263, 336, 372, 374, 377 f., 383, 388, 392, 437, 441 Scheidungsprozesse 160–217, 368–382 Scheidungsrecht 159–163, 169, 176, 183 Sozialdemokraten/SPD – Skandalisierungen durch die SPD 11, 97–104, 111–115, 142, 152, 217 f., 313 f., 404 f., 426, 449–453, 466 – Skandalisierung gegen die S. 59, 330 f., 353, 447 – SPD-Politiker 49, 59, 98, 100, 152, 169, 268, 275, 278–281, 283, 285, 289, 291, 294, 304, 305, 353, 357, 405, 449–452, 455, 460 f., 464, 466 f., 474 – SPD-Presse 1, 21, 25, 99–113, 126, 142, 171, 211, 213, 218 f., 289, 313 f., 330 f., 346, 350, 353, 403, 405, 426, 451 f., 463, 467 Stammtisch s. Kneipengespräche The Standard 235, 237, 338, 410, 430 The Star 21, 77, 81, 84, 90, 197, 201, 204, 341–343, 383, 387 Sternberg-Skandal 170–172 Straßenöffentlichkeit 34, 55, 67, 111, 167 f., 170, 189, 204, 246, 256, 289, 294, 312–314, 370 f., 374–376, 415, 419 Tausch-Leckert-Lützow-Skandal 98, 343– 362, 482, 484 The Times 2, 17 f., 21, 33, 53 f., 57, 62–64, 77, 83, 94, 108, 156, 162 f., 174 f., 177, 182, 188 f., 191 f., 195 f., 198, 200, 232, 235, 237, 239, 243–245, 249 f., 253–259, 261–263, 271, 276, 282, 295, 301, 322, 329, 331–343, 352, 362 f., 369, 371, 374, 376–378, 385 f., 390, 423 f., 435, 440, 441, 472, 482 Vorwärts 1, 21, 25, 99–113, 126, 171, 211, 213, 218 f., 289, 313 f., 330 f., 346, 350, 353, 403, 426, 451 f., 463, 467 Vossische Zeitung 21, 100, 144, 213, 402 United Ireland 21, 61–64, 76, 471 Unterhaus s. Houses of Parliament West-End-Scandals s. Cleveland-StreetAffair Zabern-Affäre 24, 310–322, 326, 463, 474, 483 Zentrumspartei (vgl. auch Katholiken/dt. Katholozismus) – Skandalisierungen durch die Z. 268, 278, 291–306, 318 – Skandalisierung gegen Z. 117 f., 209– 211, 307 f. – Generell 111, 147, 152 , 264, 277–280, 290, 312, 324, 327, 399, 405, 453, 464, 472 – Zentrums(nahe)-Presse 102, 105, 109, 131, 137, 142, 144, 146, 149, 152, 209 f., 268, 271, 276, 297 f., 296 f., 317, 354, 356, 454, 456 Die Zukunft (s. Max. Harden) 1, 21, 116, 120, 122, 127, 139, 142, 298, 329 Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek