Veröffentlichungen des
Deutschen Historischen Instituts London
Publications of the
German Historical Institute London
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
Veröffentlichungen
des Deutschen Historischen
Instituts London
Herausgegeben von Andreas Gestrich
Band 65
Publications of the
German Historical Institute
London
Edited by Andreas Gestrich
Volume 65
R. Oldenbourg Verlag München 2009
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
Frank Bösch
Öffentliche
Geheimnisse
Skandale, Politik und Medien
in Deutschland und Großbritannien
1880 –1914
R. Oldenbourg Verlag München 2009
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ISBN: 978-3-486-58857-6
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INHALT
I.
II.
Skandale als historischer Gegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Warum Skandale untersuchen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
2. Methoden, Zugänge, Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
3. Zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
4. Zum historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Homosexualität als Skandalon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert . .
44
2. Vorläufer im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
3. Homosexualität und Irish Home Rule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
4. West End Scandals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
5. Grenzziehungen um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri . . . . . . . . . . .
97
7. Im Umfeld des Kaisers: Kamarilla, Militär und Homosexualität .
117
8. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
III. Ehebruch als Politikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert
159
2. Die Verengung der moralischen Normen:
Von Melbourne bis Dilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
3. Irish Home Rule und Ehebruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich . . . . . . . . . . .
209
5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale . . . . . . . . . . .
225
1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse im 19. Jahrhundert . . . .
225
2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column . . . . . . . . . . . . . . . .
234
3. Bereicherung in Südafrika: Vom Jameson Raid zum
War Stores Scandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
IV.
4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch: Leist und Wehlan. . . . .
264
5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“ . . . . . . . . . . . .
275
6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . .
288
7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern . . . . . . . . . . . . .
310
8. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322
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VI
Inhaltsverzeichnis
V.
Journalismus und Pressepolitik als Skandalon . . . . . . . . . . . . .
329
1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
Parnellism and Crime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
2. Kollaps eines Spitzelsystems: Der Tausch-Leckert-Lützow
Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
Entzauberte Monarchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . .
367
2. Der Prinz als Glücksspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
382
3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments . . . . . . . . . . . .
393
4. Der unmündige Kaiser: Wilhelm II. als Redner und
Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401
5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
416
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges . . . . .
421
1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien . . . . . .
421
2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats. . . . . . . . . . . .
428
3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp . . . . . . . . . . . . .
445
4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
467
VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
470
2. Normen und Deutungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
478
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
487
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
489
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
VI.
Ungedruckte Quellen (Kurzverzeichnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
494
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
500
Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
529
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
Sachregister
537
.............................................
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I. SKANDALE ALS HISTORISCHER GEGENSTAND
Im November 1902 verstarb der Unternehmer Friedrich Alfred Krupp. In den
Jahren zuvor hatte es gerade in den sozialdemokratischen Medien nicht an Artikeln gefehlt, die ihm überhöhte Preise oder die Ausbeutung der Arbeiter vorhielten. Einem Großindustriellen wie Krupp, der über beste Kontakte zur
Reichsleitung und zum Kaiser verfügte und eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit betrieb, konnte dies wenig anhaben. In massive Bedrängnis brachte Krupp
jedoch ein kleiner, recht unauffälliger Artikel, den der Vorwärts am 15. November 1902 unter der Überschrift „Krupp auf Capri“ druckte. Nach Hinweisen
auf Krupps Macht hieß es dort: „In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa
[...] huldigte er mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr.
[...] Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es
die Pflicht der Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen.“ Die sofortige polizeiliche Beschlagnahmung der SPD-Blätter verhinderte nicht die rasche Verbreitung des Vorwurfes, sondern förderte vielmehr die Ausbreitung des Skandals.
Spätestens mit Krupps Klage und dem öffentlichem Dementi erreichte die Meldung selbst die eher konservativen Zeitungen.1 Obwohl Krupp seine Pressepolitik massiv ausgebaut hatte und nun Regierung, Staatsanwaltschaft und Medien
in Bewegung setzte, fühlte er sich gegenüber solch einer Skandalisierung hilflos.
Nur eine Woche später verstarb er – höchst wahrscheinlich durch Selbstmord.
Unter den zahllosen Zeitungsartikeln zum Fall Krupp fand Maximilian Harden
in der Zukunft vielleicht die treffendste Formulierung: „Den Kanonenkönig hat
eine Papierwespe getötet“, begann er seinen Nachruf.2
Derartige „Papierwespen“ traten im ausgehenden 19. Jahrhundert in ganz
Westeuropa schlagartig vermehrt auf. Ihre Stiche waren nicht immer tödlich,
führten aber oft zu schweren Verletzungen. Das galt nicht nur für die Betroffenen, die häufig ihre Ämter verloren, emigrierten oder verhaftet wurden. Vielmehr richteten sich die Skandale gegen das politische und kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft. Sie diskreditierten die Reputation der Eliten, hinterfragten politische Leitvorstellungen und führten zu generellen Debatten über
soziale Normen. Die moralisierenden Enthüllungen richteten sich zwar häufig
nicht direkt gegen Politiker, sie zielten aber auf politische Konflikte und gesellschaftliche Veränderungen. Selbst die Enthüllung über den Industriellen Krupp
entwickelte sich deshalb schnell zu einem politischen Skandal, der vielfältige
Diskussionen auslöste.
Homosexualität war nur ein Thema unter vielen. Die zahlreichen Skandale,
die im ausgehenden 19. Jahrhundert Westeuropa erregten, verhandelten ebenso
1
2
Diese druckten sie kommentarlos ab; vgl. Kölnische Zeitung 20. 11. 1902, Berliner LokalAnzeiger 21. 11. 1902, morgens. Eine umfangreiche Presseausschnittssammlung mit 320
Mappen zu diesem Skandal findet sich in: Historisches Archiv Krupp (HAK), FAH III G 26.
Die Zukunft, 29. 11. 1902, S. 327–335, zit. S. 327.
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2
I. Skandale als historischer Gegenstand
korrupte Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft, die Gewalttaten von Kolonialbeamten und ihren sexuellen Verkehr mit den Einheimischen, Machtmissbrauch und Amtsanmaßungen von Polizei und Militär, das private und politische Fehlverhalten von Monarchen, den Ehebruch von Politikern oder gezielte
Falschmeldungen von Zeitungen. Gemeinsam war diesen Fällen, dass sie bislang
tabuisierte oder geheime Normverstöße veröffentlichten und so eine breite Empörung und Diskussion auslösten, welche die Öffentlichkeit über Monate und
Jahre beschäftigte.
Skandale waren selbstverständlich kein neues Phänomen der Moderne. Besonders in der Zeit vor der Französischen Revolution hatten sie bereits in vielen
Ländern Westeuropas eine Blüte erlebt. Ihr äußerst geballtes Auftreten im ausgehenden 19. Jahrhundert fand jedoch bislang wenig Beachtung. Sie wurden allenfalls als Einzelphänomene gesehen und untersucht. Viele dieser Skandale sind
noch heute vertraut, wie etwa die Affäre Dreyfus, der Oscar-Wilde-Skandal, der
Eulenburg-Skandal oder die Daily-Telegraph-Affäre. Andere Skandale dieser
Jahrzehnte sind zumindest Historikern im Gedächtnis, wie die Zabern-Affäre,
der Panama-Skandal oder der Parnell-Skandal. Zumindest Spezialisten für diese
Zeit kennen sicherlich einige weitere Skandale, die für die Zeitgenossen von
größter Bedeutung waren – wie die Kornwalzer-Affäre, die KladderadatschAffäre und der Kotze-Skandal in Deutschland, oder die Dilke-Affäre, der Marconi-Skandal oder der Cleveland-Street-Skandal in Großbritannien. Wertet man
jedoch Zeitungsberichte, Briefe, Parlamentsprotokolle oder polizeiliche Protokolle über Kneipengespräche aus, so fallen darüber hinaus zahlreiche große
Skandale auf, die gerade in diesen Jahrzehnten die Politiker, die Presse und die
Bevölkerung über Monate, mitunter sogar über Jahre beschäftigten. Sie stellten
oft entrüstet fest, dass sich die Zahl der großen Skandale häufte.3 Volltextanalysen von Zeitungen belegen ebenfalls die Beobachtung, dass Skandale im ausgehenden 19. Jahrhundert verstärkt diskutiert wurden. So wurde in der Times – eine
der weltweit wichtigsten Zeitungen des 19. Jahrhunderts – in dieser Zeit so häufig der Begriff Skandal benutzt wie nie zuvor. Erst seit Mitte der 1970er Jahre,
als die Zeitung längst wesentlich mehr Umfang hatte, wurde diese Intensität
wieder erreicht.4 Skandale waren damit um 1900 in aller Munde – selbst in angesehenen Qualitätszeitungen.
1. Warum Skandale untersuchen?
Auf den ersten Blick mag einiges dafür sprechen, derartige historische Ereignisse wie Skandale als unbedeutenden Klatsch zu ignorieren, wie es bislang in
3
4
Vgl. etwa Reichskanzler Bülow an Hammann 7. 7. 1908, in: Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde
(BAB/L), N 2106/13: 19, oder die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ) Nr. 1, 5. 1. 1896.
Häufigkeit des Wortes scandal in der Times 1786–1985; eigene Volltextauswertung im Times
Digital Archive, in: http://gale.com/Times/.
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1. Warum Skandale untersuchen?
3
der Geschichtswissenschaft auch überwiegend der Fall war. In diesem Sinne
mag es lächerlich erscheinen, wenn sich künftige Historiker in hundert Jahren
mit der Clinton-Lewinsky-Affäre oder den deutschen Parteispendenskandalen
beschäftigen, um sich unserer Gegenwart anzunähern. Schließlich gelten Skandale heute, nicht anders als vor hundert Jahren, vielfach als „Verfall“ einer vormals kritischen Öffentlichkeit, die sich durch Sensationsmeldungen von den
„wirklichen“ politischen Problemen abwende.
Auf den zweiten Blick spricht jedoch einiges dafür, historische Skandale nicht
zu ignorieren und ihnen eine größere Beachtung beizumessen, als dies bisher bei
der Erforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Fall war. So bieten Skandale die Chance, die Normen einer Zeit genauer zu analysieren. Denn sie zeigen
verdichtet, wie Deutungen über gesellschaftliche Verhaltensregeln entstanden.
Zudem eröffnen sie Erkenntnisse über die mediale und politische Kommunikation einer Zeit. Sie geben Aufschluss über die Funktionsweisen der Öffentlichkeit und über die jeweils konstruierten Grenzen zwischen der öffentlichen
Sphäre und der des Privaten und Geheimen. Skandale stehen eben nicht nur für
den Verfall des Journalismus oder der Moral, sondern, trotz der oft verletzenden
Vorwürfe, zugleich für eine kritische Öffentlichkeit, die die Diskussion sucht.
Ebenso sind die gesellschaftlichen Folgen von Skandalen nicht so unbedeutend,
als dass historische Analysen sie ignorieren dürften. Sie führten nicht nur zu
Selbstmorden oder Rücktritten, sondern ebenso zu Gesetzesreformen, Veränderungen von Verhaltensregeln oder politischen Umwälzungen. Je nach Konstellation konnte dies in progressive, affirmative oder auch reaktionäre Ergebnisse münden. Und schließlich bedeutet eine Beschäftigung mit Skandalen, die
Kultur der Zeitgenossen ernst zu nehmen und sich den Themen zu widmen,
denen diese eine große Bedeutung beimaßen. Selbst wenn man Skandalen eine
politische Bedeutung im engeren Sinne abspräche, so zeigen sie immer noch eigensinnige Formen der Politikaneignung in der Bevölkerung, mit denen sie politische Machthaber karnevalesk herausforderten.
Dass es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Häufung von Skandalen kam,
wie sie zuletzt vielleicht im Vorfeld der Französischen Revolution entstand, ist
erklärungsbedürftig.5 Denn selbstverständlich waren Homosexualität, Machtmissbrauch oder Korruption keine neuen Verhaltensweisen. Bereits das international zeitgleiche Aufkommen der Skandale belegt, dass man sie nicht allein mit
dem Verhalten einzelner Individuen erklären kann – wie etwa dem Größenwahn
von Wilhelm II., dem Antisemitismus einzelner Journalisten oder der moralischen Laxheit bestimmter Eliten. Die internationale Häufung der Skandale verweist vielmehr zugleich auf grundlegende Transformationsprozesse. Im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts sind dabei vor allem zwei parallele Entwicklungen
5
Zur dynamischen Kraft der französischen Skandale im Vorfeld von 1789 vgl. etwa: Sarah
Maza, Private Lives and Public Affairs: The Causes Célèbres of Prerevolutionary France,
Berkeley 1993; Dena Goodman (Hrsg.), Marie-Antoinette. Writings on the Body of a Queen,
New York 2003.
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4
I. Skandale als historischer Gegenstand
hervorzuheben. Zum einen bildete sich in dieser Zeit in ganz Westeuropa eine
auflagenstarke, professionalisierte, reaktionsschnelle Massenpresse aus, die die
Medialisierung der Gesellschaft einleitete und damit die politische Kommunikation veränderte.6 Zum anderen kam es, parallel dazu, zu einer zunehmenden Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft, aus der neue weltanschauliche
Konfliktlinien entstanden.7 Obgleich dies in den einzelnen Ländern auf recht
unterschiedlichen Pfaden verlief, bildeten die Ausweitung der Wählerschaft und
die Ausdifferenzierung politischer Strömungen gemeinsame Merkmale. Beides
führte zu politischen Massenmobilisierungen und zur Ausbildung von weltanschaulichen Teilöffentlichkeiten, die um die öffentliche Deutungshoheit rangen. Da Skandale einen gewissen öffentlichen Pluralismus erfordern und als Ausdruck konkurrierender Sinnstiftungen verstanden werden können, dürfte hier
eine wesentliche Vorbedingung für ihr verstärktes Aufkommen liegen.
Die Skandale, so die Grundthese, waren zugleich ein Ausdruck und ein Motor dieser Veränderungen. Sie bilden damit Sonden, um unser Verständnis für
die Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu
vertiefen und sind als dynamische Ereignisse zu fassen, die historische Entwicklungen veränderten. Dementsprechend will dieses Buch nicht einfach moralisierend spektakuläre Vergehen „aufdecken“, wie in populären Skandalchroniken
üblich.8 Es begnügt sich auch nicht damit, die Medienberichte über Skandale zu
rekonstruieren und damit nur deren Darstellung zu rekapitulieren. Vielmehr
untersucht es das Aufkommen der Skandale, die durch sie aufgebrachten Deutungsmuster und ihre Folgen, indem es die Handlungen und Sichtweisen aller
Beteiligter in den jeweiligen historischen und diskursiven Kontexten prüft.
Dementsprechend werden die Worte und Handlungen der anklagenden Journalisten und Abgeordneten analysiert, die Reaktionen der beschuldigten Eliten,
die Verhaltensweisen der Regierungen und der Justiz sowie die Debatten in den
Parlamenten, den Zeitungen oder in den Kneipen, soweit von Polizeispitzeln
überliefert. Skandale werden somit als Kulminationspunkte verstanden, in
denen sich vielfältig Diskurse und Handlungen verdichteten. Auch wenn die
Konflikte sich aus längeren Entwicklungen ergaben, entfalteten sie sich aus
konkreten Konstellationen, Zufällen und Reaktionsweisen, die nicht vorherzusagen waren und ihnen oft eine unberechenbare Eigendynamik gaben.
6
7
8
International vergleichende Medienanalysen bilden weiterhin ein Desiderat; vgl. neuerdings,
allerdings mit starkem Fokus auf die USA und Großbritannien: Jane Chapman, Comparative
Media History, Cambridge 2005, S. 69–100; Asa Briggs und Peter Burke, A Social History
of the Media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2002.
Dass in dieser Zeit in den meisten Ländern Europas langfristige Konfliktlinien entstanden,
stellte bereits frühzeitig das politikwissenschaftliche „Cleavage-Modell“ heraus: Seymor M.
Lipset und Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967.
Vgl. etwa anekdotische Sammlungen wie: Matthew Parris, Great Parliamentary Scandals.
Four Centuries of Calumny, Smear and Innuendo, London 1995; Morus (= anonym), Skandale, die die Welt bewegen, Frankfurt a. M. 1967; Rüdiger Liedtke, Die neue Skandal Chronik. 40 Jahre Affären und Skandale in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1989.
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1. Warum Skandale untersuchen?
5
Das Erkenntnisinteresse des Buches konzentriert sich somit vor allem auf vier
Bereiche. Erstens werden Skandale analysiert, um den gesellschaftlichen Wandel
von Normen und Deutungsmustern auszumachen. Skandale werden dabei als
Wertekonflikte verstanden, die Verhaltensregeln und Deutungen schaffen, festigen oder verändern konnten. Ebenso bildeten Skandale starke Anreize für die
gesamte Gesellschaft, vom Arbeiter über Experten bis hin zum Monarchen, Urteile zu einem Thema zu fällen. Dass die Skandale komplexe Fragen auf ein Fallbeispiel verdichteten, erleichterte dies. Dadurch entstanden Normdebatten, die
auch das Entstehen von Wissensbeständen in tabuisierten Themen zeigen. Was
etwa Homosexualität ausmachte und wie mit ihr umzugehen sei, wie sich ein
Monarch zu verhalten hatte, in welcher Form man Afrikaner bestrafen sollte
oder welcher Kontakt zwischen Beamten und Unternehmen bestehen durfte –
dies alles wurde jeweils in Skandalen diskutiert. In diesem Sinne werden Skandale als Vorgänge analysiert, die die Grenzen des Sagbaren aushandelten. Bereits
beim Aufbringen tabuisierter Vorwürfe loteten sie diese aus. In der folgenden
Debatte der Normen lassen sich zumeist idealtypische Verhaltensanforderungen
ausmachen. Dabei war es mitunter recht unerheblich, ob der vorgeworfene
Normbruch tatsächlich stattfand oder eher Imaginationen öffentlich diskutiert
wurden. Obgleich man als Historiker quellenfundiert die damals konstruierten
Wahrheiten abwägen muss, ist dementsprechend etwa Friedrich Alfred Krupps
„wirkliches“ Liebesleben weniger von Interesse als die Wertungen und Handlungen, die die öffentlichen Vorwürfe jeweils auslösten.
Zweitens lässt sich anhand von Skandalen der Formenwandel der Politik, der
Medien und der Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert untersuchen,
sowie die Beziehung zwischen diesen drei Bereichen. Die Skandale versprechen
zunächst Erkenntnisse darüber, wie sich die politische Kommunikation durch
das Aufkommen des medialen Massenmarktes veränderte, und sich journalistische Praktiken und Selbstbilder im Zuge der Politisierung wandelten. Dies dürfte zeigen, inwieweit die Skandale etwa Ausdruck einer sich etablierenden
„vierten Gewalt“ oder einer Parlamentarisierung waren, oder ob es zu einer
neuen Kooperation zwischen Politik und Journalismus kam. Ebenso ist zu
überprüfen, inwieweit die neuartigen „Sensations-“ und Boulevardblätter des
späten 19. Jahrhunderts die Skandale auslösten. Gerade für Deutschland, wo für
die Zeit vor 1914 kaum Quellen aus Zeitungsredaktionen überliefert sind, bieten
die Skandale verdichtete Hinweise für eine historische Analyse des Journalismus und der Medien.9 Medien werden so nicht einfach als Abbild der Gesellschaft untersucht, sondern als aktive Akteure, die die Gesellschaft gestalteten.
Die Studie beschränkt sich jedoch nicht auf Medien, sondern operiert mit
dem breiteren Begriff der Öffentlichkeit. Dass es im späten 19. Jahrhundert zu
9
Die grundlegende Studie von Jörg Requate konzentriert sich auf die Zeit bis zum frühen
Kaiserreich und setzt vor allem sozialgeschichtliche Akzente zum Beruf des Journalisten;
ders., Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995.
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6
I. Skandale als historischer Gegenstand
einer Transformation der Öffentlichkeit gekommen sei, wurde seit Jürgen
Habermas’ wegweisender Studie vielfach hervorgehoben, aber bisher kaum historisch untersucht.10 Auch Richard Sennetts berühmte, wenn auch anders gelagerte Arbeit sah in dieser Phase eine Umstrukturierung der Öffentlichkeit, in
der der „Fall of Public Man“ einsetzte.11 Skandale bieten sich als Sonden an, um
sich der Entwicklung von „Öffentlichkeit“ im Zeitalter der einsetzenden Medialisierung und Demokratisierung anzunähern. Sie zeigen Grenzen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert für Öffentliches, Geheimes oder Privates galten. Zudem verknüpften sie unterschiedliche Teile der Öffentlichkeit (wie verschiedene
politische Milieus) und Ebenen (wie Medien, Parlamenten oder Kneipen), deren
Beziehung zueinander so deutlich wird. Letzteres dürfte etwa klären, inwieweit
die unterschiedlichen Milieus überhaupt miteinander kommunizierten, und in
welchem Verhältnis Medien- und Versammlungsöffentlichkeit standen.12
Drittens wird versucht, aus den empirischen Fallstudien eine Anatomie der
Skandale des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu entwickeln. Sozialwissenschaftliche Arbeiten brachten bereits vielfach modellhafte Verlaufsformen von Skandalen auf. Danach folgen etwa auf eine Latenzphase vor der Veröffentlichung
Phasen der Etablierung des Skandals, der Kulmination und der Nachwirkungen.13 Diese Typologien wurden allerdings für Skandale der letzten Jahrzehnte
entwickelt und müssen deshalb nicht für das ausgehende 19. Jahrhundert gelten.
Deshalb gehen die Fallbeispiele immer wieder ähnlichen Gesichtspunkten nach,
um gemeinsame Verlaufsmerkmale herauszuarbeiten. So wird etwa immer wieder geprüft, wer die Vorwürfe in welcher Form aufbrachte, wie die Betroffenen,
die Regierungen und die Justiz reagierten, und welche Folgen die Skandale hatten. Alle Fallanalysen untersuchen somit Schlüsselmomente der Skandale, um
so abschließend typische Charakteristika auszumachen.
Viertens verspricht die vergleichende Skandalanalyse historische Erkenntnisse
über Spezifika der britischen und deutschen politischen Kultur. Gerade weil es
10
11
12
13
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie
der bürgerlichen Gesellschaft (Nachdruck mit einem Vorwort zur Neuauflage), Frankfurt
a. M. 1990, bes. S. 275–292. Dieses Forschungsdesiderat betont auch: Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analysen, in: GG 25 (1999), S. 5–32, S. 5.
Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität,
Frankfurt a. M. 1986, bes. S. 31–46.
Dass politische Konflikte zwischen unterschiedlichen Milieus in der interpersonalen Kommunikation nicht ausgetragen wurden, sondern eher geschwiegen wurde, betont: Armin Owzar,
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen
Obrigkeitsstaates, Konstanz 2006.
Vgl. bes. John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age,
Cambridge 2000, S. 73–76; Stefen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft
öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 184–203; Hans Matthias Kepplinger, Publizistische
Konflikte. Begriffe, Ansätze, Ergebnisse, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit,
öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 214–233, S. 229 f. Mathematischökonomische Modelle entwickeln die Artikel von Manfred J. Holler in: ders. (Hrsg.),
Scandal and its Theory, 2 Bde., München 1999 und 2002.
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1. Warum Skandale untersuchen?
7
sich bei der Skandalzunahme des ausgehenden 19. Jahrhunderts um ein internationales Phänomen handelte, erschien es naheliegend, sich zur Erklärung und
Typologisierung nicht auf ein Land zu beschränken. Mit Großbritannien und
Deutschland fiel die Wahl auf zwei Länder, die unterschiedliche Voraussetzungen für Skandale aufwiesen. Während Großbritannien bekanntlich eine Wiege
des Parlamentarismus war und bereits im 19. Jahrhundert eine weitgehende
Pressefreiheit besaß, wurden in Deutschland auch nach dem Reichspressegesetz
von 1874 regelmäßig regierungskritische Journalisten verfolgt. Ebenso zeigten
sich die Grenzen des deutschen Parlamentarisierungsprozesses bereits darin,
dass trotz des allgemeinen Männerwahlrechtes nicht das Parlament, sondern der
Kaiser und dessen konservatives Umfeld maßgeblich die Regierungen bestimmten.14 Trotz dieser Unterschiede traten in beiden Ländern etwa zeitgleich ähnliche Skandalfälle auf. Insofern zielt der Vergleich auf eine historische Typologie
ab, die Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und generelle Logiken prüft.15 Dies
verspricht genauere Erkenntnisse über die spezifischen Deutungsmuster und
Normen, aber auch über die jeweiligen Kommunikationsformen, Politikstile
oder Medienentwicklungen. Bereits die unterschiedlichen Themen heutiger
Skandale – „Sexskandale“ in Großbritannien, Korruptionsskandale in Deutschland – werfen die Frage auf, inwieweit spezifische Normen und Empörungsformen historisch angelegt sind.16 Über die Vergleichsaspekte hinaus lässt sich
anhand der Skandale fragen, in welchem Maße es zu kulturellen Transfers zwischen den beiden Ländern kam.17 Denn schließlich waren die Skandale in den
Jahrzehnten um 1900 Ereignisse, die wechselseitig beobachtet, thematisiert und
aufgegriffen wurden.
Eine historische Beschäftigung mit Skandalen verlangt zunächst eine genauere
analytische Definition des Gegenstandes. Denn zum einen umschreibt das Wort
14
15
16
17
Zur Debatte um die deutsche Parlamentarisierung vgl. zuletzt: Thomas Kühne, Demokratisierung und Parlamentarisierung. Neue Forschungen zur politischen Entwicklungsfähigkeit
Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, in: GG 31 (2005), S. 293–316; Marcus Kreuzer,
Und sie parlamentarisierte sich doch: die Verfassungsordnung des Kaiserreichs in vergleichender Perspektive, in: Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in Europa. Deutschland,
England und Frankreich im Vergleich, München 2004, S. 17–40.
Hartmut Kaeble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a. M. 1999, bes. S. 12 u. 49. Eine Berücksichtigung Frankreichs war von mir zunächst
angedacht. Allerdings zeigte sich rasch, dass eine archivgestützte Analyse eines dritten Landes
für einen Bearbeiter allein kaum machbar war.
Die aktuellen Skandalthemen als Ausdruck einer spezifisch deutschen Kultur deuten: Frank
Esser und Uwe Hartung, Nazis, Pollution, and No Sex. Political Scandals as a Reflection of
Political Culture in Germany, in: American Behavioral Scientist 47 (2004), S. 1040–1071.
Zum Ansatz vgl. Rudolf Muhs. et al. (Hrsg.), Aneignung und Abwehr. Interkultureller
Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998;
Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28 (2002),
S. 607–636. Mit Blick auf die hier untersuchte Epoche demnächst: Dominik Geppert und
Robert Gerwarth (Hrsg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain – Cultural Contacts and Tranfers, i. E. Oxford 2009.
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8
I. Skandale als historischer Gegenstand
„Skandal“ umgangssprachlich recht undifferenziert alle möglichen Zustände,
die anstößig oder unhaltbar erscheinen. Zum anderen hat der Begriff eine lange,
bis in die Antike zurückreichende Tradition, in der sich seine Bedeutung veränderte und somit unterschiedliche Handlungen und Wahrnehmungen erfasste.
Ursprünglich verwies „skandalon“ auf das Stellholz in der Tierfalle, an dem die
Lockspeise festgemacht wurde. Bereits bei Aristophanes und in der Bibel fand
er eine übertragene Verwendung, etwa im Sinne von Verführung.18 Im Mittelalter umschrieb der Begriff dann vornehmlich schwere religiöse Frevel und Sünden. Erst seit dem 18. Jahrhundert lassen sich wieder stärker säkularisierte Verwendungsformen ausmachen, wobei „Skandal“ in Deutschland Konnotationen
wie Schande, öffentlichen Ehrverlust und „ärgernisz, schmachvolles aufsehen
erregender vorgang“ hatte.19 In Großbritannien löste sich der Begriff bereits im
17. Jahrhundert zunehmend von seinem religiösen Bezug und verwies auf Missstände und Gerüchte, die die Reputation minderten.20 Vor allem das erfolgreiche
Theaterstück School for Scandal (1777) machte den bereits deutlich früher etablierten Begriff populär und wies mit ironischem Unterton auf die Problematik
des Skandalisierens.21 Im Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Skandal in beiden Ländern schwere Missstände, die häufig
als „Sensationen“ empfunden oder angepriesen wurden – also als emotional ergreifende ungewöhnliche Neuigkeiten. In zeitgenössischen Schriften über Skandale fehlte es nicht an drastischen Verurteilungen des Skandals. Er wurde etwa
als „pest of society“ beschrieben, da er durch Übertreibungen Männern die Reputation raube und sie ins Verderben stürze.22 Generell bezog sich das Wort
Skandal damit bereits um 1900 auf zweierlei: Auf das Ereignis, das Anstoß erregte, und auf den Vorgang der Erregung selbst. Eine trennscharfe Verwendung
des Begriffs Skandal bestand allerdings schon damals nicht. Insbesondere wurde
er, wie auch heute üblich, oft synonym mit dem Begriff „Affäre“ benutzt.
Der unscharfe Alltagsgebrauch und der Bedeutungswandel machen eine Definition nötig, die den unterschiedlichen Ereignissen gerecht wird, die früher
und heute als maßgebliche Skandale gelten – von der Halsband-Affäre über die
Eulenburg-Affäre bis hin zum Watergate-Skandal. In Anlehnung an sozialwissenschaftliche Studien erscheinen vor allem drei Komponenten ausschlagge18
19
20
21
22
Die biblische Verwendung war jedoch uneinheitlich; vgl. Gustav Stählin, Skandalon. Untersuchungen zur Geschichte eines biblischen Begriffs, Gütersloh 1930; Manfred Schmitz,
Theorie und Praxis des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1981, S. 16; Johannes Lindblom,
Skandalon. Eine lexikalisch-exegetische Untersuchung, Uppsala 1921.
Eintrag „Skandal“ in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, München 1999 (Erstausgabe 1905),
Sp. 1306.
Vgl. die Quellenbelege (vor allem seit Shakespeare) zu „scandal“ und „scandalisation“ in:
Oxford English Dictionary, Bd. 14, Oxford 1989, S. 573 f.
Richard Brinsley Sheridan, The School for Scandal, London 1948 (Erstausgabe 1777).
James McConnel Hussey, Scandal and Scandal-Mongers, London o. D. (um 1879), S. 5.
Skandale umschreibt er zudem: „Scandal may well be called the snowball of society, for it
certainly gathers as it rolls and it is the thing which the society is ever throwing about. It magnifies a molehill into a mountain [...].“
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1. Warum Skandale untersuchen?
9
bend, um im analytischen Sinne von einem Skandal zu sprechen: (1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; (3) und eine breite öffentliche
Empörung über den zugeschriebenen Normbruch.23 Dementsprechend bildet
etwa eine korrupte Handlung noch keinen Skandal, wenn sie nicht bekannt wird
oder wenn ihre Veröffentlichung keine Empörung auslöst, weil sie beispielsweise als eine gewöhnliche Praxis gilt. Folglich existiert kein Verhalten, das per
se zu Skandalen führt. Ein Gesetzesbruch ist ebenfalls nicht unbedingt für das
Aufkommen eines Skandals erforderlich. Vielmehr reichen oft bereits Überschreitungen von Normen, also von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen,
deren Bruch mit sozialen Sanktionen bestraft werden kann. Ebenso muss sich
die Enthüllung nicht unbedingt auf bereits vorhandene Normen beziehen, sondern kann diese durch den Vorwurf erst einfordern, wobei die öffentliche Reaktion dann über deren Geltung entscheidet. Ob in Skandalen „hochgestellte Personen oder Institutionen“ beteiligt sein müssen, ist zu bezweifeln, auch wenn
diese durch ihre Fallhöhe leichter eine hohe mediale Aufmerksamkeit erhalten.24
Präziser scheint mir die Beobachtung, dass Skandale sich vornehmlich auf Personen oder Institutionen beziehen, von denen durch ihre gesellschaftliche Stellung die Wahrung der verhandelten Normen erwartet wird. Während beispielsweise der Kokain-Konsum eines bekannten Rockmusikers in der heutigen
westlichen Kultur keine breite öffentliche Empörung auslöst, ist das bei einem
unbekannten Pastor kraft der Anforderungen an sein Amt anders.
Nicht die Schwere des Vergehens, sondern der Grad der Empörung ist folglich entscheidend für die Bedeutung des Skandals.25 Schwierig auszumachen ist,
ab wann von einer breiten Empörung zu sprechen ist, die weithin geteilt wird.
Nicht ausreichend ist es zumindest, wenn nur eine begrenzte Teilöffentlichkeit,
etwa die Medien und Politiker einer Partei, von einem Skandal spricht, während
die Mehrheit der Öffentlichkeit unbeeindruckt bleibt. Denn Skandale ziehen
gerade daraus ihre Wirkungsmacht, dass sie weltanschauliche Grenzen überbrücken können und sich häufig sogar die Anhänger eines Milieus oder einer Gruppe über einen Missstand in ihren eigenen Reihen empören. Diese öffentliche
Breitenwirkung entfalten Skandale in der Neuzeit über Medien. Die mediale
Vermittlung strukturiert den Skandalablauf mit, ist aber kein notwendiges Kriterium für das Aufkommen von Skandalen in der Moderne. In einem bestimmten Mikrokosmos, wie einem abgelegenen Dorf, können lokale Skandale selbstverständlich über eine nicht-mediale, interpersonale Kommunikation verlaufen.
Im Folgenden geht es jedoch um Skandale mit einer nationalen und fast immer
23
24
25
Mit dieser Trias folge ich, leicht modifiziert, besonders den anregenden Überlegungen von:
Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen
Skandals, Frankfurt a. M. 2002, S. 40 u. 59.
Anders dagegen: ebd., S. 40.
Wilfried von Bredow, Legitimation durch Empörung. Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie des Skandals, in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der politische Skandal, Bonn
1992, S. 190–208, S. 202.
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10
I. Skandale als historischer Gegenstand
auch internationalen Breitenwirkung, die nur durch die rasante Expansion der
Massenpresse denkbar waren.
Im Vordergrund des Buches stehen dabei im weitesten Sinne politische Skandale. Sie lassen sich nicht allein auf Fälle eingrenzen, in denen Politikern Normbrüche vorgeworfen wurden. Ein sinnvolleres Merkmal ist vielmehr, dass die
Skandale im jeweiligen politischen Feld behandelt wurden und die Zeitgenossen
sie somit als Politikum zuordneten, weil sie politische Konflikte oder generelle
Machtfragen thematisieren.26 Ob die Zeitgenossen einen Skandal als Politikum
betrachteten, zeigte sich nicht zuletzt darin, inwieweit er in politischen Kommunikationsräumen verhandelt wurde – etwa in den Politikteilen der Zeitungen,
den Parlamenten und intern zwischen Regierungsmitgliedern. Insofern kann
selbst ein „Sex-Skandal“ um einen Nicht-Politiker politisch sein.27
Die vorgeschlagene Definition von Skandalen beinhaltet einen weiteren klärungsbedürftigen Begriff: die Öffentlichkeit. Denn Skandale werden in der
Öffentlichkeit verhandelt und prägen zugleich die Grenzen von Öffentlichkeit,
Privatheit und Arkanbereichen. „Öffentlichkeit“ ist bekanntlich ein politischsozialer Schlüsselbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts, mit dem eine Partizipation durch eine allgemein zugängliche Kontrolle eingefordert wurde.28 Die öffentliche Meinung galt dabei als eine Brücke zwischen dem Staat und der Gesellschaft. Die Öffentlichkeit war somit zugleich ein kollektiver Akteur und eine
herrschaftskritische Forderung mit utopischem Überschuss. Skandale lassen
sich im historischen Sinne als ein Kampf um mehr Öffentlichkeit und gegen
Geheimnisse fassen. Schließlich war bereits die Entstehung der Öffentlichkeit,
wie sie insbesondere im England des 18. Jahrhunderts und dann in Frankreich
aufkam, von Beginn an mit einer stark moralischen Herrschaftskritik verbunden, die das Aufkommen von wirkungsmächtigen Skandalen förderte. Das Geheimnis entwickelte sich dabei zum Zeichen für Falschheit und Despotie, das
die Druckmedien attackierten.29 Gerade in Deutschland waren die Grenzen der
Öffentlichkeit ein umkämpftes Terrain, sei es im Hinblick auf die Pressefreiheit,
Gerichtsverhandlungen oder die Kunst. Die vorliegende Studie prüft deshalb
anhand der Skandale, wie sich die Öffentlichkeit und die Grenzen des Geheimen
26
27
28
29
So auch: Thompson, Political Scandal, S. 6.
Verschiedene Studien sehen dagegen gerade Sex-Skandale nicht als politische Skandale; vgl.
etwa Robert Williams, Political Scandals in the USA, Edinburgh 1998, S. 7.
Vgl. hierzu: Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche
Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. Zur
gleichzeitigen Genese des Privaten vgl. Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London, 1600–1800, München 2004.
Vgl. zu dieser im 18. Jahrhundert angelegten Entwicklung: Andreas Gestrich, Absolutismus
und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 64 f. u. 178; Simone Schinz, Sitte, Moral, Anstand und das Phänomen öffentliche Meinung im England des 18. Jahrhunderts, Remscheid 2004. Vergleichend
zum kritischen Potential der sich medialisierenden Öffentlichkeit: Hannah Barker und
Simon Burrows (Hrsg.), Press, Politics and the Public Sphere in Europe and North America,
1760–1820, Cambridge 2002.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
11
und Privaten im Zuge der Medialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts veränderten. Skandale werden dabei keineswegs allzu optimistisch als Motor einer
Liberalisierung verstanden. Denn vielfach entstanden durch Skandale auch Gegenbewegungen, die eine Eingrenzung der Öffentlichkeit forderten.
Zudem bildet „Öffentlichkeit“ einen analytischen Schlüsselbegriff der Medien-, Sozial- und Kulturgeschichte, der eine Verbindung dieser Zugänge
ermöglicht. In diesem Sinne wird Öffentlichkeit heute idealtypisch als ein allgemein zugänglicher Kommunikationsraum verstanden.30 Dadurch eröffnet der
Begriff eine Analyse von Kommunikationsereignissen, die sich nicht allein auf
die Medienöffentlichkeit beschränkt, sondern ebenso Versammlungsöffentlichkeiten (wie Parlamente, Gerichtsitzungen oder Demonstrationen) und situative
Encounter-Öffentlichkeiten einbezieht (also etwa Gespräche in Kneipen oder
auf Marktplätzen).31 Gerade weil in der Moderne Medien maßgeblich die Öffentlichkeit strukturierten und andere Formen der Öffentlichkeit mit beobachteten, gilt es insbesondere ihre Logiken zu integrieren.32
2. Methoden, Zugänge, Quellen
Die vorliegende Studie untersucht anhand von Skandalen die politischen Machtzentren des deutschen Kaiserreiches und des spätviktorianischen und edwardianischen Großbritanniens. Dennoch ist sie keine klassische Politikgeschichte.
Vielmehr rekonstruiert sie Handlungen und Deutungsmuster, die in vielerlei
Hinsicht quer zur bisherigen Erforschung der politischen Institutionen, Bewegungen oder Ereignisse stehen. Methodisch knüpft sie dabei an die Ansätze einer „Kulturgeschichte der Politik“ an.33 „Kulturgeschichtlich“ akzentuiert ist
30
31
32
33
Vgl. Requate, Öffentlichkeit, S. 9; Karl Christian Führer et al., Öffentlichkeit – Medien
– Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in:
AfS 41 (2001), S. 1–38, S. 4
Die soziologische Literatur zur Öffentlichkeit ist immens; vgl. bes.: Kurt Imhof, „Öffentlichkeit“ als historische Kategorie und als Kategorie der Historie, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1996), S. 3–25; Jürgen Gerhards und Friedhelm
Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation.
Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S. 31–88.
Bernd Weisbrod, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270–283.
Die Begrifflichkeiten in dieser Diskussion sind unterschiedlich, gemeinsame Eckpunkte aber
doch erkennbar; vgl. etwa: Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der
Politik, in: GG 28 (2002), S. 574–606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (2003), S. 71–
117; Ute Frevert und Hans-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven
einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. 2005; Barbara Stollberg-Rilinger
(Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005. Als Kritik hieran vgl. Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in
der Moderne, in: HZ 283 (2006), S. 657–689.
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12
I. Skandale als historischer Gegenstand
der Zugang dieses Buches insofern, als es sich für die Wahrnehmungsweisen und
Sinnstiftungen der Zeitgenossen interessiert, die sich an Skandalen ausmachen
lassen.34 Für eine kulturgeschichtliche Erweiterung der Politikgeschichte stehen
auch die verhandelten Themen, die hier als Teile der politischen Sphäre betrachtet werden. Homosexualität und Ehebruch, die Gewalt von Kolonialisten, die
Aktien eines Ministers oder der Lebenswandel des Prince of Wales gehören sicherlich nicht zum Kern einer klassischen Politikgeschichte. Dennoch erscheint
es sinnvoll, das „Politische“ nicht essentiell auf ein bestimmtes staatliches Handeln einzugrenzen. Es ist vielmehr auf die Diskurse und Grenzziehungen der
jeweiligen Zeit zu beziehen, wobei das versuchte Aushandeln kollektiver Konflikte als sein Grundbestandteil anzusehen ist, ohne dass dies immer gelingen
musste.35 Skandale lassen sich dementsprechend zunächst als Mechanismen verstehen, die diese Grenzen des Politischen jeweils setzten. Sie entschieden, ob
etwa der Ehebruch oder das Privatvermögen eines Politikers in die Sphäre der
Politik gehörten oder als privat galten. Da derartige Skandale kommunikativ
kollektive Konflikte austrugen und nachhaltige Entscheidungen produzierten,
kann man sie durchaus als Politikum verstehen. Damit wird der Politikbegriff
nicht ubiquitär auf jeden Ehebruch oder Homosexualitätsfall ausgedehnt, sondern nur auf solche Fälle, die in das politische Feld überführt wurden, das die
Zeitgenossen jeweils absteckten.
Von einer klassischen Politikgeschichte unterscheidet sich der hier gewählte
Zugang zudem, weil er die Gruppe der potentiell politisch Handelnden weiter
fasst.36 So werden nicht nur Regierungsmitglieder, sondern auch Journalisten,
Zeugen vor Gericht und andere öffentlich agierende Personen als Teil eines politischen Feldes verstanden, wenn sie mit politischen Machthabern in eine kommunikative Interaktion traten. Politik wird somit als ein offener Kommunikationsraum untersucht, der sich durch soziales Handeln konstituiert.37 Auf diese
Weise werden zugleich Akteure ernst genommen. Deren Handlungen und
Kommunikation werden zwar im Kontext von den jeweiligen Diskursen und
Strukturen untersucht, aber zugleich entlang von Ereignissen mit offenem Ausgang.
34
35
36
37
Vgl. die definitorische Eingrenzung von Kulturgeschichte von: Ute Daniel, Kompendium
Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 17–19.
In dieser Definition folge ich dem Ansatz des Bielefelders SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ und danke zugleich der Diskussion meines Ansatzes mit
dem dortigen Kolloquium von Willibald Steinmetz. Stärker auf kollektiv verbindliche Entscheidungen, aber eben auch auf Deutungskämpfe bezogen ist der Politikbegriff bei: Barbara
Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in:
dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte, S. 9–24, S. 14. Kritisch gegenüber einer zu optimistischen Annahme einer erfolgreichen Kommunikation: Bernd Weisbrod, Das Politische und
die Grenzen der politischen Kommunikation, in: Daniela Münkel und Jutta Schwarzkopf
(Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a. M.. 2004, S. 99–112.
Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, S. 99–101.
Mergel, Überlegungen zu Kulturgeschichte, S. 596 u. 605.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
13
Auch ein kulturgeschichtlicher Zugang verkennt nicht, dass die Ausbildung
von Machtverhältnissen ein Kernelement der Politik ist.38 Die Skandale bildeten
dabei eine kommunikative Technik, die insbesondere die Inklusion und Exklusion von Personen und Themen im politischen Feld austarierte. Im Sinne von
Pierre Bourdieu lassen sich die Skandale deshalb als Machtkämpfe im politischen
Feld fassen. Das symbolische Kapital, um dessen Erhalt oder Erwerb die Politiker nach diesem konfliktorientierten Ansatz bei Skandalen rangen, waren vor
allem Reputation und Vertrauen.39 Bereits der britische Starjournalist William
T. Stead, der zahlreiche Skandale anstieß, definierte 1890: „The element of trust
is of the essence of politics.“40 Skandale sind dementsprechend als Versuch zu
verstehen, Machtpositionen durch die Zerstörung des Vertrauens zu verändern,
da Vertrauen eine Vorleistung bildet, die wesentlich soziale Beziehungen prägt.41
Dass es sich bei der Herstellung dieser symbolischen Ordnungen nicht nur um
bedeutungslose Zuschreibungen und „Texte“ handelte, sondern diese durchaus
wirksam Handlungen und Verhaltensregeln formten, belegen bereits die angedeuteten Folgen der Skandale.42
In Anlehnung an Michel Foucault werden Skandale genealogisch als „Orte
der Konfrontation“ gefasst, von denen aus sich die Konstituierung von Machtbeziehungen analysieren lässt. Macht ist in diesem Sinne in konkreten Situationen immer wieder beweglich und von allen Seiten diskursiv verschiebbar. Auch
wenn Foucaults Werk Skandale kaum systematisch berücksichtigt, bergen insbesondere seine diskurshistorischen Überlegungen in „Sexualität und Wahrheit“
zahlreiche Anregungen zu ihrer Verortung.43 So richteten die Skandale darüber,
38
39
40
41
42
43
Dies zählt zum Kern der Kritik an dem Ansatz; vgl. Rödder, Clios neue Kleider; sowie:
Hans-Christoph Kraus und Thomas Niklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue
Wege, München 2007.
Generell zum Kapital als „Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes“: Pierre Bourdieu,
Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, bes.
S. 10; ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, bes.
S. 52, 81 f. Als Kampf um Reputation fasst bereits Skandale: Thompson, Scandal, S. 96; Reputationskämpfe sieht auch: Kirsten McKenzie, Scandal in the Colonies. Sydney & Cape
Town, 1820–1850, Melbourne 2005, S. 9. Wenig plausibel ist allerdings ihre Definition von
Skandalen als veröffentlichter „Klatsch“ (ebd.).
William T. Stead, The Discrowned King of Ireland. With Some Opinions of the Press on the
O’Shea Divorce Case, S. 10, in: British Library Manuscript Collection (BL), Add Mss 56448:
109.
Als „riskante Vorleistung“ fasst Vertrauen: Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus
zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000 (4. Aufl.), S. 81; zur politischen und historischen Dimension vgl. bes.: Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen,
Göttingen 2003.
Als frühe Analyse, die symbolische Ausdrucksformen und Regeln des politischen Verhaltens
untersuchte, vgl. bes.: Lynn Hunt, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989.
Vgl., auch zum folgenden: Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum
Wissen, Frankfurt a. M. 1983, bes. S. 7 f., 46, 61, 97; hilfreich zu den unterschiedlichen Ansätzen in Foucaults Gesamtwerk: Ulich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität.
Foucault als Historiker, Köln 1998.
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14
I. Skandale als historischer Gegenstand
was „Normalität“ zu sein hatte. Hierfür schufen sie Sprechanreize, Geständnismechanismen und Beobachtungsverfahren, die im 19. Jahrhundert offiziell tabuisierte Bereiche wie die Sexualität zu vielfältig verhandelten Gegenständen
machten. Auf diese Weise zeigten die Skandale das „Werden eines Wissens“,
häufig verbunden mit der „Lust, die Lust zu wissen“. Darüber hinaus bilden sie
ein Beispiel für den von Foucault aufgeworfenen Doppelmechanismus von Lust
und Macht; also der Lust, Macht durch Ausfragen, Belauern und Veröffentlichungen auszuüben, und der Lust, der Macht zu entrinnen und sie zu täuschen.
Die Skandale prägten zudem Semantiken, die über die einzelnen Beteiligten hinaus eine disziplinierende Wirkung haben konnten. Die disziplinierende Macht
des Skandals richtete sich eben nicht nur an die Skandalopfer, sondern insbesondere an die Zuschauer. Auf diese Weise förderten die Skandale Anpassungsleistungen. Denn sie standen für die Drohung, durch die Veröffentlichung eines als
unmoralisch gekennzeichneten Verhaltens sozial auszugrenzen.44
Die Macht der Sprache erhält so eine zentrale Bedeutung. Im Sinne der historischen Diskursanalyse fragt meine Studie, welche Aussagen getroffen wurden,
wer auf welche Weise sprach und wo die Grenzen des Sagbaren lagen.45 Sie zielt
jedoch nicht auf eine reine historische Diskursanalyse. Vielmehr werden die
Skandale als politische Rituale und Konstellationen verstanden, um zeitgenössische Wahrnehmungen und Praktiken zu analysieren. Aus diesem Grunde werden mit den Skandalen einzelne historische Ereignisse als Knotenpunkte in einer
Schwellenzeit untersucht, die Konstellationen mit unterschiedlichen Erwartungen, Handlungs- und Sprechmöglichkeiten eröffneten.46 Dieser Zugang ermöglicht, die Intentionen und Verhaltensweisen von unterschiedlichen Individuen zu berücksichtigen und nicht vorschnell von festgelegten übergeordneten
Strukturen auszugehen, sondern auch Zufälle ernst zu nehmen. Dass die individuellen Handlungsmöglichkeiten zugleich von rechtlichen, medialen und politischen Rahmenbedingungen geprägt wurden, wird damit nicht übersehen. Angestrebt wird vielmehr eine Verbindung aus einem struktur- und akteurszentrierten Zugriff, die sich aus systematisch angelegten Fallanalysen ergibt.
Eher kulturgeschichtlich ist der Zugang zudem, weil er innerhalb des politischen Feldes emotionale Reaktionen, wie die Empörung, ernst nimmt.47 An44
45
46
47
Diese Diskussion über die Angst vor einem öffentlichem Ehrverlust und moralischer Ausgrenzung fand sich bereits in der englischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts; vgl.
Schinz, Sitte, S. 318 f. u. 325.
Vgl. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Berlin 2001; Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780–1867, Stuttgart 1993, bes. S. 24–34.
Vgl. auch: Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, S. 84. In Anlehnung an Kosselleck, Ereignisse als „kulturelle Schöpfungsleistung“ zu
betrachten, argumentiert auch: Andreas Suter, Kulturgeschichte des Politischen – Chancen
und Grenzen, in: Stollber-Rilinger, Kulturgeschichte des Politischen, S. 27–56, bes. S. 28.
Bisher vorliegende Arbeiten zur Emotionsgeschichte klammerten Politik eher aus; vgl. etwa: Peter
N. Stearns, American Cool. Constructing a Twentieth-Century Emotional Style, New York 1994;
Claudia Benthien et al. (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
15
gestoßen wurden die Skandale zwar oft aus Machtmotiven, die man als rational
bezeichnen mag, aber dennoch ging ihr Verlauf nicht in einer aufklärerischen
Rationalität auf, sondern war mit vielfältigen Emotionen verbunden. Skandale
galten den Zeitgenossen im wahrsten Sinne des Wortes als „Sensationen“, also
als Ereignisse, die durch ihren außergewöhnlichen Charakter sinnliche Empfindungen auslösten.48 Die Zeitgenossen hoben diese emotionale Komponente immer wieder hervor und bezogen sie auf die „Massen“. Noch der Zeitungswissenschaftler Otto Groth definierte Sensationen wie Skandale als „gerade das,
was in den Massen die stärksten Gefühlserregungen hervorrufen muß.“49 Insbesondere die Eliten des ausgehenden 19. Jahrhunderts sahen dies ähnlich. Die
emotionalen Reaktionen bei Skandalen waren dabei vielfältig und reichten vom
lachenden Spott über Misstrauen bis hin zur Aufregung und angeekelten Entrüstung. Emotionen prägten aber auch das Verhalten der skandalisierten Personen, etwa in Form von Angst, Verzweiflung oder Scham. Und bereits die
Normbrüche der Betroffenen, die aus Liebe, Lust, Hass oder Vertrauen einen
Skandal in Kauf nahmen, zeigen die gefühlsbedingten Grenzen des rationalen
Verhaltens im politischen Feld.
Methodisch gesehen versteht sich das vorliegende Buch zudem als ein Beitrag
zur Mediengeschichte. Auch sie wurde von der Geschichtswissenschaft in den
letzten Jahren verstärkt als Forschungsfeld entdeckt. Mittlerweile herrscht ein gewisser Konsens, Medien als Akteure mit eigenen Logiken zu verstehen – und weniger als Abbild politischer Vorgänge.50 Entsprechend wird anhand der Skandale
geprüft, wie Medien politische und gesellschaftliche Entwicklungen prägten. Vermieden wird auf diese Weise eine historisch isolierte Geschichte von Einzelmedien
zugunsten einer kulturell und politisch eingebetteten Medienanalyse. Auch wenn
abweichende Deutungen von weltanschaulich unterschiedlichen Zeitungen herausgearbeitet werden, geht es doch um gemeinsame Diskursstränge.
Um einen verengten Zugriffe zu vermeiden, wurde vielfach eine Mediengeschichte als eine Geschichte von Öffentlichkeit eingefordert.51 Wie bereits ange48
49
50
51
Zum Zusammenhang von Medien und Emotionen vgl. ausführlich: Frank Bösch und
Manuel Borutta (Hrsg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006. Zum Sensationsbegriff vgl. Ulrike Dulinski, Sensationsjournalismus in Deutschland, Konstanz 2003, S. 64.
Otto Groth, Die unerkannte Kulturmacht, Bd. 2, Berlin 1961, S. 286. Derartige zeitgenössische Urteile übernimmt etwas unreflektiert die wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete
Arbeit: Marcus Mende, Sensationalismus als Produktgestaltungsmittel. Eine empirische
Analyse über die verlegerische und journalistische Orientierung am Sensationsbedürfnis in
der deutschen Presse zwischen 1914 und 1933, Köln 1996.
Programmatisch etwa: Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu
einer zukünftigen Geschichte der Massenmedien, in: GG 27 (2001), S. 177–206.
Vgl. bes. Requate, Öffentlichkeit; Führer et al., Öffentlichkeit; Andreas Schulz, Der Aufstieg der vierten Gewalt. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: HZ 270 (2000), S. 65–97; für die Zeitgeschichte vgl. auch die Beiträge in: Bernd
Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische
Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003.
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I. Skandale als historischer Gegenstand
deutet, schließt sich die vorliegende Studie dem methodischen Ansatz an und
versteht Skandale als einen Zugang, um die Interaktion von unterschiedlichen
Teilen der Öffentlichkeit in ihrer Historizität zu untersuchen. Selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, dass sowohl die historische als auch die analytische Verwendung des Begriffs „Öffentlichkeit“ Konstrukte beschreibt. Um
dieses Konstrukt nicht allein auf eine männliche bürgerliche Elite zu beschränken, ist demnach eine Abkehr von elitären öffentlichen Institutionen sinnvoll.
Kommunikationsereignisse wie Skandale scheinen hierfür hilfreich, auch wenn
wünschenswerte Quellen über Gespräche auf Marktplätzen oder in Treppenhäusern fehlen.52 Im 19. Jahrhundert eröffneten die Skandale jedoch insbesondere
durch die mit ihnen einhergehenden Gerichtsverhandlungen auch für Frauen
und Unterschichten einen rekonstruierbaren Zugang zur Öffentlichkeit.
Das semantische Gegenstück von Öffentlichkeit ist das Geheimnis. Als nichtöffentliche, geheime Sphären gelten insbesondere politische Arkanbereiche oder
Privatsphären. Geheimnis und Öffentlichkeit lassen sich als ein Spannungsverhältnis mit struktureller Interdependenz fassen: Die Öffentlichkeit zehrt das
Geheime nicht auf, sondern markiert nur vorläufige Formen der Anerkennung,
deren Begründungszwang sich stets ändern kann.53 Insofern lassen sich Skandale
als „öffentliche Geheimnisse“ fassen. Sie testeten dabei die Grenzen der Öffentlichkeit aus und verlangten von nicht-öffentlichen Bereichen eine Legitimierung. Im 19. Jahrhundert war dieses Verhältnis durch gegenläufige Trends gekennzeichnet, die das Aufkommen von Skandalen förderten. So entfaltete sich
eine rechtliche Absicherung staatlicher Bereiche und eine Privatsphäre, die frei
von Beobachtungen von außen sein sollte. Gleichzeitig entstanden jedoch Institutionen, die systematisch die Sphäre des Geheimen und Privaten öffentlich beobachteten, um Normbrüche zu sanktionieren oder das öffentliche Wissen zu
erweitern. Die Veröffentlichungen der Gerichte, Journalisten und Politiker, die
hier im Mittelpunkt stehen, standen dabei in Verbindung mit anderen Beobachtern, wie den Sozialstatistikern, Psychologen oder Schriftstellern, die in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls verstärkt das Privat- und Seelenleben sezierten und damit der öffentlichen Reflexion unterwarfen.54
Nicht nur die Medien, sondern auch die Mediennutzer sind als aktive Rezipienten zu verstehen. Im Anschluss an den kommunikationswissenschaftlichen
52
53
54
Vgl. die entsprechende geschlechtergeschichtliche Kritik etwa von: Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Karin Hausen und Heide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte –
Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 81–88; von Seite der Kommunikationswissenschaften: Elisabeth Klaus, Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozeß,
in: Kurt Imhof und Peter Schulz (Hrsg.), Kommunikation und Revolution, Zürich 1998,
S. 131–149, S. 136.
Vgl. Hölscher, Öffentlichkeit, S. 154; Aleida Assmann und Jan Assmann, Zur Einführung,
in: dies. (Hrsg.), Schleier und Schwelle, Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997,
S. 7–16, S. 16.
Vgl. David Vincent, The Culture of Secrecy. Britain, 1832–1998, Oxford/New York 1998,
S. 123 f.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
17
„Cultural Studies-Approach“ von Stuart Hall und John Fiske ist davon auszugehen, dass Medieninhalte eigensinnig und oft quer zu kalkulierten Absichten
angeeignet werden. Denn ihre Inhalte sind vielfältig deutbar und werden erst
durch interpersonale Kommunikation im Kontext der Mediennutzung neu interpretiert.55 Gerade Skandale dürften einen Zugang zu einer Mediengeschichte
ermöglichen, die solche offenen Verlaufsformen ausmacht, auch wenn man die
Deutungen der einfachen Zeitungsleser nur schwer fassen kann. Zu diesen aktiven Mediennutzern muss man zugleich die Politiker zählen, die man sich, wie
Ute Daniel pointiert feststellte, um 1900 nicht zuletzt als Zeitungsleser vorstellen muss, die mit den entsprechenden Medien interagierten.56
Im Sinne des Agenda-Setting-Ansatzes lässt sich dabei annehmen, dass die
Medien zwar nicht unbedingt entscheiden, was Menschen denken, aber zumindest mit prägen, worüber sie sprechen.57 Das galt nicht nur für die politischen
Eliten, deren Wahrnehmung im hohen Maße durch die Lektüre diverser Zeitungen geprägt wurde. Lange vor Niklas Luhmanns berühmtem Diktum, unser
Wissen über die Welt stamme aus den Massenmedien,58 stellte etwa bereits 1860
eine Darstellung über London fest:
What would the Englishman do without his newspaper I cannot imagine. […]. Conversation would cease at once. Brown, with his morning paper in his hand, has very decided
opinions indeed, – can tell you what the French Emperor is about, what the Pope will be
compelled to do, what is the aim of Sardinia and what is Austria’s little game. I dined at
Jenkins’s yesterday, and for three hours over the wine I was compelled to listen to what I
had read in that mornings Times. The worst of it was, that when I joined the ladies I was
no better off. […] What people could have found to talk about before the invention of
newspapers, is beyond my limited comprehension.59
Ebenso lässt sich an polizeilichen Spitzelberichten über Kneipengespräche der
enge Zusammenhang zwischen Zeitungsinhalten und der Alltagskommunikation für das späte 19. Jahrhundert belegen.60
Die Studie fokussiert damit einen Medialisierungsprozess, der im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich an Dynamik gewann. Der Begriff Medialisierung hat dabei eine dreifache Bedeutung: Er verweist auf die zunehmende
55
56
57
58
59
60
Vgl. etwa als einführende Texte: John Fiske, Die Fabrikation des Populären: der John-FiskeReader, Bielefeld 2001; Stuart Hall, Cultural Studies: Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000. Als historisches Beispiel für diese mitunter eigensinnige Aneignung vgl.: Philipp
Müller, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im
Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 2005.
Ute Daniel, Einkreisung und Kaiserdämmerung. Ein Versuch, der Kulturgeschichte der
Politik vor dem Ersten Weltkrieg auf die Spur zu kommen, in: Stollberg-Rilinger (Hrsg.),
Was heißt Kulturgeschichte, S. 279–328, S. 288.
Zum Ansatz selbst vgl.: Hans-Bernd Brosius, Agenda-Setting nach einem Vierteljahrhundert
Forschung: Methodischer und theoretischer Stillstand?, in: Publizistik 33 (1994), S. 269–288.
Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9.
J. Ewing Ritchie, About London, London 1860, S. 1.
Vgl. hierzu bereits: Frank Bösch, Zeitungsberichte im Alltagsgespräch: Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319–336.
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18
I. Skandale als historischer Gegenstand
Durchdringung des Alltagslebens durch die Medien; auf die zunehmende Bedeutung der Medien als Beobachtungssystem zweiter Ordnung, wonach Politiker etwa ihr eigenes Handeln vornehmlich über die Medien wahrnahmen; und
er fasst die wechselseitige Prägung von Medien- und Gesellschaftsentwicklungen, die hier am Beispiel von Skandalen untersucht wird.61 Ein wesentlicher gesellschaftlicher Prozess, der mit der Medialisierung einherging, war die Demokratisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Dementsprechend wird
nach Zusammenhängen dieser Prozesse gefragt.62 Skandale sind dabei als ein
widersprüchliches Phänomen zu verstehen, das sich gegen allzu lineare Fortschrittsgeschichten sperrt. So spalten sie Gesellschaften, schaffen aber zugleich
milieuübergreifende Kommunikationsprozesse. Sie sind mitunter ein Indikator
für die Demokratisierung, aber oft auf Basis von undemokratischen Diffamierungen. Und gerade in Demokratien können Skandale ein Mittel zur Erhaltung
und Bekämpfung dieser Staatsform sein.
Eine methodische Grundfrage ist, nach welchen Kriterien man historische
Skandalfälle ausmacht und exemplarisch auswählt. Die vorliegende Studie sieht
bewusst davon ab, lediglich bis heute kanonisierte Skandale zu analysieren.
Vielmehr wurde auch nach Fällen gesucht, denen die Öffentlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine besonders große Bedeutung beimaß, die aber kaum
durch die Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur tradiert wurden. Erste
Hinweise gab die komplette Durchsicht von wöchentlich erscheinenden Zeitschriften (wie der Berliner Illustrirten Zeitung und der Illustrated London
News), dann die systematische Durchsicht von Zeitungen. Die zeitgenössische
Benennung von Ereignissen als Skandal gab ebenfalls Anhaltspunkte, insbesondere im Zuge einer elektronischen Volltextanalyse der Times.63 Wichtige Hinweise, um Skandale und ihre Bedeutung auszumachen, gaben die rückblickenden Vergleiche der Zeitgenossen. Fast immer wurden während der Skandale
ähnliche frühere Fälle erinnert, die als Vorläufer erschienen. Auf diese Weise
ließen sich auch grenzüberschreitende thematische Bezüge erkennen. So verwiesen etwa die Zeitungen und Abgeordneten beim bis heute recht bekannten
Skandal um den Kolonialisten Carl Peters auf die vorherigen, heute eher vergessenen Kolonialskandale um Heinrich Leist und Alwin Karl Wehlan. Diese
wurden dann ebenfalls in dieser Studie auf Präzedenzverweise untersucht.
Bei der Auswahl der untersuchten Skandale wurde zudem die Relevanz in der
damaligen Öffentlichkeit geprüft. Ein zentrales Kriterium war, ob sie eine längere Zeit von mindestens einigen Wochen in der breiten politischen Öffentlichkeit verhandelt wurden, also in den meisten Zeitungen, den Parlamenten oder
61
62
63
Vgl. konzeptionell: Winfried Schulz, Reconstructing Mediatisation as an Analytical
Concept, in: European Journal of Communication 19 (2004), S. 87–101.
Vgl. ausführlicher hierzu für die folgende Zeit bereits: Frank Bösch und Norbert Frei
(Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.
Für Deutschland lag bis dato leider keine größere Tageszeitung komplett elektronisch mit
einem entsprechenden Suchsystem vor. Allerdings deckte die Times dank ihres Berliner Korrespondenten alle größeren deutschen Skandale ab.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
19
vor Gericht. Nach diesen Kriterien wurden jeweils rund 15 Skandale für Großbritannien und Deutschland ausgewählt, die zwischen 1880 und 1914 aufkamen.
Damit stützt sich die Studie auf knapp dreißig ausführlicher thematisierte Fälle,
um möglichst repräsentative Aussagen über die Entwicklung und Bedeutung
von Skandalen in unterschiedlichen Feldern zu treffen. Weitere rund zwei dutzend Fälle wurden ergänzend hinzugezogen, um die ausführlich untersuchten
Skandale einzuordnen.
Dennoch handelt es sich hier um keine komplette, handbuchartige Übersicht,
sondern nur um exemplarisch ausgewählte Fälle. Diese wurden ebenso nach den
verhandelten Themen ausgewählt, um unterschiedliche Bereiche zu erschließen.
In der sozialwissenschaftlichen Forschung findet sich häufig eine Dreiteilung
der Skandaltypen in Fälle, die Sexualität, Korruption und Machtmissbrauch behandeln („sex, money, power“). Der Machtmissbrauch (wie der WatergateSkandal oder die Spiegel-Affäre) gilt dabei als politischer Skandal in nuce.64 Um
Ähnlichkeiten bei den Skandalen auszumachen und die jeweiligen Deutungen,
Normen und Verhaltensweisen vergleichend zu bestimmen, wurde diese Typologie jedoch in sechs Bereiche erweitert, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als besonders prägnant erwiesen: In Skandale um Homosexualität, Ehebruch, den Kolonialismus, den Journalismus, die Königshäuser und um Korruption. Die Übergänge zwischen diesen Themenfeldern sind jedoch fließend.
So konnte sich ein Monarchie-Skandal um Ehebruch drehen und ein Kolonialskandal um Korruption oder sexuelle Normverstöße. Allerdings standen in diesen Fällen dennoch die spezifischen Normen im Mittelpunkt, die für den Monarchen und den Kolonialismus galten. Darüber hinaus sind selbstverständlich
weitere Themenfelder denkbar, die hier nicht berücksichtigt werden konnten –
wie etwa Skandale um Militär und Polizei oder um Kirche und Religion.65
Trotzdem dürfte das Themenspektrum breit genug gefächert sein, um einige
Antworten auf die eingangs gestellten Leitfragen zu geben. Zeitlich konzentriert
sich die Studie auf die Jahrzehnte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in denen
die Skandale gehäuft auftraten, also insbesondere auf die Zeit zwischen 1880
und 1914. Das Jahr 1914 bildet in beiden Ländern eine sinnvolle Zäsur, da die
Umstrukturierung von Politik und Öffentlichkeit die Rahmenbedingungen für
Skandale entscheidend veränderte. Insbesondere die Feindpropaganda trat nun
an die Stelle einer Empörung über Normbrüche in der eigenen Gesellschaft. Dies
ist jedoch medien- und politikgeschichtlich ein neues Kapitel.
Das Buch beruht, soweit wie möglich, auf zahlreichen unterschiedlichen gedruckten und ungedruckten Quellen aus 23 Archiven. Diese Quellen lassen sich
grob in fünf Gruppen kategorisieren. Erstens wurden, um die interne Behand64
65
Vgl. Thompson, Scandal, S. 196.
Zur Wirkung von Kirchenskandalen vgl. Manuel Borutta, Enemies at the Gate. The „Moabiter Klostersturm“ and the „Kulturkampf“ in Germany, in: Christopher Clark und Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe,
Cambridge 2003, S. 227–254.
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20
I. Skandale als historischer Gegenstand
lung und Deutung der Skandale auszumachen, die Archivunterlagen von allen
an den Skandalen Beteiligten ausgewertet. Hierzu zählen die Briefe, Aufzeichnungen und Tagebücher von Politikern, Journalisten, Juristen und weiteren im
Skandal involvierten Akteuren. In Großbritannien waren dabei journalistische
Nachlässe wesentlich umfangreicher überliefert.66 Durch das bessere Verhältnis
zwischen Politikern und Journalisten fanden sich zudem in Nachlässen von britischen Politikern mehr Briefwechsel mit Journalisten und Verlegern.67 Dagegen
wurden in Deutschland die Archive der meisten Zeitungsredaktionen und -redakteure vor 1914 spätestens im Zweiten Weltkrieg vernichtet, so dass häufiger
aus der Korrespondenz von Politikern Rückschlüsse gezogen werden mussten.68 Zweitens wurden die Akten von Institutionen analysiert, die bei der Aushandlung von Skandalen beteiligt waren, etwa der Justiz, von Untersuchungsausschüssen und Regierungsbehörden. Als Historiker kann man von der damaligen deutschen Bürokratie profitieren, da die Ministerien deutlich mehr Akten
zu den Skandalen produzierten als in Großbritannien, wo die Minister ihre
wichtigen Unterlagen eher in ihren Nachlässen sammelten. In beiden Ländern
liegen die gerichtlichen Ermittlungsakten in vielen Fällen nicht mehr direkt vor.
Sie konnten aber zumindest in Form von zeitgenössischen Abschriften in den
Unterlagen der Justizminister oder von Prozessbeteiligten ausgemacht werden.69 Drittens wurden Quellen der Versammlungsöffentlichkeit ausgewertet,
um das öffentliche Sprechen im Skandal zu untersuchen. Für alle Skandale wurden die Parlamentsdebatten und die öffentlichen Aussagen in Gerichtsverhandlungen herangezogen, zudem im Fall Großbritanniens die Aussagen vor Untersuchungskommissionen. Da die offiziellen Prozessprotokolle oft nicht überliefert sind, musste auf die protokollarischen Mitschriften der Journalisten
zurückgegriffen werden. Diese sind zwar verkürzt, aber gerade der Vergleich
unterschiedlicher Mitschriften belegt ihre Zuverlässigkeit.70
66
67
68
69
70
Ausgewertet wurden etwa Nachlässe von Journalisten wie W.T. Stead (Cambridge University/
Churchill Archives Centre), Maxse (West Sussex Record Office, Chichester), Strachey (Parliamentary Archive/House of Lords Record Office, London), Escott, Garvin, Lord Northcliffe
(alle British Library Manuscript Collection) oder T.P. O’Connor (Trinity College Dublin).
Nicht besucht werden konnte das Archiv der Times, das während meiner Aufenthalte in England trotz mahnender Anschreiben leider wegen des dortigen Personalabbaus nicht zugänglich war.
Vgl. etwa die Nachlässe von Politikern wie von Joseph Chamberlain (Birmingham University,
Special Collections Department), William Gladstone, Dilke, Campbell-Bannerman (alle British
Library Manuscript Collection), Lloyd George, Bonar Law (Parliamentary Archive/House of
Lords Record Office, London) oder Winston Churchill (Cambridge University/Churchill
Archives Centre); relativ wenig, aber immer noch mehr als bei deutschen Politikern etwa im
Nachlass von Lord Salisbury (Hatfield House, Hatfield).
Von den deutschen Nachlässen der Journalisten vor 1914 ist sicherlich der wichtigste und zugleich umfangreichste der von Maximilian Harden, in: Bundesarchiv Koblenz (BA/K), N 1062.
Bes. ergiebig hier die Unterlagen beim preußischen Justizministerium in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA), HA I Rep. 84 a.
Vgl. etwa die gedruckte Version der Berichte von: Hugo Friedlaender, Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, 12 Bde., Berlin 1911–1919.
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2. Methoden, Zugänge, Quellen
21
Viertens wurden Medien analysiert, die Skandale thematisierten. Im Vordergrund standen vor allem die großen Zeitungen und Zeitschriften, die systematisch für die Zeiträume ausgewertet wurden, in denen die Skandale die Öffentlichkeit bewegten. Die Auswahl der Presseerzeugnisse erfolgte nach der zeitgenössischen Bedeutung, die sich aus ihrer Auflagenhöhe oder ihrem öffentlichen
Stellenwert ergab. Dabei wurde für beide Länder ein breites politisches Spektrum berücksichtigt. Für Deutschland zählte dazu der sozialdemokratische Vorwärts, die Zentrums-nahe Kölnische Volkszeitung, die liberale Vossische Zeitung
und das liberale Berliner Tageblatt (die beide als besondere Qualitätsblätter galten), die liberale Straßenverkaufszeitung BZ am Mittag, das essayistische bürgerlich-intellektuelle Wochenblatt Die Zukunft, der eher konservative auflagenstarke Berliner Lokal-Anzeiger, die konservative Neue Preußische Zeitung
(„Kreuzzeitung“ genannt) und die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung.71
In Großbritannien war die politische Zuordnung der Zeitungen oft weniger eindeutig, aber dennoch möglich.72 Von den liberalen Blättern wurde die auflagenstarke Daily News untersucht, die Pall Mall Gazette, die oft zu unrecht als
Sensationsblatt gilt und zahlreiche journalistische Innovationen förderte,73 das
radikal-liberale Sonntagsblatt Reynolds’s Newspaper, das mit sensationell populistischem Ton demokratische Positionen vertrat74 und der irenfreundliche,
ebenfalls leicht radikalliberale Star.75 Die Position der irischen Nationalisten
wurde durch United Ireland erschlossen. Auf Seite der eher konservativen Zeitungen wurde die Times herangezogen, die 1908 der Pressebaron Lord Northcliffe kaufte,76 die seit 1896 ebenfalls von Northcliffe herausgegebene Daily
Mail, die als erstes britisches Boulevardblatt gilt, und der Daily Telegraph, dem
bis in die 1880er Jahre auflagenstärksten Blatt, das erst im ausgehenden 19. Jahrhundert ein stärker konservatives Profil gewann.77 Um darüber hinaus weitere
Pressestimmen einzubeziehen, wurden zusätzlich Presseausschnittssammlungen
71
72
73
74
75
76
77
Zur politischen Zuordnung vgl. einführend: Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und
Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 259–287;
Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz
2000, S. 202–237.
Zur politischen Zuordnung vgl. Stephen Koss, The Rise and Fall of the Political Press in
Britain, Bd. 1: The Nineteenth Century, London 1981.
Vgl. Raymond L. Schults, Crusader in Babylon. W.T. Stead and the Pall Mall Gazette. Lincoln 1972.
Virginia Berridge, Popular Sunday Papers and Mid-Victorian Society, in: George Boyce,
James Curran und Pauline Wingate (Hrsg.), Newspaper History from the Seventeenth
Century to Present Day, London 1978, S. 247–264.
John Goodbody, The Star: Its Role in the Rise of the New Journalism, in: Joel H. Wiener
(Hrsg.), Papers for the Millions. The New Journalism in Britain, 1850s to 1914, New York
1988, S. 143–164.
Die Times schrieb ihre eigene Geschichte ausführlich: Office of the Times (Hrsg.), The History of the Times. Bd. 3: The Twentieth Century Test 1884–1912, London 1947.
Zu den populären Aktionen des Daily Telegraph vgl. Matthew Engel, Tickle the Public:
One Hundred Years of the Popular Press, London 1996, S. 33 f.
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22
I. Skandale als historischer Gegenstand
benutzt.78 Da die Tageszeitungen zumindest bis zur Jahrhundertwende weitgehend auf Bilder verzichteten, wurden zudem Zeitschriften und Beilagen ausgewertet, um visuelle Vorstellungen über die Skandale auszumachen. Im Vordergrund standen die Berliner Illustrirte Zeitung und die Illustrated London News,
sowie das Sensationsblatt Illustrated Police News.79 Um visuelle Deutungen der
verhandelten Normbrüche zu interpretieren, wurden auch die Karikaturen in
den Satiremagazinen Kladderadatsch, Simplicissimus und Punch analysiert.80
Fünftens wurde versucht, Quellen zu Gesprächen über Skandale in der „Encounter-Öffentlichkeit“ der zufälligen Begegnungen zu ermitteln. Zu diesem
Zweck wurden aus rund 20 000 Berichten über Kneipengespräche, die getarnte
Spitzel der Hamburger Politischen Polizei heimlich aufzeichneten, rund 2 500
Berichte ausgewertet, die in den Zeitraum der Skandale fielen.81 Tatsächlich dokumentierten sie Unterhaltungen zu allen untersuchten deutschen Skandalen.
Selbst wenn viele dieser Berichte nicht den „wirklichen“ Gesprächsverlauf zeigen, sondern eher die vermittelte Wahrnehmung einfacher Polizisten, sind sie
immer noch eine ausgezeichnete Quelle, um die Deutungen einfacher Zeitungsleser auszumachen. Da für Großbritannien vergleichbares fehlt, wurden Quellen wie Music Hall-Lieder, Zuschriften und Leserbriefe, Pamphlete oder Berichte über Gerüchte hinzugezogen.
Dieses breite Ensemble von Quellen soll ermöglichen, die Skandale nicht nur
entlang von Medienberichten zu rekonstruieren, sondern vielmehr als ein Panoptikum von unterschiedlichen Handlungen und Kommunikationsformen zu
untersuchen, die Inhaber von Machtpositionen herausforderten.
78
79
80
81
Die wichtigste Presseausschnittssammlung stammt vom Reichslandbund, in: Bundesarchiv
Berlin/Lichterfelde (BAB/L), R 8034 II und III; sowie die Sammlung Fechenbach, in: BA/K
ZSg 113.
Die phasenweise publizierten deutschen Pendants zur Illustrated Police News sind leider nur
vereinzelt überliefert; vgl. Hartwig Gebhardt, „Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse
für die „niederen Instinkte“. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte, in: Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 184–217.
Für einen ausgewählten Skandal vgl. bereits: James Steakley, Die Freunde des Kaisers. Die
Eulenburg-Affäre im Spiegel ihrer zeitgenössischen Karikaturen, Hamburg 2004. Zu den Zeitschriften vgl.: A.T. Allen, Satire and Society in Wilhelmine Germany: Kladderadatsch and
Simplicissimus 1890–1914, Lexington 1984; Ingrid Heinrich-Jost, Kladderadatsch. Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich, Köln 1982.
Hauptstaatsarchiv Hamburg (HStAH), Bestand Politische Polizei 331–3, Vigilanzberichte.
Eine kleine Auswahl des großen Bestandes liegt gedruckt vor: Richard Evans (Hrsg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–
1914, Reinbek 1989. Im Hinblick auf Kommunikationsformen hat den Bestand jüngst ausgewertet: Owzar, „Reden ist silber“.
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3. Zum Forschungsstand
23
3. Zum Forschungsstand
Die bisherigen Arbeiten zu Skandalen lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: In eher sozialwissenschaftlich-theoretische Texte, in historische Fallstudien und in systematische historische Publikationen. Die erste Gruppe von Arbeiten, die eher theoretisch Skandale reflektieren und überwiegend von Sozialwissenschaftlern stammen, bietet neben Beispielen aus der Gegenwart allenfalls
kurze historische Rückblicke.82 Sie gewährten vielfältige methodische Anregungen zur Merkmalsbestimmung von Skandalen und ihren Wirkungen. Mehrheitlich weisen sie ihnen eine Korrekturfunktion zu: Skandale ermöglichen Gesellschaften zu lernen, wenn andere Mechanismen versagen. Gerade das Ausbleiben von Skandalen gilt danach als Gefahr für die Demokratie.83 Weniger
Zustimmung findet dagegen der Ansatz, Skandale als Merkmal und Grund für
den Verfall der Öffentlichkeit zu sehen. Diese Argumentation macht Skandale
für einen Vertrauensverlust in Politik und Staat verantwortlich und beklagt die
schweren Schäden durch Skandale, da die aufgebrachten Vorwürfe meist nicht
der „Wahrheit“ entsprächen und keine Besserung bringen würden.84 Diese Lesart knüpft damit an jene kulturkritische Interpretation an, die bereits im 19. Jahrhundert vornehmlich von Anhängern der Regierungsparteien auszumachen ist.
Gemeinsam ist diesen Interpretationen, dass sie der medialen Struktur eine
große Bedeutung beimessen. Entweder sehen sie diese als Zeichen einer pluralisierten Öffentlichkeit oder als kommerzielle Sensationsorgane und politische
Verleumder. Eine gewisse Autonomie der Medien und eine Konkurrenz politischer Teilöffentlichkeiten gelten jeweils als Vorraussetzung für Skandale.85 Ob
Skandale hingegen auch in Diktaturen mit ihrer kontrollierten Medienöffentlichkeit auftreten können, ist umstritten.86 Durch den Aktualitätsbezug der so82
83
84
85
86
Geraffte Rückblicke ins späte 19. Jahrhundert und für die Zeit ab 1960 etwa: Thompson, Political Scandal. Einzelne Beispiele auch in: Andrei S. Markovits und Mark Silverstein (Hrsg.),
The Politics of Scandal: Power and Process in Liberal Democracies, New York 1988. Anregende
systematische Überlegungen vornehmlich am Beispiel der Affäre um Michel Friedmann (2003)
formulierte jüngst nach Abschluss des Manuskriptes: Burkhardt, Medienskandale.
Vgl. Hondrich, Enthüllung, S. 57; Rolf Ebbighausen, Skandal und Krise. Zur gewachsenen
„Legitimationsempfindlichkeit“ staatlicher Politik, in: ders. und Sighard Neckel (Hrsg.),
Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989, S. 171–200, S. 173; Andrei S. Markovits und Mark Silverstein, Introduction: Power and Process in Liberal Democracies, in:
dies. (Hrsg.), The Politics, S. 1–12.
Hans Mathias Kepplinger, Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit,
München 2001, S. 151 f. Eine Verstärkung bei bestehenden negativen Bewertungen sieht auch:
Jens Wolling, Skandalberichterstattung in den Medien und die Folgen für die Demokratie,
in: Publizistik 46 (2001), S. 20–36.
Thompson, Scandal, S. 94.
So plädierte von historischer Seite Martin Sabrow dafür, die situative Öffentlichkeit (wie Gespräche in Warteschlangen, Clubs oder Straßenbahnen) als Forum für Skandale ernst zu nehmen, was auch Skandale in Diktaturen ermöglichte; vgl. mit Fallbeispielen aus dem Nationalsozialismus und der DDR: Martin Sabrow, Politischer Skandal und moderne Diktatur, in:
ders. (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der
DDR, Göttingen 2004, S. 7–32, S. 23.
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I. Skandale als historischer Gegenstand
zialwissenschaftlichen Studien wurden Skandale vornehmlich als Ergebnis einer
visualisierten Medienkultur gesehen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten im
Fernsehzeitalter durchgesetzt habe. Der Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert dürfte jedoch davor warnen, viele Beobachtungen zu schnell aus gegenwärtigen Medienstrukturen abzuleiten und Gegenwartsbefunde ahistorisch zu verallgemeinern.
Neben dieser eher theoretisch-systematischen sozialwissenschaftlichen Literatur liegen zweitens, insbesondere für Großbritannien, vornehmlich ältere Studien über einzelne Skandale vor, etwa über die Ehebruchsskandale von Dilke
und Parnell, den Homosexualitätsskandal um Lord Somerset oder die Marconi
Affäre um die Aktienkäufe von Ministern.87 Für das Kaiserreich fanden insbesondere die Eulenburg-Affäre, die Daily-Telegraph-Affäre und die Zabern-Affäre quellenfundierte Bearbeitungen.88 Gemeinsam ist diesen Publikationen,
dass sie den Ereignisablauf einzelner Skandale isoliert rekonstruieren. So zog
Frances Donaldson Monographie über den Marconi-Skandal das Fazit: „The
Marconi case was an isolated incident without, it seems to me, much historical
significance.“89 Weniger die öffentlichen Deutungen als die „wirklichen“ Handlungen der Beschuldigten standen dabei im Vordergrund.90 Das vorliegende
Buch profitierte von diesen Ereignisdarstellungen und konnte sie oft durch eine
etwas breitere Quellenbasis ergänzen oder korrigieren. Im Unterschied dazu
wird hier jedoch darüber hinaus angestrebt, anhand der Skandale systematische
Fragen zu beantworten – wie die Aushandlung gesellschaftlicher Normen, das
Verhältnis von Politik, Medien und Öffentlichkeit, die Anatomie von Skandalen
und nationale Besonderheiten.
Drittens lässt sich an einige wenige historische Studien anschließen, die Skandale stärker in Verbindung mit einzelnen historischen Themen untersuchten.
Dies gilt zunächst für die frühe Studie von Alex Hall, die wilhelminische Skan87
88
89
90
Vgl. Francis Steward Lyons, The Fall of Parnell, 1890–91, London 1960; Roy Jenkins, Victorian Scandal. A Biography of the Right Honourable Gentleman Sir Charles Dilke, New
York 1965; H. Montgomery Hyde, The Cleveland Street Scandal, London 1976; Frances
Donaldson, The Marconi Scandal, London 1962.
Bezeichnenderweise stammen die ausführlichsten Arbeiten zur Zabern-Affäre von Amerikanern: David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London
1982; Richard W. Mackey, The Zabern Affair, 1913–1914, Lanham 1991. Zum Ereignisablauf
der Eulenburg-Affäre vgl. die ungedruckte Dissertation von: Angela Leuchtmann, Der Fall
Eulenburg. Anfang und Ende einer Karriere im wilhelminischen Deutschland, Ms. Diss. München 1997. Juristisch entlang der Prozesse: Karsten Hecht, Die Harden-Prozesse – Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, München 1997. Stärker journalistisch: Peter
Jungblut, Famose Kerle. Eulenburg – eine wilhelminische Affäre, Hamburg 2003. Etwas weniger Aufmerksamkeit fand die Daily Telegraph-Affäre; vgl. bes. Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung
und Dokumentation, Stuttgart 2002.
Donaldson, Marconi, S. 249.
Das gilt auch für die Biographien zu den im Skandal Beteiligten, die allerdings mitunter die
Skandale der Protagonisten ignorierten; vgl. etwa: David Steele, Lord Salisbury. A Political
Biography, London 1999; Stephen Koss, Asquith, Bristol 1976.
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3. Zum Forschungsstand
25
dale im Kontext der sozialdemokratischen Presse analysierte. Insbesondere aus
den Berichten des Vorwärts und des Hamburger Echos rekonstruierte sie verschiedene Fälle und deutete die Zeitungsberichte als öffentlichen Protest gegen
Ungerechtigkeiten und Korruption.91 Obgleich ihm zuzustimmen ist, dass die
Sozialdemokraten eine zentrale Rolle beim Aufbringen von Skandalen spielten,
schöpft dies sicherlich nicht das Thema aus. Und selbst für die Kampagnen der
Sozialdemokraten verspricht eine stärker archivgestützte Analyse weiterführende Ergebnisse.92 Einen ersten Überblick über das verstärkte Aufkommen von
Skandalen in Deutschland, Frankreich und den USA gab Alexander SchmidtGernig, der daran den wachsenden Anspruch der Presse ausmachte, eine „vierte
Gewalt“ zu sein. Der knapp belegte Befund des Artikels, die Erfolge der Presse
seien gering gewesen, bleibt allerdings zu diskutieren.93 Dass große Skandale
grenzübergreifend in ganz Europa unterschiedliche Empörungen und Deutungsmuster auslösen können, zeigte James Brennan an Zeitungsberichten aus
mehreren Ländern über die Dreyfus-Affäre, auch wenn die Arbeit deskriptiv
die Abfolge der Presseartikel beschreibt.94 Von der jüngeren deutschen Forschung ist vor allem die wichtige Arbeit Martin Kohlrauschs über Skandale um
Wilhelm II. hervorzuheben, der anhand der Eulenburg-Affäre, der Caligula-Affäre, der Daily-Telegraph-Affäre und der Flucht von 1918 die öffentliche Wahrnehmung des Kaisers behandelt. Anhand von Zeitungsartikeln macht er an diesen vier Fällen sprachliche Strategien aus, wie über den Kaiser im Zeitalter der
Massenpresse gesprochen wurde. Kohlrausch kommt zu dem Ergebnis, dass die
Eulenburg- und Daily-Telegraph-Affäre zu einer Enttäuschung über Wilhelm II.
führten, aus der heraus sich immer radikalere „Führerforderungen“ entwickelten.95 Überschneidungen zu dieser Studie werden durch die breitere Perspektive
und anders gelagerte Fragestellung vermieden, da das öffentliche Bild von
Wilhelm II. im Folgenden allenfalls einen eher untergeordneten Punkt bildet.
91
92
93
94
95
Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890–1914, Cambridge 1977, S. 188. Hall behandelt im engeren Sinne nur im letzten Drittel seines Buches Skandale, bietet aber in den ersten Teilen wichtige, bislang zu wenig aufgegriffene Beobachtungen zur sozialdemokratischen Presse und zu Konflikten zwischen SPD
und Staat.
Halls Arbeit stützt sich, neben Presseausschnitten, auf verschiedene Polizeiberichte in regionalen Archiven, insbesondere aus Hamburg; jedoch erhielt er etwa keinen Zugang zu den damaligen Beständen in der DDR, die heute im Berliner Bundesarchiv/Lichterfelde und dem
Geheimen Staatsarchiv leicht zugänglich sind.
Alexander Schmidt-Gernig, Die Presse als „vierte Gewalt“? – Politischer Skandal und die
Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA, in: Martin
Kirsch et al. (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft.
Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 169–193, S. 192.
James f. Brennan, The Reflection of the Dreyfus-Affair in the European Press 1897–1899,
New York 1998.
Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und Transformationen der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Vgl. auch zur englischen Rezeption
dieser und anderer Affären um Wilhelm II.: Lothar Reinermann, Der Kaiser in England:
Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit, Paderborn 2001.
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26
I. Skandale als historischer Gegenstand
Zudem wird die Eulenburg-Affäre hier vor allem als Normenkonflikt um Homosexualität interpretiert und auch die Skandale um Wilhelm II. werden stärker
auf die Handlungsmuster der Journalisten und Politiker im Zuge der Medialisierung bezogen.
In Großbritannien, wo Sex-Skandale bis heute eine größere Bedeutung haben, liegen bereits einzelne historische Arbeiten zu diesem Skandaltypus vor.
Für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zeigte Anna Clark an einigen Beispielen, wie bereits Skandale um die Sexualität des britischen Hochadels Reformen auslösen konnten, ihre Wirkung aber für die Skandalisierer unberechenbar war. Dabei führten die satirischen Einzelangriffe gegen Individuen zu einer
systematischen politischen Kritik.96 Anhand von zwei Sex-Skandalen in britischen Kolonien analysierte Kirsten McKenzie, wie Skandale die soziale Inklusion und Exklusion in den anfangs noch wenig formalisierten Kolonien in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelten.97 Andere Arbeiten, die vom Titel
her sex scandals anpreisen, begnügten sich dagegen mit einer Darstellung von
Ehebrüchen oder Homosexualitätspraktiken prominenter Personen, ohne diese
aber als Skandale zu thematisieren und deren öffentliche Bedeutung zu berücksichtigen.98 Dennoch machen die eher populärwissenschaftlichen Publikationen
über „Sensationen“ im viktorianischen England zumindest darauf aufmerksam,
in welchem Kontext die politischen Skandale standen: Ähnlich wie spektakuläre
Morde waren sie Medienberichte über außeralltägliche Ereignisse, die emotionale Reaktionen auslösen konnten und mitunter den Verlauf von Gerichtsprozessen veränderten.99 Was jeweils als Recht galt, bestimmten nicht allein Gesetzestexte, sondern wurde im Gericht zwischen Richtern, Anwälten, Beschuldigten, Publikum und Journalisten kommunikativ ausgehandelt.100
Darüber hinaus knüpft das Buch an diverse Forschungsfelder an, die mit den
Skandalthemen verbunden sind. Obgleich wegen der vielfältigen Bereiche auf
ein pauschales Resümee verzichtet werden muss, lässt sich generell ein recht un96
97
98
99
100
Anna Clark, Scandal. The Sexual Politics of the British Constitution, Princeton 2004.
McKenzie, Scandal.
Vgl. Michael Harrison, Painful Details. Twelve Victorian Scandals, London 1962; Montgomery Hyde, Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and Society, London 1986. Fälle
wie Kindsmorde, Scheidungen u.ä., aber kaum Skandale im engeren Sinne behandeln die Artikel in: Kristine Ottesen Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals. Representations of Gender
and Class, Athens/OH 1991. Eine Zusammenfassung moralischer Vergehen, mit der These,
die 1890er seien eine prüde Zeit gewesen, bietet: Trevor Fisher, Scandal: The Sexual Politics
of Late Victorian Britain, Stroud 1995. Auf ausgewählte Romane bezogen: William A. Cohen, Sex Scandal. The Private Parts of Victorian Fiction, Durham 1996; Morris B. Kaplan,
Sodom on the Thames. Sex, Love, and Scandal in Wilde Times, Ithaca 2006.
Vgl. etwa die gesammelten Fälle in: Michael Diamond, Victorian Sensation or, the Spectacular, the Shocking and the Scandalous in Nineteenth-Century Britain, London 2003.
Die Öffentlichkeit als Teil der Praxis bei Gerichtsprozessen untersuchte: Benjamin Carter
Hett, Death in the Tiergarten: Murder and Criminal Justice in the Kaiser’s Berlin, Cambridge/Mass. 2004, passim. Vgl. methodisch, auch zur Rolle des Publikums und der Presse im
Gericht: Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte
des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002, S. 23 f., 486–533.
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3. Zum Forschungsstand
27
gleichgewichtiger Forschungsstand zur deutschen und britischen Geschichte
feststellen. Dies gilt erneut besonders für die Sexualitätsgeschichte. So liegen für
Großbritannien bereits zahlreiche Arbeiten zur Hetero- und Homosexualität
im langen 19. Jahrhundert vor, die häufig auch einzelne Skandale einbezogen,
wie insbesondere den Boulton/Park- und den Oscar Wilde-Skandal.101 Sie zeigen, dass die viktorianische Zeit eben nicht allein durch einen rigiden Puritanismus gekennzeichnet war, sondern durch zahlreiche Gegenbewegungen, wodurch es zu einer fortlaufenden Thematisierung der Sexualität kam.102 Selbst
zur Sexualität in den britischen Kolonien liegen einzelne Arbeiten vor, die die
Interaktion mit den Sexualitätsdiskursen im Mutterland zeigen.103 Vergleichbare Studien sucht man für Deutschland vergeblich, auch wenn einige Publikationen sich bereits der Homosexuellenbewegung widmeten.104 Diese blickten
jedoch vielfach stärker auf deren Formation und Ideengeschichte als auf öffentliche Zuschreibungen.105
Ähnlich ungleichgewichtig ist der Forschungsstand zur Geschichte der Korruption. So liegt für Deutschland bislang etwa keine quellenfundierte Studie zur
Korruption im 19. Jahrhundert vor, für Großbritannien dagegen bereits einzelne
Überblicksdarstellungen.106 Ebenso fand der Zusammenhang zwischen der
101
102
103
104
105
106
Vgl. etwa jüngst: H.G. Cocks, Nameless Offences. Homosexual Desire in the Nineteenth
Century, London 2003; Matt Cook, London and the Culture of Homosexuality, 1885–1914,
Cambridge 2003; Graham Robb, Strangers. Homosexual Love in the 19th Century, London
2003. Weitere Literaturhinweise in den entsprechenden Kapiteln.
Vgl. bereits: Jeffrey Weeks, Sex, Politics and Society. The Regulation of Sexuality since 1800,
London 1981, S. 23.
Robert Aldrich, Colonialism and Homosexuality, London 2003; Ronald Hyam, Empire
and Sexuality. The British Experience, Manchester 1990.
Vgl. etwa die Beiträge in: Susanne zur Nieden (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson:
Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945, Frankfurt a. M. 2005; Rüdiger Lautmann und Angela Taeger (Hrsg.), Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992. Vergleichend zum Forschungsstand: Gert Hekma,
Die Verfolgung der Männer. Gleichgeschlechtliche männliche Begierden und Praktiken in der
europäischen Geschichte, in: ÖZG 9 (1998), S. 311–341; Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999. Erst nach Abschluss
des Manuskriptes erschien leider: Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur, 1880–1934, Köln und Weimar 2007. Eher Kompilationen
bieten: Gotthard Feustel, Geschichte der Homosexualität, Düsseldorf 2003; Helmut
Blazek, Rosa Zeiten für rosa Liebe. Geschichte der Homosexualität, Frankfurt a. M. 1996.
So ignorierte eine jüngere Studie über Sexualität im wilhelminischen Berlin die Skandale um
Heinze oder um Eulenburg, zugunsten von Großstadtbeobachtungen wie von Georg Simmel:
Dorothy Rowe, Representing Berlin. Sexuality and the City in Imperial and Weimar Germany, Aldershot 2003.
Vgl. G.R. Searle, Corruption in British Politics 1895–1930, Oxford 1987; Alan Doig, Corruption and Misconduct in Contemporary British Politics, Harmondsworth 1984, S. 36–80; Philip
Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economical Reform in Britain, Oxford 1996; Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practises in British Elections 1868–
1911, Oxford 1962. Ein Überblick zur englischen Forschung (und den Defiziten zu Deutschland)
bietet: Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 282 (2006), S. 313–350.
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28
I. Skandale als historischer Gegenstand
Medienentwicklung und der Monarchie bislang in Großbritannien mehr Aufmerksamkeit, obgleich in beiden Ländern die Monarchie durch die Medialisierung im 19. Jahrhundert ihr Erscheinungsbild und ihre Rolle veränderte.107 Zumindest tendenziell gut erforscht ist für beide Länder der Kolonialismus des
ausgehenden 19. Jahrhunderts. Neben den kolonialen Praktiken fand seine
Rückwirkung auf die Öffentlichkeit und die Gesellschaft der europäischen
Länder verstärkte Aufmerksamkeit, etwa mit Blick auf Kolonialausstellungen,
populäre Schriften oder Bildhaushalte.108 Dementsprechend erscheint die jüngst
von Bernhard Porter aufgebrachte These, der Kolonialismus habe in der
britischen Öffentlichkeit keine größere Rolle gespielt, eher provokativ als überzeugend.109 Kolonialskandale spielten jedoch bei diesen Arbeiten eine vergleichsweise geringe Rolle, obgleich sie eine wichtige Brücke zwischen den
kolonialen Praktiken und den öffentlichen, populären Deutungen bildeten.110
Ebenso fand das brutale oder korrupte Vorgehen von Kolonialbeamten und
„Entdeckern“ zwar in verschiedenen Darstellungen zu den einzelnen Kolonien
Erwähnung, die daraus entstehenden Skandale aber kaum systematische Aufmerksamkeit. Während etwa für Großbritannien das skrupellose Vorgehen von
Henry Morton Stanley bekannt ist, ist die Frage, inwieweit daraus eine öffentliche Empörung und ein Skandal entstanden, bisher kaum erforscht.111
Wesentlich schlechter bearbeitet ist für Deutschland die Entwicklung der
Medien im 19. Jahrhundert.112 Im Mittelpunkt der deutschen Mediengeschichte
standen bislang, nicht zuletzt bedingt durch die Quellenlage und die allgemeine
107
108
109
110
111
112
Vgl. bes. John Plunkett, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2002; für Deutschland vgl. zumindest den Ausstellungskatalog: Franziska Windt et al. (Hrsg.), Die Kaiser und
die Macht der Medien. Katalog zur Ausstellung im Schloss Charlottenburg, Berlin 2005;
Kohlrausch, Der Monarch.
Vgl. etwa: John MacKenzie, Propaganda and Empire. The Manipulation of British Public
Opinion, 1880–1960, Manchester 1984; Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller
(Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002; Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003.
Bernard Porter, The Absent-Minded Imperialist. Empire, Society, and Culture in Britain,
Oxford 2004.
So analysierte die 1906 aufgebrachten Skandale bislang nur ein Artikel von 1959 systematisch,
und dies auch nur mit Blick auf Matthias Erzbergers Agitation: Klaus Epstein, Erzberger and
the German Colonial Scandals 1905–1910, in: English Historical Review 74 (1959), S. 637–
663.
Vgl. von den zahlreichen Arbeiten über Stanley bes.: Frank McLynn, Stanley. Sorcerer’s Apprentice, London 1991. Am bekanntesten ist hier sicher noch der Skandal um Carl Peters dank
eines Aufsatzes von: Martin Reuss, The Disgrace and Fall of Carl Peters: Morality, Politics,
and Staatsräson in the Time of Wilhelm II, in: CEH 14 (1981), S. 110–141; vgl. jetzt auch die
Passagen in: Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856–1918. A Political Biography, Oxford 2004, S. 214–230.
Als vergleichender Forschungsüberblick: Frank Bösch, Zwischen Politik und Populärkultur.
Deutsche und britische Printmedien im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 45
(2005), S. 549–585. Als Überblick zur deutsche Presseentwicklung vgl. bes.: Wilke, Medienund Kommunikationsgeschichte, S. 150–302.
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3. Zum Forschungsstand
29
deutsche Staatsfixierung, vor allem die staatliche Pressekontrolle und Zensur.113
Ebenso fand die Öffentlichkeitsarbeit im wilhelminischen Reich Beachtung, die
trotz zahlreicher Reformbemühungen nicht in eine strukturierte Organisation
der gesamten Pressepolitik mündete.114 Wertvolle Kenntnisse zur Sozialgeschichte der deutschen Journalisten im 19. Jahrhundert ermittelte Jörg Requate,
der das überwiegend bildungsbürgerliche Profil der Journalisten und ihr Selbstverständnis der „Überzeugungstreue“ herausstellte. Letzteres habe ihnen zwar
informelle Kontakte zu politisch eng verbundenen Politikern eröffnet, zugleich
aber ihr Ansehen geschmälert.115 Trotz derartiger Sonden liegen bislang wenig
medienhistorische Arbeiten vor, die die Presse selbst als Akteur untersuchen und
Medieninhalte mit gesellschaftlichen Veränderungen verbinden. Selbst große
Verleger wie Ullstein, Scherl oder Mosse, oder wegweisende Zeitungen und Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie die Berliner Illustrirte Zeitung,
die BZ am Mittag oder der Berliner Lokal-Anzeiger sind bisher kaum in ihrer
gesellschaftlichen Funktion erforscht worden.116 Dagegen liegen für die britische
Mediengeschichte verschiedene Arbeiten zu Großverlegern wie Lord Northcliffe oder George Newnes vor, die auch deren politisches Wirken betrachten.117
Ebenso wurde der politische Journalismus in Großbritannien bereits genauer erforscht, was seine intensive Interaktion mit Politikern zeigte.118 Neuere Arbeiten
widmeten sich auch dem Selbstverständnis der Journalisten und Zuschreibungen
113
114
115
116
117
118
Vgl. bes.: Hans-Wolfgang Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874–1890). Das
Problem der Repression oppositioneller Zeitungen, Frankfurt a. M. 1975; Manfred Overesch, Presse zwischen Lenkung und Freiheit. Preußen und seine offiziöse Zeitung von der
Revolution bis zur Reichsgründung, 1848–1871/72, Pullach 1974; Rudolf Stöber, Bismarcks
geheime Presseorganisation von 1882, in: HZ 262 (1996) S. 423–451.
So das Fazit der fundierten Arbeit von: Gunda Stöber, Pressepolitik als Notwendigkeit.
Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914,
Stuttgart 2000. Bei Stöber auch Passagen zu einzelnen Skandalen. Zur Arbeit von Otto Hammann, der die Pressepolitik der Kanzler wesentlich leitete, vgl. auch: Jungblut, Unter vier
Reichskanzlern. Als Überblick: Michael Kunczik, Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in
Deutschland, Köln 1997.
Requate, Journalismus.
Vgl. daher immer noch den eher anekdotischen und Ullstein-nahen Band von: Peter de
Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen
Presse, Berlin 1982 (überarb. Ausgabe von 1959); Selbstdarstellungen wie: Ullstein-Verlag
(Hrsg.), 50 Jahre Ullstein 1877–1927, Berlin 1927; dies. (Hrsg.), Hundert Jahre Ullstein, 18771977, 4 Bde., Berlin 1977; zu Mosse knapp, aber eben nicht mediengeschichtlich: Elisabeth
Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 157–199 u. 492–528. Anektdotisch zu Scherl: Hans Erman, August Scherl. Dämonie und Erfolg in wilhelminischer Zeit, Berlin 1954. Unter einzelnen Artikeln vgl. hier bes.:
Rudolf Stöber, Der Prototyp der deutschen Massenpresse. Der „Berliner Lokal-Anzeiger“
und sein Blattmacher Hugo von Kupffer, in: Publizistik 39 (1994), S. 314–330.
S.J. Taylor, The Great Outsiders. Northcliffe, Rothermere and the Daily Mail, London 1996;
J. Lee Thompson, Northcliffe. Press Baron in Politics, 1865–1922, London 2000; Kate
Jackson, George Newnes and the New Journalism in Britain, 1880–1910: Culture and Profit,
Aldershot 2001
Koss, Political Press; Lucy Brown, Victorian News and Newspapers, Oxford 1985.
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30
I. Skandale als historischer Gegenstand
über die Presse. So machte Mark Hampton zwischen 1850 und 1880 ein erzieherisches Ideal der Medien aus, worauf sich dann eine pessimistische Sichtweise
über die Erziehbarkeit der „Massen“ durchgesetzt habe.119
Blickt man auf die hier relevante parlamentarische Entwicklung, so ist besonders die Rolle des Reichstages umstritten. Während einige Historiker seine begrenzte legislative Macht und seine nicht vorhandene Möglichkeit des Ministertadels betonten, hoben andere seine informelle Stärke hervor, die weitgehend
im Einklang mit europäischen Entwicklungen gestanden habe.120 Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zu dieser Debatte, die sich gerade von
deutscher Seite aus immer stark auf das britische Westminister-Modell bezog,
ohne dabei quellennahe Vergleiche systematisch zu verfolgen. Im Vordergrund
steht im Folgenden jedoch nicht die bekannte institutionelle Entwicklung des
Reichstags. Vielmehr werden die Skandale als eine politische Kommunikationsform gesehen, mit der der Reichstag seine Machtbasis auszubauen versuchte.121
Die Studie steht schließlich im Kontext der Forschung zur deutsch-britischen
Geschichte. In den letzten Jahrzehnten erschienen auf diesem Gebiet verschiedene vergleichende Arbeiten zum 19. Jahrhundert. Vergleichende Studien zur
Öffentlichkeits- und Medienentwicklung stehen jedoch noch aus.122 Eine wegweisende Analyse legte Dominik Geppert jüngst in diesem Bereich vor, in der er
das außenpolitische Engagement von Journalisten in den deutsch-britischen Beziehungen aufzeigte.123 Stärkeres Interesse fand etwa die koloniale Konkurrenz.
Paul Kennedy untersuchte sie schon frühzeitig als Teil der deutsch-britischen
Rivalität, die jedoch im Vergleich zur Flottenrüstung nur eine untergeordnete
Bedeutung gehabt habe. Ebenso stellte Michael Fröhlich heraus, dass die kolo119
120
121
122
123
Mark Hampton, Visions of the Press in Britain, Urbana 2004; etwas differenzierter: Aled
Jones, Powers of the Press. Newspapers, Power and the Public in Nineteenth-Century England, Aldershot 1996.
Die begrenzte legislative Macht unterstrichen bes.: Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten
Weltkrieges, 1849–1914, München 1995, bes. S. 1039–1045; Volker Berghahn, Imperial Germany 1871–1914, Oxford 1994, S. 191. Die wachsende Stärke des Reichstages betonen dagegen
etwa: Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: HZ 272
(2001), S. 623–666; Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977; Kreuzer, Und sie parlamentarisierte sich doch.
Vgl. hierzu auch: Andreas Biefang, Der Reichstag als Symbol der politischen Nation. Parlament und Öffentlichkeit 1867–1890, in: Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003, S. 23–42.
Eher geraffte historische Überblicke auf Grundlage der vorliegenden Literatur bieten: Requate, Journalismus, S. 44–51; Frank Esser, Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und
deutscher Journalismus im Vergleich, Freiburg 1998, S. 52–68. Sehr knapp ist der additive
Überblick von: Ernst Bollinger, Die goldenen Jahre der Massenpresse (Pressegeschichte II:
1840–1930), Freiburg 2000 (2. korr. Aufl.).
Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen
Beziehungen, 1896–1912, München 2007; weitere Beispiele für das 20. Jahrhundert in: Frank
Bösch und Dominik Geppert (Hrsg.), Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century, Augsburg 2008.
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4. Zum historischen Kontext
31
niale Eroberung Afrikas trotz verschiedener Krisen nicht grundlegend die Spannungen zwischen den Ländern verstärkt habe.124 In jüngerer Zeit gewann die
wechselseitige Wahrnehmung zwischen den Ländern an Aufmerksamkeit, insbesondere der kulturelle Transfer. Deutlich wurde, dass vor allem Großbritannien im 19. Jahrhundert vielfältig als Vorbild für Deutschland diente, während
Deutschland umgekehrt nur in kulturellen Teilbereichen, wie der Universitätsausbildung oder der klassischen Musik, größere Aufmerksamkeit fand.125 Im
ausgehenden 19. Jahrhundert intensivierte sich jedoch auch von britischer Seite
diese wechselseitige Beobachtung. In welchem Maße daraus Selbst- und Fremdbilder oder Formen von Aneignungen und Abwehr entstanden, lässt sich auch
an Skandalen zeigen.
4. Zum historischen Kontext
Die Zunahme der Skandale im ausgehenden 19. Jahrhundert korrespondierte mit
den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen am Beginn der Moderne.126
Diese Phase zeichnete sich durch ein eigentümliches Changieren zwischen selbstbewusster Euphorie und empfindlicher Krisenangst aus. Die sozialgeschichtlichen Entwicklungen und kulturellen Deutungen verliefen oft gegenläufig. So
steigerte die Hochindustrialisierung den Wohlstand, förderte aber zugleich mittelständische Verlustängste, sei es durch die weltwirtschaftlichen Depressionsphasen nach 1873 oder durch soziale Umschichtungen.127 Dass neben der bürgerlichen Welt eine bedrohliche Sphäre der Armut existierte, veranschaulichten
zunehmend spektakuläre Kriminalfälle und weit rezipierte Studien über Unterschichten – wie insbesondere von Charles Booth über London oder Hans Ostwalds „Großstadt-Dokumente“ über Berlin.128 Ambivalente Gefühle löste auch
124
125
126
127
128
Paul M. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914, London 1980,
S. 205–222, 410–415; Michael Fröhlich, Von Konfrontation zur Koexistenz. Die deutschenglischen Kolonialbeziehungen in Afrika zwischen 1884 und 1914, Bochum 1990; Harald
Rosenbach, Das Deutsche Reich, Großbritannien und der Transvaal (1896–1902): Anfänge
deutsch-britischer Entfremdung, Göttingen 1993.
Vgl. neben Muhs et al. (Hrsg.), Aneignung, auch: Arnd Bauerkämper und Christiane Eisenberg (Hrsg.), Britain as a Model of Modern Society? German Views, Augsburg 2006.
Zur Zäsur um 1900 vgl. einführend: Paul Nolte, 1900. Das Ende des 19. und der Beginn des
20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47 (1996), S. 281–300. Vgl. zur
Moderne etwa die Beiträge in: August Nitschke et al. (Hrsg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Hamburg 1990.
Dies ging um 1900 mit einem „Drift nach Rechts“ im westeuropäischen Kleinbürgertum einher; vgl. differenziert dazu: Heinz-Gerhard Haupt und Geoffrey Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, S. 205–221;
zum generellen deutschen Trend: Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a. M. 1999 (2. Aufl.), S. 288.
Judith R. Walkowitz, City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London 1994, S. 28–39; Hans Ostwald (Hrsg.), Großstadt-Dokumente, 51 Bde., Berlin
und Leipzig 1904–1908.
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I. Skandale als historischer Gegenstand
die neue großstädtische „Massenkultur“ aus, wie die großen Varietés, Music Halls
oder der Film. Sie hatten einen begeisterten Zulauf, der den Beginn einer konsumorientierten Vergnügungskultur markierte, verstärkten aber besonders in
Deutschland die Furcht vor einem geistigen und moralischen Verfall.129 Auf ähnliche Weise förderten die revolutionären Erkenntnisse der Naturwissenschaften
zwar das Fortschrittsvertrauen, aber auch den Eindruck, dass es jenseits der bekannten Lebenswelt eine nicht direkt sichtbare, unbekannte Seite der Dinge gäbe.
Die Faszination an spektakulären Erfindungen oder Konstruktionen ging mit
Verunsicherungen einher, wenn diese Technik fehlschlug.130 Fortschrittserwartung und nervöse Ängste waren damit zwei Seiten einer Medaille.131
Die imperiale Expansion löste ebenfalls zwiespältige Deutungen aus. Sie steigerte ein nationalistisches und rassistisches Überlegenheitsgefühl, aber zugleich
markierten die Kolonialkriege und Unabhängigkeitsbewegungen bereits vor
1914 Grenzen und zeigten die eigene Verletzlichkeit. Ebenso ging die euphorische Begeisterung über die militärische Selbstrepräsentation und Stärke der
Nation mit steigenden Kriegsängsten einher, die sich in einer fortlaufenden Beschwörung der Friedenserhaltung niederschlug. Und schließlich waren die generationellen Wechsel an der politischen Führungsspitze mit einem Changieren
zwischen Aufbruchsstimmung und Niedergangsangst verbunden. Das galt für
die Thronfolger nach dem Tod von Kaiser Wilhelm I. und Queen Victoria, aber
auch für die Wechsel nach den langen Regierungsphasen von Bismarck und
Gladstone. Nachdem letztere zahlreiche Weichen gestellt hatten, kam seit den
1890er Jahren verstärkt das Gefühl einer Stagnation und politischen Krise auf,
weil durchsetzungsstarke Politiker fehlen würden. Die „Dauerkrise“, die viele
Autoren insbesondere ab 1908 für das Kaiserreich ausmachten, fand während
der zeitgleichen Regierung Asquiths durchaus ihr britisches Pendant, mit ähnlich polarisierten Konflikten.132 Dieses labile Changieren zwischen Euphorie
und Angst dürfte mit das Aufkommen von Skandalen begünstigt haben. Skandale lassen sich dabei als Ausdruck und Anstoß dieses Krisengefühls fassen. Ge129
130
131
132
Vgl. die Beiträge in: Maase und Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit; Georg Jäger, Im
Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163–191; mit westeuropäischer
Perspektive auch: Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur
1850–1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 103–107.
Dies erklärt die große Bedeutung und metaphorische Aufladung von Medienereignissen wie
dem Titanic-Untergang; als Sammlung zeitgenössischer Texte vgl. Barbara Driessen, Tragödie der Technik, Triumph der Medien. Die Berichterstattung über den Untergang der Titanic
in der zeitgenössischen deutschen und britischen Presse, Münster 1999.
Mittlerweile klassisch hierzu: Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland
zwischen Bismarck und Hitler, Berlin 1998. Ob dieser Diskurs ein rein deutsches Phänomen
war, wäre zu prüfen.
Vgl. G.R. Searle, A New England? Peace and War 1886–1918, Oxford 2004, S. 407–473. Von
„Dauerlabilität“, Krisen und „Ausweglosigkeit“ spricht bes.: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1000–1016; zu den Forschungspositionen zur Krisenverortung:
Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 1999, S. 94 f.
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4. Zum historischen Kontext
33
rade die hoch gespannten Erwartungen schufen eine Fallhöhe für die Erfahrung
von Enttäuschungen.
Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien war durch
diese Mischung aus Hochmut und Angst vor Unterlegenheit gekennzeichnet.
Das galt zunächst für Deutschland, wo die frühere Bewunderung für England
seit dem späten 19. Jahrhundert immer mehr mit einer selbstbewussten Kritik
am Inselreich einherging.133 Durch den militärischen und wirtschaftlichen Wettlauf spielte Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in der
britischen Öffentlichkeit eine größere Rolle, wobei ebenfalls Faszination und
Distanz changierten.134 Wie etwa meine Volltextauswertung der Times seit 1785
zeigt, stieg seit der Reichsgründung ihre Berichterstattung über Deutschland
deutlich an.135 Auf diese Weise wurden auch die Skandale des jeweils anderen
Landes zu einem interessanten Themenfeld, um Vorstellungen der eigenen und
der anderen Nation zu gewinnen.
Ein weiteres Charakteristikum dieser Jahrzehnte war die politische Mobilisierung der Gesellschaft. Die Ausdehnung des Wahlrechts beschleunigt sie in
etwa zeitgleich – in Deutschland durch das gleiche Männerwahlrecht bei den
Reichstagswahlen seit 1871, in Großbritannien durch die Ausweitung des
Elektorats 1867 und 1884.136 Dabei veränderten sich die politischen Kommunikations- und Partizipationsformen quantitativ und qualitativ. Unterschiedliche,
zunehmend organisierte politische Teilkulturen rangen verstärkt um öffentliches
Gehör und Einfluss. In Deutschland bildeten sich sozialmoralische Milieus heraus, ebenso in Nachbarländern wie den Niederlanden, Österreich oder der
Schweiz.137 Nicht nur die Arbeiterbewegung und der politische Katholizismus,
sondern auch das bürgerlichen Lager etablierte Massenvereine, die mit Aufmärschen, Versammlungen und Verlautbarungen ihre Positionen unterstrichen und
eng mit entsprechenden Parteien kooperierten.138 In Großbritannien, wo be133
134
135
136
137
138
So anhand von intellektuellen Zeitschriften: Christian Fälschle, Rivalität als Prinzip. Die
englische Demokratie im Denken des wilhelminischen Deutschlands 1900–1914, Frankfurt
a. M. 1991, bes. S. 39–42.
Kennedy, Anglo-German Antagonism.
Volltextauswertung der Ländernennung von Deutschland, Frankreich, Indien, Spanien, Rußland und Amerika in der Times 1785–1914, im: Times Digital Archive.
Vgl. Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in
Imperial Germany, Princeton 2000.
Für die Nachbarländer wurden mitunter andere Begriffe benutzt (wie „Säulen“). Vgl. zur
deutschen Milieubildung: Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a. M. 1992.
Vgl. etwa für die Konservativen: Hans Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893–1914. Ein Beitrag zur Analyse des
Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Bonn 1975 (2. Aufl.); James N. Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany 1876–1918, Boston 1988; Frank Bösch,
Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002.
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34
I. Skandale als historischer Gegenstand
sonders durch die Chartisten ein breiter Protest längst eingeübt war, expandierten in dieser Phase ebenfalls weltanschauliche Massenorganisationen. So
versechsfachten die britischen Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl von 1888 bis
1913 auf vier Millionen.139 In beiden Ländern entfaltete sich eine „Straßenpolitik“, über die sich politische Empörungen artikulierten, sei es durch Demonstrationen, Streikwellen (wie 1889/90), Formen des Verbraucherprotestes oder
religiöse Versammlungen, wie von deutschen Katholiken und englischen Puritanern.140 Auch die Parteien intensivierten in beiden Ländern ihre popular politics
im öffentlichen Raum.141 Die Artikulation von Empörung, wie sie sich in Skandalen zeigte, war damit eingeübt.
In Großbritannien kam es zwar zu keiner vergleichbaren Milieubildung wie
in Deutschland, da Repressionen wie der Kulturkampf oder die Sozialistengesetze ausblieben. Allerdings verlief auch hier quer durch die sozialen Schichten
eine religiöse Trennlinie zwischen „Church and Chapel“, also Angehörigen der
anglikanischen Kirche und den Non-Konformisten. Letztere waren insbesondere seit 1886 stärker mit den Liberalen assoziiert und wiesen eigene Vereine,
Versammlungen und Alltagsethiken auf.142 Die Nonkonformisten trugen in
dieser Politisierungsphase, ähnlich wie in Deutschland die Katholiken, ihre moralischen Anliegen in den öffentlichen Raum, was das Ausbrechen von Skandalen vielfach förderte.143 Nicht minder wirkungsmächtig waren die regionalen
Spannungen in Großbritannien, gerade wenn sie mit religiösen Unterschieden
einhergingen. Vor allem die Selbstorganisation der Iren in den 1870/80er Jahren,
die besonders durch die Land League erfolgte, förderte das Potential für öffentliche Konflikte und Skandale.
Die Politisierung der Gesellschaft führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch im parlamentarischen Raum zu Veränderungen, die das Aufkommen
von Skandalen begünstigten. So kam es zu Verschiebungen im Parteiensystem,
die wiederum die politische Kommunikation, die politischen Loyalitäten und
den Profilierungsdruck prägten. In Deutschland galt dies besonders für die
Sozialdemokratie, die seit 1890, nach dem Ende der Sozialistengesetze, rasant
expandierte. In Großbritannien konstituierte sich die Labour Party erst nach
1900. Aber bereits das engagierte Auftreten von radikalen Liberalen wie Henry
Labouchere und die Neuformierung der irischen Nationalisten, von der Home
139
140
141
142
143
Searle, A New England?, S. 93.
Als vergleichende Studie etwa: Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in
Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert, Bonn
1992.
Vgl. Jon Lawrence, Speaking for the People. Party, Language and Popular Politics in England, 1867–1914, Cambridge 1998.
Einführend: Hugh McLeod, Religion and Society in England 1850–1914, Basingstoke 1996;
D.W. Bebbington, The Nonconformist Conscience, Chapel and Politics, 1870–1914, London
1982; James Munson, The Nonconformists: In Search of a Lost Culture, London 1991, S. 6 f.
Das gilt besonders für den nonkonformistischen Journalisten W. T. Stead; vgl. Schults,
Crusader.
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4. Zum historischen Kontext
35
Rule League zur Irish Parliamentary Party, veränderten das Unterhaus maßgeblich seit den 1880er Jahren. Ebenso transformierten sich bestehende Parteien.
Während sich etwa der deutsche Freisinn mehrfach spaltete und neu formierte,
brachen die britischen Liberalen 1886 über die Frage der irischen Home Rule
auseinander, was den Konservativen eine längerfristige Regierungsmehrheit mit
den abgespaltenen Unionisten unter Chamberlain erlaubte.144 In den Parlamenten zeigte sich die Politisierung in einer verschärften politischen Opposition.
Obgleich Großbritannien im Unterschied zum Kaiserreich über eine lange parlamentarische Tradition verfügte, entfaltete sich in den 1880er Jahren eine verstärkte Konfrontation zwischen Regierung und Opposition.145 Und in beiden
Ländern sahen die Politiker die „Massen“ als eine entscheidende Größe an, die
durch eine populäre Ansprache zu gewinnen seien.
Ein weiteres hier relevantes Merkmal des späten 19. Jahrhunderts war die rasante Verdichtung der Kommunikation. Sie entstand nicht nur aus neuen Kommunikationstechniken, wie der Telegraphie und den Nachrichtenagenturen, die
selbst den Provinzzeitungen eine aktuelle Teilnahme am Weltgeschehen ermöglichten.146 Eine Voraussetzung, die auch Skandale förderte, war bereits die Ausbildung von Metropolen. In ihnen konzentrierten sich die Kommunikation und
die wechselseitige Beobachtung von unterschiedlichen Normensystemen. Nicht
zufällig kamen die großen Skandale fast alle in Weltstädten wie London, Paris
oder Berlin auf. Selbst wenn ihr Ausgangspunkt in der Provinz lag, bildeten die
dortigen Parlamente und Gerichte jene Foren, in denen sie in Gegenwart von
Journalisten und Vertretern unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten verhandelt
wurden. In den Großstädten entstand zeitgleich ein Absatzmarkt für eine auflagenstarke Presse. Das Verhältnis zwischen Metropole und Medialisierung war
geradezu symbiotisch: Einerseits lieferte die Großstadt Geschichten und bildete
einen Informationsknotenpunkt für nationale und internationale Nachrichten.
Andererseits lieferte die Großstadtpresse Narrative, um die städtische Umwelt
zu entziffern und ihre Sensationen aufzuspüren.147 Ohne diesen Medialisierungsprozess hätten Morde wie von Jack the Ripper und dem Berliner Zuhälter
Heinze nicht zu Sinnbildern werden können, die ein Wissen über die eigene
Stadt und Gesellschaft produzierten und innerhalb der Stadt dynamische Prozesse auslösten.148
144
145
146
147
148
Zu dieser für die Skandale, wie sich zeigen wird, wichtigen Parteispaltung vgl. A.B. Cook und
John Vincent, The Governing Passion. Cabinet Government and Party Politics in Britain
1885–86, Brighton 1974.
T.A. Jenkins, Parliament, Party and Politics in Victorian Britain, Manchester 1996, bes. S. 37,
106, 115, 130.
Vgl. Chapman, Comparative Media History, S. 58–64; Jürgen Wilke (Hrsg.), Telegraphenbüros und Nachrichtenagenturen in Deutschland, München 1991.
So die Ansätze in: Walkowitz, City of Dreadful Delight; Peter Fritzsche, Reading Berlin
1900, Cambridge/Mass. 1996.
L. Perry Curtis, Jack the Ripper and the London Press, London 2002; Müller, Auf der
Suche; Hett, Death, S. 64–99.
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36
I. Skandale als historischer Gegenstand
Die nun einsetzende Medialisierung förderte ebenfalls das verstärkte Aufkommen von Skandalen. Die rasante Verbilligung der Massenpresse, die auch
durch technische Erfindungen in ganz Westeuropa seit den 1870/80er Jahren
einsetzte, machte mehrmals täglich erscheinende Zeitungen zu einem Teil des
Alltags und der Alltagsgespräche. Sie schufen nationale und transnationale
Kommunikationsräume, in denen unmittelbar aufeinander reagiert wurde. Wie
die hohen Auflagen bei besonderen Ereignissen zeigten, hatten bis in die 1860er
Jahre vor allem der hohe Preis und die vornehmlich außenpolitische Berichterstattung die Zeitungsauflagen klein gehalten, und nicht allein die mangelnde
Lesekompetenz.149 In beiden Ländern eroberten deshalb zunächst illustrierte
Wochenblätter den Massenmarkt, wie die Illustrated London News, Reynolds’s
Newspaper oder die Gartenlaube. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
erreichten dann auch mehrere Tageszeitungen sechsstellige Auflagen, was ihre
politische Macht untermauerte. Die absolute Zahl der Zeitungen und Zeitschriften und die Gesamtauflage vervielfachten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dabei war der deutsche Pressemarkt durch die föderale und politisch
heterogene Struktur des Kaiserreiches besonders vielfältig strukturiert. Er wies
1906 immerhin rund 4000 Zeitungen bei einer Gesamtauflage von rund 18 Millionen Exemplaren auf.150 In beiden Hauptstädten kam es zu einer Konzentration der Besitzverhältnisse, was zugleich den Einfluss einzelner Verleger stärkte.
Während in Berlin die drei Verleger Mosse, Scherl und Ullstein die Mehrheit der
dortigen Zeitungen herausgaben, waren es in London Lord Northcliffe, Cadbury und Pearson, die den Großteil der Tagespresse verlegten.151 Mit den Massenauflagen und der stärkeren Leserorientierung veränderten sich zudem in beiden Ländern die Zeitungsinhalte. Die bislang dominante Berichterstattung über
die internationale Diplomatie verlor an Bedeutung zugunsten von Berichten
über die Innenpolitik, über Ereignisse in den heimischen Städten und über „Sensationen“.152 Diese neue mediale Konkurrenz, Machtstellung und Themenver149
150
151
152
Brown, Victorian News, S. 30 f.; Hans-Friedrich Meyer, Zeitungspreise in Deutschland im
19. Jahrhundert und ihre gesellschaftliche Bedeutung, München 1969.
Vgl. die zeitgenössischen Daten bei: Thomas Enke, Die Berliner Presse in der Statistik des
Königlichen Polizeipräsidiums. Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung der Tageszeitungen
in der Reichshauptstadt zwischen 1878 und 1913/14, in: Theorie und Praxis des sozialistischen
Journalismus 15 (1987), S. 387–396 u. 16 (1988), S. 34–42; zu den unterschiedlichen Angaben
vgl. Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz
2000, S. 146.
Northcliffe unterstanden vor 1914 39 Prozent der Morgenauflagen in London (Daily Mail,
Daily Mirror, Times), 31 Prozent der Abendauflage (Evening News); Pearson: zwölf Prozent
morgens (Morning Leader, Daily News), 16 Prozent abends (Evening Standard), und der
Morning Leader Group 15 Prozent morgens (Standard, Daily Express), 34 Prozent abends
(Star); vgl. Alan J. Lee, The Origins of the Popular Press in England 1855–1914, London
1976, S. 293.
Vgl. als Langzeituntersuchung: Jürgen Wilke, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in
vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin 1984, S. 125. Für Großbritannien: Wiener (Hrsg.), Papers for the
Millions.
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4. Zum historischen Kontext
37
schiebung waren zweifelsohne Vorbedingungen dafür, dass verstärkt Skandale
aufkamen.
Zugleich zeigten sich gewisse Unterschiede zwischen Deutschland und
Großbritannien. Dies gilt zunächst für das Selbstverständnis der Presse. Wie
vielfältig herausgestellt wurde, entstand in Großbritannien früher als in Deutschland der Anspruch der Journalisten, eine unabhängige „vierte Gewalt“ zu bilden,
die autonom neben der Politik agierte. Allerdings ist dieser Begriff zunächst im
hohen Maße als ein Konstrukt der Presse selbst zu fassen, mit dem sie ihre Stellung aufwerten wollte.153 Zudem kam auch in Deutschland seit Mitte des
19. Jahrhunderts vielfach die Zuschreibung auf, die Presse sei eine „Großmacht“.154 Unverkennbar ist jedoch, dass in Großbritannien früher eine Professionalisierung des Journalismus einsetzte. Die frühzeitige Abschaffung der Vorzensur, die stärkere Marktorientierung der Medien und die seit dem späten
18. Jahrhundert übliche Parlamentsberichterstattung förderten diesen Prozess,
der in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszumachen
war.155 Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden sich die Zensurmechanismen
weiterhin deutlich. In Deutschland wurden selbst nach Verabschiedung des
prinzipiell liberalen Reichspressegesetzes von 1874 Journalisten über strafrechtliche Bestimmungen (wie Majestätsbeleidigung, Aufruf zum Klassenhass, Gefährdung öffentlichen Friedens, Verbreitung unzüchtiger Schriften u. ä.) verfolgt. In Großbritannien waren vor allem private Beleidigungsklagen das Mittel,
um gerade im Kontext von Skandalen Journalisten zu begegnen.156
Ein weiterer Unterschied, der ebenfalls um 1900 etwas an Bedeutung verlor,
war die Verbindung zwischen Politik und Presse. Noch in der frühviktorianischen Zeit waren die britischen Zeitungen eng mit den Parteien affiliert. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese politischen Loyalitäten jedoch
instabiler und wechselten häufig mit den Präferenzen der Verleger und Chefredakteure.157 Schon Alan Lee machte für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
eine überwiegend liberale Orientierung der Presse aus, woraufhin nach 1900
konservative Tendenzen überwogen hätten.158 Dass auch in Großbritannien
eine enge Verbindung zwischen Journalismus und Politik bestand, zeigte sich
nicht zuletzt an dem wachsenden Anteil von Journalisten im Unterhaus: Mit 49
Abgeordneten bildeten sie die drittgrößte Berufsgruppe, wobei neben den Iren
153
154
155
156
157
158
So bereits: George Boyce, The Fourth Estate: the Reappraisal of a Concept, in: Boyce et al.
(Hrsg.), Newspaper, S. 19–40, bes. 27.
Jürgen Wilke, Auf dem Weg zur „Großmacht“: Die Presse im 19. Jahrhundert, in: Rainer
Wimmer (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch,
Berlin 1991, S. 73–94.
Vgl. etwa: Philip Elliott, Professional Ideology and Organisational Change: The Journalist
since 1800, in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 172–191, S. 179; Vgl. zusammenfassend bereits: Esser, Die Kräfte, S. 53.
Zur Zensur in Deutschland vgl. bes.: Wetzel, Presseinnenpolitik.
Vgl. bes. Koss, Political Press, Bd. 1.
Lee, The Origins, S. 15; ders., The Structure, Ownership and Control of the Press 1855–1914,
in: Boyce et al. (Hrsg.), Newspaper, S. 117–129, S. 127.
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38
I. Skandale als historischer Gegenstand
besonders die Liberalen entsprechende Vertreter hatten.159 Ebenso waren in
Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 47 der 397 Abgeordneten Verleger, Redakteure oder Angestellte bei Partei- oder Gewerkschaftszeitungen, zumeist
von der SPD.160
In Deutschland, wo sich durch die harte Zensur die Presse zögerlicher entwickelt hatte, entstand hingegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine
wesentlich stärker parteigebundene Presse. Auch wenn die Zeitungen mit
Ausnahme der sozialdemokratischen Presse den Parteien überwiegend nicht
direkt gehörten, vertraten und konstituierten sie mehrheitlich deren Standpunkte.161 In beiden Ländern entstanden jedoch im ausgehenden 19. Jahrhundert neue Massenzeitungen, die zwar je nach Verleger eine eher konservative
oder liberale Haltung aufwiesen, sich aber nicht als loyale Parteiblätter verstanden. Auch wenn etwa Northcliffes Daily Mail konservativ oder Ullsteins
BZ am Mittag liberal waren, verpflichteten sie sich nicht direkt den entsprechenden Parteien, sondern orientierten sich an den weltanschaulichen und ökonomischen Kalkülen ihrer Verleger. Dies dürfte das Aufkommen von Skandalen
gefördert haben, da sowohl die Leserorientierung als auch die politische Offenheit eine breite Empörung erleichterte, die nicht allein auf Parteistandpunkten
beharrte.
In der britischen Presse nahmen „Sensationsmeldungen“ wie Morde, Scheidungen oder Katastrophen früher einen größeren Raum ein. Dies galt bereits für
die auflagenstarken Wochenzeitungen, aber auch für die Tagespresse.162 Die geringere Zensur, der Straßenverkauf und die Öffentlichkeit der meisten Prozesse
förderten in Großbritannien derartige Sensationsnachrichten.163 Da die deutschen Zeitungen zunächst nicht im Straßenverkauf vertrieben werden durften,
brauchten sie im geringeren Maße mit spektakulären Berichten täglich um die
Leser werben. Zudem gab es spätestens seit der Radical Press des frühen 19. Jahrhunderts in Großbritannien eine Tradition, populäre politische Kampagnen mit
sensationellen Meldungen zu verbinden, woran ein Sonntagsblatt wie Reynolds’s
159
160
161
162
163
Lee, The Origins, S. 294.
Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Reichstag in der politischen Kultur des Kaiserreiches, in:
Richard Helmholz et al. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, Paderborn 2000, S. 901–921,
S. 909.
Genau genommen setzte die SPD nach Ende des Sozialistengesetzes formell Treuhänder ein,
vgl. Uwe Danker et al., Am Anfang standen Arbeitergroschen. 140 Jahre Medienunternehmen der SPD, Bonn 2003, S. 39 f. Dass sich die Norm der Überparteilichkeit auch in Deutschland frühzeitig aus ökonomischen Gründen durchsetzte, argumentiert, allerdings nur für die
Zeit bis Anfang des 19. Jahrhunderts: Philomen Schönhagen, Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer Qualitätsnorm, Tübingen 1998, S. 292.
Vgl. Virginia Berridge, Popular Sunday Papers and Mid-Victorian Society, in: Boyce et al.
(Hrsg.), Newspaper, S. 247–264.
Bereits 1796 kam es zu einem wegweisenden Urteil gegenüber der Times, dass die Nennung
von Beteiligten bei Gerichtsberichten kein „Libel“ sei; vgl. Christopher Kent, The Editor
and the Law, in: Joel H. Wiener (Hrsg.), Innovators and Preachers. The Role of the Editor in
Victorian England, Westport 1985, S. 99–119, S. 108.
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4. Zum historischen Kontext
39
Newspaper anknüpfte.164 Und schließlich erleichterte die kulturelle Nähe zu
den USA, trotz anti-amerikanischer Ressentiments, die Übernahme von Techniken aus dem amerikanischen Journalismus, wo frühzeitig die professionellen
Techniken der heutigen Presse und des Boulevardjournalismus entstanden
waren.165
Dennoch bildeten die 1880er Jahre auch für den britischen Journalismus eine
Zäsur. Denn in diesen Jahren etablierte sich der „New Journalism“, der maßgeblich durch William Thomas Stead geprägt wurde, der seit 1883 als Chefredakteur der Pall Mall Gazette arbeitete. Stead griff Techniken des amerikanischen Journalismus auf und entwickelte englische Traditionen weiter. Als
seine maßgeblichen Innovationen gelten eigenständig recherchierte sensationelle
Reportagen, systematische politische Kampagnen, regelmäßige Interviews im
persönlichen Umfeld von Prominenten, ein aufgelockertes Seitenlayout und
eine starke Leserorientierung.166 Den Journalisten sah er selbstbewusst als „uncrowned king of an educated democracy.“167 Insbesondere seine berühmte Aufdeckung der Kinderprostitution durch den selbst initiierten Kauf eines Mädchens machte diese journalistischen Techniken weltberühmt.168 Dennoch war
die Pall Mall Gazette insgesamt sicherlich kein rein sensationalistisches Boulevardblatt, wie oft ohne Kenntnis der Zeitung behauptet wird, sondern eher ein
textlastiger Vorläufer des heutigen Journalismus. Gleiches galt in gewisser Weise
selbst für die seit 1896 publizierte Daily Mail. Für das Aufkommen von Skandalen waren diese journalistischen Innovationen trotzdem eine wichtige Vorbedingung.
Nahezu zeitgleich professionalisierte sich in Deutschland der Journalismus,
der allerdings etwas zögerlicher an angelsächsische Vorbilder anschloss. So
traten deutsche Zeitungen seit den 1870er Jahren auch jenseits des engeren parteipolitischen Wettbewerbs mit Kampagnen auf – etwa wenn ein scheinbar unpolitisches Wochenblatt wie die Gartenlaube 1874/75 eine zwölfteilige antisemitische Serie über den „Börsen- und Gründungsschwindel“ präsentierte.169
An angelsächsische Techniken schlossen zumindest tendenziell die General-Anzeiger und die neuen Illustrierten an. Blätter wie der Berliner Lokal-Anzeiger,
164
165
166
167
168
169
Vgl. zur Radical Press: Patricia Hollis, The Pauper Press. A Study in Working-Class Radicalism of the 1830s, London 1970; Joel H. Wiener, The War of the Unstamped: The Movement to Repeal the British Newspaper Tax 1830–1836, New York 1969.
Vgl. Bollinger, Die goldenen Jahre, S. 47–96.
Vgl. auch zur Debatte, wie neu der New Journalism war: Wiener (Hrsg.), Papers. Im vergleichenden Kontext zu Stead: Frank Bösch, Volkstribune und Intellektuelle. W.T. Stead, Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Großbritannien und Deutschland, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten, Medien
im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 99–120.
W.T. Stead, Government by Journalism, in: The Contemporary Review 49 (1886), S. 653–674,
S. 657.
Vgl. bes. Schults, Crusader.
Vgl. zu diesem Beispiel: Daniela Weiland, Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur
Entstehung des modernen Antisemitismus im Kaiserreich, Berlin 2004.
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40
I. Skandale als historischer Gegenstand
dessen Chefredakteur in den USA Erfahrungen gesammelt hatte170, die Berliner
Morgenpost und ab 1904 auch die BZ am Mittag wiesen deutlich kürzere Parlamentsberichte und Auslandsnachrichten auf. Zudem verzichteten sie auf die
ausführliche Richtigstellung der „falschen“ politischen Standpunkte der anderen Zeitungen. Dennoch waren die Grenzen zwischen den Generalanzeigern
und den Gesinnungszeitungen häufig fließend.
In beiden Ländern lässt sich ausmachen, dass die Politik auf diese Medialisierung reagierte und sich auf ihre Logiken einstellte. Die englischen Politiker öffneten ihre Türen weiter, wenn sie etwa Interviews mit Journalisten wie W.T.
Stead machten. Dagegen blieben Interviews in Deutschland bis zur Jahrhundertwende recht unüblich. Jedoch regte nicht nur die Queen in den 1880er Jahren human touch-Berichte an, wie etwa über ihren Hund.171 Auch deutsche Politiker luden Journalisten in ihre Arbeitszimmer und Privathäuser. So ließ sich
Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst für die Berliner Illustrirte Zeitung in
seinem Straßburger Arbeitszimmer und im Kreise seiner Familie auf der Terrasse ablichten und berichtete in dieser „Homestory“ über seinen privaten Alltag,
seine Essgewohnheiten und seinen Dackel Fridolin.172 Noch intensiver förderte
sein Nachfolger Bülow entsprechende Berichte, insbesondere bei seinen regelmäßigen Urlauben auf Norderney, wo er sich mit seiner Frau abbilden ließ und
ebenfalls Neuigkeiten über seinen Hund verbreitete.173 Dabei wartete Bülow
nicht nur auf die Journalisten, sondern wies seine rechte Hand Otto Hammann
direkt an, wie er den Urlaubsbericht für die Zeitungen zu verfassen habe.174 Auf
diese Weise verschwammen die Grenzen zwischen Privatheit und politischer
Öffentlichkeit, was Skandale begünstigte.
Fasst man diese Überlegungen zum ausgehenden 19. Jahrhundert zusammen,
so zeigen sich in Deutschland und Großbritannien durchaus ähnliche Veränderungen, die das Aufkommen von Skandalen forcierten. Die ambivalente Deutung der Moderne, die Metropolenkultur, die Politisierung, die Medialisierung
sowie die Veränderungen der journalistischen Berichtstechniken bildeten einen
Rahmen, der das Entstehen von Skandalen förderte, ohne sie zu präfigurieren.
Zugleich beruhte jeder Skandal auf spezifischen kulturellen Vorbedingungen.
Themen wie Homosexualität, Ehebruch oder Korruption wurden in den Skandalen des ausgehenden 19. Jahrhunderts natürlich nicht erstmalig diskutiert. In
welchen historischen Kontexten diese Skandalfelder in Deutschland und Großbritannien standen und welche historischen Bedingungen das öffentliche
Sprechen über sie prägten, wird jeweils im ersten einführenden Teil eines jeden
170
171
172
173
174
Vgl. Stöber, Der Prototyp.
Brown, Victorian News, S. 146.
Vgl. BIZ Nr. 13, 26. 3. 1898; Nr. 31, 30. 7. 1899.
Vgl. etwa ebd. Nr. 33, 17. 8. 1902; Nr. 17, 26. 4. 1903; Nr. 30, 26. 6. 1903; Nr. 26, 30. 6. 1906.
Bülows Hang zur Selbststilisierung in den Medien betonen auch: Jungblut, Unter vier
Reichskanzlern, S. 109; Katharine Anne Lerman, The Chancellor as Courtier. Bernhard von
Bülow and the Governance of Germany 1900–1909, Cambridge 1990, S. 115–126.
Bülow an Hammann 27. 5. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 20.
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4. Zum historischen Kontext
41
Kapitels erörtert. Je nach Themenfeld sind etwa der rechtliche Rahmen, die
Etablierung von Begriffen und Praktiken oder vorherige politische Kampagnen
und Vorentwicklungen zu vergegenwärtigen. Obgleich die Studie natürlich keinen Überblick über das gesamte lange 19. Jahrhundert geben kann, betrachten
die Kapitel eingangs zumindest einige Vorläufer genauer, um die Spezifika des
späten 19. Jahrhunderts deutlicher auszumachen.
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II. HOMOSEXUALITÄT ALS SKANDALON
Homosexualität gehörte zu den größten Tabus des 19. Jahrhunderts. Insbesondere in Großbritannien galt sie als ein Verbrechen, das in der Medienöffentlichkeit nicht einmal namentlich benennbar war, sondern in gedruckten Formulierungen nur vorsichtig angedeutet wurde. „A crime so loathsome that it had been
said that it should not be named amongst Christian men“, umschrieben die
britischen Zeitungen selbst in den 1880er Jahren noch gleichgeschlechtliche Beziehungen.1 Die Angst, bereits die sprachliche Bezeichnung könne Homosexualität akzeptierbar machen und so zu ihr animieren, schlug sich sogar in den
gesetzlichen Formulierungen nieder. In Großbritannien gab es zunächst keine
eindeutige juristische Benennung des Deliktes, so dass Verurteilungen bis 1885
nur unter Verweis auf den Sammelbegriff „unnatural offences“ erfolgten.2 Ähnlich vage Umschreibungen finden sich aber auch in den deutschen Schriften der
Zeit, wo pauschale Formulierungen wie „widernatürliche Unzucht“ oder „Sodomie“ dominierten.3 Entsprechend zurückhaltend berichteten die Zeitungen
über Prozesse, bei denen Homosexuelle verurteilt wurden.
Dies veränderte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. In rascher Abfolge traten zunächst in Großbritannien und dann auch in Deutschland zahlreiche Skandale auf, die die Homosexualität prominenter Bürger enthüllten und so zu einer
breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema führten. Sie zwangen
die Zeitungen und die Politiker dazu, sich zur Homosexualität zu positionieren
und lösten verstärkt Alltagsgespräche über das Thema aus. Diese oft spektakulären Skandale werfen vor allem zwei Fragen auf, die das folgende Kapitel anhand von Fallanalysen klären soll. Erstens wird ermittelt, auf welche Weise das
Tabuthema Homosexualität skandalisiert wurde und so in die Sphäre der öffentlichen Debatte rückte. So ist zu klären, wer die Enthüllungen aus welchen Motiven heraus aufbrachte, wie diese Skandale ihre Dynamik entwickelten und wie
die unmittelbar Beteiligten, die Presse und Politiker darauf reagierten. Zweitens
geht das Kapitel der Frage nach, welche Zuschreibungen über Homosexualität
im Zuge der Skandale entstanden. Denn anzunehmen ist, dass die Skandale im
weitaus höheren Maße öffentliche Vorstellungen über Homosexualität prägten
als die bereits vielfach untersuchten Schriften der frühen Sexualwissenschaft, die
zeitgleich am Beginn der Moderne entstanden. Dabei verhandelten die Homo-
1
2
3
So eine typische Formulierung in: Daily Telegraph 3. 7. 1884, S. 4; selbst dies schrieb das
Blatt nur mit Verweis auf: United Ireland 10. 4. 1884.
Erst 1967 trat das Wort „homosexual“ in das englische Recht; vgl. Leslie Moran, The
Homosexual(ity) of Law, London und New York 1996, S. 21.
Vgl. zur rechtlichen Sprache: Rüdiger Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts, in: ders.
und Angela Taeger (Hrsg.), Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992, S. 141–186.
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II. Homosexualität als Skandalon
sexualitätsskandale nicht nur Formen zulässiger Normalität, sondern auch Formen und Grenzen gesellschaftlicher Toleranz.
Die Analyse erfolgt anhand der wichtigsten politischen Homosexualitätsskandale der Jahrzehnte um 1900. Diese wiesen in Deutschland und Großbritannien
deutliche Gemeinsamkeiten auf, was den Vergleich erleichtert. In beiden Ländern richteten sich Skandale sowohl gegen hohe Adlige im Umfeld der Monarchen als auch gegen Repräsentanten des Bürgertums. Und in beiden Ländern
attackierten oppositionelle Parteien mit derartigen Vorwürfen Repräsentanten
des von ihnen bekämpften Systems. Für Großbritannien wird zunächst der
„Dublin Castle Skandal“ untersucht, bei dem die irischen Nationalisten die englische Administration mit dem Vorwurf der Homosexualität bekämpften. Eine
weitere Fallstudie zur „Cleveland Street Affair“ untersucht einen Skandal, bei
dem die Radicals, also der linke Flügel der Liberalen, Adligen vorhielten, ein
Homosexuellenbordell mitten in London zu besuchen. Weitere Skandale nach
1890, wie um Oscar Wilde und Hector MacDonald, werden vergleichend herangezogen, um Entwicklungslinien aufzuzeigen. In Deutschland ragen zwei Skandale heraus, die vertieft analysiert werden: Der Krupp-Skandal von 1902, bei
dem vornehmlich die Sozialdemokraten dem Unternehmer Homosexualität vorhielten, und der fünf Jahre später ausbrechende Moltke-Eulenburg-Skandal, bei
dem der Publizist Maximilian Harden hohen Adligen im Umfeld des Kaisers
Homosexualität vorwarf.
Ob und auf welche Weise im ausgehenden 19. Jahrhundert Homosexualitätsskandale aufkamen, hing von kulturellen, politischen und rechtlichen Vorbedingungen ab. Aus diesem Grunde wird in einem einführenden Kapitel zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen geworfen. Insbesondere der rechtliche Kontext, die bisherige Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit
Homosexualität und vorherige Homosexualitätsskandale stehen dabei im Vordergrund.
1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit
im 19. Jahrhundert
Das Großbritannien des 19. Jahrhunderts galt und gilt als besonders liberal und
fortschrittlich und diente deshalb vielfach als Gegenbild zum deutschen „Obrigkeitsstaat“. Diese Zuschreibung erscheint allerdings weniger passend, wenn
man den Umgang mit der Minderheit der Homosexuellen betrachtet. Im
19. Jahrhundert verfügten die Briten über die härtesten Gesetze gegen Homosexuelle in der ganzen westlichen Welt. Bis 1861 galt für Homosexualität noch die
Todesstrafe. Sie wurde zwar seit 1836 nicht mehr vollstreckt, aber immerhin in
bis zu lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt. Die Zeit seit 1800 stand auch
nicht für eine zunehmende strafrechtliche Liberalisierung. Vielmehr kam es im
ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Verurteilungen und Todesurteilen wegen homosexuellen Verkehrs, danach zu ansteigenden Haftstrafen. In
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1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit
45
das frühe 19. Jahrhundert fiel immerhin die Hälfte der Verurteilungen wegen
„sodomy“, die das berühmte Londoner Gericht „Old Bailey“ in den 160 Jahren
zwischen 1674 und 1834 fällte, ebenso die Hälfte der Todesurteile.4 Diese Hinrichtungen und Verurteilungen hatten jedoch zugleich den Effekt, dass sie das
offiziell nicht aussprechbare Vergehen zur Abschreckung öffentlich machten,
um es künftig zu verhindern. So begründete ein Richter 1806 die Todesstrafe für
fünf homosexuelle Männer damit, „that such a subject should come before the
public as it must do, and above all, that the untaught und unsuspecting minds of
youth should be liable to be tainted by such horrid faces.“5 Geheimnis und Öffentlichkeit standen damit bei der Homosexualität gerade durch diese zunehmende Bestrafung in einem wachsenden Spannungsverhältnis: Die steigende
Zahl an Verurteilungen überführte die Homosexualität immer mehr an die Öffentlichkeit, obgleich die Gerichte sie als ein Tabuthema ansahen. Gerade dieses
Spannungsfeld eröffnete Potentiale für Skandale.
Die Gründe für die zunehmenden Verurteilungen wegen Homosexualität im
frühen 19. Jahrhundert sind sicherlich vielfältig. Die Verrechtlichung der Gesellschaft, die Ausbildung bürgerlicher Moral- und Geschlechterrollen und die
Konstruktion von homosexuellen Identitäten dürfte diese Kriminalisierung mit
erklären.6 Die Homosexualität erfuhr dabei seit dem 18. Jahrhundert eine Umdeutung von der Sünde zum Verbrechen. Erst 1885 begrenzte der Criminal Law
Amendment Act die Bestrafung auf zwei Jahre mit harter Arbeit, wobei das Gesetz das Vergehen erstmals etwas genauer umschrieb („any act of gross indecency with another male person“) und auch explizit auf den Verkehr in privaten
Räumen bezog. Die Zahl der Verurteilungen blieb in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts recht konstant und umfasste Männer aus allen Berufs- und
Standesgruppen, wobei Handwerker besonders stark vertreten waren. Zumeist
wurden homosexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit bestraft, wohingegen
der heimliche Verkehr in der privaten Sphäre noch eher toleriert wurde. Bezeichnenderweise erreichte die Zahl der Verurteilungen ihren Höhepunkt jedoch nicht in der viktorianischen Zeit, sondern in den 1950er Jahren, die in die-
4
5
6
Eigene Auswertung der Urteile mithilfe der Datenbank in: http://www.oldbaileyonline.org/
search/crime/ (zuletzt eingesehen Juni 2005). Diese Ergebnisse stützen die Einschätzungen
von: A.D. Harvey, Prosecutions for Sodomy in England at the Beginning of the Nineteenth
Century, in: Historical Journal 21 (1978), S. 939–948, S. 939; Arthur Gilbert, Buggery and
the British Navy 1700–1861, in: Journal of Social History 10 (1976/77), S. 72–98. Als Gesamtüberblicke zur Homosexualitätsgeschichte dieser Zeit vgl. H. Montgomery Hyde, The
Other Love. An Historical and Contemporary Survey of Homosexuality in Britain, London
1970, hier bes. S. 92; Jeffrey Weeks, Coming Out: Homosexual Politics in Britain from the
Nineteenth Century to the Present, London 1977.
Manchester Gazette 23. 8. 1806, zit. nach: Richard Davenport-Hines, Sex, Death and
Punishment. Attitudes to Sex and Sexuality in Britain since the Renaissance, London 1990,
S. 102.
Vgl. dazu ausführlicher: H.G. Cocks, Nameless Offence, bes. S. 6 u. 18; Harvey, Prosecutions, S. 946.
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46
II. Homosexualität als Skandalon
ser Hinsicht die eigentlichen „dark ages“ bildeten.7 Weibliche Homosexualität
war hingegen im 19. Jahrhundert immer noch so tabuisiert, dass sie sich nicht
einmal in Gesetzen und Verurteilungen niederschlug und somit straffrei blieb.
Als dies etwa 1810 zwei Frauen in London vorgeworfen wurde, gewannen sie
ihre Verleumdungsklage mit der Urteilsbegründung, dies sei bei bürgerlichen
Frauen nicht denkbar.8
Auch Deutschland wies – zumindest im Vergleich mit Frankreich oder Italien
– im 19. Jahrhundert eine recht rigide Gesetzgebung gegenüber Homosexuellen
auf. Allerdings war die Lage im Deutschen Bund naturgemäß uneinheitlich
und das Strafmaß geringer als in Großbritannien. Während das Preußische
Allgemeine Landrecht von 1794 für Homosexualität ein- oder mehrjährige
Haftstrafen vorsah, hatte die französische Besatzung im Westen die Bestrafung
abgeschafft. Auch in der post-napoleonischen Ära verfochten die Rheinprovinzen liberalere Regelungen, so dass im Preußen des 19. Jahrhunderts vielfältige
Kompromisse entstanden.9 Liberal geprägte Länder wie Bayern, Württemberg
oder Baden hoben die Strafen in den Jahrzehnten nach Napoleon weitgehend
auf. Bemerkenswerterweise wurden einfache Fälle von Homosexualität oft
nicht strafrechtlich verfolgt, weil der damit einhergehenden Publizität schlimmere Folgen zugeschrieben wurden.10 Damit prägte bereits die Angst vor
Skandalen die rechtliche Praxis. Erst mit der Gründung des Kaiserreiches setzte
sich reichsweit die Kriminalisierung nach preußischem Vorbild durch. Der
Verweis auf das „Volksbewusstsein“ verdrängte dabei medizinische Argumentationen, die eine Straffreiheit forderten. Ähnlich wie in Großbritannien bezog
sich der entsprechende Paragraph 175 nur auf Männer und verband Homosexualität als unnatürlichen Verkehr mit Sodomie. Hier hieß dies konkret: „Die
widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts
oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“11 Die Zahl der Verurteilungen stieg bis 1914 leicht an und lag
7
8
9
10
11
Zwischen 1850 und 1914 betrug die Verurteilungsrate etwa 0,5 Fälle pro 100 000 Einwohner;
vgl. Robb, Strangers, S. 31 u. 272 f.
Rictor Norton, The Myth of the Modern Homosexual. Queer History and the Search for
Cultural Unity, London 1997, S. 150.
Vgl. Jürgen Baumann, Paragraph 175, Berlin/Neuwied 1968, S. 36 f.; Lautmann, Das Verbrechen. Als Überblick zur rechtlichen Entwicklung vgl. bes. Hans-Georg Stümke, Homosexualität in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989.
Jörg Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle des homosexuellen Begehrens. Medizinische
Definitionen und juristische Sanktionen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 141.
Zur Genese des § 175: Kai Sommer, Die Strafbarkeit der Homosexualität von der Kaiserzeit
bis zum Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1998; Jörg Hutter, Die Entstehung des § 175
im Strafgesetzbuch und die Geburt der deutschen Sexualwissenschaft, in: Lautmann und
Taeger (Hrsg.), Männerliebe, S. 186–238. Die Bestrafung weiblicher Homosexualität wurde
lediglich in Entwürfen in den Jahren vor 1914 diskutiert. Vgl. dazu jetzt: Tracie Matysik, In
the Name of the Law: The „Female Homosexual“ and the Criminal Code in Fin de Siècle
Germany, in: Journal of the History of Sexuality 13 (2004), S. 26–48.
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1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit
47
mit einigen hundert jährlich ähnlich hoch wie in Großbritannien, auch wenn
exakte Daten fehlen.12
In rechtlicher Hinsicht waren somit zumindest im späten 19. Jahrhundert in
Deutschland und Großbritannien die Rahmenbedingungen für Homosexuelle
relativ ähnlich. In beiden Ländern bildete die Gesetzeslage eine entscheidende
Voraussetzung für die Skandalisierung und Veröffentlichung von Homosexualität, die zugleich in der Sphäre des Geheimen bleiben sollte. Ihre Kriminalisierung legitimierte jedoch ihre Aufdeckung durch Polizei und Presse und förderte öffentliche Geständnisse, die Gerichte und die Öffentlichkeit abverlangen
konnten. Dementsprechend blieben in Italien und Frankreich auch aufgrund
der liberalen Gesetze vergleichbare Skandale um Homosexualität weitgehend
aus.13
Die rechtlichen Regelungen prägten zwar den öffentlichen Diskurs, dürfen
aber mit Blick auf die sozialen Praktiken nicht überbewertet werden. Im Vergleich zu anderen „Verbrechen“ waren die Verurteilungszahlen im 19. Jahrhundert in beiden Länder gering. Dies deutet an, dass in der Alltagspraxis homosexueller Verkehr eine gewisse Tolerierung erfuhr. Ebenso ist hieraus nicht vorschnell eine Homophobie abzuleiten, die jeglichen vertrauten Umgang unter
Männern ausschloss. Vielmehr waren im 19. Jahrhundert die Übergänge zwischen homosexuellen Neigungen und intensiven Freundschaften vermutlich
fließender als ein Jahrhundert später. Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien entfalteten sich aus romantischen Freundschaftsidealen heraus platonische Beziehungen zwischen bürgerlichen Männern, deren euphorische Briefe
aus heutiger Sicht homoerotische Züge trugen. Aus der Sphäre des Privaten traten diese Briefe durch ihre Veröffentlichung oder durch die Beschreibung von
männlichen Freundschaften in Romanen. Ritualisiert wurden diese intensiven
Männerfreundschaften in Clubs wie den Logen.14 Dass zumindest in der entstehenden Metropolenkultur auch ein explizit homosexueller Umgang eine gewisse
Tolerierung erfuhr, zeigte sich ebenfalls in beiden Ländern. Sowohl in London
als auch in Berlin schuf das Großstadtleben bekannte Orte der Begegnung, die
12
13
14
Vgl. die Daten bei Baumann, Paragraph 175, S. 58; bis 1901 liegen in den Statistiken nur Zahlen für Verhaftungen und Verurteilungen vor, die auch den Verkehr mit Tieren einschließen.
Pro Einwohner war dieser Anstieg gering; vgl. die Daten bei: Hutter, Die gesellschaftliche
Kontrolle, S. 77.
Eine generelle Indifferenz und Toleranz gegenüber Liebesaffären betont für Frankreich: Brian
Jenkins und Peter Morris, Political Scandal in France, in: Modern and Contemporary France (1993), S. 127–137.
Vgl. als Überblick zu dieser Entwicklung: Maurice Aymard, Freundschaft und Geselligkeit,
in: Philippe Ariès und Roger Chartier (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von
der Renaissance bis zur Aufklärung, Frankfurt a. M. 1991, S. 451–495; Colin Spencer, Homosexuality. A History, London 1995, S. 257–262; Stefan-Ludwig Hoffmann, Unter Männern.
Freundschaft und Logengeselligkeit im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling und StefanLudwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 193–216.
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48
II. Homosexualität als Skandalon
Beziehungen unter Männern in die Öffentlichkeit überführten.15 Das Wechselspiel zwischen der Bewahrung des homosexuellen Geheimnisses und seiner
Veröffentlichung zeigte sich auch an den zunehmend veröffentlichten autobiographischen Schriften von Homosexuellen, die codiert ihre Neigungen andeuteten.16 Alles dies waren tastende Versuche, Grenzen zu erweitern, die im
ausgehenden 19. Jahrhundert schließlich verstärkt durch Skandale verhandelt
wurden.
Im öffentlichen Umgang mit Homosexualität bestanden jedoch erkennbare
Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien. Das galt vor allem
für die Expertendiskurse des 19. Jahrhunderts, die mit zur Konstruktion des
Homosexuellen beitrugen. In Deutschland entstand deutlich früher eine medizinische Neudeutung von Homosexualität. Das Verbrechen wurde zu einer
Krankheit oder einem angeborenen genetischen Defekt uminterpretiert und
Homosexualität so entkriminalisiert. Grundlegend waren hier besonders die
seit den 1860er Jahren erscheinenden umfangreichen Schriften Karl Heinrich
Ulrichs, der Homosexuelle als „drittes Geschlecht“ mit angeborenen weiblichen
Elementen auffasste und als „Urninge“ bezeichnete, die er wiederum in „Mannlinge“ und „Weiblinge“ unterteilte. Nach Ulrichs Zuschreibungen waren Homosexuelle distinkte, erkennbare Menschen, wobei er schätzte, dass einer von
500 Männern dazu gehöre.17 Die Wirkungsmacht von Ulrich zeigte sich darin,
dass sich bereits 1869 die Gutachter bei einem spektakulären Homosexuellenprozess mit seinen Ideen auseinander setzten, da der Angklagte ein Buch von
ihm besaß.18 Ebenso gingen seine Begrifflichkeiten zumindest so weit in den
Sprachgebrauch ein, dass der Brockhaus von 1898 beim Kurzeintrag „Homosexual“ auf „Urningsliebe“ verwies und entsprechend definierte: „Trieb zum
geschlechtlichen Verkehr mit Personen gleichen Geschlechts: Urninge (männliche, weibliche), Personen, die mit derartiger konträrer Sexualempfindung behaftet sind.“ Der Begriff „Homosexualität“ wurde ebenfalls 1868/69 erstmals
aufgebracht und dann in Broschüren gegen die preußische Gesetzgebung verwandt. Prominente Mediziner – wie eine Kommission unter Rudolf Virchow –
lehnten dabei eine juristische Verfolgung ab. Nicht zuletzt durch diese Koinzi15
16
17
18
Vgl. für London: Cook, London and the Culture of Homosexuality. Für Berlin: Wolfgang
Theis und Andreas Sternweller, Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in:
Michael Bollé (Red.), Eldorado: Homosexuelle Männer in Berlin 1850–1950. Geschichte,
Alltag und Kultur, Berlin 1984, S. 48–73.
Vgl. Klaus Müller, „Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut“. Homosexuelle
Autobiographien und medizinische Pathologien im 19. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 155–268.
Vgl. bes. den Nachdruck seiner Schriften: Karl Heinrich Ulrichs, Forschungen über das
Rätsel der mannmännlichen Liebe, Berlin 1994. Als knappe Einführung zu Ulrichs vgl. etwa:
Hubert Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs, in: Rüdiger Lautmann (Hrsg.): Homosexualität.
Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M. und New York 1993,
S. 32–38; Zur Zunahme medizinischer Betrachtungen: Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle, S. 60.
Manfred Herzer, Zastrow – Ulrichs – Kertbeny. Erfundene Identitäten im 19. Jahrhundert,
in: Lautmann und Taeger (Hrsg.), Männerliebe, S. 61–80, S. 67.
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1. Homosexualität, Recht und Öffentlichkeit
49
denz von neuen Zuschreibungen gelten die späten 1860er Jahre als eine Wasserscheide der Homosexualitätsgeschichte.19 Sowohl das Aufkommen entsprechender
Begriffe als auch die Etablierung einer derartigen medizinischen Neudeutung der
Homosexualität dürfte dabei öffentliche Normenkonflikte gefördert haben, die
durch Skandale ausgefochten wurden.
Seit dem späten 19. Jahrhundert trat in Deutschland vor allem der Mediziner
Magnus Hirschfeld für eine öffentliche Neubewertung von Homosexualität ein,
wobei seine Annahme eines „dritten Geschlechts“ zwischen Mann und Frau
vielfach an Ulrichs anknüpfte. Hirschfeld beschränkte sich nicht auf aufklärende
medizinische Schriften, wie sie seit den 1890er Jahren insbesondere im Max
Spohr Verlag zur Homosexualität erschienen.20 Er organisierte seit 1897 mehrere Unterschriftensammlungen und Petitionen an den Reichstag, um die Aufhebung des Paragraphen 175 zu erreichen. Bereits die erste Petition unterschrieben
immerhin rund 3000 Ärzte, 750 Direktoren und Lehrer sowie zahlreiche Künstler (wie Rilke, Hauptmann oder Liebermann), was zeigte, wie offen zumindest
Teile der deutschen Gesellschaft für Homosexuelle eintraten.21 Selbst Hugo von
Kupffer, der Chefredakteur des konservativen Massenblatts Berliner Lokal-Anzeiger, unterstützte sie.22 Obgleich die Petition ohne Erfolg blieb, erhielt sie
mitsamt ihrer Argumentation eine breite Öffentlichkeit, da August Bebel sie im
Reichstag einbrachte und zur Diskussion stellte.23
Mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees etablierte
Hirschfeld 1897 eine Organisation, die das Thema Homosexualität kontinuierlich in die Öffentlichkeit brachte. Da Hirschfeld sich bei Polizei, Gerichten und
Personen des öffentlichen Lebens immer wieder als Ansprechpartner anbot,
entwickelte er sich in der wilhelminischen Zeit zu einer zentralen Deutungsinstanz.24 Die Monatsberichte und Jahrbücher, die das Komitee regelmäßig
publizierte, beschrieben auch die Homosexualität von prominenten Personen,
um Homosexualität weniger ungewöhnlich erscheinen zu lassen.25 Gerade im
19
20
21
22
23
24
25
Norton, The Myth, S. 71.
Mark Lehmstedt, Bücher für das „dritte Geschlecht“. Der Max Spohr Verlag in Leipzig.
Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881–1941), Wiesbaden 2002, bes. S. 44–68.
Vgl. Sommer, Strafbarkeit, S. 116–126; Rüdiger Lautmann und Angela Taeger, Sittlichkeit
und Politik. § 175 im Deutschen Kaiserreich (1871–1919), in: dies. (Hrsg.), Männerliebe,
S. 239–268, S. 243.
Allerdings betonte der Chefredakteur zugleich, er sehe keinen Weg „gegenüber den herrschenden Vorurteilen die so hoch bedeutsame Angelegenheit in meinem Blatte zu erörtern.“
Kupffer an das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee 30. 8. 1898, Faks. in: Richard Linsert,
Kabale und Liebe. Über Politik und Geschlechtsleben, Berlin o. D. (1930), S. 163.
Verhandlungen des Reichstages 13. 1. 1898, Bd. 159, 16. Sitz., S. 410.
Vgl. generell Manfred Herzer, Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt a. M. 1992.
Vgl. die Benennung des „Homosexuellen Erzherzogs Ludwig Victor – eines Bruders des Kaisers von Österreichs“ oder die Erwähnung der Erpressung eines Richters und Landgerichtsrat
in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Anfang November
1903.
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50
II. Homosexualität als Skandalon
Vergleich mit Großbritannien fällt auf, wie wohlwollend die Presse mitunter auf
die neu erschienenen Jahrbücher des Komitees hinwies, was sich selbst für die
eher konservative Boulevardzeitung Berliner Lokal-Anzeiger oder den konservativen Tag bis 1907 belegen lässt.26 Bis zum Ausbruch der großen Skandale nach
1900 deutete damit einiges auf eine Liberalisierung des Status von Homosexuellen hin.
Im Unterschied zu Großbritannien initiierten einzelne Mitglieder der deutschen Homosexuellenbewegung bereits populistische Aktionen. So ließ Adolf
Brand Flugblätter von der Reichstagstribüne segeln und verletzte den Vorsitzenden des Petitionsausschusses mit einer Hundepeitsche, um vor Gericht
ein Forum zu bekommen.27 Über die Deutung der Homosexualität und den
Umgang mit ihr bestanden jedoch innerhalb dieser frühen Homosexuellenbewegung Differenzen. Obgleich eine gewisse Mehrheit sie als angeboren interpretierte, war ihre Deutung als „Zwischenstufe“ oder als „männliche Kultur“
umstritten.28 Die Gegner derartiger Interpretationen lehnten sie aus christlichmoralischen Erwägungen ab oder aus der Angst heraus, diese Deutung würde
Geschlechtergrenzen auflösen.29
Im Vergleich zu Großbritannien sprachen somit die Experten und die breitere
Öffentlichkeit des Kaiserreiches bereits vergleichsweise offen über Homosexualität. Ein Pendant zu Ulrichs gab es auf der britischen Insel nicht, und entsprechende öffentliche Debatten begannen erst sehr zaghaft in den 1890er Jahren.30
Die britischen Expertendiskurse zeigen vor allem zwei Auffälligkeiten: Einerseits argumentierten sie weniger medizinisch-biologisch als historisch, indem
sie Homosexualität in früheren Kulturen oder bei großen Künstlern und Wissenschaftlern andeuteten und so legitimierten. Andererseits traten hier vor allem
Sozialisten für eine tolerante Auseinandersetzung mit der Homosexualität ein.
Durch letzteres waren die Ansätze wesentlich stärker in gesamtgesellschaftliche
Reformen und Utopien eingebunden, zugleich aber auch noch deutlich marginalisiert. Erinnert sei besonders an Edward Carpenter, der 1895 zunächst eine
privat zirkulierende Schrift über Homogenic Love veröffentlichte.31 Aus dem
26
27
28
29
30
31
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 255 29. 10. 1905; Der Tag 10. 2. 1907. Vgl. die regelmäßigen
Rezensionsauszüge in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees.
Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle
Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene, Berlin 1997, S. 85.
Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Tanten, Kerle und Skandale. Die Geburt des „modernen Homosexuellen“ aus den Flügelkämpfen der Emanzipation, in: zur Nieden (Hrsg.), Homosexualität, S. 81–99, S. 85.
John C. Fout, Sexual Politics in Wilhelmine Germany: The Male Gender Crisis, Moral Purity and Homophobia, in: Journal of the History of Sexuality 2 (1992), S. 388–421, S. 391.
Einführend: John Lauritsen und Rainer Guldin, Englische Forschungen im 19. Jahrhundert, in: Lautmann (Hrsg.), Homosexualität, S. 70–75.
Vgl. Chushichi Tsuzucki, Edward Carpenter 1844–1929. Prophet of Human Fellowship,
Cambridge 1980, S. 131 f.; Weeks dagegen betont, die Schrift sei 1894 in der Manchester Labour
Press veröffentlicht worden; ders., Sex, Politics and Society, S. 172.
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2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
51
sozialistischen Lager kam auch Havelock Ellis, der als Pionier der britischen
Sexualforschung gilt und hier die Annahme verbreitete, Homosexuelle gehörten
zu einer anderen „Spezies“ und Homosexuelle und Heterosexuelle seien dichotomisch zu trennen.32 Bezeichnender Weise erschien Ellis wichtigstes Werk Sexual Inversion, das Homosexualität als angeboren und damit als nicht strafbar
bezeichnete, zunächst 1896 auf deutsch und dann im folgenden Jahr erst als englische Version, deren Verkauf aber verboten wurde.33 Diese Schriften trugen
dazu bei, auch in Großbritannien Vorstellungen und Sprechweisen über Homosexualität zu erweitern und überführten überhaupt erst diesen Begriff ins Englische. Generell wird man auf dieser ideengeschichtlichen Ebene von einem kulturellen Transfer aus dem deutschsprachigen Raum ausgehen können. Die von
Carpenter und Ellis 1914 gegründete British Society for the Study of Sex Psychology lässt sich dabei als verspätetes Pendant zum Berliner Wissenschaftlich-humanitären Komitee fassen, das diesen Austausch förderte.34
Obgleich das Kaiserreich, so lässt sich bilanzieren, oft im Vergleich zu Großbritannien als autoritärer „Obrigkeitsstaat“ gilt, bestanden im Hinblick auf die
gleichgeschlechtliche Sexualität damit deutlich mehr Freiheiten in Deutschland
– sowohl bei der Thematisierung von Homosexualität als auch in der Auseinandersetzung um ihre Straffreiheit. In beiden Ländern entstand aber im ausgehenden 19. Jahrhundert ein zunehmendes Spannungsverhältnis zwischen ihrer
Tabuisierung und der öffentlichen Auseinandersetzung mit Homosexualität,
aus dem heraus Skandale entstehen konnten.
2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
Skandale um Homosexualität traten natürlich in den Jahrzehnten um 1900 nicht
erstmalig auf. So lassen sich in den Kampagnen gegen einzelne Monarchen und
Adlige bereits vor 1800 Andeutungen über Homosexualität ausmachen.35 Ebenso zeigt bereits eine kursorische Auswertung der Zeitungen des frühen 19. Jahrhunderts, dass vor allem in Verbindung mit entsprechenden Gerichtsprozessen
Zeitungsartikel hierzu erschienen. Diese schilderten die homosexuellen Normbrüche, ohne sie konkret zu benennen. Stattdessen bedienten sie sich eigener
Codes von Umschreibungen, die für die Zeitgenossen zweifelsohne eindeutig
waren. Die Sprachregelungen lassen sich nicht allein als eine Selbstzensur auf32
33
34
35
Zu Ellis liegen zahlreiche biographische Arbeiten vor; vgl. etwa: Phyllis Grosskurth, Havelock Ellis. A Biography, London 1980; Jeffrey Weeks, Making Sexual History, Cambridge
2000, S. 17–52.
Havelock Ellis, Das konträre Geschlechtsgefühl, Leipzig 1896; ders., Sexual Inversion,
London 1897. Zu den Prozessen wegen des Verkaufs: Weeks, Coming Out, S. 60.
In den bisherigen Studien zu Ellis’ und Carpenters Wirken fand dieser Aspekt bislang wenig
Berücksichtigung. Allerdings führte der Ausbruch des Weltkrieges schnell zur Unterbindung
eines expliziten Austausches.
Vgl. etwa zu den Kampagnen von John Wilkes: Clark, Scandal, S. 30 u. 44.
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52
II. Homosexualität als Skandalon
fassen, die Unwissenheit stärkte. Sie bildeten vielmehr Ersatzsprachen, die eine
öffentliche Kommunikation über Homosexualität erst in gedruckter Form
möglich machten und so auch spätere Skandale vorbereiteten.36 Und obgleich
im Hinblick auf Homosexualität die Grenzen des Sagbaren in Großbritannien
wesentlich enger waren, entstand durch die größere Pressefreiheit und die Öffentlichkeit der Prozesse auf dem Inselreich eine weitaus ausführlichere und
frühere Berichterstattung über derartige Fälle als in Deutschland. Dass die englischen Gerichte gerade prominente Fälle unter Ausschluss der Öffentlichkeit
verhandelten und die offiziellen Aufzeichnungen verkürzten, konnte entsprechende Medienberichte nicht verhindern.37 Diese Berichte lebten von einem eigentümlichen Spannungsverhältnis, das die Zeitungen immer wieder selbst thematisierten. Einerseits betonten sie, die Vergehen seien zu „widerwärtig“, als
das man über sie berichten könne. Andererseits schrieben sie im gleichen Moment darüber. Sie legitimierten dies damit, dass es zu ihrer Aufgabe gehöre, Prozessinhalte öffentlich zu machen und gegen jede Einschränkung der Öffentlichkeit zu protestieren. Erst die explizite Distanz zum eigenen Artikel rechtfertigte
somit den Bericht.
Welche Deutungen und Handlungsmuster solche Presseberichte bereits seit
dem frühen 19. Jahrhundert über Homosexualität etablierten, lässt sich exemplarisch an einigen Skandalen zeigen. Ein besonders markanter Fall der 1820er
Jahre, der sich für eine vertiefte Analyse anbietet, war etwa der Skandal um
Percy Jocelyn, den irischen Bischof von Clogher. Der anglikanische Geistliche,
der aus einer alten Adelsfamilie stammte, wurde am 19. Juli 1822 in einer Londoner Kneipe von mehreren Zeugen beim Verkehr mit einem Wachmann überrascht und festgenommen. Nachdem sich seine Identität geklärt hatte, gestatteten die Behörden seine Freilassung gegen Kaution, woraufhin der Bischof sofort
nach Frankreich floh und laut Presseberichten 150 000 Pfund aus den Ersparnissen der Kirche mitnahm.38 Aus diesem bislang wenig beachteten Skandal lassen
sich einige systematische Beobachtungen über den öffentlichen Umgang mit
prominenten Homosexuellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziehen.
So zeigte der Fall zunächst, dass die britischen Behörden offensichtlich um die
36
37
38
Zu diesem in Folge der Foucault-Rezeption viel beachteten Paradox zwischen Tabu und
Sprechanreiz vgl. hier bes.: Cocks, Nameless Offence, S. 2 f.
Eine verstreute Sammlung von Zeitungsausschnitten zu Fällen von Homosexualität im ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts findet sich in: British Library (BL) CUP 363 gg 31; sowie: Nachlass Beckford in: Bodleian Library/Oxford University MS, bes. etwa c. 83, fol. 129 f., 139; vgl.
auch: Rictor Norton, Mother Clap’s Molly House. Gay Subculture in England 1700–1830,
London 1992, S. 221.
Zur öffentlichen Rekonstruktion des Falles vgl. Times 8. 10. 1822, S. 3 und 11. 11. 1822, S. 3.
Eine Sammlung von Karikaturen, Zeitungsausschnitten und Pamphleten hierzu in: BL CUP
363 gg 31. Zum Ereignisablauf bisher, ohne Berücksichtigung der Öffentlichkeit vgl. F. H.
Amphlett Micklewright, The Bishop of Clogher’s Case, in: Notes and Queries 16 (1969),
S. 421–430. Einige reißerische journalistische Hinweise, die daran anknüpfen: Matthew
Parris, The Great Unfrocked. Two Thousand Years of Church Scandal, London 1998,
S. 144–157.
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2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
53
Gefahren eines Prozesses wussten, der ausführliche Details in die Medien gebracht hätte und den Adel und die Kirche insgesamt diskreditieren würde.
Jocelyns Freilassung gegen Kaution ist deshalb als eine Fluchtaufforderung zu
interpretieren, um das Gerichtsverfahren und die Veröffentlichung zu verhindern. Dies war eine typische Reaktion gegenüber hochrangigen Homosexuellen im 19. Jahrhundert. Nicht die Haft oder die Todesstrafe waren das
eigentliche Urteil, sondern das Exil, das zur Bewahrung des Geheimnisses geeigneter erschien als eine offizielle Verurteilung. Schon in den Jahrzehnten zuvor
hatten prominente Adlige wie Viscount Courtenay die Flucht wählen müssen,
um eine Verfolgung und Veröffentlichung entsprechender Vorwürfe zu verhindern.39
Die bürgerlichen Zeitungen schrieben zunächst über den Fall, ohne die Beteiligten namentlich zu nennen, oder sie verzichteten wie die Times zunächst ganz
auf Berichte.40 Der englische Medienmarkt war jedoch bereits politisch so weit
ausdifferenziert, dass der Skandal nicht mehr durch derartige Diskretionen zu
verhindern war. Schon das Verschweigen des Kautionsgebers, der Hinweise auf
die Identität des Bischofs hätte geben können, führte sofort zu Protesten des
radikalen Journalisten William Cobbet, der in dem Sonntagsblatt Constitution
die namentliche Nennung einforderte, was wiederum selbst die bürgerliche
Times verbreitete.41 Radical papers wie The Statesman warfen der sogenannten
„respectable press“ eine korrupte Doppelmoral vor und druckten den Namen
des Bischofs in voller Länge.42
Da die Zeitungen untereinander wie kommunizierende Röhren aufeinander
verwiesen, liefen in der Londoner Medienöffentlichkeit schnell unterschiedliche
Informationen aus Irland zusammen, etwa von Blättern wie der Dublin Morning Post, dem Patriot Dublin Paper oder dem Dublin Evening Herald. Dadurch entstanden schnell und mosaikartig weitere Neuigkeiten, die die Dynamik des Skandals verstärkten. Wie die Zeitungen durch den vielfältigen Informationseingang herausfanden, war der Bischof 1811 schon einmal von einem
Kutscher, dessen Bruder bei dem Bischof arbeitete, der Homosexualität beschuldigt worden. Dies hatte in einem Verleumdungsprozess jedoch nur zur
Auspeitschung und zweijährigen Haftstrafe des Kutschers geführt. Gerade diese zusätzlich aufgedeckte Ungerechtigkeit verstärkte die ohnehin breite emotionale Empörung, aufgrund der selbst die Times unzweideutig über den Bischof
39
40
41
42
Frühere Beispiele in: Hyde, The Other Love, S. 73 f.
Vgl. die 1822 publizierte Zusammenstellung der ersten Artikel unter dem Titel: „A correct
account of the horrible occurance in the Public-house in St. James Market, in which was discovered that the right Rev. Father in God, the Bishop of Clogher, lately transferred from the
Bishopric of Ferns was a principle actor with a Common Soldier!“, London 1822, in: BL CUP
363 gg 31.
Times 30. 7. 1822, S. 3; ohne Namensnennung, aber äußerst ausführlich: Observer 21. 7. 1822.
In den umfangreichen Studien zu Cobbett wird dieser Fall nicht erwähnt; vgl. George Spater, William Cobbett. The Poor Man’s Friend, Bd. 2, Cambridge 1982.
The Statesman 22. 7. 1822.
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54
II. Homosexualität als Skandalon
urteilte: „He surely deserved to be hanged by the neck.“43 Dagegen wurde der
Kutscher, der den Bischof erstmals der Homosexualität beschuldigt hatte, sowohl in der bürgerlichen Presse als auch bei den Radicals als Märtyrer und Held
gepriesen. Ähnlich wie beim fast zeitgleichen Queen Caroline Skandal zielten
die Vorwürfe so auf eine abgrenzende Identitätsbildung des Bürgertums und der
Unterschichten. Die Behörden sahen den Skandal dagegen als eine Bedrohung
an, da die Veröffentlichung sexueller Enthüllungen die Gesellschaftsordnung radikal verändern könne. So schrieb ein Mitarbeiter des Home Office an Innenminister Robert Peel: „It will sap the very foundations of society, it will raise up
lower orders against higher, and in the present temper of the public mind it will
do more to injure the Establishment than all the united efforts of its enemies
could have effected in a century.“44
Dass es bei dem Prozess um Homosexualität ging, wurde in der Medienöffentlichkeit in erstaunlich expliziter Sprache berichtet. So sprach die Times
von „sodomitical practices“, „abominable turpitude“ und „horrible occurance“.45 Auch der Observer beschrieb die Situation und den genauen Ort, wo
sie entdeckt wurden.46 Sofort erschien eine Broschüre, die die Zeitungsausschnitte gesammelt abdruckte. Schon die ersten Sätze ihrer Einleitung verrieten
das neue Selbstbewusstsein der Presse: Ihre Aufgabe sei stets, das Böse aufzudecken, aber besonders, wenn die Machthaber die Laster der oberen Schichten zu
verheimlichen versuchten, um Verbrechen ausschließlich den unteren Klassen
zuzuschreiben.47 Noch deutlicher formulierten dies die Kommentare der populären Kultur, wie sie etwa in überlieferten Spottgedichten überliefert sind. Auf
einer Zeitung fand sich etwa der handschriftliche Vers: „The Devil to prove the
Church was a farce/Went out to fish for a B[ugge]r/He baited his hook with a
Frenchman’s arse/and pulled up the Bishop of Clogher.“48 Andere populäre
Verse, die über Flugschriften verbreitet wurden, spotteten, dass die Kopulation
mit Männern nun zum Seelenheil führe.49 Gerade der Spott erleichterte die
Kommunikation über das offiziell unbenennbare Verbrechen und förderte sie.
Auch der Ort des homosexuellen Aktes entwickelte sich zu einer Attraktion
der Populärkultur. „The people of the public house have made a good deal of
money by showing the place“, notierte Charles Greville in sein Tagebuch.50 Ka-
43
44
45
46
47
48
49
50
Times 8. 10. 1822, S. 3. Da der Fall ist bislang kaum erforscht ist und Archivmaterial kaum
aufzufinden war, beruhen meine Ausführungen vor allem auf Medienberichten; einige Hinweise in: Norton, Mother Clap’s, S. 216 f. Einige Unterlagen in: BL Cup. 363, gg. 31.
Zit. nach Micklewright, The Bishop of Clogher’s Case, S. 425.
Times 31. 7. 1822, S. 3; Times 13. 11. 1822, S. 3.
Observer 21. 7. 1822.
O.A., A Correct Account, London 1822.
Handschriftlich auf Zeitungsausschnitt in: BL CUP 363 gg 31. Eine andere Version spricht
direkt vom „soldier’s arse“.
Gedicht „Lions in Tears“ in: BL CUP 363 gg 31.
Eintrag 30. 7. 1822, in: Lytton Strachey und Roger Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, Bd. 1: Jan 1814–July 1830, London 1938, S. 125 f.
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2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
55
rikaturen, die einzeln verbreitet wurden, zeigten Bischof und Soldaten mit verliebten Blicken, aber auch mit geöffneten Hosen.51 Die Folgen der Empörung
zeigten sich in Ausschreitungen gegen den Bischof bei der Verhaftung und den
folgenden Straßenkrawallen gegen Homosexuelle, die schon bei früheren Verhaftungen aufgetreten waren. Die öffentlichen Berichte scheinen sogar zum
Selbstmord des Außenministers Viscount Castlereagh beigetragen zu haben, der
verwirrt und offensichtlich erpresst vor seinem Tod dem König anvertraute: „I
am accused of the same crime as the Bishop of Clogher.“52 Insgesamt lässt sich
der Skandal damit als ein massiver Angriff der Populärkultur gegen die etablierten Machthaber bewerten. Der homosexuelle Verkehr des Bischofs bildete dabei
nur einen Anlass für eine breite Empörung.
Diese deutliche Thematisierung von Homosexualität lässt sich auch bei anderen Skandalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen. Dabei berichteten die englischen Zeitungen sogar über Anschuldigungen gegen bürgerliche Mitglieder des Unterhauses. So floh der Gelehrte und Unterhaus-Abgeordnete für die Oxford University, Richard Heber, 1826 nach Frankreich,
nachdem eine Lokalzeitung ein Verhältnis mit einem deutlichen jüngeren Mann
angedeutet hatte und dessen Vater daraufhin mit einer Klage gedroht hatte. In
eine breitere Öffentlichkeit kam der Fall aber erst, als daraufhin der Verleger
und Herausgeber der Zeitung John Bull, Edward Sheckell, einem weiteren Gelehrten vorwarf, ein Verhältnis mit dem Abgeordneten Heber zu haben. Dieser
wies dies erfolgreich mit einem Verleumdungsprozess zurück, der den Fall erst
wirklich publik machte.53 Die Angst vor der Medienöffentlichkeit und dem
Skandal zwang auch hier zur Emigration. Indem die Betroffenen nach Frankreich flohen, konnte Großbritannien zugleich sein Selbstbild als das moralisch
überlegene Land rekonstituieren. Die Flucht vor dem Skandal erschien zugleich
wie ein Akt der nationalen Reinigung.
Noch detaillierter beschrieben die Zeitungen den Fall von William John Bankes, der Unterhausabgeordneter für die Universität Cambridge war. 1832 hatte
ein Wachmann den Ägyptologen verhaftet, als er ihn in der Nähe des Parlaments mit einem Soldaten zusammen in einer öffentlichen Toilette überraschte.54
Da Bankes trotz Freilassung nicht floh, kam es zu einem Prozess. Um die Homosexualität eines Politikers als undenkbar zu markieren, stellte sich das Gericht trotz der offensichtlichen Beweise ganz auf die Seite des Abgeordneten. Es
gewährte ihm eine „special jury“ und verteidigte seine Ehrenhaftigkeit. Mehrere
Abgeordnete und Prominente wie der Duke of Wellington bescheinigten ihm
51
52
53
54
Abgedruckt sind drei Karrikaturen in: Parris, Great Unfrocked, S. 147 und 171.
Zu den Ausschreitungen: Observer 21. 7. 1822; zu Castlereagh: Harvey, Prosecutions, S. 942.
Vgl. Times 20. 11. 1826, S. 3 und 28. 11. 1826, S. 3. Bei Hyde eine Erwähnung Hebers, nicht aber
des John Bull-Prozesses und der Öffentlichkeit, die der Fall dadurch erhielt; vgl. ders., The
Other Love, S. 93.
Vgl. bes. Times 12. 6. 1833, S. 6, 25. 7. 1833, S. 5 und 3. 12. 1833, S. 4 f. Knapp erwähnt ist der Fall
in: Patricia Usick, Adventures in Egypt and Nubia. The Travels of William John Bankes
(1786–1855), London 2002, S. 172.
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56
II. Homosexualität als Skandalon
einen ehrenwerten Charakter. In seiner Verteidigung wurde zugleich ausgesprochen, welche Bedrohung entstehen könne, falls die Jury ihn schuldig sprechen
würde, da dann die Ehre und das Leben eines jeden Mannes gefährdet seien.55
Dass dies keine Rehabilitierung bedeutete, sondern nur eine Bewährungsstrafe
war, zeigte sich schnell. Trotz des Freispruches beendete der Prozess Bankes
politische Karriere. Er wurde nicht wieder gewählt und sozial eher gemieden.
Als die Zeitungen 1841 abermals berichteten, er sei in einem Park verhaftet worden („indecently exposing himself to a soldier“56), kam es wieder zu dem typischen Skandalverlauf: Bankes kam gegen Kaution frei und floh nach Venedig,
wo er den Rest seines Leben verbrachte, um so eine öffentliche Debatte über die
Vorwürfe zu verhindern. Die erzwungene Emigration sicherte somit erneut die
„Selbstreinigung“ der Gesellschaft.
Alle diese Beispiele zeigen folglich, dass auch von staatlicher Seite bei prominenten Fällen nicht die Todesstrafe oder die Haft, sondern die Verbannung als
Strafe vorgezogen wurde, um Skandale und die mit ihnen einher gehende öffentliche Auseinandersetzung mit der Homosexualität zu vermeiden. Derartige
Fälle dürften dennoch durch ihre mediale Thematisierung in doppelter Hinsicht
bürgerliche Selbstgewissheiten unterlaufen haben. Einerseits machten sie deutlich, dass auch Bürger mit Besitz, Bildung und öffentlichen Stellungen homosexuell sein konnten und sich dies nicht allein als Vergehen der Unterschichten
und des Adels ausgrenzen ließ. Andererseits zeigten die Fälle, dass weder durch
eine wohlwollende Behandlung vor Gericht noch durch die Verbannung ins
Ausland eine Thematisierung der Homosexualität zu verhindern war. Vielmehr
übten die Zeitungen Umschreibungen ein – wie „crimes of so horrible a nature“,
„improper design“ oder „certain misdemeanour“. Im Vergleich zu Zeitungsberichten aus dem frühen 19. Jahrhundert fand sich allerdings kaum noch der Begriff „sodomy“, der anscheinend als zu explizit galt, um ihn in der frühviktorianischen Presse auszusprechen.57
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterlief insbesondere der viel beachtete Skandal um Ernest Boulton und Frederick William Park bürgerliche
Selbstgewissheiten über sexuelle Normen. Deren Prozess verhandelte 1871 erneut, inwieweit es öffentlich denkbar war, dass bürgerliche Männer aus respektablen Familien homosexuell sein könnten. Nachdem die beiden jungen Männer
im Jahr zuvor verhaftet worden waren, weil sie öffentlich Frauenkleider trugen,
wurden zum Prozess zahlreiche Bürgerliche vorgeladen und wegen der Ausübung von Unmoral angeklagt.58 Aus den Prozessberichten erfuhren die Zeitungsleser ausführlich, dass die beiden Männer sich mit Frauennamen anredeten
55
56
57
58
Times 3. 12. 1833, S. 5.
Times 3. 9. 1841, S. 7 und Times 25. 9. 1841, S. 7.
Vgl. dagegen etwa die Zeitungsartikel über Hinrichtungen von Homosexuellen um 1800 in:
BL CUP 363 gg 31.
Wörtlich: „charge of the conspiracy to commit or to incite to the commission of immorality“;
vgl. zur Anklage: Times 12. 5. 1871, S. 11 u. 11. 5. 1871, S. 11. Vgl. zu dem bekannten Fall etwa:
Cocks, Nameless Offence, 2003, S. 106–114, Kaplan, Sodom, S. 19–101.
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2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
57
und als Frauen geschminkt und verkleidet Männer angesprochen hatten, die das
Cross-Dressing nicht erkannten und mit ihnen flirteten.59 Dennoch wurden sie
freigesprochen, da das Gericht ihr Verhalten und die verlesenen Liebesbriefe mit
ihrem jugendlichen Charakter und ihrer Theaterliebe entschuldigte. In die engere Sphäre der Politik wäre der Fall wohl gerückt, wenn der junge Abgeordnete
Lord Arthur Clinton, der mit Boulton befreundet war, nicht kurz vor dem Prozess gestorben wäre – vermutlich durch Selbstmord, offiziell an Scharlach.
Für die großen Homosexualitätsskandale des späten 19. Jahrhunderts war
auch der Boulton-Park-Prozess prägend. So führte er zu einer maßgeblichen
Debatte darüber, wie ein Homosexueller auszumachen sei. Neben der bislang
üblichen Charakterprüfung erfuhren die Zeitungsleser nun andeutungsweise
von medizinischen Nachweisen von Homosexualität im Prozess, etwa anhand
von Anus-Untersuchungen.60 Ebenso wurde debattiert, ob Homosexuelle verheiratet sein könnten oder dies eine Altersfrage sei. Der Kronanwalt (Attorney
General) nahm dabei die auf dem Kontinent publizierte Literatur über Homosexualität bewusst nicht zur Kenntnis, sondern wies sie mit den Worten zurück,
es sei gut, dass es wenig Erkenntnisse oder Wissen über dieses Thema in seinem
Land gäbe.61 Insgesamt zeigte die Debatte eine große Verunsicherung, die gerade daraus resultierte, dass Homosexualität quasi überall sein könne, aber nicht
klar nachweisbar sei.
Darüber hinaus lassen sich derartige Skandale als eine Bedrohung für das
männliche Rollenverständnis interpretieren. Ihre Frauenkleider prägten nachhaltig die Vorstellung vom weiblich wirkenden Homosexuellen, der nach außen
markierte Geschlechterrollen durchbrach. Dies erschien zugleich als eine Gefahr für heterosexuelle Männer, die dies im Flirt mit solchen vermeintlichen
Frauen nicht durchschauten. Dass die angeklagten homosexuellen Transvestiten
keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgingen, sondern nur gelegentlich Theater
spielten, brach ebenfalls mit männlichen Rollenvorstellungen.62 Der Fall entwickelte sich darüber hinaus zu einer grundsätzlichen öffentlichen Selbstvergewisserung über die Sittlichkeit des Landes. Da auch ausländische Medien den
Prozess verfolgten, sah die Times ihn für das In- und Ausland als eine „reflection on our national morals“.63 Dies wurde mit der Warnung verbunden, dass
der Niedergang der französischen Moral für die Kriegsniederlage gegen
Deutschland verantwortlich sei, weshalb nun das Vordringen der Pariser Sitten
nach England verhindert werden müsse. Damit war die Homosexualität nicht
nur eine Frage der nationalen Ehre und abgrenzenden Identifikation, sondern
auch der nationalen Wehrhaftigkeit. Dementsprechend wies auch der Richter in
59
60
61
62
63
Vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 29. 5. 1871; Pall Mall Gazette 20. 5. 1870.
Zur Definitionsmacht der Gerichtsmedizin, die solche Untersuchungen schon in der Frühen
Neuzeit vornahm, vgl. mit Blick auf Deutschland: Müller, „Aber in meinem Herzen“, S. 91–
110.
Zit. nach: Weeks, Sex, S. 101.
Cocks, Nameless Offence, S. 111.
Times 16. 5. 1871, S. 9.
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58
II. Homosexualität als Skandalon
seinem entlastenden Plädoyer darauf hin, dass die Unmoral von Boulton und
Park nicht die Moral des „national character“ befleckt habe.64
Vergleichbare explizite Thematisierungen oder Skandale lassen sich für
Deutschland in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts kaum ausmachen.65 Auch wenn die wesentlich schlechtere Forschungslage keine abschließenden Befunde über die öffentliche Auseinandersetzung mit Homosexualitätsprozessen in dieser Zeit zulässt, kann man insgesamt feststellen, dass nicht zuletzt die harte Zensur im Deutschen Bund eine ähnliche mediale Thematisierung
derartiger Fälle verhinderte. So sorgte das preußische Justizministerium bei
einem Homosexualitätsprozess von 1835, bei dem auch hohe Adlige beteiligt
waren, für eine sofortige Einziehung der Akten, um jede öffentliche Thematisierung zu unterbinden. Als bedrohlich erschien dabei, wie Bismarcks spätere Erinnerung an diesen Fall illustriert, auch „die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch.“66
Dass derartige Prozesse in alltäglichen Gesprächen für Diskussionen sorgten,
ließ sich anscheinend nicht verhindern. Auch der Prozess um Reichsfreiherr von
Malzan 1849/50, dessen Tagebücher seinen regelmäßigen homosexuellen Verkehr der letzten 26 Jahre dokumentierten, drang trotz aller Restriktionen in die
Berliner Alltagsgespräche.67 Bei diesem Fall galt ebenfalls der sexuelle Verkehr
zwischen Adligen und Soldaten als spektakulär. Wie bei späteren Skandalen erschien Homosexualität in Deutschland damit nicht nur als Angriff auf die moralische Ordnung, sondern auch auf die der Klassen.
Selbst im frühen Kaiserreich blieben die Grenzen des Sagbaren enger, gerade
wenn es sich um prominente Repräsentanten der Gesellschaft handelte. Die homosexuellen Neigungen des Königs Ludwig II. von Bayern etwa, die heute als
paradigmatisch für die hochadlige Homosexualität im 19. Jahrhundert gelten,
waren damals zweifelsohne innerhalb des Adels und der regionalen mündlichen
Öffentlichkeit bekannt und sorgten für nur leicht verdeckte Spekulationen.68
Die breitere Presseöffentlichkeit thematisierte dies jedoch nicht. Zumindest
zeigt ein Blick in die großen liberalen Zeitungen, dass nur wenige vorsichtige
64
65
66
67
68
Ebd., S. 11.
Zur Forschungslage vgl. Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie
der Homosexualitäten. Tübingen 1999; vgl. zudem die zahlreichen Biographien in: ders.,
Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 1998.
Zit. nach: Linsert, Kabale, S. 173. Hier Andeutungen zu dem Fall.
Die öffentliche Rezeption des Fall „Cajus“ (so der Decknahme) dokumentierten Johann Ludwig Caspers gerichtsmedizinische Schriften von 1858; vgl. Müller, „Aber in meinem Herzen“, S. 182 f.
Vgl. hierzu Rainer Herrn, Ein historischer Urning. Ludwig II. von Bayern im psychiatrischsexualwissenschaftlichen Diskurs und in der Homosexuellenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, in: Katharina Sykora (Hrsg.), „Ein Bild von einem Mann“. Ludwig II. von Bayern. Konstruktion und Mythos, Frankfurt a. M. 2004, S. 48–89. Andeutungen nur in: Ludwig
Hüttl, Ludwig II., München 1986, bes. S. 369 f. u. 388; Franz Herre, Ludwig II. von Bayern.
Sein Land – sein Leben – seine Zeit, Stuttgart 1986, S. 146, 332–338 u. 361.
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2. Vorläufer im 19. Jahrhundert
59
Andeutungen über dieses Gerücht in die Presse gingen („Seine anerkannte Sittenreinheit ward zur Weiberfeindschaft“), sie ansonsten aber lediglich seine
Geisteskrankheit diskutierten.69 Die Befragungen bei seiner Entmündigung bezogen sich ebenfalls bewusst nicht hierauf.
Auch innerhalb der frühen Arbeiterbewegung war umstritten, wie mit Homosexuellen innerhalb der eigenen Führung umzugehen sei. Dies zeigte sich bei
Johann Baptist von Schweitzer, der 1867 Reichstagsabgeordneter und 1868 Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde, jedoch wegen eines
homosexuellen Vergehens verurteilt war. Während Lassalle ihn etwa verteidigte,
sprachen sich andere Sozialdemokraten sowie Marx und Engels wegen seiner
Geschlechtsorientierung gegen ihn aus. Auch Karl Marx’ Bewertungen über Ulrichs Schriften belegen, welche starken Vorurteile und Ängste vor Homosexualität innerhalb der sozialistischen Bewegung herrschten.70
Trotz der weitgehenden Ausschaltung der Öffentlichkeit kam es auch in
Deutschland zu Prozessen, die Vorstellungen von Homosexualität durch ihre
breite öffentliche Aufmerksamkeit prägten. Im Unterschied zu Großbritannien
war hierfür aber eine Verbindung mit anderen Verbrechen nötig. Eine herausragende Bedeutung hatte dabei der Berliner Prozess gegen den Leutnant a. D. Carl
von Zastrow, der im Januar 1869 trotz dürftiger Beweise zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er einen Fünfjährigen vergewaltigt und schwer verletzt habe
und zwar nicht die Tat, wohl aber seine homosexuelle Anlage vor Gericht gestand.71 Da die Zeitungen die Suche nach dem Täter begleiteten, nahm die Bevölkerung breiten Anteil, auch wenn die Öffentlichkeit im Unterschied zu den
englischen Prozessen ganz ausgeschlossen war. Die große Wirkung des Falles
zeigte sich nicht zuletzt darin, dass der Name Zastrow sich im frühen Kaiserreich anscheinend zu einem Synonym und Codewort für Homosexualität entwickelte. Zumindest berichtete Karl Heinrich Ulrichs in seiner frühen Schrift
Argonauticus, die zeitgleich zum Prozess entstand: „In Kaffeehäusern und Concertsälen genügt es, dem Nachbarn in’s Ohr zu raunen: ‚Jener Herr dort ist ein
Zastrow’, um innerhalb weniger Minuten einen Skandal hervorzurufen, gegen
den es für den Bezeichneten, sei wirklich auch ein Dioning, Rettung nicht
gibt.“72 Vergleicht man den Zastrow-Prozess mit dem nahezu zeitgleichen
Boulton/Park-Skandal in Großbritannien, so lassen sich einige deutsche Spezifika erkennen. Der deutsche Prozess verbreitete bereits kurz vor der Gründung
des Kaiserreiches die medizinische Neudeutung der Homosexualität. Zastrow
69
70
71
72
Zit. Vossische Zeitung 8. 6. 1886. Deutlich zudem ebd., 22. 6. 1886. Ausgewertet wurden als
Stichprobe die Frankfurter Zeitung und die Vossische Zeitung zwischen Entmündigung
und Tod, vom 5. 6. 1886 bis 23. 6. 1886.
Vgl. Hubert Kennedy, Johann Baptist von Schweitzer: The Queer Marx Loved to Hate, in:
Journal of Homosexuality 29 (1995), S. 69–96, S. 71; August Bebel, Aus meinem Leben, Bd. 2,
Berlin 1911, S. 9 f. Bebel rechnet hier generell mit Schweitzer ab, deutet dabei aber immer wieder „Untugenden“ an.
Hinweise in: Herzer, Zastrow, S. 67.
K.H. Ulrichs, Argonauticus, Leipzig 1869, S. 124.
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60
II. Homosexualität als Skandalon
selbst bekannte sich freimütig, zum dritten Geschlecht im Sinne Ulrichs zu gehören, und auch die Gutachter setzten sich mit Ulrichs Ideen auseinander.73
Während in den britischen Skandalen Homosexualität vor allem als eine Form
bürgerlicher oder adliger Dekadenz erschien, konstruierte der Zastrow-Prozess
eher das kriminalistische Bild des pathologischen, triebgesteuerten und hemmungslosen Homosexuellen, der selbst Kinder missbrauche, was entsprechend
die Angst vor Homosexuellen förderte.
Obgleich in Großbritannien bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
schärfere Strafen drohten und das Sprechen über Homosexualität stärker tabuisiert war, lässt sich somit im Kontext von Skandalen frühzeitiger eine intensivere
Auseinandersetzung mit ihr ausmachen. Während die Bücher der Experten verboten blieben, entstand dank der stärkeren Pressefreiheit und Öffentlichkeit der
Prozesse eine populäre Debatte und Empörung. Die skizzierten Skandale waren
Auseinandersetzung zwischen Schichten und sozialen Gruppen, weniger jedoch
politische Kampagnen im engeren Sinne. In beiden Ländern leiteten die Artikel
über entsprechende Prozesse aber zweifelsohne sprachliche Verschiebungen,
neue Vorstellungen und veränderte Tabugrenzen ein, an die im späten 19. Jahrhundert politische Kampagnen anknüpfen konnten, die Homosexualität enthüllten.
3. Homosexualität und IRISH HOME RULE
Im späten 19. Jahrhundert veränderte sich der Charakter der öffentlichen Enthüllung von Homosexualität. Ähnlich wie in den Jahrzehnten zuvor wurde sie
zumeist weiter mit versteckten Andeutungen und im Kontext von Prozessen
verhandelt. Aber nun erhielten diese Anschuldigungen stärker das Antlitz von
gezielten politischen Kampagnen, die grundsätzliche politische Konflikte austrugen. Die Aufdeckung von Homosexualität diente jetzt vor allem der moralischen Diskreditierung des politischen Gegners.
Ein Meilenstein in dieser Entwicklung waren in Großbritannien die Enthüllungen, die 1883/84 irische Nationalisten gegen die englische Verwaltung in
Dublin richteten. Die Journalisten und Politiker William O’Brien und Tim
Healy hielten dabei in Zeitungen und in Unterhausreden verschiedenen höheren
Beamten der englisch geprägten Dubliner Verwaltung vor, homosexuell zu verkehren.74 Die folgenden Beleidigungsprozesse leiteten daraufhin einen politischen Homosexualitätsskandal ein, der über ein Jahr die Öffentlichkeit beschäftigte. Wieso kam es gerade von irischer Seite und ausgerechnet Anfang der 1880er
73
74
Vgl. die Gerichtsberichte in den Zeitungen wie: Norddeutsche Allgemeine Zeitung
6. 7. 1869.
Dieser Fall ist in der Literatur bisher nur am Rande erwähnt worden. Vgl. die Andeutungen
in: Hyde, The Other Love, S. 128–133; Frank Callanan, T. M. Healy, Cork 1996, S. 89–91;
Cocks, Nameless Offence, S. 140–144.
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3. Homosexualität und Irish Home Rule
61
Jahre zu dieser markanten Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen, die die politische Kommunikation insgesamt nachhaltig veränderte? Generell war in den
1880er Jahren die Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit Irlands eines
der wichtigsten und besonders umkämpften politischen Themen in Großbritannien. Premierminister William Gladstone hatte seit 1869 einige bedeutende, aber
in England umstrittene Reformgesetze für Irland eingeleitet, die den Landbesitz
und die Pachtmöglichkeiten der Iren gerechter gestalten sollten, jedoch die Proteste der irischen Land League nicht beruhigen konnten.75 Am umstrittensten
war die Frage der irischen Selbstverwaltung, der Home Rule, die Gladstone deshalb erst Mitte der 1880er Jahren aufgriff. Welche Bedeutung und Sprengkraft
die Home Rule hatte, die zugleich das Selbstverständnis des Empires verhandelte, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie 1886 zur Spaltung der Liberalen Partei
und damit zum Machtverlust von Gladstone führte.76 Ebenso sorgte sie für eine
politische (Neu-)Formierung der irischen Nationalisten seit den späten 1870er
Jahren unter der Führung von Charles Stewart Parnell, die mit äußerst großer
Aktivität im Unterhaus auf ihre Forderungen aufmerksam machten und sich
einer provokativen Obstruktionspolitik bedienten.77
Dass sich dieser Schlüsselkonflikt ausgerechnet 1883 zu einem Skandal mit
Homosexualitätsvorwürfen zuspitzen konnte, hing mit dieser Radikalisierung
des Konfliktes im Jahr zuvor zusammen, als irische Extremisten im Phoenix
Park den neuen Chief Secretary für Irland, Lord Frederick Cavendish, und
Untersekretär Burke ermordeten.78 Das Attentat führte zur Verhaftung und
moralischen Diskreditierung zahlreicher irischer Politiker, obgleich sie sich
sofort von der Gewalttat distanzierten. Die Verfolgungen hatten ein doppeltes
Resultat: Sie verstärkten die Verbitterung über die englischen Herrscher und sie
vergrößerten die Bedeutung von einzelnen irischen Presseorganen wie dem
United Ireland oder dem Freeman’s Journal, da sie während der Verhaftungen
als Sprachrohr der irischen Bewegung agierten. Insbesondere die 1881 gegründete Zeitung United Ireland und ihr Herausgeber William O’Brien versuchten
im Zuge dieser Polarisierung, durch skandalisierende Vorwürfe die Engländer
moralisch und politisch zu treffen. So warf er der englischen Administration in
Dublin 1882 in einer Artikelreihe Korruption und Misswirtschaft vor und bekämpfte im Jahr darauf den irischen Crown Solicitor als „swindler“, „blackguard“ und „adulterer“, der sich zudem an dem Vermögen seiner betrogenen
75
76
77
78
Vgl. George Boyce, Gladstone and Ireland, in: Peter J. Jagger (Hrsg.), Gladstone, London
1998, S. 105–122; von den zahlreichen Biographien über Gladstone vgl. bes.: H.C.G. Matthew, Gladstone 1809–1898, Oxford 1997. Der hier untersuchte Skandal wird in keiner dieser
Darstellungen berücksichtigt.
Vgl. ereignisbezogen zu dieser Spaltung: Cook und Vincent, The Governing Passion.
Grundlegend zu seiner Biographie: Francis Steward Lyons, Charles Stewart Parnell, London 1977. Zur Home Rule vgl. einführend: Alan O’Day, Irish Home Rule, 1867–1921, Manchester 1998.
Zur Bedeutung der Phoenix Park Murders und deren Nachwirkungen vgl. auch Kapitel V. 2.
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62
II. Homosexualität als Skandalon
Ehefrau bereichert habe.79 Nicht minder drastisch fielen die Vorwürfe des
irischen Abgeordneten Tim Healy aus, die er sowohl im United Ireland als auch
im Unterhaus gegen die Engländer richtete. So beschuldigte Healy den Unterinspektor des Royal Irish Constabulary, der die Niederschlagung des irischen
Aufstandes in Wexford geleitet hatte, er habe vor der Heirat mit seiner Frau
zusammengelebt und erkundigte sich nach dem Stand des Bankrottprozesses
des Lord Lieutenant George Bolton.80 Die Iren überführten damit in ihrem
Kampf gegen die englische Herrschaft gezielt Normbrüche in der privaten
Sphäre in die politische Öffentlichkeit.
Derartige Vorwürfe fanden schnell eine entsprechende Aufmerksamkeit. Die
Times, die vehement gegen eine Ausweitung der irischen Rechte eintrat, sah bereits in Healys ersten Andeutungen im August 1883 einen Bruch des „unwritten
code of good breeding and good feeling“, den bislang alle befolgten hätten, weshalb jeder Ire mit „any sense of decency“ beschämt sein sollte.81 Der Kampagnenstil war auch bei den irischen Nationalisten nicht unumstritten. So kritisierte
die irische Tageszeitung Freeman’s Journal die „improper language and personal
attacks“ in den Parlamentsreden.82 Im Unterhaus verweigerte der Irlandminister George Trevelyan gegenüber Healy jede weitere Antwort zu seinen Anfragen über den Unterinspektor der irischen Polizeieinheit, bis er sich wegen seiner
Angriffe gegen die Frau des Unter-Inspektors entschuldigt habe.83
Diese Begrenzungsversuche spornten die irischen Abgeordneten jedoch eher
zu einer Ausweitung der Skandalisierung an. So verteidigte Healy in irischen
Zeitungen die Veröffentlichungen über den „private character“ der englisch dominierten Bürokratie, da diese deren politische Stellung betreffen würde.84 Zugleich drohte er im United Ireland direkt:
If the House of Commons wants to make rules to stop such questions as Mr. Healy’s, it is
open to do it to devote its valuable time to the attempt, but it will not do so until the life
and adventures and what is called ,private character‘ of various Crown employees in Ireland, from Corry Connellan, to Detective Director and County Inspector James Ellis
French are fully laid bare to the universe.85
79
80
81
82
83
84
85
United Ireland 3. 11. 1883, 14. 6. 1884. Vgl. rückblickend Times 2. 8. 1884, S. 7; vgl. auch zu
O’Briens Kampagne: Sally Warwick-Haller, William O’Brien and the Irish Land War,
Dublin 1990, S. 71–73. Unerwähnt bleibt sie in: Joseph O’Brien, William O’Brien and the
Course of Irish Politics 1881–1918, London 1976.
Vgl. Hansard’s Parliamentary Debates 7. 7. 1884 u. 14. 7. 1884, Bd. 290, Sp. 213 und 908; Times
18. 8. 1883, S. 8 und 20. 8. 1883, S. 7.
Vgl. die ausführlichen, mehrfachen Hinweise darauf in Times 18. 8. 1883, S. 6–9.
Freeman’s Journal 20. 8. 1883, S. 4.
Times 18. 8. 1883, S. 8.
United Irland 25. 8. 1883, S. 5.
Ebd., auch in: Times 5. 11. 1883, S. 10. Der Herausgeber des United Ireland, William O’Brien,
schrieb in seinen Memoiren rechtfertigend, Healy habe diesen Artikel geschrieben und er
selbst habe ihn bei der Redaktionsarbeit übersehen; William O’Brien, Evening Memoirs,
Dublin und London 1920, S. 17.
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3. Homosexualität und Irish Home Rule
63
Auch wenn dies nur als Anspielung formuliert war, bestand dank der eingeübten codierten Sprache über Homosexualität kein Zweifel, was diese Andeutungen über den „private character“ meinten. In den folgenden Monaten wiederholte er seine Drohungen und konkretisierte sie im United Ireland: Die Bewohner Sodoms seien eine respektable Gesellschaft im Vergleich zu einigen
Halunken, die für Ihre Majestät im Dublin Castle Irland regierten. Der offizielle
Leiter der Irlandpolitik, der Lord Lieutenant Earl Spencer, stehe auf Seite der
Beschuldigten, weil er die Ermittlungen behindere, obwohl er Beweise für die
„abomination“ habe.86
Der Unterschied zu früheren Homosexualitätsskandalen ist somit unverkennbar. Hier brachten Parlamentarier, die zugleich als Journalisten arbeiteten,
den Vorwurf der Homosexualität gezielt in die Öffentlichkeit, um auf diese
Weise davon völlig unabhängige politische Ziele zu erreichen. Ihre Zeitungsartikel und Parlamentsreden bezogen sich dabei wechselseitig aufeinander, um die
öffentliche Wirkung zu verstärken. Sie zitierten im Parlament aus den Artikeln
im Freeman’s Journal oder United Ireland mit der Frage, ob diese Vorwürfe
zuträfen, und zitierten dann die Reden und Antworten im Parlament in der
Presse. Durch dieses Wechselspiel gelang es ihnen, die Aufmerksamkeit der
breiten nicht-irischen Medienöffentlichkeit zu erreichen.87 Gerade diese Verschränkung von Medien- und Parlamentskommunikation gab dem Skandal erst
seine Dynamik.
Mit ihren Angriffen gegen die englische Verwaltung konstruierten Healy und
O’Brien das Bild des moralisch überlegenen Irlands, das von sexuell unmoralischen Besatzern beherrscht würde. In gewisser Weise stand dieses Bild in Verbindungen mit den aufkommenden kritischen Kolonialdiskursen, die ebenfalls
die sexuelle Doppelmoral der von außen kommenden englischen Verwaltung
attackierten.88 Dieses Narrativ versprach in Irland insbesondere durch die religiöse Aufladung des Konfliktes mit England Erfolg, weil sich die katholischen Iren
gegenüber den anglikanischen Engländern als moralisch überlegen fühlten, da
sie strengere moralische Maßstäbe anlegten. In der Rhetorik der irischen Nationalisten wurde dieses Bild der moralisch verkommenen englischen Besatzer
auch nach dem Abflauen des Skandals immer wieder auf diesen Fall bezogen.
„The Law the Irish people got was the law of George Bolton“, hieß es etwa in
den Reden Healys.89
Die Iren durchbrachen mit diesen Anschuldigungen unverkennbar die bisherigen sprachlichen Konventionen, wie sie vor allem im Unterhaus, aber auch in
der politischen Medienöffentlichkeit galten. Die Außenseiterstellung der Iren
und ihrer Zeitungen erleichterte diese Grenzüberschreitung in der britischen
86
87
88
89
United Ireland 20. 10. 1883, 1. 3. 1884, 7. 3. 1884, 10. 5. 1884 und 24. 5. 1884.
Vgl. für diesen Fall etwa: 28. 7. 1884, Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 291, Sp. 659.
Hierzu ausführlich Kap. IV. Im Kontext von Kolonialismus und Homosexualität erwähnt den
Fall knapp: Robert Aldrich, Colonialism and Homosexuality, London 2003, S. 185.
Times 4. 9. 1884, S. 7.
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64
II. Homosexualität als Skandalon
Öffentlichkeit. Biographisch kann man diese Verschiebung durch ihre Verbitterung über die Engländer nach den Verhaftungen erklären. Immerhin war selbst
der führende irische Abgeordnete Healy wegen seiner politischen Schriften 1882
just zuvor vier Monate im Gefängnis gewesen. Nicht zuletzt deshalb richteten
sich die irischen Vorwürfe vor allem gegen leitende Personen in Polizei und
Justiz. So beschuldigten sie besonders den Dubliner Leiter der Kriminalpolizei,
James Ellis French, und den königlichen Staatsanwalt, George Bolton, der bei
dem Phoenix Park-Attentat die Ermittlungen führte. Ein mindestens ebenso
entscheidender Grund, warum ausgerechnet die irischen Nationalisten die
Sagbarkeitsgrenzen überschritten, war vermutlich, dass sie im Unterschied zu
den meisten englischen Abgeordneten und Journalisten nicht über das elitäre
englische Privatschul- und Universitätssystem sozialisiert worden waren, das
selbst in politisch umkämpften Fragen bestimmte konsensuale Umgangsformen
prädisponierte.90 Ähnlich wie die deutschen Sozialdemokraten hatten Politiker
wie Healy vielmehr zuvor als Journalisten gearbeitet und übertrugen nun die
dort eingeübte Kommunikationsform auf die parlamentarische Auseinandersetzung.
Die breitere britische Medienöffentlichkeit griff die Anschuldigungen der
Iren zunächst nicht auf, bis es zu offiziellen Reaktionen aus der Verwaltung
kam. So deutete die Times erst Anfang November die Vorwürfe an, als der
beschuldigte Polizei-Inspektor James Ellis French nach Paris geflohen war und
seine Entlassung gemeldet wurde „under circumstances that are likely to create
a profound sensation when they are revealed“.91 Deshalb prophezeite sie bereits
heikle Fragen an die Regierung, wenn das Parlament wieder zusammen träte.
Die Iren sorgten auch im folgenden Jahr auf unterschiedlichen Bühnen für die
weitere Verbreitung ihrer Beschuldigungen, die gegenseitig die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkten und dem Skandal seine Wirkungsmacht gaben: im Gerichtssaal, im Unterhaus und in der Presse. Der Gerichtssaal hatte sicherlich die
wichtigste Verstärkerfunktion. Im Herbst hatte O’Brien seine Andeutungen
über die Homosexualität des Polizei-Inspektors French im United Ireland solange wiederholt, bis dieser notgedrungen wegen Verleumdung klagte, diesen
Prozess aber durch seine zeitweilige Flucht und nervliche Zerrüttung hinaus zögerte. Die verschiedenen Verleumdungs- und Strafprozesse, zu denen es 1884
kam, sorgten mehrfach für eine wochenlange Berichterstattung, die ähnlich wie
bei früheren Homosexualitätsskandalen erst genauere Details beschreibbar
machten. Wie bereits die Schlagzeilen zeigten, bezeichneten nun fast alle Zeitungen den Fall explizit als „Skandal“: Der Daily Telegraph überschrieb seine
Artikel regelmäßig mit „The Dublin Scandal Trial“, Reynolds’s Newspaper mit
„The Horrible Dublin Scandal“, die Daily News und die Pall Mall Gazette mit
90
91
Bezeichnender Weise erwies sich Parnell, der in Cambridge studiert hatte, im Umgang mit den
Engländern als besonders kompromissbereit. Zur Sozialisation der führenden englischen
Journalisten in Oxbridge vgl.: Brown, Victorian News, S. 76, 210 f.
Times 5. 11. 1883, S. 10.
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3. Homosexualität und Irish Home Rule
65
„The Dublin Scandals“.92 Der Ortsbezug verwies auf den Irlandkonflikt, verdeckte aber zugleich den eigentlichen Vorwurf. Auf diese Weise wurde jedoch
das Dublin Castle, also der englisch dominierte Regierungs- und Verwaltungssitz, zu einem Synonym für Homosexualität.
Das Vergehen selbst beschrieben die Zeitungen mit den eingeübten Umschreibungen, die auf die unglaubliche Schwere des „Verbrechens“ hinwiesen, ohne es
zu direkt zu nennen. Sie sprachen, wie auch im Gerichtsraum üblich, über „the
most abominable crime that could be attributed to a man“, „horrible offences“,
„felonious practices“ oder „unnatural crimes“.93 Sprachlich gab es somit kaum
eine größere Offenheit als im frühen 19. Jahrhundert. Auch die Assoziationen,
mit denen die Vorwürfe spielten, erinnerten an ältere Semantiken. Die Verweise
auf das Schloss, in dem die unmoralischen Vertreter der Krone in Dublin regieren würden, knüpften an Imaginationsräume aus Schauerromanen an, die eng
mit der klassischen Lichtmetaphorik von Öffentlichkeit und Geheimnis verbunden waren. So sprach O’Brien im Unterhaus von einem „system under the
walls of Dublin Castle“, das er an das Licht der Öffentlichkeit holen wolle.94
Indem die Kampagne dem Schloss sein Geheimnis zu nehmen vorgab, machte
sie es jedoch erst geheimnisvoll.
Nicht die neuen Massen- und Boulevardblätter, sondern Parlamentarier und
ihre kleinen politischen Zeitungen hatten somit diesen „Sex-Skandal“ angestoßen. Selbst ein „Sensationsblatt“ wie die Pall Mall Gazette berichtete zwar regelmäßig, aber nur äußerst zurückhaltend und vage über die Enthüllungen. Der
zu dieser Zeit gerade entstehende und oft hervorgehobene „New Journalism“
des Pall Mall Gazette Herausgebers W. T. Stead stieß hier offensichtlich durch
seine puritanische Prägung auf eine Grenze des Schreibbaren. Sogar beim Urteil
gegen den leitenden Beamten Cornell deutete die Pall Mall Gazette nicht einmal
den Grund des Verleumdungsprozesses an und sprach in der Woche darauf nur
von „charged with crime“.95 Vergleichbar knapp, wenn auch regelmäßiger,
waren auch die Artikel der Reynolds’s Newspaper, die ebenfalls stets als Skandalblatt abgewertet wird.96 Besonders ausführlich berichteten dagegen die sogenannten Qualitätszeitungen, wie der Daily Telegraph und die Times. Ihre Berichte
erfüllten bezeichnender Weise genau die Kriterien, die von der Mediengeschichtsschreibung oft für die frühen „Sensations“- und Boulevardblätter angenommen werden. So kündigte die Times ihren Lesern den ersten Prozess schon
vorab als eine noch nie dagewesene Sensation an: „The case is the first of a series
of sensational proceedings of an unprecedented character, and it has excited in92
93
94
95
96
Vgl. etwa: Daily Telegraph 3. 7. bis 8. 7. 1884; Reynolds’s Newspaper 20. 7. 1884, S. 2; Pall
Mall Gazette 15. 7. 1884, S. 10; Daily News 31. 7. 1884, S. 3.
Vgl. etwa Pall Mall Gazette 31. 7. 1884, S. 8; Daily News 31. 7. 1884, S. 3.
17. 6. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd Series, Bd. 291, Sp. 690.
Pall Mall Gazette 8. 7. 1884, S. 7 und 15. 7. 1884, S. 10; vgl. auch die täglichen Berichte in:
Pall Mall Gazette 1. bis 7. 7. 1884, S. 2.
Reynolds’s Newspaper 6. 7. 1884, S. 8; 13. 7. 1884, S. 5; 20. 7. 1884, S. 2; 27. 7. 1884, S. 1; 3. 8. 1884,
S. 3. Zur Charakterisierung von Reynolds’s vgl. Berridge, Popular Sunday Papers.
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66
II. Homosexualität als Skandalon
tense interest, chiefly on account of the position of the parties and the enormity
of the charges imputed to an official of the Government by an avowed and uncompromising foe.“97 Damit wird deutlich, dass wie bei den späteren Skandalen
die Grenzen zwischen der Popular Press und Quality Press nur bedingt an der
Berichterstattung über sogenannte Sensationsfälle auszumachen sind. Moralische, kommerzielle und politische Interessen sorgten vielmehr für vielfältige
Überschneidungen. Besonders ausführlich waren erwartungsgemäß die Artikel
der irischen Zeitungen. Auch sie betonten, dass sie nur ungern und gezwungener Maßen im Dienste der Wahrheit über dieses Thema berichten würden und
alle Aussagen ausgespart hätten „which might be even of a character too vile to
be printed.“98 Dies war nicht nur eine rituelle Selbstlegitimierung. Sie verwiesen
auch auf auszufüllende Leerstellen im Text, die Imaginationsräume über noch
sensationellere Enthüllungen über die Schuld eröffneten und mündlich über
Prozesszuschauer eingeholt werden konnten.
Die Prozesse zeigten, woher die Enthüllungsjournalisten ihre Informationen
hatten. Sie beruhten charakteristischerweise zunächst nur auf zugetragenen
Gerüchten aus Polizeikreisen. Erst als sich Verleumdungsklagen abzeichneten,
beauftragte O’Brien einen Detektiv, der tatsächlich erfolgreich Zeugen ausfindig
machte, die eine öffentliche Erhärtung seiner Anschuldigungen erlaubten.99
Durch diese Zeugenaussagen kamen bei den Prozessen weitere private Normbrüche an die Öffentlichkeit, die die britische Verwaltung zusätzlich diskreditierten. So beschuldigten mehrere Zeugen Gustavus Charles Cornwall, den Secretary of the General Post Office in Dublin Castle, sowohl bei seinen Kutschenfahrten durch den botanischen Garten als auch in seiner Wohnung homosexuell
verkehrt zu haben. Andere wichtige Zeugen, die nach Frankreich flohen, bestätigten gerade durch ihre Abwesenheit den Verdacht. Und der beschuldigte
Staatsanwalt Bolton musste im Verleumdungsprozess zumindest zugeben, dass
er ein außereheliches Kind hatte und das Vermögen seiner Frau durch einen extravaganten Lebensstil verschleudert hatte. Obgleich die Gerichte dem irischen
„Politiker-Journalisten“ O’Brien kritisch gegenüber standen und ihm vorhielten, bewusst falsche Beweise ermittelt zu haben, gewann er den Prozess gegen
French und Cornwall und ging aus dem Prozess gegen Bolton trotz einer Strafe
von 3 000 Pfund als moralischer Sieger heraus. Damit trug der Gerichtsprozess
entscheidend dazu bei, eine wirkungsmächtige „Wahrheit“ über die englische
Homosexualität zu ermitteln.
Die große Wirkung der Prozesse zeigte sich nicht nur im Medienecho, sondern auch in der direkten Interaktion mit der „Encounter-Öffentlichkeit“ der
alltäglichen Begegnungen. Nach den Urteilsverkündigungen wurde O’Brien in
97
98
99
Times 3. 7. 1884, S. 6.
Freeman’s Journal 8. 7. 1884, S. 4.
Nach O’Briens Erinnerungen erhielt O’Healy den Hinweis von einem District Inspector of
Constabulary in Charleville, während der Detektiv dann die genauen Hinweise ausmachte;
ders., Evening Memoirs, S. 18 u. 22.
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3. Homosexualität und Irish Home Rule
67
Dublin gefeiert und unter Musik und Jubel durch die Straßen begleitet. Eine
Spendensammlung für ihn erbrachte 7 610 Pfund und ersetzte seine Unkosten.
Noch in seinen Memoiren ein halbes Jahrhundert später betonte Healy die außergewöhnlichen emotionalen Ausbrüche, die der Prozess in der irischen Bevölkerung ausgelöst habe.100 Insbesondere nationalistische irische Organisationen wie
die National League priesen William O’Brien „for unearthing a terrible scandal.“101 Charakteristisch war zudem der Kommentar des Dubliner Freeman’s
Journal, der aus dem Fall den generellen Schluss zog, dass die Herrschaft von
autokratischen Systemen vor ihrem Niedergang zumeist „all forms of unnatural
vice“ aufwies, wobei das antike Rom die implizite Vorlage für dieses Verfallsnarrativ gab.102 Aus der beschriebenen „Fäulnis“ der Herrscher wurde damit die
Utopie einer zukünftigen moralisch integereren Freiheit abgeleitet.
Neben dieser Agitation vor Gericht hielten die irischen Abgeordneten die
Vorwürfe mit zahlreichen Anfragen im Unterhaus weiter in der Öffentlichkeit.
Dabei lassen sich verschiedene Strategien der Skandalisierung ausmachen. Die
Iren betonten eher defensiv, nur notgedrungen das Thema aufzubringen, da auf
ihre Andeutungen hin keine Untersuchungen erfolgt wären. Dies ergab sich aus
der berechtigten Angst vor dem Vorwurf, der Tabubruch könne auf sie selbst
zurückfallen. Healy und O’Brien richteten ihre parlamentarischen Anklagen
nicht nur gegen die Homosexualität der Dubliner Beamten, sondern vor allem
gegen die britische Regierung und die Dubliner Verwaltungsspitze, die den Fall
vertuscht hätten und somit in Verbindung mit den Homosexuellen stünden:
„[...] the Government practically invited those witnesses to fly from the country
and escape the unpleasant duties which were attached to them.“103 Dadurch verlagerte sich der öffentliche Fokus von der illegitimen Sexualität hin zur Anprangerung einer ungerechten Justiz und korrupten Regierung. Indem die Iren die
scharfen Verfolgungen nach den Phoenix Park-Morden mit der ausbleibenden
Bestrafung der Beamten verglichen, setzten sie die Homosexuellen quasi mit
Mördern gleich und stilisierten sie zu Kapitalverbrechern. Die Einzelfälle verallgemeinerten sie durch Ausdrücke wie „system“ auf die gesamte irische Administration, wogegen sich Premierminister Gladstone besonders nachdrücklich
wandte („a more frightful charge never was launched by one man against a
whole body of men“).104 Erwartungsgemäß scheiterte schließlich der Versuch
100
101
102
103
104
„The trial exited feelings higher than anything since the ,Yelverton‘ marriage case in the ,sixties‘“; T.M. Healy, Letters and Leaders of My Day, London o. D. (1928), S. 195. Zur Reaktion
in den Straßen vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 13. 7. 1884, S. 5; Times 10. 7. 1884, S. 9.
Times 24. 7. 1886, S. 10.
Freeman’s Journal 8. 7. 1884, S. 4.
So O’Briens Anklage im Unterhaus, die auch in die unionistischen Medien ging; vgl. Times
22. 7. 1884, S. 6; vgl. die ausführliche Debatte dazu im Unterhaus: 21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd Series, Bd. 291, Sp. 1802–1878.
21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3th Series, Bd. 290, Sp. 1859; vgl. hierzu auch
Gladstones Tagebucheintrag 23. 7. 1884: Henry Colin Matthew (Hrsg.), The Gladstone
Diaries with Cabinet Minutes and Prime-Ministerial Correspondence, Bd. 11: July 1883–December 1886, Oxford 1990, S. 177.
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68
II. Homosexualität als Skandalon
der Irish Nationalist Party, einen Untersuchungsausschuss zu dem Fall einzusetzen. Durch ein Select Committee mit entsprechenden Befragungen und Berichten hätten die Iren das Thema sicherlich gut ein Jahr länger in den Medien
halten können, was die Liberalen und Konservativen nicht zuletzt deshalb gemeinsam ablehnten.105
Auch die katholische Kirche griff als maßgebliche öffentliche Deutungsinstanz Irlands den Fall auf. Ein Hirtenbrief, der in allen katholischen Kirchen verlesen wurde, erinnerte mahnend an die Gefahren, die der Fall gezeigt habe. Er
benannte die Homosexualität zwar nicht explizit, wohl aber metaphorisch als
tödliche Seuche, die schlimmer sei als die grassierende Cholera.106 Zugleich
wandte sich der Hirtenbrief nachdrücklich gegen jede Veröffentlichung derartiger Enthüllungen und Prozessberichte und forderte ein Bündnis zum Boykott
von Zeitungen mit derartig „schmutzigen“ Artikeln. Anderenfalls würde der
Kardinal die Familien auffordern, Zeitungen mit derartigen Berichten nicht
mehr zu kaufen. Da die irischen Nationalisten von ihrem Selbstverständnis her
in enger Verbindung mit den Kirchen agierten, dürfte dies derartige Kampagnen
seit Herbst 1884 mit eingedämmt haben.
Der Skandal hatte vielfältige Folgen. Innerhalb der englischen Regierung und
der Dubliner Verwaltungsspitze führte er zu einer massiven Verunsicherung
und zu Rücktrittsangeboten. Wie der Repräsentant der Krone in Irland, der
Lord Lieutenant of Ireland Earl Spencer, Premierminister Gladstone brieflich
mitteilte, fühlte sich die Verwaltungsspitze nervlich zerrüttet, da jeder Engländer in Dublin bedroht sei, „[...] as recent events prove, by a terrible and
ever-present risk to his character and reputation.“107 Der Versuch des IrlandMinisters, den formal rehabilitierten Staatsanwalt George Bolton wieder in
sein Amt zu setzen, führte zu weiteren Vorwürfen der Iren und zu einer breiteren Empörung bei den Parlamentariern, weil der Skandal zumindest Boltons
Verschuldung auf Kosten des Vermögens seiner Frau öffentlich gemacht hatte.108
Da sich die Aufmerksamkeit der Polizei und der Öffentlichkeit nun auf
Homosexuelle konzentrierte, kam es zu zahlreichen weiteren Verfolgungen und
Anklagen. Gerüchte kamen auf, dass auch Geistliche und Soldaten betroffen
seien.109 Ebenso scheint es in der folgenden Zeit verstärkt zu Erpressungsversu105
106
107
108
109
Dies scheiterte klar mit 24 zu 143 Stimmen. 21. 7. 1884 Hansard’s Parliamentary Debates 3rd
Series, Bd. 290, Sp. 1857.
„Permit me to warn you of the moral pestilence with which we are threatened and which, if
not averted, will work in the souls of the young a death more terrible than cholera, in its worst
form, could work in our moral bodies.“ Times 4. 8. 1884, S. 10.
Spencer an Gladstone 7. 3. 1884 u. 26. 8. 1884, in: BL Gladstone Mss. Add., 44331: 77–81, 179–
86. Vgl. auch Trevelyan an Gladstone 26. 7. 1884, in ebd. 44335: 168 f.
Vgl. die regelmäßigen Briefe Campbell-Bannermanns an Earl Spencer hierzu, bes.: 30. 10. 1884,
3. 11. 1884, 4. 11. 1884, 5. 11. 1884, 7. 1. 1884 in: BL Althorp Papers Add. Mss. 76867, sowie in:
BL Campbell-Bannerman Papers Add. Mss. 41228.
Reynolds’s Newspaper 3. 8. 1884, S. 3 und 27. 7. 1884, S. 1.
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3. Homosexualität und Irish Home Rule
69
chen gekommen zu sein.110 Dagegen interessierte sich die Medienöffentlichkeit
kaum noch für die Verurteilung der im Dublin Castle-Skandal Involvierten, da
dies Ende 1884 durch die lange Dauer des Skandals ihren Neuigkeitswert verloren hatte.111 Das ermüdende Interesse machte deutlich, dass eben nicht das
Schicksal einzelner Homosexueller im Vordergrund stand, sondern die englische
Reputation.
Der Skandal verfestigte dennoch moralische Normen und trug mit zu einer
Neuformulierung der Homosexualitätsgesetze bei. Allerdings waren es weniger
die irischen Politiker, die sich für Änderungen einsetzten. Dies unterstrich erneut, dass es ihnen eben nicht um die Homosexualitätsfrage, sondern um ihre
Unabhängigkeit ging. Die entsprechende Gesetzesreform forcierte vielmehr der
Journalist W.T. Stead von der Pall Mall Gazette, der unmittelbar nach dem
Skandal Unterlagen über verschiedene Homosexualitätsfälle sammelte und als
potentielles Druckmittel archivierte, wenn auch nicht veröffentlichte. Jedoch
übergab er sie dem Journalisten und radikalen Abgeordneten Henry Labouchere
als Argumentationshilfe für eine Gesetzesnovelle, die dieser tatsächlich erfolgreich einbrachte.112 Begründet wurde die Notwendigkeit dieses Gesetzes mit
der nicht zuletzt durch den Dubliner Skandal etablierten Vorstellung, dass die
Verbreitung der Homosexualität zunähme. Der Paragraph minderte zwar das
Strafmaß auf bis zu zwei Jahre Haft mit harter Arbeit, spezifizierte aber die
Ausdehnung des Gesetzes auf „any act of gross indecency with another male
Person“ (§ 11).113 Bemerkenswert war vor allem, dass nach dem Skandal Homosexualität in Großbritannien öffentlich so präsent war, dass sie nun selbst in
einem Gesetzestext recht explizit umschrieben werden konnte.
Der Dublin Castle-Skandal hatte so von der Peripherie aus dazu beigetragen,
das moralische Selbstverständnis Großbritanniens zu erschüttern. Gerade weil
sich die neu formierenden Irischen Nationalisten nicht an die Regeln der britischen Öffentlichkeit hielten, konnte ihnen dies gelingen. Auf diese Weise
machte der Skandal Verhaltensweisen öffentlich, welche die bürgerliche Identität bedrohten, die sich im hohen Maße aus ihrem moralischen Selbstverständnis
speiste. Denn er zeigte nicht nur eine Doppelmoral englischer Eliten, sondern
auch intime Beziehungen jenseits der Klassengrenzen, da wohlhabende Angehörige der Administration mit ärmeren Iren verkehrt hatten. Gerade die daraus
entstehende Frage, ob Homosexuelle vornehmlich der britischen Oberschicht
angehören würden und Unterschichten mit ihrem Vermögen sexuell korrumpierten, prägte auch die folgenden Homosexualitätsskandale, die sich rasch anschlossen.
110
111
112
113
So zumindest: Cocks, Nameless Offence, 2003, S. 142.
Vgl. Times 9. 8. 1884, 30. 10. 1884 und 22. 12. 1884, S. 6.
So zumindest rückblickend Laboucheres Darstellung in: Hansard’s Parliamentary Debates
28. 2. 1890, Sp. 1534 f.
Cocks, Nameless Offence, S. 17.
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70
II. Homosexualität als Skandalon
4. WEST END SCANDALS
Der Dublin Castle-Skandal war nur der Auftakt zu einer Reihe von britischen
Skandalen, die über die Thematisierung von Homosexualität grundsätzliche
Konflikte austrugen. Damit zeigte sich eine typische Dynamik: Nachdem ein
politischer Skandal die Sagbarkeitsgrenzen in einem Feld verschoben hatte,
folgten weitere zum gleichen Thema. Der größte Skandal kam bereits 1889/90
auf, als sich bekannte Adlige des Vorwurfes erwehren mussten, regelmäßig Besucher eines Londoner Homosexuellenbordells gewesen zu sein. Zu einem politischen Skandal entwickelte sich dieser Normbruch nicht nur durch die öffentlichen Deutungen des Falles, sondern auch, weil die Regierung mehrfach versuchte, die Veröffentlichung der Vorwürfe und gerichtlichen Ermittlungen zu
unterbinden. Der Skandal sollte als „Cleveland-Street-Affair“ in die Geschichte
eingehen, auch wenn ihn die zeitgenössischen Zeitungen, besonders die linksliberalen, als „West End Scandals“ bezeichneten. Wie beim Dublin Castle-Skandal entlehnte er somit seinen Namen aus einer Ortsbezeichnung, da der Normbruch an sich nicht plakativ benennbar war.
Ähnlich wie bei den irischen Skandalen erklärt sich das Aufkommen dieser
Vorwürfe zunächst aus einer grundsätzlichen Verschiebung der politischen
Konfliktstrukturen. Die Auseinandersetzung um die Home Rule hatte 1886 das
Ende einer langen liberalen Ära in Großbritannien eingeleitet. Auch wenn die
Liberalen 1892 noch einmal kurz in die Downing Street einzogen, regierten nun
fast zwei Jahrzehnte die Konservativen. Sowohl die Abspaltung der Unionisten
von den Liberalen als auch die Ausdehnung des Wahlrechts führten dabei in der
zweiten Hälfte der 1880er Jahre zu einer zunehmenden Politisierung, Polarisierung und entsprechend harten Debatten. Bei den Liberalen profilierte sich besonders ihr linker Flügel, die Radicals, zunehmend durch ihre gesellschaftskritische Agitation in Politik und Öffentlichkeit, die nicht zuletzt die Etablierung
einer Arbeiterpartei auffangen sollte.
Vor allem der vielleicht aktivste Radikalliberale des späten 19. Jahrhunderts,
der Abgeordnete und Journalist Henry Labouchere, trug bei diesem Homosexualitätsskandal maßgeblich dazu bei, die konservative Regierung moralisch zu
diskreditieren. In gewisser Weise bedienten sich Labouchere und andere radikale Journalisten eines ähnlichen Kampagnenstils wie die Iren und knüpften an
deren Agitation an. Auch den radikalliberalen Engländern ging es weniger um
die Homosexualität einiger Adliger als vielmehr um die Aufdeckung sozialer
und gesetzlicher Ungerechtigkeiten sowie um die Bloßstellung der Aristokratie
und der konservativen Regierung. Insbesondere dem konservativen Premierminister Lord Salisbury, der selbst aus einer alten Adelsfamilie kam, hielten diese
Radicals den Schutz seiner Standesgenossen vor.
Im Cleveland Street-Skandal erfuhr die Öffentlichkeit, dass es mitten in London Bordelle für Homosexuelle gab, die selbst hohe Adlige aus dem Umfeld des
Königshauses regelmäßig besuchten. Die Polizei deckte dies durch einen Zufall
auf. Ein Postjunge, bei dem die Polizei Anfang Juli 1889 eine größere Geldsum-
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4. West End Scandals
71
me fand, sagte aus, sie stamme nicht aus Diebstählen, sondern aus „payment for
going to bed with gentlemen.“114 Als die Polizei das von ihm angegebene Bordell
in der Londoner Cleveland Street aufsuchte, bei dem sich noch andere Jungen
von der nahe gelegenen Post prostituierten, war es dank einer Vorwarnung bereits leer geräumt. Die polizeilichen Observationen an dem Haus ergaben jedoch, dass gut gekleidete Männer, aber auch Soldaten, alleine oder in Begleitung
von Jungen dort anklopften.115 Unter anderem beobachteten sie, wie Lord
Arthur Somerset vergeblich auf Einlass wartete, den auch die verhafteten Jungen als regelmäßigen Besucher identifizierten. Der 38-jährige Somerset diente
am Königshof als Superintendent of the Stables and Extra Equerry des Prince of
Wales. Darüber hinaus war er seit Kindheit eng mit der Königsfamilie verbunden und ein enger Freund des Prince of Wales. Ebenso war Somerset mit dem
Sohn des Prinzen, Prince Eddy, befreundet, dessen Junggesellenleben seit längerem für Gerüchte sorgte, bis hin zu der bis heute kursierenden Annahme, er sei
für die Jack the Ripper-Morde verantwortlich.116 Mit Somerset drohte somit das
Königshaus in den Skandal um das Homosexuellenbordell verwickelt zu werden. Die Fallhöhe und die mediale Aufmerksamkeit für einen großen Skandal
waren damit gesetzt.
Wie reagierten die Behörden und die Regierung auf den drohenden Skandal?
Bemerkenswerterweise setzte sofort ein riskanter Aktionismus ein, um ihn zu
verhindern. Noch am gleichen Tag, als Somerset identifiziert wurde, nahm der
Innenminister die Ermittlungen der Polizei aus der Hand und übertrug sie dem
ihm direkt unterstellten Director of Public Prosecutions, Augustus Stephenson.117 Zwischen dem Innenministerium, den Ermittlungsbehörden und der
Polizei setzte nun ein immenser Briefwechsel über die Frage ein, wie man die
Publizität des Falles verhindern könne. Ihre Furcht vor Indiskretionen war so
groß, dass Lord Somerset selbst in der internen Korrespondenz der politischen
Führung nicht namentlich erwähnt wurde, sondern nur mit Decknamen oder
Kürzeln. Mal sprachen die Briefe von „certain persons“, machten eine Leerstelle
mit Strich („___“), kürzten ihn „L.A.S.“ ab oder schrieben über Mr. Brown, wie
114
115
116
117
Bericht Metropolitan Police 18. 7. 1889, in: TNA, HO 144/477/X24427. Als Überblick zum
Ereignisablauf vgl.: Chronological Summary, in: TNA, DPP 1/95/5. Während der grundsätzliche Ereignisablauf des Cleveland-Street-Falles durch zwei ältere Darstellungen gut bekannt
ist und hier nur um einzelne Punkte ergänzt wird, fand bislang die Interaktion zwischen den
Medienberichten und Ermittlungen wenig Beachtung, die hier deshalb ganz im Vordergrund
steht; vgl. H. Montgomery Hyde, The Cleveland Street Scandal, London 1976; Lewis
Chester et al., The Cleveland Street Affair, London 1976; ähnlich erzählerisch, mit einigen
Ergänzungen: Kaplan, Sodom, S. 186–223, sowie ders., Did „My Lord Gomorrah“ Smile?
Homosexuality, Class and Prostitution in the Cleveland Street Affair, in: Nancy Erber und
George Robb (Hrsg.), Disorder in the Court. Trials and Sexual Conflicts at the Turn of the
Century, New York 1999, S. 78–99.
Bericht Metropolitan Police 18. 7. 1889, in: TNA, HO 144/477/X24427.
Vgl. zu letzterem, auch mit Blick auf den Cleveland Street Fall: Theo Aronson, Prince Eddy
and the Homosexual Underworld, London 1994.
Home Office an DPP 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:13.
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72
II. Homosexualität als Skandalon
Somerset sich gegenüber den Prostituierten genannt hatte.118 Damit Somersets
Name beim Prozess gegen die Jungen im September 1889 nicht fiel, wies der
Kronanwalt (der Attorney General) vorher das Gericht an, die Nennung von
Namen zu verhindern. Allenfalls nach den von den Jungen benutzten Decknamen und andere Identifikationsmerkmalen sei zu fragen. Tatsächlich konnte
gleich nach dem Prozess intern vermeldet werden: „no name disclosed“.119
Ebenso unsagbar wie das Vergehen selbst blieb die mutmaßliche Benennung der
adligen Verdächtigen.
Diese Verschleierungstaktik von Regierung und Justiz konnte jedoch nicht
verhindern, dass vor allem die linksliberale Presse den Fall aufgriff. Sie nannten
zwar nicht explizit die Namen von Lord Somerset und anderen Adligen, spielten
aber mit unverkennbar drohenden Andeutungen. Die Pall Mall Gazette fragte,
warum die beschuldigten „two noble lords and other notable persons in society“ nicht bestraft würden.120 Die Zeitschrift Men of the World druckte direkt
neben einem Bericht über einen „gross scandal, the like of which has not been
heard in England for many years“, bei dem bekannte Männer aus höchsten
Kreisen involviert seien, die Meldung, Lord Somerset habe auf unbestimmte
Zeit England verlassen.121 Das Blatt konnte so spielerisch einen Zusammenhang
andeuten, ohne sich der Gefahr einer Verleumdungsklage auszusetzen.
Die radikalliberalen Printmedien entfalteten aus den Andeutungen eine politische Kampagne, die Moralismus und weltanschauliche Auseinandersetzung
verband. Das kleine Blatt North London Press berichtete unter der Überschrift
„Our old Nobility / Charges of infamous conduct against Peers“ zunächst über
den Schwiegerbruder des Premierministers Lord Salisbury, der ein 10-jähriges
Mädchen unsittlich berührt hätte, aber dank seiner Verwandtschaft und der
Klassenjustiz nicht verfolgt worden sei, bis die Zeitung Scottish Leader darüber
berichtete. Als Beleg für die generelle Verkommenheit des Adels und der politischen Führung schloss ein Bericht über den Cleveland Street-Prozess an. Um
seine Macht zu demonstrieren, aber wohl auch um Prozesse zu vermeiden,
spielte das Blatt zunächst nur drohend auf die Beschuldigten an: „The heir of a
duke, the younger son of another duke and an officer holding command in a
southern district“ seien unter den Angeklagten. „The names of these men are in
our possession and we are prepared to produce them if necessary.“122 Der Artikel beschuldigte dabei Polizei und Behören, den Fall bewusst vertuscht zu haben und neben den Adligen auch dem Bordellbesitzer die Flucht ermöglicht zu
haben, während einfache Leute dafür lebenslänglich im Gefängnis säßen. Unter
der Überschrift „Horrible Charges against peers“ zirkulierte der Artikel fast
118
119
120
121
122
Vgl. bes. die Briefe in TNA, DPP 1/95/1:50, 78, 218 u. DPP 1/95/3:13.
Richard Webster/Attorney General an Stephenson/DDP 29. 8. 1889 und 31. 8. 1889, in: TNA,
DPP 1/95/1:63 und 78; an Webster/AG in: TNA, DPP 1/95/1:100.
Pall Mall Gazette 12. 9. 1889, S. 2.
Men of the World 14. 9. 1889.
North London Press 28. 9. 1889.
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4. West End Scandals
73
identisch am nächsten Tag in dem radikalen Wochenblatt Reynolds’s Newspaper,
das seit den 1860er Jahren immerhin eine Auflage von angeblich rund 300 000
hatte und im höheren Maße auch Unterschichten ansprach.123 Die Erstnennung
in einem kleinen Blatt legitimierte quasi als Eisbrecher den massenwirksamen
Bericht. Die schnelle Übernahme spricht dabei für eine koordinierte Aktion
zwischen den Zeitungen.
Diese Presseberichte führten zu unterschiedlichen Reaktionen in den Behörden. Die mittlere Ebene von Justiz und Polizei strebte daraufhin eine öffentliche
Untersuchung an. Schon die ersten Andeutungen in der Pall Mall Gazette sorgten
intern für Aufregung.124 Auf die Artikel in der Reynolds’s Newpaper, die die
Inaktivität der Polizei anprangerten, reagierte die Polizeiführung mit Rechtfertigungen gegenüber dem Staatsanwalt, dass die Untätigkeit nicht an ihnen liege.
Da die Zeitungsartikel offensichtlich das Ehrgefühl der Polizei verletzten, verlangten sie eine genauere Klärung der Verantwortung und Zuständigkeit.125
Ebenso drängte der Oberstaatsanwalt direkt nach dem Artikel in der Pall Mall
Gazette darauf, gegen Somerset vorzugehen, da er sich nicht Untätigkeit und
Klassenjustiz vorwerfen lassen wollte. Er leitete die Beschwerden der Polizei an
den Innenminister weiter und betonte auch gegenüber dem Attorney General
die erdrückenden strafrechtlichen Beweise gegen Somerset: Es gäbe keine Zweifel „that LAS was a frequent visitor at 19 Cleveland Street for immoral purpose“
(H.i.O.). Allerdings könne er wegen der Weisungen des Innenministers nicht
handeln. Dabei stellte er sich auf die Seite der jungen Prostituierten. Es sei
Pflicht des Gesetzes, die „unfortunate boys“ gegen die „unnatural lust of fullgrown men“ zu schützen.126 Somit schloss er sich dem Perspektivwechsel der
liberalen Zeitungen an, welche die jungen Prostituierten als Opfer reicher Freier
umdeuteten, und nicht als moralisch verdorbene Verführer. Diese Umdeutung
junger Prostituierter war bereits in den 1880er Jahren durch die Kampagnen von
Steads Pall Mall Gazette eingeleitet worden, der die Verbreitung von Kinderprostitution in London mit emotionalisierenden Beispielen spektakulär in die
Zeitungen brachte.127 Bemerkenswerterweise übertrug dies nun selbst die Justiz
auf die homosexuell anschaffenden Jungen.
Es ist bezeichnend für die britische Regierung, dass sie weiter die als homosexuell Beschuldigten Bordellbesucher deckte. Sowohl Premierminister Salisbury
123
124
125
126
127
Reynolds’s Newspaper 29. 9. 1889. Vgl. zu dem Blatt selbst: Anne Humpherys, G.W.M.
Reynolds: Popular Literature and Popular Politics, in: Wiener (Hrsg.), Innovators, S. 3–21;
Berridge, Popular Sunday Papers, S. 208.
An Stephenson 13. 9. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 133.
Monro an DPP 1. 10. 1889 u. an Attorney General, in: TNA, DPP 1/95/1: 218 u. 221; Monro
an Solicitor to the Treasury 5. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 225; an DPP 21. 10. 1889, in:
TNA, DPP 1/95/1: 296.
Stephenson an AG 15. 9. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 146–152; vgl. auch seine Beschwerde:
DPP an Lushington/Home Office 17. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/5: 157.
Hierzu ausführlich Kap. III. 1. Vgl. zur Etablierung des Narrativs bereits: Walkowitz, City,
S. 81–120.
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II. Homosexualität als Skandalon
als auch Innenminister Matthews bemühten sich weiterhin mit allen Mitteln,
einen Skandal zu verhindern und unterbanden konsequent die Ermittlungen
von Justiz und Polizei. Schon bei den ersten Polizeimeldungen wiesen sie den
Oberstaatsanwalt an, bis zu ihrer Absprache abzuwarten. Auch auf die Mahnung des Kronanwaltes, an Somersets Schuld bestehe kein Zweifel, legte Premierminister Salisbury ihm Zurückhaltung auf.128 Dann einigten sich Premierminister und Innenminister, zunächst nur gegen den Bordellbesitzer Hammond vorzugehen.129 Da dieser aber bereits nach Frankreich geflohen war, beschloss
Salisbury bereits im Juli und August 1889 zwei Mal, von der französischen
Regierung keine Auslieferung zu beantragen.130 Da Hammond zugleich der
wichtigste Zeuge und Angeklagte war, erschien diese Entscheidung wie eine Tolerierung der Flucht durch die Regierung, um Aussagen über seine Kunden zu
verhindern. Zudem vermied die Regierung so gegenüber den französischen Behörden das Eingeständnis, dass es auch in Großbritannien Homosexualität gab.
Stattdessen schickte sie einen Inspektor von Scotland Yard zur Überwachung
nach Paris. Aber auch hier erfolgte die Anweisung des Innenministeriums an
den Oberstaatsanwalt, von dessen vertraulichen Berichten möglichst keinen
Gebrauch zu machen.131 Ebenso ließen sie Somerset fliehen, der nach Deutschland reiste und hier völlig resignierte, als er über seinen Fall in der Pall Mall
Gazette las.132 Dass diese Flucht durchaus dauerhaft sein konnte und sollte,
deutete auch der Kronanwalt dem Premierminister an.133 Als Polizei und Justiz
der Regierung berichteten, Somerset sei wegen eines Todesfalles wieder nach
England zurückgekommen und könne nun verhaftet werden, lehnte der Innenminister dies mit dem Argument ab, es lägen nicht genügend Beweise vor.134 Die
somit blockierte Polizei beschwerte sich intern frühzeitig, dies sei eine „conspiracy on the amount of certain persons to defeat the end of justice“135. Dagegen
sah der für die Justiz zuständige Lord Chancellor eine weitere Verfolgung als
„injury for public morals“, weshalb er davon absehen ließ.136 Gerechtigkeit vor
128
129
130
131
132
133
134
135
136
Dies wird deutlich aus: Webster an Salisbury 18. 9. 1889, in: NL Salisbury Hatfield House.
Lister/Foreign Office an Matthews 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:13; Home Office an DPP
10. 8. u. 12. 8. 1889, in: ebd. 1:20 u. 22.
„[...] Salisbury having decided that it is impossible to move the French Government in the
question of the suggested surrender or expulsion of Hammond from France.“ Lushington/
Home Office an DDP 10. 8. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1:40. Ebenso: [...] his lordship does not
consider this to be a case in which any official application could justifiably be made to the
French Government for assistance in surrendering the fugitive to this country.“ Lister/Foreign Office an Matthews/Home Office 24. 7. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1.
Home Secretary an Stephenson/DPP 12. 8. 1889, in: TNA DPP 1/95/1.
„No one can describe my horror, read the [...] Pall Mall last night in the train.“ Somerset an
Brett 14. 9. 1889, in: Churchill Archives Centre/Cambridge (CAC) ESHR Papers 12–3. Somerset schrieb Brett während seiner Flucht nahezu täglich.
„I do not think the person in question will face the enquiry.“ Webster an Salisbury 18. 9. 1889,
in: NL Salisbury, Salisbury Hatfield House.
Vgl. die zahlreichen Anfragen von 5. bis 14. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 245–270.
an DPP 21. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 296.
Lord Halsbury o. D.in: TNA, DPP 1/95/3: 23.
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4. West End Scandals
75
Gericht und die Bewahrung adliger Reputation standen damit gegeneinander.
Insgesamt ging die konservative Regierung somit bereits in dieser Phase ein bemerkenswertes Risiko ein, um durch die Blockade von Polizei und Justiz einen
Skandal zu verhindern.
Zudem starteten vielfältige Bemühungen, die Königsfamilie direkt zu schützen. Damit weder der Prince of Wales noch sein Sohn und potentieller Nachfolger Prinz Albert Victor („Prinz Eddy“) in die folgenden Prozesse eingezogen
werden konnten, blieben beide acht Monate im Ausland bei einer ausführlichen
Indien-Tour. Dennoch machten sich Somersets Vertrauter Reginald Brett und
Somersets Anwalt Newton vor dem Prozess Gedanken, wie man die Unschuld
von Prinz Eddy („the person in India“) im Zweifelsfall vor Gericht beweisen
könne.137 Denn innerhalb des Adels kam rasch das Gerücht auf, Lord Somerset
habe verbreitet, dass er unschuldig sei und nur zum Schutz von Prinz Eddy geflohen sei, was Vertraute des Königs mit Zurückweisungen verfolgten.138 Zwei
Vertraute des Königshauses fragten zudem frühzeitig bei der Polizei nach dem
Ermittlungsstand und setzten sich bei ihr zunächst für Somerset ein.139 Ebenso
trafen sie sich mit Premierminister Salisbury, um genaueres über die Verfolgung
von Somerset zu erfahren, woraufhin Somerset die Flucht ergriff.140 Der Haftbefehl gegen Somerset wurde dann erst nach seiner Flucht und seiner ehrenhaften Entlassung aus der Armee ausgestellt, was eine klare Aufforderung an
ihn war, für den Verzicht auf den Prozess dauerhaft im Ausland zu bleiben.
Abermals war das Exil somit die eigentliche Strafe, die einen Skandal vermeiden
sollte. An der Verhinderung eines Prozesses arbeitete auch Somersets Anwalt
Newton, der den jungen Prostituierten und dem Bordellbesitzer Geld für ihre
Flucht gab. Entsprechende Finanztransfers und Anweisungen wurden dabei
über den Vertrauten Somersets und des Königshauses, Reginald Brett (der
spätere Viscount Esher) abgewickelt.141 Trotz des rechtsstaatlichen englischen
Regierungssystems wurden somit alle möglichen rechtlichen Schritte gezielt
verhindert, um einen Skandal zu vermeiden. Der Leiter der Ermittlungen wehrte sich dagegen frühzeitig mit dem Argument, dass es zwar wichtig sei, den
Skandal zu verhindern, es aber einen nur viel größeren Skandal geben würde,
wenn die Vertuschung herauskomme.142 Dennoch fügte er sich unter Protest
den politischen Weisungen der Regierungsspitze.
137
138
139
140
141
142
Newton an Brett 13. 12. 1889, in: CAC ESHR Papers 12–3.
Vgl. die zwei anonymen Schreiben an Brett, o. D., in: Churchill Archives/ Cambridge ESHR
Papers 12–3; Probyn an Waterford 29. 12. 1889, in: ebd.
Cuffe an Lord Chancellor 16. 10. 1889 u. 18. 10. 1889, in: TNA, DPP 1/95/1: 283 ff.
Somerset an Brett 17. 10. 1889 (5 pm); vgl. auch 16. 10. und 17. 10. 1889 (morgens), in: CAC
ESHR Papers 12–3.
Vgl. die Korrespondenz bes. ab 9. 9. 1889 in: CAC ESHR Papers 12–3. Obgleich eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Brett und Somerset vorliegt, ging kein einziger dieser Briefe
in die Briefedition von Brett (später Viscount Esher) ein, in: Maurice V. Brett (Hrsg.), Journal and Letters of Reginald Viscount Esher, Bd. 1: 1870–1903, London 1934.
Stephenson an Home Secretary 31. 8. 1889 in: TNA, DPP 1/95/1:86.
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II. Homosexualität als Skandalon
Tatsächlich entwickelte sich gerade aus diesen Vertuschungsversuchen der
Regierung ein weiterer „sekundärer Skandal“, der sich um das unaufrichtige Verhalten der politischen Führung im eigentlichen Skandalfall drehte. In den Londoner Clubs war Somersets Flucht schnell bekannt. Nachdem die Journalisten
dies zunächst nur mit Andeutungen aufgegriffen hatten, gab der radikale Abgeordnete Henry Labouchere in seiner Wochenzeitung The Truth den entscheidenden Anstoß. Laboucheres Blatt, das er seit 1877 betrieb, hatte zwar nur eine
mittelgroße Auflage von rund 30 000 Exemplaren, zog aber seine Bedeutung vor
allem aus den gut informierten kritischen Enthüllungen, die es regelmäßig im
Stile des New Journalism publizierte.143 In gewisser Weise entsprach es dem
United Ireland, das im vorherigen Dublin Castle-Skandal ebenfalls aus seiner
politischen Außenseiterrolle Sagbarkeitsgrenzen durchbrochen hatte. Labouchere veröffentlichte in seiner Zeitschrift den Vorwurf, der Innenminister blockiere die Ermittlungen in dem Skandal, toleriere die Flucht von Beteiligten und
habe sie durch Warnungen sogar gefördert. Der Regierung warf er deshalb vor,
ein „Government of the classes“ zu sein. Ohne die Namen von Somerset oder
anderen zu nennen, drohte er dem Innenminister: „I warn Mr. Matthews that if
he does not take action in this matter there will be a heavy reckoning when Parliament meets.“144 In den folgenden Ausgaben konkretisierte er seine Drohung:
Er habe mit verschiedenen Abgeordneten gesprochen und werde auf eine Untersuchung bestehen, wenn die Regierung nicht ihr Handeln offen lege.145 Wie
beim Dublin Castle-Skandal brachte somit eben nicht ein politisch unabhängiges Boulevardblatt die entscheidenden Vorwürfe auf, sondern journalitisch
ambitionierte Politiker, die für kleine politische Blätter schrieben, die ihren Kurs
vertraten. Die parlamentarische Kritik und Untersuchung wies damit erneut ein
symbiotisches Verhältnis zur medialen Agitation auf. Und abermals begann der
Skandal nicht mit einer expliziten Aufdeckung eines Normbruches, etwa in einer großen Schlagzeile, sondern mit einer erpresserischen Andeutung.
Laboucheres Anklagen förderten weitere kritische Berichte in der liberalen
Presse. Die Pall Mall Gazette schloss sich direkt Laboucheres Warnung an den
Innenminister an und mahnte, die Namen der Beteiligten seien „common talk“
in jedem Club.146 Dennoch nannte auch das vermeintliche Sensationsblatt
Somersets Namen nicht. Erst die kleine radikale North London Press druckte sie
am Tage darauf unter der Überschrift „The West-End Scandal: Names of some
of the Distinguished Criminals who escaped“.147 Auch in den nächsten Tagen
schrieb ihr Herausgeber Ernest Parke weitere Artikel zu dem Fall, die sein
143
144
145
146
147
Truth 14. 11. 1889. Eine plausible Charakterisierung des Blattes als Vorläufer des New Journalism gibt: Gary Weber, Henry Labouchere, Truth and the New Journalism of Late Victorian Britain, in: Victorian Periodicals Review, 26 (1993), S. 36–43; vgl. auch R. J. Hind, Henry
Labouchere and the Empire 1880–1905, London 1972, S. 3.
Truth 14. 11. 1889.
Truth 28. 11. 1889 und 12. 12. 1889.
Pall Mall Gazette 15. 11. 1889 und 20. 11. 1889.
North London Press 16. 11. 1889.
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4. West End Scandals
77
Wissen offensichtlich aus Polizeiquellen und Regierungskreisen speiste. Anscheinend hatte die Polizei, gerade weil sie nicht weiter ermitteln durfte, dem
Journalisten vertrauliche Hinweise gegeben. Parkes Artikel nahmen dementsprechend die Polizei in Schutz, da sie von oben blockiert worden sei, und verlangten eine parlamentarische Befragung des Innen- und Premierministers.148
Anscheinend konnte der Herausgeber Ernest Parke, der nebenbei auch für den
Star schrieb, derartige Meldungen nicht in dem großen Massenblatt unterbringen. Obwohl der Star ebenfalls als „Sensationszeitung“ des New Journalism
galt, hielt er sich zurück.149 Damit zeigte sich erneut, dass die Grenzen des Publizierbaren für die Massenpresse gerade beim Thema Homosexualität äußerst
eng waren, obgleich offene Enthüllungen in solch einem Skandal sicherlich hohe
Auflagen und Gewinne garantiert hätten.
Erneut erhielt der Skandal eine starke Dynamik durch einen Verleumdungsprozess. Da die North London Press noch einem anderen Adligen, Lord Euston,
Bordellbesuche und eine anschließende Flucht ins Ausland vorgeworfen hatte,
obwohl dieser in London geblieben war, klagte Euston gegen den Journalisten
Parke wegen Verleumdung. Wie beim Dublin Castle-Skandal war diese riskante
Reaktion die einzige Alternative zu seiner Flucht, da Stillschweigen öffentlich
als Schuldeingeständnis gewertet worden wäre. Dieser Schritt förderte jedoch
die ausführliche Veröffentlichung der Vorwürfe. Die Klage spornte zu zahlreichen weiteren Medienberichten an, der Prozess gab dem Journalisten eine
öffentliche Bühne, und die Zeugenaussagen förderten eine öffentliche Wissensbildung, da der Prozess selbst in der regierungsnahen Presse explizite Berichte
legitimierte. Nun schrieb sogar die Times unter Nennung von Somersets Namen
über dessen Flucht und die Versuche, Zeugen mit Geld zur Flucht zu animieren.150 Die Verfolgung von Parke und sein Kampf mit der Regierung und Justiz
machte den Journalisten außerdem prominent, was er zur Werbung für sein
Blatt benutzte.151
Der plötzliche Ruhm des Journalisten beruhte jedoch nicht auf seiner Recherche. Vielmehr ließ der Fall ähnliche journalistische Arbeitsweisen erkennen wie
der Dublin Castle-Skandal. Während die Artikel zunächst nur auf Gerüchten
und einzelnen Hinweisen aus der Polizei aufbauten, recherchierte der Journalist
zur Vorbereitung der Gerichtsverhandlung – wie im Dublin Castle-Prozess –
nicht selbst, sondern beschäftigte einen Privatdetektiv. Dieser machte zahlreiche
Zeugen ausfindig, die Euston beim Besuch des Bordells gesehen hatten. Die
148
149
150
151
Truth 23. 11. 1889, S. 5.
Die Grenzen der Berichterstattung des Stars betonte auch: Laurel Brake, Government by
Journalism and the Silence of the Star: Victorian Encounters 1885–90, in: Laurence Brake
und Julie F. Codell (Hrsg.): Encounters in the Victorian Press. Editors, Authors, Readers,
Basingstoke und New York 2005, S. 213–235. Zum Star vgl.: John Goodbody, The Star: Its
Role in the Rise of New Journalism, in: Wiener (Hrsg.), Papers, S. 143–163, S. 148.
Times 24. 12. 1889, S. 10.
Star 25. 11. 1889, S. 4: „Buy it today. […] West End Scandals Prosecution of the Editor for
Libel of Earl of Euston.“
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II. Homosexualität als Skandalon
Prozesse förderten somit die investigative Recherche der Journalisten, die diese
aber nicht unbedingt selbst übernahmen.
Der Prozess ermöglichte ein offeneres Sprechen über die homosexuelle Prostitution. Zahlreiche männliche Prostituierte und Anwohner sagten freimütig
aus, so dass die gesamte Öffentlichkeit Details über das Bordellleben und die
Homosexualität im Allgemeinen erfuhr. Abermals betonten verschiedene Zeitungen, vieles könne unmöglich wiedergegeben werden, und tatsächlich fanden
sich viele explizite Gerichtsaussagen nicht in den Blättern. Dennoch lässt sich
kaum die Annahme von Laurel Brake teilen, die Leser hätten, weil die Homosexualität nicht explizit genannt wurde, die Artikel kaum verstehen können und
für Berichte über heterosexuelle Bordelle halten können.152 Vielmehr benutzten
die Artikel seit langem eingeübte Codewörter, die durchaus eine Verständigung
über Homosexualität ermöglichten. Hierzu zählten weiterhin Umschreibungen
wie „abominable crimes“, „a felony of the most grave and attracious character“
oder „heinous crimes revolting to one’s notions of all that was decent in human
nature“. Auch Laboucheres spätere Anklage gegen die Regierung sprach nur
von „a certain offence – I will not give it a name.“153 Direkte Beschreibungen
des sexuellen Aktes (wie „going to bed with gentlemen“154) fanden sich hingegen weiterhin selten. Das galt auch für visuelle Darstellungen.155
Ähnlich wie Steads berühmte Maiden-Tribute-Kampagne konstruierten die
Skandalberichte zudem ein Wissen über den Alltag der in diesem Fall männlichen
Prostituierten. Sie beschrieben etwa, wie sie Männer auf der Straße ansprachen
und mit Stammkunden engere Beziehungen eingingen. Zudem erfuhren die Leser, dass anscheinend die Nachbarn des Hauses mit dessen Ruf vertraut waren
und käufliche Homosexualität mitten in London tolerierbar erschien. Ein Prostituierter sagte sogar aus, die lokale Polizei habe keine Probleme gemacht.156 Käufliche Homosexualität erschien damit wie ein Alltagsphänomen der Metropole.
Für die öffentliche Konstruktion des Homosexuellen war bedeutsam, dass die
Zeugen die Bordellbesucher als „Gentlemen“ bezeichneten, die mitunter mit
der eigenen Kutsche vorgefahren seien. Obgleich die Freier, die in den Polizeiakten zu finden sind, kaum namentlich genannt wurden, verfestigte sich damit
das Bild des reichen Homosexuellen, der gegen Geld arme Jungen missbrauchte.
Laboucheres Reden im Unterhaus forderte ebenfalls Mitleid mit den ausgenutzten Jungen. „These poor and wretched creatures live to minister to the vices
of those in a superior station“, klagte er und integrierte damit Prostitution und
Homosexualität in sozialistische Gesellschaftsanklagen.157 Die liberale Presse
benutzte in ihren Prozessberichten ebenfalls dieses Bild in einer geradezu klas-
152
153
154
155
156
157
Brake, Government, S. 220 u. 224.
28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1534.
Zit. in: Times 24. 12. 1889, S. 10.
Vgl. Illustrated Police News 18. 1. 1890, S. 1. u. 25. 1. 1890, S. 1.
Vgl. bes. die Zeitungsberichte 15. 1. u. 16. 1. 1890.
28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1548.
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4. West End Scandals
79
Abb. 1: Der „West-End Scandal“ etablierte auch visuell das Bild des reichen Homosexuellen, der durch sein Geld arme Jungen korrumpiert und nicht bestraft wird (Mitte
und links). Der Journalist Parke (rechts) muss dagegen für seinen Kampf in Haft und erhält so eine Märtyrerrolle; aus: ILLUSTRATED POLICE NEWS 25. 1. 1890, S. 1.
senkämpferischen Abgrenzung gegenüber dem Adel und der Upper Class. Auch
visuell wurde diese Deutung in der Illustrated Police News verfestigt, die reiche
Besucher homosexueller Bordelle skizzierte. Entgegen ihrer sonstigen Verbrechensberichte wurden dagegen die männlichen Prostituierten als kultivierte
Zeugen gezeichnet (vgl. Abb. 1).158 Die von vielen liberalen Zeitungen regelmäßig benutzte Überschrift „Westend Scandal“ verwies bereits geographisch auf
die wohlhabenden Kreise Londons.159 Diese Formulierung etablierte sich soweit, dass selbst die offiziellen Parlamentsberichte sie als Überschrift wählten.160
Ebenso pauschalisierten Überschriften radikalliberaler Zeitungen die Anschuldigungen gegen die gesamte Aristokratie („Horrible Revelations about the Aristocracy“).161 Dass Somersets Anwalt dem Bordellbesitzer mit Geld die Flucht in
die USA ermöglicht hatte und zumindest versuchte, die Prostituierten durch
Erstattung von Transfers und Startkapital ebenfalls zur Ausreise zu bewegen,
fügte sich in diese Korruptionsvorwürfe ein. Somit ging es nicht mehr um die
Bestrafung von Homosexuellen, sondern um Gleichheit vor dem Gesetz.
Nicht thematisierbar war dagegen in der britischen Presse die Frage, welche
Beziehung der Fall zum Königshaus habe. Selbst monarchiekritischen Blättern
wie Reynolds’s Newspaper erschien dies offensichtlich beim Thema Homosexu158
159
160
161
Vgl. Illustrated Police News 18. 1. 1890, S. 1. u. 25. 1. 1890, S. 1.
Daily News 7. 1. 1890, S. 3; allgemein zum Zusammenhang zwischen Metropolenkultur und
Homosexualität vgl. Cook, London.
Hansard’s Parliamentary Debates, 3. 3. 1890, Bd. 341, Sp. 1618.
Reynolds’s Newspaper 12. 1. 1890, S. 5.
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II. Homosexualität als Skandalon
alität zu heikel. Entsprechende Londoner Gerüchte über die Involvierung von
Prince Eddy kursierten in gedruckter Form jedoch in der amerikanischen Presse. So fragte die New York Times, warum Prinz Eddy so lange in Indien bleibe
und druckte das Gerücht, der Prinz solle in Indien bei der Jagd sterben, um seine spätere Thronbesteigung zu verhindern. Damit die englischen Zeitungen dies
nicht aufgriffen, erfolgte im gleichen Blatt aber das anonyme Dementi, der Prinz
habe nichts mit „certain abominable scandals“ zu tun.162
Auch das Londoner Gericht erwies sich kaum als eine unabhängige Instanz
und deckte mit äußerstem Wohlwollen das Verhalten des Adligen. Trotz der
zahlreichen Zeugenaussagen verurteilte es den Journalisten Parke zu zwölf Monaten Gefängnis wegen Verleumdung. Während es die Aussagen der Prostituierten und Nachbarn durchweg als unglaubwürdig abqualifizierte, vertraute das
Gericht der Aussage Lord Eustons, das Haus nur einmal zufällig betreten zu
haben, weil ihm eine Werbekarte dort „poses plastique“ versprochen habe, eine
Vorform des Striptease. Der Richter begründete diese hohe Bestrafung des Journalisten mit dem exzeptionellen Charakter des Artikels: „I think that a more
atrocious libel than that of which you have been guilty has never been published
by any man in circumstances less justifiable than those in which you have published the libel.“163 Einen Mann als homosexuell zu beschuldigen galt demnach
als die schwerste Ehrverletzung überhaupt. Das Gericht begründete das Urteil
zudem damit, dass es andere Publizisten von leichtfertigen Verleumdungen abschrecken sollte. Die liberale Presse protestierte entsprechend gegen das Urteil,
die konservativen Zeitungen lobten es. Letztere sahen es ebenfalls als Warnung
an alle Journalisten, die sich zum Richter aufschwängen und Verdächtigungen
und Misstrauen ins öffentliche Leben tragen würden.164 Nach einer kurzeitigen
breiten Empörung über die politischen Lager hinweg verfestigten sich damit
wieder die politischen Grenzen.
Dieses unverkennbar parteiliche Urteil gegen den Journalisten förderte die
letzte und politisch schwerwiegendste Eskalationsstufe des Skandals. Der radikalliberale Abgeordneten Henry Labouchere wandte sich nun über das Parlament an die Öffentlichkeit, um der Regierung die bewusste Vertuschung und
Rechtsbeugung vorzuwerfen. Seine Enthüllungen im Unterhaus waren nicht
spontan, sondern auf allen Ebenen vorher angekündigt, was die Aufmerksamkeit erhöhte. In seiner Zeitschrift The Truth hatte er seit November 1889 regelmäßig und zunehmend direkt Premierminister Salisbury und Innenminister
Matthews vorgeworfen, die Ermittlung unterbunden zu haben: „The escape was
immediately due to Lord Salisbury“, hieß es hier, und er verwies drohend auf
die nächsten Unterhaussitzungen.165 Auch intern kündigte er etwa gegenüber
162
163
164
165
New York Times 10. 11. 1889, zit. in: Arolson, Prince Eddy, S. 146; Hyde, Cleveland Street,
S. 128 f.
Urteilsbegründung nach: Daily News 16. 1. 1890, S. 3.
Daily Telegraph 17. 1. 1890, S. 5.
Zit.Truth 6. 2. 1890; vgl. bes. auch Truth 2. 1. 1890, 30. 1. 1890.
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4. West End Scandals
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Reginald Brett, einem engen Vertrauen Somersets und des Königshauses, seine
Enthüllungen genau an. Brett versuchte daraufhin vergeblich, Labouchere zu
besänftigen, weniger unter Verweis auf Somersets Unschuld denn im Hinblick
auf das Königshaus und Somersets Eltern.166 In dieser Phase löste sich der
Skandal nahezu vollständig von den sexuellen Normkonflikten ab. Labouchere
sprach in seiner langen Parlamentsrede am 28. Februar 1890, die den Fall minutiös rekonstruierte, fast überhaupt nicht mehr über die Homosexualität und ihre
moralische Verwerflichkeit. Ihm ging es ausschließlich darum zu belegen, dass
der konservative Premierminister Salisbury gezielt laufende Ermittlung verhindert habe, um vor allem die Flucht von Somerset zu ermöglichen. So sprach er
direkt von einer „criminal conspiracy, by the very guardians of public morality
and law, with the Prime Minister at their head, to defeat the ends of justice.“167
Vor allem deckte er auf, dass Salisbury sich mit Somersets Freund Dighton
Probyn über den bevorstehenden Haftbefehl ausgetauscht habe und so dessen
Flucht und vorherige ehrenhafte Entlassung aus der Armee ermöglicht habe.
Die Prostituierten hätten wegen eines „corrupt bargain“ geringe Strafen erhalten, damit sie schwiegen. Aus diesem Grunde verlangte er die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses.
Auch diese Parlamentsrede stand für eine Veränderung der politischen Kommunikation. Mit den Vorwürfen, die den Premierminister der Lüge bezichtigten, durchbrach Labouchere eindeutig die ungeschriebenen Regeln des Unterhauses, die sich im Unterschied zu Deutschland durch rhetorische Höflichkeit
und Akzeptanz des Ehrenwortes auszeichneten. Bereits der Kronanwalt entgegnete in seiner Antwort im Parlament, „more infamous conduct was never
charged against persons in authority.“168 Beide Seiten verweigerten die Kommunikation: Während Labouchere im Unterhaus erst die Nennung seines
Hauptinformanten ablehnte, waren die Konservativen nicht bereit, die von ihm
angebotene schriftliche Nennung zu verlesen. Als Labouchere auch auf Nachfrage nicht Salisburys Unschuldsbeteuerung glaubte, wurde er für einige Wochen
des Parlaments verwiesen. Die Medienöffentlichkeit blieb über sein Verhalten
gespalten: Die konservative Presse bezeichnete seine Zweifel am Wort des Premierminister als „gravest charges“ und „worse than murder“, während liberale
Blätter wie der Star Laboucheres Indizien überzeugend fanden, gegen seinen
Ausschluss protestierten und ihm durch Interviews ein Forum gaben.169
Der Skandal brach damit nicht nur die Sagbarkeitsregeln der Medien auf,
sondern auch die des Parlaments. Die sich anschließende Debatte drehte sich
166
167
168
169
Labouchere an Brett 1. 2. 1890 und 21. 2. 1890, Brett an Labouchere 6. 2. 1890 in: CAC ESHR
Papers 12–3.
Vgl. die Debatte in: 28. 2. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1534–
1611, zit. Sp. 1546.
So der Attorney General Webster in: Hansard’s Parliamentary Debates, ebd., Sp. 1552.
Vgl. Daily Telegraph 1. 3. 1890, S. 4; Times 1. 3. 1890, S. 8; The Star 1. 3. 1890, S. 1; Pall
Mall Gazette 1. 3. bis 3. 3. 1890, S. 1. Zum Ausschluss: Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd
Series, Bd. 341, Sp. 1570.
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II. Homosexualität als Skandalon
ebenfalls fast ausschließlich um die Frage, ob der Premierminister tatsächlich die
Wahrheit sage und ob es zulässig sei, sie anzuzweifeln. Salisbury gab klugerweise seine Replik erst einige Tage später im Oberhaus, wo inmitten der Adligen
mehr Rückendeckung zu erwarten war. Auf Somerset spielte er nur vorsichtig
an, ohne dessen Namen zu nennen.170 Der Premierminister gab aber zu, bei dem
Treffen mit dem Vertrauten Somersets über die Verhaftung gesprochen zu haben, aber nur über Gerüchte über neue Beweise. Sowohl die Zeitgenossen als
auch die Historiker haben vielfach gemutmaßt, ob der Premierminister in dieser
Krise tatsächlich Parlament und Öffentlichkeit belogen hat.171 Die Archivquellen belegen, dass Salisbury sich in der Tat im hohen Maße am Schutz von Somerset beteiligte. Wie die regelmäßigen Briefwechsel zwischen Somerset und Brett
zeigen, wusste Somerset sogar vorher von dem vermittelnden Treffen zwischen
seinem Freund und Salisbury, dem er ängstlich entgegenfieberte.172 Salisbury
ließ in dem Gespräch, das Somerset das Exil nahelegte, jedoch offen, ob ein Haftbefehl folgen würde. So schrieb Somerset kurz nach seiner Flucht aus Frankreich: „You say Salisbury will see about the warrant – has he been approached
on the subject? I am awfully grateful to my friends.“173 Deshalb bot Somerset
aus Frankreich an, im Falle seiner Rückkehr ein zurückgezogenes Leben als Pferdezüchter auf dem Land zu führen.174 Mit dieser Protektion und dem falschen
Ehrenwort war der Premierminister ein großes Risiko eingegangen, das ihm
aber anscheinend nötig erschien, um den Ruf von Monarchie und Adel zu schützen. In gewisser Weise wurde Lord Somerset, der den Rest seines Lebens im
Exil verbringen musste, dafür geopfert, damit die Empörung über die Homosexualität des hohen Adels abebbte und vor allem nicht das Königshaus erreichte.
Ein weiteres Motiv für Salisburys Protektion war vermutlich, dass der Vater von
Somerset, der Duke von Beaufort, ein wichtiger Tory und politischer Unterstützer von Salisbury war.175
Innerhalb der Regierung und der Bürokratie löste bereits die Frage Panik aus,
wie ein oppositioneller radikaler Politiker und Journalist an Informationen über
die vertraulichen Gespräche und Briefe des Premierministers kommen konnte.
Da Justiz und Polizei sofort bemerkten, dass Laboucheres Anklagen auf internen Informationsquellen beruhten, prüften sie seine Aussagen Satz für Satz auf
170
171
172
173
174
175
Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 341, Sp. 1618. In seiner Rede, die die Presse ausführlich
verbreitete, sprach er nur von einer Person „whose name it was unnessecary to mention“;
Pall Mall Gazette 3. 3. 1890, S. 7.
Dass Salisbury Somerset so indirekt zur Flucht verhalf, vermutet die grundlegende Biographie
mit einer knappen Andeutung: Andrew Roberts, Salisbury. Victorian Titan, London 1999,
S. 546; das Gegenteil nimmt an: Hyde, Cleveland Street, S. 220. Keine Erwähnung findet der
gesamte Fall, obgleich er für Salisburys Karriere äußerst kritisch war, in: David Steele, Lord
Salisbury. A Political Biography, London 1999.
Somerset an Brett 17. 10. 1889 (5 pm) in: Churchill Archives/Cambridge ESHR Papers 12–3.;
vgl. auch die Briefe 16. 10. und 17. 10. 1889 (morgens), in: ebd.
Somerset an Brett 24. 10. 1889, in: CAC ESHR Papers 12–3.
Somerset an Brett 21. 10. 1889, in: ebd.
Roberts, Salisbury, 1999, S. 546.
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4. West End Scandals
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ihre Herkunft. Das umfangreiche Dossier, das sie aus seiner Rede erstellten, verwies auf einzelne interne Briefwechsel, die Labouchere offensichtlich kannte.176
Hinter dieser aufwendigen Arbeit stand offensichtlich die Angst, radikale Journalisten und Politiker könnten durch „Lecks“ interne Geheimnisgrenzen aufbrechen und so weitere Skandale auslösen. Zu einer offiziellen Untersuchung
der Vorwürfe kam es dagegen nicht: Im Unterhaus wies der Kronanwalt Laboucheres Vorwürfe zurück und die konservative Mehrheit verhinderte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
In der Öffentlichkeit berichteten alle Zeitungen über Laboucheres Vorwürfe.
In dieser letzten Stufe des Skandals verhandelte die Öffentlichkeit jedoch kaum
noch das ursprüngliche Thema Homosexualität. Vielmehr ging es nun nahezu
ausschließlich um die Integrität von Regierung und Justiz, um den Stil der parlamentarischen Beschuldigungen sowie um die Frage, wer Labouchere die Informationen dafür gegeben habe. Alle diese Punkte debattierten Vorstellungen
über das britische Regierungssystem und zeigten damit, wie sehr sich der
ursprünglich recht unpolitische Homosexuellenprozess zu einem politischen
Skandal entwickelt hatte. Klassenspezifische Strafen, die Beeinflussung der Justiz durch die Exekutive und die Stellung des Premierministers, der vermutlich
Parlament und Öffentlichkeit belogen hatte, waren dabei die zentralen Normkonflikte. Die öffentlichen Kommentare verwiesen vielfach auf andere Skandale, die nicht Homosexualität thematisierten. Am häufigsten war dabei der Verweis auf den Parnellism and Crime-Skandal, bei dem die Times Parnell mit gefälschten Briefen eine Verbindung zu Terroristen vorgeworfen hatte, weshalb
eine Royal Commission eingesetzt worden war. So argumentierte auch Labouchere im Parlament, dass für konservative und irische Spitzenpolitiker ein unterschiedliches Recht gälte.177 Auch die Iren erneuerten die Anklagen unter Verweis auf Lord Salisburys Verhalten in diesem Skandal einige Jahre zuvor.178
Nachdem Labouchere des Parlamentes verwiesen worden war, nahmen sie sich
verstärkt des neuen Skandals an und verglichen die tolerierte Flucht mit der
scharfen Verfolgung der irischen Nationalisten.179 Auf diese Weise überführten
die Iren die Klage gegen die soziale Klassenjustiz in eine Kritik an einer imperialen Klassenjustiz.
Der Skandal erweiterte die Sagbarkeitgrenzen über Homosexualität, verfestigte
das Bild des reichen Homosexuellen und etablierte das Mitleid mit jungen männlichen Prostituierten. Dennoch trug er nicht zur Liberalisierung der Homosexualität bei. Kritik an einer Bestrafung von Homosexuellen erhob sich kaum. Eine
gewisse Ausnahme bildete der Schriftsteller Bernhard Shaw, der mit einem Leser-
176
177
178
179
Vgl. die handschriftlichen Kommentare (wie „who told him?“) an den Zeitungsartikeln in:
TNA, DPP 1/95/2: 110; die Zusammenstellung in: Cuffe an Smith März 1890, in: TNA, DPP
1/95/6: 2–48.
Zum Parnellism and Crime-Skandal vgl. ausführlich Kap. V. 1.
So MacNeil im Unterhaus: Times 6. 3. 1890, S. 7.
Vgl. Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 341, Sp. 1573–1611.
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II. Homosexualität als Skandalon
brief an Laboucheres Zeitschrift Truth gegen Gesetze protestierte, die zwei
erwachsene Menschen wegen eines „private act“ verurteilten, der nur sie etwas
angehe und in Geschichte und Gegenwart stets bei einer Minderheit üblich gewesen sei.180 Laboucheres Blatt druckte selbst diesen Brief nicht ab. Denn schließlich war der radikale Politiker mit dafür verantwortlich gewesen, dass 1885 das
Gesetz zur Bestrafung von Homosexualität präzisiert worden war.
Die personellen Konsequenzen des Skandals lassen sich nicht ganz eindeutig
bewerten. Premierminister Salisbury konnte zwar seinen Posten vorerst behalten, war aber durch die Beschuldigungen angeschlagen. Salisburys Verwicklung
in diesen und andere Skandale dürfte zumindest mit dazu beigetragen haben,
dass die Tories die Wahl im folgenden Jahr verloren. Allerdings konnte Salisbury 1895 wieder für sieben Jahre in die Downing Street zurückkehren. Die
Mythenbildung um die homosexuelle Orientierung des potentiellen Thronfolgers Prince Eddy, der zwei Monate nach Abklang der Debatte wieder aus Indien
zurückkam, konnte Salisbury ebenfalls nicht verhindern. Das Königshaus bemühte sich umgehend um die Verheiratung des 27-jährigen Prinzen, um die moralische Ordnung herzustellen. Nur ein Jahr später verstarb er jedoch plötzlich
an einer Grippe, was wiederum das Gerücht beförderte, er sei vergiftet worden,
um einen Thronfolger mit einem derartig ausschweifenden Sexualleben zu verhindern. Da sein Vater sofort die Vernichtung seiner Korrespondenz anordnete,
lässt sich die Frage, ob der Prinz ebenfalls mit Jungen aus dem Bordell verkehrte,
weiterhin nur spekulativ beantworten.181
Die beteiligten Journalisten gingen langfristig gestärkt aus dem Skandal, auch
wenn er ihnen kurzzeitig schwere Belastungsproben auferlegte. Die North London Press wurde mit Parkes Verurteilung und Haft eingestellt. Langfristig war
Parkes offensives Auftreten und seine Berühmtheit, die er durch den Skandal
erlangte, für seine journalistische Karriere jedoch von Vorteil: Parke stieg nach
seiner Freilassung sogleich zum Editor des Star auf und wurde dann Gründer
und Herausgeber des Morning Leader. Henry Labouchere durchlitt zunächst
die versteckte Rache seiner nunmehr zahllosen Gegner, die ihn nach heutigem
Sprachgebrauch hinterhältig „mobbten“: Sie bestellten Leichenwagen und Einäscherungen für ihn, Luxusgüter an seine Adresse und angebliche Einladungen
und Geschenke in seinem Namen.182 Besonders schwer traf ihn, dass er 1892
nicht im Kabinett Gladstone berücksichtigt wurde, obwohl er zu den profiliertesten und bekanntesten liberalen Abgeordneten zählte. Offensichtlich hatte
Premierminister Gladstone Angst, Labouchere würde nach seinen Beschuldigungen zu sehr polarisieren. Auch die Zustimmung der Queen erschien nach
dem Skandal unsicher. Im Parlament blieb Labouchere jedoch bis zum Anfang
180
181
182
Shaw an Truth 26. 11. 1889, abgedr. in: Dan Laurence (Hrsg,), Bernhard Shaw. Collected Letters, Bd. 1: 1874–1897, London 1965, S. 230 f.
Vgl. auch die abgewogenen Vermutungen in der bislang ausführlichsten Darstellung: Aronson, Prince Eddy, S. 185–216.
Algar Labouchere Thorold, The Life of Henry Labouchere, London 1913, S. 368.
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4. West End Scandals
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des neuen Jahrhunderts äußerst aktiv und profilierte sich als einer der wichtigsten Sprecher.
Auch für die „Skandalopfer“ waren die Folgen ambivalent. Während Lord
Somerset bis an sein Lebensende im Ausland bleiben musste, konnte Lord
Euston anscheinend wieder gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen, obwohl er
zumindest zugegeben hatte, das Bordell wegen der vermuteten „Poses Plastique“
aufgesucht zu haben.183 Dies zeigte, dass ein Freispruch mit Rückendeckung in
den konservativen Medien selbst bei vermuteter Homosexualität zur Wiederherstellung der männlichen Ehre dienen konnte. Für Somersets Anwalt, der sich
durch seine Fluchthilfe klar der Rechtsbeugung schuldig gemacht hatte, setzten
sich zahlreiche Londoner Anwälte mit einer Unterschriftenpetition ein, und tatsächlich kam er mit einem milden Urteil davon.184 Er machte eine Karriere als
Staranwalt für prominente Fälle. Eine gewisse Bedrohung blieb der Bordellbesitzer Hammond, der sich zehn Tage nach Laboucheres Rede über ein Interview
im New York Herald meldete und sensationelle Enthüllungen ankündigte, vermutlich um Geld zu erpressen.185 Gerade hier zeigte sich die Transnationalisierung der Medienlandschaft: Selbst ein in die USA geflüchteter Zuhälter konnte
indirekt über die amerikanische Presse mit den britischen Politikern kommunizieren und diese vor massive Probleme stellen.
In gewisser Weise stand der Skandal schließlich für eine Verkehrung der
kulturellen Topographie Londons. In den 1880er Jahren hatten die Flaneure und
„Social Explorer“ das Londoner East End wie eine fremde Welt entdeckt und
mit voyeuristischer Neugier dessen Sexualität öffentlich thematisiert. Das East
End erschien hier als ein exotisches Gebiet, in der die bürgerlichen Regeln keine
Gültigkeit hatten.186 Mit dem Cleveland Street-Skandal drehte sich diese Perspektive um. Er machte öffentlich, dass mitten in London, reiche Bewohner des
Westens moralische Normbrüche begingen, die vielleicht noch spektakulärer erschienen als Steads berühmte Artikel über die Kinderprostitution im East End.
Nicht die armen Prostituierten erschienen allerdings im Zuge des Skandals als
Bedrohung, sondern adlige und wohlhabende Homosexuelle, die mittellose
Jungen durch ihr Geld verführten und dabei noch durch die Regierung gedeckt
wurden. Homosexualität war damit wie beim irischen Skandal vor allem ein
Thema, um über die Medien moralisch politische Machtkonstellationen zu attackieren. Die Skandale machten Homosexualität thematisierbarer, führten aber
gerade nicht zu mehr Toleranz. Vielmehr nahm zumindest in London die Zahl
der Verurteilungen wegen Homosexualität nach 1891 überproportional zu.187
183
184
185
186
187
So die Einschätzung von: Chester et al., The Cleveland Street, S. 220; Hyde, Cleveland Street,
S. 245.
Vgl. zu Newton von rechtshistorischer Seite: Martin Dockray, The Cleveland Street Scandal
1889–1890. The Conduct of the Defence, in: Journal of Legal history 17 (1996), S. 1–16.
Reynolds’s Newspaper 9. 3. 1890, S. 4.
Vgl. Walkowitz, City, S. 10 f.
Vgl. die Statistik in Cook, London, S. 151. Die eingangs genannte Kontinuität pro Einwohner
bezog sich dagegen auf landesweite Berechungen.
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II. Homosexualität als Skandalon
5. Grenzziehungen um 1900
Durch die beiden großen Skandale der 1880er Jahre etablierten sich Konfliktmuster für weitere Homosexualitätsskandale. Alle entsprechenden Enthüllungen nach 1890 waren sich dieser Präzedenzfälle bewusst. In der Tradition des
Dublin Castle-Skandals standen bereits, nur ein Jahr nach dem Cleveland StreetSkandal, die Vorwürfe gegen den Abgeordneten Edward Samuel Wesley de Cobain, welche die Iren und die Radikalliberalen nun zusammen erhoben. Dabei
verknüpften sie abermals das Bild des homosexuellen Besatzers und des unmoralischen Konservativen, der von der Regierung geschützt würde. Die Interaktion
zwischen der Presse und den beteiligten Politikern erinnerte an frühere Skandale und war ein erneuter Versuch, die irische Unabhängigkeit durch eine moralische Diskreditierung zu erreichen, da dies eine größere öffentliche Aufmerksamkeit versprach als konkrete Vorschläge zur „Home Rule“.
Der Fall Cobain machte wie bislang kein Skandal deutlich, dass auch aktive
Politiker homosexuell sein konnten. In diesem Fall erfuhr der Methodist Cobain, der für die Konservativen den Wahlkreis East Belfast vertrat, im April 1891
von einem Bericht in einer irischen Lokalzeitung, der einen bevorstehenden
Haftbefehl wegen Homosexualität andeutete. Wie die früheren Skandalopfer
floh auch Cobain sofort nach Frankreich und Italien, bevor anschließend der
Haftbefehl erfolgte.188 Erneut ergriffen der radikale Politiker und Journalist
Henry Labouchere und der irische Politiker und Journalist Tim Healy die öffentliche Initiative und machten den Fall zu einem Politikum, das sich gegen die
Konservativen richtete. Damit wurde deutlich, dass sich im Unterhaus Experten
für derartige Enthüllungen etabliert hatten. Sowohl der Irlandkonflikt als auch
die Gleichheit vor dem Gesetz bildeten wieder die Hauptargumentationslinien.
Und abermals drehte sich die Skandalisierung zunächst darum, das tabuisierte
Vergehen möglichst explizit in eine breite Öffentlichkeit zu bringen. Healy forderte die Einsetzung einer Special Commission, was die konservative Mehrheit
verhinderte. Um das Thema publik zu machen, fragte Healy zudem die Regierung dezidiert, weshalb genau der Haftbefehl ausgestellt worden sei und wer
noch verwickelt wäre. Damit zwang Healy die Regierung, die dann in allen Zeitungen abgedruckte Aussage zu machen, einer ihrer Abgeordneten würde „for
the offence of inciting to the commission of the felony“ steckbrieflich gesucht.189
Indem er Cobain als „Grand Master of the Orange Lodge“ bezeichnete, markierte er ihn als wichtigen Irengegner.
188
189
Pall Mall Gazette 17. 6. 1891, S. 5; Times 2. 5. 1891, S. 9, 10. 6. 1891, S. 6 und 15. 6. 1890, S. 10.
Da zu diesem Fall keine Akten ausfindig gemacht werden konnten, erfolgt seine Rekonstruktion über die Medien- und Parlamentsberichte zwischen April und Juli 1891 und Februar
1892.
Hansard’s Parliamentary Debates 20. 4. 1891 u. 21. 4. 1891, Bd. 352, Sp. 926 u. 1026; ebd.
8. 5. 1891, Sp. 365. Auch der irische Unionist Colonel Saunderson fragte dabei nach dem Haftbefehl. Vgl. zur öffentlichen Rezeption von Healys Agitation auch Times 21. 4. 1891, S. 6,
Times 22. 4. 1891 und 9. 5. 1891, S. 8.
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5. Grenzziehungen um 1900
87
Spezifisch an dem Fall war zweierlei. Zum einen kommunizierte der beschuldigte Politiker nach seiner Flucht über die Medien mit der Öffentlichkeit und
den Politikern im Parlament. Mehrfach schickte er rechtfertigende Briefe an
vertraute Politiker, die diese dann den Zeitungen überreichten. Cobain selbst
sah sich in diesen öffentlichen Briefen aus dem Exil als Opfer lokaler Belfaster
Intrigen. Wegen seiner Aussagen zum Polizeieinsatz bei den Belfaster Aufständen 1886 hätte er sich unbeliebt gemacht, weshalb sie jetzt seinen Erpressern
glaubten.190 Da er nervlich zerrüttet sei, müsse er sich aus gesundheitlichen
Gründen im Ausland aufhalten und sei nicht reisefähig. Öffentlich unterstützt
wurde Cobain dabei durch Resolutionen der Belfaster Independent Conservative Association, die ihren festen Glauben an seine Unschuld den Medien versicherte.191 Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Cobain und seine Anhänger
durch diese mediale Rechtfertigung auf sich zogen, hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt. Sie verhinderte gerade eine Beilegung des Falles.
Zum anderen war die gerichtliche Verfolgung eines geflohenen Abgeordneten
ein Novum. Im Unterschied zu anderen Fällen verhinderte sie die sonst übliche
stille Tolerierung der Flucht und machte eine Debatte über seine weitere Mitgliedschaft im Unterhaus erforderlich, wodurch die Liberalen und Iren den Skandal in der Öffentlichkeit hielten. Nachdem Cobain eine vom Parlament gesetzte
Frist bis zu seiner Rückkehr verstreichen ließ, stimmte die konservative Regierungsmehrheit ein halbes Jahr später Cobains Ausschluss zu. Wie Arthur Balfour in seiner Rede betonte, sahen die Konservativen hierin keine Entscheidung
über seine Schuld, sondern beschlossen dies offiziell nur, weil Cobain wissentlich trotz des Strafbefehls wegen „gross and criminal acts of indecency“ weder
in sein Land noch in das Parlament zurückkehre.192 Da dies erst der zweite Ausschluss in der Geschichte des Unterhauses war, führte der Fall zu einer grundsätzlichen Debatte, wie hierbei zu verfahren sei. Im Vergleich zu den vorherigen
Skandalen erreichte der Fall Cobains insgesamt jedoch trotz dieser Diskussionen keine derartige öffentliche Bedeutung, da es durch seine Flucht zunächst
zu keinem Prozess kam, der entsprechende Details hätte ausbreiten können.
Erst zwei Jahre später wurde Cobain verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis
verurteilt. Allerdings hatte der Fall nun keine politische Prominenz mehr.193 In
gewisser Weise lässt sich von einem verschleppten Skandal sprechen, dem ein
Kulminationspunkt mit umfassenden Enthüllungen fehlte.
Der Skandal um den Abgeordneten verstärkte erneut die Vorstellung, Homosexualität würde sich besonders in den Oberschichten zunehmend verbreiten,
weshalb verstärkt gegen sie vorzugehen sei. Nur vor dem Hintergrund der dargestellten Skandale ist auch der berühmte Fall von Oscar Wilde zu verstehen,
dem heute wohl bekanntesten Skandal der viktorianischen Ära. Da er bereits
190
191
192
193
Pall Mall Gazette 17. 6. 1891, S. 5.
Times 15. 5. 1891, S. 7.
Hansard’s Parliamentary Debates 26. 2. 1892, Bd. 1, Sp. 1401 f.
Dennoch finden sich Prozessberichte; vgl. Times 21. 3. 1893 und 22. 3. 1893, S. 10.
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II. Homosexualität als Skandalon
vielfältig untersucht wurde, ist eine ausführliche Darstellung verzichtbar.194 Zudem war er nicht im engeren Sinne politischer Natur. Sein Verlauf lässt sich dennoch als Ergebnis der Deutungen und politischen Implikationen der vorherigen
Skandale erklären. So war seine öffentliche Wahrnehmung maßgeblich durch
den Cleveland Street-Skandal und die hier etablierten Narrative geprägt. Bereits
Wildes Schlüsselroman „The Picture of Dorian Gray“ verstanden die Zeitgenossen in diesem Kontext. So hieß es in einer der vernichtenden Kritiken, Wilde
schreibe für „outlawed noblemen and perverted telegraph boys.“195 Ähnlich
wie bei den vorherigen Skandalen konstruierten seine insgesamt drei Prozesse
von 1895 erneut das Bild des reichen Homosexuellen, der aus seinem Müßiggang heraus arme Jungen verführt und prostituiert.
Dieses Narrativ wurde in der populären radikalen Presse entsprechend politisiert. Das Massenblatt Reynolds’s Newspaper bezeichnete im Zuge des WildeSkandals Homosexualität als „a common practice of our leisured and cultured
class“ und belegte dies mit einer knappen Erinnerung an die dargestellten Skandale der letzten Jahrzehnte.196 Direkt neben den Wilde-Artikeln druckte es zudem Berichte über andere gleichzeitige Homosexualitätsfälle und bediente sich
einer weitaus expliziteren Sprache, die direkt von „male prostitution“ oder
„sex“ sprach.197 In der radikalen Sonntagszeitung erschien London nun als Ort
der zunehmenden homosexuellen Überwältigung und die Gegenwart insgesamt
als „immoral revolution“, was die Polizei aber wegen des Reichtums der Homosexuellen toleriere. Der Schutz der Jugend gegen die homosexuellen „Corrupter
of the Youth“ stand dementsprechend auch im Vordergrund der öffentlichen
Debatte.198
Dabei kam es zumindest in der linksliberalen Presse zu einer weiteren Umdeutung der Ursachen für Unmoral. Während die bürgerlichen Sozialreformer
der 1880er Jahre Armut und schlechte Bildung als Grund für mangelnde Moral
angesehen hatten, wurden im Kontext des Wilde-Skandals die teuren und männerbündischen Privatschulen und Universitäten als Quelle der Homosexualität
gesehen. So kommentierte Reynolds’s Newspaper: „Innocent lads, with the
purity and refinement of home life in their hearts, become tainted with the traditional vices of these [public] schools and colleges before they have been many
months within their walls.“199 Zahlreiche Leserbriefe bestätigten dies in den
194
195
196
197
198
199
Aus der umfangreichen Literatur vgl. etwa: Neil McKenna, The Secret Life of Oscar Wilde,
London 2003; Michael S. Foldy, The Trials of Oscar Wilde. Deviance, Morality, and LateVictorian Society, New Haven und London 1997. Als Quelle jetzt sogar übersetzt: Merlin
Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör. Die erste vollständige Niederschrift des Queensberry-Prozesses, München 2003.
Zit. nach Hyde, Cleveland Street, S. 240. In Verbindung mit dem Cleveland Street-Skandal
sieht auch die neuere Literatur den Fall Wilde; vgl. Kaplan, Sodom, S. 224–251.
Vgl. bes. Reynolds’s Newspaper 26. 5. 1895, S. 1.
Reynolds’s Newspaper 14. 4. und 28. 4. 1895, S. 1; 5. 5. 1895, S. 8.
Vgl. auch Weeks, Sex, Politics and Society, S. 107.
Reynolds’s Newspaper 14. 4. 1895, S. 1.
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5. Grenzziehungen um 1900
89
Ausgaben der folgenden Wochen. Hier berichteten ehemalige Schüler erstaunlich offen über das Masturbieren in Privatschulen, bezeichneten sie als „hot-bed
of vice“ und warnten aus ihren eigenen homosexuellen Erfahrungen heraus vor
Privatschulen.200 Leserbriefe über den homosexuellen Verkehr an Oxforder
Colleges ergänzten dies. Selbst wenn diese Zuschriften erfunden waren, überführte das Blatt so die Empörung über Oscar Wildes Homosexualität in eine
grundsätzliche politische Debatte über das plutokratische und geschlechtergetrennte Bildungssystem. Zugleich erklärte Reynolds’s Newspaper Homosexualität wie im Cleveland Street-Skandal aus der Dekadenz der Oberschicht heraus,
die wie in Griechenland, Rom oder Frankreich stets den Niedergang einer Führungsschicht angezeigt habe.201
Von seinem Verlauf her unterschied sich der Fall Wilde von den meisten
Homosexualitätsskandalen im 19. Jahrhundert. Denn im Unterschied zu allen
skizzierten Fällen wurde Wilde zunächst weder von der Presse noch von der
Justiz der Homosexualität beschuldigt. Lediglich eine Karte des Marquis of
Queensberry, dem Vater von Wildes Liebhaber Lord Alfred Douglas, bezeichnete Wilde als „sodomite“. Wilde wählte jedoch im Unterschied zu den meisten
vorherigen Skandalen nicht die Flucht auf den Kontinent, die problemlos möglich gewesen wäre, sondern klagte gegen Queensberry wegen Verleumdung.
Vielleicht machte die erfolgreiche Verleumdungsklage, die Lord Euston im
Cleveland Street-Skandal gelungen war, auch Wilde Hoffnung auf eine ähnliche
Protektion vor Gericht.202 Erst der von Wilde initiierte Prozess überführte den
Vorwurf in die breite Medienöffentlichkeit und produzierte wieder jene detaillierten Aussagen von Zeugen, die erneut privat eingestellte Detektive ausfindig
machten. Queensberrys Detektive spürten dabei gut ein Dutzend männliche
Prostituierte auf, mit denen Wilde und seine mit angeklagten Freunde verkehrt
haben sollten. Damit knüpfte der Fall nahtlos an den Cleveland Street-Skandal
an und schien ihn zu wiederholen. Die erneut aufgezeigte intime Verbindung
zwischen armen und reichen Männern verunsicherte die bürgerlichen Zeitungen
ebenso wie der Umstand, dass gerade hochgebildete und verheiratete Männer
der Oberschicht homosexuell seien. Dass der Richter diesmal für Wilde und den
mit angeklagten Alfred Taylor die Höchststrafe von zwei Jahren Haft mit harter
Arbeit verhängte, ist nicht zuletzt ebenfalls als ein Ergebnis der vorhergehenden
Skandale zu bewerten. Das Urteil sollte nach der Flucht von Somerset und
Cobain den Ruf der Polizei und der Justiz wiederherstellen, öffentlich abschrecken und die Grenzen des Tolerierbaren nach den politisch bedingten milden
Urteilen neu abstecken.
200
201
202
Vgl. Reynolds’s Newspaper 21. 4. bis 2. 6. 1895, vgl. bes. 21. 4. 1895, S. 5; 25. 5. 1895, S. 3;
2. 6. 1895, S. 3.
Reynolds’s Newspaper 21. 4. 1895, S. 1.
Auch einige Zeitgenossen gingen von einem Sieg Wildes gegen den exzentrischen Lord aus
und sahen dessen Sieg als Überraschung; vgl. Tagebuch Hamilton 4. und 5. 4. 1895, in: David
Brooks (Hrsg.), The Destruction of Lord Rosebery. From the Diary of Sir Edward Hamilton
1894–1895, London 1986, S. 236.
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90
II. Homosexualität als Skandalon
Obwohl sich im Prozess viele Vorwürfe aus dem Cleveland Street-Skandal
wiederholten, wurden sie, der medialen Logik folgend, als noch nie gehörte
Neuigkeit stilisiert. Alle größeren Zeitungen verurteilten Wilde.203 Da der Prozess zugleich Wildes Kunstauffassung verhandelte, sah gerade die konservative
Presse das Urteil als einen wichtigen Schritt gegen das Vordringen französischer
Kultur.204 Oscar Wilde wurde dabei als „loathsome importer of exotic vice“ gesehen, der ein unenglisches Laster ins Land bringe.205 Die weiterhin bestehenden Grenzen des Darstellbaren belegten die zahlreichen Illustrationen der Illustrated Police News: Wilde wurde immer wieder im Zeugenstand oder in Haft
gezeichnet, nicht aber andeutungsweise sein Vergehen selbst.206
Immerhin fanden sich zumindest in der linksliberalen Presse einzelne Stimmen, die sich gegen die Verurteilung Homosexueller wandten. Dies geschah weniger durch Artikel von Journalisten als durch Leserbriefe. So wandte sich ein
Leser in der Reynolds’s Newspaper gegen die Zuschreibung „unnatural“, da
Homosexualität auch im Tierreich vorkomme. Ebenso trat er gegen die Verfallsthesen ein, da große Männer homosexuell gewesen seien, und gegen die Bestrafung, weil durch den privaten Verkehr niemand öffentlich gestört würde.207
Auch der linksliberale Star veröffentlichte neben der üblichen Kritik zumindest
einzelne verständnisvolle Zuschriften.208 Die vergleichsweise offene Aussprache
über Homosexualität, die sich aus den Skandalen entwickelt hatte, machte nun
also vereinzelte tolerante Deutungsangebote sagbar.
Unter den Journalisten war es ausgerechnet der moralistische Sensationsjournalist W. T. Stead, der Wilde quasi als einziger in gewisser Weise verteidigte, obgleich er Homosexualität generell ablehnte. In seiner Review of Reviews klagte
Stead, wenn Wilde wegen der Verführung von jungen Männern verurteilt würde,
deren Leben er vernichtet habe, dann müsse das gleiche Urteil auch für Männer
gelten, die das Leben von jungen Frauen durch Verführung zerstörten. Ebenso
unterstrich Stead die weite Verbreitung von Homosexualität innerhalb der Oberschicht: „If all persons guilty of Oscar Wilde’s offences were to be clapped into
goal, there would be a very surprising exodus from Eton and Harrow, Rugby and
Winchester, to Pentonville and Holloway“.209 Mit diesen Äußerungen knüpfte
203
204
205
206
207
208
209
McKenna, Oscar Wilde, S. 515. Dagegen sieht Graham Robb einen „widespread support for
Wilde“, wobei er außer Stead jedoch nur einzelne Künstler und Adlige aus Wildes Umfeld als
Beleg anführen kann; Robb, Strangers, S. 37 f.
Daily Telegraph 6. 4. 1895. Zeitungsartikel zum Prozess gedruckt in: Jonathan Goodman
(Hrsg.), The Oscar Wilde File, London 1988.
News of the World 26. 5. 1895.
Vgl. Illustrated Police News 13. 4. 1895, 4. 5. 1895, 18. 5. 1895, 1. 6. 1895.
Reynolds’s Newspaper 26. 5. 1895, S. 1. Allerdings druckte Reynolds nicht die angebotene
Verteidigungsschrift von James Wilson; vgl. John Stokes, Oscar Wilde: Myths, Miracles, and
Imitations, Cambridge 1996, S. 53–62.
Eine Analyse der Berichterstattung und vor allem des Star in: Foldy, The Trials, S. 61–65.
Die Orte spielen auf die englischen Eliteschulen und die Orte der Gefängnisse an; Review of
Reviews Mai 1895, S. 492. Ebenso druckte er einen Artikel von Artur Newman aus der Free
Review ab, der Wilde als Künstler verteidigte; Review of Reviews Juni 1885, S. 539.
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5. Grenzziehungen um 1900
91
Stead an den bereits im Cleveland Street-Skandal erkennbaren Trend an, Homosexualität im Kontext von Prostitution zu sehen. Zudem lässt sich Steads Unterstützung vielleicht auch damit erklären, dass Oscar Wilde in seiner Pall Mall Gazette seit 1886 Kritiken geschrieben hatte und er ihn daher kannte und schätzte.
Der Wilde-Skandal war freilich nicht nur über diese öffentlichen Diskurse
mit der politischen Sphäre verbunden. Vielmehr kam schnell das Gerücht auf,
dass der liberale Premierminister Lord Rosebery in Wildes Prozesse involviert
sei. Rosebery habe demnach eine Affäre mit dem ältesten Sohn von Queensberry
gehabt, den er als Privatsekretär beschäftigte, bis sich dieser erschoss. Der Premierminister war sich offensichtlich sofort bewusst, dass aus Wildes Prozess ein
Skandal von wesentlich größerem Umfang entstehen könnte. Am gleichen Tag,
als Queensberry Wilde mit seinem Brief zu einem Prozess herausforderte, kündigte Rosebery zumindest seinen Rücktritt an und fiel in eine nervliche Zerrüttung, die ihn arbeitsunfähig machte.210 Durch eine Indiskretion aus der Jury
erfuhr die französische Presse von seiner möglichen Verwicklung, so dass hier
Andeutungen über die Involvierung führender Liberaler erschienen, die wiederum in die Gespräche der Londoner Clubs einflossen.211
Bezeichnend ist jedoch, dass die britischen Zeitungen hierüber nicht berichteten. Dem Premierminister auf Verdacht öffentlich Homosexualität vorzuwerfen, war offensichtlich eine Grenze, die trotz der bevorstehenden Wahl nicht
überschreitbar war. Auch wenn Rosebery den Rücktritt zurückzog und sich
stattdessen im folgenden Monat abwählen ließ, hatte die vermutete Involvierung
des Premierministers beträchtliche Konsequenzen für den Prozess. Zumindest
einige Zeitgenossen nahmen bereits an, Queensberry habe intern ein Ultimatum
gestellt, er würde Belege für die Homosexualität des Premierministers und anderer liberaler Politiker an den Skandalisierer Henry Labouchere übergeben,
wenn Wilde nicht die Höchststrafe bekäme. Ob Wildes Urteil dem Premierminister eine derartige Anklage ersparte, ist durch keine überlieferte Quelle klar
belegt.212 Aber immerhin, und das ist bereits ein wichtiger Befund, erschien der
„Encounter“-Öffentlichkeit der Clubs nach den zahlreichen Skandalen denkbar, dass selbst die ranghöchsten Politiker homosexuell sein könnten und ihre
Stellung deshalb von der Diskretion der Journalisten abhing. Allerdings war
diese Annahme selbst in Tagebüchern nur andeutungsweise formulierbar. Das
Urteil sei „in order to shield others of a higher status in life“, formulierte etwa
Edward Hamilton in seinen privaten Aufzeichnungen.213 Und nur auf Wildes
210
211
212
213
McKenna, The Secret, S. 466, 472 und 514. Queensberrys Detektiv hatte ihm 1894 Zeugenaussagen von Zimmermädchen über das Verhältnis zum Premierminister übermittelt.
Revue Blanche 1. 6. 1896; Hyde, The Other Love, S. 148; ders., Oscar Wilde. A Biography,
London 2001 (Erstausgabe 1976), S. 205.
Als Indiz gilt u. a., dass Roseberys Gesundheit seit Queensberrys Vorwürfen völlig zusammenbrach und er erst nach Wildes Verurteilung wieder konzentriert arbeitsfähig war; vgl.
McKenna, The Secret, S. 425, 506 f. u. 540 f.; Foldy, Trials, S. 24–29.
Eintrag Tagebuch Hamilton 20. 5. 1895, in: Brooks (Hrsg.), Diary of Sir Edwald Hamilton,
S. 250.
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92
II. Homosexualität als Skandalon
Bitte hin verzichtete Alfred Douglas auf die Veröffentlichung eines Artikel in
einer französischen Zeitung, der anklagte, Wilde sei nur zum Schutz führender
Liberaler verurteilt worden, da die Polizei Listen mit Tausenden von Homosexuellen habe, gegen die sich nicht vorgehen würde.214
Die gesellschaftlichen Folgen des Wilde-Skandals wurden in der Forschung
bereits vielfach diskutiert. Viele Autoren schlossen sich zeitgenössischen Berichten an, die von einer panikartigen Flucht von Homosexuellen auf den Kontinent berichteten, was neuerdings wieder bezweifelt wird.215 Viele Zeitgenossen und spätere Historiker gingen zudem von einer Zunahme der strafrechtlichen Verfolgungen aus. Dies bestätigen die Statistiken nicht. Lediglich die
Verurteilungen wegen Aufforderungen zu homosexuellen Handlungen stiegen
an.216 Ebenso wurde argumentiert, dass in England durch den Wilde-Skandal
keine vergleichsweise offene Diskussion über Homosexualität wie in Deutschland eingesetzt habe.217 Allerdings ließe sich dagegen anführen, dass im Zuge
des Cleveland Street- und Wilde-Skandals überhaupt erst ab 1896 entsprechende
Schriften in England aufkamen und die Skandale immerhin ein freieres Sprechen
über Homosexualität ermöglichten.
Auffällig ist schließlich, dass es in den folgenden Jahren vorerst zu keinen
vergleichbaren Skandalen um Homosexualität mehr kam. Die bisherigen Skandale waren vermutlich selbst für die Medien eine solche Schockerfahrung, dass
sie stärker versuchten, derartige Veröffentlichungen zu verhindern. Denn selbst
wenn man davon ausgeht, dass sich die britischen Homosexuellen nach den
Skandalen um äußerste Diskretion bemühten, erklärt dies nicht allein, warum
die Skandalwelle abebbte. Vielmehr lässt sich die These erwägen, dass die Skandale nicht nur eine Repression homosexueller Praktiken schufen, sondern auch
eine gewisse Toleranz, die sich in der kollektiven Vermeidung von derartigen
Skandalen niederschlug.
Um den Umgang mit prominenten Homosexualitätsvorwürfen nach diesen
großen Skandalen der 1890er Jahre zu untersuchen, lohnt ein abschließender Blick
auf den „blockierten“ Skandal um den schottischen Kolonialhelden Hector MacDonald. Dem Generalmajor wurde 1903 vorgeworfen, mit mehreren singalesischen Jungen in einem Bahnwagon in Ceylon masturbiert zu haben. Dieser Fall
wies damit prinzipiell alle Vorraussetzungen auf, um eine ähnlich große öffentliche Wirkungsmacht wie die spätviktorianischen Homosexualitätsskandale zu
entwickeln. Das lag zunächst am Protagonisten. MacDonald war spätestens seit
dem Burenkrieg berühmt, und die Medien berichteten häufiger über ihn.218 Aus
214
215
216
217
218
Auszüge aus diesem Manuskript in: Regenia Gagnier, Idylls of the Marketplace. Oscar Wilde and the Victorian Public, Aldershot 1987, S. 205 f. Gagnier konzentriert sich ansonsten jedoch auf die Rezeption von Wildes Werk.
Vgl. Robb, Strangers, S. 36.
Ebd., S. 272 f.
Lauritsen und Guldin, Englische Forschungen, S. 70.
Noch kurz vor Beginn des Skandals gab es am 21. 2. 1903 sogar im Unterhaus eine Anfrage
nach MacDonalds Gesundheitszustand; Times 22. 2. 1903, S. 4.
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5. Grenzziehungen um 1900
93
einfachen Verhältnissen stammend, hatte MacDonald nach Kämpfen in diversen
Kolonien im Burenkrieg als Regimentskommandeur gedient, anschließend in Indien und Ceylon.219 Da MacDonald den Vorwürfen zufolge mit armen Jungen
verkehrte, knüpfte der Fall an das bislang etablierte Narrativ der homosexuellen
„Corruption of the Youth“ und der Ausnutzung sozialer Unterschiede an. Zugleich verlagerte dies den Diskurs in einen kolonialen Kontext. Durch die Kritik,
die im Burenkrieg an den militärischen Praktiken des Kolonialismus aufkam,
stand MacDonald inmitten weiterer politischer Konfliktlinien. Denn zumindest
moralisierende Journalisten wie W.T. Stead und C.P. Scott hatten sich im Burenkrieg scharf gegen die koloniale Kriegsführung gewandt und dabei besonders in
der Debatte über die „Concentration Camps“ Unterstützung von prominenten
Liberalen erhalten.220 Eine entsprechende Enthüllung versprach zudem eine breite Medienaufmerksamkeit, da gerade Homosexualität im Militär ein besonders
sensibler Tabubereich war.
Dennoch verlief der drohende Skandal anders als seine Vorläufer im Jahrzehnt
zuvor. Sein Beginn wies noch gewisse Ähnlichkeiten zu den vorherigen Fällen
auf. Als Ceylons Gouverneur Joseph West-Ridgeway Mitte Februar 1903 von
den Beschuldigungen erfuhr, schlug er, aus Angst vor der Medienöffentlichkeit,
statt einer Untersuchung die sofortige Ausreise MacDonalds und anschließende
Versetzung vor, obgleich homosexueller Verkehr in Ceylon nicht strafbar war.
Dem Londoner Kolonialministerium deutete er dies nur telegraphisch an: „His
immediate departure is essential to save grave public scandal which I cannot
explain by telegraph.“221 Dementsprechend meldete auch die britische Presse
zunächst lediglich seine Rückkehr.222 Da MacDonald in Gesprächen im Kriegsund Kolonialministerium seine Unschuld beteuerte, verlangten die Minister jedoch für seinen Verbleib in der Armee die Wiederherstellung seiner Ehre vor
einem Kriegsgericht in Ceylon, woraufhin er die Rückreise antrat. Obwohl die
Journalisten in Ceylon von dem unbestätigten Gerücht wussten, sahen sie von
Berichten zunächst ab.
Erneut überführten erst eine parlamentarische Aussage und die Ankündigung
eines Prozesses den Homosexualitätsvorwurf in die breite Medienöffentlichkeit.
In die Zeitungen der gesamten westlichen Welt gelangten die Beschuldigungen,
als Gouverneur Ridgeway im Legislative Council in Ceylon auf die Anfrage, wo
219
220
221
222
Zu seinem Lebensweg liegen entsprechend mehrere Biographien vor, die jedoch den Skandal
und vor allem dessen öffentliche Thematisierung kaum berücksichtigten; vgl. bes. Trevor
Royle, Death before Dishonour. The True Story of Fighting Mac, Edinburgh 1982; sowie:
John Montgomery, Toll for the Brave. The Tragedy of Hector MacDonald, London 1963;
Kenneth MacLeod, The Ranker, The Story of Sir Hector MacDonald’s Death, Cortland
1976; knappe Hinweise in: Hyam, Empire and Sexuality, S. 33–35.
Vgl. einführend zur öffentlichen Debatte hierüber: Paula M. Krebs, Gender, Race, and the
Writing of Empire. Public Discourses on the Boer War, Cambridge 1999. S. 32–54. Vgl. auch
Kap. IV. 3.
Ridgeway an Colonial Office 19. 2. 1903, in: TNA, CO 537.
Times 20. 2. 1903, S. 8.
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94
II. Homosexualität als Skandalon
MacDonald sei, antwortete: „It is known to all here that grave, very grave
charges have been made against Sir Hector Macdonald.“223 Nach einer Beratung
in London wolle er diese vor einem Kriegsgericht klären. Und obwohl der Gouverneur sich nur vor lokalen Journalisten geäußert hatte, gelangte seine Antwort
dank des Telegraphen- und Korrespondentennetzes von Reuters und Central
News sofort in alle großen Redaktionen der westlichen Welt. Schon am nächsten Tag schrieben die großen englischen Qualitätszeitungen – wie die Times, die
Daily News oder der Daily Chronicle – über die „very grave charges“.224 Die
Daily News berichtete dabei auch unter der Überschrift „Opinion at the clubs“,
dass sich die Offiziere schon am Vortag über den Fall unterhalten hätten.
„Buller’s affair was a mere fleabite to Macdonald’s trouble. He was the idol of
the army […]“, wurde ein Offizier zitiert. Dennoch lobten ihn alle Offiziere
und meinten, er komme aus der Sache raus, die ihm Feinde und „scandalmongers“
eingebrockt hätten.225 Auch eine deutsche Qualitätszeitung wie das Berliner
Tageblatt schrieb unzweideutig über MacDonalds „Verbrechen, das nicht näher
bezeichnet werden kann.“226 Abermals hielt sich dagegen das vermeintliche
britische Sensationsblatt par excellence, die Boulevardzeitung Daily Mail, völlig
mit Meldungen zurück.227 Hector MacDonald befand sich am gleichen Tag gerade im Frühstücksraum eines Pariser Hotels, als er in der europäischen Ausgabe des New York Herald einen entsprechenden Bericht über jenes transnationale Medienereignis entdeckte, in das sich der Vorwurf gegen ihn verwandelt
hatte („Grave charges lie on Sir Hector MacDonald“).228 Daraufhin ging er in
sein Zimmer und erschoss sich.
Sein Selbstmord lässt sich zunächst mit dem militärischen Ehrenkodex erklären. Er war aber auch eine Reaktion auf die vorhergehenden Skandale. Wie
bereits zeitgenössische Studien zur Homosexualität ausmachten, waren Selbstmorde und Selbstmordgedanken unter Homosexuellen gerade wegen der Angst
vor Skandalen weit verbreitet.229 Skandale wie die um Wilde, Cobain oder
Somerset dürften MacDonald gezeigt haben, welche lang anhaltende öffentliche
Demütigung ihm bevorgestanden hätte. Sein Entschluss stand ebenso in einem
lockeren Zusammenhang mit dem deutschen Skandal um Friedrich Alfred
Krupp, der nur wenige Monate zuvor nach Presseberichten über seinen homo223
224
225
226
227
228
229
Daily Chronicle 25. 3. 1903; Times 25. 3. 1903; Daily News 25. 3. 1903, S. 7.
Vgl. ebd.
Daily News 25. 3. 1903, S. 7.
Berliner Tageblatt Nr. 151, 25. 3. 1903.
Vgl. Daily Mail 25. 3. 1903; auch am 26. 3. 1903 wird nichts Genaueres über die Vorwürfe
gemeldet.
In der bisherigen Literatur wird betont, dass MacDonald sich wegen der Meldung in der amerikanischen Zeitung erschossen habe, die damit die Verantwortung hierfür erhält. Unerwähnt
bleibt damit, dass auch englische Qualitätszeitungen am gleichen Tag hierüber geschrieben
hatten und somit ebenfalls das Tabu brachen, das zu seinen Tod beitrug; vgl. dagegen etwa
Royle, Death, S. 130.
Vgl. zu diesen zeitgenössischen Studien und Schätzungen von Hirschfeld u. a.: Stümke, Homosexualität, S. 29 f.
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5. Grenzziehungen um 1900
95
sexuellen Verkehr mit italienischen Jungen schlagartig verstarb – vermutlich
ebenfalls durch Selbstmord, um einem Skandal zu entgehen. Eine Emigration,
wie sie im 19. Jahrhundert noch üblich war, war in einer medialen Welt für Prominente ohnehin keine echte Lösung mehr. Der Freitod machte nun den weiteren Verlauf des Skandals ungewiss, da er dem Fall eine komplexe Wendung
gab: Einerseits erhöhte der Selbstmord die Publizität des Falles um ein Vielfaches und wirkte wie ein Schuldeingeständnis. Andererseits verhinderte er detaillierte Enthüllungen im Zuge eines Prozesses und legte der Öffentlichkeit
Pietät gegenüber dem Toten nahe. Damit war offen, ob die Nachrufe seine militärischen Verdienste oder die Enthüllungen thematisierten.
Tatsächlich entschied sich die ganz überwiegende Mehrheit der Zeitungen dafür, Hector MacDonald trotz der Homosexualitätsvorwürfe in den höchsten
Tönen zu loben. Lange Beschreibungen seines Lebensweges und seiner militärischen Einsätze standen neben allenfalls marginalen Andeutungen zu den Vorwürfen. Selbst die liberale Daily News, die sich im Burenkrieg besonders gegen
koloniale Gewalt gerichtet hatte, berichtete unter der Überschrift „From Farm
to Fame“ lobend über seinen Aufstieg und seine Kämpfe.230 Die öffentliche
Empörung richtete sich stattdessen gegen diejenigen, die für die Veröffentlichung der letztlich tödlichen Vorwürfe verantwortlich seien. Da die amerikanische Presse in Großbritannien generell als sensationsgierig galt, wurde ihr die
Schuld an seinem Tod gegeben – obwohl die britischen Qualitätszeitungen zeitgleich ähnliche Berichte gedruckt hatten. Lieutenant Colonel Stuart Wortley
schreibt gleich nach dem Tod einen entsprechend anklagenden Leserbrief an den
New York Herald, den wiederum die englischen Zeitungen befriedigt abdruckten, da er sie von einer Mitschuld entlastete.231
Dieser liberal-konservative Konsens wurde freilich erneut durch die linke
Reynolds’s Newspaper durchbrochen, die den Fall in die Narrative der letzten
Skandale und in die Klassenfrage einlas und nun zusätzlich mit einer Imperialismuskritik verband: „The charge because of which Lieutenant-General Hector
Macdonald committed suicide is a common vice among the well-to-do classes in
London, both sexes of whom luxury, idleness, and Imperialism have thoroughly
corrupted. Needless to say that he was accused of a sexual offence.“232 Aus
MacDonalds Fall leitete sie generelle Aussagen über große Soldaten ab, bei denen ein „exaggerated animalism“ typisch sei. Sie überführte die Vorwürfe zudem in eine direkte Kritik an der Regierung, die schon lange Bescheid gewusst
habe und durch ihr Beharren auf ein Kriegsgericht den Tod verursachte. Ver230
231
232
Vgl. Daily News 26. 3. 1903, S. 12; Times 26. 3. 1903, S. 8 und 27. 3. 1903, S. 3; Westminster
Gazette 26. 3. 1903.
„The publication you gave in your issue of yesterday and your manner of wording it, was sufficient to cause dismay to any men, whether guilty or not, of the crimes you have accused; but
unfortunately all public men and their lives are public property nowadays as to certain sections of the press.“ Wieder abgedruckt etwa ihn: Daily News 30. 3. 1903, S. 12; Reynolds’s
Newspaper 5. 4. 1903, S. 4.
Reynolds’s Newspaper 29. 3. 1903, S. 1.
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96
II. Homosexualität als Skandalon
weise auf andere Skandale, wie auf den Cleveland Street-Fall und die KruppAffäre erhärteten ihre Anklage gegen die politische Führung; „even as the Krupp
incident helped to show the German people the iniquity of their rulers.“ Die
deutsche Presse blieb bei ihren Berichten über MacDonalds Tod zwar von ihren
Wertungen her zurückhaltender, versuchte aber zumindest im Zuge der Ermittlungen die Ursachen des „Sittlichkeitsverbrechens“ auszumachen.233
Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass die Öffentlichkeit MacDonald trotz der
Homosexualitätsvorwürfe ehren wollte, die konservative Regierung ihm hingegen aus Angst vor einer Eskalation des Skandals jede öffentliche Anteilnahme
verweigerte. Da das Kolonialministerium intern von ähnlichen Vorwürfen gegen MacDonald aus Südafrika und Indien erfahren hatte, ging es im hohen Maße
von seiner Schuld aus. Die Regierung setzte sich erst für ein unauffälliges Begräbnis in Paris ein, dann auf Wunsch von MacDonalds Angehörigen für eine
geheim gehaltene Beerdigung in Schottland – ohne jede militärische Ehre. Gerade dagegen wehrten sich jedoch weite Teile der Öffentlichkeit. Bereits gegen die
heimliche Beerdigung erhoben sich vielfältige Proteste. Schon einen Tag, nachdem das Begräbnis bekannt wurde, kamen rund 30 000 Menschen zu dem Friedhof, und zumindest nach den Medienberichten riss dieser Besucherstrom auch
in den folgenden Wochen nicht ab.234 Gut eine Woche später kamen bereits verschiedene Kirchenvertreter, „clan societies“ und andere „Highland associations“
zusammen, um den Bau eines Denkmals für ihn zu planen.235 Zudem versuchte
ein Komitee, MacDonalds Unschuld zu beweisen.236 Ebenso wurde im Unterhaus dem Kolonialminister Chamberlain vorgeworfen, die Bekanntgabe der
Vorwürfe sei eine Vorverurteilung gewesen. Durch diese vielfältigen Sympathiebekundungen an MacDonald kam es zu einer Verlagerung der Empörung: Sie
richtete sich nicht mehr gegen den vermeintlichen Homosexuellen, sondern gegen das Verhalten der Regierung.
In dieser öffentlichen Unterstützung MacDonalds zeigten sich unterschiedliche, sich überlagernde Umgangsweisen mit den Homosexualitätsvorwürfen.
Indem die Öffentlichkeit sie ignorierte, stellte sie einerseits wieder eine moralische Ordnung her, in der Homosexualität nicht existent war. Andererseits
bedeutete die Zurückstellung der öffentlichen Vorwürfe zugleich eine gewisse
Akzeptanz möglicher Homosexualität oder zumindest das Zugeständnis, dass
Verdienste für das Land diese Vermutung aufwiegen können. Dabei galt selbst
der Freitod nicht als Schuldeingeständnis oder aus religiösen Deutungen heraus
als problematisch. Vielmehr erschien MacDonald als ein Opfer der Medien und
ihrer Skandalisierungen. Zugleich ist anzunehmen, dass die Zeitungen durch
233
234
235
236
Vgl. bes. die Berichte in Vossische Zeitung und Berliner Tageblatt ab 25. 3. 1903.
Reynolds’s Newspaper 12. 4. 1903, S. 4; Royle, Death, S. 137.
Times 10. 4. 1903, S. 8; Times 11. 5. 1903, S. 6.
Da das Kolonialministerium sicherheitshalber die Akten über den Fall unmittelbar nach seinem Tod zerstörte, ist diese Schuldfrage auch für Historiker nicht zu beantworten; vgl. bereits
Hyam, Empire, S. 34
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
97
MacDonalds Tod selbst über die möglichen Folgen ihrer Berichterstattung so
erschüttert waren, dass sie Homosexualität in den folgenden Jahren wieder
stärker in der Sphäre des Geheimen beließen. Vergleichbare Skandale wie in den
1880er und 1890er Jahren traten nun zumindest bis zum Ersten Weltkrieg nicht
mehr auf. Vielmehr verlagerte sich die Welle der Homosexualitätsskandale ab
1900 nach Deutschland.
6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
Vor allem die breite Berichterstattung über Oscar Wildes Skandal stieß in ganz
Westeuropa öffentliche Diskussionen darüber an, was Homosexualität eigentlich ausmache und wie sie zu bewerten sei. Gerade in Frankreich, wo durch die
liberalen Gesetze entsprechende Skandale ausblieben, verhalfen die zahlreichen
Artikel über den Wilde-Prozess dazu, öffentliche Vorstellungen über Homosexualität zu konstruieren.237 In Deutschland kamen 1895/96 nicht nur zahlreiche
Publikationen auf, die den Wilde-Prozess und Homosexualität generell thematisierten. In Reaktion auf den Prozess formierten sich auch die Homosexuellenbewegung und erste Homosexuellenzeitschriften, wie das Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen und die von Adolf Brand herausgegebene Zeitschrift Der Eigene.238 Indem die Journalisten anderer Länder die britischen Fälle aufgriffen, bereiteten sie allerdings auch den Transfer entsprechender Skandale vor.
Ein deutscher Journalist, der aus London besonders ausführlich über die englischen Homosexuellenprozesse berichtete, war der Sozialdemokrat Eduard
Bernstein. In dem eher programmatisch ausgerichteten SPD-Blatt Die Neue
Zeit nahm er den Wilde-Skandal zum Anlass, um grundsätzlich den sozialdemokratischen Standpunkt zur Homosexualität zu reflektieren. Tatsächlich
hatten sich die Sozialdemokraten bislang kaum mit ihr auseinandergesetzt.
Bernstein kritisierte, in der SPD würde mehr „verurteilt statt beurteilt“. Er monierte gängige Zuschreibungen wie „widernatürlich“ und betonte, Homosexualität sei nicht nur in Verfallszeiten zu finden, sondern in allen Kultur- und Naturstufen. Zudem sei es eine Form der Doppelmoral, Verkehr mit Frauen zu tolerieren, der nicht der Kinderzeugung diene, sondern ein „reiner Genussakt“ sei,
hingegen den zwischen Männern zu bestrafen.239 Mit seiner sowohl historischen
als auch medizinischen Argumentation schloss Bernstein an englische und deutsche Reformdiskurse an. Bernstein wehrte sich zwar dagegen, dass sich der Staat
237
238
239
Nancy Erber, The French Trials of Oscar Wilde, in: Journal of the History of Sexuality 6
(1996), S. 549–588.
Vgl. zu den Blättern: Marita Keilson-Lauritz, Die Geschichte, S. 27 f.
Eduard Bernstein, Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs, in: Die Neue
Zeit 13. 2 (1895), S. 228–233; wichtige Hinweise in: W.U. Eissler, Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur Sexualpolitik von SPD und KPD in der Weimarer Republik, Hamburg
1980, S. 39 f. Bernsteins Diktum über die bislang tatsächlich wenig ausgearbeitete Position der
Sozialdemokratie richtete sich gegen frühere Andeutungen von Bebel.
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98
II. Homosexualität als Skandalon
die Rolle des Moralwächters anmaße. Auf der normativen Ebene formulierte
Bernstein jedoch eine Position, die sich innerhalb der Sozialdemokratie bei allen
späteren Skandalen als wirkungsmächtig erwies: „Es ist vielmehr in jedem einzelnen Fall zu unterscheiden, ob wüste Ausschweifungen oder eine unüberwindliche Liebe zum eigenen Geschlecht vorliegt, die nicht sittenrichterlich,
sondern pathologisch zu beurteilen ist.“240 Diesem offenen Diktum folgend,
verurteilte er auch Oscar Wildes Verhalten als „päderastisch“ und nicht akzeptierbar. In Folge der Wilde-Debatte und Bernsteins Überlegungen traten auch
die Sozialdemokraten insgesamt für die Straffreiheit von Homosexualität ein,
verurteilten aber fallweise „Ausschweifungen“, die sie besonders der Oberschicht zuschrieben.241
Die deutsche Rezeption des Wilde-Skandals hatte zudem eine weitere Auswirkung auf die Agitation der Sozialdemokratie, ihren Umgang mit Homosexualität und das Aufkommen von Skandalen. 1897 hatte der führende Berliner
Sexualwissenschaftler, Magnus Hirschfeld, auch in Reaktion auf Wildes Verurteilung, eine Petition zur Abschaffung des § 175 organisiert, die August Bebel
unterstützte und am 13. Januar 1898 im Reichstag begründete.242 Die englischen
Skandale führten somit zumindest indirekt zu dem Versuch, die deutsche Gesetzgebung zu liberalisieren. Bestraft werden sollten Homosexuelle nur, wenn
Gewalt angewendet würde, ein Beteiligter unter 16 sei oder sie ein öffentliches
Ärgernis erregten. Gerade weil diese Forderung im Reichstag keine Chance auf
eine Mehrheit hatte, setzte Bebel in der Debatte jedoch auf eine Strategie, die
Bernsteins Zweiteilung in dekadente und zulässige Homosexualität aufgriff. Bebel forderte, um die Doppelmoral der bürgerlichen Abgeordneten und der Regierung vorzuführen, die „rosa Listen“ der Berliner Sittenpolizei zu öffnen, in
der sich die Namen aus höchsten Kreisen finden würden. „Würde auf diesem
Gebiet die Berliner Polizei – ich will zunächst nur einmal von dieser reden – ihre
volle Pflicht und Schuldigkeit tun, dann gäbe es einen Skandal, gegen den der
Panamaskandal, der Dreyfusskandal, der Lützow-Leckert- und der TauschNormann-Schumann-Skandal das reine Kinderspiel sind.“243 Dieser erpresserische Verweis, bei dem viele Zuhörer und Leser Namen assoziieren konnten,
bildete gewissermaßen den Beginn späterer Kampagnen, mit denen die SPD die
Doppelmoral der Eliten anprangerte. Der Sprengkraft eines derartigen Skandals
um einen prominenten Homosexuellen, das unterstrich Bebels Rede, waren sich
die Sozialdemokraten bewusst. Nicht zuletzt aus den englischen Skandalen
kannten sie dessen Wirkung.
240
241
242
243
Bernstein, Die Beurtheilung, S. 231.
Diese normative Zweiteilung findet sich auch in der auflagenstärksten Schrift eines damaligen
Sozialdemokraten: August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1909, S. 148
(Erstaufl. 1878).
Lautmann und Taeger, Sittlichkeit, S. 243.
Verhandlungen des Reichstages 13. 1. 1898, Bd. 159, 16. Sitz., S. 410. Die Existenz dieser Listen
ist umstritten und ihre Bezeichnung variierte; in den Archiven ließen sich keine fundierten
Spuren von ihnen finden.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
99
Die Probe aufs Exempel erfolgte am 15. November 1902 mit einem Artikel im
Vorwärts, der dem Unternehmer Friedrich Alfred Krupp explizit homosexuellen Verkehr auf der italienischen Insel Capri vorwarf.244 Dass diese Enthüllung
ausgerechnet Krupp traf, hatte vielfältige Gründe. Nicht allein die exzeptionelle
Größe seines Unternehmens, das immerhin rund 50 000 Menschen beschäftigte,
war entscheidend, sondern vor allem Krupps herausragende öffentliche Stellung. Krupp war wie kaum eine andere Person eine Projektionsfläche für weltanschauliche Ressentiments. Dank seiner Rüstungsproduktion repräsentierte
Krupp die militärische Expansion Deutschlands, und durch seine guten Kontakte zum Kaiser stand er für den Schulterschluss zwischen Monarchie und bürgerlichen Eliten. Das politische und soziale Engagement der Unternehmensführung machte Krupp zudem zum Sinnbild einer paternalistischen Bekämpfung
der Sozialdemokratie.245 Die Sozialdemokraten hatten deshalb in den Jahren
zuvor immer wieder versucht, Krupp durch verschiedene Kampagnen in Skandale zu verwickeln und ihn moralisch zu diskreditieren. So hatten sie im Reichstag – zusammen mit Teilen des Zentrums und der Liberalen – dem Unternehmen mehrfach Preisüberhöhungen bei Panzerplatten vorgeworfen, die er zudem
den USA billiger liefere als dem Reich.246 Ebenso stellten viele Artikel und Karikaturen Krupp als jemanden dar, der auf unpatriotische Weise mit jedem Land
Waffengeschäfte mache.247 Ernsthaft schaden konnten diese Vorwürfe Krupp
nicht. Dennoch intensivierte Krupp daraufhin seine Öffentlichkeitsarbeit.248
Gegenüber dem Vorwurf der Homosexualität konnte dies jedoch ebenso wenig
helfen wie seine Verbindungen zum Kaiser und zur Reichsleitung.
Die Enthüllung des Vorwärts war zwar spektakulär, sie erschien aber im Falle
Krupps nicht abwegig genug, um sie einfach als abstruse Verleumdung zu übergehen. Dass Krupp seit 1898 jährlich oft mehrere Monate auf Capri verbrachte,
war der Öffentlichkeit durch zahlreiche Illustriertenberichte bestens bekannt.
Krupps Interesse an der Tiefseeforschung, gesundheitliche Probleme und eine
gewisser Überdruss am Essener Unternehmens- und Familienalltag galten als
wesentliche Gründe für diese langen Reisen, die er meist ohne seine Ehefrau
machte. 1902 verbrachte er den Großteil des Jahres dort und kam bis zum Sommer lediglich kurz nach Essen.249 Bis Oktober 1902 schaffte er sich in Capri einige Besitzungen an, wie ein Hotel, eine Villa mit Weinhängen, die berühmte
244
245
246
247
248
249
Vorwärts 15. 11. 1902, S. 2 f.
Aus der umfangreichen Literatur zu dem Unternehmen und seinen Besitzern vgl. bes. Lothar
Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000; kritisch, mit vielen Ungenauigkeiten: William Manchester, Krupp. Chronik einer Familie, München 1978.
Vgl. generell zu den Kampagnen im 19. Jahrhundert und Krupps Reaktionen: Barbara
Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, München 2000, S. 283 f., 295 f.
Vgl. Kladderadatsch 17. 3. 1901; Wahre Jacob 6. 5. 1902; Ulk 15. 7. 1900 u. 7. 9. 1902. Diese
und weitere Ausschnitte in: HAK, FAH 3 D 19.
F.A. Krupp an Wilhelm II., 27. 7. 1897, in: GStA, BPH Rep. 53 J, Lit. K, Nr. 11–18.
Zu Krupps Reisen nach Capri vgl. die Unterlagen in: WA XVII 6. Vgl. zudem: Carlo Knight,
Die Capri-Utopie von Krupp/L’Utopia Caprese di Krupp, Neapel 1989, bes. S. 50–62.
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100
II. Homosexualität als Skandalon
Grotte Fra Felice und einige andere Grundstücke.250 Krupps Unterstützung der
Inselbewohner, die die bürgerlichen Zeitungen bislang priesen, erhielt durch
den Vorwärts eine Umdeutung. Dass die angeblichen Ausschweifungen auf
einer fernen Insel stattgefunden haben sollten, war für den Vorwärts ebenfalls
von Vorteil: Wie bei den Kolonialskandalen erhöhte dies die Imaginationsräume
der Leser und erschwerte zugleich die Überprüfung der Vorwürfe.
Obgleich der Vorwärts keine echten Belege hatte, erschienen seine Beschuldigungen vielen Lesern, Journalisten und Politikern nicht ganz unbegründet. Zumindest in gebildeten Kreisen und der Berliner Elite war Capri als Treffpunkt
Homosexueller bekannt. Die Protagonisten der englischen Homosexualitätsskandale kamen ebenfalls hierher. So wohnten Alfred Douglas und Oscar Wilde
unmittelbar nach Wildes Freilassung sogar im gleichen Hotel wie Krupp.251
Dass auch deutsche Homosexuelle hierher reisten, erfuhren die Zeitungsleser
im Zuge des Krupp-Skandals etwa durch die zeitgleiche Verhaftung des homosexuellen Malers Wilhelm Allers, der in Capri neben Krupps Hotel wohnte und
mit ihm befreundet war.252 In Berlin gab es anscheinend seit längerem Gerüchte
über Krupp, wie die Vossische Zeitung betonte.253 Am Hof, so berichtet Graf
Robert Zedlitz-Trützschler, sprach man öfters darüber, dass Krupp „ein merkwürdiges Interesse für männliche Künstler, Kellner und überhaupt junge Männer
hatte“, sie förderte und ihnen öffentlich den Kopf streichelte.254 Die professionellen Beobachter von Homosexualität teilten diese Einschätzung über Krupp.
Magnus Hirschfeld meinte, aus „sicherer Quelle“ vor einiger Zeit gehört zu
haben, Krupp habe sich wegen seiner Homosexualität von einem Berliner Arzt
behandeln lassen.255 Der zuständige Berliner Kommissar für Sittendelikte, Hans
von Tresckow, wusste angeblich, dass Krupp bei seinen Besuchen im Berliner
Hotel Bristol nur private junge Diener hatte, die er extra aus Italien kommen
ließ.256 Aus diesem Grunde hätte die Sittenpolizei Krupp auch in seinen „rosa
Listen“ geführt, auf die Bebel 1898 in seiner drohenden Reichstagsrede angespielt hatte. Auch wenn Krupps „wahres“ Privatleben hier nicht zur Debatte
steht, prägten diese latenten Gerüchte zumindest das Aufkommen und den Verlauf des Skandals.
250
251
252
253
254
255
256
Vgl. die Aufstellungen nach seinem Tod in: Haux an Lo Bianco, 30. 12. 1902 und 20. 1. 1903,
in: HAK, FAH III 67: 11 und 25 f.
Vgl. hierzu James Money, Capri. Island of Pleasure, London 1986, S. 54 f. Zu den englischen
Capri-Reisenden 1895 zählten etwa William Somerset Maugham, Edward Frederick Benson
und John Ellingham Brooks.
Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 558, 28. 11. 1902.
Vossische Zeitung Nr. 589, 17. 12. 1902.
Graf Robert Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre am Deutschen Kaiserhof, Stuttgart 1952
(Erstausgabe 1923); zugleich betont er, dass er nicht glaube, dass Krupp Homosexualität praktiziert habe.
Hirschfeld an Eisner 22. 11. 1902, in: Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert Stiftung (AdsD), F 202: 43.
Hans von Tresckow, Von Fürsten und anderen Sterblichen. Erinnerungen eines Kriminalkommissars, Berlin 1922, S. 127.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
101
Die Enthüllungen des Vorwärts erschienen, im Unterschied zu früheren Kampagnen gegen Krupp, nicht als großer Aufmacher, sondern eher versteckt auf
der zweiten Seite mit der unauffälligen Überschrift „Krupp auf Capri“. Die Sozialdemokraten waren sich offensichtlich bewusst, dass ein allzu sensationeller
Artikel auf sie selbst hätte zurückfallen können. Dementsprechend begann der
Artikel mit dem Verweis, die ausländische Presse sei seit Wochen „voll von ungeheuerlichen Einzelheiten über den ‚Fall Krupp‘“, die sie jetzt erst nach langem
Erwägen und gründlicher Prüfung der deutschen Öffentlichkeit übermittelte.
Inhaltlich machte der Artikel einen ähnlichen Spagat wie Eduard Bernsteins
Überlegungen zum Wilde-Skandal. Einerseits forderte der Vorwärts auf, anhand
dieses prominenten Falles eine Diskussion über die Abschaffung des § 175 einzuleiten. Dementsprechend umschrieb er Homosexualität als „unglückliche
Veranlagung“. Andererseits erhob der Artikel explizite moralische Anklagen
gegen Krupp, die sich aus einer klassischen Kapitalismuskritik speisten, diese
nun aber mit sensationellen sexuellen Enthüllungen verbanden. So hieß es äußerst anschaulich:
In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa – wir geben nur einige der notwendigsten
Einzelheiten wieder, die unser italienischer Korrespondent uns berichtet – huldigte er mit
den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr. Die Korruption war bis zu
einer solchen Höhe gediehen, dass man bei einem Photographen von Capri gewisse, nach
der Natur aufgenommene Bilder sehen konnte.[...] das Mitleid, das das Opfer eines verhängnisvollen Natur-Irrtums verdient, muß versagen, wenn die Krankheit zu ihrer Befriedigung Millionen in ihre Dienste stellt. [...] Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es die Pflicht der Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen.257
Ähnlich wie in England war es also vor allem das Narrativ des reichen Verführers und der bürgerlichen Doppelmoral, das die Angriffe legitimieren sollte.
Unverkennbar wurde der sexuelle Normbruch enthüllt, um politische Ziele zu
erreichen und das gegnerische politische Lager moralisch zu disqualifizieren.
Insofern hatte der Skandal eine große Ähnlichkeit mit der Kampagne der
Irischen Nationalisten im Dublin Castle-Skandal 1883/84, aber auch mit den
Kampagnen der Radikalliberalen gegen Lord Somerset im Cleveland StreetSkandal.
Ein investigativ recherchierter Bericht war der Artikel nicht. Der Redakteur
Kurt Eisner griff lediglich Meldungen auf, die bereits in ausländischen Zeitungen erschienen waren und bereits ähnlich Kapitalismus- und Homosexuellenkritik verknüpft hatten.258 Weitere Belege für die Anschuldigung, die über diese
Artikel hinausgingen, hatte der Vorwärts vor der Veröffentlichung jedoch offensichtlich nicht recherchiert, und auch der erwähnte Korrespondent in Capri war
eine Fiktion. Vor allem das neapolitanische sozialistische Blatt Propaganda hatte
257
258
Vorwärts 15. 11. 1902, S. 3 (H.i.O.).
Dass Kurt Eisner (der später 1919 ermordete bayrische Ministerpräsident) damals den Artikel
aufbrachte, und Redaktionskollegen ihm abrieten, erinnert: Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 67.
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102
II. Homosexualität als Skandalon
im September und Oktober 1902 mehrfach derartige Berichte aufgebracht. Die
Wiener Arbeiter-Zeitung hatte bereits am 27. Oktober hierüber geschrieben,
und auch in Deutschland war in der katholischen BVP-nahen Augsburger Volkszeitung schon am 8. November ein entsprechender Artikel erschienen, der ohne
Namensnennung unzweideutig erwähnte, dass „der Fall mit dem Namen eines
Großindustriellen zu tun [hat], der mit dem kaiserlichen Hof eng verbunden
ist.“259 Damit hatte die katholische Zeitung bereits einen wesentlichen Kern der
Anschuldigung getroffen: Es ging darum, ob eine Person in der Umgebung des
Kaisers, die zugleich das moderne Kaiserreich verkörperte, homosexuell sein
könne.
Der Artikel im Vorwärts traf Friedrich Alfred Krupp somit keineswegs aus
heiterem Himmel. Als er Mitte November erschien, hatte Krupp, wie seine
Korrespondenz belegt, sich schon monatelang intensiv darum bemüht, einen
entsprechenden Skandal zu verhindern. Bereits im März 1902 war er anonym
gewarnt worden, sofort Capri zu verlassen, was er noch ausschlug.260 Im Juli/
August kursierten auf der Insel jedoch so penetrante Gerüchte, dass Krupp sich
tatsächlich schweren Herzens von Capri zurückzog.261 Als im September die
ersten Zeitungsartikel erschienen, versuchte Krupp weitere Enthüllungen durch
seine politischen Kontakte zu verhindern: Er wandte sich brieflich an den „Kaiserlich Deutschen Generalkonsul in Neapel und beauftragte Freunde in Neapel,
den Gerüchten nachzugehen.262 Krupps Vertrauter in Essen, Assessor Korn,
machte Mitte Oktober 1902 bereits ein Treffen mit dem deutschen Botschafter
in Italien aus, um „durch ihn eine Aufklärung der Kreise in Rom und ein endgültiges Ende der Publikationen zu erreichen.“263 Als die Artikel immer noch
nicht aufhörten, bat er direkt den Außenstaatssekretär Oswald von Richthofen,
ihm über sein Ministerium „die Mittel und Wege anzugeben, wie ich meine Ehre
verteidigen kann und thunlichst selbst hierzu mir seinen Beistand leisten zu
wollen.“264 Der Außenstaatssekretär, der Botschafter und seine Freunde in
Italien rieten Krupp aber alle, die Artikel zu ignorieren. Ein gerichtliches Vorgehen, so Richthofen, würde nur die Wirkung „eines Kanonenschusses auf
259
260
261
262
263
264
Vgl. Propaganda 18. 9. 1902, 15. 10. und 20. 10. 1912.; La Tiempo 23. 10. 1902; Arbeiter-Zeitung 27. 10. 1902; Ein Artikel des Matinos aus dem Sommer 1902 mit Andeutungen, der ebenfalls „Krupp auf Capri“ hieß, erschien später übersetzt in: BZ am Mittag 549, 23. 11. 1902.
Zum Aufkommen und öffentlichen Ablauf des Skandals vgl. bereits knapp: Gall, Krupp,
S. 282; ohne Quellen und Belege: Manchester, Krupp, S. 226f; am ausführlichsten zur öffentlichen Wirkung: Wolbring, Krupp, S. 307–333. Die Darstellungen von Wolbring kann hier
jedoch, neben der anderen Fragestellung, um interne und öffentliche Quellen ergänzt werden.
HAK, FAH 3 B 3: 319; F.A. Krupp an A. Krupp, 20. 5. 1902, in: HAK, FAH III B 3: 323.
Vgl. hierzu auch Humbert Kesel, Capri. Biographie einer Insel, München 1971, S. 267 f.
Krupp an Konsul Wantoch-Regowski 26. 9. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 17; Dohrn an Korn
27. 9. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 33; Wedel an FA Krupp, 3. 10. 1902 in: HAK, FAH 3 D 18:
13.
Korn an Tuning, 10. 10. 1902, in. HAK, FAH 3 E 47: 10.
Krupp an Richthofen 27. 10. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 1.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
103
Spatzen“ haben: Es mache viel Lärm und verhindere gerade dadurch den Erfolg.265 Anscheinend fanden einige seiner Berater die Vorwürfe der Presse jedoch nicht ganz abwegig, da sonst bei derartigen schweren Ehrverletzungen
Verleumdungsklagen, neben dem Duell, die gängige Reaktion waren. Ebenso
verzichtete Krupp nach dem Artikel in der Wiener Arbeiter-Zeitung auf eine
Klage, obgleich seine österreichische Firmenleitung auf einen Prozess drängte.266
Gerade aus den entsprechenden Prozessen in Großbritannien dürfte Krupp gewusst haben, dass diese den Vorwürfen erst eine breite Öffentlichkeit gaben,
unkalkulierbare Zeugenaussagen förderten und damit zum Ausbruch eines
Skandals führten. Zugleich musste Krupp aber gegenüber den deutschen Eliten
seine prinzipielle Bereitschaft zeigen, den Anschuldigungen durch Prozesse zu
begegnen.
Um einen Skandal zu verhindern, ließ Krupp bereits einen Monat vor Erscheinen des Vorwärts-Artikels in Absprache mit dem Kaiser seine eigene Ehefrau in ein Sanatorium einliefern, weil sie ebenfalls das Gerücht über seine Homosexualität verbreitet hätte. In einem persönlichen Brief dankte Krupp dem
Kaiser für diese Einweisung: „Im Einverständnis mit Eurer Majestät haben die
Herren Hollmann Exc., Dr. Vogt und Assessor Korn es möglich gemacht, mir
die schwerwiegenden Enthüllungen über manche Äußerung und Handlungen
meiner Frau bis vor drei Tagen vorzuenthalten. Jetzt aber, da die Krankheitserscheinungen bei meiner Frau sich mehrten und die von ihr in Umlauf gesetzten
Gerüchte in weitere Kreise drangen, entschlossen sich die drei Herren, mich
nunmehr über den Zustand meiner Frau aufzuklären.“267 Diese Einbindung des
Kaisers unterstrich damit einmal mehr, dass es sich bei dem Skandal schon vor
dem Vorwärts-Artikel um eine Krise handelte, in die die Monarchie auf das
Engste involviert war.
Erst auf die Veröffentlichung im Vorwärts reagierte Krupp sofort mit einer
Verleumdungsklage, da jedes andere Verhalten ein Schuldeingeständnis gewesen
wäre. Krupps privilegierte Stellung bei der Verhinderung des Skandals zeigte
sich weiterhin. So erreichte er die sofortige Beschlagnahmung des Vorwärts und
anderer sozialdemokratischer und linksliberaler Blätter, die den Vorwurf tagsdrauf nachgedruckt hatten. Das Gesetz sah dies bei persönlicher Beleidigung
eigentlich nicht vor. Zudem erfolgte sofort eine Durchsuchung der Redaktionsräume des Vorwärts und der anderen Blätter und die Vernehmung des formell
verantwortlichen Redakteurs Carl Leid, worüber sich der Justizminister selbst
265
266
267
Richthofen an F.A. Krupp 12. 11. 1902, in: HAK, FAH 3 D 18: 5.
Korn an Schmidt-Altherr 10. 11. 1902, in: HAK, FAH III D 60: 5–12; Telegramm Korn an
Schmidt-Altherr, 14. 11. 1902 in: HAK, FAH III D 60: 19.
F.A. Krupp an Wilhelm II, 13. 10. 1902, in: GStA, BPH Rep. 53 J, Lit. K. Eine gedruckte Version auch in: Willi A. Boelcke (Hrsg.), Krupp und die Hohenzollern in Dokumenten.
Krupp-Korrespondenz mit Kaisern, Kabinettschefs und Ministern 1850–1918, Frankfurt a. M.
1970, S. 161. Es ist unwahrscheinlich, dass die Einweisung seiner Frau tatsächlich ohne sein
Wissen vorbereitet wurde.
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104
II. Homosexualität als Skandalon
vom zuständigen Staatsanwalt informieren ließ.268 Krupp sah schließlich von
neuen Strafanträgen gegen weitere sozialdemokratische Zeitungen ab, bat aber
den Justizminister, bei jedem erneuten Abdruck strafrechtlich vorzugehen.269
Gerade im Vergleich zu Großbritannien machte der Fall damit die große, recht
willkürliche Macht der staatlichen Zensurmittel in Deutschland deutlich, die
nun auch liberale Zeitungen direkt kritisierten.270 Um dennoch kursierenden
Gerüchten zu begegnen, schickte Krupp eine Gegenerklärung an die Presse, die
er auch in seinen Fabriken aufhängen ließ. Zudem übergab Krupps rechte Hand,
Assessor Korn, der Kölnischen Zeitung eine längere Rechtfertigung über das
Aufkommen der Gerüchte, die er bereits elf Tage vor dem Vorwärts Artikel prophylaktisch verfasst hatte. Demnach sei Krupp in Capri das Opfer eines Streites
zwischen zwei im Kommunalwahlkampf verfeindeten Parteien geworden, wobei eine Seite ihn aus Neid auf seine Wohltaten verleumdet hätte.271 Zu den starken Argumenten Krupps gegen den Vorwärts zählten aber vor allem, wie beim
englischen Cleveland Street Scandal, Detailfehler in dem Artikel. So hatte Krupp
nicht in einer „Villa“ gewohnt, sondern in einem Hotel. Dieses Detail schien
den gesamten Vorwurf in Frage zu stellen.
Der kleine Artikel zeigte schnell die Gewalt einer medialen Skandalisierung.
Trotz seiner zahllosen Bemühungen, den Gegenbelegen und seinen exzellenten
Verbindungen zur Presse und Politik sah Friedrich Alfred Krupp die Situation
anscheinend als völlig ausweglos an. Nur eine Woche nach den Enthüllungen
verstarb der 49-jährige, aller Wahrscheinlichkeit nach durch Selbstmord. Ähnlich wie beim schottischen Kolonialhelden Hector MacDonald konnte der
plötzliche Tod wie ein Schuldeingeständnis wirken, auch wenn die offizielle
Diagnose Hirnschlag lautete.272 Durch die Todesmeldung ließ sich zwar, wie
beim britischen Skandal um Hector MacDonald, der Vorwurf der Homosexualität überdecken, aber um der Sozialdemokratie die Schuld an Krupps Tod zu
geben, musste die bürgerliche Öffentlichkeit wiederum deren Vorwurf thematisieren. Dieses Spannungsverhältnis prägte den folgenden Skandal.
Da in Deutschland bislang noch kaum Erfahrungen mit derartigen Homosexualitätsvorwürfen gegenüber Prominenten bestanden, war relativ offen, wie
die Öffentlichkeit auf den Vorwärts-Artikel und Krupps Tod reagieren würde.
268
269
270
271
272
Vgl. Berichte Erster Staatsanwalt an Justizminister 17. 11. 1902 und 19. 11. 1902, in: GStA, HA
I Rep. 84a Nr. 49713.
Eingabe des Direktoriums der Firma Friedr. Krupp an Justizminister 21. 11. 1902, in: GStA,
HA I Rep. 84a Nr. 49713-6.
Vgl. die Kritik in: Berliner Tageblatt Nr. 607, 29. 11. 1902; Frankfurter Zeitung Nr. 336,
4. 12. 1902; Münchner Neueste Nachrichten Nr. 541, 21. 11. 1902; NZZ Nr. 333,
1. 12. 1902.
HAK, FAH III D 60:1. Kölnische Zeitung 20. 11. 1902. Dies übernahmen alle Blätter.
Das Protokoll, das von vier Ärzten unterzeichnet ist, sagt, er sei um sechs Uhr mit Gehirnschlag gefunden worden und um drei Uhr nachmittags verstorben; in: HAK, FAH 3 D 20.
Vogt hielt bis zu seinem Tode in persönlichen Gesprächen daran fest, dass Krupp sanft in seinen Armen entschlafen ist; vgl. etwa Aussage Cohn 18. 1. 1961 über Gespräch mit Vogt 1958,
in: ebd.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
105
In den ersten drei Tagen griffen lediglich einige sozialdemokratische und ganz
wenige linksliberale Zeitungen die Vorwürfe des Vorwärts auf. Da der Tabubruch politisch motiviert war, trugen ihn auch nur entsprechende politisch
linksstehende Blätter. Die Mehrzahl der Zeitungen wartete dagegen, ähnlich wie
bei den britischen Skandalen, zunächst das offizielle Dementi ab, das sie dann
drei Tage später mit vorsichtigen Andeutungen zu den Vorwürfen abdruckten
und die Thematisierung somit legitimierten. Selbst die Boulevard- und Massenblätter – wie der Berliner Lokal-Anzeiger, die BZ am Mittag oder die Berliner
Illustrirte Zeitung – die bei Medienhistorikern als Sensationszeitungen gelten,
berichteten zunächst nicht. Erst mit Krupps Tod erschienen in jeder Zeitschrift
und Zeitung ausführliche tägliche Berichte über den Unternehmer und sein
plötzliches Verscheiden.
Erst nach dem Tod versuchten die Zeitungen ausführlicher, die „Wahrheit“
über Krupp auf Capri zu ermitteln. Über eigene Korrespondenten in Italien, die
die Vorwürfe auf Capri von journalistischer Seite hätten überprüfen können, verfügten die Zeitungen jedoch kaum. Lediglich der Vorwärts schickte sofort seinen
Redakteur Georg Gradenauer zur Recherche nach Capri und Neapel, um den
bevorstehenden Prozess vorzubereiten. Um Krupps Verteidiger einzuschüchtern, meldete er der Presse „Das aus Mailand, Florenz, Venedig, Rom, Neapel
und von Capri herbeigeschaffte Material ist bergehoch“, ohne jedoch neue Anschuldigungen vorzubringen.273 Trotz fehlender Auslandskorrespondenten in
Italien publizierten fast alle größeren Zeitungen Augenzeugenberichte aus
Capri, indem sie Zuschriften von Reisenden und Augenzeugen druckten, die in
den letzten Jahren auf Capri waren und die Rolle von Reportern übernahmen.
Die meisten nahmen Krupp in Schutz. Die konservativen und katholischen Zeitungen erhielten etwa Berichte von dortigen Geistlichen, die Krupps Bescheidenheit, Wohltaten und Unschuld betonten.274 Eine Zuschrift an das liberale
Berliner Tageblatt erwähnte einen Vizegeneral als „sein[en] ständigen Begleiter
in jenen Tagen.“275 Dagegen erfuhren die Leser der linksliberalen Welt am Montag vom Reiseschriftsteller Karl Böttcher, der angeblich alljährlich mehrere Monate auf Capri weilte, das Gerücht sei auf der Insel schon seit Jahren bekannt.276
Alle diese unterschiedlichen Berichte zeigten die für Skandale typische Interaktion zwischen Zeitungen und Zeitungslesern, welche die kaum vorhandenen
Korrenspondenten ersetzte.
Auch wenn die Capriberichte mehrheitlich Krupps Unschuld beschworen,
überführten sie Krupps Privatleben weiter in die Öffentlichkeit. So erfuhren die
Leser aus fast allen Artikeln Genaueres über Krupps Alltag: etwa über seine
273
274
275
276
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, Nr. 279, 24. 12. 1902; Vossische Zeitung
Nr. 589, 17. 12. 1902; zu Gradenauers Besuch in Capri vgl. auch: La Propaganda 16. 12. 1902.
Reichsbote Nr. 278, 27. 11. 1902; Rheinische Volksstimme Nr. 279, 2. 12. 1902. Ähnlich:
Neueste Nachrichten Nr. 275, 27. 11. 1902.
Berliner Tageblatt Nr. 608, 30. 11. 1902.
Welt am Montag, Nr. 50, 15. 12. 1902.
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II. Homosexualität als Skandalon
Bruderschaft Fra Felice, die sich in einer von Krupp ausgebauten Grotte abgeschottet traf, über Krupps Musikleidenschaft und seinen Verkehr in Künstlerkreisen, seinen Umgang mit einfachen Menschen und seine schlechte gesundheitliche Konstitution.277 Auf diese Weise regten sie neue Imaginationsräume
und alte Zuschreibungen an. Während diese Nachrufe Krupps Vater Alfred als
zupackenden robusten Mann der Tat priesen, erschien sein Sohn Friedrich Alfred als das Gegenteil: als schwach, dekadent und weiblich. Und gerade diese
Zuschreibungen formierten das Stereotyp des Homosexuellen.
Insgesamt führte der Skandal zu einer viel offeneren Debatte über die Bewertung und Bestrafung von Homosexualität als in Großbritannien. Vor allem die
linksliberale Öffentlichkeit räsonierte hierüber, wobei ihre Position ähnlich
uneinheitlich blieb wie bei den Sozialdemokraten. So hatte die Welt am Montag
gleich nach dem Vorwärts-Artikel den Fall Krupp generell diskutiert und sich
für die Beibehaltung des § 175 ausgesprochen. Homosexuelle würden „ihre ganze Umgebung verseuchen“ und verführten „Knaben und Jünglinge, die nichts
weniger als homosexuell veranlagt sind“; wenn Mediziner sie als „krank“ bezeichnen würden, dann muss man sie in Krankenhäusern wegschließen.278 Das
Narrativ des reichen Verführers legitimierte damit wie in Großbritannien auch
bei Teilen der Linken die Bestrafung. Die großen liberalen Zeitungen hinterfragten dagegen erstaunlich offen die Kriminalisierung. So hoffte Ullsteins Boulevardblatt BZ am Mittag, dass nach Krupps tragischem Tod die Strafbestimmungen des § 175 abgeschafft würden.279 Das liberale Berliner Tageblatt von
Mosse äußerte die gleiche Erwartung mit Verweis auf den veränderten Forschungsstand: „Heute ist die Wissenschaft nahezu einig darüber, daß es sich hier
um eine anormale körperliche Erscheinung handelt, welche einen strafbaren
‚dolus‘ ausschließt.“280 Die frühe Homosexuellen-Lobby unter Magnus Hirschfeld konnte damit durch den Skandal ihre Positionen zumindest in der liberalen
Presse verbreiten.
Besonders Krupps tragischer Tod versprach somit eine öffentliche Neubewertung der Homosexuellenrechte und überführte medizinische Diskurse in die
Medien. Auch einer der berühmtesten Publizisten der Zeit, Maximilian Harden,
fand eine erstaunlich tolerante Einschätzung: „Angeborene oder erworbene
Homosexualität hätte seinen Wert nicht gemindert,“ schrieb er in seinem Nachruf zu Krupp. Dennoch hätte der Vorwärts dies nicht veröffentlichen dürfen.
Eine Woche später ergänzte er: „Krupps Ehre wäre dadurch nicht befleckt, denn
der Urning ist nach moderner Auffassung nicht ein Ehrloser, sondern ein Kranker; wärs anders, dann müßten viele Diplomaten, Höflinge, gekrönte Herren
277
278
279
280
Vgl. etwa die Berichte aus Capri in: Essener Neueste Nachrichten Nr. 288 15. 12. 1902;
Der Tag, Nr. 599, 25. 10. 1902 u. 30. 11. 1902; Allgemeine Zeitung München Nr. 327,
27. 11. 1902.
Welt am Montag, 17. 11. 1902.
BZ am Mittag Nr. 549, 23. 11. 1902.
Berliner Tageblatt Nr. 607, 29. 11. 1902.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
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sogar ihre Häupter in Schande betten.“281 Da Harden nur einige Jahre später
den nächsten großen politischen Homosexualitätsskandal anstieß, war diese zugleich liberale wie drohende Haltung umso bemerkenswerter. Denn zu den Diplomaten und Höflingen, auf die er bereits hier anspielte, gehörte zweifelsohne
Eulenburg.
Magnus Hirschfeld und sein Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee traten
nun ebenfalls an die Medien, um den Fall Krupp als Beleg für die notwendige
Abschaffung des § 175 zu deuten und ihr medizinisches Wissen an die Öffentlichkeit zu bringen. In einer Erklärung im Namen von 1 500 Homosexuellen
wandte es sich in einer Pressemitteilung dagegen, dass der Homosexualitätsvorwurf im Fall Krupp als Beleidigung gehandhabt würde, da Homosexuelle „in
ihrem Charakter und sittlichen Verhalten genau so ehrenhaft sind, wie die normalsexuell Geborenen.“282 Dies druckten allerdings nur die wenigsten Blätter.
Hirschfeld wandte sich zudem als Experte mit zahlreichen Briefen direkt an den
Vorwärts-Redakteur Eisner und versorgte ihn mit seinen wissenschaftlichen
Einschätzungen, damit Eisner diese durch seine Artikel und den erwarteten
Prozess in die breitere Öffentlichkeit überführen könne. So informierte Hirschfeld Eisner darüber, dass Homosexualität eine nicht behandelbare angeborene
„Zwischenstufe zwischen Mann und Weib“ sei und Selbstmorde zu einem
Drittel auf deren Diskriminierung zurückzuführen wären. Deshalb solle Eisner
Krupp als ein Opfer des § 175 darstellen, „von dem Dr. Hirschfeld, einer der
bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der sexuellen Zwischenstufen sagt (in
seiner Schrift § 175), daß an ihm mehr Leid, mehr Drangsal und zerschossene
Gehirnmasse klebt, als an irgendeinem anderen § des StrG.B.“283 Ein paar Tage
später riet er Eisner, der Vorwärts solle schreiben, dass er aus dem „über hervorragende Homosexuelle zur Verfügung stehenden authentischen Material nur
den Fall Krupp herausgegriffen hatte“, und das Gesetz nun abgeschafft werden
müsse.284 Neben Hirschfelds Eitelkeit lassen diese Briefe somit erkennen, dass
er eine ähnliche Strategie wie die SPD verfolgte: Der drohende Hinweis auf prominente Homosexuelle sollte eine strafrechtliche Liberalisierung einleiten und
zugleich ein neues öffentliches Wissen über die weite Verbreitung von Homosexualität schaffen.
Wie offen die deutsche Öffentlichkeit das Thema im Vergleich zu Großbritannien erörterte, zeigt auch ein Blick in die britische Berichterstattung zu dem
Skandal. Während die internationale Presse insgesamt recht deutlich die Homosexualität thematisierte, nannten die meisten britischen Zeitungen nicht einmal
281
282
283
284
Zit. Harden, Die Zukunft 29. 11. 1902, S. 334 u. 6. 12. 1902, S. 378.
Trotz ihres Plädoyers für den §175 auch abgedruckt in: Die Welt am Montag Nr. 47,
24. 11. 1902.
Hirschfeld an Eisner 22. 11. 1902, in: AdsD, F 202: 43.
Hirschfeld an Eisner 26. 11. 1902, in: BAB/L, NY 4060:51. Kein direkter Beleg fand sich dagegen für die von den Zeitgenossen aufgebrachte Vermutung, Hirschfeld habe bereits vorher den
Vorwärts mit Material über Krupp versorgt; so: Eugen Johannes Maecker, Harden-Hirschfeld. Eine Aufklärungsschrift, Berlin o. D. (1908), S. 18, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58203.
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108
II. Homosexualität als Skandalon
den Vorwurf. Der Daily Telegraph, die Times und der Daily Express schrieben
sachlich über Krupps Leben, erwähnten aber lediglich „Verleumdungen“, die zu
seinem Tod mit beigetragen hätten.285 Allein die linksstehende Reynolds’s Newspaper, die auch bei den britischen Homosexualitätsskandalen die deutlichsten
Worte gefunden hatte, nannte den Fall ein herausragendes Ereignis, das in
Deutschland die Gemüter mehr als alles seit Bismarcks Tod bewegt habe, und
berichtete dann über Krupps Kontakte mit Jungen auf Capri, wobei neben dem
Vorwärts französische Berichte als Quelle über die „mania homosexualis“
dienten.286 Verallgemeinernde Rückschlüsse auf die deutsche Moral zogen die
nüchternen britischen Artikel jedoch nicht.
Die Mehrheit der britischen Presse wies damit gewisse Ähnlichkeiten zu den
konservativen und nationalliberalen deutschen Zeitungen auf. Auch ihre Nachrufe sparten genauere Hinweise auf den Vorwurf der Homosexualität gegen
Krupp aus und beteiligten sich somit auch nicht an der Debatte um den § 175.
Selbst den Begriff „Homosexualität“ vermieden sie. Allein der umschreibende
Verweis auf Vorwürfe, die den § 175 betreffen würden, diente ihnen als Synonym, um die Beschuldigungen des Vorwärts vorsichtig anzudeuten. Dennoch
handelte es sich auch für diese Teilöffentlichkeit um einen Skandal. Ihre Empörung richtete sich jedoch weniger gegen Krupp als gegen den Vorwärts, der aus
„Sensationssucht“ und wegen der „Sensationslust seiner Leser“ über Leichen
gehe würde und direkt für den Tod von Krupp verantwortlich sei.287 Industrienahe Zeitungen wie die Leipziger Neuesten Nachrichten sprachen deshalb von
„Meuchelmord.“288 Selbst in der Redaktion des Vorwärts, so erinnerte sich später der Redakteur Friedrich Stampfer, saß man nach der Todesmeldung schweigend am Redaktionstisch: „Uns war, als sähen wir das Blut über den Schreibtisch fließen.“289 Ebenso ging die sozialdemokratische Neue Zeit auf Distanz zu
den Enthüllungen.290 Dass ein Presseartikel eine derartige Wirkung haben konnte, schockierte die Journalisten und die Zeitgenossen anscheinend ähnlich wie
1987 der Tod von Uwe Barschel, auch wenn die Ursachen verschieden waren.
Aus diesem Schock entwickelte sich eine weitere grundsätzliche Debatte, die
sich um die Verantwortung und die Grenzen des Journalismus drehte. Sie kreiste zunächst um die Frage, ob das Privatleben in der politischen Öffentlichkeit
eine Rolle spielen dürfe. Zahlreiche Zeitungen betonten ähnlich wie die Münchener Neueste Nachrichten, „daß unser ganzes öffentliches Leben erschüttert
und vergiftet werden muß, wenn das Privatleben eines Einzelnen durchschnüffelt und in denunziatorischer Weise auf den Markt gezerrt wird, um mit dem
Einzelnen – in törichter und böswilliger Verallgemeinerung – die Partei, die Ge285
286
287
288
289
290
Vgl. Times, Daily Telegraph und Daily Express am 24. 11. 1902.
Reynolds’s Newspaper 30. 11. 1902, S. 1.
Leipziger Tageblatt Nr. 608, 29. 11. 1902; Kreuzzeitung Nr. 561, 30. 11. 1902; Hannoverscher Courier 24. 11. 1902.
Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 326, 25. 11. 1902.
Stampfer, Erfahrungen, S. 99.
Die Neue Zeit Nr. 9 (1902), S. 258.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
109
sellschaftsklasse zu treffen, der er angehört.“291 Die konservativen Medien leiteten daraus die Forderung ab, die Pressegesetze zu verschärfen, weil die Sozialdemokratie sonst „Skandalaffären ohne Ende“ produzieren würde, da sie zunehmend „geheime Aktenstücke veröffentlichen, vertrauliche Privatbriefe ans
Licht zerren oder mit niedrigen Schmähungen und boshaften persönlichen Angriffen gegen Persönlichkeiten vorgehen [...].“292 Der Fall Krupp galt damit,
nicht ganz zu unrecht, als Teil einer „Politik der Sensationen“, mit der die SPD
seit den 1890er Jahren das Private in die Politik überführte, um das herrschende
System zu diskreditieren.
Die meisten Zeitungen sprachen sich jedoch gegen schärfere Pressegesetze
aus. Sie setzten vielmehr darauf, dass der Schock des Krupp-Skandals zur Etablierung neuer Normen bei den Journalisten und Lesern führe. So machten sie
Vorschläge, wie in Zukunft ein jeder dazu beitragen könne, Derartiges zu verhindern. „Nicht nur durch Zeitungsnachrichten, nein auch durch mündlichen
Klatsch und Tratsch werden Menschen in Verzweiflung gebracht, ja getödtet“,
mahnte die katholische Westfälische Volkszeitung.293 Die Deutsche Tageszeitung
empfahl deshalb, ein jeder solle am Stammtisch bei der Diskussion auf derartige
Sensationsnachrichten antworten, „was wäre, wenn es Dich betreffen würde.“294
Auch der Berliner Lokalanzeiger empfahl, im Alltag die Neugier auf Sensationen zu unterdrücken.295 Die Leser sollten solche Zeitungen meiden und bereits in der Schule zum „richtigen“ Umgang mit derartigen Meldungen erzogen
werden. Zugleich bedeutete der geforderte Schutz der Privatheit zumindest implizit, dass im privaten Raum auch ein homosexueller Verkehr legitim sein
könne und nicht als Verbrechen gelte. Indem die Zeitungen Homosexualität als
etwas „Privates“ bezeichneten, entkriminalisierten sie diese gewissermaßen.
Sowohl durch Krupps Tod als auch durch den Konsens, dass die private Sexualität und Gerüchte hierüber nicht in die Öffentlichkeit gehörten, richtete sich
der Skandal per Bumerangeffekt gegen den Vorwärts. Dessen Rechtfertigung, er
habe nicht über das Privatleben berichtet, da etwas Strafbares nicht privat sein
könne, der Fall durch die Auslandsberichte öffentlich war und ein Zentrumsblatt zuerst darüber schrieb, drangen kaum durch.296 Dann erhielt der Skandal
jedoch gerade durch die Gegenkampagnen gegen die SPD mehrere neue Wendungen und Dynamiken, welche die generelle Unberechenbarkeit von Skandalverläufen zeigten. Zunächst war das Auftreten des Kaisers hierfür verantwortlich. Obwohl Wilhelm II. im Oktober 1902 von den Gerüchten erfahren hatte,
unterstützte er Krupp weiterhin persönlich. So schrieb er ihm Anfang November, er habe den Bau eines Linienschiffes in Krupps Germaniawerft angeordnet,
291
292
293
294
295
296
MNN, Nr. 588, 17. 12. 1902.
Zit. Post Nr. 557, 28. 11. 1902 und Nr. 560, 29. 11. 1902; ähnlich etwa: Berliner Neueste
Nachrichten Nr. 561, 30. 11. 1902.
Westfälische Volkszeitung Nr. 276, 29. 11. 1902.
Deutsche Tageszeitung Nr. 566, 3. 12. 1902.
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 561, 30. 11. 1902; ähnlich: Bonner Zeitung 27. 11. 1902.
Vorwärts 26. 11. 1902.
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110
II. Homosexualität als Skandalon
und berichtete ihm kurz darauf mit überschwänglichem Lob von seinem Werftbesuch.297 Auch wenn Krupp nur zur „Umgebung“ und nicht zum engen
Freundeskreis des Kaisers zählte, machte Wilhelm II. selbst Krupps Begräbnis
zu seiner persönlichen Angelegenheit.298 Philipp von Eulenburg, der den Kaiser
an Krupps Todestag nach längerer Abwesenheit aufsuchte und mit ihm allein
frühstückte, beriet ihn hierbei vermutlich.299 Da Eulenburg selbst homosexuelle
Neigungen besaß, dürfte er am Kampf gegen entsprechende Denunziationen
kein geringes Interesse gehabt haben.
Die allgemeine Empörung über den Vorwärts wendete sich erst, als sich der
Kaiser ihr mit drastischen Formulierungen beim Essener Begräbnis von Krupp
anschloss. Ähnlich wie die konservativen Blätter zog er aus dem Skandal den
Schluss, die Sozialdemokraten seien schärfer zu bekämpfen und auszugrenzen,
da sie nicht länger das Recht hätten, als Deutsche zu gelten. Seine Worte waren
nur noch drastischer: „Diese That mit ihren Folgen ist weiter nichts als Mord;
denn es besteht kein Unterschied zwischen demjenigen, der den Gifttrank einem
anderen mischt und kredenzt, und demjenigen, der aus dem sichern Versteck
seines Redactionsbureaus mit vergifteten Pfeilen seiner Verleumdungen einen
Mitmenschen um seinen ehrlichen Namen bringt und ihn durch die hierdurch
hervorgerufenen Seelenqualen tödtet. [...] wer nicht das Tischtuch zwischen sich
und diesen Leuten zerschneidet, legt moralisch gewissermaßen die Mitschuld
auf sein Haupt.“300 Ähnliche Kaiserreden folgten in Breslau und Görlitz.301
Dass der Skandal das Bündnis zwischen Sozialdemokratie und den Arbeitern
durchschnitten habe, sollte auch die anschließend überreichte „spontane“ Grußadresse an den Kaiser mit über 20 000 Unterschriften von Krupp-Arbeitern
symbolisieren, die sich auf Krupps Seite und gegen die Verleumdungen der SPD
stellten.302
Tatsächlich löste beides in der Öffentlichkeit einen gegenteiligen Effekt aus.
Einige Zeitungen sahen in dem Mordvorwurf des Kaisers die journalistische Berufsehre verletzt.303 Andere kritisierten, der Kaiser nehme mit seiner Unschuldsbeteuerung das noch ausstehende Gerichtsurteil vorweg und zeige unangemessenen Zorn.304 Der Mordvorwurf einte und mobilisierte vor allem die Sozial297
298
299
300
301
302
303
304
Wilhelm II. an Krupp 1. 11. 1902, in: HAK, FAH 3 C 227: 93; Wilhelm II. an Krupp 7. 11. 1902,
in: HAK, FAH 3 C 227: 95.
Zur Unterscheidung zwischen „Umgebung“ und „Freundeskreis“: Isabel V. Hull, The Entourage of Kaiser Wilhelm II, 1888–1918, Cambridge 1982, S. 159.
Ein Bericht über das Treffen, aber ohne die Erwähnung Krupps in: Eulenburg an Bülow
23. 11. 1902, in: BAK, 1029-59.
Abgedruckt in: Boelcke, Krupp, S. 167 f.
Berliner Tageblatt Nr. 638, 16. 12. 1902; Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 571, 6. 12. 1902.
Übergabe einer Kaiseradresse, Direktorium Krupp an Chef des Geheimen Zivilkabinetts, von
Lucanus, 20. 12. 1902, abgedr. in: Boelcke, Krupp, S. 172
Demokratische Volks-Zeitung Nr. 556, 27. 11. 1902; Danziger Zeitung Nr. 559,
29. 11. 1902.
Frankfurter Zeitung Nr. 329 27. 11. 1902; BZ am Mittag Nr. 556, 27. 11. 1902; Berliner
Tageblatt Nr. 638, 16. 12. 1902; Münchener Zeitung, Nr. 284, 28. 11. 1902.
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
111
demokraten. Bis hinein in die Ortsvereine empörte die Rede ihre Mitglieder.305
Für noch mehr Empörung sorgte die Meldung, dass zwei langjährige Arbeiter in
Krupps Grusonwerk entlassen wurden, weil sie nicht die „freiwillige“ Treueadresse an den Kaiser unterzeichnet hatten. Dies führte zu Protestkundgebungen
und auch zu Kritik in den bürgerlichen Zeitungen.306 Der Vorwärts versuchte
dabei direkt an den Panama-Skandal und die Dreyfus-Affäre anzuknüpfen und
trat mit einem „Wir klagen an!“ in der Pose Zolas auf.307 Im Direktorium von
Krupp rechtfertigte man die Entlassung mit „Arbeitsmangel“ und erklärte, rund
zehn Prozent der Arbeiter hätten nicht unterschrieben, aber immerhin führte
die schlechte Presse zur Entlassung des verantwortlichen Geschäftsleiters des
Grusonwerks.308 Die Kaiserrede und die erpressten Unterschriften verwandelten
damit das kurzzeitige Mitleid mit Krupp wieder in die alten Ressentiments gegen ein patriarchalisch geführtes Unternehmen, das seine Macht aus der engen
Verbindung zum Kaiser zog. Einen ähnlichen Effekt hatte das Redeverbot, dass
der Reichstagspräsident Ballestrem dem SPD-Abgeordneten Vollmar erteilte,
als der im Januar im Reichstag den Fall Krupp und die Kaiserrede dazu ansprach. Der dem Zentrum angehörende Reichstagspräsident untersagte jede
Aussprache, da dies Privatangelegenheiten seien.309 Indem die Konservativen
und die Zentrumspartei die parlamentarische Aussprache über den Skandal untersagten, trat er erneut in der Medienöffentlichkeit. Zudem wurde dies mit einer grundsätzlichen Debatte über die Redefreiheit im Reichstag verbunden.
Eine weitere neue Dynamik erfuhr der Skandal durch die Debatte, ob der
Vorwärts auch nach Krupps Tod strafrechtlich zu verfolgen und Krupps
„Schuld“ gerichtlich zu klären sei. Da nach Krupps Tod der Kläger entfiel,
erwartete die gesamte Presse das Eingreifen des Staatsanwaltes im Namen des
öffentlichen Interesses. Gerade die kaisertreuen Zeitungen forderten dies
vehement ein,310 aber auch der Vorwärts blickte selbstbewusst dem Prozess
entgegen, nahm nichts zurück und versprach Beweise für Krupps Homosexualität vorzulegen.311 Tatsächlich bereitete die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Verfahren vor, bis plötzlich Mitte Dezember dessen Einstellung auf
305
306
307
308
309
310
311
Vgl. Adelheid von Saldern, Auf dem Wege zum Arbeiter-Reformismus. Parteialltag in sozialdemokratischer Provinz. Göttingen (1870–1920), Frankfurt a. M. 1984, S. 67.
So kritisierte die Germania (19. 12. 1902), dies „fälscht die öffentliche Meinung“. Schärfer in
der SPD-Presse: Volksstimme Magdeburg Nr. 290, 12. 12. 1902; Vorwärts Nr. 293,
16. 12. 1902.
Vorwärts Nr. 293, 16. 12. 1902: „Seit den Zwangskundgebungen und Nöthingungsadressen
der Arbeiter ist der Fall Krupp zu einem Panama geworden, dessen Bloßlegung jetzt zu beginnen hat. [...] Wir klagen an!“
Friedrich Krupp/Direktorium an Direktor Teuffel, 17. 12. 1902, in: WA, 4/1286: 25; Direktor
Sorge an Landrat 17. 12. 1902, in WA, 4/1286: 68.
Rede RT 20. 1. 1903, Sten. Ber., Bd. 8, S. 7419 f.
Vgl. etwa Post Nr. 553, 26. 11. 1902; Kölnische Zeitung, Nr. 933, 27. 11. 1902; Deutsche
Tages-Zeitung Nr. 558, 28. 11. 1902.
Vgl. zum Verhör: Denkschrift Oberstaatsanwalt Isenbiel an Justizminister 6. 12. 1902, in:
GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49713.
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112
II. Homosexualität als Skandalon
Wunsch der Witwe bekannt wurde.312 In den Zeitungen stieß dies ganz überwiegend auf Unverständnis und Protest. Widersprüchlich erschien rechtlich,
dass der Staatsanwalt erst ein öffentliches Interesse sah und dann auf Bitte der
Witwe dies nicht mehr gegeben schien. Vor allem monierten die Blätter aber,
dass dies ein verspäteter Sieg des Vorwärts sei und die Vorwürfe so ungeklärt
blieben. Einerseits sahen sie sich also um jene gerichtliche verbürgte „Wahrheit“ betrogen, die ein Prozess mit all seinen Enthüllungen versprach, andererseits um die ersehnte harte Bestrafung der sozialdemokratischen Journalisten,
die weitere Skandale verhindern sollte. Während die SPD-Zeitungen triumphierten, zeigten sich gerade die konservativen Blätter äußerst befremdet über
die Entscheidung und verlangten eine Rechtfertigung des Justizministers.313
Denn die Einstellung diskreditierte schließlich auch, wie viele Zeitungen bemerkten, den Kaiser. Der General-Anzeiger Hamburg sprach von einer „Desavouierung des deutschen Kaisers“ (H.i.O.), und die BZ am Mittag betonte, die
kaiserlichen Anklagen gegen die SPD verlören dadurch ihre „Wirkungskraft.“314 Damit richtete sich der Skandal von der SPD weg gegen den Justizminister und die Berater des Kaisers, die ebenfalls für die Einstellung verantwortlich gemacht wurden.
Wie kam es zu dieser umstrittenen Einstellung des Prozesses gegen den Willen des Kaisers und der bürgerlichen Öffentlichkeit, durch die der Skandal seine
Dynamik verlor? Verantwortlich hierfür war zunächst die Witwe Margarethe
Krupp. Nach Krupps Tod war die zwangsweise eingewiesene Ehefrau aus dem
Sanatorium entlassen worden und zeigte keinerlei Anzeichen von geistiger Verwirrung, sondern trat recht überlegt das gewaltige Erbe an. Sie schickte dem
Staatsanwalt und dem Oberhofmarschall August Graf von Eulenburg die Bitte,
letzterer solle den Kaiser informieren, dass sie gegen einen Prozess sei, da dieser
den Namen ihres Mannes nur weiter in den Schmutz ziehen würde und ihre
Nerven dies nicht verkrafteten. Krupps Vertrauter, Assessor Korn, und das Direktorium unterstützten dies, da eine Verurteilung des Vorwärts schwierig sei,
zumal Krupp nicht mehr per Eid seine Unschuld beweisen könne.315 Obwohl
auch Eulenburg das ähnlich sah, lehnte Wilhelm II. die Einstellung brüsk ab:
„Das Verfahren muß unter allen Umständen fortgesetzt werden. Coute que
coute [...]. Ein Einstellen des Verfahrens würde bloß das Aufblühen unzähliger
Verdachtsmomente herbeiführen.“316
312
313
314
315
316
Erklärung Erste Staatsanwalt an Vorwärts, 15. 12. 1902, abgedr. in: Vorwärts 15. 12. 1902.
Vgl. Vorwärts 15. 12. 1902, 17. 12. 1902; Staatsbürger-Zeitung Nr. 589, 17. 12. 1902 u.
Nr. 607, 30. 12. 1902; Germania 17. 12. 1902.
Zitate in: General-Anzeiger Hamburg, Nr. 296, 18. 12. 1902, BZ am Mittag Nr. 587,
16. 12. 1902.
Margarethe Krupp an August von Eulenburg 5. 12. 1902 und August von Eulenburg an Wilhelm II. 6. 12. 1902, in: BAK N 1016-74-8 f. (Abschrift Philipp von Eulenburg für Bülow
1. 2. 1903).
Antwortnotiz von Wilhelm II. 6. 12. 1902 auf Brief: August Eulenburg an Wilhelm II.
6. 12. 1902, in: BAK, N 1016-74-12 (Abschrift Philipp von Eulenburg für Bülow 1. 2. 1903).
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6. Sozialdemokratische Kampagnen: Krupp auf Capri
113
Dass es trotz dieses vehementen Protestes des Kaisers zu keinem Prozess
kam, bleibt dennoch erklärungsbedürftig. Anzunehmen ist, dass sowohl die
Witwe als auch die Unternehmensleitung zumindest gewisse Verdachtsmomente
hatten und kein Risiko eingehen wollten, auch wenn die Einstellung wie ein
Schuldbeweis wirkte. Wie viele Prozesse vorher zeigten, hätte jedoch selbst eine
Verurteilung des Vorwärts unangenehme Details über ihr Privatleben verbreiten
können. Eulenburg scheint den Kaiser in diesem Sinne beraten zu haben. Eine
weitere sehr plausible Erklärung nannte Maximilan Harden gegenüber Kurt
Eisner: „Die Einstellung ist Folge der Münchener Post. Tant mieux“.317 Denn
diese hatte angedeutet, Krupp habe vor seinem Tode versucht, seine Frau zu
entmündigen. Ein Prozess barg daher die Gefahr, dass die Umstände ihrer Einweisung an die Öffentlichkeit kamen, in die wiederum ja auch der Kaiser und
einzelne Minister mit verwickelt waren. Deshalb beschränkte sich die Staatsführung darauf, auf der symbolischen Ebene an Krupps „Unschuld“ festzuhalten.
Schon im Juni 1904 enthüllte der Kaiser ein Denkmal für ihn in Kiel, im Beisein
des Reichskanzlers, von Staatssekretär Tirpitz und der gesamten Admiralität.318
Die vielschichtigen Stränge und Deutungen im Zuge des Skandals zeigten sich
nicht nur in der Medienöffentlichkeit, sondern auch in der situativen Öffentlichkeit der Stammtische. Auffälliger Weise blieben in den meisten Hamburger
Kneipenberichten zunächst Meldungen über den Skandal aus. Die Arbeiter empörten sich zwar wie so häufig über einen „Skandal“, meinten damit aber die
Reichstagsdebatte über die Getreidezölle, in denen sich die „Junker“ gegen die
Mehrheit durchgesetzt hätten.319 Entweder war die „Sensationssucht“ der Leser
nicht so groß, wie die Eliten annahmen, oder die Polizisten scheuten sich bei
diesem besonders prekären Fall zunächst, Aufzeichnungen über derartige Gespräche zu machen. Nach Krupps Tod, als die Zeitungsartikel zunahmen, verzeichneten sie insbesondere in den Kneipen im Hafenviertel intensivere Diskussionen über Krupp. Einige Gäste machten wie bei anderen Skandalen ihrer
Empörung Luft: „Krupp habe sich frühzeitig aus dem Staub gemacht, fast hätte
er sein letztes Stückchen Brot im Zuchthaus genießen können. Wenn von der
Sittengeschichte nichts an dem sei, würde von der Presse wohl nicht einfach und
so frei über K. schreiben. Außerdem würde in der Presse doch ausdrücklich
bemerkt, daß man im Besitze von Photographien [sei] und dieses besage alles.“
Nun würde alles vertuscht, obwohl der Tod ein Beleg sei.320 Die Äußerung hinterfragte somit den Wahrheitsgehalt der Medien, sah aber in einem Zirkelschluss
317
318
319
320
Harden an Eisner 18. 12. 1902, in: BAB/L NY 4060-65 u. Eisner an Harden 19. 12. 1902, in:
BAK, N 1062-33.
Dies vermerkte ohne jeden Kommentar auch: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1904.
So in den unterschiedlichen Bezirken: Polizeibericht, 4. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1;
Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 8. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9; Polizeibericht
14. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1.
Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 26. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
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114
II. Homosexualität als Skandalon
den Druck der Nachricht als Beleg für ihre Wahrheit. Diese Authentizitätszuschreibung dokumentiert, welche Beweiskraft einem gedruckten Gerücht zugeschrieben wurde. Bemerkenswert ist zudem der Glaube an die Beweiskraft von
Fotographien, deren Erwähnung – obgleich sie in diesem Fall nicht existierten
– bereits als Beleg galt.
Die Kneipenbesucher nahmen die sensationelle Enthüllung und die wohlwollenden Nachrufe der Zeitungen zum Anlass, Krupps Unternehmensführung
generell zu diskutieren. In einer Kneipe hieß es: „An den Leiden, woran dieser
Kerl gestorben sei, wären noch viel zu gut für selbigen gewesen [sic] [...] Krupp
wäre einer der größten Menschenschinder“. Er habe Millionen verdient, aber
kaum Steuern bezahlt; „es wäre auch ein Skandal in dem soviel Zeitungen einen
solchen Menschen vergöttert hätten, wo doch selbiger so unendlich schmutzige
Sachen auf dem Kerbholz habe.“321 „Schmutzig“ bildete dabei generell, der in
Deutschland beliebten Hygienemethaphorik entsprechend, eine zentrale alltagssprachliche Kategorie, um Homosexualität oder sonstige Missstände zu
umschreiben. Krupp fand unter den Gästen aber auch einige Fürsprecher. Einer
pries Krupps Wohltaten, die er durch seine frühere Tätigkeit in den Werken
kannte.322 Andere Kneipenbesucher rechneten dagegen mit ihren Kenntnissen
aus den sozialdemokratischen Medien vor, dass Krupp die drei Millionen Mark
für seine Wohltätigkeit vorher seinen 45 000 Arbeitern abgenommen habe.323
Die Medien hatten dementsprechend eine Agenda-Setting-Funktion: Durch den
Skandal kam das Thema Krupp in die Gespräche und wurde dann durch Alltagserfahrungen, generelles Wissen und persönliche Einschätzungen abgewandelt.
Die Frage, ob eine Zeitung überhaupt derartige Enthüllungen veröffentlichen
dürfe, löste ebenfalls kontroverse Debatten an den Stammtischen aus. Ein Gast
lobte die Kaiserrede an Krupps Grab gegen die SPD-Presse, da letztere eben so
„schmutzig“ sei wie die SPD selbst.324 Auch in anderen Kneipen hieß es, es sei
gut, „wenn man einmal diesen schmutzigen Blättern etwas mehr auf die Finger
setzen thäte.“325 Für Empörung sorgte wie in den Zeitungen die Einstellung des
Verfahrens, da dies die Doppelmoral, die Klassenjustiz und die Schuld von
Krupp zeige. Das Verfahren sei „eine ganz abgekaterte Sache gewesen, denn die
obere Sippschaft wisse ja zu genau wie man am allerbesten schmutzige Sachen
aus dem Wege kommen könnte. Dieser Fall zeige wieder einmal wie man das
Volk für dumm verkaufen suchte, wenn man wirklich reine Seele hätte, so habe
man das Verfahren nicht eingestellt, sondern das Verfahren vollständig zu Ende
321
322
323
324
325
Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 25. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
Polizeibericht Sankt-Pauli-Süd 27. 11. 1902 und 28. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
Polizeibericht, 2. 12. 1902, in: StAH, S 3930-26 Bd. 1. Ob diese Angaben der Zeitungslektüre
der Polizisten oder der Gäste entsprangen, ist, wie eingangs formuliert, natürlich nicht immer
zu belegen.
Polizeibericht Sankt Pauli-Süd 27. 11. 1902 und 28. 11. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
Ebd. 1. 12. 1902.
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115
geführt.“326 Ebenso sorgte für massive Empörung, dass der sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete Vollmar nicht zum Fall Krupp im Reichstag sprechen
durfte. Allerdings betonten die Kneipenbesucher, dass auch dies letztlich nur
der SPD nützen würde.327
Tatsächlich scheint die Empörung, die der Skandal auslöste, den Sozialdemokraten genützt zu haben. So erreichten sie bei der Wahl 1903 nicht nur reichsweit und besonders im Ruhrgebiet Zuwächse, sondern auch in Krupps Essener
Wahlkreis einen haushohen Sieg. Da der Fall Krupp gerade hier das zentrale
öffentliche Thema war, dürfte er die Wahlentscheidungen beeinflusst haben. Interne Untersuchungen von Krupp zeigten dabei, dass mindestens ein Viertel der
eigenen Arbeiter die SPD wählten.328 Die Repressionsversuche des Staates bewirkten folglich das Gegenteil. Generell dürfte der Fall dazu beigetragen haben,
die Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen der Sozialdemokraten zu
prägen. Sie sahen den Fall Krupp in ihrem Jahresrückblick 1902 nur als einen
von zahllosen Skandalen an, der die „innere Fäulnis“ des „Systems“ zeige.329
Die Skandale waren in dieser Lesart Symptome für den bald bevorstehenden
Zusammenbruch des Kaiserreiches und die bevorstehende Herrschaft des Proletariats.
Der Skandal diskreditierte nicht nur den Kaiser und den Justizminister, deren
angestrebte Verfolgung der SPD-Presse ins Leere lief. Er war vor allem ein
Schlag für das moralische Selbstverständnis des Bürgertums. Während Homosexualität bis ins 19. Jahrhundert noch als ein moralischer Normverstoß galt, der
sich abgrenzend dem Adel oder Unterschichten zuschreiben ließ, traf der Vorwurf nun einen der prominentesten Bürgerlichen. Bereits die Berichte über den
Müßiggang des Unternehmers, die der Skandal vielfach aufbrachte, unterliefen
wie bei entsprechenden Skandalen in Großbritannien das bürgerliche Selbstbild.
Da es sich um den ersten großen deutschen Skandal im ausgehenden 19. Jahrhundert handelte, der offen Homosexualität anklagte und diskutierte, trug der
Fall wesentlich dazu bei, das Bild des Homosexuellen zu konstruieren. Ähnlich
wie in Großbritannien wurde es mit der Verführung Minderjähriger, weiblichem
Verhalten und Schwäche verbunden. Eine verstärkte Verfolgung von Homosexuellen löste der Skandal jedoch nicht aus, ebenso keine Verschärfung der
Gesetzgebung.330 Vielmehr machte der Fall deutlich, wie stark zumindest in
liberalen und sozialdemokratischen Kreisen die Forderung nach einer Abkehr
von der Bestrafung war.
Für die frühe Homosexuellenbewegung und Sexualforschung gab der Skandal den Anstoß für eine verstärkte Aktivität, da nun das Thema mit einem
326
327
328
329
330
Polizeibericht Schutzmann Struve, 17. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
Polizeibericht, 22. 1. 1903, in: StAH S 3930-22 Bd. 9.
Vgl. Anderson, Practicing Democracy, S. 274.
Vorwärts Nr. 1, 1. 1. 1903.
Dabei sind die steigenden Zahlen der Verurteilungen pro Einwohner zu rechnen; vgl. die Daten bei: Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle, S. 77; Baumann, Paragraph 175, S. 58.
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116
II. Homosexualität als Skandalon
prominenten Beispiel in der Öffentlichkeit war. Um ihre bisherigen Annahmen
über die Verbreitung von Homosexualität auf eine empirische Basis zu stellen,
schickte Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitäres Komitee im Jahr 1903 an die
3 000 Studenten der Technischen Hochschule Charlottenburg/Berlin Fragebögen, ebenso Anfang 1904 an die im Berliner Metallarbeiterverband organisierten
Arbeiter.331 Immerhin ergab der große Rücklauf von 60 Prozent der Studierenden, dass 1,5 Prozent sich als homosexuell und 4,5 Prozent als teilweise homosexuell bezeichneten. Zusammen mit den Namens- oder Berufsnennungen von
erpressten oder verurteilten Homosexuellen und den fortlaufenden Meldungen
über deren Selbstmorde konnten sie so an Krupp anknüpfend belegen, dass auch
im Bürgertum Homosexualität verbreiteter war als bisher angenommen und daher eine Bestrafung abzulehnen sei. Dass Hirschfeld auf Antrag eines Studenten
wegen seiner Umfrage verurteilt wurde, erhöhte nur die Publizität seiner Studie.332 Bereits 1905 fanden sich in der neuen Ausgabe von Meyers Konversations-Lexikon diese Werte als statistische Schätzung. Ebenso setzte sich in dem
Eintrag „Homosexualität“ die seit dem Oscar Wilde-Skandal popularisierte
Vorstellung durch, Homosexuelle wären „oft fein entwickelte, hoch kultivierte
Personen“, deren Geschlechtstrieb meist angeboren, selten „als Folge von Ausschweifungen“ zu verstehen sei.333
Die weitere Veröffentlichung der Homosexualität von Prominenten war jedoch auch bei den Lobbyisten für die Abschaffung des § 175 umstritten. Hirschfelds Komitee wehrte sich prinzipiell gegen Albert Molls Plädoyer in der Zukunft, durch die Enthüllung prominenter Homosexueller die Politiker zu der
Einsicht zu bringen, dass auch ein ihnen vertrauter „braver, ausgezeichneter
Mensch“ homosexuell sein könne, weil dies ein „Weg über Leichen“ sei. Vielmehr entgegnete Hirschfeld unter Andeutung seines Wissens:
Namentlich die Herren bei Hofe mögen sich keinen Beunruhigungen hingeben. [...] Wir
wollen aber nicht unterlassen, diese Herren darauf aufmerksam zu machen, ein wie hohes
Verdienst sie sich erwerben würden, wenn sie z. B. auf einer Nordlandreise Gelegenheit
nehmen würden, den Kaiser über Wesen und Verbreitung der Homosexualität zu informieren. Mögen die Herren bedenken, in welche Unannehmlichkeiten sie nicht nur sich
selbst, sondern auch den Kaiser durch einen betreffenden Skandal bringen, vor dem, wie
leider die Fälle Hohenau und Krupp gezeigt haben, selbst die dem Thron zunächst stehenden nicht gesichert sind.334
Damit richtete er jedoch bereits 1903 eine unverkennbare Drohung an Kaiserfreunde wie Philipp von Eulenburg, dass weitere Skandale im Umfeld des Kaisers folgen könnten, wenn der § 175 nicht geändert würde. Denn tatsächlich
hatte der Krupp-Skandal vor allem eins gezeigt: Selbst jemand mit den größten
331
332
333
334
Vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 4. 1904.
Vgl. die Pressestimmen in: ebd. 1. 6. 1904.
Eintrag Homosexualität in: Meyers Konversations-Lexikon 1905.
So Albert Moll in: Die Zukunft 13. 12. 1902. Die zitierte Entgegnung dazu von Hirschfeld im
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1903; erneut abgedruckt in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1907, S. 126.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
117
finanziellen Ressourcen, besten politischen Kontakten und einer eigenen Presseabteilung war gegenüber einer Veröffentlichung wehrlos, die einen derartigen
Normbruch in die Öffentlichkeit überführte.
7. Im Umfeld des Kaisers: Kamarilla, Militär und
Homosexualität
Nach dem Krupp-Skandal spielte das Thema Homosexualität zunächst wieder
nur eine untergeordnete Rolle in der deutschen Öffentlichkeit. Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitäres Komitee versuchte zwar weiterhin, mit Petitionen
eine Gesetzesänderung zu erreichen, aber vor allem die Zentrumspartei
blockierte bereits die parlamentarische Debatte hierüber. Erst Ende März 1905
konnte der SPD-Abgeordnete Adolf Thiele die erhoffte Gesetzesänderung im
Reichstag vorbringen. Seine Forderung nach einer Straffreiheit begründete er
mit ausführlichen Hinweisen auf den naturwissenschaftlichen Forschungsstand,
dem zufolge Homosexualität angeboren sei und über eine Millionen Deutsche
homosexuell wären. Zudem argumentierte er unter Verweis auf Krupp mit der
großen Toleranz gegenüber homosexuellen Eliten, die der Polizei bekannt seien,
und leitete daraus die Forderung nach einer generellen Straffreiheit ab.335 Erwartungsgemäß wurde der Antrag jedoch abgelehnt und der Hinweis auf Krupp
zurückgewiesen. Die Konservativen und Zentrumsabgeordneten begründeten
dies mit der Unsittlichkeit von Homosexualität und der „Gefährdung der Staatsinteressen und der allgemeinen Wohlfahrt“.336 Immerhin führte dieser Vorstoß
die naturwissenschaftliche Einschätzung zur Homosexualität und das Bild der
homosexuellen Eliten erneut in die Öffentlichkeit. Und selbst die Zurückweisung bedeutete eine Auseinandersetzung mit diesen Deutungen.
Unmittelbar nach dem Krupp-Skandal lagen jedoch Nachfolgefälle in der
Luft. Zumindest lassen sich zahlreiche Berichte über Erpressungen von prominenten Personen ausmachen, die mit ähnlichen Skandalen bedroht wurden. So
wurde der Zentrumsabgeordnete Kaplan Georg Friedrich Dasbach 1904 mehrfach erpresst, konnte die Vorwürfe aber in Prozessen zurückweisen und Amt
und Mandat trotz der virulenten Beschuldigungen behalten. Zudem erreichte
der Abgeordnete ein gerichtliches Verbot einer Broschüre des Publizisten Adolf
Brand, eines radikalen Aktivisten der Homosexuellen-Bewegung, der ihm Homosexualität vorwarf. Auch wenn es zu keinem Skandal kam, rückte der Vorwurf gegen den Politiker so in diverse Zeitungen.337 Drei Jahre später musste
335
336
337
Rede 31. 3. 1905, Sten. Ber. RT, Bd. 8, 177. Sitzung, S. 5826–5832.
Reden 31. 3. 1905, ebd., S. 5832–5842, zit. S. 5837.
Adolf Brand, Der Fall Dasbach und die Freundesliebe, München 1904; Hinweise darauf in:
Eugen Johannes Maecker, Harden-Hirschfeld. Eine Aufklärungsschrift, Berlin o. D. (1908),
S. 19 f., in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58203. Zeitungsberichte über einen weiteren Prozess von
Dasbach wegen Erpressung, die nur von „Gerüchten“ sprechen, abgedr. in: Monatsbericht
des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 4. 1904.
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118
II. Homosexualität als Skandalon
sich der Zentrumsabgeordnete Maximilian Josef Pfeiffer gegen ähnliche Gerüchte wehren.338 Äußerst ausführlich berichteten Anfang 1905 auch zahlreiche
Zeitungen darüber, dass ein Breslauer Landgerichtsdirektor seinen Erpressern
Schrot ins Gesicht schoss, nachdem er rund 40 000 Mark gezahlt hatte. Dies löste immerhin in den Medien eine Debatte darüber aus, ob der § 175 zu lockern
sei, wobei die Positionen uneinheitlich blieben; selbst die liberale BZ am Mittag
mahnte die Befürworter einer Entschärfung, vorsichtig vorzugehen, denn: „Der
Ekel ist unter Umständen stärker als alle Vernunft.“339 Zumindest über ein
schärferes Vorgehen gegen solche Erpresser bestand ein Konsens. Die zum Teil
äußerst hohen Strafen für die Erpresser – im Fall des Landgerichtsdirektors
neun Jahre Haft – unterstrichen, wie sehr gerade hier Nachahmungstäter abgeschreckt werden sollten, damit potentielle Homosexuelle zumindest einen
gewissen Schutz zu erwarten hatten.340 Dennoch blieben Selbstmorde nach
Erpressungen an der Tagesordnung. So wählte im gleichen Jahr der Berliner
Unternehmer Hermann Israel den Freitod, nachdem besonders antisemitische
Blätter über seine Erpressung und einen bevorstehenden Prozess wegen der
Homosexualitätsvorwürfe berichtet hatten.341 Ebenso mussten zahlreiche hohe
Offiziere sich Erpressungen erwehren, bis sie sich schließlich der Polizei anvertrauten.342 Durch derartige Berichte bildeten nun Homosexualität, der § 175
und Erpressung im Diskurs eine Einheit. Damit erschienen Homosexuelle unmittelbar nach dem Krupp-Skandal zunächst stärker als Opfer, weniger als Verführer.
Große Skandale entstanden aus diesen Berichten nicht. Selbst nach dem
Selbstmord von Hermann Israel schwiegen viele große Blätter über die genauen
Ursachen.343 Die Zeitungen beschränkten sich auf knappe Meldungen über
Selbstmorde und die über Verurteilungen wegen Homosexualität oder Erpressung. Hier hieß es schlicht, wie etwa in der Frankfurter Zeitung: „Der Unteroffizier Naff vom Infanterie-Reg. Nr. 28 erschoß sich mit seinem Dienstgewehr.
Er hatte sich in geschlechtlicher Hinsicht an Untergebenen vergangen und sollte
338
339
340
341
342
343
Hinweise auf Zeitungsberichte über Pfeiffer in: Linsert, Kabale, S. 496 f.
BZ am Mittag 3. 3. 1905. Das Thema „männliche Prostitution“ kam so immerhin ins Preußische Abgeordnetenhaus: Rede Pallaske, Sten. Ber. über die Verhandlungen des Hauses der
Abgeordneten 15. 2. 1905, XX. Leg. Per., I. Sess., 1904/05, 140. Sitzung, Bd. 7, Sp. 10017–
10021.
Vgl. BZ am Mittag 5. 1. 1905; Kleines Journal 18. 1. 1905, Breslauer Zeitung 5. 1. 1905;
Hinweise im Reichstag hierauf auch Rede Thiele 31. 3. 1905, in: Stenographische Berichte über
die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 8, 177. Sitzung, S. 5826–5832.
3 mal 5 000 Mark Schweigegeld waren anscheinend gefordert worden. Der erpresste Israel
sagte laut Hirschfeld: „Die Presse habe ich nicht zu fürchten, die sind vom Jud abhängig.“
Hirschfeld an Harden 4. 12. 1905, in: BAK, N 1062: 51; zu den Zeitungen, die berichteten (wie
die antisemitische Tägliche Rundschau) vgl. Die Zukunft 2. 12. 1905, S. 311–315.
Vgl. etwa zur Erpressung von Hohenau und Wedel: Tresckow, Von Fürsten, S. 118 f. u. 140.
Maximilian Harden führte dies in einem anklagenden, antisemitisch akzentuierten Artikel auf
den starken Einfluss des jüdischen Anzeigengeschäfts zurück; Die Zukunft 2. 12. 1905,
S. 311–315 u. 16. 12. 1905, S. 410–412.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
119
in Untersuchung gezogen werden.“344 Obwohl viele dieser Fälle so sensible Bereiche wie das Militär betrafen, führten sie zu keiner breiten Empörung. Die
geringe Prominenz der Beschuldigten und der Ausschluss der Öffentlichkeit bei
den Verhandlungen blockierte offensichtlich zusammen mit der Selbstbeschränkung der Medien eine breite Berichterstattung.
Dies änderte sich 1907/08. In diesen Jahren kam es zu einer Häufung von miteinander verbundenen Skandalen, die das Tabuthema Homosexualität in die breite
Öffentlichkeit rückten. Im Zentrum stand dabei der Eulenburg-Skandal, der sich
zum größten und heute noch bekanntesten deutschen Skandal des ausgehenden
19. Jahrhunderts entwickelte. Der Eulenburg-Skandal bildete allerdings nur den
Nukleus von mehreren miteinander verbundenen Homosexualitätsprozessen, die
sich etwa um den Generalmajor und Kommandanten von Berlin, Kuno Graf von
Moltke, und eine Reihe weiterer hoher Adliger drehten. Selbst Reichskanzler
Bülow musste sich in einem Verleumdungsprozess gegen den Vorwurf der Homosexualität erwehren. Da die Beschuldigten überwiegend aus dem Umfeld des Kaisers stammten, entwickelten sich aus diesen Fällen politische Skandale, die neben
der Homosexualität auch die Monarchie insgesamt attackierten.
Die große Bedeutung des Eulenburg/Moltke-Skandals betonten bereits zahlreiche übergreifende Darstellungen. Schon Ernst-Rudolf Huber urteilte in seiner Verfassungsgeschichte, so wie die Skandalaffären des Hauses Bourbon zur
Geschichte der französischen Revolution gehören, so zähle der Moltke-Eulenburg-Skandal zum Zusammenbruch der Monarchie, da er ihr Ansehen schädigte
und ihren Sturz beschleunigte.345 Der Fall Eulenburg ist dementsprechend mit
Sicherheit der am besten erforschte Skandal der deutschen Geschichte. So liegen
populär verfasste Darstellungen zum Ereignisablauf vor346, zur juristischen Urteilsbildung347, zu Eulenburgs Beziehung zu Wilhelm II.348 und zur öffentlichen
Deutung der Monarchie im Zuge des Skandals.349 Ebenso sind zahlreiche Briefe
der Beteiligten in umfangreichen Editionen publiziert.350 Im Unterschied zu
den meisten genannten Studien stehen hier einerseits die Interaktion von Presse,
Politik und Öffentlichkeit im Vordergrund, andererseits die ausgehandelten
Normen – insbesondere beim Umgang mit Homosexualität.
344
345
346
347
348
349
350
Frankfurter Zeitung 4. 9. 1904. Zahlreiche ähnliche Artikel aus Tageszeitungen in den folgenden Ausgaben des: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees.
Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Struktur und Krisen
des Kaiserreiches, Stuttgart 1969, S. 301.
Allerdings ohne Aktenkenntnis: Jungblut, Famose Kerle; ebenfalls ereignisorientiert und
wissenschaftlich nur bedingt brauchbar: Leuchtmann, Der Fall Eulenburg. Eine umfassende
Analyse des Eulenburg-Skandals wird 2009 von Norman Domeier (EUI Florenz) als Dissertation abgeschlossen.
Hecht, Die Harden-Prozesse.
Hull, The Entourage.
Kohlrausch, Der Monarch, S. 186–242.
John C. G. Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard
1976–1983; Helmuth Rogge, Holstein und Harden. Politisch-publizistisches Zusammenspiel zweier Außenseiter des wilhelminischen Reichs, München 1959.
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120
II. Homosexualität als Skandalon
Dass der Skandal eine derartig starke öffentliche Rezeption aufwies, lag nicht
nur an den verhandelten Themen, sondern bereits an seinen beiden Protagonisten. Beide waren ebenso prominent wie öffentlich umstritten. Auf der einen Seite stand Maximilian Harden, der bereits um die Jahrhundertwende zu den wichtigsten deutschen Journalisten zählte. So rückte die Berliner Illustrirte Zeitung
1904 in einem Portraitbericht über „Führende Geister auf dem Gebiet der politischen Publizistik“ sein Bild groß in die Mitte.351 Der 1861 geborene Harden,
der diesen Künstlernamen erst später wählte, stammte aus einem jüdischen Elternhaus, war aber früh zum Protestantismus konvertiert. Nach einigen Erfahrungen als Schauspieler und freier Journalist gab er seit 1892 die mit intellektuellen Essays bestückte Wochenzeitschrift Die Zukunft heraus, deren wichtigster
Autor er zugleich selbst war. Diese zeichnete sich vor allem durch eine Bismarck-treue Ausrichtung aus, die sich gegen den „neuen Kurs“ von Wilhelm II.
und dessen Umfeld richtete. Hardens Essays glänzten durch einen feinsinnig
verspielten Stil, durch Hintergrundinformationen aus politischen Kreisen und
durch ungewöhnlich eigenständige Urteile, die keiner politischen Linie dauerhaft entsprachen. Dementsprechend reichte seine umfangreiche Korrespondenz
von der politischen Linken bis zur Rechten.352 Harden war ein Anhänger der
Monarchie, zugleich aber einer der schärfsten Kritiker von Wilhelm II., was
dem Journalisten Haftstrafen einbrachte.353 Er war prinzipiell konservativ, aber
wie sich im Fall Krupp zeigte, gegenüber Homosexualität durchaus liberal eingestellt, weshalb er auch mit Magnus Hirschfeld korrespondierte.354 Im Unterschied zu vielen anderen Journalisten, die Skandale in Deutschland und Großbritannien anstießen, war Harden jedoch nie als Politiker aktiv gewesen. Er war
vielmehr ein Journalist, der durch seine Artikel, Briefe und Kontakte Politik
gestalten wollte. Damit glich er in vieler Hinsicht dem führenden englischen
Journalisten W.T. Stead, auch wenn Harden weniger durch investigative Recherche auf der Straße agierte, sondern eher als intellektueller Einsiedler aus dem
Berliner Grunewald.355
Auf der anderen Seite stand mit dem 1847 geborenen Philipp von EulenburgHertefeld der lange Zeit engste Freund und Berater des Kaisers. Eulenburg
stammte aus altem Adel, hatte ein großes Vermögen geerbt und einflussreiche
351
352
353
354
355
BIZ Nr. 37, 11. 9. 1904. Zu Hardens Vita vgl. Björn Uwe Weller, Maximilian Harden und die
„Zukunft“, Bremen 1970; H.F. Young, Maximilian Harden. Censor Germaniae, Ein Publizist
im Widerstreit 1892 bis 1927, Münster 1971; knapp und wenig hilfreich: Helga Neumann und
Manfred Neumann, Maximilian Harden (1861–1927). Ein unerschrockener deutsch-jüdischer
Kritiker und Publizist, Würzburg 2003.
Vgl. seine Briefe in: BAK, N 1062.
Weller, Maximilian Harden, S. 114.
Vgl. etwa die Briefe Hirschfelds an Harden im Jahr 1905 in: BAK, N 1062: 51.
Als ein Vergleich zwischen Harden und Stead vgl. Frank Bösch, Volkstribune und Intellektuelle. W.T. Stead, Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Großbritannien und Deutschland, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten, Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 99–120.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
121
Politiker in seiner Familie. Besonders in den 1890er Jahren war er durch seine
freundschaftliche Beziehung zu Wilhelm II. einer der einflussreichsten Politiker,
obgleich er nur einen Posten als Gesandter in München und dann als Botschafter in Wien einnahm. Seine Briefwechsel bersten von Vorschlägen zu Personalrochaden, von Intrigen(berichten) und Überlegungen zu politischen Schachzügen, bei denen er immer gleich die öffentliche Wirkung mit einkalkulierte.356
Viele seiner vertraulichen Briefe, insbesondere an Bülow und Moltke, waren zugleich von einer homoerotischen Freundschaftseuphorie durchzogen, die die
Grenzen der zeitgenössischen romantischen Rhetorik leicht überschritten.357 Er
selbst ließ sich „Phili“ und „Philine“ nennen, den Kaiser nannten er und seine
Freunde „das Liebchen.“ Ebenso wurde der „Liebenberger Kreis“, also jene
hohen Adligen aus dem Umfeld des Kaisers, die sich regelmäßig auf Eulenburgs
Schloss trafen, im hohen Maße durch homoerotische Neigungen zusammen gehalten.358 Im Adel und bei der Berliner Sittenpolizei kursierten dementsprechend bereits vor dem Skandal Gerüchte über Eulenburgs Homosexualität, und
in Wien musste er sich Erpressungen erwehren.359 Letzteres dürfte auch mit erklären, dass er sich 1902, im Jahr des Krupp-Skandals, von seinem Posten als
Botschafter zurückzog, zumal sich sein Verhältnis zu Wilhelm II. schon vorher
abgekühlt hatte.
Eulenburg hatte durch seine anfängliche Schlüsselstellung im „persönlichen
Regiment“ von Wilhelm II. von Beginn an zu den Politikern gezählt, die Harden kontinuierlich kritisierte. Spott über Eulenburgs Privatleben, insbesondere
seine Liebe zu romantischen Liedern und Gedichten, gehörte zu Hardens festem
Arsenal.360 Das essayartige Format seiner Artikel erleichterte derartige flüchtige
Andeutungen. Da Eulenburg im hohen Maße der Figur des schlechten Beraters
zu entsprechen schien, stieß Hardens Kritik auf breite Resonanz.361 Dass Harden ausgerechnet 1906 seine folgenreichste Kampagne startete und auf Eulenburgs Homosexualität anspielte, lässt sich aus der politischen Konstellation erklären. Harden reagierte auf den seiner Meinung nach schlechten Einfluss der
Kaiserberater bei der ersten Marokkokrise, auf das Gerücht, eine Kamarilla um
356
357
358
359
360
361
Vgl. aus den zahlreichen gedruckten Briefen etwa exemplarisch: Eulenburg an Bülow
24. 4. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1820.
Auch Bülow schrieb ihm in diesem Stil; vgl. etwa: „Meine zärtlichsten Gedanken sind immer
bei Dir. Innigsten Dank für Dein Bild. Es steht auf meinem Schreibtisch. Ich werde es oft betrachten. […] In Liebe und Treue umarmt Dich Dein.“ Bülow an Eulenburg 31. 3. 1894, abgedruckt in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 1277.
Hull, The Entourage, S. 61 f.
Vgl. Rogge, Holstein, S. 59; Bericht Berckheims Nr. 24, 8. 11. 1906, in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 2138; Anton von Monts, Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Graf Monts, hrsg. von Karl Friedrich Nowak und Friedrich
Thimme, Berlin 1932, S. 183–185.
Vgl. etwa Die Zukunft 28. 9. 1895 über Eulenburg: „ein unerfahrener und in diplomatischen
Prüfungen nicht bewährter Herr, der Skaldengesänge und Märchenlieder von der Freiheit
dichtet und komponiert und zur Sommerzeit Schiffsdienst hat.“
So auch: Kohlrausch, Monarch, S. 189.
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122
II. Homosexualität als Skandalon
Eulenburg würde den Sturz des erkrankten Kanzlers Bülows vorbereiten, auf
die Verleihung des schwarzen Adlerordens an Eulenburg und auf die Entlassung der grauen Eminenz des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Holstein, zu
dem Harden nach dessen Sturz einen intensiven Kontakt aufbaute.362 Zudem
brachten die Memoiren des ebenfalls durch Eulenburg gestürzten Kanzlers Hohenlohe das Bild von einer unverantwortlichen Kamarilla erneut in die Öffentlichkeit, obgleich Hohenlohes posthume „Denkwürdigkeiten“ Eulenburg fast
gar nicht erwähnten.363 Ähnlich wie bei den Kampagnen der Iren, der englischen
Radicals und der Sozialdemokraten war es somit weniger der Hass auf Homosexuelle als die Verbitterung über eine spezifische politische Konstellation, die
Harden zu den Enthüllungen trieb.
Der Skandal begann ähnlich wie bei den britischen Homosexualitätsskandalen nicht durch eine auffällig angekündigte Enthüllung in einer Boulevardzeitung, sondern durch verschlüsselte Andeutungen in einer kleinen politischen
Zeitschrift. Zwischen Oktober 1906 und Mai 1907 streute Harden in seine politischen Essays in der Der Zukunft verspielte Formulierungen ein, die Eulenburg
und Moltke in die assoziative Nähe von Homosexualität setzten. So fanden sich
etwa ganz nebenbei Begriffe wie „warmes Eckchen“, „verschiedener Sinnesrichtung“, „Der Süße“ und schließlich der deutliche Hinweis auf eine nicht gesunde „vita sexualis“.364 Harden betonte dabei, dass ihr Privatleben eigentlich
nicht an die Öffentlichkeit gehörte, wenn Eulenburg nicht dem Reich durch
seine Personalpolitik und Intrigen schaden würde.365 Ähnlich wie bei den
skandalauslösenden Artikeln von O’Brien oder Labouchere in Großbritannien
waren die Andeutungen gezielte Erpressungsversuche, die politische Ziele und
Reaktionen erreichen sollten. So hieß es direkt in einem fiktiven Dialog, mit
dem Harden ohne Namensnennung auf Eulenburg und Moltke anspielte: „Der
Harfner: ‚Meinst Du, daß noch mehr kommt?‘ Der Süße: ‚Wir müssen mit der
Möglichkeit rechnen; er scheint orientiert, und wenn er Briefe kennt, in denen
vom Liebchen die Rede ist...‘ Der Harfner: ,Undenkbar! Aber sie lassen alles
362
363
364
365
Vgl. auch Hull, The Entourage, S. 121–127; Hull betont zwar den de facto geringen Einfluss
von Eulenburg, allerdings waren gerade die Gerüchte und öffentlichen Wahrnehmungen für
das Aufkommen des Skandals entscheidender. Zur suggestiven Kraft des Kamarilla-Diskurs
vgl. auch Kohlrausch, Monarch, S. 176–185.
Lediglich drei beiläufige Einträge beziehen sich auf ihn; Friedrich Curtius (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 2 Bde., Stuttgart und
Leipzig 1906.
Vgl. bes. Die Zukunft 27. 10. 1906, S. 135; 17. 11. 1906, S. 264 f.; 24. 11. 1906, S. 291; 8. 12. 1906;
27. 4. 1907, S. 118.
Vgl. Die Zukunft 17. 11. 1906, S. 265 f. „Jahre war kein wichtiger Posten ohne seine Mitwirkung besetzt worden. [...] Er hat für all seine Freunde gesorgt. Ein Moltke ist Generalstabschef, ein anderer, der ihm noch näher steht, Kommandant von Berlin, Herr von Tschirschky
Staatsekretär im Auswärtigen Amt; und für Herrn Varnbüler hofft man auch noch ein warmes
Eckchen zu finden. [...] Das alles wäre ihre Privatwirtschaft, wenn sie nicht zur engsten Tafelrunde des Kaisers gehörten und (ich habe noch lange nicht alle Affiliierten aufgezählt) von
sichtbaren und unsichtbaren Stellen aus Fädchen spönnen, die dem deutschen Reich die Athmung erschweren.“
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
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abdrucken. Sie wollen uns mit Gewalt an den Hals.‘ Der Süße: ‚Eine Hexenzunft. Vorbei! Vorbei!‘ Der Harfner: ‚Wenn Er nur nichts davon erfährt!‘“366
Die eigentliche medial vermittelte Erpressung war damit, dass alle und selbst der
Kaiser von ihren homoerotischen Neigungen erfahren würden, falls sich die
„Kamarilla“ nicht zurückzöge. Zudem bedrohten die angekündigten Briefe den
Kaiser selbst: Wenn heraus käme, dass Wilhelm II. homosexuelle Freunde hatte,
die ihn auch noch „Liebchen“ nannten, war sein Autoritätsverlust abzusehen,
zumal er selbst in den Verdacht der Homosexualität geraten könnte.
Zumindest die Betroffenen und die politische Elite verstanden diese verschlüsselte politische Erpressung des Journalisten deutlich. Entsprechend
setzten nun informelle Verhandlungen mit dem Journalisten ein. Über einen
Mittelsmann, den Hamburger Schauspielhausdirektor Alfred von Berger, begannen die Beschuldigten mit Harden zu verhandeln, um die drohende weitere
Veröffentlichung der Vorwürfe und einen Skandalprozess zu verhindern.367 Bereits die kurzfristigen Erfolge Hardens waren nicht gering: Eulenburg verließ
tatsächlich das Land, und Harden stellte die erpresserischen Artikel ein. Als Eulenburg dann nach drei Monaten wieder zurückkehrte, sich in die Frankreichpolitik einzumischen schien und sich dabei mit dem von Harden ebenfalls als
homosexuell eingeschätzten Botschaftsrat Lecomte traf, begann Harden seine
Angriffe erneut. Diesmal allerdings umso deutlicher, wenn auch weiterhin ohne
explizite Namensnennung, die sofort einen Verleumdungsprozess erfordert hätte. Stattdessen begannen im April und Mai 1907 erneute Verhandlungen mit
dem Journalisten. Als Unterhändler traten neben Berger nun auch Moltkes Vetter und Walter Rathenau auf, wobei letzteren Reichskanzler Bülow sandte.368
Ähnlich wie bei den englischen Skandalen versuchte die Regierung damit ebenfalls, mit allen Mitteln einen Prozess zu verhindern. Harden ließ jedoch über
Rathenau drohend übermitteln, dass er genug Material habe, um „einen Skandal
[zu] machen, von dem die Welt widerhallt.“369 Schließlich forderte Moltke
Harden sogar zum Duell auf, was Harden ablehnte.370 Obwohl Duelle bereits
366
367
368
369
370
Die Zukunft 24. 11. 1906, S. 291.
Dass Berger nicht eigenständig auftrat, wie er und Eulenburg zunächst betonten, zeigt ein
späterer Brief von ihm an Harden über die Gespräche „in dem Novembertagen 1906 (die mit
dem Gfn. Moltke, mit Ihnen, mit dem Fstn. E., mit Ihnen und dann wieder mit dem Gfn.
M.)“; Berger an Harden 21. 12. 1907, in: BAK, N 1062-13. Vgl. auch Berger an Harden
4. 12. 1906 und 6. 12. 1906, in: ebd. Diese Verhandlung sind zudem bekannt, da Harden sie
später publik machte: Vgl. Zukunft 22. 6. 1907; Schreiben Harden an: BZ Nr. 139 17. 6. 1907;
Vossische Zeitung Nr. 605, 28. 12. 1907.
Vgl. Berger an Harden 10. 5. 1906, in: BAK, N 1062-13; Harden an Holstein 12. 5. 1907 u.
1. 6. 1907, abgedr. in: Rich und Fisher (Hrsg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 4, S. 428 f. u. 434 f. Zu Rathenau Vermittlung vgl. die Briefe in: Hans Dieter Hellige nimmt an, dass Harden auf diese Weise Einfluss auf die Pressepolitik nehmen wollte;
ders. (Hrsg.), Walther Rathenau – Maximilian Harden, Briefwechsel 1897–1920, München
1983, S. 522–529.
Harden an Rathenau 20. 6. 1907, abgedr. in: Hellige (Hrsg.), Harden – Rathenau, S. 529.
Vgl. Hardens spätere Rechtfertigung für seine Ablehnung in: Harden an BZ am Mittag Nr. 139
17. 6. 1907.
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124
II. Homosexualität als Skandalon
gesetzlich verboten waren, erforderte der militärische Ehrenkodex eine entsprechende Reaktion des Generals. Zudem erlaubte das Duell, im Unterschied zum
modernen Verleumdungsprozess, auf eine Klärung der Vorwürfe zu verzichten,
während ein Prozess ihre Veröffentlichung sorgen würde.
Die ersten Andeutungen Hardens hatten die Vorwürfe in die mündliche
Öffentlichkeit der Eliten überführt, kaum jedoch in die Medienöffentlichkeit.
Die großen Zeitungen reagierten auf die erpresserischen Andeutungen zunächst ähnlich zurückhaltend wie bei den britischen Fällen und ignorierten sie
weitgehend. Immerhin griff die BZ am Mittag die versteckten Hinweise auf,
blieb auf der spielerischen Ebene von Harden und thematisierte den unterschiedlichen Sagbarkeitsgrad in den jeweiligen Öffentlichkeiten: „Sie fragen,
wer der Süße und wer der Harfner ist? Ich darf’s Ihnen nicht sagen; aber in
jedem Salon unserer tugendsamen Stadt wird ihnen eine Freundin hinter dem
Fächer die Namen der beiden Herren zuflüstern.“371 Wie bei den Zuschauern
bei den Gerichtsprozessen galten damit Frauen wiederum als die eigentlichen
Adressaten von skandalösen Gerüchten. Und wie bei den britischen Skandalen
kamen die Vorwürfe erst in die breite Medienöffentlichkeit, als eine offizielle
Reaktion einsetzte. Von einer reaktionsschnellen „Sensationslust“ der Boulevardmedien kann man also auch bei diesem Skandal nicht sprechen.
Da der Skandal durch eine eigenständige Veröffentlichung eines Journalisten
ausgelöst wurde, ähnelte er typologisch dem politischen Kampagnenstil, wie er
bereits im britischen Dublin Castle-Skandal erkennbar wurde. Auch Hardens
erste öffentliche Anspielungen beruhten nur auf Gerüchten, einigen informell
übermittelten Informationen und Briefen mit Andeutungen. Vor allem die geschiedene Frau von Moltke, Lilly von Elbe, war Hardens wichtigste Informantin. Die eigentliche Recherche, die die schlagenden Beweise gegen Eulenburg
hervorbrachte, setzte jedoch auch in diesem Skandal erst im Zuge der Prozesse
ein. Wie bei den englischen Skandalen beschäftigte auch Harden einen Detektiv
hierfür, der vor allem am Starnberger See Zeugen und frühere Liebhaber von
Eulenburg aufstöberte. Der Gerichtsprozess erwies sich damit erneut als Katalysator für die Ausbildung des recherchierenden Journalismus.
Dass der Skandal schließlich ausbrach, lag nicht zuletzt erneut an der impulsiven Reaktion des Kaisers. Nachdem der Kronprinz ihm Anfang Mai 1907 von
den Gerüchten erzählt hatte, verlangte er sofort den Rücktritt von Moltke und
Eulenburg und eine Klärung per Duell oder Prozess. Damit war die breite Veröffentlichung der Vorwürfe unvermeidlich. Während Moltke nach den gescheiterten Vermittlungsversuchen eine Verleumdungsklage einreichte, versuchte
Eulenburg diese dennoch mit allen Mitteln zu umgehen. Eulenburg warnte Wilhelm II. mit etwas drohendem Unterton, Harden wolle nur einen „politischen
Skandal-Presseprocess“, den er selbst aber gerade mit Rücksicht auf den Kaiser
371
BZ am Mittag 3. 12. 1906.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
125
vermeiden wollte.372 Ähnliches schrieb er Bülow.373 Der Generalstaatsanwalt,
mit dem Eulenburg sich austauschte, empfahl ihm ebenfalls von einem Prozess
abzusehen.374 Um den Kaiser zu beruhigen, forderte Eulenburg stattdessen ein
Disziplinarverfahren und leitete schließlich eine Selbstanzeige wegen Verstoßes
gegen den § 175 an, was eine kleine kontrollierbare Untersuchung mit wenig
Aufmerksamkeit versprach. Dieses Zurückweichen vor einem Prozess gegen
den Journalisten zeigte, dass eine derartige Skandalisierung nicht mehr mit herkömmlicher Pressezensur auffangbar erschien. Ein Verleumdungsprozess, das
wussten die Beteiligten aus früheren Fällen, war bei einem derartigen Vorwurf
ein unkalkulierbares Risiko.
Erst mit den Suspendierungen und den angekündigten Prozessen setzte ab
Ende Mai 1907 eine breite Presseberichterstattung und Empörung in allen
Zeitungen ein und damit auch der Skandal. Die Zeitungen druckten Hardens
Artikel ab und gaben eigene Einschätzungen zum „Liebenberger Kreis“. Im
Unterschied zum Fall Krupp beklagten sie sich bereits in dieser Phase über die
Homosexualität der Liebenberger Runde, aber ebenso auch deren „Mystizismus“ und „Spiritismus“.375 Dies war jedoch nur der Anfang eines nahezu zweijährigen Skandals mit zahlreichen Prozessen, der alle anderen Fälle von seinem
Ausmaß und seinen vielfältigen Wendungen übertrat. Deshalb scheint, auch
wenn dies nicht immer zu trennen ist, zunächst ein analytischer Blick auf seine
dynamischen Verlaufsformen hilfreich, um dann in einem zweiten Schritt die
ausgehandelten Normen und Deutungsmuster zu untersuchen, die vor allem
Zuschreibungen über Homosexuelle konstruierten.
Verlaufsformen
Der Eulenburg-Skandal war ein Paradebeispiel dafür, mit welcher Macht die
Medialisierung den Obrigkeitsstaat herausforderte. Auch die Karikaturen der
Zeit sahen den Skandal als einen Kampf zwischen den Journalisten und der Politik, die im „Sensationszirkus“ ihre Muskeln spielen ließen (vgl. Abb. 2).376 Wie
offen der Ausgang dieses Ringens war, zeigten die zahlreichen überraschenden
Wendungen des Skandals, die vor allem den staatlichen Kontrollverlust markierten. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, ging dies mit einem äußerst
wechselhaften Verhalten aller Beteiligten einher. Sowohl die politischen Akteure
als auch die Presse reagierten immer wieder mit äußerst unterschiedlichen, teil372
373
374
375
376
Eulenburg an Wilhelm II., 5. 5. 1907, in: GStA, BPH Rep 53 J Lit. E Nr. 1.
Eulenburg an Bülow 12. 5. 1907, in: Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburgs 1910, in: BAK,
1029: 75, 105.
General-Staats-Anwalt Wachler an Eulenburg 13. 5. 1907 in: GStA, BPH Rep 53 J Lit. E
Nr. 1.
Vgl. die Pressesammlung in: BAB/L, R 8034II: 7836; etwa: Deutsche Zeitung Nr. 120;
4. 6. 1907.
Lustige Blätter 19. 11. 1907.
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126
II. Homosexualität als Skandalon
Abb. 2: Der Skandal als Schaukampf zwischen Medien und Politik; Quelle: Lustige
Blätter 19. 11. 1907.
weise diametral entgegen gesetzten Strategien und Bewertungen. Das lag nicht
nur an den typischen, unberechenbaren Dynamiken, die der Skandal im öffentlichen Aushandlungsprozess entwickelte. Auch die allgemeine Unsicherheit,
wie mit den tabuisierten Vorwürfen umzugehen sei, verstärkte das sprunghafte
Verhalten. Beides führte zu trial and error-Reaktionen und zu öffentlichen Empörungen, die sich abwechselnd auf den anklagenden Journalisten, die beschuldigten Adligen und auf die Justiz richteten.
Wie schnell der Skandal seine Ausrichtung verändern konnte, zeigte sich bereits in den ersten Monaten. Während im Krupp-Skandal der Vorwärts für seine
Enthüllungen mehrheitlich verdammt worden war, galten Hardens Enthüllungen nach Ausbruch des Eulenburg-Skandals in fast allen Kommentaren als
richtiger Schritt, da er Kaiser und Staat vor schlechten Beratern beschützt habe.
Damit galt weniger die Homosexualität als die politische Kompetenz als der eigentliche Malus. Diese Einschätzung veränderte sich jedoch bereits am 15. Juni
1907 schlagartig, als Harden eine eidesstaatliche Aussage gegen Eulenburg ver-
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
127
weigerte, der ihn als einzigen Zeugen für seine Selbstanzeige berufen hatte.377
Harden rechtfertigte seine plötzliche Zurückhaltung damit, er spare sein Material für einen richtigen Prozess auf. Dennoch richtete sich die öffentliche Empörung nun gegen ihn, weil eine detaillierte Offenlegung des Geheimnisses erwartet wurde. Damit war gleich zu Beginn des Skandals erneut deutlich, wie schnell
sich Enthüllungen über sexuelle Normbrüche gegen den anklagenden Journalisten selbst wenden konnten.
Ähnlich wechselhaft waren die Reaktionen der Staatsführung. So fällt im
Unterschied zum Krupp-Skandal und den englischen Skandalen auf, dass der
Monarch und der Regierungschef die Beschuldigten zunächst nicht unterstützten. Das hatte persönlich politische Gründe, da Harden jene Kamarilla bekämpfte, der Bülow zwar seinen Aufstieg zum Außenstaatssekretär und dann
zum Kanzler mit verdankte, die ihn aber zugleich angeblich im letzten Herbst
hatten stürzen wollen. Zudem ahnte Bülow vermutlich durch seine frühere enge
Freundschaft zu Eulenburg die mögliche Stichhaltigkeit der Gerüchte, so dass
er kein Risiko eingehen wollte. Den „Freundesschutz“, den Eulenburg von
ihm persönlich erbat und den die vorherigen bei vielen anderen Skandalen gewährten, lehnte Bülow daher wie der Kaiser ab.378 Vielmehr teilte Bülow
Eulenburg auch im Namen des Kaisers brieflich mit, dass Eulenburg in Liebenberg Gäste mit „anrüchigem Renommee“ empfangen habe, dass er heimlich
mit Harden verhandelt hätte, obwohl er angeblich die Artikel nicht kannte,
und dass dem Kaiser Teile der belastenden Briefe von Harden bekannt seien.
Eulenburg solle deshalb sofort seine Pensionierung einreichen und mit klarer
Erklärung gegen Harden vorgehen oder „unter Rückgabe des Schwarzen Adler-Ordens unter Vermeidung jeden Aufsehens sich in das Ausland begeben.“379
Ähnlich wie bei den englischen Fällen galt damit die Emigration, und nicht das
Gefängnis, als die eigentliche Lösung und Strafe für die mutmaßliche Homosexualität.
Zurückhaltung zeigten Regierung und Justiz auch beim ersten Prozess, den
Moltke gegen Harden im Oktober 1907 führte. Das Gericht hatte recht freie
Hand, verhandelte öffentlich und versuchte vergleichsweise unvoreingenommen gegenüber Harden die Stichhaltigkeit der Vorwürfe zu ermitteln. Im Vorfeld hatte Bülow seine Mitarbeiter schon angewiesen, Angriffe auf die Zukunft
zu unterlassen.380 Bülow bemühte sich vor allem um Distanz zu Eulenburg. Als
er für den Prozess als Zeuge bestellt wurde, sicherte er sich daher mit zahlreichen Briefen ab, dass er verhindert sei und blieb im heimischen Klein Flott-
377
378
379
380
Vgl. die Presseausschnittssammlung in: BAB/L, W 8034 III 114.
Bülow an Eulenburg 17. 5. 1907, Eulenburg an Bülow 5. 6. 1907, in: ebd. Zur Protektion der
Eliten durch die politische Führung, die hier vor allem Moltke erfuhr, weitere Beispiele in den
folgenden Kapiteln.
Bülow an Eul. 31. 5. 1907, in: Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburgs 1910, in: BAK, 1029:
75, S. 114.
Bülow an Löbell 27. 9. 1907, in: BAB/L, N 2106/13: 22 f.
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128
II. Homosexualität als Skandalon
bek.381 Ebenso erschienen nicht die adligen Zeugen aus der Hofgesellschaft, die
wegen ihrer homosexuellen Neigungen ebenfalls kein Risiko eingehen wollten
– wie Eulenburg und der Major Graf Lynar. Das Gericht überführte Moltke
zwar nicht des homosexuellen Verkehrs, wohl aber einer homosexuellen Veranlagung. Zudem sah es homosexuelle Orgien von hohen Offizieren mit Soldaten
in einer benachbarten Villa von Moltke als belegt an. Der freigesprochene
Harden galt deshalb Ende September öffentlich als klarer Sieger. Zahlreiche
Zeitungen lobten unmittelbar nach dem Prozess seine Enthüllungen und die Beseitigung einer Kamarilla als sein Verdienst. Damit hatte ein Journalist über die
alten Eliten triumphiert, und die Empörung richtete sich erneut gegen die besiegte Kamarilla.
Gerade dieser Triumph eines Journalisten leitete jedoch eine weitere öffentliche Neubewertung des Skandals ein. Sie richtete sich gegen den Journalisten
und die Homosexuellenbewegung. Der Antisemitismus der Konservativen war
dabei ein entscheidendes Movens, um die scheinbar unbegrenzte Macht von
Harden anzugreifen. In den konservativen Zeitungen sorgte schon kurz nach
dem Prozess für Empörung, dass ein „jüdischer Advokat“ einen preußischen
General der Unmoral überführte, weshalb etwa die Deutsche Zeitung aus
„arischem Empfinden“ Moltke Mitleid aussprach.382 Auf das „Judentum“ von
Hardens Verteidiger Bernstein, und dann auch auf Harden selbst, führten die
rechten Zeitungen auch die öffentliche Verbreitung unsittlicher Äußerungen
zurück. Moltke sei zudem ein Opfer ihrer „jüdischen Rabulistik“, der er sich
nicht erwehren konnte.383 Auch die beschuldigten Adligen deuteten den Fall
ähnlich. Eulenburg stilisierte sich selbst gegenüber dem Staatsanwalt und Freunden als Opfer des „Juden Harden“ und des „Judenthums“, das die öffentliche
Meinung beherrsche, und Graf von Wedel rief angeblich aus: „regiert denn dieser Jude heute in Preußen und setzt Generäle und Botschafter ab?“384 Um die
rassistischen Vorurteile gegen den längst konvertierten Harden zu schüren, begannen die konservativen Zeitungen ab Anfang November 1907 Harden mit
seinem früheren Namen „Wittkowski“ zu bezeichnen.385 Obgleich er mit dem
Vornamen Felix Ernst geboren wurde, nannte die Konservative ihn nun häufig
„Isodor Wittkowski“, um ihn als polnischen Juden zu diskreditieren. Diese antisemitische Stoßrichtung verband die konservative Presse mit Schuldzuweisungen an die Justiz. „Wo war die preußische Justizverwaltung im Prozeß
Molkte-Harden?“ fragte etwa die Tägliche Rundschau und sprach vom Versagen
des Justizministers, der die „sittliche und politische Bedeutung“ des Prozesses
381
382
383
384
385
Vgl. Loebell an Bülow, 19. 10. 1906; Loebell an Amtsgericht 19. 10. 1906; AA an Loebell
23. 10. 1906, Bülow an Loebell 24. 10. u. 26. 10. 1906, in: BAB/L, R 43/ 798b: 6.
Deutsche Zeitung Nr. 300; 30. 10. 1907.
Post Nr. 510, 30. 10. 1907; Conservative Correspondenz Nr. 77, 28. 10. 1907.
Vgl. Eulenburg an Staatsanwalt Isenbiel 11. 5. 1908 u. Eulenburg an Horst von FarenheidBeyruhnen 31. 12. 1908 (Abschrift 1918), in: BAK, N 1029-78; Wedel laut: Tresckow, Von
Fürsten, S. 183.
Dies setzt ein etwa in: Post Nr. 525 8. 11. 1907.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
129
nicht erkannt habe – entweder aus „Unfähigkeit“ oder aus „Furcht vor der vom
jüdischen Liberalismus zersetzten Presse.“386 Die konservative Presse trat damit
als Akteur gegen Harden auf und förderte einen Kurswechsel in der Regierung,
den zugleich auch der Kaiser mit seinen erbosten Kommentaren an den Zeitungsausschnitten verlangte.387 Zumindest in ihrem Lager gelang es dadurch,
mit der Beschwörung der jüdischen Bedrohung die angebliche Bedrohung durch
Homosexualität zu überdecken.
Ein nur zwei Wochen später folgender Prozess, der erneut einen Homosexualitätsvorwurf verhandelte, verstärkte diese Wende in der öffentlichen Meinung
und führte endgültig zu einer harten staatlichen Reaktion gegen den Journalisten. Hardens Erfolg hatte Trittbrettfahrer ermutigt. Im September 1907 hatte
der Publizist Adolf Brand in einer Broschüre einen Artikel über „Fürst Bülow
und die Auffassung vom § 175“ publiziert, der dem Kanzler ein homoerotisches
Verhältnis mit seinem Sekretär Max Scheefer nachsagte. Dieser würde ihn auf
seinen Urlauben nach Norderney zu „Scheeferstunden“ begleiten, gelte als des
Kanzlers „bessere Hälfte“ und Bülow selbst habe bereits einen Erpressungsversuch wegen des § 175 hinter sich. Zudem sei der Neffe des Kanzlers, Bernhard
von Bülow, der Privatsekretär von Eulenburg, „ebenso wie sein Onkel selber
homosexuell veranlagt.“388 Brand stand der Homosexuellenorganisation „Gemeinschaft der Eigenen“ vor und publizierte seit längerem über Homosexualität, was bereits zu Gefängnisstrafen geführt hatte.389 Durch diese „Enthüllung“
über einen weiteren Politiker hoffte er anscheinend, die Akzeptanz der Homosexualität zu erhöhen und sie zu „normalisieren“. Sein Heftchen verschickte er
an verschiedene Zeitungen, die aber ganz überwiegend nicht darüber berichteten, was Bülows Pressebeauftragter, Otto Hammann, auch direkt mit den Journalisten aushandelte.390 Dennoch kursierte Brands Beschuldigung schnell, und
auch Harden wusste bereits wenige Tage später davon.391 Bülow, der Eulenburg
hinter den Vorwürfen vermutete, entschied sich nach einigem Abwägen für eine
Klage, obwohl er sonst stets von Beleidigungsprozessen gegen Journalisten
absah. Da die Vorwürfe völlig haltlos waren, griff das Gericht nun mit voller
Härte durch und verurteilte Brand zur Höchststrafe von 1½ Jahren Haft.392 Die
386
387
388
389
390
391
392
Tägliche Rundschau Nr. 509, 30. 10. 1906.
Vgl. auch die abgedruckten Kommentare von Wilhelm II. in Rogge, Holstein, S. 234.
Exemplar der Schrift vom 10. 9. 1907 in: Landesarchiv Berlin (LB), A Rep. 358-01 Nr. 8.
Hinweis auf eine Verurteilung 1903 in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, November 1903.
Loebell an Bülow und Hammann an Bülow, beide 26. 9. 1907, in: BAB/L, N 2106/13; Vgl.
rückblickend auch: Deutsche Tageszeitung, 12. 10. 1907.
Holstein an Harden 16. 9. 1907, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 212.
Urteil in: LB A Rep. 358-01. Vgl. auch: Marita Keilson-Lauritz, Wilhelmshagen gegen das
Deutsche Reich. Adolf Brands Flugschrift gegen den Reichskanzler von Bülow, in: Capri, 17
(1994), S. 2–16. Einzelne Hinweise zu Brand in: Ulfried Geuter, Homosexualität in der
deutschen Jugendbewegung: Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994, S. 46.
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II. Homosexualität als Skandalon
Justiz unterstrich damit nach der Kritik an ihren zu milden Urteilen, dass sie für
Verleumder harte Strafen erließ.
Entscheidend für die Wende in der öffentlichen Meinung war zudem, dass der
bei diesem Prozess eigentlich unbeteiligte Eulenburg unter Eid aussagte, nie
gegen den § 175 verstoßen zu haben. Da hier keine Zeugen und Fragen von
Harden drohten, war dies ein taktisch kluger Zug, durch den nun in der Öffentlichkeit auch Hardens Vorwürfe haltlos erschienen. Erstaunlicherweise führte
dies zu einem völligen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Die bürgerliche Presse richtete sich jetzt überwiegend gegen Harden, und die konservativen
Zeitungen forderten seine Verurteilung und die seines „jüdischen“ Anwaltes
Bernstein. Auch Magnus Hirschfeld, der sich im Moltke-Prozess noch als Experte profilieren konnte und im Brand-Prozess erneut als Sachverständiger auftrat, stieß nun selbst in den liberalen Zeitungen auf harte Kritik. Selbst sie bezeichneten ihn, der eben noch als Experte galt, als „gemeingefährlich“, sprachen
von „Volksvergiftung“ und „schmutziger Scheußlichkeit“.393 Hirschfeld und
sein Komitee stürzten durch den Vorwurf, die Homosexuellen-Lobbyisten
würden selbst den Kanzler als homosexuell denunzieren, um ihre Ziele durchzusetzen, in die schwerste Krise seit ihrer Gründung.394
Wie lässt sich dieser rasante Umschwung der öffentlichen Meinung und Empörung erklären? Erstens löste der Prozess von Bülow die Angst aus, Politiker
könnten zukünftig laufend derartigen Beschuldigungen ausgesetzt sein. Um
weitere Nachahmer abzuschrecken, erschien auch Hardens Bestrafung nötig.
Zweitens führte Eulenburgs Eid zu der Hoffnung, mit einer Beschuldigung
Hardens die gesamten Enthüllungen revidieren zu können, die der Moltke-Prozess über hohe Militärs gemacht hatte, und so das Ansehen des Staates, des Militärs und damit die soziale Ordnung wieder herzustellen. Drittens hatte Hirschfeld bei seiner Expertise, die ausführlich auf die (oft angebliche) Homosexualität
von prominenten historischen Persönlichkeiten hinwies, offensichtlich eine
Grenze überschritten. Die historische Argumentation der Homosexuellenbewegung erwies sich damit als deutlich weniger akzeptabel als die zuvor aufgebrachte medizinische Umdeutung. Hirschfelds Ausführungen lösten zudem die
Angst aus, dass nun nicht nur die gegenwärtigen Politiker, sondern auch die
vergangenen als homosexuell bezeichnet würden.395 Vor seinem Haus wurden
antisemitische Flugblätter verteilt mit Überschriften wie „Dr. Hirschfeld eine
393
394
395
Vgl. Deutsche Zeitung 7. 11. 1907; Berliner Tageblatt 7. 11. 1907; Vossische Zeitung
7. 11. 1907; Frankfurter Zeitung 7. 11. 1907. Bes. drastisch etwa der Artikel „Das Trio Wittkowski-Bernstein-Hirschfeld“, in: Post Nr. 525, 8. 11. 1907. Vgl. auch: Erwin J. Haebele,
Justitias zweischneidiges Schwert – Magnus Hirschfeld als Gutachter in der Eulenburg-Affäre, in: Klaus M. Beier (Hrsg.), Sexualität zwischen Medizin und Recht, Stuttgart/Jena 1991,
S. 5–20.
So sah es auch Hirschfeld selbst; vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären
Komitees 1. 12. 1907, S. 229.
Neue Preussische Zeitung 7. 11. 1907; Deutsche Zeitung 7. 11. 1907; Münchner Neueste Nachrichten 8. 11. 1907.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
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öffentliche Gefahr – Die Juden sind unser Unglück“.396 Das Ziel der öffentlichen Empörung hatte sich damit in kurzer Zeit gewandelt: Statt gegen die
homosexuelle Kamarilla richtete sie sich jetzt wieder gegen diejenigen, die Vorwürfe aufbrachten.
Ebenso veränderten die Staatsführung, die Justiz und die Beschuldigten ihren
Umgang mit dem Skandal. Sie gingen jetzt offensiv gegen Harden und die Vorwürfe vor und leiteten seine Verurteilung ein. Am hartnäckigsten sprach sich
der Kaiser gegen einen heimlichen Vergleich von Moltke-Harden aus und verlangte einen erneuten Prozess.397 Sowohl der Justizminister als auch Eulenburg
ließen den Staatsanwalt wissen, dass ein „öffentliches Interesse“ an einer Verfolgung der Vorwürfe bestehe, woraufhin dieser Anklage erhob. Die Reichskanzlei
hoffte zwar weiter auf eine Verhinderung eines erneuten Prozesses, ließ Harden
dann wissen, er solle sich im Interesse des Landes beim Prozess mäßigen und
würde dann im schlimmsten Falle eine Geldstrafe erhalten.398 Um Harden keinerlei Forum zu geben, wurde bei dem Prozess „im Interesse der öffentlichen
Sittlichkeit“ die gesamte Öffentlichkeit, auch die Presse, ausgeschlossen.399
Wichtige Zeugen von Harden hörte das Gericht nicht an. Die Pressemeldungen
und das rigide Auftreten der Justiz schüchterten offensichtlich ein: Harden
selbst blieb erstaunlich zurückhaltend, Experten wie Hirschfeld und Kommissar Tresckow sahen plötzlich Moltkes Unschuld, und die wichtigste Zeugin, die
Ex-Frau von Moltke wurde für „hysterisch“ erklärt. Ohnehin hatte der Staatsanwalt dem Justizminister schon vor dem Prozess seinen Befund vorgelegt, bei
Moltke und Eulenburg seien keinerlei Anzeichen von Homosexualität festzustellen, was er in seinem Plädoyer wiederholte („Nicht eine Spur von Homosexualität ist an dem Grafen nachgewiesen, nicht ein Atom femininer Eigenschaften“).400 Angesichts dieser Absprachen überraschte es wenig, dass Harden
zu vier Monaten Haft verurteilt wurde.
Das vernichtende Urteil, dass das Gericht über Hardens journalistische Sorgfalt sprach, drückten die Zeitungen noch deutlicher aus. Auch die liberale und
katholische Presse sprach jetzt von dem völligen Ende der Karriere des Journalisten, den sie vor wenigen Monaten noch vielfach als ihren herausragenden Repräsentanten gefeiert hatten.401 Das strenge Urteil sei eine Warnung, dass das
Privatleben privat bleiben müsse; „wir wollen in dieser Beziehung den Engländern nicht nacheifern“, hieß es im Berliner Tageblatt mit Verweis auf den dor396
397
398
399
400
401
Vgl. Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 12. 1907.
Bülow an Hammann o. D. (wohl Ende Nov.) 1907, in: BAB/L, N 2106/13: 22 f.
So etwas später, aber recht glaubhaft: Harden an Ballin 3. 4. 1909, in: BAB/L, N 2106/2: 6. Zu
den Vermittlungsversuchen in der Reichskanzlei: Loebell an Podbielski 7. 12. 1907, Podbielski
an Loebell 14. 12. 1907, in: BAB/L, R 43/798b: 53 und 65, 67.
Vgl. bis dahin das Protokoll in: Berliner Tageblatt Nr. 646, 20. 12. 1907.
Isenbiel an Justizminister Beseler 21. 12. 1907, in: GStA, I HA Rep. 84a Nr. 49838-88. Plädoyer
nach: Vossische Zeitung Nr. 610, 31. 12. 1907.
Vgl. etwa Freisinnige Zeitung Nr. 306, 29. 12. 1907 („Hardens Ende“); Germania Nr. 249,
29. 12. 1907 („der Herausgeber der Zukunft hat keine Zukunft mehr.“).
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II. Homosexualität als Skandalon
tigen Skandal um Charles Stewart Parnell.402 Die Rechte triumphierte, dass der
Homosexualitätsvorwurf sich als ebenso haltlos erwiesen habe wie der einer
Kamarilla, und sowohl Harden als auch Hirschfeld ihre Rolle ausgespielt hätten.403 Der Skandalverlauf bewies damit ein weiteres Mal, wie unberechenbar
sich Empörungen in der Öffentlichkeit entwickelten und dass man nicht einfach
pauschal von einer Dominanz der Medien ausgehen konnte. Weite Teile der
Presse folgten vielmehr den Einschätzungen, die von den Gerichten und der
politischen Führung angestoßen wurden.
Die Verschiebung der Empörung zeigte sich auch auf der Ebene der situativen
Öffentlichkeit. In den Hamburger Kneipen hieß es nun mit Blick auf Hardens
einstigen Hochmut: „Harden kann sich nun mit dem Gefängnis bekannt machen. Dort wird er nachher Zeit haben und über seine große Liebe zum Lande
nachdenken können.“ 404 Andere Stammtische empörten sich über Hardens Zurückhaltung: „Der Mensch hat vorher geprahlt, daß er noch soviel Beweismaterial auf Lager habe und jetzt? Wo es drauf ankommt Beweise zu bringen, da hat
er nichts, er streitet alles ab und seine Krankheit?“ 405 In anderen Kneipen blieben die Gäste dagegen skeptisch. Sie nahmen weitere Prozesse an406 oder vermuteten, Harden sei „bloß pro forma bestraft“ wegen irgendwelcher Absprachen. Moltke sei bestimmt homosexuell, denn dies komme in diesen Kreisen
„am meisten vor und das wird bei diesem Herrn auch der Fall gewesen sein,
sonst hätte es Harden nicht in die Öffentlichkeit gebracht.“407 Die Äußerungen
deuten an, dass sich die Stammtische dem Medientenor zwar weitgehend anschlossen, ihm aber nicht ganz folgten.
Nach diesem harten Durchgreifen der Justiz nahm der Skandalverlauf jedoch
erneut eine radikale Kehrtwendung. Dies machte deutlich, dass im wilhelminischen Deutschland ein Journalist nicht mehr mit Verurteilungen zu unterdrücken war. Aus seiner Verbitterung bereitete Harden seinen berühmten Prozess
gegen Eulenburg vor, der erst den Höhepunkt des Skandals bildete. Über die
Presse kündigte er an, er würde demnächst sein Material ausbreiten und informierte den Staatsanwalt unter Zusendung von einigen Unterlagen.408 Nachdem
die preußische Justiz den letzten Berliner Prozess vorab arrangiert hatte, inszenierte nun Harden einen Prozess vor einem Münchner Gericht, da er sich vor
der bayrischen Justiz mehr Freiheiten versprach. Ein befreundeter Journalist
schrieb nach Absprache in einem Münchener Blatt, Harden hätte gerüchteweise
eine Millionen Mark für sein Schweigen bekommen. Dagegen klagte Harden
402
403
404
405
406
407
408
Berliner Tageblatt Nr. 5, 4. 1. 1908.
Deutsche Zeitung 28. 12. 1907; Tägliche Rundschau Nr. 5 4. 1. 1908.
Polizeibericht Schutzmann Szymanski, 23. 12. 1907, in: StAH, S 3930-40 Bd. 1.
Ebd.
Polizeibericht Schutzmann Szymanski, 27. 12. 1907, in: StAH, S 3930-40 Bd. 1.
Polizeibericht Schutzmann Zerulli, 6. 1. 1908, in: StAH, S 3930-38 Bd. 2.
Harden an Isenbiel 13. 3. 1908, in: BAK, KLE 690; Isenbiel an Justizminister 20. 3. 1907, in:
GStA, HA I. Rep. 84a Nr. 49830. Neben Hardens nahezu wöchentlichen Beiträgen in der Zukunft vgl. etwa: Das Reich Nr. 17, 21. 1. 1908; Leipziger Neueste Nachrichten 18. 3. 1908.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
133
und bekam so die Möglichkeit, vor einem nicht-preußischen Gericht Zeugen
unter Eid aussagen zu lassen.409 Da beim Münchner Prozess Journalisten zugelassen waren, konnten sie ungehindert und ausführlich über Hardens Beweisführung berichten.
Diese Zeugenaussagen zeigten erneut, wie Skandale Menschen aus der Unterschicht ein öffentliches Forum und eine Machtstellung gewährten. Gleich als
erster Zeuge trat ein Fischer vom Starnberger See auf, der detailliert erzählte,
Eulenburg habe ihn regelmäßig zum gemeinsamen Onanieren bei Bootsfahrten
ermuntert. Dafür habe er ihm hohe „Trinkgelder“ von bis zu 200 Mark gegeben,
ihn in sein Liebenberger Schloss eingeladen, auf Reisen mitgenommen und ihm
ein Darlehen von 12 000 Mark gewährt.410 Ein Milchhändler und früherer Fischer berichtete von ähnlichen Bootspartien. Eulenburg habe ihn zudem zu
Freunden gebracht, die ihm Geschlechtsverkehr gegen eine Entlohnung anboten. Durch diese eidesstattlichen Aussagen schien Eulenburg des Meineides
überführt. Ebenso kam heraus, dass Eulenburg den Fischer mit Briefen ersucht
hatte, eine Falschaussage zu machen. Das Prozessergebnis diskreditierte damit
nicht nur Eulenburg, sondern auch Staatsanwalt Isenbiel, der Eulenburg im
letzten Prozess als völlig schuldlos gepriesen hatte, obwohl entsprechende Beweise vorlagen. Die Presse vollzog daraufhin in ihren ausführlichen Berichten
über diese Enthüllungen einen erneuten Kurswechsel: Ihre Empörung richtete
sich jetzt gegen Eulenburg, aber auch gegen den Staatsanwalt.411
Den jetzt bevorstehenden Meineidsprozess gegen Eulenburg bereiteten alle
Beteiligten mit einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit vor. Harden, der außerhalb der konservativen Presse wieder positiv gesehen wurde, gab vielen Zeitungen Interviews, die sein Vorgehen erläuterten und drohend von weiterem
Material sprachen, auch gegen andere Persönlichkeiten als Eulenburg.412 Eulenburg führte ebenfalls Interviews und öffnete sein Schloss gegenüber einem Journalisten des Boulevardblattes BZ am Mittag. Diese demonstrative Offenheit
reichte soweit, dass der erkrankte Fürst den Journalisten am Bett empfing und
von seinem Diener durch die Räume führen ließ.413 Vielleicht noch bemerkenswerter war, dass sich selbst der Staatsanwalt Isenbiel per Interview äußerte, um
sein Vorgehen zu rechtfertigen. Angesichts der öffentlichen Kritik kündigte er
wie selbstverständlich an, „sobald mir gültiges Material gegen den Fürsten Eulenburg vorliegt, werde ich mit aller Rigorosität ohne Ansehen der Person gegen
409
410
411
412
413
Zu dem Prozess vgl. bereits: Weller, Harden, S. 194; Leuchtmann, Fall Eulenburg, S. 217–
221; Hecht, Harden-Prozesse.
Aussagen in: Protokoll der Sitzung 21. 4. 1908, S. 22, in: BAK, N 1062-123; zudem auch in:
Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830.
Vgl. selbst: Tägliche Rundschau Nr. 187, 22. 4. 1908; Hamburger Nachrichten Nr. 312,
4. 5. 1908; Berliner Tageblatt Nr. 204, 22. 4. 1908.
Vgl. BZ am Mittag Nr. 97 25. 4. 1908; Fränkischer Courier Nr. 209, 24. 4. 1908; Berliner
Lokal-Anzeiger Nr. 232, 7. 5. 1908. Auch einzelne nationalliberale Zeitungen sahen Harden
nun positiver.
BZ am Mittag Nr. 95, 23. 4. 1908.
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134
II. Homosexualität als Skandalon
ihn einschreiten.“414 Das bislang in Deutschland noch wenig verbreitete Format
des Interviews etablierte sich somit durch den unberechenbaren Skandalverlauf
zu einem Mittel, mit dem selbst Beamte den nun in Berlin anstehenden Meineidsprozess gegen Eulenburg vorbereiteten.
Begleitet wurde diese Stimmungsbildung durch Gerüchte. Über Eulenburg
hieß es nun etwa, er habe auch mit seinem rumänisch-jüdischen Sekretär ein
Verhältnis gehabt, weshalb seine Tochter diesen nur gegen seinen Willen heiraten konnte.415 Ebenso hieß es, Eulenburg sei wegen homosexuellen Verhaltens
in einer Wiener Badeanstalt erpresst worden und habe 60 000 Mark für Schweigegelder gezahlt.416 Die Zeitungen druckten zudem Briefe von Eulenburg, die
seine früheren Intrigen zeigten.417 Die Reichskanzlei blieb ebenfalls nicht verschont. Reichskanzler Bülow erfuhr, dass sein Bruder gerüchteweise der Homosexualität verdächtigt werde.418 Ebenso ging Bülow dem Gerücht nach, er
habe Hardens Vorgehen gegen Eulenburg abgesegnet und damit unterstützt.419
Auch wenn Harden sicherlich nicht immer der Urheber der Gerüchte war,
streute er „Neuigkeiten“ über befreundete Journalisten und politische Kreise,
wobei der vom Auswärtigen Amt entlassene Holstein ein wichtiger Verbindungsmann war.420 Derartige Meldungen trugen dazu bei, im Vorfeld des Prozesses Verunsicherungen beim Angeklagten Eulenburg, der Justiz und der
Staatsführung auszulösen.
Die Dynamik, die der Skandal durch die Gerüchtebildung erhielt, ging auch
von „unten“ aus. Durch die umfangreiche Berichterstattung über Eulenburg
und vor allem durch seine fotographische Abbildung meldeten sich zahlreiche
Zeitungsleser bei den Redaktionen oder den Ermittlungsbehörden, die Eulenburg in kompromittierenden Situationen gesehen haben wollten. So war der
Hauptzeuge, der Fischer vom Starnberger See, auf die Zeitungsberichte hin mit
Harden in Kontakt getreten, nachdem er sich beim Zeitungslesen an seinem
Stammtisch mit seinem Wissen gebrüstet hatte. Nach dem Münchner Prozess
häuften sich diese denunziatorischen Meldungen von Personen, die sich als
Zeugen anboten. Sie stammten vor allem aus dem Umfeld der Bediensteten, die
durch ihre Arbeit mit dem Privatleben des Fürsten zu tun hatten. Zu ihnen zählten etwa ein Hausmeister, der angeblich unsittlich angefasst worden sei, ein
414
415
416
417
418
419
420
BZ am Mittag Nr. 94 22. 4. 1908. Zur Kritik, dass der Staatsanwalt sich in Interviews ausfragen ließ: Deutsche Tageszeitung Nr. 98 24. 4. 1908.
Vossische Zeitung Nr. 288, 22. 6. 1908; Notiz den Fürsten Max Fürstenberger-Donaueschingen betreffend o. D. (Abschrift 1918), in: BAK, N 1029-78.
Aufzeichnung Eulenburg, Abschnitt „Die Ehre vergiftet“ (1910). In: BAK, 1029:76, S. 6–10.
Tatsächlich erhielt Eulenburg auf Weisung des Kaisers „die Summe von 60 000 Mark aus dem
geheimen Fond“, was auf interne Denunziationen hinweist; Eulenburg an Hohenlohe
31. 7. 1900, in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1986.
Berliner Tageblatt Nr. 338, 6. 7. 1908; BZ am Mittag Nr. 143, 20. 6. 1908.
Zimmermann an Bülow 11. 7. 1908, in: BAK, N 1016-131-1 ff.
Notiz Bülow 12. 3. 1908, Antwort 14. 3. in: BAK, 1016-32-45.
Vgl. etwa Harden an Holstein 30. 5. 1908, in: Rich und Fisher (Hrsg.), Die Geheimen Papiere, Bd. 4, S. 4.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
135
Diener, der kündigte, weil er mit Eulenburg in einem Bett hätte schlafen sollen,
ein Klavierspieler, der Eulenburg angeblich durch das Schlüsselloch eines Hotelzimmer beim homosexuellen Verkehr beobachtet hatte, ein Tischler, der in den
1880ern Eulenburg nur mit einem Hemd bekleidet neben dessen Leibjäger gesehen hatte, ein Münchner Dienstmädchen, und ein Matrose der kaiserlichen
Yacht, dem Eulenburg homosexuelle Anträge gemacht haben soll.421 Ebenso
meldete eine geschiedene Frau eines Kommissars, ihr Mann sei nach Besuchen
auf Eulenburgs Schloss immer mit „Afterbluten“ zurückgekehrt.422 Einfache
Männer und Frauen erhielten so einen weiteren Zugang zur Öffentlichkeit und
konnten den Verlauf des Skandals, den sie in den Zeitungen verfolgten, aktiv
mitgestalten.
Vor allem der Wunsch nach öffentlicher Aufmerksamkeit dürfte diese mitunter unhaltbaren Aussagen angespornt haben. Durch die täglichen Zeitungsberichte erschien Eulenburg den Lesern wie ein vertrauter Verbrecher, dessen
Überführung zu einer kollektiven Aufgabe wurde. Auf diese Weise trugen insbesondere einfache Bedienstete mit dazu bei, einen der einflussreichsten Adligen des Landes zu stürzen und damit die bestehenden Machtverhältnisse zu
verkehren.423 Die Journalisten förderten das Aufkommen dieser Gerüchte, indem sie die „Tatorte“ aufsuchten. So kamen Reporter zahlreicher Blätter zu Eulenburgs Schloss und zum Starnberger See, um mit Eulenburgs Hausverwalter,
dem Bürgermeister und möglichen Zeugen zu sprechen.424 Auch wenn Journalisten nur selten Skandale durch investigative Recherchen anstießen, verstärkten
zumindest ihre Nachforschungen in der zweiten Phase des Skandals seine Dynamik.
Die Regierung und die Justiz versuchten durch enge Absprachen, beim im
Juni 1908 bevorstehenden Eulenburg-Prozess dennoch die Kontrolle zu behalten. Bülow hielt laufend Rücksprache mit dem Justizminister und traf sich vorher mit dem Staatsanwalt, dem er eine Konzentration auf die Anklagepunkte
abverlangte, um eine generelle Debatte über Homosexualität in Militär und Politik zu vermeiden.425 Nicht nur das Ansehen der Monarchie dürfte den Reichskanzler dabei interessiert haben. Da bei Eulenburg jetzt polizeiliche Durchsuchungen stattfanden, fürchtete Bülow zweifelsohne, seine leicht homoerotisch
gefärbte Korrespondenz mit dem Angeklagten könne gefunden werden und
durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit gelangen. Dehalb verlangte der
Kanzler von Eulenburg seine Chiffriermaschine zurück und wies an, alle aufge421
422
423
424
425
Vgl. Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830; in der Presse etwa: Berliner Tageblatt Nr. 314, 23. 6. 1908 u. 4. 7. 1908.
Staatsanwalt Isenbiel an Beseler 13. 5. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830.
Zur breiten Denunziation bei Verbrechen vgl. Philipp Müller, Auf der Suche, S. 150–172.
Vgl. die Berichte über die Journalisten dort in: Berliner Tageblatt Nr. 225, 4. 5. 1908,
Münchner Post Nr. 103 6. 8. 1908.
Vgl. Loebell an Beseler 1. 5. 1908, in: BAB/L R43/798b: 150; Beseler an Bülow 2. 5. 1908, in:
BAB/L, R43/798b: 144; Notizen in: GStA, HA I Rep. 84a, Notiz Willisch 20. 5. 1908, in: BAK,
1016-32-69; Rogge, Holstein, S. 299.
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136
II. Homosexualität als Skandalon
spürten Briefe von „hochstehenden Persönlichkeiten“ wie dem Kaiser und ihm
selbst sofort zu verschließen und ihn zu informieren.426 Auch der Kaiser selbst
wurde kontinuierlich und explizit durch Justizminister Beseler über die Ermittlungen informiert.427 Offensichtlich sollte dies verhindern, dass Wilhelm II. für
Eulenburg Partei ergriff. Tatsächlich trat genau das Gegenteil ein: Gerade der
Kaiser war es, der nach dem Abbruch des quälenden Prozesses besonders vehement seine Fortführung verlangte.428 Die so forcierten Ermittlungen diskreditierten jedoch vor allem seinen eigenen Hof. So überführten sie schon vor dem
Eulenburgprozess auch noch Graf Edgar von Wedel der Homosexualität, der
Zeremonienmeister und königlicher Kammerherr war und im Prinzessinnenpalais wohnte. Selbst die konservative Tägliche Rundschau empörte sich nun, „daß
er im Prinzessinnenpalais oftmals Teegesellschaften veranstaltet habe, bei denen
fast ausschließlich abnorm veranlagte Herren aus den höchsten Gesellschaftskreisen teilgenommen haben.“429 Ältere Fälle, wie der bereits 1901 stillschweigend erfolgte Hof-Ausschluss der homosexuellen Brüder von Eulenburg und
Hohenau, kamen nun ebenfalls an die Öffentlichkeit. Der Prestigeverlust des
Adels und der Monarchie schritt damit voran.
Der Prozess schmälerte zudem die Reputation der Justiz, da die Gerichte bei
Hardens Bestrafung die Makellosigkeit von Eulenburg betont hatten. Um Harden und die Öffentlichkeit zu beruhigen, ohne einen Fehlurteil einzugestehen,
hob die Staatsanwaltschaft nun Hardens Haftstrafe wegen eines Formfehlers im
letzten Prozess auf und wies den Fall an die erste Instanz zur nochmaligen Verhandlung zurück.430 Zugleich musste sie dem öffentlichen Vorwurf der Klassenjustiz begegnen. Deshalb erschien ihr jetzt, ähnlich wie in Großbritannien nach
dem Cleveland Street-Skandal, ein hartes Vorgehen gegen Eulenburg erforderlich. Da die Durchsuchungen bei Eulenburg weitere Belege gebracht hatten und
seine Rechtfertigungen gegenüber dem Staatsanwalt wenig plausibel waren, erfolgte jetzt sogar Eulenburgs Verhaftung. Trotzdem beklagten die Medien die
Sonderbehandlung des prominenten Gefangenen. Berichte über seine Verlegung
in ein großes Krankenhauszimmer mit Diener oder über seine Spazierfahrten
während der Prozesspausen illustrierten den Vorwurf der Ungleichbehandlung
von Arm und Reich vor dem Gesetz.431 Gleiches galt für den Umgang mit Eulenburgs Gesundheitsproblemen, da das Gericht ihn erst von einer Bahre aussagen ließ, dann die gesamte Gerichtverhandlung in die Charite verlegte und
426
427
428
429
430
431
Handschriftliche Aufzeichnung Bülows auf Schriftstück vom 18. 5. 1908 u. Aufzeichnung
Chef des Chiffrierbüros 20. 5. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 290.
Beseler an Wilhelm II 21. 3. 1908, 25. 4., 1. 5., 8. 5., 9. 5., 13. 5., 27. 5., 2. 6., 8. 6., 15. 8., 8. 7. 1908
in: BAB/L, R 43/798b: 152 ff.; Beseler an Wilhelm II. 28. 5. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a,
Nr. 49830.
Kaiserliche Gesandte an AA 17. 7. 1908 , in: GStA, HA I Rep. 84a, Nr. 49830.
Tägliche Rundschau Nr. 261, 5. 6. 1908.
Beseler an Wilhelm II. 27. 5. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 177; 22. 6. 1907, in : GStA, I HA Rep.
84a Nr. 49838-142 ff.
Vgl. etwa den Fotobericht in: BIZ, Nr. 28, 12. 7. 1908.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
137
schließlich wegen Eulenburgs Krankheit den Prozess abbrach und vertagte. Die
Medien kritisierten Eulenburgs Gebrechen hingegen als Simulation, die das Gericht leichtfertig tolerierte.432 Wie bei den anderen Skandalen stand damit nicht
mehr die Homosexualität im Vordergrund, sondern die Gerechtigkeit vor Gericht.
Der Konflikt zwischen Justiz und Presse war zudem dadurch vorprogrammiert, dass beim Berliner Eulenburg-Prozess im Juni 1908 die gesamte Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Während die katholischen und konservativen
Blätter dies wegen der Gefährdung der Moral begrüßten, protestierten die restlichen Zeitungen mit grundsätzlichen Bedenken. Dennoch gelang es der Justiz
und Regierung nicht, eine kritische Berichterstattung einzudämmen. Die Journalisten des Berliner Tageblattes und Berliner Lokal-Anzeigers verschafften sich
etwa als Zeugen Zutritt zum Gerichtssaal, andere zehrten von Berichten, die sie
an der Tür erhielten.433 Daraufhin ließ das Gericht zumindest den „besonders
zuverlässigen Gerichtsberichterstatter“ Adolf Thiele von der Vossischen Zeitung
zu, der nun für die Öffentlichkeit stenographierte.434 Alle Blätter berichteten
nun so explizit wie nie zuvor über den Fall. Viele Blätter nutzten typographische
Hervorhebungen, um spektakuläre Meldungen hervorzuheben.435 Während die
Massenpresse in der Anfangsphase des Skandals noch recht unbeteiligt war,
sorgte sie nun im Zuge der gerichtlichen Publikation von Beweisen und Narrativen für seine rasante und emotionalisierende Verbreitung.
Bezeichnend für die mediale Eigendynamik war, dass auch die konservativen
und katholischen Zeitungen nicht minder ausführlich über die Prozesse berichteten, obwohl sie gegen eine öffentliche Gerichtsverhandlung protestierten.
Ähnlich wie die „Kreuzzeitung“ drückten sie lediglich regelmäßig ihren Widerwillen aus: „Die Redaktionen ernster Blätter besitzen nun gewiß ebenso viel
Einsicht in den Ernst der Sache wie die Richter; aber leider werden sie durch die
Leser gezwungen, die Berichte zu veröffentlichen.“436 Ebenso forderte die katholische Kölnische Volkszeitung das Verbot der Wiedergabe der Gerichtsverhandlungen, die eine Gefahr für die Moral und Jugend seien. Denn ohne ein
Verbot seien die Zeitungen gezwungen, derartiges abzudrucken, weil sie sonst
als „langweilig“ gelten würden.437 Damit sahen sich die konservativen und katholischen Blätter als Opfer ihrer Leser und der Zeitungskonkurrenz, die sie zu
einer ausführlichen Skandalberichterstattung zwingen würden.
Die Zeitungsleser in den Hamburger Kneipen griffen tatsächlich die Berichte
über den Skandal ausführlich mit eigensinnigem Spott auf. Nach Eulenburgs
432
433
434
435
436
437
Vgl. etwa BZ am Mittag Nr. 94 22. 4. 1908; vgl. auch Karikaturen wie im: Kladderadatsch
10. 5. 1908.
Vgl. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 352, 13. 7. 1908.
Protokoll 15. Verhandlungstag 16. 7. 1908, in: BLHA, Rep 37: 564.
Vgl. Sätze wie „die sexuellen spiritistischen Neigungen des Fürsten Eulenburgs“(H.i.O), in:
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 347, 10. 7. 1908.
Neue Preussische Zeitung, 13. 7. 1908, abends.
Kölnische Volkszeitung, Nr. 571, 4. 7. 1908.
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138
II. Homosexualität als Skandalon
Überführung gingen sie jetzt auch von Moltkes Schuld aus.438 Vor allem monierten sie die ungleiche Behandlung zwischen Arm und Reich: „Graf Honenau
[sic] sowie Graf Linar [sic] hätten beide ohne Pension entlassen werden müssen,
da jeder andere Beamte ohne Pension entlassen wäre. Ebenso ist es mit dem
Fürsten Eulenburg, dem steckt man alles zu, was er im Gefängnis wünscht.“439
Zugleich sorgte der Prozess für eine spöttisch-spielerisch und humoreske Aneignung in den Kneipen. So beobachtete ein Polizist „Bauhandwerker“, die sich
beim Frühstück „unsittliche Bilder“ zeigten, „worauf dann einer von diesen
Kollegen sagte: ‚das müßte Eulenburg sehen.‘“440 Andere Kneipengäste erzählten sich Witze, die sich um den Skandal drehten. So griff ein Kohlenarbeiter die
Zeitungsberichte gegenüber seinen Kollegen mit dem Hinweis auf, in Berlin
müssten die Kohlenhändler „jetzt mit den Kohlenpreisen herunter gehen, sonst
werden die überhaupt nichts mehr los. Hierauf fragte der dritte ‚warum denn‘?
‚Das ist doch ganz einfach zu erraten, weil es dort viel zu warm ist.‘“441 Der
Witz deutet zugleich an, dass durch den Skandal die neue Metropole Berlin als
Ort der Homosexualität erschien.
Der Prozess gegen Eulenburg bildete zweifelsohne den Höhepunkt eines
Skandals, der einen denkbar langen Vorlauf hatte. Als die Ärzte mitten im Prozess Eulenburg aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklärten, war die Unzufriedenheit groß. Obgleich die Beweise ganz überwältigend
gegen Eulenburg sprachen und das lang diskutierte Geheimnis aufgedeckt war,
fehlte das erwartete offizielle Urteil gegen ihn. Im September 1908 wurde
Eulenburg aus der Charité gegen eine hohe Kaution nach Hause entlassen. Obgleich der Kaiser und verschiedene Politiker immer wieder regelmäßig auf die
Fortführung des Prozesses drängten, blieb Eulenburgs Gesundheitszustand
angeblich so schlecht, dass er nicht verhandlungsfähig war.442 Dass er 1909
trotzdem nach Bad Gastein reisen konnte, wurde von der Presse allgemein als
Niederlage der deutschen Rechtsprechung gesehen.443 Reichskanzlei und Justizministerium hofften dagegen 1909, dass es nicht zu einem erneuten Prozess
kommen würde, um den Skandal endlich zu beenden.444 Tatsächlich wurde im
Sommer 1909 ein erneuter Prozess wegen eines „Herzkrampfes“ von Eulenburg
am ersten Tag abgesetzt.445 Dass der Prozess nie beendet wurde, erschien öffentlich immer wieder als neuer Beleg für eine Zweiklassenjustiz.
438
439
440
441
442
443
444
445
Polizeibericht Schutzmann Zerulli, 11. 5. 1908, in: StAH, S 3930-38 Bd. 2.
Polizeibericht Schulz 24. 6. 1908, in: StAH, S 3930-42.
Polizeibericht Schulz 9. 7. 1908, in: StAH, S 3930-42.
Polizeibericht Zerulli 31. 10. 1908 (über Kneipenbesuch 30. 10. 1907), in: StAH, S 3930-38
Bd. 1.
Vgl. zu Wilhelms Drängen: Beseler an Wilhelm II. 4. 9. 1909 und 13. 6. 1909, in: BAB/L, R43/
798b: 293 ff.
Vgl. die Pressesammlung in LHB, Rep. 37: 554/1.
Loebell an Ballin 18. 6. 1909, in: BAK, N 1062-4.
Bericht Staatsanwalt und Protokoll 8. 7. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 49831.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
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Eine Fortsetzung des Skandals drohte jedoch durch eine Revision des MoltkeProzesses. Dabei zeigen die überlieferten Quellen detailliert, wie sehr von politischer Seite in die Justiz eingegriffen wurde, um eine Beendigung der Prozesse
und einen Ausgleich mit dem Journalisten zu erreichen. Vor allem Reichskanzler Bülow versuchte mit allen Mittel, einen weiteren Prozess zu verhindern. Zunächst setzte er sich dafür ein, ihn bis nach dem Abschluss des Eulenburg-Prozess zu vertagen; der preußische Justizminister Max von Beseler sollte beim
Staatsanwalt darauf hinwirken.446 Der Justizminister sprach mit dem Staatsanwalt Isenbiel ab, Harden solle im Falle eines Prozesses mit einer Geldstrafe davon kommen, die Zeugen Riedel und Ernst seien nicht einzuberufen und er
brauche sich nur auf den Fall Moltke zu konzentrieren.447 Um direkt auf Harden einzuwirken und indirekt seine Forderungen zu erfahren, bediente sich
Bülow des Journalisten Eugen Zimmermann, der bei der Reichskanzlei in Sold
stand und als Bülows Vertrauter arbeitete.448 Wie ernst Bülow den Skandal weiterhin nahm, unterstrichen seine handschriftlichen Notizen, in denen er seine
Standpunkte reflektiert („Meine Beziehung zu Ha[rden]“).449 Zugleich schützte
Bülow Harden, als ihm im November 1908 wegen seiner Artikel im Rahmen
der Daily-Telegraph-Affäre ein Prozess drohte. Das Verbot der Zukunft wurde
auf Bülows Geheiß abgemildert und ein Majestätsbeleidigungsprozess blieb aus,
wofür sich Harden indirekt über Zimmermann bei Bülow bedankte.450
Tatsächlich konnte der Reichskanzler Harden mit materiellen und symbolischen Zugeständnissen beruhigen. Bülow ließ über den offiziösen Journalisten
Zimmermann einen geheimen Vergleich zwischen Moltke und Harden aushandeln. Harden wiederholt darin, „daß er in seiner Wochenschrift Seine Excellenz, den Herren Grafen Kuno von Moltke nicht der Homosexualität beschuldigt hat. [...] Beide Herren sind er Überzeugung, daß sich nach dieser Erklärung
jede Beweisaufnahme erübrigt.“451 Obwohl Moltke und Harden durch diese
Vermittlung gemeinsam den Staatsanwalt um die Einstellung des Verfahrens
baten und letzterer dies unterstützte, kam es durch das Drängen des Justizministeriums schließlich dennoch zu einem Prozess.452 Über den Justizminister
wies Bülow den Staatsanwalt an, aufgrund des Vergleichs der Parteien auf jede
Beweisaufnahme zu verzichten und keine Strafe zu beantragen.453 Auch die
446
447
448
449
450
451
452
453
In zwei Briefen am selben Tag: Bülow an Reichskanzlei u. an Loebell 8. 10. 1908, in: BAB/L,
R43/798b: 231 u. 234.
Notiz Reichskanzlei 7. 10. 1908, in: BAK, 1016-32-73 ff.
Vgl. Zimmermann an Loebell 12. 10. 1908 und 17. 10., in: BAB/L, R43/798b: 246 u. 248; vgl.
auch Zimmermann an Bülow 13. 12. u. 31. 12. 1908, 15. 1., 9. 3. u. 8. 4. 1909 in: BAB/L, R43/
798b: 257 ff.
Handschriftliche Aufzeichnung Bülow, o. D. (wohl 1908) in: BAK, 1016-32-33.
Guenther an Loebell 8. 11. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 252; Zimmermann an Loebell
3. 12. 1908, in: BAB/L, R43/798b: 256.
19. 3. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 272.
Erklärung Moltke/Harden 22. 3. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 273.
Bericht 23. 4. 1909, in: BAB/L, N2106/2: 17ff; Bülow an Loebell 15. 4. 1909, in: BAB/L, R43/
798b: 277
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II. Homosexualität als Skandalon
Aussagen der Kontrahenten wurden abgesprochen. Moltke sollte die Frage nach
der Homosexualität nicht direkt beantworten und sich nur auf frühere Aussagen berufen. Ein weiterer Unterhändler, der Reeder Albert Ballin, erreichte eine
briefliche Versicherung Hardens, sich vor Gericht nicht belastend zu äußern
und selbst eine Verurteilung durch das Gericht hinzunehmen.“454 Tatsächlich
hielt sich Harden an diese Absprachen, womit Bülow die Bezähmung des unberechenbaren Journalisten gelungen war. Im Unterschied zu allen vorherigen
Prozessen war dieser damit nur noch eine abgesprochene Farce.
Trotz dieser scheinbar perfekten Planung des Prozesses durch die Reichsleitung war allerdings auch hier der Prozess und damit der Skandalverlauf nicht
steuerbar. Da das Gericht zumindest eine Absprache unterlief und Harden wegen „übler Nachrede“ zu 600 Mark Geldstrafe und zur Zahlung der Prozesskosten verurteilte, schien ein weiterer Prozess bevorzustehen. Harden beschuldigte nun zu unrecht Bülow, nicht für den vereinbarten Freispruch beim Justizminister gesorgt zu haben.455 In einer Zuschrift an den Hannoverschen Courier
kündigte er sofort seine Revision an und verdammte seine „einseitige Rücksichtnahme“.456 Daraufhin startete der Reichskanzler weitere Versuche, den
Journalisten zu beruhigen. Bülow verhandelte mit Harden wieder über den Unterhändler Ballin, die zahlreiche Briefe austauschten und Gespräche führten.457
Schließlich gelang über zwei Gesten eine Einigung: Erstens akzeptierte Harden,
um seine Ehre wieder herzustellen, nach einigen Debatten über einzelne Formulierungen einen eigenhändigen Brief Bülows, der Harden von seiner Schuld
freisprach und damit seine Ehre wieder herstellte. Hier hieß es: „Ich glaube mit
vollem Recht, daß Herr Harden nicht aus Sensationslust, sondern aus patriotischen Erwägungen gehandelt hat und nicht leichtfertig dabei zu Werke gegangen ist.“458 Zweitens wurde Harden mit 40 000 Mark aus geheimen Mitteln der
Reichskanzlei versöhnt, die ihm seine Unkosten bei den Prozessen unter der
Bedingung ersetzten, dass er den Revisionsantrag zurückziehe.459 Damit akzeptierte einer der großen unabhängigen Journalisten letztlich ein Schweigegeld,
um den Skandal zu beenden. Akzeptabel war es für Harden aber ohnehin nur
deshalb, weil er selbst völlig erschöpft von den Prozessen war und voller patriotischer Selbstzweifel, ob sein Verhalten dem Land mehr schade oder nütze.
Insofern gingen schließlich alle Beteiligten als Verlierer aus dem Skandal.
Harden hatte an Ansehen verloren, weil er durch den Abbruch des EulenburgProzesses und den geheimen Ausgleich mit Moltke nicht per Gerichtsurteil seine Vorwürfe rechtskräftig belegen konnte. Zudem wurde er für die Diskreditie454
455
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457
458
459
Loebell an Bülow 14. 4. 1909, in: BAB/L, R43/798b: 276.
Vgl. Hardens Korrespondenz im April 1909, in: BAB/L, N2106/2.
Hannoversche Courier 25. 4. 1909.
Loebell an Bülow 9. 5. 1909 und Loebell an Ballin, in: BAB/L, R43/798b: 282 ff. Ballin an
Harden April bis Juni 1909 in: BAK, N 1062-4.
Bülow an Ballin 29. 5. 1909, in: BAK, N 1062-123.
Ballin war wieder der Mittelsmann: Betragsbestätigungen Loebell und Ballin 12. 6. 1909 in:
BAK, 1016-32-162 und 164.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
141
rung der Monarchie und die Verbreitung von „unmoralischen“ Berichten verantwortlich gemacht. Eulenburgs und Moltkes Reputation war hingegen auch
ohne Urteil zerstört. Auch Bülows Stellung litt unter dem Skandal, da er wegen
seines wechselhaften und zurückhaltenden Durchgreifens sowohl beim Kaiser
als auch in der Öffentlichkeit an Ansehen verloren hatte.460 In gewisser Weise
war dieses Ergebnis symptomatisch für den Verlauf des Skandals, der zeigte, dass
sich in der medialisierten Öffentlichkeit weder anklagende Journalisten noch
machtvolle Politiker eindeutig durchsetzen konnten. Der Ausgang ihrer Auseinandersetzungen hing vielmehr von sich schnell wechselnden öffentlichen Stimmungen ab, die für beide Seiten nicht kontrollierbar waren. Die zahlreichen
Versuche, die öffentliche Meinung oder Prozessverläufe zu beeinflussen, scheiterten zumindest immer wieder.
Deutungen und Normen
Der Skandal war jedoch mehr als ein Machtkampf zwischen Teilen der Presse
und der Politik. Er verhandelte zugleich verschiedene Normen und Deutungsmuster. Besonders Homosexualität wurde im Zuge des Skandals so offen und
ausführlich thematisiert, wie es bislang in der deutschen Öffentlichkeit sicherlich noch nie der Fall war. Sowohl die bürgerliche Abgrenzung gegenüber der
adligen „Kamarilla“ als auch die große Zahl an gerichtlich dokumentierten Aussagen zu Homosexualitätsfällen erleichterten dabei den Umgang mit dem Tabuthema.
In den Artikeln vieler liberaler Zeitungen erfuhr die Homosexualität zunächst
eine erstaunlich tolerante Bewertung, wie sie in Großbritannien undenkbar gewesen wäre. Sie reichte noch über die verständnisvollen Zuschreibungen im
Krupp-Skandal hinaus. So urteilte die National-Zeitung im Zuge des MoltkeHarden-Prozesses, es sei für die Politik unerheblich, ob ein Beamter sich homosexuell betätige oder nicht. Sie betonte vielmehr, „daß ein Mensch homosexuell
empfinden und doch eine Natur von hoher sittlicher Kraft sein kann.“ Wenn
Berater Interna verrieten oder einen Ring um den Kaiser bildeten, sei dies verwerflich, nicht aber ihre Homosexualität.461 Ebenso empfahl sie den Richtern
vor dem Prozess, die Formulierung „widernatürlich“ des § 175 in Anlehnung an
die „Wissenschaft über jene Zwischenstufen“ neu auszulegen.462 Ähnlich tolerant äußerte sich die freisinnige Frankfurter Zeitung: Prinzipiell könne ein Homosexueller selbst zu einer hohen Stellung und als Ratgeber des Kaisers taugen.
Auch wenn sie sich gegen die Abschaffung des § 175 aussprach, seien Homosexuelle nicht zu verachten: „Moralisch deshalb nicht, weil es mindestens sehr
460
461
462
Diese Einschätzung zu Bülow auch bei: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890–1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 257.
National-Zeitung Nr. 504, 26. 10. 1907.
National-Zeitung 16. 10. 1907.
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142
II. Homosexualität als Skandalon
wahrscheinlich ist, daß in vielen Fällen eine natürlich-unnatürliche Veranlagung
vorliegt, und im übrigen, weil es in der Tat bedeutende Homosexuelle gegeben
hat.“463 Damit überführten die Blätter sowohl die medizinischen als auch die
historischen Argumente der Expertendiskurse in die breite Öffentlichkeit.
Bereits vor den Prozessen erhielt Magnus Hirschfeld in der Zukunft Gelegenheit, seinen Standpunkt zur Homosexualität darzulegen.464 Der erste MoltkeHarden Prozess im Oktober 1907 förderte diese Popularisierung toleranter Expertendeutungen, indem Magnus Hirschfeld als Gutachter auftrat. Das Fazit, das
Hirschfeld hier über Moltkes Sexualität zog, drang durch die recht wörtliche
Prozessberichterstattung selbst in konservative Blätter wie die „Kreuzzeitung“.
Hirschfeld sprach nach ihrem Bericht davon, es liege „objektiv eine Abweichung
von der Norm“ vor, „und zwar eine unverschuldete, angeborene und nach meiner Überzeugung ihm selbst nicht bewußte Anlage, die man als homosexuell zu
bezeichnen pflegt.“ Zugleich vermittelte er die Deutung, „daß die Homosexualität keine Krankheit ist, sondern im Plane der Natur“, weshalb der § 175 abzuschaffen sei.465 Während die konservativen und katholischen Zeitungen noch im
Sommer 1907 eine offene Debatte über Homosexualität vermieden hatten, führte
der Prozess im Herbst somit zumindest zu Berichten über unterschiedliche Positionen, auch wenn ihre Kommentare sie erwartungsgemäß nicht teilten. Die
Konservativen stellten die medizinischen Erkenntnisse vielmehr hinter das „gesunde Volksempfinden“, das Homosexualität als „widernatürlich und ekelhaft
[...] abnorm und krankhaft“ ansehe, weshalb Homosexuelle nicht in führende
Positionen kommen dürften.466 Gerade das aufkeimende Verständnis für gleichgeschlechtliche Beziehungen förderte somit entsprechende Gegenreaktionen.
Ähnlich ambivalent wie im Fall Krupp urteilten die sozialdemokratischen
Medien. Auf der einen Seite betonten sie erneut, Homosexualität sei eine Krankheit und daher eine Bestrafung oder Entrüstung unangebracht. Auf der anderen
Seite sahen sie das Verhalten der Adligen als amoralisch und strafbar an, indem
sie argumentierten, „daß es außer der angebornen Homosexualität noch eine
erworbene, oder sagen wir, künstliche gibt, die ein Produkt des Verfalls ist.“467
Dementsprechend bezeichneten sie Eulenburg als einen „Päderasten“, der durch
sein Geld andere verführt habe, und benutzten die Homosexualität zur Anklage
gegen die Regierung.468 Ihre weltanschauliche Umdeutung der Homosexualität
in der politischen Auseinandersetzung trug somit erneut dazu bei, Homosexuelle als korrumpierende Gefahr zu brandmarken.
463
464
465
466
467
468
Frankfurter Zeitung Nr. 300, 27. 10. 1907.
Die Zukunft 29. 6. 1907.
Neue Preussische Zeitung, 26. 10. 1907, morgens. Vgl. auch das Urteil, ausgefertigt
7. 11. 1907, in: GStA, I HA Rep. 84a Nr. 49838-36, S. 23.
Kölnische Zeitung Nr. 1121, 28. 10. 1907.
Vorwärts 24. 10. 1907.
Vgl. Formulierung wie: „Die Pädasterie scheint es also gewesen zu sein, die diesen Nebenregierungszirkel zusammenhielt“. Zit. Leipziger Volkszeitung. Nr. 127, 5. 6. 1907; ähnlich:
Vorwärts 24. 10. 1907, 3. 7. 1908, 18. 7. 1908.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
143
Abb. 3: Auch in Deutschland brachten die Skandale mit erstaunlich expliziten Darstellungen das Bild des reichen Homosexuellen auf, der durch sein Geld verführt; Quelle:
Kladderadatsch 10. 5. 1908 (Zweites Beiblatt).
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II. Homosexualität als Skandalon
Aber auch einige bürgerliche Blätter schlossen sich dieser Deutung an und
sahen Homosexualität als ein Phänomen der Oberschicht, das durch erbliche
Anlagen und dekadenten Lebenswandel verursacht würde. So beschrieb der
konservative Der Tag aus dem Scherl-Verlag Homosexualität als eine „gefährliche Krankheit just in den Gesellschaftsregionen, die berufen sind, uns einen
großen Theil unserer Führer zu geben. [...] Allzuleicht erworbener Besitz, angezüchtigter Eisenmangel im Blut und intellektuelle Schwäche halten sie einerseits
von der Arbeit fern, peitschen sie andererseits zu immer neuen sogenannten
Lebensgenüssen.“ Dies sei privat legitim, wenn sie nicht an die Spitze des Landes
drängten.469 Ebenso gingen der konservative Reichsbote und die katholische
Germania davon aus, dass die aufgedeckte Homosexualität keine Ausnahme,
sondern in höchsten Schichten verbreitet sei.470 Der Reichsbote zog daraus sogar den Schluss, die Innere Mission sollte sich in Zukunft verstärkt um die Moral der Oberschicht bemühen. Damit verbreitete der Skandal ähnlich wie im
spätviktorianischen England von der linken bis zur rechten Öffentlichkeit die
Vorstellung, ein normaler bürgerlicher Lebenswandel mit entsprechendem Arbeitsethos würde Homosexualität ausschließen. Nachdem sich zunehmend die
Deutung etablierte, Homosexualität sei eine Art Krankheit, standen nun die Behandlungsmöglichkeiten im Vordergrund.
Eine zentrale Frage war, welche Bedeutung Homosexualität innerhalb des
Militärs hatte. Immerhin stand im ersten Prozess mit Moltke ein General im
Mittelpunkt des Skandals. Obgleich der erste Prozess Moltke nur homosexueller Neigungen, nicht homosexueller Praktiken überführt hatte, thematisierten
die Prozessberichte homosexuelle „Orgien“ von hohen Militärs. Ein früherer
Gardekürassier erzählte im Prozess etwa von unsittlichen Anträgen, die ihm
Major Graf Lynar, Generalleutnant Wilhelm Graf von Hohenau und andere Offiziere gemacht hätten. In der Villa hätten diese, so die Vossische Zeitung, „mit
ihm Handlungen vorgenommen, die von ihm genau geschildert werden, deren
Wiedergabe sich aber verbietet.“471 Dieser Zeuge glaubte auch Eulenburg und
Moltke wieder zu erkennen, die dabei zugeschaut hätten. Teile der Presse generalisierten diese Befunde. So nannte es die Freisinnige Zeitung „unbestreitbar“,
dass Homosexualität im Militär häufiger vorkomme.472 Dass der Skandal selbst
innerhalb der Militärführung diese Annahme etablierte, deutete rückblickend
der für Sittenfragen zuständige Berliner Kommissar von Tresckow an: „Fast
täglich kommen Kommandeure der Berliner und Potsdamer Garderegimenter
zu mir und bitten um Rat, wie sie die in den Regimentern eingerissene Päderastie der Soldaten bekämpfen könnten.“473 Die kurz vorher verübten Selbstmorde
469
470
471
472
473
Der Tag Nr. 259, 19. 7. 1908.
Reichsbote Nr. 251, 29. 10. 1907; Germania zit. in: Die Post Nr. 249, 27. 10. 1907. Nicht
„krankhafte Anlage“, aber auch „Übersättigung“ als Ursache: Deutsche Tageszeitung
12. 10. 1907.
Vossische Zeitung Nr. 500, 24. 10. 1907.
Freisinnige Zeitung Nr. 257, 30. 10. 1907.
Von Tresckow, Von Fürsten, S. 185.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
145
Abb. 4: Spott und Empörung über die Homosexualität im Militär zeigten sich auch in
Postkarten, die im Zuge der Skandale vertrieben wurden; Quelle: LINSERT, Kabale, S. 474.
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II. Homosexualität als Skandalon
von Offizieren wegen derartiger Vorwürfe (wie vom Hauptmann von Tschirschky und Leutnant von Uetritz) verstärkten diesen Eindruck.474 Immerhin waren
zwischen 1905 und 1907 rund 20 Offiziere wegen Homosexualität verurteilt
worden und sechs Selbstmorde von erpressten Offizieren zu verzeichnen.475
Die durch den Skandal diskutierte Verbindung von Homosexualität und Militär vereinte dreierlei Ängste: die Furcht vor einer Minderung der Kampfeskraft
durch „verweiblichte“ Soldaten; die Angst vor einem Autoritäts- und Reputationsverlust des Militärs, auch mit Blick auf das Ansehen im Ausland; und eine
Krise der Männlichkeit, die gerade in Preußen durch das Militär verkörpert und
durch militärische Werte definiert wurde. Dementsprechend forderten insbesondere die konservativen, katholischen und nationalliberalen Blätter eine „eiserne Reinigung“ des Militärs.476 Männer wie Moltke bezeichneten sie wegen
ihres „süßlichen Wesens“ und „abnormer Empfindungen“ als eine Gefahr für
das Militär, was die Norm militärischer Männlichkeit wieder restituierte.477 Die
liberalen Zeitungen sahen sie zumindest als ungeeignet für militärische Führungsposten an.478 Die zugeschriebene feminine Schwäche des Homosexuellen
bedrohte demnach die Kraft des Staates, wie Harden bereits an dem angeblich
durch Eulenburg verursachten Zurückweichen in der Marokkokrise 1906
auszumachen geglaubt hatte.479
Der Reputationsverlust für das Militär war nicht leicht aufzufangen. Vor
allem die satirischen Zeitschriften und Zeitungsbeilagen verbreiteten Karikaturen über die homoerotische Neigung von Offizieren, die sich an ihren Soldaten ergötzten.480 Den weit verbreiteten öffentlichen Spott drückten auch Postkarten aus, die in Kneipen vertrieben wurden und entsprechende Vorstellungen
über den Missbrauch von Untergebenen verfestigten (vgl. Abb. 4). Besonders
die Musterung durch den Vorgesetzten erhielt vielfältige homoerotische Umdeutungen in den Bildern. Zudem kursierten provokative Broschüren mit Titeln
wie „Armee und Homosexualität“, die behaupteten, die Homosexualität würde
überhaupt erst den inneren Zusammenhalt im Militär herstellen.481 Nicht nur
die Grenzen des Sagbaren, sondern auch die Grenzen des Zeigbaren erwiesen
sich somit in Deutschland als deutlich weiter als in Großbritannien, wo derartig
474
475
476
477
478
479
480
481
Vgl. zu weiteren Fällen im Militär, die damit in Verbindung standen: Monatsbericht des
Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1. 7. 1907, in: Staatsbibliothek Berlin.
Diese Zahlen, allerdings nur nach Angaben des dubiosen Publizisten Adolf Brand: James D.
Steakley, Iconography of a Scandal. Political Cartoons in the Eulenburg-Affair, in: Wayne R.
Dynes (Hrsg.), History of Homosexuality in Europe and America, New York 1992, S. 323–
385, S. 334.
Zit. Köln. Volkszeitung Nr. 934, 28. 10. 1907.
Vgl. Die Post Nr. 505, 27. 10. 1907; Kölnische Zeitung Nr. 1121, 28. 10. 1907.
Frankfurter Zeitung 30. 10. 1907.
Diesen Aspekt betont auch: Bruns, Skandale, S. 62.
Vgl. bes. Simplicissimus 11. 11. 1907, S. 517, 519 u. 532 u. 10. 12. 1907. Zu den Karikaturen vgl.
James Steakley, Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel ihrer zeitgenössischen Karikaturen, Hamburg 2004.
Karl Franz von Leexow, Armee und Homosexualität, Leipzig 1908.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
147
satirische Bilder kaum aufgetreten waren, geschweige denn ernst gemeinte Darstellungen.
Wie sehr gerade die Homosexualität beim Militär die Öffentlichkeit bewegte,
zeigte sich auch in den Kneipengesprächen. Aus den Zeitungsberichten entwickelten sich recht persönliche Unterhaltungen über individuelle Erlebnisse.
So berichtete ein Gast über seine Erfahrungen mit homosexuellen Offerten beim
Militär.482 In einer anderen Kneipe meinte ein Gast laut Polizeibericht, der
Skandal „hat wohl einige Übelstände bei unserem so herrlichen Kriegsheer aufgedeckt aber noch lange nicht genügend, denn in ihm passiert noch viel mehr
[...].“483 Wie „alltäglich“ dies beim Militär sei, belegte der Gast mit dem Hinweis auf die benachbarte Wandsbeker Garnison, wo bei einem Begräbnis viele
als homosexuell bekannte Männer erschienen seien. Unabhängig von dem Wahrheitsgehalt derartiger persönlicher Aussagen führten die Medienberichte somit
dazu, dass ein derartig tabuisiertes Thema äußerst offen diskutiert wurde.
Auch in der Versammlungsöffentlichkeit des Reichstages regte der Skandal
entsprechende Debatten über die Homosexualität beim Militär an. Wie stark die
Empörung hierüber war, zeigte sich Ende November 1907 bei den Reichstagsdebatten zum Moltke-Skandal. Der Zentrumspolitiker Spahn sprach etwa von
einem „Mißbrauch der Dienstgewalt“ von Offizieren, der Eltern besorgen müsse. Ebenso explizit beschwerte sich der Nationalliberale Bassermann darüber,
„daß deutsche Offiziere sich vergingen mit Untergebenen“. Und der Sozialdemokrat Bebel berichtete von Selbstmorden von erpressten Offizieren, weshalb
er erneut die Abschaffung des § 175 forderte.484 Der Reichskanzler entgegnete
diesen Vorwürfen mit dem Versprechen, besonders hart gegen Homosexualität
im Militär vorzugehen. Auch Kriegsminister von Einem versprach Maßnahmen.
Die Angst vor der homosexuellen Überwältigung des Militärs zeigte sein Verweis auf das schon länger bestehende Verbot für Kürassiere, bei Dunkelheit in
ihrer Uniform auszugehen, um sie „vor den Angriffen der pervers veranlagten
Teile des Zivilpublikums zu schützen.“485 Abschließend zog der Kriegsminister
die Grenze zwischen Homosexuellen und Militär mit aller Deutlichkeit: „mir
sind diese Leute ekelhaft (Bravo! rechts) und ich verachte sie! Aber, meine
Herren, eins steht unbedingt fest: mag dem sein, wie ihm wolle, ein solcher
Mann darf nie und nimmer Offizier sein. (Lebhaftes Bravo rechts) [...] ein
solcher Mann zwingt seine Mannschaften, den Vorgesetzten zu verachten.“486
Homosexualität galt folglich erneut als Gefahr für die Autorität und die Hierarchien. Entsprechende Prozesse gegen die bislang nur verabschiedeten Offiziere
folgten. Major Lynar wurde wegen Missbrauchs der Dienstgewalt in sechs
482
483
484
485
486
Polizeibericht Stoike 26. 10. 1907, in: StAH, S 3930-39.
Polizeibericht Hinz 5. 11. 1907, in: StAH, S 3930-26, Bd. 6.
Zit. 28. 11. 1907, Sten. Ber. RT, 60. Sitz., S. 1875 u. 1889; 29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz.,
S. 1910.
29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz., S. 1913.
29. 11. 1907, Sten. Ber. RT 61. Sitz., S. 1916.
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148
II. Homosexualität als Skandalon
Fällen, davon vier sittlichen Vergehen, zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt, und der Generalleutnant Wilhelm Graf von Hohenau wurde zwar
wegen mangelnder Beweise freigesprochen, musste aber seinen Dienst wegen
nicht erwiesener Unschuld quittieren.487 Die anfänglichen toleranten Deutungen der liberalen Öffentlichkeit wurden somit durch die Angst vor einer militärischen Schwäche wieder überschrieben.
Durch derartige Debatten trug der Skandal maßgeblich dazu bei, generelle
Eigenschaften und Erkennungsmerkmale von Homosexuellen zu konstruieren.
Da Eulenburg und Moltke schlagartig die bekanntesten Personen im Land waren, denen man Homosexualität zuschrieb, folgten aus ihren angeblichen Charaktereigenschaften pauschale Verallgemeinerungen. Wie beim Krupp-Skandal
zählten dazu künstlerische Neigungen, Arbeitsscheu, ein „weicher“ Charakter
sowie der inadäquate Kontakt mit jungen Männern aus der untersten Gesellschaftsschicht, die durch Geld korrumpiert würden. Hinzu kamen Intrigantentum, die Patronage von Männern mit ähnlichen Neigungen und eine begrenzte
Ehrlichkeit, die der Zwang zur Verstellung auslöse. Den „femininen Einschlag“
von Homosexuellen verifizierte auch der Experte Hirschfeld, indem er ihnen
irrationale weibliche Charaktereigenschaften zuschrieb wie „ein Vorherrschen
des Gefühlslebens“ oder „ein Hang zum Mystizismus“.488 Auch das Urteil des
Gerichtes, das alle Zeitungen verbreiteten, machte in Anlehnung an Hirschfelds
Expertise Homosexualität vor allem an drei Eigenschaften aus: „er [Moltke] ist
dem weiblichen Geschlecht abgeneigt, hat eine Zuneigung zu dem männlichen
Geschlecht und hat gewisse feminine Eigenschaften – alles Merkmale der Homosexualität.“489 Diese Erkennungsmerkmale wurden anhand seiner Verhaltensweisen belegt und spezifiziert. Dass Moltke im Theater gerne Süßigkeiten
esse, von seiner Frau verspottet und geschlagen werde, den ehelichen Sexualverkehr zwei Tage nach der Hochzeit aufgab und am Taschentuch seines angebeteten Freundes roch, waren zentrale Indizien. Das Urteil des zweiten MoltkeProzesses, das ihn entlastete, begründete seine „Normalität“ genau umgekehrt,
indem es ihm alle femininen Eigenschaften absprach.490 In diesem Sinne erschienen Homosexuelle tatsächlich wie ein „drittes Geschlecht“ zwischen Mann und
Frau, das äußerlich erkennbar war.
Allein die zugeschriebenen weiblichen Eigenschaften disqualifizierten Homosexuelle bereits für einige Berufe. Das galt nicht nur für das Militär, sondern
mit Blick auf Eulenburg auch für die Politik und die diplomatische Laufbahn.
Zeitgenossen am Hof, wie Graf Robert Zedlitz-Trützschler, gingen zwar während des Prozesses davon aus, dass Moltke und Eulenburg keine Homosexualität praktiziert hätten, sie aber deshalb nicht für die Umgebung des Kaisers
487
488
489
490
Vossische Zeitung 24. 1. 1908.
Rede Hirschfelds in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees
1. 11. 1907, S. 214.
Urteil zit. Neue Preussische Zeitung, 29. 10. 1907, abends.
Vossische Zeitung Nr. 610, 31. 12. 1907.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
149
geeignet wären, weil „ihre weibische Auffassung, ihr weichliches und phantastisches Wesen in politischer Beziehung und insbesondere in der Umgebung
Wilhelms II. gefährlich sein konnten.“491 Da Homosexuelle schwatzhaft wie
Frauen seien, so auch Kommissar Tresckow, besäßen sie nicht die nötige Diskretion für solche Posten. Und weil sie sich nur untereinander förderten, hätten sie nicht den nötigen Patriotismus.492 Der weltweit beachtete österreichische Skandal um den homosexuellen Generalstabschef Alfred Redl, der Militärgeheimnisse an Russland verkauft hatte, verfestigte 1913 dieses Klischee
des geschwätzigen und daher unzuverlässigen Homosexuellen erneut. Zudem
brachte dieser Fall auch in Österreich die Angst auf, im Militär sei Homosexualität verbreitet.493
Zumindest andeutungsweise schuf der Skandal auch ein öffentliches Wissen
über die Praktiken des homosexuellen Liebeslebens. Aus den Zeugen- und Expertenaussagen erfuhren die Zeitungsleser, wie homosexuelle Männer Kontakte
anbahnten. Der von Eulenburg mehrfach benutzte Eingangssatz „Hast Du denn
ein Mädchen?“ wurde als charakteristisch erachtet. Zwar übernahm keine Zeitung in ihren scheinbar wörtlichen Berichten die äußerst expliziten Aussagen
über den homosexuellen Geschlechtsverkehr, die besonders im Moltke-Prozess
und in den beiden Eulenburg-Prozessen 1908 fielen. Allerdings berichteten zumindest die linken Zeitungen erstaunlich offen etwa über das gemeinsame Onanieren, das Eulenburg mit einem Fischer praktizierte.494 Wie explizit hierüber
geschrieben werden durfte, wurde ebenfalls ausführlich diskutiert. Während die
konservativen und katholischen Zeitungen die Berichte als eine Gefahr für
Frauen und Kinder sahen und somit das Wissen um Homosexualität als ein
männliches Geheimnis verstanden, argumentierten liberale Zeitungen wie die
BZ eher aufklärerisch, die Zeitungen seien eben nicht für Kindern geschrieben:
„Erwachsene aber dürfen und müssen eine Gruppenerkrankung kennenlernen,
von deren leider schon endemischer Verbreitung die neueren Ereignisse jedem
wohl eine Vorstellung gegeben haben.“495 Die Wissenskonstruktion sollte damit
der aufklärenden Warnung dienen, während die katholische und konservative
Öffentlichkeit vor allem Nachahmungseffekte befürchtete.
Da die Homosexualität somit als eine äußerlich erkennbare Eigenschaft galt,
traf der Skandal auch den Kaiser. Dabei verhandelte der Skandal Zuschreibungen
über den Monarchen, die über sein homoerotisch orientiertes Umfeld seine
Kompetenz hinterfragten. Wie bereits Martin Kohlrausch unterstrich, bedrohte
491
492
493
494
495
Eintrag 26. 11. 1907 in: Graf Robert Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre, S. 171 f.
Tresckow, Von Fürsten, S. 112 f.
Vgl. die populärwissenschaftliche Darstellung: Georg Markus, Der Fall Redl. Mit unveröffentlichten Geheimdokumenten zur folgenschwersten Spionage-Affäre des Jahrhunderts, Berlin 1986.
Vorwärts 22. 4. 1908. Vgl. die Aussagen in Anklageschrift 5. 6. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a,
Nr. 49830; Protokoll der Sitzung 21. 4. 1908, in: BAK, N 1062-123.
BZ Nr. 153, 2. 7. 1908. Einen Verzicht auf Berichte zum Schutz von Frauen und Kindern forderte etwa: Der Tag Nr. 221, 4. 6. 1908.
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II. Homosexualität als Skandalon
der Skandal seine Autorität.496 Dass Wilhelm II. die Homosexualität in seinem
engsten Umfeld nicht bemerkt hatte, stellte seine Menschenkenntnis nachhaltig
in Frage. So schrieb die damals auflagenstärkste Tageszeitung, die liberale Berliner Morgenpost: „Ewig rätselhaft aber wird es bleiben, daß der Kaiser nicht,
unabhängig von allen Zuträgern, aus eigener Beobachtung einen Verdacht gegen
die Wesensart der Männer schöpfte, die zu seinem intimsten Freundeskreise gehören.“497 Ähnlich spotteten auch die Arbeiter in den Hamburger Kneipen:
„Ob das Wilhelm nicht gewußt hat, der doch so einen scharfen Blick hat für alles, was meinst du?“498, hieß es etwa in einem Vigilianzbericht. Andere Gäste
spotteten: „der Kaiser hat ja eine gute Umgebung gehabt, seine besten Freunde,
sogar sein Duzfreund Eulenburg sind warm, in dem Prozeß wird wohl noch viel
mehr zum Vorschein kommen, ist doch gut, daß so etwas in die Öffentlichkeit
kommt und nicht bei Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt wird.“499 Allerdings verzeichneten die Kneipenprotokolle der Hamburger Geheimpolizei auch
Gespräche, die den Kaiser wegen seines Durchgreifens in dem Fall lobten.500
Der Kaiser erschien damit zugleich als Unwissender und als Aufdecker.
Die nun überall veröffentlichten Details über das Privatleben der Kaiserfreunde und -vertrauten, die sich „Tütü“ und „Philine“ nannten und über den
Kaiser als das „Liebchen“ sprachen, diskreditierten den Monarchen ebenso.
Hinzu kam, dass der Skandal die Unwissenheit des Kaisers über öffentliche
Debatten publik machte. Während die gesamte politische Elite bereits ein
halbes Jahr über die Kampagne Hardens sprach, erfuhr der Kaiser erst Anfang
Mai 1907 durch seinen Sohn davon. Dies lag daran, wie die Zeitungsleser lernten, dass der Kaiser nur die von seinen Beratern ausgewählten Zeitungsausschnitte lese und allenfalls den Berliner Lokal-Anzeiger im Ganzen zur Hand
nehme. Deshalb monierten nun auch bürgerliche Zeitungen die Unwissenheit
des Kaisers.501 „Erfährt der Kaiser die Wahrheit?“, fragte etwa die Kölnische
Volkszeitung.502 Da fast alle Vorwürfe gegen Eulenburg und den Liebenberger
Kreis sich zugleich gegen den Kaiser richteten, war klar, dass Wilhelm II. ebenso eine Zielscheibe des Skandals war. Weil die Zensurpraktiken und Normen
der politischen Kommunikation eine direkte Kritik am Kaiser nur bedingt zuließen, richtete sie sich stattdessen aber vornehmlich gegen die Berater. Herabsetzend für den Kaiser war bereits die Annahme, dass eine Kamarilla um ihn
herum bestehen würde, da sie die beanspruchte monarchische Souveränität un-
496
497
498
499
500
501
502
Vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 233 f.
Berliner Morgenpost Nr. 255, 30. 10. 1907.
Polizeibericht Zerulli 26. 10. 1907, in: StAH, S 3930-38 Bd. 1.
Ebd.
„Das muß man den von Gottes Gnaden lassen, in solchen Sachen wienert er immer selbst
gleich tüchtig aus. Er hat doch seinen eigenen Kopf, denn so leicht läßt er sich die Ohren nicht
voll tuten.“ Polizeibericht Schutzmann Ramming 29. 10. 1907, in: StAH, S 3930-29 Bd. 4.
Germania Nr. 128, 7. 6. 1907; BZ am Mittag Nr. 320, 8. 7. 1907.
Kölnische Volkszeitung Nr. 609, 16. 7. 1908.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
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terlief. 503 Dass es ausgerechnet der Presse bedurfte, um ihn von dieser Kamarilla zu befreien, unterminierte ebenfalls seine Souveränität.
Entsprechend stand die Frage, ob oder in welchem Maße es eine Kamarilla
gegeben habe, von vorneherein im Mittelpunkt des Skandals. Von einer Kamarilla um Wilhelms Thron war zweifelsohne schon länger die Rede. Auch
Harden hatte bereits in den 1890er Jahren Artikel über die Kaiserfreude so betitelt.504 Als Harden im November 1906 seine erpresserischen Andeutungen
publizierte, brachte Bülow zeitgleich im Reichstag den Begriff in die Debatte:
„Kamarilla, das bedeutet eine häßliche fremde Giftpflanze, und man hat nie
versucht, sie in Deutschland einzupflanzen ohne großen Schaden für das
Volk.“505 Durch diesen Ausspruch wies er auf eine Bedrohung für Volk und
Kaiser hin, die eigentlich vor allem ihn selbst bedrohte. Als der Skandal und die
Empörung Ende Mai 1907 losbrachen, erinnerten sich viele Zeitungen an diese
Formulierung und lobten nun Harden dafür, dass er den Kaiser von dieser
Pflanze befreit habe. In Anlehnung an Bülow bediente sich die Presse dabei
Metapher und Visualisierungen, die die Kamarilla als giftiges oder überwucherndes Gewächs darstellten, das nun „auszumerzen“ sei. Besonders das Titelblatt
des Simplicissimus verband diese Metaphorik mit Pflanzenformen, die an die
homoerotischen Züge des Liebenberger Kreises erinnerten.506 Durch solche
Assoziationen entstand vor allem das Bild, der Kaiser sei durch die homoerotische Kamarilla von allem abgeschirmt und würde durch ihre Beseitigung wieder frei sehen können.
Einige eher konservative Blätter wie der kaiserfreundliche Berliner LokalAnzeiger betonten zwar, dass der Kaiser selbständig urteile und durch „Charakterstärke und Herrscherqualifikation jeglicher Beeinflussung unzugänglich
ist.“507 Aber mehrheitsfähig war diese Deutung selbst bei den konservativen
und nationalliberalen Zeitungen nicht. Entweder sie sahen die Kamarilla und
Intrigen als normale Erscheinung an einem Königshof an,508 oder sie formulierten sogar direkt ihre Kritik. So kommentierten etwa die Leipziger Neuesten
Nachrichten: „Denn seit Jahr und Tag hat nichts so vergiftend gewirkt, wie die
Existenz eines kleinen, abermächtigen Häufleins, das den Kaiser umgab und
nicht nur sein Ohr besaß, sondern auch durch eine eigentümliche Art von anbetender Huldigung in dem Monarchen hyperromantische Anschauungen vom
Königsrecht und von einem mystischen Gottesgnadentum zu erwecken und zu
503
504
505
506
507
508
Relativierbar scheint mir die These, die Annahme einer adligen Kamarilla „erregte kein großes
Aufsehen“; so Bruns, Skandale, S. 71. Die Figur der Kamarilla steht im Mittelpunkt bei:
Kohlrausch, Monarch, S. 196.
Vgl. zur frühen Zukunft auch: Rogge, Holstein, S. 55; Weller, Harden, S. 111.
Reichstag 14. 11. 1906, Bd. 5, 117. Sitz., S. 3660. In dieser Rede warnte Bülow bereits vor einem
„übertriebenen Hervortreten des Regenten“ und einem „zu weit getriebenen monarchischen
Subjektivismus.“
Simplicissimus Nr. 12, 17. 6. 1907.
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 278, 4. 6. 1907.
Hamburger Nachrichten Nr. 391, 7. 6. 1907; Deutsche Tageszeitung Nr. 263, 8. 6. 1907.
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152
II. Homosexualität als Skandalon
erhalten suchte.“509 Solche Artikel sprachen den Kaiser auf den ersten Blick von
aller Schuld frei, indem sie diese den schlechten Beratern zuwiesen. Zugleich
richtete sich ihre Kritik im Kern unübersehbar gegen den Monarchen und dessen Kurs. Die katholischen Zeitungen erhofften dagegen, dass mit dem Kreis
um Eulenburg der antikatholische Einfluss auf den Kaiser abnehmen würde. Da
Eulenburg sich im Sommer 1908 als Opfer einer katholischen Verschwörung
stilisierte, weil er in München das „protestantische Kaisertum“ vertreten habe,
nahm diese konfessionelle Deutung des Skandals zu. So gaben sie Eulenburg die
Schuld daran, dass der Kaiser nie einen Zentrumsabgeordneten empfangen
habe.510 Auch dieser Vorwurf an Eulenburg galt natürlich eigentlich dem Kaiser
selbst.
Der Begriff Kamarilla und die Zuschreibungen über sie verstärkten die Vorstellung, bei Wilhelm II. würde es sich um eine unzeitgemäße absolutistische
Herrschaftsweise handeln. Dass diese Kamarilla zudem noch durch homosexuelle Neigungen zusammenhielt, schien dieses Bild zusätzlich zu bestätigen.
Nicht minder häufig griffen die Journalisten Hardens Vorwurf auf, in der Hofgesellschaft sei Spiritismus verbreitet. Je nach politischer Richtung leiteten die
Teilöffentlichkeiten unterschiedliche Konsequenzen aus der Aufdeckung der
Kamarilla ab. Während die Konservativen das Ideal des autonomen Monarchen
beschworen, empfahl die freisinnige Presse von England zu lernen, wo der Premierminister die politische Verantwortlichkeit trage, die Beamten selbst ernenne
und entlasse und ein enges Vertrauensverhältnis zur Krone bestehe.511 Ebenso
sah das liberale Berliner Tageblatt die Kamarilla als Ergebnis des monarchischen
Systems und des „Kryptoabsolutismus“, weshalb Parlament und Öffentlichkeit
zu stärken seien.512
Noch direktere Demokratisierungsforderungen leiteten die Sozialdemokraten
aus dem Skandal ab. Sie argumentierten, „nur die Demokratie wird dem mittelalterlichen Spuk der Kamarillen- und Höflingswirtschaft ein Ende bereiten!“513
Nachdem Bebel dieses Argument im Reichstag wiederholte, widersprach Bülow,
in parlamentarisch regierten Ländern seien die „Intrigen und Hintertreppeneinflüsse“ viel größer; zudem gäbe es „nicht nur eine höfische Kamarilla, es gibt
auch eine rote Kamarilla. (sehr wahr! Und große Heiterkeit)“; diese umschmeichle die Massen und rede ihr über die Presse Ideen ein.514 Alle diese unterschiedlichen Positionen hatten aber zumindest eine gemeinsame Perspektive:
Sie formulierten das Ideal eines frei und transparent entscheidenden Politikers
und Monarchen. Dabei richteten sie sich vor allem gegen den informellen Einfluss des hohen Adels und gegen das kaiserliche Konzept eines „persönlichen
509
510
511
512
513
514
Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 155, 6. 6. 1907.
Kölnische Volkszeitung Nr. 605, 13. 7. 1908; vgl. auch ebd. 16. 7. u. 18. 7. 1908.
Vossische Zeitung Nr. 517, 3. 11. 1907.
Berliner Tageblatt Nr. 547, 27. 10. 1907.
Vorwärts Nr. 253, 29. 10. 1907.
Sten. RT 29. 11. 1907, 61. Sitz., S. 1923.
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7. Kamarilla, Militär und Homosexualität
153
Regiments“. Hier lag eine Konfliktlinie, durch die der Skandal seine Wirkung
entfachte. Und hierin lag auch ein gewisses Potential für Demokratisierungsforderungen.
Diese Deutungen zeigen, welche Konsequenzen der Skandal jenseits der Entlassungen hatte. Zweifelsohne schuf er einen schweren Ansehensverlust für die
Monarchie, den die dann folgende Daily-Telegraph-Affäre noch verstärkte. Die
öffentliche Zurückhaltung des Kaisers nach 1908 hing somit sicherlich auch mit
dem Eulenburg-Skandal zusammen. Ob man den Sturz des Liebenberger
Kreises als Demokratisierungstendenz sehen muss, ist zumindest für das Umfeld des Kaisers eher fraglich. Denn wie John Röhl frühzeitig betonte, verstärkte
Eulenburgs Sturz den Einfluss des Militärs auf den Kaiser.515
Folgen hatte der Skandal auch für die Homosexuellen. Während es in der Anfangsphase so schien, als könnte er durchaus Vorstellungen über Homosexualität liberalisieren, führte die ab November 1907 einsetzende Umdeutung zu einer
Verfestigung und Erweiterung von Vorurteilen. Dementsprechend reagierte die
Regierung mit einem Gesetzesentwurf, der den § 175 verschärfen sollte, indem
er bis zu fünf Jahren Haft vorsah. Auch wenn die Novelle nach langer Diskussion an liberalen Gutachtern scheiterte, zeigte ihre Begründung den engen Zusammenhang zwischen Gesetzesreform und Skandalen: Homosexualität wurde
nun als „Gefahr für den Staat“ definiert, und auch die geplante Strafverschärfung gegenüber männlicher Prostitution und dem Verkehr mit Abhängigen verwies direkt auf die vorherigen Skandale.516 Selbst die SPD, die bislang als einzige
Partei klar für eine Straffreiheit homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen
eingetreten war, vertrat nun ihre Forderungen verhaltener.517
Auch die Verfolgung und Bestrafung von zahlreichen weiteren Homosexuellen spricht dafür, dass der Skandal die Grenzen des Tolerierbaren eher verengte.
Die Zahl der Verurteilungen stieg statistisch gesehen in den Jahren nach 1908
deutlich an.518 Auch die symbolischen Anklagen gegen prominente Adlige wie
die Grafen Wedel, Lynar und Hohenau unterstrichen, dass die Skandale eher
eine Norm verfestigten statt sie zu liberalisieren. Entsprechende Vorwürfe, die
nun in der Jugendbewegung aufkamen, mögen ein weiterer Beleg für die zunehmende Angst vor Homosexualität sein.519 Ebenso erreichte Hirschfelds Bewegung zwar durch den Skandal eine große Bekanntheit, verlor aber an Ansehen
und Fördermitgliedern.520
515
516
517
518
519
520
Röhl, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 1,
S. 59.
Vgl. zu der geplanten Reform: Sommer, Strafbarkeit, S. 146 f. Vgl. auch den Überblick in:
Susanne zur Nieden, Homophobie und Staatsräson, in: dies. (Hrsg.), Homosexualität, S. 17–
51.
Zur weiteren Haltung der SPD nach 1908 vgl. Eissler, Arbeiterparteien, S. 124.
Vgl. die Statistik in: Sommer, Strafbarkeit, S. 377.
Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, S. 38. Erst nach Abschluss des
Manuskriptes erschien Bruns, Politik des Eros.
Einen Rückgang der „Fondszeichner“ verzeichnet: Keilson-Lauritz, Die Geschichte, S. 34.
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154
II. Homosexualität als Skandalon
Zugleich dürfte der Skandal mit dazu beigetragen haben, den schwärmerischen Umgang unter befreundeten Männern zu verändern. Romantisierende
Briefe, die freundschaftliche Liebeserklärungen machten, erschienen angesichts
des Homosexualitätsverdachts problematisch. Insofern stand Hardens Kampagne tatsächlich im Zeichen einer kühlen, intellektuellen und zynischen
Härte.521 Am Kaiserhof selbst nahm man allerdings nicht sogleich Abstand vom
homoerotisch geprägten Umgang. Zumindest tanzte nur wenige Monate nach
den Enthüllungen im Eulenburg-Prozess der Chef des Militärkabinetts, General Dietrich Graf von Hülsen-Haeseler, bei einer heiteren Gesellschaft im Ballettröckchen vor Wilhelm II. Allein der plötzliche Tod des Generals bei diesem
Tanz machte diese Szene bis heute bekannt.522
Konsequenzen hatte der Skandal auch für die Öffentlichkeit von Prozessen.
Die offene Berichterstattung über den ersten Prozess führte zur Forderung nach
dem Ausschluss der Öffentlichkeit und gesetzlichen Gegenmaßnahmen der Regierung. So verhandelte das Staatsministerium schon 1908 Entwürfe über die
Reform der Strafprozessordnung, die sich direkt auf den Moltke-Harden-Prozess bezogen. Sie zielten auf eine Verschärfung der Strafen bei Beleidigung sowie eine Einschränkung des Wahrheitsbeweises und der Öffentlichkeit bei Beleidigungsprozessen in „Folge der bei dem Moltke-Hardenprozeß hervorgetretenen Mißstände.“523 Auch Fragen an die Zeugen sollten abgeschnitten werden
können.524 Insofern nannte die politische Rechte es als einen positiven Effekt
des Skandals, dass er den Ausschluss der Öffentlichkeit bei derartigen Prozessen
gefördert habe und die Bewegung für die Abschaffung des § 175 lächerlich gemacht habe.525
Als eine einfache politische Intrige, bei der etwa der entlassene Friedrich von
Holstein den Journalisten Harden als Instrument für seine Rache benutzte, lässt
sich der Skandal somit sicherlich nicht verstehen. Selbst wenn Holstein Harden
Informationen verschaffte oder mitunter bestärkte, nahm der Skandal so viele
unkontrollierbare Wendungen, dass er sich nicht auf die Entscheidungen weniger politischer Akteure beschränken lässt. Vielmehr zeigte sich das vielfältige
Scheitern aller Akteure an den wechselnden öffentlichen Zuschreibungen. Vergleichbar große Skandale um Homosexualität kamen in Deutschland danach
nicht mehr auf. Natürlich versuchten verschiedene Zeitungen weiterhin entsprechende Enthüllungen zu lancieren. Aber vermutlich löste der EulenburgMoltke-Skandal verbunden mit dem Krupp-Skandal auch bei den Journalisten
eine derartige Schockwirkung aus, dass sie, ganz ähnlich wie in Großbritannien,
bei diesem Thema zurückhaltender blieben.
521
522
523
524
525
Vgl. hierzu auch: Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 325 f.
Den Fall schildert: Tagebuch Zedlitz-Trützschler, Eintrag 8. 2. 1909, in: ders., Zwölf Jahre,
S. 216.
Protokoll Staatsministerium 29. 2. 1908 u. 2. 5. 1908, in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3613
Protokoll Staatsministerium 26. 6. 1908 in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3613.
Deutsche Volkscorrespondenz Nr. 91, 21. 4. 1909.
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8. Zwischenfazit
155
8. Zwischenfazit
Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland traten im ausgehenden
19. Jahrhundert verstärkt Skandale auf, bei denen gezielt die Homosexualität
von gesellschaftlichen Eliten offen gelegt wurde. Diese Enthüllungen dienten
jedoch nicht primär der Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, sondern waren vor allem ein Druckmittel, um bestimmte politische Veränderungen
zu erreichen. Dennoch trugen die Skandale in beiden Ländern maßgeblich dazu
bei, ein recht ähnliches Bild über Homosexualität zu verbreiten. Sie verstärkten
erstens in beiden Ländern die Auffassung, die Zahl der Homosexuellen sei Ende
des 19. Jahrhunderts schlagartig angestiegen und würde eine Bedrohung für die
Gesellschaft bilden, gegen die man sich schützen müsse. Zweitens prägten sie
die Vorstellung, Homosexualität sei weniger ein Laster von moralisch ungefestigten Unterschichten, sondern besonders in Kreisen des hohen Adels und im
vermögenden Bürgertum verbreitet. Damit hinterfragten die Skandale insbesondere den bürgerlichen Selbstentwurf, ein tugendhaftes Vorbild zu sein. Drittens verfestigten die Skandale das Narrativ, dass vornehmlich reiche Homosexuelle gegen Bezahlung arme Menschen zur Homosexualität verführten und aufgrund der Klassenjustiz nicht dafür bestraft würden. Dies ging mitunter sogar
mit einer Umdeutung männlicher Prostituierten einher, die als Opfer gesehen
wurden. Viertens verbreiteten die Skandale die Vorstellung, Homosexuelle würden feminine Charaktereigenschaften aufweisen. Die in den Skandalen beschuldigten Männer wurden als emotional, schwärmerisch, künstlerisch veranlagt,
wenig durchsetzungsstark und kaum belastbar beschrieben, was die Gerichte,
Parlamente und Medien generalisierten. Dass die skandalisierten Männer zumeist keiner geregelten Arbeit nachgingen, grenzte sie ebenfalls von der so
konstruierten „normalen“ Form der Männlichkeit ab. Fünftens popularisierten
die Skandale zumindest in Deutschland die als wissenschaftlich deklarierte Vorstellung, Homosexualität sei eine Art angeborene Krankheit. Umdeutungen von
Medizinern und die zeitgenössische Annahmen über eine „Heilung“ verbanden
sich hierbei. Alle diese in den Skandalen konstituierten Deutungen ließen Homosexualität als Bedrohung der Gesellschaftsordnung erscheinen: Der klassenübergreifende Verkehr drohte in dieser Sichtweise soziale Grenzen aufzuweichen, die korrumpierende Kraft des Geldes die Jugend zu verderben und der
angeblich feminine Charakter die Wehrkraft und den Staat zu zersetzen sowie
politische Geheimnisse zu gefährden.
In beiden Länder bildeten eine restriktive Gesetzgebung und starke Tabuisierung wichtige Vorraussetzungen für das Aufkommen der Skandale. Der Vergleich zwischen den Ländern zeigte jedoch durchaus Unterschiede. Generell
waren die öffentlichen Sagbarkeitsgrenzen beim Thema Homosexualität in
Deutschland weiter gespannt. Auch im Zuge der Skandale blieben die Tabugrenzen in Großbritannien deutlich enger. Hier rangen sich lediglich linksliberale
Zeitungen zu einer direkteren Auseinandersetzung mit Homosexualität durch.
Wie sehr die Grenzen zwischen den beiden Ländern differierten, zeigte sich
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156
II. Homosexualität als Skandalon
nicht zuletzt in den britischen Medienberichten über deutsche Homosexualitätsskandale, die häufig nur mit vorsichtigen Andeutungen arbeiteten, Übersetzungsprobleme thematisierten oder den Vorwurf ganz aussparten. Entsprechend
räsonierte 1907 der Berliner Korrespondent der Times in seinem Bericht über
Bülows Prozess gegen Adolf Brand, der ihm Homosexualität vorwarf: „It is
really difficult to know how to report a case of this kind in The Times. It is impossible to transmit the evidence verbatim […].“526 Durch diesen Bericht über
den deutschen Skandal-Prozess wurde überhaupt erstmalig das Wort „homosexual“ in den Sprachgebrauch der Times überführt. In den aktiven Wortschatz
des Blattes rückte es allerdings erst seit den 1950er Jahren langsam.
Die Skandale förderten nicht nur in den Medien, Parlamenten und Gerichtssälen ein Sprechen über Homosexualität, sondern auch in den alltäglichen Gesprächen. In beiden Ländern erleichterten spöttische, humoreske Kommentare
die Auseinandersetzung mit dem Tabu. Wie die Auswertung der Polizeiprotokolle deutscher Kneipengespräche zeigte, führten die Skandale aber durchaus
auch zu ernsthaften Diskussionen, die persönliche Erfahrungen mit dem Thema
Homosexualität austauschten, etwa über die Homosexualität im Militär. Zudem
bildeten die Homosexualitätsfälle auch für die Zeitungsleser nur einen Anstoß,
um aus ihnen heraus jene grundsätzlichen politischen Fragen zu diskutieren, mit
denen die Kampagnen und Skandale verbunden waren.
Denn in beiden Ländern zielten die Skandalisierungen auf weiterreichende
politische Fragen – wie die irische Unabhängigkeit, den Sturz der Tory-Regierung, den Kampf gegen die Klassenjustiz, gegen den Kapitalismus oder gegen
das „persönliche Regiment“ von Wilhelm II. Der als besonders ehrverletzend
empfundene Vorwurf der Homosexualität richtete sich dementsprechend auch
nicht primär an Politiker, sondern an Repräsentanten der jeweils bekämpften
gesellschaftlichen Ordnung, wie die englische Administration in Irland, den
Adel im Umfeld des Königshofes oder reiche Unternehmer. Politisch waren die
Skandale allein schon deshalb, weil sie jeweils die Regierungen herausforderten.
Dabei benutzten sie Anklagen, die aufgrund ihres prekären Tabucharakters und
ihrer kommunikativen Dynamik kaum zu bekämpfen waren.
Dass der Vorwurf der Homosexualität in die politische und mediale Arena
trat, war zweifelsohne das Ergebnis zunehmend polarisierter politischer Konfliktlinien. Sie führten dazu, dass neue Akteure auftraten, die gerade durch ihren
Außenseiterstatus mit den bisherigen Regeln der politischen Kommunikation
brachen. In Großbritannien waren dies vornehmlich die Iren und Radicals, in
Deutschland die Sozialdemokraten und bürgerlichen Gegner des „persönlichen
Regiments“. Angestoßen wurden die Homosexualitätsskandale in beiden Ländern fast ausschließlich von Journalisten, die zugleich politisch aktiv waren und
für kleine Blätter schrieben, mit denen sie Politik gestalten wollten. Die Beschuldigungen dieser Journalisten beruhten auf Gerüchten, die sie erst im Zuge
der folgenden Beleidigungsprozesse mithilfe von Detektiven genauer verifi526
Times 7. 11. 1907, S. 3.
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8. Zwischenfazit
157
zierten. In dieser Phase ermittelten sie jene Zeugen, die in den Prozessen und
über die Medien freizügig über homosexuelle Praktiken berichteten. Gerade die
Homosexualitätsskandale zeigten dabei besonders karnevaleske Elemente, da
mehrfach Zeugen aus unteren sozialen Schichten zum Sturz und zur Ausgrenzung mächtiger Eliten beitragen konnten. Die großen Boulevard- und Massenblätter hielten sich dagegen beim Aufbringen der Vorwürfe zurück, und verstärkten erst durch ihre ausführlichen Berichte im Zuge der Prozesse die Dynamik der Skandale.
Fast alle Homosexualitätsskandale wiesen kontingente Verlaufsformen auf
und erstaunliche Schwankungen in der öffentlichen Beurteilung. In allen Fällen
wurden die verantwortlichen Journalisten nicht nur wegen Verleumdung vor
Gericht gestellt, sondern auch von der Öffentlichkeit wegen ihrer Enthüllungen
verurteilt. Dadurch war jeweils offen, ob der Skandal sich nicht vornehmlich
wie ein Bummerang gegen die Enthüllungsjournalisten richtete. Auch die
Stammtische folgten den wechselnden Bewertungen der Medien und sahen die
Journalisten mal als heldenhafte Aufdecker, mal als sensationslüsternde „Schmutzfinken.“
Zudem brachten die Regierungen in beiden Ländern einen großen Aktionismus auf, um das weitere Aufkommen dieser Vorwürfe zu verhindern und das
Thema von der Medienöffentlichkeit fern zu halten. So beeinflussten die Regierungschefs die Ermittlungen der Justiz und die Prozessverläufe, blockierten
weiterführende Untersuchungen und unterbanden parlamentarische Aussprachen. Den betroffenen Eliten ermöglichten sie großzügige Gelegenheiten zur
Flucht ins Ausland, um so einen Skandal zu vermeiden. Besonders für das parlamentarische Großbritannien mag diese starke Einflussnahme der Exekutive auf
die Justiz erstaunen. Nicht die Haft, sondern die tolerierte Emigration war hier
die eigentliche Strafpraxis. Das große Risiko, das die Staatsführungen dabei eingingen, zeigte, wie gefährlich ihnen die Homosexualitätsvorwürfe für die Gesellschaftsordnung erschienen. Tatsächlich war es gerade diese Skandalbekämpfung der Regierung, die den Skandalen immer wieder ihre Dynamik gab. Denn
gerade weil die Kampagnen eigentlich die Regierung und weniger die einzelnen
Homosexuellen treffen sollten, bildete die Vertuschung der Homosexualität
jenen Normbruch, der in einer zweiten Phase den Skandalen eine zusätzliche
Dynamik verlieh.
Neben unverkennbaren Parallelen ließen sich auch kulturelle Transferprozesse zwischen den britischen und den deutschen Skandalen ausmachen. Vor allem
Großbritannien gab dabei Anstöße für Deutschland, weil hier die entsprechenden Skandale ein bis zwei Jahrzehnte früher auftraten. Insbesondere die
großen britischen Homosexualitätsskandale in den ersten Hälfte der 1890er Jahre sorgten dafür, dass das Thema in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre auch in
Deutschland öffentlich präsenter wurde, wie am Beispiel der sozialdemokratischen Presse und dem Engagement Magnus Hirschfelds gezeigt wurde. Dies
bildete eine zentrale Voraussetzung für den ersten großen deutschen Homosexualitätsskandal um Friedrich Alfred Krupp. Der Krupp-Skandal zeigte erneut
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158
II. Homosexualität als Skandalon
die ambivalente Haltung, die selbst die politische Linke zur Homosexualität
hatte: Während sie aus der Annahme heraus, dass Homosexualität krankhaft
angeboren sei, eine Abschaffung des § 175 forderte, hielt sie zugleich an dem in
Großbritannien bereits etablierten Bild des dekadenten reichen Homosexuellen
fest, der arme Jungen gegen Geld missbrauche und daher bestraft und öffentlich
gebrandmarkt werden müsse.
Die Medien und die Medialisierung der Gesellschaft spielten bei diesen Skandalen eine komplexe, oft widersprüchliche Rolle. Indem sie die Skandale zumeist eigenständig anstießen und ihnen eine Dynamik gaben, die die Regierungen herausforderte, nahmen sie durchaus die Rolle einer „vierten Gewalt“
ein. Ihre Kampagnen richteten sich gegen überkommene, vordemokratische Zustände, und in der offiziellen Logik des damaligen Rechtes halfen sie bei der
Verbrechensbekämpfung. Zugleich wird man aber die Enthüllung der Homosexualität kaum als einen Akt der Demokratisierung bezeichnen können. Sie
war vielmehr eine Politik der Sensationen, die über spektakuläre Neuigkeiten
mediale Aufmerksamkeit auf bestimmte grundsätzliche Missstände zu lenken
versuchte. Zudem zeigte die enge Verbindung zwischen den Enthüllungsjournalisten und der Politik, dass die entsprechenden Zeitungen eben nicht als ein
autonomes System agierten. Gerade bei den englischen Homosexualitätsskandalen saßen die journalistischen Enthüller sogar zugleich im Parlament.
Mit der Thematisierung der Homosexualität brachen die Medien zwar ein
Tabu, sie verstärkten es aber auch wieder. Kurz nach ihrem Ausbruch brachten
die Skandale zumindest in der liberalen und sozialdemokratischen Öffentlichkeit noch erstaunlich tolerante Diskurse über Homosexualität auf. Längerfristig
führten sie jedoch in den Jahren nach den Skandalwellen dazu, dass in beiden
Ländern die Toleranz gegenüber Homosexualität sank, sie stärker tabuisiert
wurde und die Verfolgungen zunahmen. Die bürgerliche Öffentlichkeit markierte im Laufe der Skandale eine explizite Grenze, die Homosexuelle von einflussreicheren Posten ausschloss. Die drohende Strafe war dabei weniger die
Gefängnishaft als der Skandal, der öffentliche Geständnisse erzwang. Bereits die
Angst vor ihm erwies sich dabei als ein Disziplinierungsinstrument. Wie groß
sie war, zeigte die vielfache Flucht in den Selbstmord oder die lebenslange Emigration nach Frankreich oder Italien.
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III. EHEBRUCH ALS POLITIKUM
1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
im 19. Jahrhundert
Mit der Etablierung der bürgerlichen Öffentlichkeit veränderte sich auch der
Umgang mit Heterosexualität. Offiziell wurde sie tabuisiert und der Privatsphäre zugewiesen. Zugleich wurde ihre Thematisierung im 19. Jahrhundert jedoch
forciert. So förderten die bürgerlichen Moralvorschriften, Selbstlegitimierungen
und Wissenschaftsdiskurse eine breite Auseinandersetzung mit der Sexualität
zwischen Mann und Frau. Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang
von „neuen Technologien des Sexes“. Sie seien zunehmend weniger von den
Kirchen als vom Staat und den Laien organisiert worden, die Regelwerke und
Vermessungen entwarfen.1 Auf diese Weise entstanden neue Grenzen, Wissensbestände und Deutungen der „normalen“ Sexualität. Diese zunehmend ausdifferenzierte Regulierung bildete zugleich eine wesentliche Voraussetzung dafür,
dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert aus Ehebrüchen zunehmend politische Skandale entfalten konnten.
Erneut wurde das Aufkommen von Skandalen dabei durch rechtliche Vorbedingungen geprägt – in diesem Fall besonders durch das jeweilige Scheidungsrecht. Schließlich präfigurierte es die Grenzen der legitimen Sexualität und das
öffentliche Sprechen über die außereheliche Sexualität. Dass die britischen Medien früher und häufiger über Ehebrüche berichteten als in Deutschland und
somit entsprechende Skandale in England häufiger auftraten, dürfte im hohen
Maße mit dem britischen Scheidungsrecht zu erklären sein. In Großbritannien
war die Lösung einer Ehe bis 1857 ein komplizierter Prozess, den nur Männer
einleiten konnten. Der Ehemann musste in einem kostspieligen Verfahren vor
dem Church Court das Fremdgehen seiner Frau belegen und konnte dann vor
dem Common Law Court den Liebhaber auf Schadensersatz verklagen. Falls er
erneut heiraten wollte, musste er in einem dritten Schritt einen Private Act vom
Parlament erhalten, für den abermals die Beweise aufgenommen wurden.2 Das
durch die anglikanische Kirche geprägte englische Scheidungsrecht stand damit
dem katholischen Scheidungsverbot näher als dem Scheidungsrecht vieler
protestantischer Länder – obgleich ausgerechnet die Neuvermählungen von
Heinrich VIII. die Gründung der anglikanischen Kirche ausgelöst hatten. Dank
dieser Restriktionen kam es in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichsweise selten zu Scheidungen. Üblicher waren stillschwei1
2
Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 140.
Vgl. Allen Horstman, Victorian Divorce, London 1985, S. 4 f. Horstman bietet zudem eine
Auswertung von Scheidungsurteilen, ohne aber die öffentliche oder mediale Dimension zu
berücksichtigen.
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160
III. Ehebruch als Politikum
gende Trennungen oder ein außergerichtlich vereinbarter „Schadensersatz“
von Seiten des Liebhabers. Erst eine Gesetzesreform von 1857 ermöglichte
auch Frauen, Scheidungen einzureichen. Allerdings mussten sie neben dem
Ehebruch des Mannes noch weitere Formen der „Grausamkeit“ belegen, was
das Potential für Skandale zusätzlich vergrößerte.3 Diese Reform ließ die Zahl
der Scheidungen kurzzeitig ansteigen, da Frauen rasch knapp die Hälfte aller
Scheidungen einleiteten. Pro Kopf gerechnet blieb die Scheidungsrate in Großbritannien zwischen 1860 und 1914 jedoch weitgehend konstant, gleichwohl
die britische Öffentlichkeit durch die steigende Zahl der Scheidungsskandale
davon ausging, Ehen würden immer häufiger zerbrechen. Zudem suggerierte
die Mehrzahl der Zeitungsberichte, Scheidungen seien primär ein Phänomen
der oberen Schichten, was zumindest tendenziell auch statistisch zutraf. Obgleich neuere Studien den Arbeiteranteil höher als zuvor einschätzen, waren
Scheidungen allein schon durch die hohen Kosten in der upper middle class
deutlich weiter verbreitet, während sich Angehörige der Unterschichten häufiger ohne Prozess trennten.4
Da das britische Recht einen nachgewiesenen Ehebruch als Scheidungsgrund
verlangte, musste das Paar im Beweisverfahren detailliert Seitensprünge öffentlich darlegen. Gerade diese Regel bildete die wesentliche Voraussetzung für die
zahlreichen britischen Ehebruchskandale, da sie die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterlief. Die Scheidungsprozesse produzierten öffentliche Geständnisse und eine öffentliche Suche nach sexuellen Geheimnissen,
an der sich die Zeitungsberichte hierüber beteiligten. Dass die bislang vor Ort
geführten Scheidungsprozesse nun alle in London stattfanden, förderte die öffentliche Thematisierung zusätzlich. Da die Journalisten vornehmlich in der
Hauptstadt konzentriert waren, konnten sie so ohne großen Aufwand regelmäßig über die Scheidungsfälle berichten. Zudem wurden die Scheidungsprozesse
mit ihren sexuellen Geständnissen Teil der Metropolenkultur: Ihr Besuch war
eine beliebte Attraktion, und die Gespräche über sie ein Teil der Großstadtkommunikation.
In den britischen Debatten, die in den 1850er Jahren über die Reform des
Scheidungsrechts geführt wurden, galt Preußen als ein negatives Beispiel. In
Preußen sei die Scheidungsrate hoch und Frauen würden, so ein britischer Abgeordneter, „gekauft, verkauft und ausgewechselt.“5 Tatsächlich war das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 in der Trennungsfrage äußerst liberal. Es
akzeptierte bereits eine Scheidung aufgrund gegenseitigem Einverständnisses,
3
4
5
Während Horstman bei der Reform eher die progressive Bedeutung des Gesetzes hervorhebt
(ebd., S. 169), sieht Stone eher eine konservative Tendenz, die wenig verändert habe; Lawrence Stone, Road to Divorce. England 1530–1987, Oxford 1992, S. 383–388.
Zur „upper middle class“ und der Arbeiterklasse zählten jeweils rund ein Drittel der Scheidungen, obgleich letztere in der Bevölkerung stärker vertreten war; Gail Savage, „Intended
Only for the Husband“. Gender, Class, and the Provision for Divorce in England, 1858–1868,
in: Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals, S. 11–42, S. 21 f.
Zit. nach: Stone, Road to Divorce, S. 384.
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1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
161
unüberwindlicher Abneigung oder „böslicher Verlassung.“6 Im Unterschied
zum britischen Recht bestand damit nicht der Zwang, vor dem Gericht einen
Ehebruch zu beweisen, was das Potential für Skandale minderte. Selbst die Gesetze in den vom Code Civil geprägten linksrheinischen Gebieten Deutschlands
erreichten im frühen 19. Jahrhundert nicht diese Liberalität. Dennoch war selbst
dort die Scheidung deutlich leichter als in Großbritannien, zumal sie auch
Frauen ein Antragsrecht zusprach. Die reichsweite Vereinheitlichung, die das
Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 für das Scheidungsrecht brachte, war dagegen
kaum ein liberaler oder wegweisender Entwurf, da es allgemein das Schuldprinzip vorschrieb, gleichwohl dies im Unterschied zu Großbritannien nicht auf den
Ehebruch begrenzt war.7 Das Schuldprinzip, welches das schuldhafte Verletzen
„ehelicher Pflichten“ einschloss, führte dabei zu einer stärkeren Hervorhebung
des sexuellen Privatlebens und steigerte den Untersuchungsaufwand, wodurch
um 1900 auch in Deutschland das Potential für entsprechende Skandale stieg.
Die Zahl der Scheidungen beeinflusste dagegen nicht das Aufkommen der
Skandale. Besonders in den protestantisch geprägten preußischen Gebieten lag
die Scheidungsrate in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um ein Vielfaches
höher als bei den Briten, was auch daran lag, dass die Frauen hier früher und
gleichberechtigter Scheidungen einreichen konnten. Während um 1900 in Großbritannien rund 500 Ehen geschieden wurden, waren es in Deutschland etwa
8 000.8 Dennoch spielten in Deutschland Skandale, die sich aus Scheidungen
speisten, eine geringere Rolle. In der britischen Wahrnehmung war Deutschland
trotz dieser Scheidungsstatistik freilich nicht der entscheidende Referenzpunkt,
um die eigene moralische Überlegenheit zu prüfen. Ähnlich wie bei anderen
Normverstößen blickten die Briten vor allem nach Frankreich, um ihre Moral
im internationalen Vergleich zu messen.9
Dass in Großbritannien trotz der wenigen Scheidungen mehr Skandale aufkamen, lag auch an einer langen Tradition von öffentlichen Berichten über Ehebrüche und Trennungen. Der Übergang zur staatlichen Rechtssprechung im
18. Jahrhundert, der die Scheidungsprozesse öffentlich machte, ermöglichte be6
7
8
9
Rechtliche und statistische Hinweise nach: Dirk Blasius, Ehescheidungen in Deutschland
1794–1945. Scheidungen und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987,
S. 30–36. Dass das preußische Eherecht im Vergleich etwa zum Code Napoleon wenig patriarchalisch war, bilanziert: Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche
Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln
2004, S. 1052.
Geisteskrankheit von mindestens drei Jahren war die einzige Ausnahme vom Verschuldungsprinzip. Als juristische Bewertung der Gesetzesreform, die deren praktische Folgen als gering
einschätzt, vgl. Christof Horn, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Ehescheidungssachen der Jahre 1900 bis 1905, Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 65 f. u. 234 f.
Scheidungsdaten nach: Savage, Intended Only, S. 11; Blasius, Ehescheidungen, S. 152. Daten
im internationalen Vergleich bietet: Roderick Philipps, Putting Asunder. A History of
Divorce in Western Society, Cambridge 1988.
Vgl. etwa bes. prägnant: Benjamin Scott, Is London More Immoral than Paris or Brussels?,
London 1882 (zuerst gekürzt in: The Sentinel Okt. 1881).
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162
III. Ehebruch als Politikum
reits Publikationen über sie. Insbesondere im Londoner Gericht Old Bailey wurden Prozesse mitgeschrieben und dann gebündelt als Crime-Chap-Books publiziert. Diese spotteten vornehmlich über die Sexualität des Adels und förderten
damit eine abgrenzende moralische Identitätsbildung des Bürgertums.10 Seit dem
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts übernahmen Zeitungen derartige Berichte,
wodurch ihre Verbreitung und Regelmäßigkeit stieg und sie einen Nachrichtenwert erhielten. Bemerkenswerterweise entstanden in Großbritannien bereits seit
Ende des 18. Jahrhunderts Zeitschriften, die sich vornehmlich auf Scheidungsprozesse und die dazugehörigen sexuellen Enthüllungen konzentrierten.11 Im Unterschied zu Deutschland berichteten im 19. Jahrhundert jedoch auch die sogenannten Qualitätszeitungen in festen Rubriken über Scheidungsprozesse.
Zu einem deutlichen Anstieg derartiger Artikel kam es seit dem neuem Scheidungsrecht von 1857. Auch die Häufigkeit, mit der das Wort „divorce“ in TimesArtikeln genannt wurde, belegt diesen Trend: Um 1860 steigt sie bereits stark
an, dann wurde wiederum zwischen den 1880er und 1920er Jahren besonders
häufig von Scheidungen gesprochen.12 Wie eine Statistik der Royal Commission
zur Reform des Scheidungsrecht 1912 ermittelte, wiesen große britische Zeitungen wie die Times, der Daily Telegraph und die Daily Mail in den Jahren
zuvor immerhin zwischen 82 und 106 Scheidungsberichte pro Jahr auf.13 Zudem entstanden in Großbritannien seit den 1860er Jahren Zeitschriften, die sich
vornehmlich auf Scheidungsberichte und Morde konzentrierten. Blätter wie die
Illustrated Police News gingen zwar von Gerichtsberichten aus, kreierten hieraus aber reich bebilderte Melodrame oder Kriminalfälle, die eher an Kolportageromane erinnerten. Dagegen war in Großbritannien die Publikation von Ratgebern über Heterosexualität selbst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur
sehr eingeschränkt möglich. Dies zeigte besonders die berühmte Anklage gegen
Charles Bradlaugh, einen Buchhändler aus Bristol, der 1877 wegen des Verkaufs
eines älteren amerikanischen Buches über Verhütung verurteilt wurde, obwohl
sämtliche Bilder entfernt waren. Das Gericht argumentierte, bereits das Wissen
um Verhütung fördere die außereheliche Sexualität.14 Zugleich machte der große
Protest für und gegen die Verurteilung des Buchhändlers deutlich, wie sehr sich
10
11
12
13
14
Hierzu zählten im 18. Jahrhundert etwa die „Old Bailey Sessions Papers“, die achtmal im Jahr
erschienen, oder die „Ordinary Accounts“; vgl. hierzu: Peter Wagner, The Pornographer in
the Courtroom. Trial Reports about Cases of Sexual Crimes and Delinquencies as a Genre of
Eighteenth-Century Erotica, in: Paul-Gabriel Boucé (Hrsg.), Sexuality in Eighteenth-Century Britain, Manchester 1982, S. 120–140, S. 121; Peter Linebaugh, The Ordinary of Newgate and his Accounts, in: James S. Cockburn (Hrsg.), Crime in England: 1550–1800, London
1977, S. 246–269.
Hierzu zählten etwa: The Rambler’s Magazine oder das Town and Country Magazine; vgl.
Wagner, The Pornographer, S. 132.
Häufigkeit des Wortes „divorce“ in der Times 1786–1985, eigene Auswertung im Times Digital Archive.
Stone, Road to Divorce, S. 295.
Walter L. Arnstein, The Bradlaugh Case. Atheism, Sex and Politics among the Late Victorians, Columbia 1983 (Erstauflage 1965), S. 21 f.
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1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
163
diese Tabugrenzen zu einem umkämpften Terrain entwickelten. Ebenso kursierten die pornographischen Schriften und Drucke seit 1880 häufiger außerhalb
des offiziellen Verkaufs über den Versandhandel.15 Damit war das viktorianische
England ebenso wenig wie das wilhelminische Kaiserreich eine Zeit, in der über
Sexualität vornehmlich geschwiegen wurde.16 Die Sexualität zwischen Mann
und Frau war vielmehr ein umkämpftes Terrain mit vielfältigen Sprechanreizen.
Die zunehmenden Zeitungsartikel über den außerehelichen Verkehr führten
bereits um 1860 zu einer Debatte über den Ausschluss der Öffentlichkeit bei
Scheidungsprozessen. Anlass hierzu gaben 1857/58 insbesondere ein Mordprozess, bei dem eine Frau ihren Liebhaber umgebracht hatte, sowie ein Scheidungsprozess, bei dem ein Mann im Tagebuch seiner Frau leidenschaftliche
Beschreibungen eines Ehebruches gefunden hatte. Im Zuge der Verhandlung
druckten sogar die Qualitätszeitungen die Zeugenaussagen ausführlich ab.17
Diese Prozessberichte zeigten, dass auch Frauen durchaus ein freizügiges Sexualleben haben konnten. Um die allgemeine Gültigkeit der verletzten moralischen
Normen und die Zuschreibungen über monogame weibliche Sexualität wieder
herzustellen, pathologisierten die Gerichte deshalb in beiden Fällen die sexuellen Normbrüche der Frauen. Dennoch verbreitete sich die Angst, die Medienberichte könnten eine Vorbildfunktion für Frauen haben. Im Parlament beschworen einige Redner die Gefahr, man könne wegen dieser Berichte Zeitungen
nicht mehr offen liegen lassen, da sie Frauen und Kindern in die Hände fallen
könnten.18 Ebenso verunsicherten sie Ehemänner über die Treue ihrer Frauen,
zumal diese selbst in den Prozessen kaum nachweisbar erschien. Die Artikel
führten so zu einer Verängstigung der middle class, die durch die Berichte ihr
eigenes Selbstbild hinterfragten. Selbst Queen Victoria forderte mit ähnlicher
Begründung einen Ausschluss der Öffentlichkeit bei Scheidungsprozessen und
sah in den Artikeln eine Bedrohung der englischen Moral und Identität: „None
of the worst French novels from which careful parents would try to protect
their children can be as bad as what is daily brought and laid upon the breakfasttable of every educated family in England and its effect must be most pernicious
to the public morals of the country.“19 Während das Parlament den Vertrieb von
15
16
17
18
19
Liza Z. Sigel, Governing Pleasures. Pornography and Social Change in England 1815–1914,
New Brunswick u. a. 2001.
Vgl. zur Konstruktion dieses Bildes und zu den Praktiken der Zeit: Michael Mason, The
Making of Victorian Sexuality, Oxford und New York 1994; ders., The Making of Victorian
Sexual Attitudes, Oxford und New York 1995; für Deutschland vgl. als Forschungsüberblick:
Edward R. Dickinson und Richard F. Wetzell, The Historiography of Sexuality in Modern Germany, in: German History 23 (2005), S. 291–305.
Vgl. Times 15. 6. u. 16. 6. 1858, S. 9 u. 11. Hinweise auf diesen Prozess in: Barbara Leckie, Culture
and Adultery. The Novel, the Newspaper and the Law, 1857–1914, Philadelphia 1999, S. 55 f.
Savage, Intended Only, S. 513 f.
Queen Victoria an Lord Campbell 26. 12. 1859, in: Arthur Christopher Benson und
Viscount Esher (Hrsg.), Letters of Queen Victoria. A Selection from her Majesty’s Correspondence Between the Years 1837 and 1861, Bd. 3, New York 1907, S. 378.
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164
III. Ehebruch als Politikum
„obszöner“ Literatur 1857 tatsächlich einschränkte, blieb es jedoch bei der
Öffentlichkeit der Prozesse, da die Errungenschaft öffentlicher Verfahren und
freier Presseberichte höher gewertet wurde als die befürchtete moralische Gefahr.
Die Presseberichte über Ehebrecher thematisierten im langen 19. Jahrhundert
alle sozialen Schichten. Besonders große Aufmerksamkeit erreichten selbstverständlich Fälle, die Königshäuser betrafen – wie etwa die Queen Caroline Affair
1820 oder der Mordaunt Trial 1870, die hier im Kontext der Monarchieskandale
untersucht werden.20 Als spektakulär galten zudem Scheidungsberichte über
hohe Adlige, die im letzten Drittel des Jahrhunderts von ihrer Anzahl und ihrer
Ausführlichkeit zunahmen und Mitte der 1880er Jahre in Großbritannien einen
gewissen Höhepunkt erreichten. Derartige Zeitungsartikel suggerierten, dass
der Adel nicht einmal die grundlegenden Regeln der Ehe einhielt. So berichteten
die Zeitungen 1884 etwa, wie sich der Earl of Euston von seiner Frau scheiden
ließ, da diese bei seiner Hochzeit schon verheiratet war, was sie vor Gericht
damit rechtfertigte, dass ihr erster Mann ebenfalls bereits bei ihrer Hochzeit
verheiratet gewesen war und sie deshalb die vorherige Ehe als nichtig ansah und
sich als Witwe ausgab. Details über Ehekrach, Gewalt und Trennungen ergänzten dies.21 Kurze Zeit später erfuhren die Leser ausführlich, dass Lord Colin
Campbell, Sohn des Duke of Argyll (dem Schwiegersohn der Queen), seiner
Frau 1886 vorwarf, mit vier Männern fremdgegangen zu sein, woraufhin seine
Frau ihm Affären mit Dienstmädchen vorhielt.22 Butler und Dienstmädchen erwiesen sich in diesen Prozessen als die entscheidenden Zeugen, die den öffentlichen Sturz von Adligen herbeiführen konnten. Die Eheprozesse gaben damit
dem Dienstpersonal eine Machtposition und beförderten sie zu Schlüsselfiguren
der medialen Aufmerksamkeit.
Auch Qualitätsblätter wie die Times vermerkten in ihren Kommentaren zu
derartigen Scheidungsprozessen kritisch, dass sie die Autorität des Adels insgesamt nachhaltig untergraben würden.23 W. T. Stead, der puritanische Herausgeber der Pall Mall Gazette, drohte dem Adel, wenn er nicht seine Vorbildfunktion wahrnehme, würde er demnächst eine wirkungsmächtige Kampagne
starten, mit einer „chronique scandaleuse of the aristocracy, compiled from the
records of the divorce courts“.24 Da die Lords im Oberhaus saßen, schrieb Stead
ihrem Privatleben eine politische Bedeutung zu, die solch eine Veröffentlichung
rechtfertige: „Private character, it may be said, has nothing to do with policy,
but the Upper Chamber is not only an institution in the realm which might be
endangered if every householder were suddenly to be enlightened as to certain
20
21
22
23
24
Vgl. hierzu ausführlich Kapitel VI. 1.
Vgl. Times 16. 11. 1886, S. 4 bis 21. 12. 1886 nahezu täglich; vgl. auch: G.H. Fleming, Victorian
Sex Goddess: Lady Colin Campbell, London 1989.
Vgl. die täglichen Berichte in den Zeitungen vom 26. 11. bis 16. 12. 1886. Hinweise zum Prozess in: Leckie, Culture and Adultery, S. 85–91.
Kommentar in: Times 5. 4. 1884, S. 11.
Pall Mall Gazette 3. 7. 1884, S. 2.
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1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
165
details over which at present a veil is prudently drawn.“25 Das Ansehen des
Adels senkten nicht nur die veröffentlichten Details über sein Sexualleben, sondern bereits die damit einhergehenden Enthüllungen über sein dekadentes Alltagsleben. Die Scheidungsberichte schufen so eine spöttische Abgrenzung vom
Adel und detaillierte Normen darüber, was innerhalb der bürgerlichen Ehe als
legitim und als idealer Umgang anzusehen sei. Ob die Prozessberichte dadurch
die bürgerliche Ehe stabilisierten, ist jedoch fraglich.26
In Deutschland druckte die Presse, soweit die wenigen bisherigen Studien
und eigene Stichproben Rückschlüsse zulassen, zunächst deutlich seltener
Meldungen über Scheidungen oder Ehebrüche. Dennoch kam es auch in
Deutschland bereits im 18. Jahrhundert zu einer zunehmenden öffentlichen
Thematisierung von Sexualität, die sich vornehmlich über eine entsprechende
Ratgeberliteratur artikulierte. So lässt sich bereits für das späte 18. Jahrhundert
eine vierstellige Zahl von derartigen Buchtiteln ausmachen.27 Studien zu einzelnen lokalen Zeitungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts deuten an, dass es
auch in Deutschland zu verschiedenen Medienberichten über Seitensprünge
oder sexuelle Praktiken prominenter Stadtbewohner kam.28 So berichtete das
Hamburger Klatschblatt Der Neuigkeitsträger (1821–1830) regelmäßig über
Ehebrüche in der Stadt, was die Behörden, insbesondere wenn sie das Bürgertum betrafen, verfolgten und unterdrückten.29
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg auch in Deutschland die öffentliche Thematisierung der Sexualität an. Einerseits wuchs seit den 1870er Jahren
die veröffentlichte Literatur über Sexualdelikte und zur Sexualität – sei es in
Sachbüchern, sei es in Romanen, die Ehebrüche und Scheidungen beschrieben.30
Andererseits entstanden Zeitschriften über Verbrechen und sexuelle Normbrüche. Diese bislang wenig erforschten Blätter übernahmen teilweise direkt
25
26
27
28
29
30
Ebd. Soweit ersichtlich, blieb eine Kampagne in diesem Fall jedoch aus.
Dieses Argument vertritt: Anne Humpherys, Coming Apart. The British Newspaper Press
and the Divorce Court, in: Laurel Brake et al. (Hrsg.), Nineteenth-Century Media and the
Construction of Identities, Basingstoke u. a. 2000, S. 220–231.
Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany 1700–1815, Ithaca und London
1996, S. 229. Hull berücksichtigt in ihrer grundlegenden Studie allerdings kaum Zeitungen.
Vgl. etwa für den Wandsbeker Mercur die Befunde von: Holger Böning, Das Private in
der Aufklärung: Unterhaltung, Heirat, Tod in der Hamburger Presse, in den Intelligenzblättern und in der volksaufklärerischen Literatur und Publizistik des 18. Jahrhunderts, in: Kurt
Imhof und Peter Schulz, (Hrsg.), Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung
der Öffentlichkeit, Zürich 1998, S. 45–54, S. 49.
Karl Christian Führer, Skandal, Moralität und die „Ruhe der Familie“. Sensationspresse
und Zensur im vormärzlichen Hamburg (1815–1846), in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 81 (1995), S. 75–102.
Erinnert sei an international erfolgreiche Romane wie Effi Briest, Madame Bovary oder Anna
Karenina; vgl. Maria R. Rippon, Judgment and Justification in the Nineteenth-Century
Novel of Adultery, Westcut und London 2002. Zu Sachtexten: Peter Becker, Verderbnis und
Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis,
Göttingen 2002, S. 19–21.
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166
III. Ehebruch als Politikum
ihre Titel, Konzepte und Berichte aus Großbritannien.31 Im Kulturkampf zeigte
sich zudem, wie der Vorwurf der sexuellen Doppelmoral auch in weltanschaulichen Auseinandersetzungen eingesetzt wurde. Zeitungsberichte über angeblich lüsterne Kleriker, die junge Frauen missbrauchten oder im Kloster gefangen
hielten, führten mitunter zu Empörungen, die sich wie bei der Affäre Ubryk
1869 in Klosterstürmen entluden.32
Die Zahl der Zeitschriftenartikel zum Thema Sexualität scheint sich in
Deutschland zwischen 1896 und 1907 verdoppelt zu haben.33 Berichte über
Scheidungsprozesse lassen sich auch in den bürgerlichen Qualitätszeitungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts häufiger ausmachen. Im Vergleich zur britischen
Presse waren derartige Artikel jedoch seltener, weniger detailreich und verzichteten oft auf die volle Namensnennung der Beteiligten. So sprachen etwa die
Artikel beim Prozess des Dresdner Bankdirektors Eugen Gutman, dessen Frau
von ihrem ehemaligen Geliebten erpresst worden war, nur von „einem“ Berliner
Kommerzienrat.34 Das Skandalpotential wurde folglich auch durch eine Selbstbeschränkung der Presse gesenkt. Die Zunahme expliziter Berichte über das
Liebesleben von Prominenten war aber um 1900 unverkennbar. So berichtete
die auflagenstarke Berliner Illustrirte Zeitung 1906 über die Affären des Industriellensohns Heinrich Thyssen oder von Prinz Joachim Albrecht von Preußen,
die diese mit Schauspielerinnen pflegten.35 Gerade diese Illustrierte war seit der
Jahrhundertwende der wichtigste Vorläufer des modernen Boulevardjournalismus.
Ein weiteres Feld, das die Sexualität zwischen Mann und Frau im 19. Jahrhundert in die mediale Öffentlichkeit überführte, Normen setzte und so
Skandale vorbereitete, waren die Debatten über Prostitution. In Großbritannien entfalteten sie sich seit den 1860er Jahren verstärkt und damit zeitgleich
zur Zunahme der Scheidungsberichte. Wie bei Scheidungen förderten staatliche Kontrollregelungen die öffentlichen Diskussionen – in diesem Fall vor
allem die Contagious Diseases Acts, die die Registrierung und ärztliche Untersuchung von Prostituierten anordneten. Da diese Gesetze Prostitution quasi
legalisierten, mobilisierten sie christliche, insbesondere nonkonformistische
31
32
33
34
35
Sehr eindrücklich zeigt dies: Hartwig Gebhardt: „Halb kriminalistisch, halb erotisch“:
Presse für die „niederen Instinkte“. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte, in: Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit.
Populäre Kultur um 1900, Köln u. a. 2001, S. 184–217.
Vgl. Manuel Borutta, Das Andere der Moderne. Geschlecht, Sexualität und Krankheit in
antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens (1850–1900), in: Werner Rammert et
al. (Hrsg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische
und historische Studien, Leipzig 2001, S. 59–75.
So allerdings ohne Belege: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 105.
So zumindest in: BZ am Mittag Nr. 41 25. 1. 1902; Berliner Morgenpost Nr. 21 25. 1. 1902.
Faksimile in: Christian Ferber (Hrsg.), Berliner Illustrirte Zeitung. Zeitbild, Chronik, Morität für Jedermann 1892–1945, Berlin 1982, S. 108.
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1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
167
Gruppen.36 Zugleich entstanden im Kampf gegen das Gesetz Frauenverbände
wie die Ladies’ National Association for the Repeal of the Contagious Diseases
Act, die in der Kontrolle der Frauen eine Einschränkung der weiblichen Rechte
sahen. Die Versammlungen, Artikel und Parlamentsreden, die der Protest anstieß, trugen das Thema Prostitution in die Öffentlichkeit und führten schließlich 1883 sogar zur Aufhebung der Gesetze.37 Einzelfälle, bei denen bürgerliche
Frauen versehentlich für Prostituierte gehalten und eine Zwangsuntersuchung
auf Geschlechtskrankheiten ertragen mussten, sorgten dabei für Skandale, mit
denen die Frauenbewegung öffentlich mobilisierte.38
Maßgeblich für die mediale Etablierung des Themas Prostitution in Großbritannien war zudem eine von W. T. Stead 1885 aufgebrachte Artikelreihe in
der Pall Mall Gazette. Stead berichtete hierin in Form eines Ich-Erzählers, der
die Londoner Armenviertel durchstreifte, wie leicht man selbst minderjährige
Mädchen von ihren Eltern abkaufen könne. Dabei knüpfte Stead an das bereits
etablierte Narrativ des White Slave Trade an, wonach weiße britische Mädchen
gegen ihren Willen zur Prostitution verschleppt würden.39 Der Reportagestil
mit den wörtlich abgedruckten Schilderungen von Prostituierten legitimierte
ähnlich wie beim Abdruck wörtlicher Prozessaussagen detaillierte Aussagen zur
Sexualität, die die bisherigen Grenzen des Druckbaren überschritten. Ein von
Stead geschildertes Experiment sollte schließlich belegen, dass man für fünf
Pfund ein 13jähriges Mädchen von seiner Mutter abkaufen konnte, um es in ein
Bordell zu bringen. Da seine Artikel mit einer bisher in den Massenmedien unbekannten Offenheit sexuelle Normverstöße dokumentierten, vervielfachte sich
die Auflage dieser Zeitungsausgabe dank reicher Gönner auf angeblich eine
Million Exemplare.40
Steads Artikelserie war eine emotionale Anklage, die sich besonders an den
Adel und reiche Bürger richtete. Zugleich hatte sie eine gezielte politische Stoßrichtung, da sie das gerade verhandelte Gesetz über die Anhebung der Mündig-
36
37
38
39
40
Vgl. hierzu: Judith R. Walkowitz, Prostitution and Victorian Society. Women, Class, and
the State, New York 1980, S. 67–149; diese Regelungen und Debatten bezogen sich zugleich
auch auf das Empire; vgl. Philippa Levine, Prostitution, Race and Politics. Policing Veneral
Disease in the British Empire, London 2003.
Immerhin 2,6 Millionen Unterschriften an das House of Commons wurden dabei gesammelt
und über 17 000 Petitionen eingereicht; Weeks, Sex, Politics and Society, S. 20.
Vgl. etwa zum Fall Percy: Glen Petrie, A Singular Iniquity – The Campaigns of Josephine
Butler, London 1971, S. 16 f.; vgl. zu den Verhandlungen im Unterhaus dazu Times 24. 6. 1875,
S. 6.
Prägend waren hier die Publikationen von: Alfred S. Dyer, The European Slave Trade in
English Girls. A Narrative of Facts, London 1885 (Erstauflage 1880). Vgl. auch Zeitungsmeldungen wie: Times 22. 6. 1881, S. 12, oder Times 19. 8. 1881, S. 10; anregend hierzu auch:
Amanda Anderson, Tainted Souls and Painted Faces. The Rhetoric of Fallenness in Victorian
Culture, Ithaca/New York 1993.
Seine Reihe begann mit dem Artikel: „The Maiden Tribute to Modern Babylon. The Report of
Our Secret Commission“ Pall Mall Gazette 6. 7. 1885, S. 1–6. Von den zahlreichen Darstellungen über den Fall grundlegend: Schults, Crusader, S. 128–168.
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III. Ehebruch als Politikum
keit zum Sexualverkehr beeinflussen sollte. Um sein Anliegen zu verbreiten,
ließ Stead zahllose Zeitungen kostenlos verteilen, unter anderem an alle Pastoren. Zu einer darauf folgenden Massendemonstration, bei der Stead sprach, kamen rund 150 000 Menschen in den Hyde Park, und die Heilsarmee, mit der
Stead eng kooperierte, trug mit einem großen Marsch 400 000 Unterschriften
für die Gesetzesänderung ins Parlament. Zudem schickte der Journalist den Artikel an führende Politiker mit der Bitte, sich für die Gesetzesreform einzusetzen.41 Die Artikel brachten Stead den Vorwurf des Sensationsjournalismus und
eine Haftstrafe ein, weil er beim „Abkauf“ des Mädchens nicht den Vater gefragt hatte und fehlerhaft berichtete. Tatsächlich erreichte der Journalist jedoch
sein Ziel, eine breite moralische Bewegung öffentlich zu mobilisieren und das
„Age of Consent“ zu heben. Auch die strafrechtliche Verfolgung von Kindesmissbrauch stieg im Zuge seiner Kampagne an.42 Vor allem förderte Steads
Kampagne eine Thematisierung heterosexueller Normbrüche in der Presse. Wie
bei den Homosexualitätsskandalen prägte er dabei das Bild des reichen männlichen Verführers, der in diesem Fall hilflose junge Frauen moralisch korrumpiere. Sein Artikel führte vor, welche breite Emotionalisierung, Auflagensteigerung und politische Wirkung derartige Enthüllungen auslösen konnten. Nicht
zufällig bildeten diese Berichte 1885 den Beginn einer Reihe von Skandalen um
sexuelle Normbrüche.
Wie Stead in seiner Pall Mall Gazette zufrieden feststellte, hatten auch deutsche Zeitungen seine Artikel lobend erwähnt oder abgedruckt und dabei auf
ähnliche Probleme hingewiesen.43 In Deutschland traten jedoch erst ein Jahrzehnt später verstärkt ähnliche Diskurse über die Prostitution auf, die allerdings
weiterhin eine geringere Breitenwirkung hatten. Obwohl die deutschen Behörden Prostituierte ebenfalls systematisch erfassten und untersuchten, entwickelte
sich auch keine vergleichbar engagierte Frauenbewegung, die das Thema in die
Öffentlichkeit gebracht hätte.44 Die bürgerliche Frauenbewegung beschäftigte
sich in Deutschland insgesamt weniger mit Prostitution, vielleicht abgesehen
vom Kulturbund von Gertrud Guillaume-Schack, die seit Anfang der 1880er
mit Vorträgen und einer Petition an den Reichstag gegen das Vorgehen der Sittenpolizei und Zwangsuntersuchungen kämpfte. Ein gewisses Echo fanden die
englischen Kampagnen bei den Sozialdemokraten. Vor allem Bebels Erfolgsbuch „Die Frau und der Sozialismus“ verwies in seinen ausführlichen Kapiteln
über die Prostitution vergleichend auf England und auf Steads Enthüllungen in
41
42
43
44
Vgl. etwa: Stead an Salisbury 6. 7. 1885, 7. 7. und 12. 7. 1885, in: NL Salisbury, Hatfield House.
Vgl. anhand von Gerichtsfällen in Middlesex und Yorkshire: Louise A. Jackson, Child Sexual
Abuse in Victorian England, London und New York 2000.
Pall Mall Gazette 5. 8. 1885, S. 12. Er verweist hier auf die Kölnische Volkszeitung und das
Kleine Journal.
Vgl. hierzu: Lutz Sauerteig, Frauenemanzipation und Sittlichkeit. Die Rezeption des englischen Abolitionismus in Deutschland, in: Muhs et al. (Hrsg.), Aneignung, S. 159–197, S. 177 f.
Zur Prostitution vgl. Regina Schulte, Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in
der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1979.
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der Pall Mall Gazette. Den Frauenhandel und die staatlich tolerierte Prostitution brandmarkte er als Kennzeichen bürgerlicher Doppelmoral. So wie Stead
den „white slave trade“ mit englischen Frauen anprangerte, schrieb Bebel den
Deutschen zu, Weltmeister im Frauenhandel zu sein.45 Obgleich Bebel im Unterschied zu Stead Prostitution als de facto ebenso notwendig wie Militär oder
Polizei bezeichnete, war sein Buch der unverkennbare Versuch, an anschaulichen Beispielen Bordellbesuche von Studenten, Schützengesellschaften oder
bei Treffen des Bundes der Landwirte zu skandalisieren.
Erst in den 1890er Jahren kam es in Deutschland zu einer verstärkten Thematisierung der Prostitution, die das Thema Sexualität für die Medien öffnete. Anlass dafür bot der sogenannte Fall Heinze, der fast ein ganzes Jahrzehnt die Medien, christlich-moralische Vereine und den Reichstag beschäftigte. Dem Ehepaar Heinze wurde 1891 bei einem Prozess vorgeworfen, beim Raub von
Kirchensilber einen Nachtwächter erschlagen zu haben. Da das Ehepaar von
Prostitution und Zuhälterei lebte, kamen beim Prozess zahlreiche Details über
dieses Themenfeld in die Medien.46 Die Ursache für diese intensive Auseinandersetzung mit dem Fall Heinze lagen auch hier in der Veränderung des Mediensystems und der Öffentlichkeit, da Prostitution natürlich keine Neuerfindung war, nur vorher stärker in den Medien tabuisiert wurde. Ähnlich wie im
London der 1880er Jahre verstärkten die Artikel über den Heinze-Prozess die
Wahrnehmung, es gäbe besonders in der Metropole Berlin einen moralischen
Sittenverfall, den man mit gesetzlichen Maßnahmen bekämpfen müsse. Die politischen Reaktionen richteten sich in Deutschland vor allem gegen die Zeitungsberichte mit den Prozessaussagen, die als die eigentliche moralische Gefahr erschienen. Erste Gesetzentwürfe für den Ausschluss der Öffentlichkeit begründete die Reichsleitung damit, „daß Gerichtsverhandlungen sittlich anstößigen
Inhalts in Folge unterlassenden Ausschlusses der Öffentlichkeit mit ihren widerwärtigen Einzelheiten in der Tagespresse wiedergegeben worden sind.“47 In
der weiteren parlamentarischen Beratung der „Lex Heinze“, wie sie bald hieß,
drängten Konservative und Zentrumspartei darauf, auch Theater, Literatur und
Kunst stärker nach moralischen Gesichtspunkten zu zensieren. Dagegen
wehrten sich Liberale und Sozialisten, so dass am Ende eine Kompromissformel
herauskam, die zwar „unzüchtige“ Schriften unter Strafe stellte, zumindest aber
dem Theater mehr Freiheit als geplant gewährte.48 Der Fall Heinze zeigte somit,
wie scheinbar unpolitische Aussagen über außereheliche Sexualität zu einem
Politikum werden konnten, das grundsätzlich die kulturelle Freiheit verhandelte.
45
46
47
48
August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1892 (Erstauflage 1878), S. 141–161,
bes. S. 159.
Hett, Death, S. 64–78; Müller, Auf der Suche, S. 77–91.
Begründung für Gesetzesentwurf 22. 11. 1892, in: BAB/L, R 43 749:138.
Zur Debatte: Richard Evans, Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe
1800–1914, Reinbek 1997, S. 290; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 283 f.
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III. Ehebruch als Politikum
Während es in Großbritannien also vor allem eine Frage der moralischen Legitimität war, was die Presse über sexuelle Normbrüche schreiben durfte, war
dies in Deutschland damit weiterhin stärker eine rechtliche Frage. Durch den
Fall Heinze beschäftigte sich eine breite Öffentlichkeit aktiv mit Fragen der
normwidrigen Sexualität und den Grenzen der Pressefreiheit. Im Reichstag kam
es zu intensiven Debatten, in der Versammlungsöffentlichkeit stritten Sittlichkeitsvereine mit dem liberalen „Goethe-Bund zum Schutz freier Kunst und
Wissenschaft“, und auch in der Frauenbewegung gewann das Thema Prostitution an Bedeutung.49 Bei einem in Frankfurt abgehaltenem internationalen Kongress gegen Frauenhandel („white slave traffic“) wurden dabei besonders die
Juden als Verschlepper und Verschleppte ausgemacht.50
Die Empörung über Zwangsuntersuchungen an Prostituierten verstärkte sich,
als die bürgerliche Frauenbewegung und die Zeitungen wie in Großbritannien
Einzelfälle skandalisierten, bei denen die deutsche Sittenpolizei bürgerliche
Frauen als vermeintliche Prostituierte abgeführt, auf Geschlechtskrankheiten
untersucht und verhaftet hatte. Als Initialzündung und Kristallisationspunkt
der deutschen Frauenbewegung diente dabei der Skandal um Marie Koeppen,
die 1897 auf der Straße verhaftet und zwangsuntersucht wurde, als sie vor dem
Büro ihres Verlobten wartete.51 Ebenso führte der Tod einer Bremer Prostituierten 1902, die bei einer Zwangseinlieferung an Syphilis verstarb, zu einer empörten Thematisierung des Tabubereichs in den Medien.52 Darüber hinaus erschienen zahlreiche Bücher zur Prostitution, die von angeblichen Prostituierten
geschrieben wurden oder das Prostituiertenleben in Berlin detailreich beschrieben.53 Gerade beim Buchmarkt zeigte sich, dass wie bei der Homosexualität in
Deutschland prinzipiell deutlich offener über Ehebruch geschrieben werden
konnte als in Großbritannien. Allerdings galt dies im geringeren Maße für die
Zeitungen, die zumindest bei gewöhnlichen Scheidungen von vergleichbaren
Berichten wie in England absahen.
Ein deutsches Pendant zum britischen Maiden Tribute-Fall bildete der Skandal um den Bankier August Sternberg, dem 1900 der sexuelle Verkehr mit zum
Teil minderjährigen Mädchen vorgeworfen wurde. Ähnlich wie die englischen
Medien der frühen 1880er Jahre hatten die deutschen Zeitungen bislang vor
allem über Kinderprostitution in Belgien geschrieben, wo Männer „aus den
höchsten Kreisen“ in Bordellen mit zehn- bis zwölfjährigen verkehren wür49
50
51
52
53
Vgl. bes. die Debatte: RT, Bd. 159, 16. Sitz. 13. 1. 1898; Sauerteig, Frauenemanzipation,
S. 177–180.
Times 9. 10. 1902, S. 3.
Vgl. Theresa Wobbe, Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1989, S. 47 f.
Vgl. etwa: Robert Schmölder, Syphilis und Prostitution, in: Zukunft 15. 11. 1902; zu dem
Fall: E. Meyer-Renschhausen, The Bremen Morality Scandal, in: Renate Bridenthal et al.
(Hrsg.), When Biology Becomes Destiny, New York 1984, S. 87–108.
Wie bei der Homosexualität waren die „Großstadtdokumente“ hierfür eine wichtige Publikationsreihe. Vgl. zu dieser Literatur bereits: Evans, Szenen, S. 240–244.
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1. Scheidungen, Prostitution und Öffentlichkeit
171
den.54 Derartige Abgrenzungen von anderen Ländern mochten zwar das eigene
moralische Überlegenheitsgefühl stärken, machten aber entsprechende Verstöße
prinzipiell auch für das eigene Land denkbar. Die Prozessberichte über Sternbergs Vergehen zeigte, dass mitten in Berlin ein reicher angesehener Bürger mit
zahlreichen Mädchen „Unzucht“ getrieben habe, wie die Zeitungen die sehr expliziten Gerichtsaussagen umschrieben.55
Wie in Großbritannien stieß eine Zeitung diesen Skandal an, indem die Berliner Morgenpost über das plötzliche Verschwinden eines der missbrauchten
Mädchen berichtete.56 Die Aufdeckung begann jedoch im Unterschied zu Steads
Kampagne nicht mit einer ausführlich recherchierten Enthüllung, sondern einer
vagen Andeutung, die die Polizei zu Nachforschungen anregte. Im Laufe der
Prozessberichte erfuhren die Leser, dass Sternberg sich über eine Kupplerin
Mädchen von 12 bis 14 Jahren zuführen ließ und sich als Arzt oder als Maler
ausgab, der Modelle suchte. Wie bei Steads Maiden-Tribute-Artikeln sorgte besonders die geringe Entlohnung (zehn Pfennige), mit denen Sternberg die
Mädchen bezahlte, für Empörung. Ebenso korrespondierte der Skandal mit
dem White Slave-Narrativ des fremden Verführers, da zahlreiche Zeugen, Journalisten und Polizisten Sternberg als Juden bezeichneten, obgleich er Protestant
war.57 Auch in Deutschland schrieb die Presse den jungen Mädchen eine kindliche Unschuld zu, sie galten aber zugleich erneut als unglaubwürdige Zeugen,
die angesehene Bürger gefährden konnten.58
An die britischen Skandale erinnerte zudem, dass Sternberg durch hohe Geldzahlungen zahlreiche Beteiligte bestach oder ihnen die Flucht in die USA finanzierte.59 Hieraus entwickelte sich eine Diskussion über die korrumpierenden
Folgen des Reichtums, worüber sich rechte Zeitungen wie Die Post und linke
wie der Vorwärts bemerkenswert einhellig empörten. Diese Korruptionsdebatte
überdeckte dabei den sexuellen Missbrauch und die Prostitution.60 Eine ver54
55
56
57
58
59
60
Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 139, 17. 3. 1894.
Prozessunterlagen in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914. Prozessprotokolle gedruckt in: Hugo
Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 2, S. 221–305. Nahezu tägliche Zeitungsmeldungen
hierzu erfolgten besonders im November/Dezember 1900.
Berliner Morgenpost 4. 11. 1899.
Vgl. Zeugenaussagen wie: „Ob er es gewesen ist oder nicht, ist gleichgültig, der Jude muss auf
alle Fälle ins Zuchthaus.“; ähnlich auch der Kommissar: „Er werde Tag und Nacht arbeiten,
der Jude muß ins Zuchthaus“ Protokoll in: Friedlaender, Kriminalprozesse, Bd. 2, S. 255 u.
257.
Brigitte Kerchner, „Unbescholtene Bürger“ und „gefährliche Mädchen“ um die Jahrhundertwende. Was der Fall Sternberg für die aktuelle Debatte zum sexuellen Mißbrauch an Kindern bedeutet, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 1–32. Bereits zeitgenössisch: David
Halpert, Der Prozeß Sternberg. Kriminalistische Randglossen, Berlin 1900; Ephraim Meyerstein, Sternberg, Corruption und Kriminalpolizei, Berlin 1900.
So gab er der Kupplerin Fischer 1500 Mark, damit sie Ende 1899 per Schiff nach New York
flüchten konnte; Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914.
Vgl. etwa Die Post 16. 11. 1900: „Der Terrorismus, den die Millionen eines Sternberg in einem
civilisierten Staate ausüben möchten, muß gebrochen werden!“ Ähnlich auch: Neue Preussische Zeitung. 5. 11. 1900.
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172
III. Ehebruch als Politikum
gleichbare öffentliche Debatte über Armut und Prostitution wie in Großbritannien entstand ebenfalls nicht. Zudem entwickelte sich aus dem deutschen Fall
keine medieninitiierte öffentliche Kampagne zur Anhebung der Minderjährigkeit beim Sexualverkehr, wodurch der bei Sternberg kritisierte Verkehr mit 14jährigen Mädchen rechtmäßig blieb. Die Frage der Schuld maß das Gericht vielmehr daran, ob die Mädchen noch Jungfrauen waren.61 Allerdings trugen die
ausführlichen Medienberichte immerhin zur Erhöhung des individuellen Strafmaßes bei: Während Sternberg bei ähnlichen Anklagen 1882 und 1893 noch
Freisprüche erreichte, bekam er nun über zwei Jahre Haft. Er erhielt zwar die
im Kaiserreich üblichen Haftprivilegien für reiche Gefangene, seine vorzeitige
Begnadigung blieb dagegen angesichts der Medienberichte aus.62
Derartige Skandale, die hier nur knapp angedeutet wurden, prägten in beiden
Ländern die Sagbarkeitsgrenzen und machten Tabubereiche medial verhandelbar. Die Berichte waren dabei durchaus politisch und transferierten das Thema
Ehebruch und Prostitution in den politischen Raum. Bemerkenswerterweise
kam es jedoch in keinem der beiden Länder zu Kampagnen, die führenden politischen Repräsentanten den Verkehr mit Prostituierten vorwarfen. Da selbst
prominente Männer wie Kaiser Wilhelm II. mit Prostituierten verkehrten, kann
man dies sicherlich nicht mit einem Mangel an entsprechenden Begegnungen
oder einer perfekten Geheimhaltung erklären.63 Entscheidender war vermutlich, dass die beteiligten Männer, die Behörden und das politische und journalistische Umfeld dies bewusst als einen Akt bewerteten, der mit Diskretion zu
behandeln war. Mitte der 1880er Jahre drohte dies zu kippen. So kam es in England kurz nach Steads Kampagne zu Anfragen im Unterhaus über die milde
Verurteilung der Edelprostituierten Mrs. Jeffries, die laut Pressemeldungen für
ihre Diskretion nur eine Geldstrafe erhielt.64 Trotz der ausweichenden Antwort
der Regierung entwickelte sich hieraus kein Skandal. Da Freier nicht strafrechtlich verfolgt wurden und Prostitution unter Wahrung der Auflagen prinzipiell
toleriert wurde, fehlte im Unterschied zur Homosexualität die juristische
Grundlage für entsprechende Untersuchungen. Aus diesem Grund überführte
vornehmlich die Prostitution minderjähriger Mädchen in diesem Bereich die
außereheliche Sexualität in die Medienöffentlichkeit.
Nicht nur die Auseinandersetzung mit Ehebrüchen und Prostitution spielte
in der britischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts eine deutlich größere Rolle
als in Deutschland. Gleiches galt, eng damit verbunden, auch für politische
Skandale, die sich um Ehebrüche drehten. Wie diese im ausgehenden 19. Jahr61
62
63
64
Vgl. Formulierungen wie: „Mit Rücksicht darauf, daß dieses Mädchen bereits früher Unzucht
getrieben hatte, und daß deshalb der ihr durch die That des Angeklagten zugefügte sittliche
Schaden minder groß ist, ist der Gerichtshof nicht erheblich über den gesetzlichen Mindestbetrag von 1 Jahr Zuchthaus hinausgegangen [...].“ Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA,
HA I Rep 84a Nr. 57914.
Vgl. Entlassungsgesuch 14. 12. 1902, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 57914.
Vgl. zur Erpressung des Kaisers: Röhl, Wilhelm II., Bd. 1, S. 464–467 und Bd. 2, S. 236 f.
Anfrage Fowler mit Blick auf Berichte des Sentinel; vgl. Times 9. 7., 10. 7. und 20. 7. 1885, S. 6.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
173
hundert aufkamen und welche gesellschaftlichen Normen sie verhandelten, untersuchen die folgenden Kapitel vor allem anhand der Skandale um den liberalen
Spitzenpolitiker Charles Dilke (1886) und den Vorsitzenden der Irischen Partei,
Charles Stewart Parnell (1890). Ausgewählt wurden diese Fälle nicht nur, weil
sie die wichtigsten Ehebruchsskandale dieser Jahrzehnte waren. Sie zeigen vielmehr besonders deutlich, wie ein nicht strafbarer Normbruch in der Privatsphäre schrittweise Teil politischer Auseinandersetzungen wurde, bei denen Politiker und Medien weltanschauliche Ziele verfolgten. Welche Unterschiede zur
frühviktorianischen Zeit bestanden, zeigt vorweg eine kurze Analyse der Vorwürfe, die gegen Premierminister Melbourne in den 1830er Jahren erhoben
wurden. In einem zweiten Schritt wird geprüft, inwieweit in Deutschland derartige Kampagnen und Skandale aufkamen. Hier stehen zunächst die öffentlichen
Vorwürfe im Mittelpunkt, die Außenstaatssekretär Kiderlen-Wächter und Otto
Hammann, dem Leiter des Pressebüros des Auswärtigen Amtes, gemacht
wurden, um die Grenzen derartiger Skandale in Deutschland auszumachen.
Zugleich wird am Beispiel eines Eheskandals um den einflussreichen antisemitischen Abgeordneten Wilhelm Schack gezeigt, dass solche Skandale durchaus
auch in Deutschland Teil der politischen Kommunikation werden konnten.
2. Die Verengung der moralischen Normen:
Von Melbourne bis Dilke
Die spektakulären spätviktorianischen Ehebruchsskandale, die zum Sturz führender Politiker führten, hatten natürlich einzelne Vorläufer. Viele Zeitgenossen
der 1880er Jahre erinnerten sich während des Skandals um Charles Dilke vor
allem an das Verhältnis von Premierminister Lord Melbourne und Caroline
Norton. Der Fall von 1836 wirkte im Nachhinein wie ein Vorspiel, bei dem die
Macht des Skandals noch begrenzt war.65 Er zeigte aber bereits, dass nicht nur
der Ehebruch von Adligen oder Privatmännern, sondern auch der von Politikern medial thematisierbar war. Ebenso verhandelte er die Umgangsformen, die
generell zwischen einem Politiker und einer Frau als zulässig galten. Bereits die
Ausgangskonstellation verriet die politische Aufladung der Beschuldigungen:
Ein ehemaliger Tory-Abgeordneter namens Richard Norton warf beim Scheidungsantrag dem liberalen Premierminister Melbourne den Ehebruch mit seiner
Frau vor, obwohl Norton dank des freizügigen Ehelebens seiner Frau sicherlich
mit besseren Gründen andere Männer hätte benennen können.66 Insofern lag
der Verdacht nahe, dass der Vorwurf vor allem die gegnerische Partei schwächen
65
66
Vgl. etwa: Eintrag Tagebuch Esher 28. 11. 1890, in: CAC ESHR 2/8; Daily Telegraph
17. 11. 1890, S. 4; Pall Mall Gazette 19. 11. 1890, S. 1; Times 18. 11. 1890, S. 9.
Finanzielle Motive als Grund hierfür sieht: David Cecil, The Young Melbourne and Lord M.,
London 2001 (Erstauflage 1939), S. 365. Zu Melbournes Biographie vgl. bes.: L. G. Mitchell,
Lord Melbourne 1779–1848, Oxford 1997.
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174
III. Ehebruch als Politikum
sollte. Da seine Ehefrau aus einer alten Whig-Familie kam, lag diese Form der
Rache ebenfalls nahe. Die Vorwürfe korrespondierten dabei mit einer starken
Polarisierung der politischen Lager, die sich vor allem aus der einschneidenden
Reformpolitik der seit 1830 regierenden Whigs ergab. Norton selbst hatte sich
als erbitterter Gegner der Parlamentsreform und der Katholikenemanzipation
erwiesen.
Abgebremst wurde der drohende Skandal allerdings zunächst durch das Gericht, das äußerst wohlwollend die Unschuldsbeteuerungen des Premierministers akzeptierte. Die Aussagen mehrerer Hausangestellter, die etwa von Küssen,
zerzausten Haaren und verstreuten Kleidungsstücken berichteten, akzeptierte
es nicht als hinreichende Beweise.67 Dennoch wurde der Premierminister allein
schon durch die seitenlangen Prozessberichte diskreditiert, die zahlreiche Details über Melbournes Privatleben und insbesondere seinen Umgang mit Caroline Norton öffentlich machten. So erfuhren die Leser, dass sich der 57-jährige
Regierungschef über mehrere Jahre meist wöchentlich und mitunter täglich mit
der jungen und attraktiven Publizistin in ihrem Haus getroffen hatte, meist
während der Abwesenheit ihres Mannes. Nach den Aussagen der Diener benutzte der damals noch als Innenminister amtierende Melbourne oft die Hintertür, und die Vorhänge waren zugezogen. Die eher konservativen Zeitungen akzeptierten zwar das Gerichtsurteil, da es die moralische Ordnung bestätigte,
nicht aber diese Umgangsformen zwischen Mann und Frau. So kommentierte
die Times, Melbourne verletzte mit seinen Besuchen „not only the decorum, but
even the decencies, of English society“ und sprach von einem „scandal of his
eccentric visits“.68 Nicht nur moralisch, sondern auch intellektuell und vom
bürgerlichen Arbeitsethos her erschien es nicht zulässig, dass ein herausragender
Politiker seine Zeit mit einer jungen Frau verbrachte, obgleich Caroline Norton
eine belesene Schriftstellerin und Journalistin war.69 Die Times forderte deshalb
sogar unabhängig vom Ausgang des Prozesses Melbournes Rücktritt, weil allein
die Verwicklung in die Verhandlung das Ansehen des Amtes verletze.70
Die Presse spielte somit eine maßgebliche Rolle bei der Skandalisierung, obgleich bereits im Vorfeld des Skandals auch die Grenzen ihrer Einflussnahme
deutlich wurden. Vor dem Prozess hatte bereits der Satirist, der Caroline Norton
67
68
69
70
Prozessprotokoll in: Times 23. 6. 1836, S. 2. Vgl. auch die umfangreiche Mitschrift des Prozesses, die sogleich verkauft wurde: Extraordinary Trial! Norton v. Viscount Melbourne for
Crim. Con., London o. D. (1836), in: BL, 1508/1657.
Times 25. 6. 1836, S. 4.
„Lord Melbourne’s waste of the time so amply paid for by the public – his indulgence in trifling amusements unbecoming his age.“ Times 24. 6. 1836, S. 3. Vgl. auch den ironischen internen Kommentar des Times-Herausgebers Barnes zu Lady Norton: „[Her] fleshy attractions
are supposed to be as agreeable to Lord M. as the last patent-easy-chair.“ Thomas Barnes an
Benjamin Israeli 17. 1. 1836, in: Derek Hudson (Hrsg.). Thomas Barnes of The Times, Cambridge 1943, S. 91. Zu Nortons Wirken: Alan Chedzoy, A Scandalous Woman. The Story of
Caroline Norton, London 1992.
Times 19. 5. 1836, S. 5.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
175
schon früher Liebesverhältnisse zugeschrieben hatte, kurze spielerische Andeutungen und Verse über ihr Liebesverhältnis gedruckt. Melbourne schrieb er sogar in Witzform die Vaterschaft ihres Kindes zu. Norton wurde einerseits als
der gehörnte Ehemann verspottet, andererseits als kühl kalkulierend, da er sich
für seine Tolerierung des Ehebruchs von Melbourne einen Posten erhofft habe.71
Diese Meldungen dürften mit dazu geführt haben, dass Melbourne sich Caroline Norton gegenüber fortan zurückhielt und ihr Mann seine Klage erhob.72
Jedoch überführte erst der Prozess die Berichte in die politischen Tageszeitungen. Ebenso brachten die Zeitungen, soweit ersichtlich, nicht die früheren
Ehebrüche Melbournes zur Sprache.73 Trotz des Aufkommens der Unstamped
Press, die unter Umgehung der Zeitungssteuern seit 1830 mit zum Teil hohen
Auflagen radikale Positionen vertrat, bestanden in der Presse offensichtlich Regeln der Diskretion.74 Allein die Tatsache, dass Melbourne trotz der früheren, in
politischen Kreisen bekannten Liebesaffären eine derartige Karriere machen
konnte, belegte die bestehende Toleranz, so lange der Normbruch nicht in die
Medienöffentlichkeit gelangte.
Während des Prozesses selbst positionierten sich die Zeitungen klar nach den
politischen Lagern und nahmen den Fall als politischen Kampf wahr.75 WhigZeitungen wie der Morning Chronicle sprachen dabei von einer „Tory conspiracy which sought the destruction of a rival party by the blow aimed at the Prime
Minister, through the side of an innocent woman“.76 Das Blatt richtete sich dabei vor allem gegen die Times, weil sie sechs Wochen lang Melbourne verleugnet
und schon lange vor dem Prozess seinen Rücktritt angedeutet hätte. Damit kam
die Vorstellung auf, Politiker würden gezielt durch die Enthüllung ihrer sexuellen Normbrüche von den gegnerischen Parteien diskreditiert. Wie illegitim und
skandalös derartige Vorwürfe in der damaligen Öffentlichkeit erschienen, belegt
ihre scharfe Zurückweisung.77 Wie die Blätter betonten, legitimierte allein die
Veröffentlichung des Vorwurfes im Zuge des Prozesses entsprechende Berichte.
71
72
73
74
75
76
77
Vgl. Verse wie: „The Scriptures tell each narrow-minded elf/To love his neighbour dearly as
himself;/Melbourne exceeds this rule, for be it known/He loves poor Norton’s spouse as if his
own.“ The Satirist 21. 6. 1835, S. 197. Vgl. jeweils die Rubrik „Chit-Chat“ in The Satirist:
3. 5. 1835, S. 141; 28. 6. 1835, S. 205; 5. 7. 1835, S. 213; 12. 7. 1835, S. 221. Hinweise auch bei:
Chedzoy, Scandalous Woman, S. 114 f.
Vgl. ihre Briefe in: James Hoge und Clarke Olney, The Letters of Caroline Norton to Lord
Melbourne, Ohio 1974, bes. S. 75.
Zu früheren Affären von ihm und seiner verstorbenen Frau vgl. Paul Douglass, Lady Caroline Lamb. A Biography, New York 2004, S. 102–117, und Mitchell, Melbourne, bes. S. 70 f.
u. 215 f.
Vgl. zum Aufkommen dieser Presse: Hollis, The Pauper Press; Wiener, The War of the Unstamped.
Zwei Abend-, zwei Wochen- und eine Morgenzeitung waren nach der Wahrnehmung der
Times „engaged in this unnatural warfare against the Prime Minister.“ Times 7. 7. 1836, S. 2.
Morning Chronicle 25. 6. 1836, S. 2.
Vgl. etwa: „It is difficult to understand what the idiots of the Whig-Radical Press mean by
their jabbering about the political origin of the recent trial.“ Times 27. 6. 1836, S. 4.
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176
III. Ehebruch als Politikum
Das günstige Gerichtsurteil für Melbourne, die politische Polarisierung und
die insgesamt eher zurückhaltende Presseberichterstattung führten dazu, dass
die öffentliche Empörung begrenzt blieb und Melbourne sein Amt noch bis
1841 behalten konnte. Dass der Premierminister gestärkt aus der Affäre hervorging, gerade weil eine Verschwörung der Konservativen angenommen wurde, ist jedoch zweifelhaft.78 Denn Melbourne war nun entsprechendem Spott
ausgesetzt, der seine Autorität schwächte. So nannten einige Zeitungen seine
Regierung etwa „Crim-Con-nell Cabinett“ und „Magdalen Ministry“, weil
Melbourne laut Prozessbericht Caroline Norton ein Buch geliehen hatte, das
Maria Magdalena als besonders tugendhafte Frau pries.79 Im überfüllten Gerichtssaal verdeutlichte das regelmäßig im Protokoll festgehaltene „great laughter“ über die Berichte der Hausangestellten, wie sehr sich auch die Zuschauer
über den Premierminister amüsierten.80 Obgleich die im Gericht verlesenen und
in den Zeitungen abgedruckten Briefe von Melbourne an Norton keine Liebesaffäre belegten, zeigten sie ebenfalls eine unzulässig erscheinende Vertrautheit
mit einer verheirateten Frau, was Melbournes Position schwächte.
Der Fall Melbourne stand somit für eine Auflösung der bürgerlichen Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Skandalisierungen, wie sie bisher
gegenüber Monarchen und dem Hochadel üblich waren, richteten sich hier gegen einen liberalen Politiker. Die verhaltensnormierende Kraft der Medienberichte hatte für den Premierminister selbst jedoch offensichtlich Grenzen. Melbourne brach zwar zunächst den Kontakt mit Caroline Norton ab, traf sich aber
weiter mit anderen jungen Frauen zu privaten Gesprächen, was in den folgenden
Jahren erneut Gerüchte aufbrachte.81 Politisch folgenreicher war die abgewiesene Scheidung für Caroline Norton, die weiter mit ihrem verhassten Mann zusammenleben musste, der ihr sogar den Kontakt zu den eigenen Kindern verbat.
Caroline Norton startete daraufhin eine öffentliche Kampagne zur Reform des
Scheidungs- und Eherechts. Sie schrieb Anträge an alle Abgeordneten und den
Lord Chancellor, was tatsächlich in Gesetze mündete, die Frauen den Zugang
zu den eigenen Kindern erleichterten. Vor allem ihre Bücher (wie „A letter to
the Queen on Lord Cranworth’s Marriage and Divorce Bill“, 1855) trugen mit
zur Reform des Scheidungsrechtes bei.82 Insofern führte der Skandal um ihre
Scheidung auch indirekt zu Reformen, die schließlich spätere Skandale um Ehebrüche prägten.
Obgleich Melbournes Fall bereits wesentliche Elemente späterer Skandalisierungen aufwies, markierte er noch nicht den Beginn einer zunehmenden Skandalisierung von heterosexuellen Normbrüchen von Politikern. Es dauerte im78
79
80
81
82
So: Mitchell, Melbourne, S. 224 f.
Times 15. 6 und 24. 6. 1836, S. 3. Zu dem Buch vgl. den Prozessbericht in: Norton v. Viscount
Melbourne für Crim. Con., London o. D. (1836), S. 14, in: BL, 1508/1657.
Norton v. Viscount Melbourne für Crim. Con., London o. D. (1836), etwa S. 18, in: BL,
1508/1657.
Mitchell, Melbourne, S. 228.
Chedzoy, A Scandalous Woman.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
177
merhin fast drei Jahrzehnte, bis abermals ein Spitzenpolitiker in eine vergleichbare Situation geriet wie Melbourne. Im Jahr 1863 warf schließlich der radikale
irische Journalist Timothy Joseph O’Kane dem 78-jährigen Premierminister
Palmerston vor, mit seiner 30-jährigen Frau Ehebruch verübt zu haben. Dafür
verlangte er 20 000 Pfund „Schadenersatz“. Als Palmerston dies ablehnte, klagte
er ebenfalls. Obgleich der Prozess erneut flüchtige Treffen zwischen einem alten
Premierminister und einer jungen Frau publik machte, blieben trotz aller Gerüchte spektakuläre Veröffentlichungen aus. Während die Frau den Ehebruch
bestritt, stellte das Gericht fest, dass die O’Kanes nicht einmal rechtmäßig verheiratet waren.83 Hierdurch verkehrte sich die Skandalisierung gegen seinen Urheber. Die Times forderte, man müsse derartige „scandal-mongers“ und ihren
„cruel sport“ bekämpfen, da diese eine Gefahr für jeden „public man“ darstellten.84 Gerade derartige Formulierungen verrieten jedoch, wie sehr die Überführung des Privaten in die Medienöffentlichkeit als eine Achillesferse galt. Palmerston erschien jedoch in diesem Fall selbst für die moralistische Reynolds’s Newspaper so sehr als unangreifbar starker Politiker, dass sie in einem Porträt über
ihn nicht einmal die Möglichkeit eines Ehebruches diskutierte.85
Erst Mitte der 1880er Jahre stürzte ein Skandal einen herausragenden Politiker, dem Ehebruch vorgeworfen wurde. Wie sämtliche Zeitungsleser ausführlich erfuhren, wurde dem liberalen Kabinettsmitglied Charles Dilke 1885/86 in
einem Scheidungsprozess eine Affäre mit einer verheirateten Frau vorgeworfen.86 Dieser Skandal verdient allein deshalb bereits eine ausführliche Analyse,
da in ihm das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit sowie die politischen
Folgen eines Ehebruches neu ausgehandelt wurden. Die breite Wirkung dieses
Skandals lässt sich nicht allein aus dem Normverstoß selbst erklären, sondern
ebenso mit der politisch-kulturellen Konstellation der Zeit. So lag die erwähnte
Kampagne von W.T. Stead gegen die Kinderprostitution, die einen Höhepunkt
der öffentlichen moralischen Agitation bildete, nur wenige Wochen zurück.
Gleichzeitig fiel der Skandal 1885/86 mitten in eine wirtschaftliche und politische Krise, in der sich die Parteiauseinandersetzungen so zuspitzten, dass
mehrere Wahlen und Regierungswechsel in einem Jahr folgten.87 Dilke selbst
hatte nicht wenige Rivalen und Gegner, da der noch sehr junge Politiker eine
steile Karriere vorgelegt hatte, zum radikalliberalen Flügel von Gladstones
83
84
85
86
87
Prozessbericht in Times 27. 1. 1864, S. 11; knappe Andeutungen hierzu in: Jasper Ridley,
Lord Palmerston, London 1970, S. 531 f.
Times 5. 2. 1864, S. 10.
Reynolds’s Newspaper 14. 2. 1864, S. 2.
Da der Ablauf des Skandals bereits rekonstruiert wurde, konzentriert sich die Analyse im
Folgenden vornehmlich auf die bislang wenig bekannte Interaktion zwischen Dilke und den
Journalisten. Vgl. vor allem mit Blick auf den Ereignisablauf und die Prozesse: Roy Jenkins,
Dilke. A Victorian Tragedy, London 1965, S. 260–367; David Nicholls, The Lost Prime
Minister. A Life of Sir Charles Dilke, London 1995, S. 177–211.
Vgl. zur Regierungskrise, allerdings ohne weitere Berücksichtigung des Dilke-Skandals: Cook
und Vincent, The Governing Passion.
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III. Ehebruch als Politikum
Kabinett zählte und sowohl den Imperialismus als auch die Ausdehnung des
Wahlrechts propagierte. Die moralische Messlatte lag dabei für ein Mitglied in
Gladstones Regierung besonders hoch, da sich die Liberalen im hohen Maße auf
die moralisch besonders rigiden nonkonformistischen Wähler stützten – was
insbesondere in einem Jahr mit zwei Wahlen wie 1886 entscheidend war.
Zunächst deutete jedoch wenig auf eine Politisierung des Vorwurfes hin. Im
Unterschied zu anderen Skandalen wurde er zumindest auf den ersten Blick
nicht von der Presse angestoßen. Andeutungen und Berichte kamen erst schrittweise in die Zeitungen, nachdem Crawfords Mann die Scheidung einreichte und
den verwitweten Politiker Dilke als mitbeklagten Ehebrecher (co-respondent)
benannte. Ebenso hatte der Ehemann keine politischen Ziele, da er nur auf das
Geständnis seiner Frau hin Dilke beschuldigte. Bereits der Zeitpunkt der Veröffentlichung war allerdings hochgradig politisch aufgeladen. Dilke hatte gerade
erfahren, dass er die Führung der Liberalen übernehmen solle und damit als
potentieller Nachfolger von Premierminister Gladstone galt.88 Dementsprechend kamen schnell Gerüchte auf, Dilke sei doch Opfer einer politischen Intrige. Da der Ehemann in mehreren anonymen Briefen auf Dilkes Affäre mit seiner
Frau hingewiesen worden war, erschien ein politisches Interesse an einem Prozess naheliegend. Gerüchte kursierten, sein Parteikollege Lord Rosebery sei dafür verantwortlich, um einen Rivalen für den Posten des Außenstaatssekretärs
auszuschalten. Ebenso erzählte man, Joseph Chamberlain habe seinen Kollegen
Dilke schwächen wollen, zumal Chamberlains Karriere von Dilkes Sturz profitierte. Auch wenn diese Anschuldigungen kaum haltbar waren, zeigt allein ihre
interne Diskussion, welche Formen der politischen Auseinandersetzung den
Zeitgenossen denkbar erschienen.89
Die Nachricht über den bevorstehenden Prozess gelangte aus dem parlamentarischen Raum schnell in die Presse. Bemerkenswert ist in diesem Fall besonders die Rolle, die von Beginn an der Journalist W.T. Stead spielte, der sich gerade auf dem Höhepunkt seines Ruhmes befand. Auf den ersten Blick schien Stead
zunächst abzuwarten. Der meines Wissens erste öffentliche Hinweis auf Dilkes
Affäre erschien nicht in seiner Zeitung, sondern in der Regionalzeitung Northern Echo, die auf entsprechende Gerüchte unter verschiedenen Abgeordneten
anspielte, die vor Gericht geklärt werden müssten. Da dies jedoch das Blatt war,
bei dem Stead früher gearbeitet hatte, ist davon auszugehen, dass er die Meldung
dort lancierte und sie dann unter der Überschrift „Public Man and Public Scandals“ in seiner Pall Mall Gazette scheinbar unbeteiligt abdruckte.90 Steads Blatt
88
89
90
Dilke selbst sah diese Koinzidenz sogleich: Tagebuch Dilke 23. 7. 1885, in: BL, Add Mss 43927: 5.
Von der Unhaltbarkeit der Gerüchte gehen ebenfalls aus: Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in Politics, New Haven und London 1994, S. 200 f.; Denis Judd, Radical
Joe. A Life of Joseph Chamberlain, Cardiff 1993, S. 143 u 145; Nicholls, Dilke, 1995, S. 201.
Pall Mall Gazette 28. 7. 1885, S. 8; Northern Echo 28. 7. 1885, S. 3. Obgleich Stead am
Dilke-Skandal maßgeblich beteiligt war, wurde vor allem seine interne Rolle bislang weitgehend übersehen. Nur ganz knapp erwähnt ist Steads Bericht, mit einer falschen Datierung, in:
Schults, Crusader, S. 167.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
179
gab sich skeptisch gegenüber dem Gerücht und erwähnte Dilke nicht namentlich, forderte aber eine gerichtliche Klärung. Als eigene Meldung fügte Stead auf
der nächsten Seite nur hinzu, dass Dilke wegen einer Erkrankung eine Rede
absagen musste und die Ärzte ihm Ruhe verordnet hätten. Ebenso wie bei anderen Skandalen unterstrich diese Anordnung der Artikel für alle Eingeweihten
den Zusammenhang. Weitere Andeutungen zum Fall Dilke, ebenfalls ohne
Namensnennung, folgten in den nächsten Tagen.91
Auch nach der Etablierung des New Journalism begann der Ehebruchsskandal damit nicht mit großen Schlagzeilen, sondern mit abwartender Zurückhaltung und einzelnen erpresserischen Andeutungen, um die eigene Zeitungsmeldung möglichst wenig sensationell erscheinen zu lassen. Vermutlich wählte
Stead diesen Weg, um nach seiner großen und umstrittenen Maiden TributeKampagne nicht erneut als Skandaljournalist zu erscheinen, gleichzeitig aber
seine Ziele zu erreichen. Er platzierte das Thema in der Londoner Öffentlichkeit, ohne selbst dafür verantwortlich zu wirken. Erst Reynolds’s Newspaper
überführte Dilkes Namen dann mit der ihr ebenfalls eigenen Mischung aus
Moralismus und sensationeller Enthüllung in die breite Medienöffentlichkeit.92
Das radikale Blatt, das sich zuvor insbesondere an Dilkes imperialer Haltung in
der Ägypten- und Sudanpolitik gerieben hatte, erwies sich damit wie bei den
Homosexualitätsskandalen als regelbrechende Instanz, die in diesem Fall selbst
gegen radikale Liberale vorging. Die Mehrheit der Zeitungen berichtete dagegen
zunächst gar nicht über die Gerüchte, sondern reagierte erst, als Dilke mit einer
entlastenden Gegendarstellung an die Öffentlichkeit trat.93
Da die Journalisten mit derartigen Skandalen bislang kaum Erfahrungen hatten, setzte sofort eine Diskussion darüber ein, was die angemessene Reaktion
eines Politikers sei und wo die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit
liegen würden. Dabei sprach sich besonders der damals noch eher liberale Daily
Telegraph auffällig deutlich für eine Trennung der privaten und öffentlichen
Sphäre des Politikers aus, die durch den neuen „Skandaljournalismus“ akut bedroht sei:
In point of fact, the day has arrived when those who have the best interests of the community at heart must make a resolute stand against the detestable habit growing up of
flinging public and private matter together, as regards prominent characters, into the cauldron of scandal. Done in the name of virtue and morality, the thing has become a plague,
an invasion, and a curse. A man’s private life does not belong to spies and traducers because his days and years are passed in constant publicity.94
Die Angst vor einer unkontrollierbaren Jagd auf Männer der Öffentlichkeit
prägte auch die weitere Argumentation des Artikels. Damit grenzte sich das
Blatt von Steads Pall Mall Gazette und der radikalen Reynolds’s Newspaper ab,
91
92
93
94
Mit Verweis auf die Liverpool Daily Post: Pall Mall Gazette 31. 7. 1885, S. 8.
Reynolds’s Newspaper 2. 8. 1885, S. 1.
Vgl. etwa Daily Telegraph 10. 8. 1885, S. 5; Times 10. 8. 1885, S. 6.
Daily Telegraph 20. 8. 1885, S. 4.
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180
III. Ehebruch als Politikum
die zumindest Dilkes vorläufigen Rückzug aus der Politik forderten – wegen
der Schwere der Vorwürfe und wegen des Misstrauens, das man nun gegen ihn
im Unterhaus haben müsse.95 Mit Blick auf den Daily Telegraph bestritt Reynolds zudem explizit, „that a man’s private character has nothing whatever to do
with his relation to the public.“96 Die unterschiedliche Positionierung über die
Grenzen des Privaten in den liberalen Zeitungen machte dabei deutlich, wie sehr
der britische Liberalismus entlang von moralischen und politischen Grundsätzen gespalten war. Eine quasi automatische Unterstützung der eigenen Parteirepräsentanten im Skandal war von den Zeitungen nicht zu erwarten. Dies förderte das Potential für einen Skandal mit breiter Empörung.
Charles Dilke selbst ahnte sofort die Konsequenzen für seine Karriere, als er
von seiner Benennung als Co-Respondent erfuhr. Laut seinem Tagebuch erwog
er den Rückzug aus dem öffentlichen Leben, und die Briefe an seine Verlobte
dokumentieren seine Verzweiflung.97 Dennoch begann er schnell mit unterschiedlichen Strategien, seine Reputation wieder herzustellen, zumal im November die nächste Wahl bevorstand. Er widersprach den Vorwürfen in einem
knappen offenen Brief an die liberale Vereinigung seines Wahlkreises, den er
damit als die eigentliche Instanz markierte, der er als Abgeordneter verantwortlich war. Er kündigte zugleich eine ausführliche Aussprache im Wahlkreis an
und bot dem dortigen liberalen Verein seinen Rücktritt an, bis das Gericht seine
Unschuld geklärt habe. Vor Gericht wolle er die Vorwürfe ausführlich widerlegen, bis dahin erwarte er aber auch von seinen Gegnern Zurückhaltung.98 Nicht
zuletzt wegen dieser Gesten erhielt er im Wahlkreis und auch in weiten Teilen
der Medienöffentlichkeit eine breite Unterstützung. Selbst die Pall Mall Gazette hielt sich daraufhin ganz mit kritischen Meldungen zurück. Die moralische
Ordnung stellte Dilke zudem dadurch her, dass er seine Verlobte augenblicklich
heiratete und mit ihr zusammen bei seinen Wahlkampfreden auf die Bühne
trat.99 Tatsächlich erreichte er auf diese Weise nicht nur eine positive Presseresonanz, sondern auch einen Sieg in seinem Wahlkreis. Beides zeigte, dass allein der
Verdacht eines Ehebruches auch im spätviktorianischen England nicht die Reputation eines Politikers zerstörte. Eher schien die implizite Annahme zu überwiegen, Dilke sei Opfer einer Intrige oder einer hysterischen Frau.
In dieser ersten Phase des Skandals zeigte die viktorianische Gesellschaft damit noch eine relative moralische Toleranz. Dilke erhielt nach den ersten Pressemeldungen zudem Unterstützung von wichtigen Repräsentanten der Gesellschaft. Der Prince of Wales, den er sogleich informierte, schrieb ihm etwa in
95
96
97
98
99
Reynolds’s Newspaper 9. 8. 1885, S. 1.
Reynolds’s Newspaper 23. 8. 1885, S. 2.
Eintrag 23. 7. 1885, in: BL, Add Mss 43927: 5; Briefe bes.: Dilke 20. (7. 1886) in: BL, Add Mss
43888: 109.
Dilke an G.W. Osborn/Borough of Chelsea Liberal Association, in: Daily Telegraph
10. 8. 1885, S. 5.
Vgl.zur positiven Rezeption seiner Auftritte mit seiner neuen Frau: Times 14. 10. u. 29. 10. 1885,
S. 7, 6. 1. 1886, S. 6.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
181
aufmunternden Briefen, die Anschuldigungen wären bald vergessen.100 Der
liberale Premierminister William Gladstone, der zweifelsohne äußerst gläubig
und moralistisch geprägt war, ließ sich ebenfalls nicht auf die Anschuldigungen
ein. Unmittelbar nach den ersten Gerüchten umwarb er Dilke in einem langen
Brief wegen seiner Irlandpolitik und gratulierte ihm dann zur bevorstehenden
Hochzeit, die Dilke offenbar als strategisches Signal dem Premier frühzeitig
mitgeteilt hatte.101 Ebenso tauschte sich Dilke mit dem Londoner Kardinal
Manning aus, der ihm ebenfalls in einem intensiven Briefwechsel das Vertrauen
aussprach.102 Im Unterschied zu Deutschland gab es selbst von Seiten der Konservativen parteiübergreifend aufmunternde Signale. Immerhin schrieb ihm der
Vorsitzende der Unterhausfraktion, Randolph Churchill, noch nach dem ersten
Prozess, er solle die Presse nicht so ernst nehmen, da niemand vor solchen Verfolgungen geschützt sei.103 Der vielfältige Zuspruch erschien dabei wie ein
männlich-kollegialer Konsens darüber, dass die politische Sphäre nicht durch
weibliche Hysterie und Medienberichte über das Private belastet werden dürfe.
Allerdings berücksichtigte Gladstone Dilke nicht bei der Kabinettsbildung Anfang 1886, wenn auch weniger aus persönlichen Bedenken als aus Angst, dass
dies Proteste bei nonkonformistischen Wählergruppen auslösen könnte.104 Weniger die Überzeugungen der Politiker, sondern deren Annahmen über den
Moralismus der Presse und der nonkonformistischen Wähler führten damit zu
einer ersten Vorverurteilung.
Der entscheidende Wendepunkt, der den Fall zu einem Skandal von bisher
kaum bekanntem Ausmaß werden ließ, war der Scheidungsprozess im Februar
1886. Seine große öffentliche Bedeutung markierten nicht nur die ausführlichen
Medienberichte, sondern auch der immense Andrang vor dem Gericht, der die
Zeitungen an „popular theatre or boxing nights“ erinnerte.105 Wie bei anderen
Prozessen gegen prominente Politiker waren die Zusammensetzung des Gerichts und der Ablauf der Verhandlung so sehr zu Dilkes Gunsten ausgerichtet,
dass er optimistisch in die Verhandlung ging.106 Tatsächlich hob das Gericht abschließend in aller Deutlichkeit Dilkes Unschuld hervor, da die Ehefrau vor Gericht nicht anwesend gewesen sei und somit nicht unter Eid ihren Ehebruch mit
Dilke bestätigt habe („there is no evidence worthy of the name against him“).107
100
101
102
103
104
105
106
107
Prince of Wales an Dilke 14. 8. 1885, in: BL, Add Mss 43874: 70.
Gladstone an Dilke 21. 7. 1885, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 374; ebd.,
18. 9. 1885, S. 403.
Vgl. bes. Cardinal Manning an Dilke 5. 8. 1885 u. 16. 8. 1885, in: BL, Add. Ms. 49610.
R. S. Churchill an Dilke 8. 4. 1886, in: BL, Add. Ms. 43940:136.
Vgl. auch Gladstone an Dilke 2. 2. 1886, in: BL, Ms Add. Gladstone Paper 44149: 369; Eintrag
in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 488; Gladstone an Queen Victoria
31. 1. 1886, abgedr. in: Philipp Guedalla, The Queen and Mr. Gladstone, Bd. 2: 1880–1898,
London 1933, S. 421 f.
Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 3.
Eintrag Tagebuch Dilke 12. 2. 1886 in: BL, Add Mss 43927: 26. Im Gericht saßen zahlreiche
Parteikollegen.
Zit. nach Prozessprotokoll in: Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 3.
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182
III. Ehebruch als Politikum
Ebenso verteidigte der Staatsanwalt Dilkes ungewöhnliche Besuchszeiten bei
der jungen Frau mit seiner Arbeitslast. Diese Unschuldserklärung gegenüber
dem Zeugen Dilke wurde jedoch öffentlich durch das Geständnis überlagert,
dass der klageführende Ehemann von seiner Frau indirekt wiedergab. Danach
hatte Dilke nicht nur unmittelbar nach der Hochzeit die 18-jährige Frau verführt, sondern bei seinen zahlreichen Treffen mit ihr unter anderem auch Geschlechtsverkehr zu dritt mit einem Hausmädchen verlangt, mit dem Dilke
ebenfalls regelmäßig geschlafen habe. Die meisten Zeitungen druckten diese
erotischen Geständnisse erstaunlich direkt als Zeugenaussage ab. So hieß es etwa
in den besonders ausführlichen Berichten der Times: „She [Mrs. Crawford] told
him that Sir Charles Dilke made her go to bed with Fanny, who lay beside her.
[…] She told me that he had taught her every French vice.“108 Der Fall zeigte
damit, wie offen auch im spätviktorianischen England über Heterosexualität geschrieben werden konnte, wenn die Aussagen Zitatcharakter hatten. Wie bei
anderen sexuellen Normbrüchen wurde dabei der normwidrige Verkehr als etwas von außen kommendes umschrieben („French vice“), das von Frankreich
aus die Moral untergrabe. Dilke selbst fürchtete offenbar von jeder öffentlichen
Äußerung zu seinem Privatleben so große Nachteile, dass er die Vorwürfe
stumm auf der Zeugenbank anhörte und nicht unter Eid im Kreuzverhör zu
widerlegen versuchte.
Trotz dieser Aufsehen erregenden sexuellen Enthüllung sahen einige liberale
Zeitungen Dilkes politisches Come Back als gesichert an. Der Daily Telegraph
schrieb sogar: „Had the result been different, there would have been no lack of
sympathy on the part of the numberless friends and supporters of Charles Dilke
[…]. The advanced Liberal Party could ill have spared such a man of his tact,
experience and accomplishment.“109 Der Kommentar der damals auflagenstärksten britischen Zeitung belegt, wie groß die moralische Toleranz zumindest
bei Teilen der spätviktorianischen Öffentlichkeit sein konnte. Selbst die eher
konservative Times verzichtete auf einen Kommentar zum ersten Prozess, was
ebenfalls eine gewisse Toleranz gegenüber dem Liebesleben des Politikers verriet. Gerade durch diese liberale Bewertung und die Unschuldsbeteuerung der
Richter entwickelte sich der Prozess jedoch zu einem umkämpften Präzedenzfall über die moralischen Verhaltensgrenzen.
Abermals war es der Journalist W. T. Stead, der in direkter Reaktion auf die
toleranten Artikel eine folgenschwere Gegenkampagne startete. Mit drastischen
Worten forderte er Dilkes sofortigen Rücktritt und eine neue Untersuchung
durch den Queen’s Proctor. Tatsächlich erreichte Stead dies. Dabei deutete Stead
die Liebesaffäre als „offence morally worse than murder“. Im Fall einer Lüge sei
Dilke „a worse criminal than most of the murderers who swing at Newgate“.110
108
109
110
Times 13. 2. 1886, S. 12, ähnlich: Reynolds’s Newspaper 14. 2. 1886, S. 3; Daily News
13. 2. 1886, S. 3.
Daily Telegraph 13. 2. 1886, S. 5. Ähnlich Daily News 13. 2. 1886.
Pall Mall Gazette 16. 2. 1886, S. 1.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
183
Mit diesen Zuschreibungen übertrug er das Vokabular, mit dem bislang Homosexualität dramatisiert wurde, auf den Ehebruch, um ihn ähnlich zu stigmatisieren. Zugleich weitete Stead seine Kampagne gegen den Minister Joseph
Chamberlain aus, weil er als Dilkes Anwalt im Prozess geraten habe, keine
Aussage zu machen.111 Sowohl in seiner Zeitung als auch mit Reden versuchte
Stead, aus dem Einzelfall generelle Forderungen abzuleiten. Im öffentlichen
Leben sei kein Platz für diejenigen, die sich nicht von Vorwürfen über ihr
Privatleben freisprechen könnten.112 Die Regierung sollte vor allem ein Gesetz
schaffen, das für eine Scheidung die persönliche Befragung der Frau unter Eid
erfordere, da sonst Frauen wahllos Männern Vorwürfe machen könnten und
Scheidungen zu leicht gemacht würden.113 Auf diese Weise entwickelte sich der
Skandal zugleich zu einer grundsätzlichen Debatte über das öffentliche Geständnis des Ehebruchs.
Wie reagierte Dilke auf die Medien? Zunächst einmal bedankte er sich persönlich bei den Journalisten, die positiv über ihn geschrieben hatten.114 Zudem
übermittelte er wiederum in einer Versammlung seines Wahlkreisvereines eine
öffentliche Erklärung, dass er unschuldig sei und nur auf Anraten seiner Freunde
nicht in den Zeugenstand getreten wäre. Da sein Wahlkreisverein ihm daraufhin
mit nur wenigen Gegenstimmen das Vertrauen aussprach, erschien seine Stellung auch demokratisch legitimiert.115 Einige Zeit später hielt er erneut eine
emotionale Rede im Wahlkreis, in der er neben seiner Unschuld sein persönliches Leiden an der Affäre schilderte, die er nur dank der Unterstützung seiner
Frau durchstehe, und stellte sich erneut allen Mitgliedern der Liberalen zur Abstimmung, die abermals fast geschlossen für ihn stimmten.116 Damit versuchte
er die Versammlungsöffentlichkeit über die Medienöffentlichkeit zu stellen, wobei das Vertrauen der Basis vor allem ein Signal für die Presse war.
Dilke bemühte sich jedoch vorangig, den Starjournalisten W. T. Stead zu beruhigen, von dessen Urteil seine weitere Karriere abzuhängen schien. Hierzu
dienten zunächst Mittelsmänner. Reginald Brett, in vielen Skandalen ein wichtiger Makler, schrieb daraufhin an Stead eindringlich: „I beg you – as a favour –
not to return to the charge. You have said your say.“117 Ebenso versuchte der
Vorsitzende der Liberal Central Association, W. S. Caine, mit Stead zu verhandeln.118 Dilkes Mittelsmann, der Stead am stärksten beeindruckte, war Kardinal
Manning, der auch nach dem Prozess Dilke zur Seite stand.119 Auffälligerweise
übernahm weniger Dilke selbst als Dilkes Ehefrau diesen besänftigenden Aus111
112
113
114
115
116
117
118
119
Pall Mall Gazette 19. 2. 1886, S. 1.
Pall Mall Gazette 25. 2. 1886, S. 8.
Pall Mall Gazette 8. 3. 1886, S. 1.
Dilke an o.N. 13. 2. 1886, in: BL, Add. Ms. 49610: 172.
Vgl. etwa: Reynolds’s Newspaper 21. 2. 1886, S. 1.
Times 4. 5. 1886, S. 8.
Brett an Stead 16. 2. 1886, in: CAC, Sted 1/25.
W.S. Caine an Mrs. Dilke 20. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:31.
Kardinal Manning an Mrs. Dilke 2. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:24.
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184
III. Ehebruch als Politikum
tausch mit dem Journalisten und anderen öffentlichen Persönlichkeiten. Vermutlich ließ es Dilkes Ehre nicht zu, sich direkt mit Stead auszusprechen, was
zudem schnell wie ein Kuhhandel gewirkt hätte. Dilkes Frau korrespondierte
dafür nahezu täglich mit Stead und traf sich sogar mehrfach mit ihm persönlich.120 Immerhin erreichte sie so, dass Stead ihr schon vorher einen großen Artikel über ihren Mann zuschickte, den er einige Tage später drucken wollte; sie
solle den Text lesen und sagen, wenn sie etwas zu ergänzen habe.121 Stead rechtfertigte sich ihr gegenüber für seine Texte und gab ihr zugleich die Möglichkeit,
Dilkes Position zu drucken: „I hope that the P.M.G. of today was less unpleasant
reading than some previous numbers“, schrieb er etwa. „Is there anything you
want said in reply to anything in the morning papers, a line to me here till 12
will catch the first edition of the P.M.G.“122 Statt wie in Deutschland mit harter
Zensur einzugreifen, förderte der Skandal in Großbritannien somit einen intensiven, werbenden Austausch zwischen dem beschuldigten Politiker und dem
skandalisierenden Journalisten.
Tatsächlich konnte Dilke auf diese Weise eine etwas positivere Presse in der
Pall Mall Gazette erreichen. So erschien kurz nach den ersten Briefwechseln
direkt neben Steads kritischem Kommentar der Artikel eines anonymen
Freundes von Dilke. Dieser betonte, Dilke habe immer in Chelsea gelebt, wo
alle sein reines Leben beobachten konnten, bis aus heiterem Himmel die Anklage
erfolgte.123 Vermutlich war selbst Steads Forderung in der gleichen Ausgabe,
der Queen’s Proctor solle durch Intervention den Fall neu verhandeln, in Absprache mit Dilkes Frau aufgekommen. Zudem verlagerte Stead seine Angriffe
auf Joseph Chamberlain, da er für das Ausbleiben von Steads Aussage verantwortlich sei. Nach den Gesprächsnotizen bot der Journalist seiner Frau großzügig als „bargain“ an, „that he could whitewash you.“124 Bei einem persönlichen
Treffen mit ihr forderte Stead für das Einstellen seiner Angriffe allerdings, dass
Dilke – „until he had succeded in cleaning himself“ – Ämter und Mandat niederlegen müsse.125 Auch wenn sie dies ablehnte, unterwarf Dilke sich Stead jedoch insoweit, als dass er sich öffentlich zurückhielt. Nur vereinzelt und mit
vorheriger Ankündigung betrat Dilke als stummer Teilnehmer das Unterhaus,
nicht zuletzt durch die mehrfache Aufforderung seines Parteifreundes Chamberlain.126 Während Chamberlain es sich leisten konnte, Steads Gesprächsangebot brüsk abzuweisen, musste Dilke auf diesen Kuhhandel eingehen.127
120
121
122
123
124
125
126
127
Vgl. bes. die Briefe in: BL, Add. Ms. 43907 und 43940.
Stead an Mrs. Dilke 20. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:253.
Stead an Mrs. Dilke 22. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:258.
Pall Mall Gazette 22. 2. 1886, S. 1.
Notiz Mrs. Dilke 23. 2. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:259.
Mrs. Dilke an Kardinal Manning, 2. 3. 1886, in: BL, Add. Ms. 49611:19.
Vgl. Chamberlains diverse Briefe an Dilke Februar und März 1886, in: Univ. Birmingham
Special Collection, JC 5/24.
Stead bestand jedoch auf eine Antwort. Vgl. Stead an Chamberlain 21. 2., 22. 2., 23. 2. u. 27. 2. 1886
u. Chamberlain an Stead 22. 2. 1886, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 6/4k.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
185
Diese bisher kaum bekannte Interaktion zwischen dem skandalisierten Politiker und dem skandalisierenden Journalisten zeigte zweierlei. Sie verdeutlichte
einerseits die Machtstellung, die ein einzelner Journalist durch Skandale gewinnen konnte. Dies führte zu zahlreichen Unterwerfungsgesten. Der einstige
Minister und potentielle Premierminister musste nicht nur die Forderungen des
Journalisten ertragen, sondern auch Steads Trostgedichte und Psalme, die er seinen Briefen beifügte.128 Andererseits zeigte dies zugleich die Grenzen der journalistischen Unabhängigkeit. Wie häufig suchte Stead selbst bei jenen Politikern
Anerkennung und Nähe, die er attackierte, was sein Urteil durchaus verändern
konnte und Chancen auf eine bessere Bewertung eröffnete. Vor dem zweiten
Prozess intensivierte sich der Austausch zwischen Stead und Dilke. Stead erhielt
von Dilkes Anwälten Material, und Dilke ließ sich ebenso wie seine Frau direkt
von Stead beraten, wie er sich vor Gericht verhalten solle.129 Gerade diese Kooperation versprach eine mildere Beurteilung durch Stead, obgleich sich der
Journalist nicht generell umstimmen ließ.130
Auch ansonsten konnte Dilke zuversichtlich in die zweite Verhandlung gehen. Ähnlich wie andere Skandalopfer hatte er einen Privatdetektiv beauftragt,
der nun zahlreiche Details über das Liebesleben von Mrs. Crawford ermittelt
hatte und Widersprüche ausmachte. Der Privatdetektiv wurde damit erneut zu
der Figur, die Wissen über das Intimleben der Großstadt in die Öffentlichkeit
brachte. Vor allem fand er heraus, dass Frau Crawford eine Liebesaffäre mit
einem anderen Mann hatte. Weniger Rückhalt war diesmal vom Gericht selbst
zu erwarteten. Da beim ersten Prozess der Vorwurf der kollegialen Justiz aufgekommen war, hielt der Queen’s Proctor absolute Distanz und gewährte Dilke
keine vorherige Akteneinsicht oder Aussprachen.131 Nicht unbedingt als Ausgrenzung war Dilkes knappe Wahlniederlage bei der erneuten Wahl 1886 zu bewerten. Da die Liberalen landesweit verloren hatten, war das Ergebnis keine
Strafe der Wähler für Dilkes Amouren. Zugleich nahm die Niederlage von Dilke
den Druck, sein Mandat niederzulegen.
Der zweite Dilke-Prozess im Juli 1886 zählt zweifelsohne zu den wichtigsten
Ereignissen in der viktorianischen Sexualitätsgeschichte. Gerade weil Dilke und
Crawford aus einflussreichen bürgerlichen Familien kamen, galten die Kreuzverhöre als sensationelle sexuelle Geständnisse. Mrs. Crawford warf Dilke nun
noch expliziter vor, sie dreimal zum sexuellen Verkehr zu dritt mit einem Hausmädchen aufgefordert zu haben. Zudem hielt sie dem Politiker Affären mit insgesamt drei weiteren Frauen vor, unter anderem mit ihrer Mutter. Umgekehrt
erfuhren die Zeitungsleser von Dilkes Anwälten, dass Mrs. Crawford trotz ihrer
128
129
130
131
Neben dem 91. Psalm und Trostgedichten fügte Stead mehrfach den Goethe-Vers „Wir heißen
Euch hoffen“ an.
Stead an Dilke um 10. 7. 1886 in: BL Add. Ms. 43913:193; Mrs. Dilke an Stead o. D. in: BL,
Add. Ms. 43940.
Vgl. Dilke an Stead 24. 6. und 13. 7. 1886 in: BL, Add. Ms. 43913:192 ff.
Vgl. die Absagen in: Queen’s Proctor an Dilke 27. 2. 1886, Dilke an Queen’s Proctor 10. 4. 1886,
Queen’s Proctor an Anwälte 11. 6. 1886, in: BL, Add. Ms. 49436.
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III. Ehebruch als Politikum
Abb. 5: Auch die Visualisierungen des Ehebruches verdeutlichten die sexuellen Normbrüche – insbesondere den vorgeworfenen Verkehr mit zwei Frauen – und erweiterten so
die Grenzen des Zeigbaren; Illustrated Police News 7. 8. 1886.
jungen Ehe mit einem anderen Mann namens Forster dauerhaft sexuell verkehrt
hatte. Die Zeitungen druckten die Beschreibungen dieser Vorwürfe dabei erneut
in erstaunlich direkten Worten ab – wie „He made love to me“ oder „who used
to sleep with him“.132 Visuelle Darstellungen deuteten die Zärtlichkeiten und
den Verkehr zu dritt an sowie die Personen, die Häuser und die Räume, in denen der Ehebruch stattfand (vgl. Abb. 5).133 Das Gericht schloss sich diesem
Vokabular ebenfalls an. Im Urteil sprach es von „Frenchfried orgies“ und Mrs.
132
133
Zit. Daily Telegraph 21. 7. 1886, S. 2.
Vgl. etwa Illustrated Police News 31. 7. 1886 u. 7. 8. 1886.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
187
Crawford des Ehebruches mit Dilke für schuldig, obwohl Dilke in verschiedenen Punkten unwahre Beschuldigungen ausmachen konnte. Dilke war damit
öffentlich als ein Politiker gebrandmarkt, der mit diversen Frauen verkehrt
hatte.
Erst nach diesen Enthüllungen schwand Dilkes öffentlicher Rückhalt auch in
der liberalen Presse fast ganz. Lediglich der Daily Telegraph unterstützte Dilke
noch, indem er Mrs. Crawford beschuldigte, einen der talentiertesten Liberalen
und angehenden Prime Minister aus der psychopathischen Lust heraus gestürzt
zu haben, die eigenen Sünden zu bekennen. Da ihre Mutter bereits Ehebruch
betrieben habe, sei dies durch ihr Elternhaus beeinflusst.134 Diese Bewertung
vermengte das bei Skandalen oft benutzte Narrativ der Wahnsinnigen mit dem
neuen Bild der sexuell aktiven Frau, die nicht bloß die Verführte war. Die liberale Daily News, mit der Dilke seit den 1870ern ein gutes Verhältnis gepflegt
hatte und die ihn bisher unterstützt hatte, sah ihn trotz seiner Talente politisch
und sozial ruiniert – wegen seiner Verstöße gegen „the obligations of friendship,
the precepts of morality“ und „the primary instincts of decency, and the sanctity
of family.“135 Dilke erschien als Bedrohung für das soziale Gefüge der Gesellschaft, weshalb er aus der politischen Öffentlichkeit treten müsse. Die Protektion von der Parteipresse verschwand somit. Noch deutlicher fiel das Urteil der
radikal-liberalen Reynolds’s Newspaper aus, die ihn als Verführer, Lügner und
Feigling verunglimpfte, der nicht Mitleid, sondern Strafe verdiene.136 Ähnlich
wie bei den Homosexualitätsskandalen konstruierte sie damit das Narrativ des
mächtigen männlichen Verführers, gegen den sich gerade junge Frauen nicht
wehren könnten. Das differenzierteste Urteil fällte dagegen, für Außenstehende
sicherlich erstaunlich, Stead in der Pall Mall Gazette. Stead hatte auch während
des Prozesses den engen Austausch mit Dilkes Frau bewahrt und ihr noch am
ersten Prozesstag vorhergesagt, dass Dilke in der öffentlichen Meinung, egal wie
der Prozess ausgehe, an Ansehen gewinnen werde.137 In seinem Zeitungskommentar kam Stead zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Dilke doch
die Wahrheit gesagt habe, durch den Prozess gestiegen sei. Dennoch sei er für
eine weitere politische Karriere nicht mehr geeignet, da zuviel gegen ihn spreche, um ihn als Mann der Wahrheit mit reinem Leben zu sehen.138 Zumindest
zeigte Steads abgewogene Haltung, wie sehr es sich für Dilke gelohnt hatte, eine
Kooperation mit dem skandalisierenden Journalisten zu suchen.
Die breite öffentliche Empörung über die Enthüllungen ließ für Dilke keinen
anderen Entschluss zu, als wenige Tage später den Liberalen seines Wahlkreises
134
135
136
137
138
Daily Telegraph 24. 7. 1886, S. 5.
Daily News 24. 7. 1886, S. 4. Zu Dilkes Kontakten zur Daily News vgl. etwa; „He [Henry
Lucy/Daily News] has put in what I told him“; Dilke an Chamberlain 1. 6. 1886, in: BL, Add.
Ms. 49610:28. Zu Dilkes Kontaktpflege zu dem Editor Frank Harrison Hill seit 1870 vgl. seine
Briefe in: BL, Add. Ms. 43898.
Reynolds’s Newspaper 25. 7. 1886, S. 4.
Stead an Mrs. Dilke 14. 7. u. 21. 7. 1886 in: BL, Add. Ms. 43907:271 u. 274.
Pall Mall Gazette 24. 7. 1886, S. 1.
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III. Ehebruch als Politikum
seinen Rückzug anzukündigen, wobei er abermals seine Unschuld und die Voreingenommenheit des Gerichtes beteuerte. Das drei Monate später vom Wahlkreis aufgebrachte Angebot, doch wieder zu kandidieren, lehnte er ab, da er erst
wieder ins politische Leben zurückkehren wolle, wenn seine Unschuld geklärt
sei.139 In seinem engsten politischen Umfeld war Dilke trotz dieser Vorwürfe
allerdings keine ausgestoßene Person. Sein alter Parteifreund Chamberlain hielt
weiter zu ihm, obwohl dieser nun politisch mit den Konservativen kooperierte.
Rückhalt fand Dilke weiterhin beim vormaligen Premierminister Gladstone.
Gladstone bezeichnete in seinem Tagebuch, trotz seiner großen Frömmigkeit,
die Zeitungsberichte als erbärmlich, verfluchte den Prozess als Heuchelei und
hatte Mitleid mit ihm.140 Bei dem neuen Premierminister Salisbury und der
Queen setzte er sich deshalb dafür ein, dass Dilke vorerst weiter im Privy Council (Kronrat) bleiben konnte.141
Ob Dilke tatsächlich „schuldig“ war, ist aus den Quellen nicht zu klären und
hier nicht unbedingt von Interesse. Die beiden biographischen Studien zu Dilke,
die gerade diese Frage bereits intensiv diskutierten, gehen wegen der Widersprüchlichkeit der Anschuldigungen von seiner Unschuld aus. Roy Jenkins vermutet, dass Dilke allenfalls vor der Ehe eine Affäre mit Mrs. Crawford hatte
und deshalb vor Gericht so zurückhaltend war, zumal er die Thematisierung
weiterer Frauenaffären vermeiden wollte.142 David Nicholls sieht Dilke als Opfer zweier Frauen: Mrs. Crawford wollte unter Nennung von Dilke ihren Mann
loswerden, um ihren eigentlichen Geliebten Forster zu schützen und zu heiraten, während ihre Freundin sich von Dilke fallen gelassen fühlte und sich deshalb
rächte.143 Beide Vermutungen weisen implizit auf einen grundsätzlichen Punkt
hin: Selbst wenn ein Politiker gegenüber der Anklage unschuldig war, riskierte
er vor Gericht, dass im Kreuzverhör andere außereheliche Amouren öffentlich
wurden. Schuldig erschien danach fast jeder Mann, und das Kreuzverhör war
bereits der Schuldspruch. Gerade dies unterschied den Skandal von früheren
Fällen wie um Premierminister Melbourne, bei dem der Prozessverlauf und der
Medientenor noch vergleichsweise kontrollierbar erschienen. Nun stand den
beteiligten Zeugen, Richtern und Journalisten eine öffentliche Sprache zur Verfügung, mit der sich selbst sexuelle Normbrüche bürgerlicher Honoratioren beschreiben ließen.
Der Skandal prägte Dilkes weiteres Leben. Wie die meisten Skandalopfer ging
er zunächst mit seiner Frau einige Zeit nach Frankreich, kehrte dann aber zurück, obwohl oder gerade weil ihm die Times riet, ganz auszuwandern, „to spare
139
140
141
142
143
Dilke an Osborn in: Times 26. 10. 1886, S. 7.
Vgl. Tagebucheinträge Gladstone 21. 7. und 23. 7. 1886, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone
Diaries, Bd. 11, S. 597 f.
Gladstone an Herschell 24. 7. 1886 und Gladstone an Salisbury 1. 8. 1886, in: Matthew (Hrsg.),
Gladstone Diaries, Bd. 11, S. 598 u. 601.
Jenkins, Dilke, S. 366 f.
Nicholls, Dilke, S. 205.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
189
the public another demoralizing inquiry.“144 Die Befürchtung, wegen Meineids
verurteilt zu werden, spielte für die Auslandsreise vermutlich auch eine Rolle.145
In den nächsten Jahren schrieb Dilke vereinzelte Abhandlungen für amerikanische Zeitschriften, beschäftigte sich aber vor allem damit, Beweise für seine
Unschuld zu sammeln, um sein politisches Comeback einzuleiten.146 Auch
wenn Dilke sich aus dem Londoner Clubleben zurückzog, wurde er von den
Liberalen nicht ganz ausgegrenzt. Er nahm, argwöhnisch von der Times beobachtet, an Veranstaltungen seines alten Wahlkreises teil und wurde umworben,
Mitglied des Londoner City Council zu werden.147 Schließlich wurde er bereits
1889 zum Vorsitzenden der Liberalen im westenglichen Wahlbezirk Forest of
Dean gewählt, obwohl er sein neues Beweismaterial nicht öffentlich gemacht
hatte und von einem erneuten Prozess absah.148 1890 trat er mit einem „Radical
Programme“ hervor, das sich unter anderem für den Acht-Stunden-Tag stark
machte, und 1891 bereitete er eine Kandidatur für das Unterhaus vor.
Damit begann der Kampf zwischen dem moralisierenden Journalisten und
dem sündigen Politiker erneut. W.T. Stead startete sofort eine erneute Kampagne gegen Dilkes Rückkehr ins Unterhaus. Er schrieb Artikel und Broschüren
dagegen, veranstaltete Protestkundgebungen und sammelte Unterschriften von
Geistlichen.149 Ebenso protestierte Stead mit dramatisierenden Briefen an Gladstone, die Dilke unter anderem mit Jack the Ripper verglichen („he can no more
be regarded as a fit person for whom electors can vote or whom politicians can
recognize than Jack the Ripper“150). Konservative Zeitungen wie die Times
unterstützten ihn mit Kommentaren und dem Abdruck von Protesterklärungen
von Prominenten: Jeder, der wegen Ehebruchs juristisch überführt sei, dürfe
ebenso wenig in das öffentliche Leben zurückkehren wie jemand der Löffel geklaut habe.151 Stead beschuldigte in seinen Artikeln Dilke einerseits des Meineides, weshalb er kein Vertrauen verdiene. Andererseits zog er das in seiner Maiden-Tribute-Kampagne etablierte Narrativ des Kinderverführers heran, um ihn
zu diskreditieren („she was a child-wife of eighteen when he ruined her“).152
144
145
146
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148
149
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151
152
Times 24. 7. 1886, S. 11. Dilke sah sich gerade durch den Times-Artikel angespornt, doch zu
bleiben („It is quite impossible that I should do so after the Times article of to-day bidding me
to do so […]“). Dilke an James 24. 7. 1886, in: BL, Add. Ms. 49610:74.
Vor allem Chamberlain drängte ihn deshalb, ins Ausland zu gehen; vgl. Chamberlain an Dilke
27. 7. 1886, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 5/24/495.
Vgl. das umfangreiche Material, das er nach Juli 1886 zusammentrug, jetzt in den Ordnern in:
BL Dilke Papers, Add. Loan 119/1, 2 und 3.
Times 5. 12. 1887, S. 6; Times 5. 10. 1888, S. 6.
Times 6. 3. 1889, S. 8.
Vgl. etwa: W. T. Stead, Has Charles Dilke Cleared his Character? An Examination of the
Alleged Commission, o. D. (London 1891); ders., Private Morals and Public Life, in: Review
of Reviews, April 1891, S. 336.
Stead an Gladstone 17. 7. 1891, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:357. Vgl. auch Steads
Memorandum für Gladstone 10. 5. 1892, in: CAC, Sted 1/20.
Times 6. 3. 1891, S. 10 und 17. 6. 1891.
Zit. Stead, Has Charles Dilke cleared his Character?, S. 3.
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190
III. Ehebruch als Politikum
Offensichtlich fürchtete Stead, dass durch Dilkes Rückkehr ein Präzedenzfall
geschaffen würde, der Ehebruch oder ähnliche Normverstöße legitimierte und
dadurch auch anderen Politikern, denen mittlerweile ähnliches vorgeworfen
wurde, das Tor zur Fortführung der politischen Karriere öffnete.
Dilke gelang jedoch trotz dieser erneuten Kampagne 1892 der Einzug ins Parlament. Er gewann seinen Wahlkreis mit einem großen Vorsprung und konnte
ihn bis zu seinem Tod 1911 fünf Mal verteidigen. Steads Kampagne beantwortete er mit einer Grußadresse von fast 10 000 Unterschriften, die seinen Einzug
ins Parlament befürworteten.153 Das Wahlergebnis und die Bereitschaft der Liberalen, Dilke zu tolerieren, zeigte somit deutlich, dass die Beteiligung am Ehebruch zumindest langfristig als verzeihlich galt. Der Vorwurf des Ehebruches
hatte somit in keiner Weise eine ähnliche Ausgrenzungsfunktion wie die Homosexualität. Ebenso unterstrich das Wahlergebnis, dass selbst die Kampagnen
eines Starjournalisten wie Stead auf Dauer keine allmächtige Wirkung hatten.
Obgleich Dilke gelegentlich mit Reden an die Öffentlichkeit trat, blieb er allerdings ein Hinterbänkler, der nicht mehr als Minister berücksichtigt wurde.154
Dilkes Rückkehr in die Politik hatte damit eine neue Grenze des Tolerierbaren
geschaffen, die, wie noch zu zeigen sein wird, auch 1891 für den Irenführer
Charles Stewart Parnell galt: Ein Politiker mit dem Makel des Ehebruches durfte
in der Politik bleiben, aber eben nur in der zweiten Reihe.
Der Skandal um Charles Dilke trug somit entscheidend dazu bei, das Thema
Ehebruch im politischen Diskurs zu verankern. Insbesondere W. T. Stead versuchte nach dem großen Erfolg, den er 1886 mit Dilkes Rücktritt erreicht hatte,
dieses Moralpostulat generell im öffentlichen Raum zu verankern. So bekämpfte
er den konservativen Abgeordneten Francis Charles Hughes-Hallett, weil dieser angeblich eine Affäre mit der Schwester seiner Frau hatte.155 Ein vergleichbarer Skandal wie bei Dilke blieb jedoch nicht nur aus, weil Hughes-Hallett
weniger prominent war, sondern weil es zu keinem Scheidungsprozess kam.156
Zur Deeskalierung trug auch bei, dass Hughes-Hallett nach zusätzlichen finanziellen Unregelmäßigkeiten ins Ausland ging und darauf stillschweigend ein
Nachfolger gewählt wurde.157 Ebenso fließend waren 1886 die Übergänge zwischen dem Skandal um Dilke und dem Scheidungsskandal um das adligen Ehepaar Campbell, der denkbar große mediale Aufmerksamkeit erhielt. Obgleich
153
154
155
156
157
Times 17. 6. 1891, S. 5.
Diamond, Victorian Sensation, S. 134, erwähnt Dilkes Rückkehr ins Unterhaus mit dem Hinweis, die Times hätte ihn boykottiert und nie über seine Reden berichtet, was so nicht stimmt;
vgl. etwa Times 17. 12. 1895, S. 6 oder 9. 4. 1896, S. 7. Vgl. zum weiteren Lebensweg auch: Jenkins, Dilke, S. 385–404.
Vgl. dazu auch rückblickend: Stead, The Discrowned King, Nov. 1890, in: BL, Add Mss 56448:
108.
Lediglich ein Verleumdungsprozess gegen ein Blatt namens Society Herald entstand, das dem
Bruder der Liebhaberin Feigheit vorgeworfen hatte, weil er ihre Ehre nicht per Duell verteidigt habe; Times 5. 11. u. 16. 11. 1887, S. 10 u. 4.
Times 25. 3. 1889, S. 6.
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2. Die Verengung der moralischen Normen
191
die adligen Ehebruchsgeschichten keine politische Bedeutung im engeren Sinne
hatten, prägte gerade dieser Fall zusammen mit dem Dilke-Skandal das gesellschaftliche Selbstverständnis der späten 1880er Jahre.
Inwieweit diese Ehebruchsskandale das Selbstverständnis der spätviktorianischen Gesellschaft beeinflussten, lässt sich an drei Punkten bilanzieren. Die
Skandale trugen erstens mit dazu bei, dass die Ehe als Lebensform öffentlich
hinterfragt und diskutiert wurde. Vor allem die Westminster Review eröffnete
eine entsprechende Debatte, und die im Daily Telegraph im August 1888 aufgeworfene Frage an die Leser „Is marriage a failure?“ erhielt immerhin 27 000 Zuschriften. Dies zeigte das große Bedürfnis, diese anscheinend nicht mehr als unproblematisch angesehene Form des Zusammenlebens zu diskutieren.158 Bemerkenswerter Weise kamen viele Zuschriften von Frauen. Zweitens hatte der
Fall Dilke ebenso wie andere Scheidungsfälle öffentlich verdeutlicht, dass auch
bürgerliche Frauen der viktorianischen Zeit durchaus eigenständige sexuelle Bedürfnisse hatten und diese mitunter trotz ihrer Heirat auch jenseits der Ehe auslebten. Virginia Crawford wurde zwar einerseits als passives Opfer der männlichen Verführung gesehen, erschien aber zugleich, nicht zuletzt durch die Aufdeckung ihrer anderen Affären, als aktive Liebhaberin, die selbstbewusst die
männliche Doppelmoral anklagte. Obgleich Teile der Öffentlichkeit sie in traditioneller Weise als Hysterikerin ausgrenzten, galt sie nicht nur in der entstehenden Frauenbewegung als Vorbild. Auch ihre weitere publizistische Karriere belegt, dass sich derartige Frauen nicht einfach marginalisieren ließen.159 1889
brachte ein Mordprozess, bei dem eine Ehefrau genauso wie ihr Mann fremdgegangen war, die Diskussion erneut in die Öffentlichkeit, und abermals mobilisierte das Urteil die Frauenbewegung gegen die männliche Doppelmoral.160
Drittens führte der Dilke-Skandal zu einer erneuten Debatte darüber, inwieweit Presseberichte über Scheidungsprozesse zulässig seien und welche Folgen
sie für die Leser haben würden. Gerade prominente Freunde von Dilke – wie
William Gladstone und Kardinal Manning – traten in offenen Briefen mit Unterschriftensammlungen dafür ein, Details solcher Prozesse nicht mehr zu drucken, da die Zeitungen mittlerweile für Jugendliche ungeeignet seien.161 Die
Angst vor einer weiteren Diskreditierung der gesellschaftlichen Elite dürfte
ebenfalls für diesen Vorschlag gesprochen haben. Während die Times den Kompromissvorschlag der Regierung unterstützte, dass nur noch über das Ergebnis
der Prozesse berichtet werden dürfe, protestierte Stead aus genau diesem Grund
gegen entsprechende Einschränkungen. Eine derartige Zensur sah er als „euphe158
159
160
161
Vgl. Sheila Rosenberg, Encounters in the Westminster Review: Dialogues on Marriage and
Divorce, in: Brake und Codell (Hrsg.), Encounters in the Victorian Press, S. 119–137.
Letzteres betont: Kali Israel, French Vice and British Liberties: Gender, Class and Narrative
Competition in a Late Victorian Sex Scandal, in: Social History 22 (1997), S. 1–26.
Zum Maybrick-Prozess vgl. Georg Robb, The English Dreyfus Case: Florence Maybrick and
the Sexual Double-Standard, in: Erber und Georg Robb (Hrsg.), Disorder in the Court,
S. 57–77.
Times 3. 1. 1887, S. 8.
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192
III. Ehebruch als Politikum
mism to hush up scandals in high life“.162 In dieser Debatte sprach sich bezeichnender Weise auch Josephine Butler, der Kopf der britischen Frauenbewegung,
gegen eine Einschränkung der Berichterstattung über Scheidungen aus. In der
Veröffentlichung des Geheimen sah sie – ganz in der alten, religiös geprägten
Semantik des Öffentlichkeitsbegriffes – eine heilsame Kraft:
I believe we have arrived at that period of the world’s history when we see with our eyes
the fulfilment of Christ’s words: ,Beware ye of the heaven of the Pharisees, which is hypocrisy. For there is nothing covered which shall not be revealed; neither hid that shall
not be known. […]‘ At the first hit we see only the horror and evil effects of such exposure, but I truly believe that full light shed upon these things is an essential element for
their destruction.163
Selbst die explizite Benennung des Ehebruches sollte damit der Reinigung der
Gesellschaft dienen. Gerade diese religiös aufgeladene Vorstellung einer allwissenden Presse, die die Menschheit veredelte, prägte auch Steads Kampagnen.
Dass es trotz der Skandale Ende der 1880er Jahre zu keiner Einschränkung der
Öffentlichkeit kam – weder bei den Gerichtsverhandlungen noch in den Zeitungen – lag somit auch daran, dass die Scheidungsberichte eben nicht nur als
Zeichen des moralischen Verfalls gesehen wurden, sondern zugleich der moralischen Aufklärung und Kontrolle dienen sollten.
3. IRISH HOME RULE und Ehebruch
Ende der 1880er Jahre vermischten sich in Großbritannien die Stränge zahlreicher Skandale. Ein Knotenpunkt, an dem sie zusammenliefen, war der Ehebruchsskandal um den Irenführer Charles Stuart Parnell. Wie die breite Öffentlichkeit 1890 im Zuge eines Scheidungsprozess erfuhr, hatte Parnell gut neun
Jahre lang eine Liebesaffäre mit der Frau des liberalen Abgeordneten William
O’Shea gepflegt, mit dem er zunächst freundschaftlich verbunden war.164 Die
Enthüllung knüpfte damit direkt an den Skandal um Dilkes Ehebruch an und
griff die dort etablierten moralischen Maßstäbe und Vorstellungen auf. Er war
ebenso eine Replik auf die Homosexualitätsskandale, mit denen die Iren seit
dem Dublin Castle-Skandal ihre moralische Überlegenheit gegenüber den Engländern herauszustellen versuchten. Vor allem aber war der Skandal eine Fortführung jener Kampagne, die die Times 1887 gegen Parnell begonnen hatte, als
162
163
164
Times 4. 2. 1887, S. 9; Stead zit. nach: Schults, Crusader, S. 202.
Josephine Butler, Should Divorce Cases be Reported?, in: Pall Mall Gazette 25. 1. 1887,
S. 12.
Zu Parnells Biographie und zum Ablauf des Falles vgl. die populären, aber mit Aktenkenntnis
geschriebenen Darstellungen: Francis Steward Lyons, Charles Stewart Parnell, London
1977; Robert Kee, The Laurel and the Ivy. The Story of Charles Stewart Parnell and Irish
Nationalism, London 1993; Joyce Marlow, The Uncrowned Queen of Ireland. The Life of
Kitty O’Shea, London 1975. Weniger ergiebig ist der schmale populärwissenschaftliche Band:
Margery Brady, The Love Story of Parnell and Katherine O’Shea, Dublin 1991.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
193
sie ihm mit gefälschten Briefen eine Tolerierung von politischen Morden unterstellte.165 Während die vorherigen Skandale die Position der irischen Nationalisten erheblich gestärkt hatten, bescherte dieser Skandal ihnen einen fundamentalen politischen Rückschlag.
Beim Ehebruch-Skandal um Parnell war der sexuelle Normverstoß noch stärker als bei den vorherigen Skandalen mit politischen Kontroversen verknüpft.
Parnell galt Ende der 1880er Jahre längst als „uncrowned king“ Irlands. Wie
bereits skizziert, hatte Parnell zunächst als Vorsitzender der Irish Land League
die Landbevölkerung hinter sich gebracht, den irischen Nationalismus organisiert und im Unterhaus unter seinem Vorsitz die unterschiedlichen Strömungen
der irischen Nationalisten zu einer schlagkräftigen Irish Parliamentary Party
geeint. In dieser Rolle begann er die irische Home Rule auszuhandeln, die den
Iren eine verstärkte Autonomie bescheren sollte. Nachdem Gladstones Kabinett bereits 1886 wegen der Irlandfrage auseinander gebrochen war, versprach
der informelle Austausch zwischen Parnell und Gladstone nun Anfang 1890
eine gemeinsame Lösung, als der Skandal ausbrach.
Die politische Brisanz des drohenden Skandals ergab sich zudem aus der politischen Verflechtung der Liebesbeziehung. Der betrogene Ehemann William
O’Shea wusste bereits seit Anfang der 1880er Jahre von der Affäre, reichte aber
dennoch zunächst keine Scheidung ein, sondern drängte den Irenführer nur,
nicht mehr in seiner Abwesenheit das Haus zu betreten, „since it would be sure
at least, sooner or later, to cause scandal.“166 Parnell dementierte diese Vorwürfe
jeweils („I do not know of any scandal or any ground for one“), war sich aber
spätestens seit Dilkes Skandal der Gefahr bewusst. Die Drohung mit dem Skandal führte zu einem politischen Kuhhandel. Nahezu zeitgleich zum Dilke-Skandal begann Parnell öffentlich O’Shea zu fördern und verschaffte ihm trotz Protesten aus seiner Partei einen sicheren Wahlkreis, was dem Irenführer missmutige
Kommentare seiner Parteikollegen bescherte.167 Dass O’Shea nicht früher die
Scheidung einreichte, lag insofern sowohl an seinem politischen Opportunismus
als auch an seinem finanziellen Interesse an einer Erbschaft seiner Frau.168 Diese
165
166
167
168
Zu letzterem Fall vgl. ausführlich Kap. V. 1.
O’Shea an Parnell 4. 8. 1884, Antwort 7. 8. 1884, abgedruckt in Prozessberichten: Daily News
16. 11. 1890, S. 3.
Vgl. etwa zur öffentlichen Unterstützung O’Sheas die zeitgleiche Meldung: Pall Mall
Gazette 11. 2. 1886, S. 10. Zur Kritik etwa Dillon an O’Connor 8. 2. 1886, in: Trinity College
Dublin, NL Dillon Ms. 6740.
Letzteres Argument führten die Biographen von Parnell an: Der verschuldete O’Shea habe auf
eine Erbschaft von der Tante seiner Frau gewartet, um für eine Trennung ohne Prozess eine hohe
Summe auszuhandeln; Lyons, Parnell, S. 459. Dies Erbe führte jedoch auch Katherine O’Shea
ihrem Mann gegenüber an, als er eine stille Trennung 1886 anbot, verband dies aber mit „the risk
of consequences as far as my aunt is concerned“ und schloss Briefe damit ab: „I have to go to my
aunt in money matters.“ Briefe abgedr. in: Times 17. 11. 1890, S. 3. Ebenso zeigen dies neue Quellenfunde, die ich im Archiv der National Library in Dublin machte; vgl. K. O’Shea an W. O’Shea
17. 4. 1887, in: NLI, MS 35. 982. Allerdings verwies Mrs. O’Shea auch auf die politischen Absprachen: „I was sure there would be no end to their spite after your Galway success.“ K. O’Shea
an W. O’Shea, Mai 1886, abgedr. in den Prozessprotokollen, etwa: Daily News 16. 11. 1890, S. 3.
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194
III. Ehebruch als Politikum
wechselseitige politische Abhängigkeit betonte auch O’Shea offensiv, etwa in
einem Brief von 1887, nachdem sein Sohn Parnell im Haus seiner Mutter überrascht hatte: „You say what kind favours have been shown to me by Mr. Parnell
and you convey that I am under obligations to him. The fact is the absolute
reverse.“169 Denn spätestens nach Dilkes Skandal war auch O’Shea bewusst,
welches Drohpotential ein Ehebruchsskandal bergen konnte.
Die irischen Parlamentskollegen und Journalisten wussten frühzeitig um diese Liebesbeziehung und ihre politischen Konsequenzen. So schrieb der irische
Abgeordnete Timothy Daniel Sullivan bereits im Februar 1886 (also zeitgleich
zum Dilke-Skandal und Parnells Wahlkreisunterstützung für O’Shea), wenn
Parnell die Beziehung zu O’Shea nicht beende, gefährde dies seinen Vorsitz.
Ebenso zeigte sich die Angst, Irlands Schicksal hänge durch die Vermischung
von Privatem und Politischem von einer Frau ab: „I wish the party ruled by
Parnell but not by Mrs. O’Shea.“170 Andere Iren erwiesen sich toleranter und
beurteilten Parnells Liebesleben „as good or better than either of the gentlemen
usually spoken of as aspirants for his place“.171 Nicht akzeptabel erschien jedoch auch hier, wenn Politiker sich durch Frauen beeinflussen ließen.172 Premierminister Gladstone hingegen nutzte gerade dieses vertraute Verhältnis zwischen
dem Liebespaar und tauschte durch seine regelmäßige Korrespondenz mit
Katherine O’Shea indirekt Einschätzungen mit Parnell aus.173 Da in diesen
Briefen wesentliche Bestandteile einer künftigen Home Rule ausgehandelt wurden, agierte die Geliebte tatsächlich in einer erstaunlich wichtigen politischen
Rolle, da sie Parnells Sichtweisen indirekt übermittelte.
Bereits vor dem Scheidungsprozess deuteten einzelne Zeitungen die Affäre
an. Erneut spielte der Enthüllungsjournalist W.T. Stead eine herausragende Rolle. Seine Agitation gegen Parnell setzte fast zeitgleich zum Dilke-Skandal mit
vorsichtigen Anspielungen ein, die zumindest die Beteiligten und die politische
Elite verstanden. So berichtete Stead etwa am gleichen Tag, als er seine große
Kampagne zum Rücktritt von Dilke startete, unter der Überschrift „Confidence
in Mr. Parnell“, O’Shea beteuere „[...] his full and perfect confidence in the
patriotism, wisdom and fidelity of our great leader Mr. Parnell“.174 Das Treuebekenntnis war dabei durchaus doppeldeutig zu verstehen. Wenige Monate
danach meldete Stead unter der Überschrift „Mr. Parnell’s Suburban retreat“
einen kleinen Unfall von Parnell in Eltham: „During the sitting of Parliament
the Hon. Member for Cork usually takes up his residence at Eltham, a suburban
169
170
171
172
173
174
O’Shea an Pym 22. 4. 1887, in: NLI, MS 35. 982.
T.D. Sullivan an Joseph Biggar 11. 2. 1886, in: UCD, P 6 B 10.
Kenny an Dunne 14. 1. 1888, in: NLI, NL Dunne Ms 10946: 7.
Vgl. über O’Brien: „I think he is not too bad personally, but is one kind of those fellows to be
influenced by woman and rogues like Sal. [Salisbury].“ In: ebd.
Vgl. allein die gut 200 Briefe zwischen Gladstone und Mrs. O’Shea in: BL NL, Gladstone
Add. Mss. 44269, 75–313,
„[…] express his full and perfect confidence in the patriotism, wisdom and fidelity of our great
leader Mr. Parnell“ Pall Mall Gazette 13. 2. 1886, S. 9.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
195
village in the south-east London. From here he can often be seen taking riding
exercise round by Chislehurst and Sidcup.“175 Da viele Parlamentarier und
Journalisten wussten, dass in diesem Ort das Ehepaar O’Shea wohnte, war zumindest für diese Leser der Hinweis auf den „retreat“ und die „riding exercise“
doppeldeutig. Offensichtlich wollte Stead abermals einen Skandal auslösen,
ohne selbst als Skandalisierer aufzutreten oder das Risiko einer Falschmeldung
einzugehen. Es folgten weitere Artikel über Parnell und O’Sheas wandelndes
politisches Verhältnis. Parnell sah er als humorlosen, kühl kalkulierenden Kopf
(„a mystery-man of modern politics“), der einst mit einer Stimme Mehrheit gewählt worden sei – mit der von O’Shea. Heute seien die Iren dagegen unter
Parnell politisch vereint, nur eine kleine Meuterei sei durch O’Shea begonnen
worden, die Parnell aber gleich beendet habe.176
Durch diese spielerischen Andeutungen versuchte Stead 1886 zweifelsohne,
eine Reaktion der beteiligten Politiker herauszufordern. O’Shea stellte nach
dem Artikel im Mai tatsächlich sofort seine Frau zur Rede, und auch Parnell
musste sich ihm gegenüber mit der Ausrede rechtfertigen, er besitze neuerdings
Pferde in dieser Gegend. O’Shea verzichtete jedoch abermals auf einen Scheidungsprozess, gab aber seinen Parlamentssitz auf, den er Parnell verdankte. Um
von weiteren Artikeln verschont zu bleiben, sprach O’Shea Ende 1886 persönlich mit Stead und versicherte ihm, das Gerücht über die Affäre würde nicht
stimmen.177 Stead stoppte daraufhin die Andeutungen über den Ehebruch. Wie
im Fall Dilke war der Journalist anscheinend durch einen persönlichen Austausch zumindest phasenweise zu besänftigen. Zurückhaltender als bei Dilke
war Stead aber sicherlich auch, weil er die Home Rule unterstützte.
Die anderen großen Zeitungen hielten sich mit Andeutungen über Parnells
Ehebruch 1886 ganz zurück. Nur wenige Blätter gaben vorsichtige Hinweise.
Die Sussex Daily News berichtete Anfang Oktober 1886, dass Parnell mit Frau
O’Shea in Eastbourne war.178 Ebenso bezeichnete ein Freund von Tim Healy,
dem wichtigsten Parnell-Rivalen, ihn in der New York Times als „the despicable creature for whom Mr. Parnell in his ruinous infatuation created that ruinous split in the Irish party at Galway three years ago.“179 Selbst die Times, die
wohl politisch hartnäckigste Gegnerin des Irenführers, beteiligte sich an dem
erpresserischen Spiel nur ausnahmsweise, indem sie andeutete, dass Parnell sich
unter falschen Namen ein Haus gemietet hatte und nach den Gründen dafür
fragte.180 Ihr Kommentar verband dies zwar nicht mit dem Hinweis, dass es
dem Treffen mit seiner Geliebten diente, stellte aber immerhin anspielungsreich
175
176
177
178
179
180
Pall Mall Gazette 24. 5. 1886, S. 8.
Pall Mall Gazette 21. 12. 1886, S. 1.
So Stead, The Discrowned King, S. 10, in: BL, Add Mss 56448: 109. Review of Reviews Nov.
1890, S. 599–601.
Sussex Daily News 9. 10. 1886. Vgl. hierzu die Prozessberichte in: Daily News 16. 11. 1890,
S. 3.
New York Times 26. 10. 1888, zit. nach: Callanan, T. M. Healy, S. 243.
Times 26. 11. 1887, S. 9.
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III. Ehebruch als Politikum
fest: „Mr. Parnell’s passion for retirement is well known […].“ Soweit ersichtlich, gingen jedoch selbst die Home-Rule-feindlichen Zeitungen den Gerüchten nicht nach.
Die Skandalisierung des Ehebruches stieß somit auch nach dem Dilke-Skandal
noch keine eigenständigen journalistischen Recherchen an. Solange der Ehebruch
nicht dem Scheidungsrichter gemeldet wurde, blieb er von der Medienöffentlichkeit
weitgehend geschützt. Einmal mehr zeigte sich, wie eng Skandale und Prozesse
zusammenhingen. Der Journalist W.T. Stead schien dennoch weiterhin über eine
Enthüllung von Parnells Ehebruch nachzudenken. Zumindest ist ein Brief von
Reginald Brett überliefert, der Steads Gewissen prüft: „Are you sure about your
ethical position (?) What higher obligation has man to man than to help him to
save his life or his reputation (?) If Parnell was a woman, would you keep silence?
Perhaps you alone have the clue which will help him to prove his innocence. This
you deny him. Can you justify it?“181 Tatsächlich blieben entsprechende Enthüllungsartikel aus. Anscheinend ließ Stead sich überzeugen, dass ein erneuter Ehebruchskandal moralisch nicht vertretbar sei, was abermals die Grenzen des angeblich zügellosen Sensationsjournalismus deutlich machte.
Dies ist umso bemerkenswerter, da von Seiten der Unionisten zunehmend
Gerüchte über Parnells Affäre kursierten, was nicht zuletzt an O’Shea selbst lag.
Denn dieser intensivierte in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre seinen Kontakt
zu Joseph Chamberlain, der zu den schärfsten Gegnern von Parnells Home
Rule-Politik gehörte.182 Nicht nur der einstweilige Fortbestand der Ehe, sondern auch der Ausbruch des Skandals war folglich mit politischen Entwicklungen verbunden. O’Shea versorgte Chamberlain frühzeitig mit kompromittierenden Informationen über Parnell.183 Unmittelbar nach O’Sheas Aussage gegen Parnell in dem Untersuchungsausschuss zu den Times-Vorwürfen weihte
O’Shea Chamberlain nicht nur ein, sondern bat ihn, vorerst diese Vorwürfe
nicht zu publizieren, bis das Erbe einer 98 Jahre alten Tante für die Kinder gesichert sei.184 Chamberlain gab sein Wissen anscheinend informell dennoch an
181
182
183
184
Es ist allerdings nicht ganz klar, ob dies auf die Liebesaffäre oder die Kampagne der Times
bezogen ist; der Hinweis auf „If Parnell was a woman“ spricht m.E. für ersteres; Brett an Stead
17. 10. 1888, in: CAC, Sted 1/25.
Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen Chamberlain und O’Shea in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1. Vgl. zudem die Briefe, die über vertrauliche Treffen seit
1881 berichten, in: NLI, Ms 5752.
So denunzierte er 1885 Parnell, dieser würde Dynamitanschläge nicht ablehnen; O’Shea an
Chamberlain 2. 3. (1885), in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/38. Ende 1887
kam O’Shea zu Labouchere und las ihm Briefe von Parnell vor, dessen Inhalt laut Labouchere
„rather compromising“ sei; wohl aber nicht zur Liebesaffäre; Labouchere an Dilke 30. 12. 1887,
Abschrift, in: BL, NL Dilke Add. Ms. 43940:169. 1888 trafen sich Chamberlain und O’Shea
nach O’Sheas Aussage vor der Parnell-Commission, da er noch „other causes of anxieties“
habe; Chamberlain an O’Shea 2. 11. 1888, in: NLI, Ms. 5782.
O’Shea an Chamberlain 3. 11. 1888, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/115.
O’Shea teilt hier vor seiner Abreise Chamberlain mit, dass seine Frau und Parnell schriftlich versichert hätten, keinerlei Kontakt zu haben: „I daresay a great many people have some notion of
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
197
Journalisten weiter. Ein Journalist von der Daily Post berichtete etwa später,
Chamberlain habe ihm auf die Frage geantwortet, warum Parnell O’Shea bei
seinem Wahlkreis unterstütze: „Oh, he sleeps with O’Shea’s wife.“185 Auch
Henry Labouchere, dessen Blatt The Truth bei vielen Skandalen eine entscheidende Rolle spielte, erfuhr von Chamberlain „rather compromising“ Neuigkeiten über Parnell.186 Alfred Robbins von der Birmingham Daily Post erinnerte
sich später, unionistische Politiker hätten ihn bereits Monate vor dem offiziellen
Einreichen der Scheidung gefragt, welche Folgen wohl ein Scheidungsprozess
für Parnell haben würde.187 Ob Chamberlain O’Shea im Rahmen dieser Vertraulichkeiten durch einen Kredit und die fortgesetzte Diskreditierung von
Parnell entgegen kam oder ihm sogar einen Unterhaussitz versprach, kann nicht
geklärt werden.188 Zumindest informiert O’Shea gleich nach dem Tod der
reichen Tante Chamberlain über seine Scheidungspläne und die bevorstehende
„full publicity of a scandal.“189 Dazu schickte er Chamberlain gleich Abschriften
von Briefwechseln mit seiner Frau und Parnell.
Der Weg zur irischen Selbstverwaltung, die Gladstone gerade mit Parnell aushandelte, wurde folglich durch das Bündnis eines betrogenen Ehemannes mit
einem radikalen Gegner der Home Rule unterlaufen. Chamberlain bekräftigte
O’Shea darin, statt einer außergerichtlichen Lösung einen Scheidungsprozess zu
führen, der den Sturz von Parnell und der Home Rule versprach. Chamberlain
begründete dies damit, dass derartiges in Zeiten der Pall Mall Gazette und des
Star ohnehin nicht geheim gehalten werden könnte.190 Obgleich die Politiker
die Presse verantwortlich machten, resultierte der Skandal somit durchaus auch
aus einer politischen Intrige der Unionisten, die so ihr wichtigstes politisches
Ziel durchsetzen wollten – die Verhinderung eines unabhängigen Irland. Der
Zeitpunkt an dem O’Shea die Scheidung einreichte und so die Liebesaffäre in
die Medien brachte, belegte dies ebenfalls: Dies erfolgte fast zeitgleich mit dem
Treffen von Gladstone und Parnell am 18./19. Dezember 1889, als Gladstone
hochzufrieden die baldige Umsetzung der Home Rule erwartete.191
185
186
187
188
189
190
191
the state of affairs, but I am most anxious for my children’s sake that nothing should be actually
published, because of the very large fortune for them depend upon its not coming into print.“
An Gladstone 22. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 57. Der gleiche Journalist
berichtete von dem Klatsch eines Lords darüber, dass Parnell immer die Rechnung bei O’Sheas
Kaufmann begleiche, wenn er dort sei.
Was dies meinte, blieb Dilke gegenüber offen; Labouchere an Dilke 30. 12. 1887, in: BL, NL
Dilke Add. Ms. 43940:169.
Alfred Robbins, Parnell. The Last Five Years, London 1926, S. 132 f.
Zum Kredit: O’Shea an Chamberlain 23. 2. 1891, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC
8/8/1/153. Den Kredit erwähnte mit Verweis auf die Erinnerung von Chamberlains Sohn bereits: Judd, Radical Joe, S. 145.
O’Shea an Chamberlain 13. 10. 1889, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/127.
„I fear that these things can not be hushed up in the days of the ,P.M. Gazettes‘ and ,Stars‘ and
I am not sure that the boldest course is not always the wisest.“ Chamberlain an O’Shea
14. 10. 1889, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/129. Parnell selbst vermutete
ebenfalls Chamberlain als treibende Kraft; Callanan, Healy, S. 243.
Zum Treffen mit Parnell: Matthew, Gladstone, S. 563.
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198
III. Ehebruch als Politikum
Dementsprechend divergierten die Zeitungsberichte über den bevorstehenden Scheidungsprozess je nach der politischen Ausrichtung. Die erste Meldung
erschien, offensichtlich dank interner Hinweise, in dem Tory-Blatt Evening
News Ende 1889. O’Shea gewährte ihm sogar ein Interview, bei dem er auf Nachfrage das Gerücht bestätigte, von dem der Reporter angeblich gerade erfahren
hätte.192 Dieser Auftaktbericht war somit arrangiert. Während die konservativen Blätter bereits jetzt Parnells Schuld betonten und seinen Rücktritt forderten, äußerten sich die liberalen Zeitungen sehr zurückhaltend. Die Daily News
vermerkte etwa nur knapp eine gewöhnliche Prozessankündigung. Auch die
moralistischen liberalen Zeitungen, die eigentlich als „Sensationsblätter“ galten,
hielten sich stark zurück. Die Pall Mall Gazette sah in den Scheidungsberichten
nur den Versuch der Unionisten, den Schaden aus der fehlgeschlagenen Skandalisierung Parnells durch die Times wettzumachen. Auf eine gesonderte Berichterstattung hierzu verzichtete sie.193 Reynolds’s Newspaper meldete zwar das
Gerücht, dass Parnell vorläufig zurücktreten wolle, berichtete dann aber von
zahlreichen Zuschriften an Parnell, die seinen Verbleib forderten.194 Und Henry
Labouchere trat in seinem vermeintlichen Sensationsblatt The Truth für eine
Änderung des Scheidungsrechtes ein, das moderne Züge aufwies: Wenn zwei
Partner sich scheiden wollen, sollten sie zwei Jahre getrennt leben und sich über
die Zukunft etwaiger Kinder einigen.195 All dies zeigte, dass bei diesen Zeitungen politische Standpunkte wichtiger waren als moralische Empörung und
kommerzielle Interessen. Die pro-irischen Blätter, wie der Star und das
Freeman’s Journal, sahen direkt eine Verschwörung der irenfeindlichen Presse
und verglichen in ihren Artikeln O’Shea mit der vorherigen Kampagne der
Times gegen Parnell, deren gefälschte Quellen entlarvt worden waren.196 Die
Times selbst hielt sich dagegen nach ihrer vorherigen Niederlage gegen Parnell
ganz zurück. Erst mit Verspätung meldete sie unter Bezug auf eine Nachrichtagentur in einem Fünfzeiler, Parnell sei als co-respondent im Prozess O’Shea
genannt.197 Intern witterte die Times jedoch in dem einsetzenden Skandal ihre
große Chance, ihre im Parnellism-and-Crime-Prozess verlorene Reputation
wieder zu gewinnen.198
Parnell selbst ging sofort in die Offensive. Per Interview wies er im irischen
Freeman’s Journal alle Schuld zurück und bezeichnete den Fall als eine erneute
Intrige der Times. Wie bei den gefälschten Briefen hätte der Times-Journalist
192
193
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195
196
197
198
Evening News and Post 28. 12. 1889.
Pall Mall Gazette 1. 1. 1890, S. 2 u. 14. 1. 1890, S. 4; Daily News 1. 1. 1890, 15. 1. 1890, S. 7
und 2. 2. 1890, S. 6.
Reynolds’s Newspaper 5. 1. 1890, S. 5; Reynolds’s Newspaper 12. 1. 1890, S. 5.
Zit. in: Star 1. 1. 1890, S. 2.
Star 6. 1. 1890; zur Kampagne der Times vgl. Kap. V. 1. Für den Vergleich mit dem Fälscher
Pigott mussten sich diese Blätter vor Gericht verantworten; vgl. Times 22. 1. 1890, S. 3.
Times 3. 1. 1890, S. 6.
Vgl. etwa: Times-Anwalt Morley an Harcourt 3. 2. 1890, der „horrid exposure“ erwartete; zit.
nach: Marlowe, Uncrowned Queen, S. 218.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
199
Houston diese eingeleitet.199 Gerade weil den konservativen Medien nach der
gescheiterten Parnellism and Crime-Skandalisierung Lügen zugetraut wurden
und Parnell durch die Entlarvung der falschen Beschuldigungen an Ansehen
gewonnen hatte, wirkte seine Aussage glaubwürdig. Auch intern versicherte er
seinem politischen Umfeld, dass er siegreich aus dem Prozess herausgehen würde. Nach den zahlreichen Berichten Anfang 1890 hielten sich die Zeitungen bis
zum Scheidungsprozess im November zurück. Damit zeigte sich erneut, dass
die Zeitungen selbst in dieser Phase nicht eigenständig nach Sensationen recherchierten, sondern auf die bequem druckbaren Gerichtsberichte warteten.
Intern spekulierten Politiker und Journalisten vor allem darüber, ob Parnell
im Falle seiner Überführung zurücktreten müsse. Auch wenn sie mehrheitlich
in diesem Fall seinen Rücktritt annahmen, erschien dies keineswegs selbstverständlich.200 Gegenüber seinem Parlamentskollegen versicherte Parnell bis kurz
vor dem Prozess, er werde ihn unbeschadet überstehen. Vielleicht lag sein Optimismus darin begründet, dass er bis zuletzt glaubte, den betrogenen Ehemann
durch eine hohe Summe von einem Prozess abzuhalten. Angeblich erhielt
O’Shea noch am Morgen des Prozesstages ein indirektes Angebot von 60 000
Pfund, während er sich andererseits von Schlägern bedroht fühlte, die ihn belauern würden.201 O’Shea informierte über derartiges fortlaufend den Unionistenführer Chamberlain und streute jedes Gerücht und Detail der Prozessvorbereitung in die politische Sphäre der Irengegner.202 Privates und Politisches blieben
damit eng verbunden.
Der eigentliche Skandal setzte abermals erst mit dem Scheidungsprozess ein.
Trotz des Zuschauerandranges sicherte das Gericht für möglichst viele Journalisten Plätze.203 Berichte über Parnells Ehebruch waren offensichtlich erwünscht. Tatsächlich fielen sie wieder expliziter aus als erwartet. Die Leser aller
Zeitungen erfuhren über die abgedruckten Prozessaussagen, dass Parnell sich
mit Katherine O’Shea sowohl in ihrem Haus als auch in fremden Wohnungen
regelmäßig getroffen hatte, sich falsche Namen zulegte und vom Ehemann, seinem Sohn und dem Dienstpersonal gelegentlich überrascht worden war. Die
zahlreichen Briefe, die im Prozess verlesen und in den Zeitungen abgedruckt
wurden, veranschaulichten ebenso die lange währende Affäre. Sie zeigten abermals eine bürgerliche Frau aus einer angesehenen Familie, die selbstbewusst
über mehrere Jahre ihren Ehemann betrogen und dies mit ihrem Mann recht
offen besprochen hatte. Das Gericht bewilligte schließlich die Scheidung und
sprach Katherine O’Shea des Ehebruchs mit Parnell schuldig. Da Parnell selbst
199
200
201
202
203
Freeman’s Journal 30. 12. 1889, S. 5.
Vgl. zu den internen Einschätzungen von Brett, Stead, Dillon, Lewis u. a. Tagebuch Brett 7. 1.,
23. 1., 31. 1. 1890, abgedr. in: Brett (Hrsg.), Journals and Letters, S. 140–142.
So zumindest: O’Shea an Chamberlain 15. 12. 1890 in: Univ. Birmingham Special Collection,
JC 8/8/1/152.
Vgl. die Korrespondenz, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/127 bis 157.
Daily News 16. 11. 1890, S. 3. Die exzellenten Bedingungen für Reporter betonte auch: Pall
Mall Gazette 15. 11. 1890, S. 4.
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200
III. Ehebruch als Politikum
nicht vor Gericht erschien, blieb seine Verteidigung unter Eid wie bei Dilke
aus.
Als das zentrale Bild des Skandals erwies sich der Bericht, Parnell sei, als der
Ehemann einmal überraschend nach Hause kam, über die Feuerleiter aus dem
Schlafzimmer geflüchtet. Der Hinweis auf die „Feuerleiter“ verdichtete in allen
folgenden Debatten die Vorwürfe, den Spott und die Empörung über Parnell.
So notierte Reginald Brett: „It is trying to think of the Leader of the Irish People
flying from the avenging O’Shea down a fire escape.“204 Gerade die Banalität
dieser Flucht unter falschem Namen („Mr. Fox flying down the Fire-Escape“),
die an einen Groschenroman erinnerten, schmälerte Parnells Reputation. Zugleich verwies das Bild direkt auf den sexuellen Akt zu, ohne ihn wörtlich zu
benennen.
Im Vergleich zum Dilke-Skandal zeigte sich, wie sehr sich seit der HomeRule-Krise von 1886 nicht nur die Parteienlandschaft verschoben hatte, sondern
auch die moralischen Maßstäbe der Medien klarer Parteilinien folgten. Dass traditionell konservative Zeitungen Parnells Handeln moralisch verdammten und
seinen sofortigen Rücktritt forderten, war wenig überraschend. Auch die regierungsnahe Times, die sich zunächst mit Kommentaren zurückgehalten hatte,
forderte nun vehement Parnells Niederlegung der Parteiführung, da dieses Amt
nicht mit dem „grave personal discredit“ des Ehebruchs vereinbar sei.205 Dabei
bediente sie sich zweierlei Argumentationsfiguren: Einerseits verband sie Parnells privates Verhalten mit seiner politischen Arbeit, die ebenso auf Lügen,
falschen Namen und dem Betrug des Parlamentes basieren würde. Andererseits
griff sie die katholischen Iren insgesamt an, weil sie hohe Moralmaßstäbe beanspruchten, aber jemanden wie Parnell als Anführer hätten.206 Ebenso verlangte
der nunmehr konservative Daily Telegraph, der bei Dilkes Skandal noch vehement die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre eingefordert hatte, entschieden Parnells Rückzug aus dem öffentlichen Leben, da private Vergehen
immer politisch relevant seien und andere Politiker vor ihm ebenfalls deshalb
zurücktreten mussten.207 Die Leserbriefe zeigten ähnliche Wertungen. „I hold
strongly to the doctrine that a man cannot be cut into two halves; one labelled
public and the other private. [...] The man who deceives in private life will deceive in public“, schrieb etwa ein Leser in der Pall Mall Gazette.208 Dies bedeutete das Ende eines privaten Freiraumes für herausragende Politiker.
Dennoch wäre es falsch, für das letzte viktorianische Jahrzehnt einen umfassenden Sieg der strengen Moralisten auszumachen. Obgleich auch die liberale
Presse zunehmend Parnells Rücktritt forderte, war ihre moralische Argumenta-
204
205
206
207
208
Eintrag Tagebuch Viscount Esher 19. 11. 1890, in: CAC, ESHR 2/8.
Times 18. 11. 1890, S. 9.
Ebd.
Daily Telegraph 17. 11. 1890, S. 4. Der Daily Telegraph begann in dieser Zeit, sich als konservative Zeitung zu profilieren.
Vgl. Leserbriefe in: Pall Mall Gazette 19. 11., 20. 11., 21. 11. 1890, S. 2 f.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
201
tion differenzierter. Das zeigte sich selbst bei der Pall Mall Gazette, die ausführlich über das zulässige Verhalten von Politikern räsonierte. Das Blatt, bei dem
Stead gerade ausgestiegen war, betonte erstaunlich tolerant, ein Politiker brauche kein Examen eines Bischofs, bevor er Minister würde. Nicht jeder Politiker,
dessen Liebesleben nicht ganz tadellos sei, müsse sich aus dem öffentlichen
Leben zurückziehen. Parnell habe jedoch diese Grenze überschritten: „when a
man has been proved guilty of treachery, deceit, and cruelty, sufficient to drum
him out of public life – he should not be pardoned.“209 In den folgenden Tagen
differenzierte die Pall Mall Gazette diese Argumentation weiter, auch mit Blick
auf historische Präzedenzfälle. Zu unterscheiden sei zwischen dem überführten
Ehebruch und der verzeihlichen nichtehelichen Verbindung, wie sie etwa Admiral Horatio Nelson mit Lady Emma Hamilton eingegangen sei. Die früheren
Premierminister Melbourne und Palmerston hätten auf jeden Fall zurücktreten
müssen, wenn das Gericht ihnen einen Ehebruch nachgewiesen hätte.210 Der
nicht-ehelichen Sexualität wurden damit also weiterhin gewisse Spielräume eingeräumt, solange der Ehebruch nicht gerichtsnotorisch wurde. Allerdings sollte
sowohl die Ehe als auch das Vertrauen in den Politiker durch die Vermeidung
von Lügen in der Privatsphäre geschützt werden.
Wie bei den meisten Skandalen trat damit bereits in viktorianischer Zeit das
Sexualdelikt rasch hinter den Anspruch, ein Politiker müsse stets die Wahrheit
sagen. Besonders der ausführlichste Artikel zu dem Skandal, der in der Fortnightly Review unter dem Titel „Public Life and Private Morals“ erschien, zeigte
diese gewisse Toleranz gegenüber der außerehelichen Sexualität. Er sah die Ehe
als einen zivilen Vertrag an, weshalb ein Politiker allenfalls zurücktreten müsse,
wenn der Scheidungsprozess seine Doppelmoral bloßlege oder andere Politiker
deshalb nicht mehr mit ihm verhandelten.211 Da Parnell weder als Heiliger aufgetreten noch als Verhandlungspartner inakzeptabel sei, wäre der Scheidungsprozess seine reine Privatangelegenheit. Ebenso sah der irenfreundliche linksliberale Star den Prozess als Parnells persönliche Privatangelegenheit an, die
jetzt nur von der „Pigottist Press“ parteilich benützt würde. Der eigentliche
Skandal sei jedoch die korrupte und brutale Unterdrückung der Iren.212
Eine ähnliche Argumentation, die eine gewisse Toleranz in Sexualfragen aufwies, zeigen selbst W. T. Steads interne und öffentliche Schriften. Er argumentierte Gladstone gegenüber, Ehebruch an sich sei verzeihlich wie ein „Extraglas
Brandy.“ Nicht verzeihlich sei es aber, wenn der Ehebruch in eine Doppelzüngigkeit eingebettet sei, die Vertrauen zerstöre. „This is not an affair of adultery,
it is an affair of confidence [...]“ resümierte er entsprechend. Auch in anderen
Schriften bezeichnete er Vertrauen als das Grundelement der Politik, das auf
209
210
211
212
Pall Mall Gazette 15. 11. 1890, S. 1.
Pall Mall Gazette 19. 11. 1890, S. 1.
Fortnightly Review 1. 2. 1891, S. 213–228.
Star 18. 11. 1890, S. 1.
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202
III. Ehebruch als Politikum
diese Weise zerstört würde.213 Die Lüge gegenüber seinen irischen Parteikollegen sei deshalb schlimmer als der Ehebruch.214 Hätten Lord Nelson oder Wellington ihre Liebesaffären in den öffentlichen Raum getragen, hätten sie, so
Stead, ebenfalls zurücktreten müssen.215 Zumindest eine Liebesaffäre im Geheimen erschien somit selbst dem moralistischen Starjournalisten tolerierbar. In
den „smoking rooms of the clubs“, so Stead in einem langen Artikel, würden die
meisten Politiker mit Frauen in Verbindung gebracht, ohne dass die Öffentlichkeit davon erführe. Er selbst habe längst von Parnells Verhältnis gewusst, und
bei seinem Irlandbesuch 1886 oder im direkten Gespräch mit O’Shea im selben
Jahr dies angesprochen.216 Damit stilisierte sich Stead, wie auch bei anderen
Skandalen, scheinheilig als Wächter und Drahtzieher, der keineswegs leichtfertig Sensationen verbreitete.
Stärker noch als bei anderen Skandalen sah sich der Journalist dabei als „uncrowned king“, der über Regierungen entschied.217 Stead führte mit wichtigen
Repräsentanten der Öffentlichkeit Vorgespräche und drohte dann Gladstone
mit einer rigorosen Kampagne, wenn er nicht für Parnells Rückzug sorge.218
Als Parnell am nächsten Tag immer noch nicht zurückgetreten war, drohte
Stead Gladstone erneut, diesmal mit der Mobilisierung der nonkonformistischen Wähler, und begann dann seinen öffentlichen Feldzug.219 Eine von ihm
verfasste Broschüre, die auch Pressestimmen enthielt, verschickte er an alle Abgeordneten und an alle katholischen Geistlichen, um sie für Parnells Sturz einzunehmen.220 Damit agierte der Journalist unverkennbar weniger als Berichterstatter, sondern wie eine puritanische pressure group, um sein politisch-moralisches Ziel per Kampagne zu erreichen. Zugleich nahm der Journalist Parnell
selbst in gewisser Weise in Schutz, indem er Katherine O’Shea als die eigentlich
Schuldige ausmachte. Formulierung wie „the werewolf-woman of Irish politics
can not be shaken off“221 verrieten erneut die Angst vor der übermächtigen
Frau, die durch ihre sexuelle Anziehungskraft den Kurs der Politik bestimmen
könnte.
Eine differenzierte moralische Haltung zeigten die damaligen Spitzenpolitiker. William Gladstone war wie beim Dilke-Skandal entschlossen, wegen einer
213
214
215
216
217
218
219
220
221
Stead an Gladstone 19. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 19. Stead, The Discrowned King, S. 10; ein Exemplar hiervon ist in: ebd.
Review of Reviews Dez. 1890, S. 602.
So Stead in: Daily Chronicle 21. 11. 1890; Manuskript in: BL, NL Gladstone Add Mss
56448: 31.
Review of Reviews Dez. 1890, S. 598–608.
Den Journalisten als „uncrowned king“ hatte er wenige Jahre zuvor propagiert: Stead,
Government by Journalism.
Stead an Gladstone 19. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 19.
Stead an Gladstone 20. 11. 1890, in: BL, NL Gladstone Add Mss 56448: 30.
Die verschickte Schrift hieß: William T. Stead, The Discrowned King of Ireland. With Some
Opinions of the Press on the O’Shea Divorce Case; etwa in: Stead an Gladstone 25. 11. 1890,
in: BL, Add Mss 56448: 108.
Stead in Review of Reviews Dez. 1890, zit. in Marlow, Uncrowned Queen, S. 259.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
203
Liebesaffäre weder einen wichtigen Politiker noch sein großes politisches Ziel
aufzugeben – die Home Rule. Wie sehr Gladstone mit sich rang, zeigen seine
langen privaten Memoranden, die er zur Sortierung seiner Gedanken verfasste.
Diese persönlichen Aufzeichnungen dokumentieren, wie beim Dilke Skandal,
die überraschend große moralische Toleranz des gläubigen Politikers, der jedoch für eine Trennung von privater und öffentlicher Sphäre eintrat. Als Parteiführer sei es nicht seine Aufgabe, ein persönliches Urteil über das moralische
Verhalten anderer Parteivorsitzender oder Parteimitglieder zu bilden. Er könne
nur abwägen, was am besten für die Politik sei, aber die irische Partei müsse
entscheiden. Am besten für die Home Rule sei allerdings angesichts der öffentlichen Meinung, so stellte er fünf Tage nach dem Prozess fest, Parnells Rücktritt.222 Deutlich wird hier ein politisches Selbstverständnis, dessen moralische
Bewertung sich an der Medienöffentlichkeit orientierte. Ähnlich wie Stead erinnerte sich Gladstone bei seiner Meinungsbildung an frühere Skandale, wie die
Dublin Castle-Affäre und die damals von O’Brien aufgestellte Forderung, für
das Vertrauen in Politiker sei moralischer Anstand nötig.223 „Vertrauen“ etablierte sich somit als eine Grundanforderung an Politiker, gerade indem Skandale die Reputation bedrohten.
Die konservative Regierung sah den Parnell-Skandal als ein Geschenk an die
Unionisten und deren Politik an. Dennoch zeigte auch der konservative Premierminister Salisbury intern eine abwägende Haltung darüber, in welchem
Verhältnis private und öffentliche Sphäre stehen sollten: „They have raised one
of the most difficult questions in political ethics – how far are you justified in
refusing co-operation with a man because in other fields of action, he has done
disgraceful things“, notierte Salisbury.224 Auch sein späterer Nachfolger Arthur
Balfour äußerte gegenüber Stead, im Vergleich zu Parnells politischem Handeln
sei der Ehebruch für ihn nur von untergeordneter Bedeutung.225 Diese Stimmen
deuten zumindest an, dass in den politischen Führungszirkeln auch in der spätviktorianischen Zeit kein Konsens darüber bestand, dass ein Ehebrecher prinzipiell keine herausgehobene Stellung einnehmen dürfe. Ehebruch allein schien
kein hinreichender Grund für einen Rücktritt zu sein.
Vor allem die irische Öffentlichkeit hielt trotz ihrer katholischen Prägung
und ihrer entsprechend rigiden Ehevorstellungen erstaunlich lange an Parnell
fest. Zunächst waren viele irische Nationalisten überzeugt, es handele sich um
eine politische Kampagne gegen Parnell, weshalb „every decent man“ mit ihm
sympathisieren würde und er den Prozess überstehe. Erst das Gerücht, Parnell
wolle die Scheidung, um Katharine O’Shea zu heiraten, ließ erste Bedenken
über die politischen Folgen aufkommen, zugleich erschien Parnells Heirat aber
222
223
224
225
Vgl. Eintrag 17. 11. 1890, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 337 f.; ähnlich
auch: 21. 11., in: BL, Add Mss NL Gladstone 56448: 45.
Vgl. Eintrag 17. 11. 1890, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 338.
Zit. in: Steele, Lord Salisbury, S. 213.
Balfour an Stead 22. 11. 1890, in: CAC, Sted 1/4.
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204
III. Ehebruch als Politikum
als Rettung.226 Das irische Freeman’s Journal bekräftigte selbst nach dem Prozess, Parnell werde keineswegs auch nur zeitweise zurücktreten, auch wenn die
„Pigottist’s Press“ dies hoffe. Parnell sei nur als Politiker interessant, während
das Privatleben nicht zu interessieren habe, zumal er selbst hierüber schweige.227 Da Parnell ein Protestant sei, gelte auch nicht das Urteil der katholischen
Geistlichen Irlands, sondern nur das aller Iren. Der ehelichen Untreue stellte
das Blatt Parnells Treue zu Irland entgegen, die entscheidender sei. Ebenso bekundeten führende Parteimitglieder intern und öffentlich ihr Vertrauen in Parnell. Somit nahmen die irischen Nationalisten moralisch einen überraschend liberalen Standpunkt ein und wählten Parnell zehn Tage nach dem Prozess wieder
zum Fraktionsvorsitzenden.228
Dennoch führte der Skandal zu Parnells Sturz. Ein wichtiger Grund dafür
war sicher Gladstones Entschluss, Parnell müsse zum Gelingen der Home Rule
seinen Parteivorsitz niederlegen, was auch in der liberalen Presse einen Meinungsumschwung einleitete. Selbst der Star forderte am gleichen Tag Parnells
Rückzug zum Wohle Irlands, nicht ohne seine Verdienste zu würdigen.229 Zum
endgültigen Sturz von Parnell trugen drei weitere Formen der öffentlichen Empörung bei. Erstens kam es zu starken öffentlichen Protesten von Seiten der
Nonkonformisten. Ihre Geistlichen und allen voran der bekannte Methodist
Hugh Price Hughes sprachen sich in Gottesdiensten und Massenversammlungen gegen Parnell aus, was wiederum viele Zeitungen als Argument für seinen Rücktritt werteten.230 Zugleich machten die Nonkonformisten durch zahlreiche Leserbriefe ihren kompromisslosen Standpunkt deutlich: „Men legally
convicted of immorality will not be permitted to lead the legislation of the kingdom“, schrieb etwa der Baptist John Clifford im irenfreundlichen Star.231 Ebenso wurde Gladstone mit Briefen von Methodisten, Baptisten und anderen nonkonformistischen Geistlichen und Gläubigen überschüttet, die vor allem mit
der Forderung nach „Reinheit“ Parnell als untragbar bezeichneten.232 Da die
Nonkonformisten eine bedeutende Wählergruppe der Liberalen bildeten, musste die Parteiführung sie äußerst ernst nehmen. Dabei profilierten sich die Nonkonformisten durch den Skandal als eine Gemeinschaft, die öffentliche Forde226
227
228
229
230
231
232
Vgl. die Entwicklung der Deutung in Parnells politischem Umfeld in: Kenny an Dunne 24. 1.,
2. 2. und 9. 2. 1890, in: NLI, MS 10946: 7.
„It is neither our duty nor our province to adjudge his private life or to adjust his conscience.“
Freeman’s Journal 18. 11. 1890, S. 4.
Zu dieser Sitzung, bei der einige Fraktionskollegen Parnells Rücktritt erwarteten: Sullivan an
Healy 25. 11. 1890 UCD, P6 B 31.
Star 25. 11. 1890, S. 1 u. 26. 11. 1890, S. 1.
Vgl. etwa die Berichte in: Daily News 24. 11. 1890, S. 3; Pall Mall Gazette 20. 11. 1890, S. 2;
Daily Telegraph 24. 11. 1890, S. 5. Hugh Price Hughes war zwar ein Verfechter der Home
Rule, sah Parnells Ehebruch aber als einen Verrat an ihr an; vgl. Christopher Oldstone,
The Fall of Parnell: Hugh Price Hughes and the Nonconformist Conscience, in: Éire-Ireland 30 (1996), S. 94–110.
Star 19. 11. 1890.
Vgl. die Briefe in: BL, Add NL Gladstone Mss 56448.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
205
rungen an die Moral in der Politik stellte, die von den Anglikanern vernachlässigt würde.233
Zweitens positionierte sich, nach einigem Zögern, auch die katholische Kirche öffentlich gegen Parnell. Im Unterschied zu den Nonkonformisten hatten
sich die katholischen Zeitungen und Geistlichen zunächst mit klaren Stellungnahmen zurückgehalten, da sie nicht den Weg zur irischen Selbstverwaltung gefährden wollten.234 Erst über zwei Wochen nach dem Prozess kam es bei einem
Treffen der katholischen Bischöfe Irlands zu einem Beschluss darüber, wer in
Zukunft Irlands politischer Führer sein solle. Parnell könne dies nicht mehr
übernehmen, da er eines der „gravest offences known to religion and society“
überführt sei.235 Dies war vermutlich der entscheidende Grund, warum Parnell
schließlich selbst den Rückhalt der Iren verlor und am 6. Dezember 1890 bei einer Kampfabstimmung um den Vorsitz unterlag.
Drittens führte Parnells Reaktion auf den Skandal dazu, dass sich sowohl die
ihm wohl gesonnenen Liberalen als auch viele irische Nationalisten von ihm
abwandten. Auf Gladstones öffentliche Empfehlung, im Dienste der Home Rule
zurückzutreten, reagierte Parnell mit einem überzogenen Befreiungsschlag: Um
seine eigene Unentbehrlichkeit zu zeigen und gleichzeitig Gladstone zu diskreditieren, veröffentlichte er die geheimen Absprachen zwischen ihm und Gladstone, wie die Home Rule umzusetzen sei. Auf die Veröffentlichung eines privaten Geheimnisses antwortete er also mit der Veröffentlichung eines politischen
Geheimnisses. Die gesamte liberale Presse sah dies als einen Bruch ungeschriebener politischer Regeln an und richtete sich nun gegen ihn. Selbst die bislang
wohlgesonnene Reynolds’s Newspaper nannte dies „one of the most dishonourable documents ever issued by a public man“, da es Vertrauliches offen legte.236
Die irischen Nationalisten waren hingegen mit den Inhalten des veröffentlichten Kompromisses unzufrieden. Parnell überführte somit die Debatte über seinen Ehebruch in eine politische Diskussion über ihn selbst, bei der er Autorität
und Ansehen verspielte. So verspotteten ihn die Karikaturen des Dubliner
Weekly Freeman, die ihn in den 1880er stets als „Uncrowned King“ zeigten,
nun als Clownsfigur.237 Gerade aufgrund der breiten Ablehnung, die er jetzt
erfuhr, sprach sich auch der überwiegende Teil der irischen Nationalisten gegen
233
234
235
236
237
Vgl. zu dieser Zäsur auch: Munson, The Nonconformists, S. 206 f.
Nur einzelne Pastoren forderten den Rücktritt; vgl. die Presseschau in: Pall Mall Gazette
27. 11. 1890, S. 5.
Zit. nach: Reynolds’s Newspaper 7. 12. 1890, S. 1. Die Rolle der katholischen Kirche für die
weitere Spaltung der Partei betont auch: Frank Callanan, „Clerical Dictation“. Reflections
on the Catholic Church and the Parnell Split, in: Archivium Hibernicum 45 (1990), S. 64–
75.
Reynolds’s Newspaper 7. 12. 1890, S. 1. Matthew, Gladstone, S. 564; vgl. auch die kritische
Haltung von T.P. O’Connor: L.W. Brady, T.P. O’Connor and the Liverpool Irish, London
1983, S. 122.
Vgl. Joel A. Hollander, Heroic Construction. Parnell in Irish Political Cartoons, 1880–
1891, in: New Hibernia Review 4. 4 (2000), S. 53–65.
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206
III. Ehebruch als Politikum
seinen Verbleib an der Parteispitze aus. Parnells Sturz war für sie ein Opfer, das
sie für das Erreichen der irischen Unabhängigkeit bringen mussten.
Die private Verfehlung von Parnell war politisch einer der folgenreichsten
Skandale der viktorianischen Zeit. Er führte wesentlich dazu, dass die unter Parnell erreichte Einheit der irischen Bewegung in Anhänger und Gegner Parnells
zerbrach, die schon ab Dezember 1890 bei einzelnen Nachwahlen konkurrierten.238 Ebenso kam der mühsam mit Gladstone ausgehandelte Kompromiss
zur Home Rule nicht mehr zustande. Insofern konnte der Unionist Joseph
Chamberlain, der den Skandal ja wesentlich mit angestoßen hatte, zu Recht
triumphierend feststellen: „Home Rule for our time is smashed.“239 Auch für
das Ansehen der irischen Bewegung war der Skandal ein schwerer Rückschlag,
da er ihr moralisches Überlegenheitsgefühl schwächte, das sie nicht zuletzt aus
den vorherigen, von ihnen initiierten Skandalen gewonnen hatten. Innerhalb der
irischen Partei kam es zu Flügel- und Nachfolgekämpfen, die erstaunlich oft
sexuelle Anspielungen auf Parnells Liebesleben benutzten. Vor allem Parnells
Rivale Tim Healy sprach in seinen Artikeln häufig von Katherine O’Shea als
Ausgeburt des Parnellism, „the unfortunate woman, to whom he is as subservient as his followers are to him“. Indem dieser Parteiflügel Katherine O’Shea
stets den Kosenamen „Kitty“ gab, schrieb er ihr zusätzlich die Rolle der leichtlebigen Frau zu, die über Irlands Schicksal entscheide. Anhängern Parnells hielt
Healy etwa vor: „You protested against the conduct of a landgrabber. What
about a wifegrabber?“240 Die Iren und nicht zuletzt Tim Healy hatten Anfang
der 1880er Jahre wesentlich dazu beigetragen, das Private in die politische Sphäre zu überführen, um die Engländer moralisch zu diskreditieren. Ironischerweise prägte gerade nun die Vermischung dieser beiden Sphären die Flügelkämpfe
ihrer eigenen Partei und trug somit zu ihrem eigenen Reputationsverlust bei.
Parnell selbst, der bereits im Sommer 1891 seine bisherige Geliebte heiratete,
engagierte sich weiterhin in der Politik und trat vielfältig als Redner in Parlament und Öffentlichkeit auf. Ähnlich wie bei Dilke zeigte dies, dass auch im
spätviktorianischen Großbritannien ein Ehebruchskandal zwar zum Rücktritt
aus der ersten Reihe der Politik führte, nicht aber zum Rücktritt aus der zweiten. Parnell kämpfte mit zahlreichen Wahlkampfauftritten um sein politisches
Comeback, verstarb aber bereits im Oktober 1891 überraschend an den Nachwirkungen einer Lungenentzündung. Man kann man daher nur spekulieren, ob
ihm eine Rückkehr an die Parteispitze gelungen wäre. Sein Tod beendete zumindest die Debatte über den Ehebruch. In der Erinnerung der Iren blieb Parnell einer der großen, wenn auch tragischen Helden der Nation. Sein Skandal
etablierte die Norm, dass ein Ehebrecher keine führende Position in der Politik
einnehmen dürfe, wohl aber eine nachgeordnete. Letzteres belegt zumindest
238
239
240
Generell hierzu: Frank Callanan, The Parnell Split 1890–91, Cork 1992.
Zit. nach Marsh, Joseph Chamberlain, S. 324.
Beispiele derartiger Artikel, die bes. in der National Press erschienen, in: Callanan, Healy,
S. 307–316.
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3. Irish Home Rule und Ehebruch
207
eine größere sexuelle Toleranz, als für die irische und spätviktorianische Öffentlichkeit oft angenommen wurde.
Der Parnell-Skandal hatte einen ähnlichen Effekt wie die zeitgleichen Homosexualitätsskandale Anfang der 1890er Jahre: Er führte unmittelbar zu einigen
Nachfolgefällen, die aus der Verunsicherung heraus besonders rigide Urteile
nach sich zogen. Diese Enthüllungen machten auch bei den heterosexuellen
Normverstößen nicht vor Parlamentariern halt. Ebenso wie nach dem großen
Cleveland Street-Skandal von 1890 der homosexuelle Abgeordnete Cobain die
Flucht ergriffen hatte, verließ Anfang 1891 der liberale Abgeordnete Edmund
Hope Verney das Land. Verney zählte immerhin zu den zehn aktivsten Rednern
im Unterhaus, war pensionierter Captain der Navy, Member of the London
County Coucil und in der Purity Movement aktiv.241 Zugleich hatte er sich jedoch, wie im April 1891 öffentlich wurde, über eine Kupplerin gezielt junge
Frauen als Haushaltsgehilfinnen anheuern lassen, um sie dann zu sexuellen
Affären zu verführen.242 Der Fall Verney machte damit ähnlich wie Dilke und
Parnell eine Doppelidentität öffentlich, die erneut das Vertrauen in die moralische Vorbildfunktion des bürgerlichen Politikers erschütterte. Die Enthüllung
knüpfte zudem an die von Stead verbreitete white slave-Erzählung an, wonach
unschuldige Frauen systematisch verschleppt würden. Ähnlich wie bei den
nachfolgenden Homosexualitätsskandalen (insbesondere bei Oscar Wilde) reagierten sowohl das Unterhaus, das Gericht als auch die Medien nun mit rigider
Strenge, obgleich es sich um eine hochrangige Person handelte. Im Unterhaus
forderten die Abgeordneten sofort seinen Ausschluss aus dem Parlament.243
Vor Gericht wurde Verney wegen der Verkuppelung mit einer Frau „for immoral purposes“ zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Selbst liberale Blätter wie die
Daily News begrüßten dieses Urteil, da es zeige, dass vor Gericht keine Unterschiede zwischen Arm und Reich bestünden.244 Als das entscheidende Urteil
bezeichneten die Zeitungen jedoch seine soziale Verdammung. Obgleich die
Verführung von Hausmädchen bislang sicher keine ungewöhnliche Praxis war,
wurde durch dieses rigide Vorgehen zumindest deutlich darauf aufmerksam gemacht. An dem Politiker wurde dabei, ähnlich wie bei Dilke und Parnell, ein
Exempel vollzogen, das Normen für die Gesellschaft setzen sollte. Wie bei den
Homosexualitätsskandalen begrenzte die Häufung der heterosexuellen Skandale die moralische Toleranz, die sich zunächst noch gezeigt hatte.
Eine weitere Parallele zu den Homosexualitätsskandalen war, dass seit Mitte
der 1890er Jahre vergleichbare Skandale um heterosexuelle Normbrüche aus241
242
243
244
Eine statistische Auswertung der Redneraktivitäten vor diesem Skandal findet sich in: Times
21. 10. 1890, S. 10.
Ein Mädchen, das aus Paris vor ihm geflohen war, konnte ihn zufällig identifizieren und löste
daraufhin Ermittlungen aus. Vgl. die ausführliche Rekonstruktion des Falles in den Gerichtsmitschriften der: Daily News 10. 6. 1891, S. 7; Pall Mall Gazette 6. 5. 1891, S. 5; Times
7. 5. 1891, S. 9 u. 12.
Hansard’s Parliamentary Debates 12. 5. 1891, Bd. 353, Sp. 575.
Daily News 10. 6. 1891, S. 4.
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208
III. Ehebruch als Politikum
blieben. Nach den spektakulären Fällen um Parnell und Verney Anfang der
1890er Jahre kam es bis zum Ersten Weltkrieg zu keinen großen Ehebruchskandalen um bekannte Politiker. Hierfür bieten sich unterschiedliche Erklärungen
an. Die spektakulären Präzedenzfälle zwangen zu mehr Vorsicht, da eine aufgedeckte Liebesaffäre nun das sichere Ende einer Karriere bedeuten würde. Zugleich war die britische Öffentlichkeit der 1890er Jahre nach den Ehebruchsskandalen – ähnlich wie nach den zeitgleichen Homosexualitätsskandalen – so
über sich selbst erschrocken, dass die Medien entsprechende Verdächtigungen
eher in der Sphäre des Privaten beließen. Dass allein die Angst vor derartigen
Skandalen bei allen politischen Parteien Karrieren blockieren konnte, zeigte sich
selbst bei der um 1900 entstehenden Labour Partei: Hier verlor der Gewerkschaftsfunktionär George Belt, der 1898/99 eine Affäre mit der Suffragette Dora
Montefiore hatte, seine Chance auf eine weitere Laufbahn in der Independent
Labour Party, als dies intern ruchbar wurde.245 Auch in den folgenden Jahren
galt allerdings, dass die Zeitungen ohne das Einreichen eines Scheidungsprozesses keine namentlichen Berichte über bekannte Politiker druckten, die angeblich Affären hatten.
Trotz der befürchteten sittlichen Gefährdung durch weitere Skandale wurde
die Öffentlichkeit der Scheidungsprozesse nicht eingeschränkt. Nicht nur die
prinzipielle Verteidigung öffentlicher Gerichtsverhandlungen war ein entscheidendes Argument dafür. Die Medienberichte über die Scheidungen und die
drohenden Skandale galten zudem weiterhin als Abschreckungs- und Disziplinierungsinstrument. In der Scheidungsreformdebatte um 1912/13 sahen Abgeordnete und Journalisten gerade die Angst vor der Medienöffentlichkeit als drohende Strafe, „[which] helps to keep the people straight“. So wie die Todesstrafe
vor dem Verbrechen abhalte, so würde der Spott der Medien vor der Scheidung
abschrecken.246 Daher erklärten diese Politiker die hohen Scheidungsraten in
Frankreich gerade damit, dass die dortigen Zeitungen viel weniger über Ehebrüche und Scheidungen berichteten. Tatsächlich blieben sie im Frankreich des
ausgehenden 19. Jahrhunderts stärker Teil der privaten Sphäre, so dass vergleichbar sensationelle Skandale um Politiker trotz ansteigender Scheidungszahlen
zunächst ausblieben.247
Zugleich deutete sich in Frankreich an, dass der politische Kampagnenjournalismus von Großbritannien lernte. So konnte der umstrittene Finanzminister
Joseph Caillaux in den Jahren nach 1900 zunächst noch recht offen eine Geliebte haben, die er dann nach der Trennung von seiner Frau heiratete, und dennoch
245
246
247
Christine Collette, Socialism and Scandal. The Sexual Politics of the Early Labour Movement, in: History Workshop Movement 23 (1987), S. 102–111.
Zitate nach: Savage, Intended Only, S. 515 u. 517. Ähnlich auch die Argumentation des Vorsitzenden des Divorce Court in seinen Memoiren: Henry Edward Fenn, Thirty-Five Years in
the Divorce Court, London o. D. (1910), S. 290 u. 295.
Zu diesem Trend: Anne-Marie Sohn, The Golden Age of Male Adultery: The Third Republic, in: Journal of Social History 28 (1995), S. 469–490.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
209
Ministerpräsident werden.248 Die konservative Presse bekämpfte ihn jedoch
„lediglich“ mit Kampagnen, die ihm Korruption, nationale Unzuverlässigkeit
und die Begünstigung jüdischer Börsenspekulanten vorwarfen. Da diese Vorwürfe Caillaux nicht stürzten, bediente sich der konservative Figaro schließlich
1914 jener eher aus England bekannten Methode und veröffentlichte ein Faksimile eines alten Privatbriefes von Caillaux an seine Geliebte, um die moralische
Reputation des Politikers zu zerstören. Inwieweit die Medialisierung und politische Polarisierung auch in Deutschland zu derartigen Entwicklungen oder
Transfers führte, wird im Folgenden zu klären sein.
4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
In der deutschen Politik spielten private Normverstöße wie Ehebrüche auf den
ersten Blick keine Rolle. Spektakuläre Ehebruchskandale, die wie in England
politische Karrieren zerstörten, politische Weichen stellten oder ein Wissen um
heterosexuelle Praktiken konstruierten, sucht man vergeblich. Dennoch lassen
sich auch in der wilhelminischen Zeit einige mehr oder minder erfolgreiche
Kampagnen ausmachen, die die Sexualität außerhalb der Ehe skandalisierten,
um generelle politische Ziele zu erreichen. Auch dies war ein Teil jener Politik
der Sensationen, die sich mit der Medialisierung und Politisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte. Mitunter führten sie zu Skandalen. Wie bei
der Homosexualität knüpfte Deutschland dabei leicht verzögert an die englische
Entwicklung an.
Das Ende der Sozialistengesetze und der darauf folgende Ausbau der sozialdemokratischen Medien bildete auch in diesem Skandalfeld eine wichtige Zäsur.
Die sozialdemokratischen Medien versuchten seit 1890 verstärkt, emotional und
exemplarisch die Doppelmoral bürgerlicher Eliten zu beweisen, um deren Führungsanspruch zu hinterfragen. So berichtete die sozialdemokratische Presse im
Mai 1891 über den Vaterschaftsprozess gegen den Zentrumspolitiker und Kölner
Presseverleger Julius Bachem, nachdem ein Dienstmädchen ein Kind von ihm
geboren hatte. Die Kölner Arbeiterzeitung veröffentlichte dabei zahlreiche Artikel, die Bachem kompromittieren sollten.249 Sie führten zu seinem Rückzug aus
dem preußischen Abgeordnetenhaus, beendeten aber nicht Bachems Arbeit als
politisch aktiver Verleger der Kölnischen Volkszeitung, dem auflagenstärksten
Sprachrohr des katholischen Milieus. Zugleich griff die sozialdemokratische
Presse 1891 die von Antisemiten forcierte Kampagne gegen Bismarcks Bankier
248
249
Vgl. zu diesem Fall Edward Berenson, The Trial of Madame Caillaux, Berkeley 1992.
Diverse Unterlagen dazu in: Historisches Archiv Köln, NL Bachem 35/11; bes. Kölner Arbeiterzeitung Nr. 38, 13. 5. 1891, Nr. 42, 27. 5. 1891, Nr. 43, 30. 5. 1891, Nr. 74, 16. 9. 1891; ein
knapper Verweis auf den Fall, der sich lediglich auf die Debatte 1891 bezieht, in: Klaus
Müller, Politische Strömungen in den rechtsrheinischen Kreisen des Regierungsbezirks Köln
von 1879 bis 1900, Diss. Bonn 1963, S. 269.
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210
III. Ehebruch als Politikum
Bleichröder auf, dem vorgeworfen wurde, mit Hilfe der Polizei und eines Meineides die Liebesaffäre mit einer Frau zu vertuschen, die ihn erpresst hatte. Die
SPD-Zeitungen attackierten Bleichröder zwar nicht als Juden, sondern als Kapitalisten, um durch Vermengung von Sex, Korruption und Polizeiwillkür das
von Bismarck etablierte politische System insgesamt zu treffen.250 Bleichröders
Tod setzte den Beschuldigungen, die vor allem auch Antisemiten um Hermann
Ahlwardt vorbrachten, dann jedoch ein Ende.
Eine derartige Kampagne der Sozialdemokratie lässt sich auch beim Skandal
um Wilhelm von Hammerstein ausmachen. Der führende konservative Reichstagsabgeordnete und Chefredakteur der „Kreuzzeitung“, der in den 1880er und
frühen 1890er maßgeblich den politischen Kurs der Konservativen Partei prägte,
wurde 1895 der Veruntreuung größerer Summen beschuldigt.251 Dabei warfen
ihm zahlreiche Zeitungen gleichzeitig vor, sein Liebesleben würde kaum jener
christlichen Sittlichkeit entsprechen, die Hammerstein in seinen Reden und Zeitungskommentaren stets einforderte. Die konservativen Zeitungen, die Hammersteins Kurs gegenüber kritisch waren, sprachen andeutungsweise von „einer
Lebensweise, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, die aber der Partei,
die für Sitte, Religion und Ordnung kämpft, sehr schwere Sorgen bereitet und
jederzeit sowohl bei der Lex Heinze wie bei der Umsturzvorlage besprochen
werden könnte.“252 Die sozialdemokratische Neue Zeit berichtete dagegen
direkt von der „Lieblingsmätresse“ Flora Gaß und verallgemeinerte, der Fall
Hammerstein sei „einer jener nachgerade unzähligen Skandale, welche die unaufhaltsame Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft bekunden und in allen
bürgerlichen Parteien gleichzeitig vorkommen“ würden.253 Der Verweis auf einen namentlich nicht genannten anderen Reichstagsabgeordneten und Chefredakteur, der vor zehn Jahren ähnliche Seitensprünge vertuschen konnte, diente
dabei als Beleg für die Verallgemeinerung. Zusammen mit Hammersteins Unterschlagungen und seiner Flucht ins Ausland bedeuteten diese Enthüllungen
tatsächlich einen denkbar schweren Schlag für die Konservativen und das Ansehen der „Kreuzzeitung“.
Allerdings war es nicht nur die Sozialdemokratie, die mit derartigen Enthüllungen über das sexuelle Privatleben die Reputation politischer Gegner zu treffen versuchte. Vielmehr bildete das interne Wissen um diese Liebesaffären einen
Sprengstoff, den im Bedarfsfall auch bürgerliche Politiker und Journalisten zündeten. So wurde Karl Bachem etwa 1893 von der nationalliberalen RheinischWestfälischen Zeitung das Recht abgesprochen, sich moralisch von dem Antisemiten Hermann Ahlwardt zu distanzieren, weil Bachem wegen seines „Sitt-
250
251
252
253
Vorwärts 10. 7. 1891; Neue Zeit 27. 7. 1891; Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein
Bankier Bleichröder, Frankfurt a. M. 1971, S. 652.
Zu Hammersteins politischem Einfluss vgl. Dagmar Bussiek, „Mit Gott für König und Vaterland!“ Die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892, Münster 2002.
So das Kleine Journal, zit. nach: Berliner Tageblatt Nr. 171 3. 4. 1895.
Die Neue Zeit Nr. 1 Bd. 14 (1895/96), S. 1–4, zit. S. 1.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
211
lichkeitsprozesses“ ein „moralischer Makel anhaftet“.254 Auch spätere Artikel
verwechselten mehr oder minder bewusst Karl und Julius Bachem, um den unbescholtenen Zentrumspolitiker Karl Bachem wegen seiner vermeintlichen Unsittlichkeit zu diskreditieren.255 Und als Bachem 1897 mit dem SPD-Abgeordneten und Vorwärts-Redakteur Arthur Stadthagen in eine Debatte über die
Rechte von Dienstpersonal geriet, hielt dieser Bachem im Reichstag vor, ein
„Träger seines Namens“ sei „jener Fall, in dem Alimente bezüglich eines Dienstmädchens haben gezahlt werden müssen.“256 Die Beispiele belegen, dass das
Wissen um einen moralischen Makel gezielt eingesetzt wurde. Sie zeigen aber
zugleich die begrenzte Wirksamkeit, da die Tabuisierung überwog und sich die
Empörung oft gegen die Skandalisierer richtete.
Trotz dieser Beispiele blieben Kampagnen, die auf diese Weise die Reputation
des politischen Gegners zerstören wollten, vergleichsweise rar. Erst die Kumulation verschiedener Skandale im Jahr 1908 führte dazu, dass auch in Deutschland der außereheliche Geschlechtsverkehr verstärkt zum Thema politischer
Auseinandersetzungen wurde. Derartige Vorwürfe erschienen leichter thematisierbar, nachdem sich insbesondere über die Homosexualitätskandale 1907/08,
aber auch über die Kolonialskandale 1906, die Verbindung von sexuellen Normbrüchen und politischer Zuverlässigkeit im öffentlichen Diskurs etabliert hatte.257 So war beim Eulenburg/Moltke-Skandal bereits neben der Homosexualität auch das Eheleben der Kaiserfreunde ausführlich öffentlich seziert worden.
Welche Folgen solche öffentlich vorgebrachten Enthüllungen über Spitzenpolitiker hatten, war jedoch unklarer als in Großbritannien.
Ein erstes Opfer derartiger Kampagnen war der angehende Außenstaatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter. Dieser hatte eine lange Diplomatenkarriere hinter sich und nach 1888 einen ersten Karrierehöhepunkt erreicht, als er
Vortragender Rat im Auswärtigen Amt und ständiger Reisebegleiter des Kaisers
wurde. Nachdem Kiderlen bereits in der Kladderadatsch-Affäre 1894 als Träger
des „neuen Kurses“ verspottet worden war und an Einfluss verloren hatte, fiel
er nach 1899 in Ungnade des Kaisers, weil er sich gegen die Absetzung von
Reichskanzler Hohenlohe stellte.258 Auf dem Botschaftsposten in Bukarest und
Istanbul geriet Kiderlen öffentlich eher in Vergessenheit, bis er im November
1908 Wilhelm von Schoen als Staatssekretär des Auswärtigen Amts vertrat, der
sich wegen seines Versagens in der Daily-Telegraph-Affäre zunächst krank
meldete und dann ausschied. Bereits Kiderlens Nominierung löste in der Presse
254
255
256
257
258
Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 87 28. 3. 1893; vgl. weiteres Material und Entgegnungen Bachems in: Historisches Archiv Köln, 1006 Nr. 361.
Vgl. Deutsche Reichs-Zeitung Nr. 266 7. 6. 1895, S. 1; Das Deutsche Protestantenblatt
Nr. 30 27. 7. 1895.
RT, 11. 3. 1897, 189. Sitz., S. 5011.
Vgl. zu dieser Argumentation ausführlich: Bösch, Das Private wird politisch.
Zur Kladderadatsch-Affäre vgl. Kap. VI. 3. Zur Biographie: Ralf Forsbach, Alfred von
Kiderlen-Wächter (1852–1912). Ein Diplomatenleben im Kaiserreich, Göttingen 1997, S. 179,
182.
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III. Ehebruch als Politikum
reflexartige Erinnerungen an seine früheren Skandale aus. Wie bei der Kladderadatsch-Affäre nannten ihn die liberalen und linken Blätter „Spätzle“, was zeigte,
wie wenig Respekt die Medien der politischen Elite entgegen brachten.259
Kurz nach seinem Amtsantritt im November 1908 deuteten liberale Zeitungen
an, Kiderlen-Wächter habe in Bukarest ein „Cousinchen“ untergebracht, die
mitunter wie eine Ehefrau bei repräsentativen Anlässen auftreten würde.260
„Cousinchen“ bildete ein beliebtes Kosewort für eine Geliebte, besonders seit
im Skandal um den Kameruner Gouverneur von Puttkamer 1906 bekannt geworden war, dass dieser seine Geliebte als Cousine ausgegeben hatte, was mit zu
dessen Rücktritt geführt hatte.261 Tatsächlich hatte der verwitwete KiderlenWächter seit Anfang der 1890er Jahre mit seiner Haushälterin ein eheähnliches
Verhältnis. In den Briefwechseln mit der Geliebten behandelte Kiderlen sogar
politische Themen wie Personalfragen, politische Konflikte oder streng vertrauliche Entscheidungen des Kaisers.262 Wie bei Parnell lassen sich die Liebesaffären damit nicht allein auf sexuelle Abenteuer reduzieren, sondern standen auch
für die Einbindung von Frauen in politische Prozesse.
Ausgelöst wurde die Kampagne gegen Kiderlen nicht durch eine sozialdemokratische Enthüllung, sondern durch Intrigen seitens der Konservativen. Reichskanzler Bülow vermutete dahinter den Gesandten in Athen, Baron von Wangenheim, der selbst gerne Kiderlens Posten bekommen hätte.263 Ebenso gab es
unter den Konservativen besonders im Militär Bedenken gegen Kiderlen.264 Mit
dem Lancieren einer Zeitungsmeldung kopierten sie offensichtlich das im Eulenburg/Moltke-Skandal gerade eingeübte Verfahren, sich eines Rivalen durch
eine skandalöse Enthüllung zu entledigen. Da diese Artikel mitten in der DailyTelegraph-Affäre erschienen, bedeuteten sie zudem eine gezielte zusätzliche
Schwächung von Bülows Regierung. Die Meldung, dass der angehende Außenstaatssekretär mit einer ehemaligen Zirkusreiterin eine Affäre habe und diese
auch bei offiziellen Empfängen hinzu bitten würde, verbreitete sich nach seiner
Rückkehr nach Berlin sofort in allen Zeitungen und ließ einen Skandal erwarten, der zu Kiderlens Absetzung hätte führen können. Tatsächlich trat, ganz im
Unterschied zu den englischen Fällen, zumindest Letzteres nicht ein.
Bemerkenswert war vielmehr die Toleranz, mit der auf die Vorwürfe geantwortet wurde. So ließen der Kanzler und das Auswärtige Amt die Presse wissen,
ihnen sei diese Anschuldigung längst bekannt. Ein Legationsrat hätte sich be259
260
261
262
263
264
So Berliner Tageblatt Nr. 561 3. 11. 1908; BZ 267 12. 11. 1908, Echo der Gegenwart
14. 11. 1908; weitere entsprechende Artikel in: BAB/L, R 8034 III-237. Zur KladderadatschAffäre vgl. Kap. VI. 3.
Vgl. mit Bezug auf die BZ am Mittag: Leipziger Neueste Nachrichten 11. 11. 1908.
Vgl. Artikel zu Puttkamer wie: „Willst Du mein Kusinchen sein?“ Berliner Tageblatt
Nr. 208, 25. 4. 1907; „Mein ‚Cousinchen‘ bist Du!“ Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906.
Auch der Biograph Kiderlens stützt sich daher vielfach auf diese Quelle; vgl. Forsbach,
Kiderlen, S. 52, 195, 203, 206, 442, 705, 730.
Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1930, S. 415.
Holstein an Bülow 16. 12. 1908, Faks. abgedr.: ebd., S. 416.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
213
reits 1906 beim Auswärtigen Amt beschwert, weil seine aus den USA kommende Frau nicht mit der Haushälterin an einem Tisch sitzen wollte. Daraufhin sei
jedoch nicht Kiderlen, sondern der Denunziant zum Verlassen seines Postens
gezwungen worden.265 Damit setzte das Ministerium erstaunlich liberale Grenzen für das Verhalten von Diplomaten und Politikern und sprach eine strenge
Warnung gegenüber ähnlichen Denunzianten aus. Beides sollte künftig derartige Skandalisierungen von Seiten der Presse verhindern und den Informationsvorsprung der Regierung unterstreichen.
Eine bemerkenswerte Toleranz zeigten auch, wie zu Beginn der vorherigen
Homosexualitätsskandale um Moltke und Eulenburg, die liberalen Zeitungen.
So forderte die Vossische Zeitung, man solle sich um die Politik von Kiderlen
kümmern, nicht um dessen Privatleben: „Aber was schert es die deutsche Nation, ob ein Gesandter verheiratet oder unverheiratet ist, ob seinem Haushalt
ein Kammerdiener oder eine Hausdame vorsteht, ob er ein Einsiedler oder ein
Lebemann ist?“ Eine Zirkusreiterin sei genauso ehrenwert wie eine bürgerliche
Ehefrau.266 Andere liberale Blätter formulierten eine erstaunliche Anerkennung
für die „wilde Ehe“, die viel inniger und sittlicher sein könne als eine legitime,
auch wenn das Auswärtige Amt nicht der richtige Ort dafür sei.267 Selbst die
sozialdemokratische Presse hielt sich bei diesem Fall auffällig zurück. Der Vorwärts druckte nur den Hinweis, im Unterschied zu bürgerlichen Blättern ging
ihn Kiderlens „Liebesangelegenheiten gar nichts an.“268 Die Sozialdemokraten
profilierten sich folglich mit einem Moralismus, der dem politischen Gegner
eine amoralische Sensationsgier vorwarf.
Damit äußerten die Konservativen die größte Kritik gegenüber Kiderlens
Normbruch, obgleich er ihnen politisch am nächsten stand. Aber auch ihre Zeitungen diskutierten, ob überhaupt das Privatleben eines Politikers oder Beamten öffentlich relevant sei. Die Grenze sahen die konservativen Blätter dann erreicht, wenn sie „das Ansehen eines Vertreters der deutschen Reichsinteressen“
schmälerten, wobei diese Zeitungen für den angeprangerten Reputationsverlust
zugleich verantwortlich waren.269 Diese Skandalisierung des Privatlebens ging
mit erpresserischen Forderungen einher. Der Kronprinz drohte im Dezember
1908 sogar, er würde dem Kaiser – wie einst bei dem Eulenburg-Skandal – von
der in allen Zeitungen thematisierten Liebesaffäre Kiderlens erzählen, wenn Kiderlen seine Südost-Europa-Politik nicht ändere. Holstein und Bülow konnten
ihm dies jedoch ausreden, und Bülow stellte sich weiter vor Kiderlen.270 Tatsächlich konnte Kiderlen-Wächter trotz der Skandalisierung im Dezember auch
offiziell den Posten des Außenstaatssekretärs übernehmen. Der Fall zeigte so265
266
267
268
269
270
Berliner Tageblatt Nr. 328 12. 12. 1908; Welt am Montag 14. 12. 1908.
Vossische Zeitung Nr. 586, 14. 12. 1908.
Vgl. auch die Ausschnitte in: BAB/L, R 8034 III-237.
Vorwärts 15. 12. 1908.
Tägliche Rundschau Nr. 587, 15. 12. 1908.
Holstein an Bülow 16. 12. 1908, Faks. abgedr.: Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten,
Bd. 2, Berlin 1930, S. 415 f.
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III. Ehebruch als Politikum
mit, dass die Grenzen des moralisch zulässigen Verhaltens in Deutschland deutlich weiter gesteckt waren als in Großbritannien. Gerade nach dem EulenburgSkandal bemühten sich die Regierung und weite Teilen der Medienöffentlichkeit
erfolgreich, durch tolerante Nachsicht einen erneuten politischen Skandal um
moralische Fragen zu vermeiden.
Diese größere moralische Toleranz im Vergleich zu Großbritannien zeigte
sich auch bei den Vorwürfen, die zeitgleich im Herbst 1908 gegen Bülows engen
Vertrauten Otto Hammann aufkamen. Hammann hatte seit 1893 die Pressearbeit der letzten drei Kanzler geführt und dabei eine zunehmend starke beratende
Stellung in der Reichsleitung eingenommen.271 Dank der von ihm gepflegten
offiziösen Pressepolitik, die nur ausgewählten Zeitungen Informationen zukommen ließ, war er bei vielen Journalisten wenig beliebt. Hammann wurde
nun vorgeworfen, er habe dem berühmten Kunstprofessor Bruno Schmitz, seinem früheren Freund, die Frau ausgespannt, die Hammann dann später heiratete. In einem Unterhaltsprozess 1903, so der Vorwurf, hätte Hammann zudem
einen Meineid geschworen, als er aussagte, er hätte vor der Ehe mit ihr keinen
Geschlechtsverkehr gehabt.272
1903 hatte der Scheidungs- und Unterhaltsprozess weder einen Skandal noch
eine öffentliche Berichterstattung ausgelöst. Dies belegt erneut, wie diskret in
Deutschland Politiker in Scheidungsprozessen aussagen konnten, die in Großbritannien bereits das Ende der politischen Karriere bedeutet hätten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass die Öffentlichkeit bei den deutschen Scheidungsprozessen ausgeschlossen blieb. Dass diese Affäre ausgerechnet 1908 an
die Öffentlichkeit kam, lag zunächst weniger an einer politischen Kampagne als
an der Rachsucht von Schmitz. Um nachzuweisen, dass Hammann entgegen
seines Eides bereits vor der Scheidung ein geschlechtliches Verhältnis mit seiner
bisherigen Frau pflegte, hatte der Professor damals die Wohnung unter den beiden gemietet, die Decke mit kleinen Löchern ausgehöhlt und die beiden permanent belauschen und beobachten lassen.273 Da Schmitz als Schöpfer der KaiserDenkmäler an der Porta Westfalica, auf dem Kyffhäuser und am Deutschen Eck
in Koblenz eine äußerst prominente patriotische Persönlichkeit war, ließ er sich
nicht einfach als „Verrückter“ pathologisieren. Vielmehr bildeten sein sozialer
Status, seine groteskes Nachspionieren und die Vorwürfe gegen Hammann das
Gerüst für einen Gesellschaftsskandal.
271
272
273
Zu Hammanns Rolle: Peter Jungblut, Unter vier Reichskanzlern: Otto Hammann und die
Pressepolitik der deutschen Reichsleitung 1890 bis 1916, in: Ute Daniel und Wolfram Siemann (Hrsg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–
1989, Frankfurt a. M. 1994, S. 101–116.
Schmitz hatte seiner Frau 200 000 Mark für die Erziehung der Kinder versprochen, angeblich
gegen das Versprechen, dass sie dafür bis zu ihrer Wiederverheiratung keinen Verkehr mit
Hammann haben dürfe; in dem Prozess sagte Hammann deshalb am 17. Oktober 1903 aus,
dass der „Akt der Beiwohnung“ nicht vollzogen wurde; Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909,
in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198.
Vgl. Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
215
Die Journalisten wurden erst durch das Aufgreifen dieser Vorwürfe aktiv, die
ihnen Schmitz in zahlreichen expliziten Berichten zuschickte. Zudem adressierte Schmitz zahllose beschuldigende Briefe an die Staatsanwaltschaft, von der er
eine Ermittlung wegen Meineids verlangte, sowie an diverse Politiker.274 So informierte er Matthias Erzberger, der sich in den Kolonialskandalen gerade einen
Namen als Enthüllungspolitiker gemacht hatte, und schließlich auch Kanzler
Bülow direkt.275 Nachdem die Staatsanwaltschaft nicht aktiv wurde, veröffentlichte Schmitz seine Unterlagen zudem mit verschärften Angriffen in einer
Broschüre, die ebenfalls an die Presse und die Abgeordneten ging.276 Intern war
der Fall daher den Journalisten und Politikern frühzeitig bekannt. Gerade weil
Hammann unter den Journalisten viele Feinde hatte, wurde schon vor der expliziten Publikation Hammanns Rücktritt erwartet und dieser Bülow nahegelegt,
um einen Skandal zu verhindern.277 Ein Initialtext mit der vorsichtigen Andeutung, Hammann wolle aus „privaten Gründen“ demnächst aus seinem Amt ausscheiden, erschien erneut zuerst in einem konservativen Blatt, der Militärischpolitischen Korrespondenz, was die Tagespresse dann Mitte Oktober 1908 sofort
weiter tradierte.278 Damit baute die Presse Hammann erpresserisch eine Brücke
für seinen Abschied, ohne die Vorwürfe selbst zu veröffentlichen.
Hammann erhielt dennoch, wie nahezu zeitgleich Kiderlen-Wächter, starke
Rückendeckung durch den Reichskanzler. Bülows Unterstaatssekretär Loebell
bemühte sich gegenüber Journalisten und Verlegern, die Publikation über den Fall
zu verhindern.279 Rückendeckung erhielt Hammann zudem durch die Justiz, die
eine öffentliche Anklage mangels Beweisen ablehnte.280 Die von Schmitz daraufhin verschickte Broschüre ließ sie sofort beschlagnahmen. Obgleich es im ganzen
Deutschen Reich wohl keinen Politiker oder politischen Beamten gab, der mehr
Einfluss auf die Medien hatte als Otto Hammann, konnte dieser den Ausbruch
des Skandals nicht verhindern. Zunächst griffen die liberalen Zeitungen von Mosse
und Ullstein die Vorwürfe auf und druckten sogar Auszüge aus Schmitz Broschüre, dann zogen die Zeitungen des regierungstreuen Scherl-Verlages nach.281
274
275
276
277
278
279
280
281
Vgl. seine Briefe in: BAB/L, N 2106-45.
Schmitz an Bülow und Staatssekr. AA Schoen 29. 11. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198;
Bruno Schmitz 14. 10. 1908 u. 24. 10. 1908, in: BAB/L, N 2106-45.
Walter Steinhoff (Bearb.), Der Fall Hammann. Zur Personalakte des Preßdezernenten des
Berliner Auswärtigen Amtes nach aktenmäßigen Material, Reihe „Reichstags-Broschüren
(Dem deutschen Reichstage gewidmet und vorgelegt) Berlin 1908, in: BA/L, N 2106-45.
Harden an Rathenau 24. 10. 1908 u. Holstein an Harden 27. 10. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 354 u. 357.
Vgl. etwa: Berliner Börsen Courier Nr. 490, 17. 10. 1908. Die Militärisch-politische Korrespondenz ist laut ZDB-Opac in keiner deutschen Bibliothek für 1908 überliefert.
Loebell an Hammann 28. 11. 1908, in BAB/L, N 2106-29; hier auch weitere Schreiben, in denen Loebell sich für Hammann einsetzt.
Staatsanwalt 26. 11. 1908, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198.
Sogar mit Vorankündigung; vgl. BZ Nr. 288, 8. 12. 1908; Berliner Tageblatt 5. 12. 1908. Berliner Tageblatt Nr. 628 10. 12. 1908; Berliner Morgenpost 6. 12. 1908; dann auch: Berliner
Lokal-Anzeiger Nr. 629, 10. 12. 1908; weitere Zeitungssauschnitte in: BAB/L, N 2106-45.
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216
III. Ehebruch als Politikum
Darauf folgten Leserzuschriften über Hammanns Vorleben, die wiederum neuen
Stoff zur Verspottung boten – etwa mit Andeutungen über Hammanns wilde Studentenzeit, als die Frauen vom „schönen Otto“ gesprochen hätten.282 Offensichtlich entluden sich hier die Spannungen, die sich seit den 1890er Jahren zwischen
Hammann und den liberalen Journalisten aufgebaut hatten.
Das Zusammenspiel der Skandale im Herbst 1908 verstärkte den Eindruck,
die Elite des Kaiserreiches stünde an einem moralischen und politischen Abgrund. So standen die Enthüllungen über Hammanns Liebesleben oft in den
gleichen Artikeln wie die über Kiderlen-Wächters Verhältnis. Parallel dazu
erschienen Berichte über die Daily-Telegraph-Affäre, und die nicht abgeschlossenen Homosexualitätsprozesse von Eulenburg und Moltke schwebten ebenfalls noch durch die Öffentlichkeit. Die Zeitungen selbst betonten auch beim
Fall Hammann, dass sie eigentlich auf keinen Fall derartiges darüber schreiben
wollten, denn es „geht die deutliche Absicht hervor, Skandale hervorzurufen
und durch diese Skandale private Zwecke zu fördern.“283 Selbst solche expliziten „Verweigerungen“ waren jedoch eine Thematisierung. Die Distanz zum
Skandalinhalt gehörte erneut zur selbstlegitimatorischen Rhetorik der Journalisten. „Die Schlammflut öffentlicher Skandale, die sich seit Jahr und Tag
über Deutschland ergossen hat, scheint kein Ende nehmen zu wollen“, schrieb
etwa die auflagenstärkste Tageszeitung Berliner Morgenpost.284 Damit beklagten die Zeitungen einen Zustand, den sie gerade durch diese Artikel erst
schufen. Ihre Anspielung auf andere Skandale weckte Assoziationen, die
Hammanns Verhalten als wahrscheinlich und typisch für die Führungsschicht
erscheinen ließen.
Im Juli 1909 kam es durch Schmitz’ Provokationen tatsächlich zu einem Beleidigungsprozess, der ähnlich wie in Großbritannien einen großen Eheskandal
auszulösen schien. Wie bei Eulenburg war Hammanns Stellung weniger durch
den sexuellen Normbruch bedroht als durch den Vorwurf des Meineids, der die
Ehre und das Vertrauen in den Politiker gefährdete und natürlich auch strafbar
war. Dass dieser Prozess im Unterschied zu den britischen Fällen jedoch nicht
mit einer Diskreditierung von Hammann endete, war zunächst dem strengen
Ausschluss der Öffentlichkeit zu verdanken. Zudem hatte Hammmann abermals das Gericht auf seiner Seite, das die Möglichkeit eines Meineides als „unlogisch“ bewertete, so dass Hammann großzügig freigesprochen wurde.285 Wie
sehr sich der Verlauf von den britischen Eheskandalen unterschied, zeigte sich
nicht zuletzt darin, dass Hammann seinen Posten bis 1916 behalten konnte.
Ebenso wie bei Kiderlen zeigte der Skandal damit, dass in Deutschland Politik
und Öffentlichkeit auf Ehebrüche vornehmlich mit Spott reagierten und die
Normen des Zulässigen nicht so eng setzten wie in Großbritannien. Da die
282
283
284
285
BZ Nr. 289 9. 12. 1908.
O.D. in Sammlung von Zeitungssauschnitten Okt. 1908 in: BAB/L, N 2106-45.
Berliner Morgenpost 6. 12. 1908.
Anklageschrift Staatsanwalt 18. 6. 1909, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58198.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
217
deutschen Regierungen nicht gewählt wurden, mussten sie allerdings auch nicht
so sensibel reagieren wie in Großbritannien.
Ganz folgenlos war der Skandal für Hammann und die Reichsleitung jedoch
nicht. Hammann verlor gegenüber den Journalisten deutlich an Autorität. Dementsprechend konnte er etwa in der Daily Telegraph-Affäre nur recht zurückhaltend auftreten. „In dieser Zeit hat er aber völlig versagt. Gewiß nur, weil er
von seinen Privatgeschichten präokkupiert ist“, stellte etwa Holstein gegenüber
Bülow fest, „weil jeder geärgerte Journalist ihn durch Anspielungen und Artikel
in der verschmitzten Sache lästig werden kann. Wenn erst mal so viel halböffentlich über den ‚Einfluß‘ des Preßdezernenten geschwatzt worden ist, ist’s mit
dem Einfluß auf die Zeitungen vorbei.“286 Insofern trug die Veröffentlichung
der Liebesaffäre mit dazu bei, dass die von Hammann organisierte offiziöse
Pressepolitik an Einfluss verlor.
Es wäre jedoch voreilig, aus diesen Beispielen zu schließen, in Deutschland
seien politische Kampagnen mit derartigen Enthüllungen per se folgenlos geblieben. Wie öffentliche Grenzen gesetzt wurden, lässt sich an einer dritten Fallanalyse zeigen – dem Schack-Skandal von 1909. Er war erneut Ergebnis jener
Skandaldynamik, die durch Kettenreaktionen ähnliche Fälle an die Öffentlichkeit brachte. Mit Wilhelm Schack stand ein antisemitischer Reichstagsabgeordneter der „Wirtschaftlichen Vereinigung“ im Mittelpunkt, der zugleich Mitbegründer und Vorsitzender des einflussreichen „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands“ war. Schack hatte nur wenige Monate nach den Skandalen
um Hammann und Kiderlen-Wächter unter falschem Namen per Zeitungsanzeige eine junge Reisebegleiterin gesucht, die ihm eine sexuelle Dreisamkeit mit
seiner Ehefrau ermöglichen sollte.287 Als er diesen Wunsch in einem Antwortschreiben andeutete, hielt die Mutter einer Bewerberin ihn für einen Mädchenhändler und sorgte für seine Verhaftung, der Schack sich unter Verweis auf seine
Immunität als Abgeordneter entzog. Gerade die exponierte und antisemitische
Positionierung Schacks dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich gerade hieraus ein folgenreicher Skandal mit einer breiten Empörung entwickelte.
Aufgebracht wurde der Skandal durch die Sozialdemokraten. Ein der SPD
nahestehendes Blatt, die „Handlungsgehilfen-Zeitung des Zentralverbandes der
Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutschlands“, nannte als erste die Vorwürfe. Damit startete jene Zeitung den Skandal, die das Blatt des sozialdemokratischen Pendants von Schacks Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband
war. Um eine hinreichende Fallhöhe für Schack aufzubauen, nannte der Artikel
zunächst Beispiele für Schacks moralistisches Auftreten. Er berichtete über
Schacks Reden gegen die außerhäusliche Arbeit von Frauen, da sie beim unbeaufsichtigten Verlassen des Hauses sittlichen Gefahren ausgesetzt seien, und sei286
287
Holstein an Bülow 3. 1. 1909, abgedr. in: Rogge, Holstein, S. 431 f.
Die Anzeige im Hamburger Fremdenblatt 29. 6. 1909 lautete: „Reisebegleitung. Gebildete junge Dame, nicht über 21 Jahre, ab Mitte Juli für 4 Wochen als Reisebegleiterin in Holstein. Schweiz
gesucht. Offerten mit näheren Angaben u. Bild unt. C. 4834 an die Exp. D. Hamb. Frbl.“
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218
III. Ehebruch als Politikum
ne skandalisierenden Schriften gegen die jüdische Unternehmerschaft, die nur
deshalb Frauen einstellen würde, „weil sie sich im Stillen eine gewisse orientalische Einrichtung leisten möchte, die wohl der Sultan gestattet, aber hier in
Deutschland verboten ist.“288 Unter Nennung von Schacks Namen und politischen Ämtern enthüllte der Artikel dann, wie der Reichstagsabgeordnete eine
junge „Reisebegleitung“ für den Geschlechtsverkehr zu dritt suchte. Der Abdruck von Schacks Briefen an die Bewerberin belegte und kolorierte diesen Vorwurf, der vermutlich durch eine Indiskretion bei den Behörden an die Zeitung
gelangt war.289
Somit überführte erneut ein kleines politisches Blatt die sensationelle Neuigkeit in die gesamte überregionale Qualitätspresse. Die anderen Zeitungen hatten
auf eine derartige Legitimation bereits gewartet. Da der Vorwärts nahezu zeitgleich mit zum Teil identischen Formulierungen berichtete, ist eine arbeitsteilige
Absprache wahrscheinlich.290 Offensichtlich wollte der Vorwärts nach Sexualitätsskandalen wie um Friedrich Alfred Krupp das Risiko vermeiden, als Sensationsblatt zu erscheinen oder sich durch Falschinformationen zu diskreditieren.
Das Berliner Tageblatt meldete sogar, es habe bereits vor fünf Wochen von
Schacks Verfehlungen gewusst und die diskreditierenden Briefe zum Druck angeboten bekommen: „Wir hatten von einer Veröffentlichung aber Abstand genommen, weil wir grundsätzlich der Meinung sind, dass derartige Dinge, soweit
sie rein persönlich sind und das Privatleben eines einzelnen Mannes und einer
Familie angehen, nicht vor die Öffentlichkeit gehören.“ Da Schack aber nicht
selbst die Konsequenzen hieraus gezogen habe und bisher nicht zurückgetreten
sei, und die Sache nun ohnehin öffentlich wäre, sei nun ein Bericht nötig.291
Dies belegt abermals, dass die Journalisten nicht sofort jede „sensationelle“
Meldung druckten, sondern vermutlich auch aus Angst vor Falschmeldungen,
Prozessen und dem Vorwurf der „Skandalsucht“ abwarteten, bis sie sich auf einen Bericht in einem abseitigen Blatt berufen konnten. Auffällig war zudem,
dass zahlreiche Blätter Schack zunächst nicht mit Namen nannten, sondern nur
von „einem Reichstagsabgeordneten“ sprachen.292 Die konservative Presse sah
288
289
290
291
292
Handlungsgehilfen-Zeitung Nr. 18, 8. 9. 1909; die Zeitung kursierte bereits ein paar Tage
zuvor.
In dem Brief Schacks, den am nächsten Tag zahlreiche Zeitungen abdruckten, hieß es: „Wir
wollen mit der jungen Dame, die wir suchen, das Leben und die Freuden der Liebe, ihre
Schönheiten in allen Teilen gemeinschaftlich genießen in körperlicher und seelischer Gemeinschaft. Sie soll als richtig Gleichberechtigte in unseren Bund eintreten und müsste bei gegenseitiger Neigung natürlich ebenso wie meine Frau die Gefühle für einen Mann und eine Frau
in sich vereinen.“ In dem Brief fragt er, ob sie damit einverstanden sei; zit. etwa in „Ein dreieckiges Verhältnis“, Hamburger Neueste Nachrichten Nr. 210, 8./9. 9. 1909. Unklar ist, ob
diese Briefe über eine Indiskretion bei den Behörden oder über die beteiligte Frau an die
Presse gelangten.
Vorwärts Nr. 208, 7. 9. 1909.
Berliner Tageblatt Nr. 467, 7. 9. 1909.
So selbst die linksliberale Frankfurter Zeitung nicht, Nr. 248, 7. 9. 1909. Vgl. die umfangreiche Pressesammlung in: HStAH, 331-3 Polit. Polizei S 5260.
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4. Politik und außereheliche Sexualität im Kaiserreich
219
Schacks Schuld zwar nicht als erwiesen an und druckte vornehmlich dessen
Rechtfertigung, er habe nur eine Pflegerin für seine kranke Frau gesucht und sei
nun Opfer einer jüdischen Schmutzkampagne gegen sein Privatleben geworden.
Aber selbst damit berichteten die konservativen Blätter ebenfalls über die Vorwürfe.293
Die liberalen Zeitungen, und erst recht die sozialdemokratischen, zogen aus
den Enthüllungen schnell den Schluss, dass sich dieses Verhalten nicht mit einem
Reichstagsmandat vertrage. Der Vorwärts forderte sogleich Schacks Rücktritt,294 und das Berliner Tageblatt verlangte, „wer nicht Herr seiner Triebe ist,
wer sich nicht selbst beherrschen kann, der mag ein Privatleben führen, wie er es
will, aber auf die Bühne des politischen Lebens gehört er dann nicht mehr.“295
Solche Formulierungen zeugten auf den ersten Blick von einer Toleranz gegenüber dem sexuellen Verhalten in der Privatsphäre. Zugleich verband die Formulierung Privatleben und öffentliche Repräsentation.296 Ähnlich wie bei den
britischen Skandalen erhielt Schack von seinem Umfeld und seinem Verband
zunächst noch Rückhalt, wobei ihn auch zahlreiche rasch einberufene lokale
Versammlungen öffentlich unterstützten.297 Angesichts der breiten und spöttischen Rücktrittsforderungen kündigte jedoch Schack drei Tage nach dem Aufkommen der Vorwürfe seinen Rücktritt von der Verbandsführung und dem
Reichstagsmandat an.
Im Unterschied zu den britischen Skandalen, wo die Betroffenen oft das Land
verließen, wählte Schack eine eher deutsche Form des Rückzuges: Die Flucht in
die Krankheit und die Überweisung in ein Sanatorium aufgrund nervlicher Zerrüttung.298 Die angebliche oder tatsächliche „Nervenkrankheit“ bot, wie kurz
zuvor im Eulenburg-Skandal, eine letzte Rettung: Sie vermied erstens eine Entscheidung über die Schuldfrage, indem sie diese vertagte, erlaubte zugleich aber
einen politischen Rückzug ohne Schuldeingeständnis. Sie bot zweitens eine
mögliche und eher tolerierbare Erklärung für den Normbruch (falls er nachgewiesen wurde) und war zugleich eine Aufforderung zum Mitleid. Und sie
schützte drittens vor Gerichtsprozessen. Bei den zahlreichen Verfahren, bei denen sich politische Gegner von Schack selbst anzeigten, um ihn als Zeugen vorzuladen, konnte er per Attest sein Erscheinen verhindern.299 Diese „Flucht in
die Krankheit“ gab den Gerichten die Möglichkeit, je nach politischer Opportu293
294
295
296
297
298
299
Post Nr. 418, 9. 9. 1909; Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 211, 10. 9. 1909.
Vorwärts Nr. 208, 7. 9. 1909.
Berliner Tageblatt Nr. 457, 9. 9. 1909.
So die Grundargumentation bei Sennett, Tyrannei.
Allein in Berlin kam es wohl in 14 Lokalen zu Versammlungen, die Schack das Vertrauen aussprachen; Weser-Zeitung, 11. 9. 1909; zur Stellung des Bundesverbandes: Deutsche Blätter
10. 9. 1909. Berichte über Versammlungen auch in: Polizeibericht 18. 9. 1908 in: HStAH, V544
Bd. 2.
Dies ließe sich im Sinne von Joachim Radkau auch als spezifischer Ausdruck der wilhelminischen Zeit deuten; vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität.
Hamburger Echo 26. 5. 1910.
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220
III. Ehebruch als Politikum
nität von Prozessen abzusehen. Ein großer Skandalprozess blieb zudem aus, da
es Schacks Fraktionskollegen gelang, die umworbene junge Frau unter Verweis
auf Schacks Zusammenbruch von der Zurückziehung ihrer Anzeige zu überzeugen.
Bei den Vorwürfen gegen Schack war allerdings weiterhin umstritten, inwieweit derartiges Teil der Privatsphäre sei oder in die politische Öffentlichkeit gehöre. Konservative Zeitungen warfen der SPD und den Liberalen vor, sie hätten
private Verfehlungen politisch ausgeschlachtet, und Schacks Fraktionskollegen
stellten den Politiker in umfangreichen Schriften als einen Kranken dar, der ein
Opfer der „Revolverpresse“ sei.300 Zudem verteidigten Teile der politischen
Rechten Schacks Makellosigkeit weiterhin, indem sie ihn als Opfer „verjudeter
Blätter sozialdemokratischer und bürgerlicher Richtung“ stilisierten: „Mancher
wird bei diesem Vorfall die gefährliche Macht des Judentums in unserer Presse
kennengelernt haben“, hieß es etwa in der Staatsbürgerzeitung.301
Tatsächlich beklagte die äußerste Rechte einen Journalismus, den sie selbst
maßgeblich mit aufgebracht hatte. Denn die antisemitischen Kampagnen dieser
Zeitungen und Abgeordneten hatten seit Jahrzehnten immer wieder gegen die
angebliche „Lüsternheit“ der Juden gewettert, wie auch Schack selbst. Ähnlich
wie bei den Korruptionsskandalen wurden die Antisemiten nun Opfer ihrer eigenen politischen Kampagnenformen, indem sich derartige Vorwürfe spiegelverkehrt gegen sie selbst richteten. Noch 1911 tradierten SPD-Blätter das Bild
des perversen Antisemiten mit einem Bericht darüber, dass Schacks Sekretär wegen Diebstahl von Damenwäsche von einer Wäscheleine verurteilt worden sei,
und man in seiner Wohnung eine Sammlung davon vorfand.302
Von seinen Folgen her kann man den Schack-Skandal dementsprechend als
wirkungsmächtig einschätzen. Der Skandal führte nicht nur zum Rücktritt eines
führenden antisemitischen Abgeordneten und Verbandsfunktionärs, sondern
diskreditierte den moralischen Überlegenheitsanspruch der Antisemiten insgesamt. Er förderte einen humoresken Spott über sie und verbreitete Stereotype,
die wie beim Antisemitismus leicht in die Alltagskommunikation einfließen
konnten. Der Fall zeigte schließlich, dass die moralischen Toleranzgrenzen nicht
allein vom Normbruch selbst abhingen. Entscheidend war vielmehr der gesellschaftliche Konflikt, in den die Enthüllung eingebettet war. In diesem Fall war
der Skandal folgenreich, weil die Mehrheit der Öffentlichkeit für die Ausgrenzung eines radikalen Antisemiten eintrat.
300
301
302
Aufklärungsschriften des Reichsverbandes der deutschsozialen Partei Nr. 10,
Okt. 1909. Vgl. die Erwiderung im Vorwärts Nr. 211, 11. 9. 1909.
Zit. Staatsbürgerzeitung Nr. 74, 15. 9. 1909, und Deutsche Blätter Nr. 75, 21. 9. 1909.
Hamburger Echo 15. 3. 1911.
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5. Zwischenfazit
221
5. Zwischenfazit
Weder im spätviktorianischen England noch im wilhelminischen Deutschland
kam es zu einer zunehmenden Tabuisierung der Sexualität zwischen Männern
und Frauen. Vielmehr etablierte sie sich als ein öffentlich verhandelbares Thema, bei dem Normen und Abweichungen diskutiert wurden. Dies galt besonders für den außerehelichen Geschlechtsverkehr, aber auch für die Prostitution.
Ausgelöst und ermöglicht wurde das Sprechen über die außereheliche Sexualität
maßgeblich durch Skandale von Prominenten, zu denen auch Politiker zählten.
Nicht nur im viktorianischen Großbritannien, sondern auch im wilhelminischen
Deutschland lancierte die Presse entsprechende Beschuldigungen gegen missliebige Politiker. Welche Konsequenzen daraus folgten, war bei den Skandalen
in beiden Ländern zunächst überraschend offen. In beiden Ländern musste erst
öffentlich ausgehandelt werden, ob jemand, der sich nicht an das eheliche TreueIdeal hielt, weiterhin als Repräsentant des Volkes oder des Staates akzeptabel
erschien. Somit legte nicht eine vorher bestehende Norm den Ausgang von
Skandalen fest, sondern die Norm wurde erst durch die Skandale und ihren Verlauf etabliert.
Dabei zeigte sich, wie sehr die unterschiedlichen rechtlichen Strukturen die
öffentlichen Sprechweisen und damit die Skandale prägten. Während in Großbritannien das strenge Scheidungsrecht mit seinen öffentlichen Prozessen Geständnisse und eine breite Thematisierung nicht-ehelicher Beziehungen förderte, wahrten in Deutschland selbst Prozesse über Politiker eine gewisse Diskretion über das Privatleben. Obgleich auch für Großbritannien eine Protektion
der Politiker durch die Justiz nachweisbar war, griff dieser Schutzmechanismus
in Deutschland wesentlich stärker. Und obwohl in Deutschland generell wesentlich freier über die Sexualität geschrieben wurde, hielten sich bereits die
Journalisten des Kaiserreiches tendenziell mit einer Benennung und Politisierung von öffentlich gemachten Ehebrüchen zurück.
Dennoch sind ähnliche Entwicklungen in beiden Ländern erkennbar, die sich
aus der Medialisierung und dem verstärkten politischen Wettbewerb erklären
lassen. So zeigte die Presse in beiden Ländern zunächst Zurückhaltung. Obgleich viele Journalisten von entsprechenden Normbrüchen wussten, setzten sie
sich selbst recht strenge Grenzen, ab wann und in welcher Form sie über Ehebrüche berichteten. Auch in Großbritannien veröffentlichten sie vor den Scheidungsprozessen allenfalls versteckte Andeutungen, die die Politiker warnend
zur moralischen Einkehr bewegen sollten und nur eine spöttische Empörung
der „Eingeweihten“ erlaubte. Liebesaffären wurden folglich selbst im spätviktorianischen England solange toleriert und nicht veröffentlicht, bis sie gerichtsnotorisch wurden. Legitim erschien eine solche Publikation erst in Verbindung mit
einem juristisch fassbaren Vergehen, einer öffentlichen Lüge hierüber oder einer
Beeinflussung eines politischen Amtes. In beiden Ländern zeigte die Presse dabei eine deutliche Scheu, mit der ersten expliziten Meldung aufzutreten. Deshalb verlagerte sie dies in kleinere politische Zeitungen, auf die dann die anderen
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222
III. Ehebruch als Politikum
Blätter zitierend verwiesen. Auch die deutschen Journalisten nahmen dabei
durchaus eine initiative Rolle ein. Allerdings fand sich in Deutschland kein
Journalist, der mit einem derartig hartnäckigen moralischen Engagement Ehebruchsskandale forcierte und lenkte wie W. T. Stead in Großbritannien, der insbesondere beim Fall Dilke den Ablauf maßgeblich bestimmte, aber auch bei
Parnells Ehebruchskandal. Selbst der gut organisierte politische Katholizismus
in Deutschland bildete kein Pendant zum britischen non-konformistischen
Journalismus und trat vielmehr für ein Verschweigen des außerehelichen Verkehrs ein.
Bei der Veröffentlichung der Enthüllungen und der anschließenden Empörung dominierten überwiegend politische Motive. Dementsprechend richteten
sie sich besonders gegen exponierte Politiker, die für eine umstrittene Politik
standen – sei es für die Autonomie Irlands (Parnell), radikalen Liberalismus
(Dilke), eine offiziöse Pressepolitik (Hammann) oder den Antisemitismus
(Schack). Da die sexuellen Vorwürfe in den Parlamenten nicht thematisierbar
waren, übernahmen die jeweiligen parteinahen Medien dies. Dementsprechend
korrespondierte das Aufkommen der Ehebruchsskandale erneut mit politischen
Konfliktphasen und der jeweiligen Medienentwicklung. Von ihrer Chronologie
her verliefen sie dabei auffällig ähnlich wie die Homosexualitätsskandale: In
Großbritannien traten seit Mitte der 1880er Jahre entsprechende Skandale auf,
die um 1890 ihren Höhepunkt erreichten, in Deutschland setzten sie hingegen
seit den 1890er Jahren ein, kulminierten jedoch abermals erst um 1908. Offensichtlich befruchteten sich Skandale um Homosexualität und unehelichen Verkehr gegenseitig, indem sie das Sprechen über Sexualität und entsprechende politische Kampagnen wechselseitig förderten.
Ob die betroffenen Politiker zurücktreten sollten, war jeweils relativ offen.
Insbesondere die liberalen Zeitungen in beiden Ländern zeigten beim Aufkommen der Vorwürfe eine bemerkenswerte Toleranz gegenüber heterosexuellen
Normverstößen. Außereheliche Verhältnisse ordneten sie der Privatsphäre zu,
die unabhängig von der Politik zu betrachten sei. Zugleich zeigten die politischen Lager jedoch eine starke moralische Opportunität, je nachdem, gegen
wen sich die Vorwürfe richteten. Die ihnen politisch nahestehenden Betroffenen unterstützten die jeweiligen Teilöffentlichkeiten erstaunlich lange, selbst
wenn ihre katholische oder konservative Weltanschauung grundsätzlich eine
andere Bewertung außerehelicher Verhältnisse erwarten ließ. Da die Enthüllungen als Teil einer polarisierten politischen Auseinandersetzung galten, förderten sie bei der angegriffenen Partei notgedrungen eine größere moralische
Toleranz. Ebenso zeigten die Regierungen und die Fraktionskollegen in beiden
Ländern eine bemerkenswerte Nachsicht gegenüber dem publizierten außerehelichen Liebesleben und versuchten gegenüber besonders engagierten Journalisten mit Gesprächen zu vermitteln. Wenn sich die liberalen Politiker Großbritanniens schließlich doch für Rücktritte aussprachen, so geschah dies vor allem
mit Blick auf die nonkonformistischen Wähler und die Angst, andere politische
Ziele sonst nicht durchsetzen zu können. Die mediale Dynamik des Skandals,
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5. Zwischenfazit
223
die tabubrechende Geständnisse produzierte und die Politiker der Lüge verdächtigte, beschleunigte dann die öffentliche Forderung nach einem Rücktritt.
Die unmittelbaren Folgen der Skandale um außerehelichen Verkehr unterschieden sich somit in den beiden Ländern: In Großbritannien führten sie zum
Rücktritt der Politiker, in Deutschland konnten sie zumeist ihre Posten behalten. Allerdings lässt sich auch dieser Befund differenzieren. Selbst in der spätviktorianischen Zeit erschien es als zulässig, dass moralisch diskreditierte Politiker zumindest in der zweiten Reihe ihr öffentliches Amt behielten. Selbst die
intensiven Kampagnen W. T. Steads gegen Charles Dilkes Rückkehr ins Unterhaus konnten diese nicht verhindern. Umgekehrt bestanden in Deutschland, das
sich insgesamt als toleranter erwies, durchaus auch Grenzen des moralisch Zulässigen, etwa, wenn ein besonders umstrittener Politiker wie der Antisemit
Wilhelm Schack beschuldigt wurde. Im Vergleich zur Homosexualität zeigte
sich hingegen in beiden Ländern eine größere Toleranz.
Die Skandale prägten die moralische Selbstwahrnehmung der Gesellschaft.
Dabei korrespondierten sie mit sensationellen Enthüllungen über Ehebrüche
von Adligen und Prostitution in den Metropolen, die kurz zuvor das Themenfeld geöffnet hatten. Während die Berichte über unmoralische Adelige und
Prostituierte der bürgerlichen Mittelschicht eine moralische Abgrenzung erlaubten, thematisierten die hier analysierten politischen Skandale sexuelle
Normbrüche inmitten der bürgerlichen Elite. Gerade dies dürfte dafür gesorgt
haben, dass die Fälle nicht nur zu einer spöttischen Empörung führten, sondern
auch zu einer Verunsicherung über den Status der bürgerlichen Ehe.
Die Skandale suggerierten auf unterschiedliche Weise die Gefährdung des
monogamen Ehe-Ideals; sei es durch einfache Untreue, durch die „wilde Ehe“
oder durch den Wunsch nach dem sexuellen Verkehr zu dritt. Dabei konstruierten die Skandale in beiden Ländern das Bild des triebhaften Mannes, der selbst
die Ehefrauen von Freunden verführt, wenn er sich nicht zügelt. Zugleich differenzierten sie dieses archaische Männerbild, indem sie die Verzweiflung von betrogenen Männern dokumentierten, die aus Rache und Hilflosigkeit den Ehebruch schließlich öffentlich machten. Die Skandale veränderten jedoch vor allem
in Großbritannien die Vorstellungen über die Sexualität der Frau. Die weiblichen Geständnisse verbreiteten das Bild einer aktiven Sexualität bürgerlicher
Frauen, die souverän ihre Ehemänner betrogen. Gerade dies löste eine weitere
Verunsicherung in der männlich geprägten Öffentlichkeit aus.
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IV. BÜRGERLICHE ENTGRENZUNGEN:
KOLONIALSKANDALE
1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse im
19. Jahrhundert
Die Kolonien bildeten Projektionsflächen für vielfältige Sehnsüchte und Ängste.
Für europäische Männer schien hier eine Überschreitung bürgerlicher Grenzen
möglich – sei es bei der außerehelichen Sexualität, der Ausübung autoritärer Gewalt und dem übermäßigen Alkoholkonsum, sei es bei gewinnbringenden Geschäften, die im eigenen Land gegen die kaufmännische Ehre verstoßen hätten.
Obgleich nur wenige Kolonialisten derartiges auslebten, speisten deren Berichte
doch die öffentliche Imagination über die fernen Kolonialreiche.1 Derartige
Grenzüberschreitungen wurden als Kompensation für die Entbehrungen in den
Kolonien und als notwendige Anpassung an die äußeren Bedingungen gerechtfertigt und lange Zeit im höheren Maße toleriert als in den Heimatländern. Die
geringere bürgerliche Sozialkontrolle und die fehlende Medienöffentlichkeit
schufen ebenfalls Spielräume für ein Verhalten, das in den Heimatländern
schneller zu Skandalen geführt hätte. In den Kolonien kursierten zwar schnell
Gerüchte, die mitunter über Leserbriefe auch in europäische Zeitungen einflossen. Aber Recherchen durch Journalisten, Politiker, Richter oder Privatdetektive waren bei Verstößen gegen bürgerliche Regeln und Gesetze zunächst kaum
zu befürchten, wenn diese lediglich die Eingeborenen benachteiligten.
Sexuelle Sehnsüchte spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Kolonien bildeten
in vielfacher Hinsicht eine „Chiffre für sexuelle Träume“.2 Vorstellungen über
die ungezwungen triebhafte afrikanische oder orientalische Frau, die zugleich
das Bild der sittlichen heimischen Frau mit konstruierten, weckten erotische
Phantasien. Damit verbunden kursierte die Angst vor Geschlechtskrankheiten
und einer rassischen Vermischung.3 Tatsächlich verkehrten zahllose Kolonialisten mit einheimischen Frauen. Sie prahlten damit untereinander, mitunter auch
1
2
3
Dies stellten bereits diverse Studien zum Kolonialismus heraus. Vgl. für Deutschland bes.
Birthe Kundrus (Hrsg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003; dies., Moderne Imperialisten; für das Empire frühzeitig, aber eher
literaturwissenschaftlich: Martin Green, Dreams of Adventure, Deeds of Empire, London
1980. Dass das Empire für die meisten Briten kein größere Bedeutung gehabt habe, betont
dagegen: Porter, The Absent-Minded Imperialist.
Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 407; aus der umfangreicheren angelsächsischen Literatur zu diesem Feld vgl. etwa: Ann Laura Stoler, Race and the Education of Desire.
Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham 1995.
Beispiele für die seit langem bestehende Zuschreibung einer ungezügelten Sexualität der Afrikaner in: Anne McClintock, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial
Context, New York 1995, S. 22 f.
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226
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
in ihren Memoiren, oder rechtfertigten dies zumindest als „Notlösung“. Eine
„schwarze Freundin“, so schrieb etwa Max Buchner 1887 über das Leben in
Kamerun, würde gegen „die Verkümmerung des Gemüts“ in der Einsamkeit
schützen.4 Wie Ronald Hyam mit zahlreichen Beispielen argumentierte, war
diese populäre sexuelle Imagination sogar ein wesentlicher Motor für die koloniale Expansion im späten 19. Jahrhundert.5 Das galt auch für Homosexuelle,
für die die Spielräume in den Kolonien ebenfalls deutlich größer waren. Die
Flucht vor dem klassischen Familienleben bildete vielfach ein Motiv für die weiten Reisen prominenter Kolonialisten.6 Schließlich waren gerade in vielen britischen Kolonien die Gesetze gegen Homosexualität weniger rigide als im Mutterland. Die besonders hierarchischen Beziehungen, etwa zu einheimischen
Haushaltshilfen, erleichterten den homosexuellen Kontakt ebenso wie bei den
heterosexuellen Geschlechtsbeziehungen. Die zahlreichen homoerotisch gefärbten literarischen Kolonialberichte lassen sich ebenfalls als Ausdruck dieser
Sehnsüchte fassen.7
Die öffentlichen Normen und tolerierbaren Praktiken waren jedoch auch in
den Kolonien variabel und mussten jeweils erst ausgehandelt werden. Der offizielle Verhaltenskodex, der im Mutterland für die Kolonisation angestrebt wurde, war selbstverständlich von Beginn an ein anderer. Die Kolonialmächte legitimierten ihre Eroberungen als „Zivilisierungsmissionen“ (Barth/Osterhammel). Wie bereits die Berliner „Kongo-Konferenz“ 1884/85 zeigte, formulierten
sie durchaus die Absicht, Afrikaner durch „Erziehung“ und Ausbildung an der
Zivilisation teilhaben zu lassen.8 In Deutschland herrschte durch den späten Erwerb von Kolonien von Beginn an ein besonders hoher moralischer Anspruch
vor. In ihrer Selbstlegitimation sahen die Deutschen ihre kolonialen Eroberungen stärker als eine Kulturarbeit, während die Engländer angeblich nur wirtschaftliche Interessen verfolgen würden. Entsprechend grenzten sich die Deutschen auch von der brutalen Ausbeutung der Einheimischen ab, die die westeuropäischen Nachbarn durch die Sklaverei betrieben hätten. Der Kampf gegen
4
5
6
7
8
Max Buchner, Kamerun. Skizzen und Betrachtungen, Leipzig 1887, S. 154. Vgl. auch
Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 222–226; Lora Wildenthal, German Women for Empire 1884–1945, London 2001, S. 81 f.
Hyam, Empire and Sexuality, S. 1 f.; zur Kritik an Hyams darüber hinaus gehender These, die
Sexualkontakte hätten erst zu Interaktionen geführt, die das Empire zusammenhielten, vgl.:
Mark T. Berger, Imperialism and Sexual Exploitation: a Review Article, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 17 (1988), S. 83–98; sowie: Ronald Haym, A Reply, in: ebd.
Aldrich, Colonialism and Homosexuality, S. 408.
Vgl. etwa: Philipp Holden und Richard Ruppel (Hrsg.), Imperial Desire. Dissident Sexualities and Colonial Literature, Minneapolis und London 2003. Entsprechende Quellen aus
Reiseberichten in: Lee Wallace, Sexual Encounters. Pacific Texts, Modern Sexualities, Cornell 2003.
Andreas Eckert, Die Verheißung der Bürokratie. Verwaltung als Zivilisierungsagentur im
kolonialen Westafrika, in: Boris Barth und Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 269–283,
S. 270.
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1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse
227
die Sklaverei legitimierte Ende der 1880er Jahre sogar den deutschen Einsatz
von Truppen in den Kolonien und damit die eigene Gewalt.9 Gerade dieser explizit moralisch-kulturelle Anspruch, der sich an den westlichen Nachbarländern maß, setzte jedoch die Fallhöhe für deutsche Kolonialskandale entsprechend hoch.
Eine weitere Vorbedingung für das Aufkommen von Skandalen waren auch
beim Kolonialismus die gesetzlichen Vorgaben. Weder die britischen noch die
deutschen Kolonien kannten ein einheitliches Recht, sondern wiesen starke Variationsbreiten auf. Ein gewisses Spezifikum des deutschen Rechts war die stärkere rassistische Abstufung, während bei den Briten die den Einheimischen individuell zugeschriebene Kulturstufe eine größere Rolle spielte.10 Auffällig war
zudem, dass bereits als anachronistisch geltende Strafen in den deutschen Kolonien eine intensivere Anwendung fanden. Obgleich die Prügelstrafe in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hatte, erlebte sie in
den Kolonien eine ebenso starke Blüte wie die Todesstrafe, die im Deutschen
Reich um 1900 immer seltener vollstreckt wurde.11 Da eine klare Regelung der
gesetzlichen Grundlagen in den Kolonien ausblieb, verfügten die jeweiligen Kolonialbeamten über große Spielräume bei ihren Urteilen. Kontrollinstanzen
fehlten häufig allein deshalb, weil ein Beamter alle drei Gewalten vereinte. Dass
die rechtlichen Normen so variabel waren, dürfte ebenfalls Skandale gefördert
haben, da nur eine öffentliche Empörung Strafen korrigieren konnte, die als
willkürlich empfunden wurden.
Die Entwicklung der juristischen und normativen Regeln ging in der kurzen
deutschen Kolonialgeschichte in etwa mit den Phasen der kolonialen Erschließung einher. So setzte nach einer Phase der ungeordneten Eroberung seit Mitte
der 1880er Jahre in den 1890er Jahren eine Phase der Konsolidierung ein, in der
nicht zuletzt im Kontext von verschiedenen Skandalen moralische und juristische Regeln austariert wurden. Seit 1907 begann, wiederum nach zahlreichen
Skandalen, eine gewisse Reformphase.12 In ihr wurden administrative und ökonomische Praktiken hinterfragt, aber auch der Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Die dabei erkennbare Verrechtlichung moralischer Standards bezog
9
10
11
12
Zu diesem Diskurs vgl. Michael Schubert, Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland
von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart 2003, bes. S. 194–216, 224 u. 261–267.
Harald Sippel, Typische Ausprägungen des deutschen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems in Afrika, in: Rüdiger Voigt und Peter Sack (Hrsg.), Kolonialisierung des Rechts.
Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung, Baden-Baden 2001, S. 351–372, S. 360.
Thomas Kopp, Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts, in: Voigt und Sack
(Hrsg.), Kolonisierung, S. 71–94, S. 81; Nils Ole Oermann, The Law and the Colonial State.
Legal Codification versus Practice in a German Colony, in: Geoff Ely und James Retallack
(Hrsg.), Wilhelminism and its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meaning
of Reform, 1890–1930, New York und Oxford 2003, S. 171–184.
Vgl. generell zu Zäsuren in der deutschen Kolonialgeschichte, die freilich allenfalls in der Tendenz sinnvoll sind: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 2004
(Erstausgabe 1985), S. 241.
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228
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
sich auch auf die sexuellen Beziehungen zu Afrikanerinnen, was sich insbesondere in den vielfältigen Debatten und Gesetzen zur „Mischehe“ niederschlug.13
Für die britischen Kolonien lässt sich dank der längeren Kolonialtradition
noch deutlicher die Zunahme normativer Regeln ausmachen, wobei diese mit
den moralischen Debatten auf der britischen Insel korrespondierten. Gegenüber
kolonialer Korruption und Gewalt lässt sich bereits für das späte 18. Jahrhundert ein Zusammenspiel zwischen der öffentlichen Kritik und politischen Reformversuchen erkennen. Aufklärerische Interventionen wie Edmund Burkes
berühmte Anklagen gegen den indischen Generalgouverneur Warren Hastings
und die East India Company, die er als „one of the most corrupt and destructive
tyrannies“ bezeichnete, modifizierten das zulässige Verhalten.14 Ebenso trug
seit den 1780er Jahren die Anti-Sklaverei Bewegung durch die Veröffentlichung
schockierender Berichte mit dazu bei, diese zunehmend moralisch illegitim erscheinen zu lassen.15 Eine freie Presse in den Kolonien wurde dabei bereits als
Katalysator gesehen, um dort das willkürliche Auspeitschen, Verwaltungsmissstände und die „Unmoral“ zu beseitigen. Seit den 1850er Jahren nahmen in den
Medien auch explizite Berichte über die Gewalt in den Kolonien zu. Sie führten
mitunter, wie 1865 nach einer blutigen Vergeltung in Jamaica, zur Bestrafung
der Kolonialbeamten, ohne dass dies jedoch in eine breitere mehrheitliche öffentliche Kolonialkritik mündete.16 Ebenso kam es bei der blutigen Niederschlagung des indischen Aufstandes 1857 in Großbritannien zwar zu zahlreichen
öffentlichen Berichten, nicht aber zu einer breiten britischen Empörung über
die Gewalteskalation.17
Mit Blick auf die sexuellen Normen lässt sich bereits im 19. Jahrhundert eine
enge Interaktion zwischen dem britischen Mutterland und seinen Kolonien
ausmachen. Parallel zu den Sexualitätsskandalen, die innerhalb von England
um 1820 auftraten, kam es auch innerhalb der britischen Kolonien zu entsprechenden Normbrüchen, die zumindest in den dortigen, stärker mündlich ge13
14
15
16
17
Vgl. auch: Cornelia Essner, Zwischen Vernunft und Gefühl. Die Reichstagsdebatten von
1912 um koloniale „Rassenmischehe“ und „Sexualität“, in: ZfG 45 (1997), S. 503–519.
Die Rede ist abgedr. in: Peter J. Marshall (Hrsg.), The Speeches of the Right Hon. Edmund
Burke, Bd. 5: India: Madras and Bengal, 1774–1785, Oxford 1981, S. 385 u. Bd. 7: India: The
Hastings Trial 1789–1794, Oxford 2000. Zu Burkes Ignoranz gegenüber der Presse: Clark,
Scandal, S. 84–112. Zum Kontext vgl. etwa: Andrew Porter, Trusteeship, Anti-Slavery, and
Humanitarianism, in: ders. (Hrsg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 3: The
Nineteenth Century, Oxford 1999, S. 198–221.
Zu dem öffentlichen Druck auf die Politik vgl. Seymour Drescher, ‚Whose Abolition‘? Popular Pressure and the Ending of the British Slave Trade, in: Past and Present 143 (1993),
S. 136–166.
So die Einschätzung von Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire, Cambridge 2005 (3. Aufl.), S. 200–204. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung der Presse als moralische Kraft in den Kolonien vgl. etwa: Leicester Stanhope, Sketch of the History and Influence of the Press in British India, London 1823.
Allerdings etablierte die brutale Niederschlagung des Aufstandes zumindest in fiktionalen Arbeiten und Erinnerungen Schulddiskurse; vgl. Gautam Chakravarty, The Indian Mutiny
and the British Imagination, Cambridge 2005.
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1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse
229
prägten Öffentlichkeiten für Empörung sorgten. So brachte in dieser Zeit ein
südafrikanischer Skandal das Bild des ehebrechenden Missionars auf.18 Nicht
zufällig führte gerade das Verhalten der Missionare zu Skandalen, da diese in
den Kolonien des frühen 19. Jahrhunderts am stärksten den heimischen Normen
verpflichtet waren. Ebenso entstanden mit der Etablierung regionaler Zeitungen in den Kolonien Skandale, die Gerüchten über unzulässiges Sexualverhalten verbreiteten und damit über Exklusion und Inklusion in den sich neu
formierenden Gesellschaften entschieden.19 Darüber hinaus lassen sich in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits Kolonialskandale um sexuelle Normen ausmachen, die auch die britische Öffentlichkeit diskutierte und mit generellen Fragen der Kolonialpolitik verband. Als etwa Sir John Eardley-Wilmot,
dem Vize-Gouverneur der Strafkolonie Van Diemen’s Land, 1845 Homosexualität vorgeworfen wurde, und der damalige Kolonialminister Gladstone auf
seiner Abberufung bestand, führte dies im Parlament und der britischen Presse
nicht nur zu einer Debatte über dessen „private and public character“. Vielmehr entstand hieraus auch eine generelle Kritik an der Kolonialverwaltung,
die sich vornehmlich gegen die Regierung und ihren Umgang mit dem Fall
richtete.20
Die Intensivierung der britischen „Sexualpolitik“ seit den 1860er Jahren zeigte
sich auch in den Kolonien. So wurden die erwähnten Gesetze zur medizinischen
Kontrolle von Bordellen im Heimatland bereits vorher in einzelnen Kolonien
erprobt.21 Die damit einhergehende Gründung von Bordellen in den Kolonien
stand zugleich für eine gewisse Tolerierung des sexuellen Verkehrs mit den dortigen Frauen. Sowohl die Angst vor der rassischen Vermischung und illegitimen
Kindern als auch die Furcht vor einer „notgedrungenen“ Homosexualität förderten diese Bordellgründungen, die wiederum Kampagnen gegen sie hervor
riefen. Die moralischen Kontrollansprüche nahmen um 1860 insbesondere in
Indien zu. Die Verdichtung der Kommunikation mit der britischen Insel, die
steigende Heiratsquote der Soldaten und die häufigere Anwesenheit von Ehefrauen führten dazu, dass nun auch in den Kolonien außerehelicher Geschlechtsverkehr im höheren Maße zum Normbruch wurde. Zudem sorgte die Präsenz
von Missionaren für eine Anbindung an die heimische Öffentlichkeit. All dies
förderte das Aufkommen von Skandalen.
18
19
20
21
Julia Wells, The Scandal of Rev. James Read and the Taming of the London Missionary
Society by 1820, in: South African Historical Journal 42 (2000), S. 136–160. Einen weiteren Fall für Australien beschreibt: Ken R. Manley, A Colonial Evangelical Ministry and a
„Clerical Scandal“. James Taylor in Melbourne (1857–1868), in: Baptist Quarterly 39 (2001),
S. 56–79.
Kirsten McKenzie, Women’s Talk and the Colonial State: The Wylde Scandal, 1831–1833, in:
Gender & History 11 (1999), S. 30–53. Auch abgedruckt in: McKenzie, Scandal, S. 17–45.
Vgl. Times 8. 6. 1847, S. 2, 3 u. 5, 11. 6. 1847, S. 3 u. 5, 23. 6. 1847, S. 6. Knappe Erwähnung des
Falls in: Shannon, Gladstone, Bd. 1, S. 191.
Besonders Hongkong war hier ein Vorreiter; vgl. Philippa Levine, Prostitution, Race and
Politics. Policing Veneral Disease in the British Empire, London 2003, S. 15.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
In den 1880er Jahren überlagerten sich die Kampagnen gegen die heimischen
Prostitution und die in den Kolonien. Auch im Kolonialdiskurs setzte W. T.
Steads Pall Mall Gazette entscheidende Akzente, um die Kolonien als Ort der
illegitimen Sexualität erscheinen zu lassen. Unter dem Aufmacher „Is the Empire a Moloch?“ monierte sein Blatt 1887, dass zumindest die ‚schwarzen‘ Kolonien nur mit Gewalt beieinandergehalten würden und die rund 260 000 Engländer in den Kolonien, weil sie fast alle ohne Frauen seien, „immoral relations
with natives“ führten, die sie selbst zu Wilden machten.22 Daraufhin reiste der
Herausgeber der christlichen Zeitschrift Sentinel, der Quäker Alfred S. Dyer,
der durch seine White Slave-Kampagne bereits für Westeuropa das Thema gesetzt hatte, nun nach Indien und berichtete ab 1888 von dort anklagend, die
britischen Behörden würden sogar Bordelle gründen. Insbesondere seine Veröffentlichung einer diskreditierenden Anfrage eines hohen Militärs („Please send
young and attractive women“) im Sentinel löste entsprechende Reformen aus.23
Welche Normen und welche Gesetze in den einzelnen Kolonien galten, hing
jedoch im hohen Maße von den jeweiligen rassistischen Vorurteilen ab. So blieben im Empire auch Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere in Westafrika,
Kenia, Uganda, Burma und Malaysia noch einheimische Konkubinen üblich, so
lange der Verkehr mit ihnen nicht öffentliche Empörungen auslöste.24 Die Skandalisierung war somit ein Mittel, um die jeweilige Zulässigkeit des kolonialen
Verhaltens auszuhandeln.
Die neue Massenpresse förderte zweifelsohne in beiden Ländern Verbindungen zwischen dem Kolonialismus und sexuellen Phantasien, Zuschreibungen
und Praktiken. Illustriertenfotos von halbnackten Frauen aus den Kolonien, wie
sie von Europäerinnen undenkbar waren, wurden umstandslos gedruckt. So
zeigte bereits eines der ersten publizierten Fotos in der Illustrated London News
nackte Afrikanerinnen.25 Auch ihr Berliner Pendant, die Berliner Illustrirte Zeitung, druckte bei ihren ersten regelmäßigen Fotostrecken unbekleidete Busen
aus den Kolonien.26 Zudem kreierten sie populäre Imaginationen über die freizügige Lebensweise der indigenen Bevölkerung.27 Diese vielfältigen Presseberichte über die Kolonien trugen zur Faszinationskraft der Kolonien bei. Umge22
23
24
25
26
27
Pall Mall Gazette 19. 5. 1887, S. 1–3; vgl. zu dieser Debatte: Kenneth Ballhatchet, Race,
Sex and Class under the Raj. Imperial Attitudes and Policies and their Critics 1793–1905, London 1980, S. 57 f.
Vgl. Sentinel Mai 1888 (der Untertitel der Zeitschrift war: „A monthly journal devoted to
the exposition and advancement of public morality and to the suppression of vice“); im Unterhaus versprach die Regierung eine Untersuchung, wies den Vorwurf der regierungsgeförderten Zwangsprostitution aber zurück: Times 24. 2. 1888, S. 5, 24. 4. 1888, S. 6, u. 11. 12. 1888, S. 6;
Alfred Dyer, The Black Hand of Authority in India, London 1888.
Vgl. hierzu: Hyam, Empire, bes. S. 118, 151 u. 201; Levine, Prostitution, S. 91 f. u. 323.
Illustrated London News 17. 10. 1885, 23. 2. 1889 und 21. 12. 1889.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 3 16. 1. 1898 u. Nr. 20 14. 5. 1899; ebenso fanden sich Artikel und Bilder über Harems; Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 1, 5. 1. 1896.
Vgl. generell: Eleanor M. Hight und Gary D. Sampson, Colonialist Photography.
Imag(in)ing Race and Place, London 2002.
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1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse
231
kehrt lässt sich aber auch der Aufschwung der Massenpresse und insbesondere
der Illustrierten im hohen Maße mit dem Interesse an den Kolonien erklären.28
Insbesondere die 1896 gegründete Daily Mail, die mit dem Motto „for the power, the supremacy and the greatness of the British Empire“ antrat, verdankte ihren schnellen Aufstieg zur auflagenstärksten Zeitung nicht zuletzt ihrer Kolonialbegeisterung, mit der sie im Burenkrieg mobilisierte.29 Exotismus, Nationalismus und sensationelle Abenteuergeschichten vermischten sich in den Berichten
über die Kolonien und gaben ihnen damit per se das Antlitz des Außergewöhnlichen, das wiederum nur durch ebenso außergewöhnliche Berichte zu steigern
war. Dabei zeigten die kolonialen Medienberichte oft eine beträchtliche Selbstreferentialität, da vielfach die Erfahrungen der Reporter selbst in den Mittelpunkt rückten und den Kern der Neuigkeiten ausmachten.
Nachrichten aus den Kolonien fanden ihren Weg zumeist über recht verschlungene Wege in die Zeitungen. Kabeldepeschen ermöglichten bereits im
späten 19. Jahrhundert eine sofortige Meldung wichtiger Vorfälle, was ein kommunikatives Zusammenwachsen mit den Kolonien förderte. Allerdings waren
Telegramme so teuer, dass sie sich auf Kurzmeldungen beschränkten und ausführliche Berichte weiter über mehrere Wochen per Post unterwegs waren.30
Zudem schränkte gerade in Deutschland die Kontrolle der Telegramme die freie
Kommunikation ein.31 Für Großbritannien galt zumindest während des Burenkrieges Ähnliches. Die Presseberichte aus den Kolonien beruhten deshalb häufig auf Zuschriften von Afrikareisenden, die eher die dortigen Gerüchte über
Ereignisse schilderten und seltener Augenzeugenberichte waren. Eine weitere
Quelle für die britische und deutsche Presse waren die Zeitungen in den Kolonien. Insbesondere die Nachrichtenagenturen sorgten durch das Aufgreifen von
Zeitungsmeldungen in den unterschiedlichen Ländern für einen wechselseitigen
Austausch von Meldungen, der eine kommunikative Verflechtung schuf.32 Die
deutschen Zeitungen waren dabei aufgrund der rigideren Zensur bei ihren Kolonialberichten häufig auf die britischen Blätter und die englische Nachrichtenagentur Reuters angewiesen, wie sie beklagten.33 Beim Aufkommen von Skandalen gingen die Nachrichten dementsprechend derartig vielfältige Wege, dass
28
29
30
31
32
33
So argumentierte bereits: Winfried Baumgart, Der Imperialismus. Idee und Wirklichkeit
der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880–1914, Wiesbaden 1975, S. 36 f.
Vgl. zu ihrer patriotistische Kriegsberichterstattung: S. J. Taylor, The Great Outsiders:
Northcliffe, Rothermere and the Daily Mail, London 1996, S. 55–72.
Vgl. bereits als zeitgenössische Reflexion: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894), S. 332.
Vgl. etwa die Anweisung: an von Soden 27. 5. 1891, in: BAB/L, R1001-4694.
Diese Verflechtung zeigen anschaulich: Simon J. Potter, News and the British World. The
Emergence of an Imperial Press System, 1876–1922, Oxford 2003; Chandrika Kaul, Reporting the Raj: The British Press and India, 1880–1922 Manchester 2003. Vgl. generell zur Presse
in Kolonien, leider ohne Hinweise zur Verflechtung mit der Öffentlichkeit in den europäischen „Mutterländern“: Andreas Osterhaus, Europäischer Terraingewinn in Schwarzafrika. Das Verhältnis von Presse und Verwaltung in sechs Kolonien Deutschlands, Frankreichs
und Großbritanniens von 1894 bis 1914, Frankfurt a. M. 1990.
Vgl. die Beschwerde dazu in Berliner Tageblatt Nr. 572, 11. 11. 1891.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
sie sich leicht von dem eigentlichen Geschehen ablösen konnten und eher Deutungen der jeweils Beteiligten waren.
Eigene Korrespondenten, die direkt für eine Zeitung aus den Kolonien berichteten, waren dagegen noch die große Ausnahme. Die Afrika-Korrespondentin der Times etwa, Flora Shaw, verfügte zweifelsohne über exzellente Kontakte
zur Regierung in Südafrika und zum Kolonialministerium, auf dessen Vorschlag
sie überhaupt bei der Times eingestellt wurde.34 Beide Seiten informierten sie
exklusiv und vorab mit Informationen. Allerdings berichtete sie gewöhnlich
von London aus. Eine größere Zahl von eigenen englischen Berichterstattern
kam erst im Zuge des Burenkrieges nach Afrika, wobei diese oft weniger journalistische Erfahrungen und als kolonialtaugliche Abenteuerlust und Kompetenzen wie „Reitfähigkeit“ mitbrachten.35
Die deutschen Zeitungen priesen ebenfalls vereinzelt eigene Korrespondenten
in den Kolonien an. Diese waren jedoch nicht unbedingt vor Ort. So stellte das
Berliner Tageblatt hämisch fest, dass der afrikanische „Spezialberichterstatter
der Vossischen Zeitung“ nicht aus den Kolonien, sondern aus Berlin berichtete.36 Diesen Spott konnte sich das Berliner Tageblatt erlauben, da es zu den ganz
wenigen Zeitungen mit einem eigenen „Berichterstatter für Ost-Afrika“ gehörte. Obgleich auch dieser meist nur von der Küste melden konnte, was ihm
über einige hundert Kilometer gerüchteweise zugetragen wurde, erhöhte gerade
diese zunehmende persönliche Präsenz von Journalisten die Möglichkeit, Missstände in Skandale zu überführen.37
Öffentliche Kritik am imperialen Vorgehen war seit den 1880er Jahren auch
zunehmend aus der Politik zu vernehmen. Obgleich in nahezu jeder Partei einzelne Abgeordnete unterschiedliche Bedenken formulierten, bildete in beiden Ländern zunächst der linke Flügel der Liberalen die Keimzelle der Kritik. In Großbritannien waren es vor allem Linksliberale wie Henry Labouchere, John Hobson
oder Edmund Morel, die den Kolonien eine stärkere Selbstverantwortung geben
wollten. Während des Burenkrieges profilierten sich vor allem die späteren Premierminister Lloyd George und Campbell-Bannermann mit moralischen Argumenten gegen die koloniale Eroberung. In Deutschland kritisierten in den 1880er
vor allem die Freisinnigen um Eugen Richter den Kolonialismus. Neben ökonomischen Bedenken, etwa am fehlenden Freihandel und den Steuerbelastungen,
formulierten sie auch eine moralische Kritik – etwa daran, dass die Gewinne vor
allem mit dem Export von Alkohol, Waffen und Munition erzielt würden.38 Seit
34
35
36
37
38
Vgl. auch: History of the Times 1884–1912, S. 161 f.
Vgl. Andreas Steinsieck, Ein imperialistischer Krieg. Kriegsberichterstatter im Südafrikanischen Krieg (1899–1902), in: Ute Daniel (Hrsg.) Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom
18. bis 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 87–112.
Berliner Tageblatt Nr. 572, 11. 11. 1891.
Unterlagen zu Eugen Wolfs Arbeit und seinen Verbindungen zum Kolonialamt in: BAB/L,
R1001-4694 und 4695.
Vgl. Maria-Theresia Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“. Die deutsche Kolonialkritik am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zur kolonialen Haltung von Links-
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1. Kolonialismus, Moral und Massenpresse
233
den 1890er wuchs jedoch bei Teilen der Linksliberalen die Akzeptanz der Kolonien, so dass es nach 1907 sogar zu einer Unterstützung der Kolonialpolitik im
„Bülow-Block“ kam. Die wichtigste und dauerhafteste moralische Kolonialkritik
kam dagegen in Deutschland aus den Reihen der Sozialdemokraten. Sie deuteten
den Kolonialismus vor allem als Element des kapitalistischen Ausbeutungssystems und des Militarismus. Daher lehnten sie die Kolonialpolitik sowohl wegen
der Ausbeutung der dortigen Einheimischen als auch wegen der Nachteile für die
deutschen Arbeiter ab. Das schloss allerdings nicht aus, dass auch Teile der Sozialdemokraten einzelne Kolonialgesetze tolerierten, die etwa kulturelle Aufgaben
betrafen.39
Dieses Zusammenspiel aus zunehmender politischer Kritik, verstärkter medialer Berichterstattung und wachsenden moralischen Normanforderungen dürfte dazu geführt haben, dass der „Scramble for Africa“ seit den späten 1880er
Jahren zunehmend von Kolonialskandalen begleitet wurde. Wie sie aufkamen
und was sie verhandelten, sollen im Folgenden exemplarische Fallanalysen der
wohl wichtigsten Kolonialskandale dieser Jahrzehnte zeigen. Sie konzentrieren
sich auf afrikanische Kolonien, was nicht nur der besseren Vergleichbarkeit von
Deutschland und Großbritannien geschuldet ist, sondern sich auch aus den
Skandalen selbst ergibt. Untersucht werden dabei einerseits Skandale um prominente „Eroberer“ bei der Erschließung Afrikas, die ihre Dynamik bereits
durch den bekannten Namen der Involvierten erhielten. Im Mittelpunkt stehen
die Skandale um Henry Morton Stanley und Carl Peters, die beide schnell zu
„Stars“ der Kolonialbewegung wurden. Die Skandale, die um sie herum entstanden, hinterfragten ihre oft rücksichtslosen Expeditionen. Andererseits werden Skandale analysiert, die aus der Verwaltung der Kolonien entstanden. Dabei
werden Fälle untersucht, die ökonomische Misswirtschaft verhandelten (Rear
Column Scandal und Woermann/Tippelskirch-Skandal) und Fälle, bei denen es
um den Missbrauch der Amtsgewalt ging, was insbesondere in Deutschland
häufig vorkam – von den frühen Skandalen um Leist und Wehlan bis hin zu
späteren Skandalen um den Kameruner Gouverneur Puttkamer. Der Blick auf
deutsche und britische Kolonialskandale, die sich aus Afrika heraus entfalteten,
verspricht einen Einblick in die unterschiedlichen Praktiken, Normen und Deutungen, die um 1900 ihren Kolonialismus kennzeichneten. Sie dürften vor allem
zeigen, wie die zeitgleiche Medialisierung und die Politisierung die Kolonialpolitik, die Kolonialvorstellungen und das Bild über die eigene Gesellschaft veränderten.
39
liberalismus und Sozialdemokratie, Frankfurt a. M. 1999, S. 93 u. 306; Gründer, Geschichte,
S. 71.
Hans-Christoph Schröder, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzung der
deutschen Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem und der „Weltpolitik“ vor 1914,
Hannover 1968; Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 237; Gründer, Geschichte,
S. 74–77; zeitgenössisch: Gustav Noske, Kolonialpolitik und Sozialdemokratie, Stuttgart
1914.
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234
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys REAR COLUMN
Im Jahr 1890 erschien Henry Morton Stanleys Expeditionsbericht „In Darkest
Africa“.40 Wie der Titel suggerierte, sollte das Buch Licht in jenen geheimnisvollen dunklen Kontinent bringen, den Stanley gerade erneut durchquert hatte.
Tatsächlich entfaltete sich bei der Veröffentlichung ein Skandal, der vor allem
die dunklen Seiten der europäischen Kolonialisten beleuchtete. Nicht verborgene Flüsse, Tiere und Stämme, sondern verborgene Überschreitungen jeglicher
moralischer Standards durch Europäer wurden durch einen Skandal aufgedeckt,
der schrittweise das unmenschliche Verhalten von Stanleys Truppe rekonstruierte. Wie die Leser der britischen und internationalen Presse durch diesen Skandal detailliert erfuhren, hatten englische Offiziere aus Stanleys Expeditionstruppe Afrikaner zu Tode gepeitscht, sexuell missbraucht oder wegen kleiner Vergehen hingerichtet; sie hatten Truppen von Sklavenhändlern bezogen und den
Kannibalismus an einem Mädchen gefördert, um einige Bilder davon zu malen.
Die Zeitungsartikel machten auf diese Weise deutlich, wie fließend die Übergänge zwischen Zivilisation und brutaler Barbarei in den Kolonien sein konnten.
Insofern lässt sich an dem Fall exemplarisch zeigen, auf welche Weise sich im
späten 19. Jahrhundert Gewalt in den Kolonien zu einem Skandal entwickeln
konnte, der diesem Verhalten moralische Grenzen setzte.
Stanley verkörperte in gewisser Weise jene Kommunikationsverdichtung
zwischen Afrika und der westlichen Welt, die für Kolonialskandale nötig war.
Dass gerade um ihn ein derartiger Skandal entstehen konnte, lag zunächst an
seiner öffentlichen Bekanntheit. Stanley zählte zweifelsohne zu den berühmtesten Entdeckern Afrikas. Selbst kritische Biographen verglichen seine Leistungen
mit denen von Marco Polo und Columbus.41 Zugleich stand Stanley wie kaum
ein anderer für eine neuartige Verbindung zwischen Kolonialismus und modernen Massenmedien. Schließlich war Stanley ein Journalist, der sich Ende der
1860er Jahre durch Berichte über Kämpfe in Abessinien, Kreta und Spanien einen Namen machte. Den Auftrag für seine erste spektakuläre Afrikaexpedition
erhielt er vom amerikanischen Massenblatt New York Herald. Dessen Herausgeber James Gordon Bennett, der Vater des Boulevardjournalismus, beauftragte
ihn 1869, den in Zentralafrika verschwundenen schottischen Missionar David
Livingstone zu finden und darüber zu berichten. Die Reise war somit ein
„Stunt“, also eine von der Presse fabrizierte sensationelle Abenteuergeschichte.
Derartige „Stunts“ initiierten die damaligen amerikanischen Massenzeitungen
bereits ebenso mit spektakulären Ballonfahrten oder Nordpolexpeditionen.42
40
41
42
Henry Morton Stanley, In Darkest Africa, London 1890; im selben Jahr bereits auf
Deutsch: ders., Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Pascha’s,
Gouverneur der Aequatorialprovinz, Leipzig 1890.
Vgl. bes. die Biographie von: Frank McLynn, Stanley. Sorcerer’s Apprentice, London 1991,
S. 391.
Zu Stanleys Expeditionen selbst, die hier nicht im Vordergrund stehen, liegen zahlreiche weitere, vor allem biographische Arbeiten vor, die jedoch den Skandal kaum untersuchen; vgl.
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
235
Das tatsächliche Aufspüren von Livingston war zudem ein herausragender
„Scoop“, also eine exklusiv und vor allen Zeitungen gedruckte Topmeldung,
welche die anderen Blätter dann übernahmen.
Diese mediale Vermarktungstrategie prägte alle weiteren Entdeckungsreisen
Stanleys. Seine Artikel, Bücher und Vortragsreisen brachten ihm um 1890 sechsstellige Dollar-Honorare ein, und auch in Deutschland erschienen sofort regelmäßige Zeitungsberichte und Übersetzungen seiner Werke. Gerade aus dieser
großen Öffentlichkeit, die seine Afrikaexpeditionen erreichten, erwuchs jedoch
das Potential für Skandale. Der Journalist Stanley band den „dunklen Kontinent“ so dicht an die europäische Öffentlichkeit, dass die vielfältigen publizistischen Berichte leicht außer Kontrolle geraten und sich gegen die beteiligten Expeditionsteilnehmer selbst richten konnten.
Auch für seine Emin-Pasha-Expedition von 1887/89 lässt sich eine von vornherein geplante journalistische Vermarktung nachweisen. Offiziell organisiert
wurde die Reise zwar von einigen Geschäftsleuten, die unter der Leitung von
William Mackinnon das Emin Pasha Relief Committee bildeten und durch die
Expedition den englischen Handel und Einfluss stärken wollten.43 Um die Finanzierung der Reise und eine kontrollierte fortlaufende Berichterstattung zu
sichern, schloss das Komitee mit den großen britischen Zeitungen vorher Exklusivabkommen. Die Times bekam für 500 Pfund das Recht, zuerst die regelmäßigen Berichte von Stanley zu erhalten, wobei das Komitee den Abdruck der
Briefe extra berechnete.44 Der Standard, der Daily Telegraph, die Daily News
und der Manchester Guardian erhielten für Beträge von je 200 bis 500 Pfund
zeitgleich von der Times die Meldungen.45 Zudem verlangte Stanley vertraglich
von den Expeditionsteilnehmern, sie dürften sich nicht eigenständig in der Presse äußern. Jede Korrespondenz der Teilnehmer hatte deshalb in London beim
Komitee einzugehen, die diese prüfte und gegebenenfalls in redigierter Form
der Presse übergab. Ebenso durften die Teilnehmer ihre Erlebnisse auch in
Buchform erst sechs Monate nach der Publikation von Stanleys Buch drucken,
um entsprechend hohe Verlagshonorare für Stanley zu sichern und ihm auch
hier die Deutungshoheit zu gewähren.46 Damit war die Reise von vorneherein
auf unterschiedliche Medienlogiken eingestellt. Aktualität, Exklusivität und der
Versuch, Nachrichten zentral zu kontrollieren, standen nebeneinander. Die so
43
44
45
46
bes. James J. Newman, Imperial Footprints. Henry Morton Stanley’s African Journeys, Washington 2004, S. 27 u. 49; zum Kontext der „Stunts“: Bollinger, Die goldenen Jahre, S. 59.
Vgl. das Sitzungsprotokoll des Committee of Emin Pasha Relief Expedition (EPRE)
29. 12. 1886, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93). William Mackinnon war als
Direktor der Imperial East Africa Company einer der führenden Köpfe bei der kolonialen
Expansion Englands in Afrika.
Sitzungsprotokoll EPRE 2. 2. 1887, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93).
Vgl. rückblickend: Sitzungsprotokoll EPRE 11. 11. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/
2b/53 (Box 93).
Vgl. zu diesen Verträgen: Harwood an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/
2B/10 (Box 84); Winston an Troup 2. 5. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/55 (Box
93)
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236
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
sichergestellten fortlaufenden Berichte schufen jene mediale Aufmerksamkeit
und Fallhöhe, die für den Skandal nötig war. Die gewünschte Pressekontrolle,
die im Unterschied zu Deutschland im Inselreich ja kaum bestand, organisierte
die Expedition quasi privatwirtschaftlich.
Von ihrem Verlauf her war die Expedition zugleich ein Erfolg und ein katastrophaler Fehlschlag. Auf der einen Seite erreichte Stanley sein offizielles Hauptziel, den Gouverneur der ägyptischen Äquatorialprovinz, Emin Pascha, zu befreien, der mit einigen Truppen nach Aufständen eingekesselt war. Da der in
Deutschland geborene Emin Pascha durch zahlreiche Medienberichte eine ebenso mythenumwobene Figur war wie Livingstone, konnte Stanley so an seinen
ersten „Stunt“ anknüpfen. Zudem gewann er bei der prestigeträchtigen Suche im
Kongogebiet den Wettlauf mit der später gestarteten deutschen Expedition von
Carl Peters und konnte für sich reklamieren, mit sechs Herrschern Verträge ausgehandelt zu haben, die auch wirtschaftliche Vorteile versprachen. Andererseits
dauerte Stanleys Reise viel länger als geplant, die Kosten stiegen immens und die
Todesrate war äußerst hoch. Sogar Stanley selbst ging von 311 Toten aus, wobei
neben Einheimischen auch einige der englischen Begleiter verstarben.47 Die Erfolgsmeldung von Emin Paschas Befreiung wurde dadurch gemindert, dass dieser
überhaupt nicht „befreit“ werden wollte und erst nach längerem Zögern Stanley
zur Ostküste folgte. Die frühzeitig einsetzenden Zeitungsmeldungen über die
Brutalität von Stanleys Begleittruppe trübten die Erfolgsbilanz zusätzlich.
Die Regierung Salisbury hatte sich sicherheitshalber aus der Expedition heraus gehalten. Vermutlich hatte sie für den Fall eines Scheiterns eine ähnliche
Krise gefürchtet, wie Premierminister Gladstone sie wenige Jahre zuvor beim
Tod des von ihm in den Sudan entsandten General Gordon erlitten hatte.48 Diese fehlende direkte politische Verantwortung senkte sicherlich das Potential für
einen Skandal. Indirekt hatte die Expedition allerdings durchaus offiziellen
Charakter. Die Regierung unterstützte sie, indem sie über die ägyptische Regierung die Hälfte der Kosten gewährte, Schutzbriefe vergab und Verträge sanktionierte, die die Expedition abschloss.49 Vor der Abreise erklärte Stanley dem
Prince of Wales persönlich sein Vorgehen, und auch die regelmäßigen Berichte
über den Verlauf an Premierminister Salisbury zeigten ihre offiziöse Bedeutung.50 Ebenso unterstützten einzelne Minister die restriktive Informationspolitik des Komitees.51 Für den Skandal reichten bereits die Berichte über die
47
48
49
50
51
Als kritische Bilanz zu der Expedition vgl. bereits: Ian Smith, The Emin Pasha Relief Expedition 1886–1890, Oxford 1972, S. 293 f.; McLynn, Stanley, S. 321.
Der Kolonialheld Gordon („Chinese-Gordon“) war nicht zuletzt wegen einer Pressekampagne von Stead 1884 von Gladstone zu einer militärischen Mission in den Sudan geschickt
worden und dort umgekommen; vgl. Schults, The Tribute, S. 66–88.
Vgl. die Anfrage in: Mackinnon an Dermott 8. 1. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/
2B/12 (Box 84).
Vgl. die Briefe von Lord Vivian an Salisbury in: Mackinnon Papers, SOAS, Box 88.
Vgl. etwa: Winton (War Office) an Mackinnon 2. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/
2B/30 (Box 86); Lord Vivian an Salisbury in: SOAS, SCRR PP MS 2/EPRE (Box 88).
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
237
Brutalität von bislang unbescholtenen bürgerlichen Engländern, die den militärischen Rang eines Major und Leutnants hatten. Der Hauptbeschuldigte, Major
Barttelot, war immerhin der Sohn eines Unterhausabgeordneten und hatte bereits Truppen durch den Sudan und Afghanistan geführt. Gerade weil die Presse
ihn als „English Officer und Gentleman“ beschrieb, der in den letzten Jahren
regelmäßig mit Billigung des Emin Pasha Komitees in den Zeitungen über
Stanley berichtet hatte, besaß er die nötige Fallhöhe für einen Skandal.52
Der Skandal entwickelte erst nach der Rückkehr der europäischen Expeditionsteilnehmer im Herbst 1890 seine volle Dynamik, als unterschiedliche Beteiligte über die Medien und ihre Memoiren eine Kontroverse um die Deutung
der vergangenen Ereignisse begannen. Erste Meldungen über das brutale Verhalten von Stanleys „Rear Column“ hatten allerdings schon zwei Jahre zuvor
eingesetzt. Sie begannen im September 1888 mit den Mutmaßungen über die
Todesursache von Major Barttelot, der die Versorgungstruppe von Stanleys Expedition angeführt hatte und von einem afrikanischen Träger erschlagen worden
war. So meldete der Standard unter Berufung auf den syrischen Übersetzer der
Truppe, Barttelots Brutalität habe zu einem Racheakt geführt.53 In der Times
deutete zugleich eine Zuschrift des Missionars Graham Wilmot-Brooke an, dass
die Afrikaner zur Teilnahme an Stanleys Expedition mit brutalster Gewalt gezwungen würden, um Elfenbein auszubeuten.54 Diese Meldungen wurden über
ebenso verschlungene Wege dementiert, etwa von einer Zuschrift eines Afrikareisenden in einer Brüsseler Zeitung, die dann die Times wieder abdruckte.55
Ebenso erschienen selbst in dänischen und schwedischen Zeitungen Berichte
mit Titeln wie „Ein europäischer Kannibale“.56 Berichte aus Afrika von englischen Journalisten spielten dagegen bei diesen Mutmaßungen überhaupt keine
Rolle. Der Skandal machte somit deutlich, dass auch um 1890 Zentralafrika für
britische Journalisten kein Recherchegebiet war. Vielmehr entstand der Skandal
aus afrikanischen Gerüchten von Kolonialreisenden, die in einer europäischen
Öffentlichkeit kursierten.
Diese erste Empörung ebbte jedoch schnell ab. Denn offensichtlich waren für
einen Skandal Sprecher vor Ort nötig, die die Debatte mit kontinuierlichen und
aktuellen Beiträgen am Laufen hielten. Die Zuschriften, die einzelne entfernte
Beobachter mit großer Verzögerung aus Afrika schickten, reichten bei den aktualitätsfixierten Medien nicht aus, um akzeptierte „Wahrheiten“ zu ermitteln.
Der wichtigste Zeuge bei diesen ersten Andeutungen, der syrische Übersetzer
aus der Expedition, konnten die englischen Organisatoren der Expedition zudem durch finanzielle Mittel und Drohungen zu einem Widerruf bewegen. Das
52
53
54
55
56
Zit. Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 4.
Standard 19. 9. 1888.
Times 20. 9. 1888, S. 3.
Times 24. 9. 1888, S. 5.
Vgl. die Zusendungen und Übersetzungen in: Cridland an Winton 2. 11. 1888, in: SOAS,
SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/27 (Box 86).
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238
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Emin Pasha Relief Committee brachte ihn in London dazu, Barttelot öffentlich
zu rehabilitieren und dessen Strafmaßnahmen gegen die Afrikaner als absolut
notwendig zu bezeichnen.57 Der Übersetzer Assad Farran erhielt dafür vom
Komitee trotz seines Vertragsbruchs seinen vollen Lohn und eine Einzelkabine
für die Schifffahrt von London.58 Zudem regte das Komitee an, ihm in Syrien
vom Britischen Konsul ein Gehalt zu gewähren.59 Einzelne Zeitungen bemerkten zwar die korrupte Medienpolitik des Komitees und hinterfragten den plötzlichen Meinungswechsel.60 Die Mehrheit der Presse akzeptierte jedoch vorerst
den offiziellen Bericht, ein Afrikaner habe Barttelot erschossen, als er sich nachts
über deren Trommeln beschwerte.61 1889 überwogen daraufhin wieder die anteilnehmenden fortlaufenden Berichte über Stanley, die jedes Lebenszeichen erfreut aufgriffen und mit ausführlichen Artikeln gespannt seine Expedition verfolgten.
Diese ersten kritischen Töne konnten Stanleys Ruf kaum schmälern. Das
zeigte sich besonders bei seiner Rückkehr nach England im Sommer 1890. Obwohl Stanley schon als Junge mittellos in die USA ausgewandert war, wurde er
nun als großer Engländer in London begrüßt. Die Queen empfing Stanley, unter
den 10 000 Zuschauern bei seinem Vortrag in der Royal Albert Hall war auch
die Königsfamilie, bei seiner Hochzeit war Gladstone Trauzeuge und er erhielt
die Ehrendoktorwürde von Oxford und Cambridge.62 Sein Reisebericht „In
Darkest Africa“ verkaufte sich sofort allein 150 000 mal auf Englisch und wurde
zudem in zahllose Sprachen übersetzt. Nicht minder triumphal war sein Empfang in den USA, wo er mit einem eigenen Sonderzug seine Vortragsreise in
ausverkauften Großveranstaltungen antrat. All dies schuf eine entsprechende
Fallhöhe für einen Skandal und lenkte die breite öffentliche Aufmerksamkeit
auf seine Expedition.
Für den Ausbruch des Skandals im Oktober 1890 waren ebenfalls nicht die
Recherchen von Journalisten, Gerichten oder kolonialkritischen Politikern
verantwortlich. Seinen Ausgang nahm er vielmehr, was die Kontigenz der Entstehung von Skandalen belegt, aus einem Streit unter den Angehörigen verstorbener Expeditionsteilnehmer, die über die Zeitungen deren Ehre verteidigen
wollten. Insbesondere die Angehörigen des verstorbenen Majors Barttelot und
Leutnants Jameson sahen ihre Verwandten öffentlich in ein schlechtes Licht gerückt und gaben Stanley die Schuld an deren Tod, da er zur Mehrung seines
Ruhmes die „Rear Column“ zu lange ohne Vorräte und Versorgung habe war57
58
59
60
61
62
Daily Telegraph 12. 11. 1890, S. 7.
Secretary EPRE an Consul von Cairo 16. 10. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/55
(Box 93); Sitzungsprotokoll EPRE 13. 10. 1888, in: ebd.
Sitzungsprotokoll EPRE 3. 12. 1888, in: SOAS, SCRR PP MS 1 /EPRE/1/2b/53 (Box 93).
Star 2. 10. 1888, S. 1; Pall Mall Gazette 28. 9. 1888.
Diese Version übermittelte aus dem Lager: Jameson an Mackinnon 3. 8. 1888, in: SOAS, SCRR
PP MS 1 /EPRE/1/2b/19 (Box 85).
Vgl. zu seinem Empfang bereits: Smith, Emin Pasha, S. 293; Newman, Imperial Footprints,
S. 303.
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
239
ten lassen.63 Diese Auffassung untermauerten sie mit der Publikation von internen Dokumenten. So edierte Barttelots Bruder posthum dessen „Diaries and
Letters“, Jameson Witwe die letzten Briefe ihres Mannes, und überlebende Expeditionsteilnehmer wie Troup, Bonny und Ward druckten ihre Reiseberichte,
auf die wiederum Stanley und andere Beteiligten mit Gegenverlautbarungen
und weiteren kritischen Enthüllungen antworteten. Neben regelmäßigen Presseverlautbarungen erschienen nun auch diverse Bücher der Beteiligten, die um die
Deutung der Ereignisse rangen.64 Diese Bücher, die auszugsweise wiederum alle
Zeitungen abdruckten, beschrieben die Gewalttaten der jeweils anderen englischen Expeditionsteilnehmer. Mit jedem Vorwurf und Gegenvorwurf kam es
zu neuen Enthüllungen, die umso drastischer die koloniale Gewalt mit eindringlichen Einzelbeispielen beschrieben. Zudem versuchten die Beteiligten sich gegenseitig zu widerlegen, so dass auch ohne Gerichtssitzungen Anklagen und
öffentliche Zeugenaussagen entstanden.
Die Journalisten hingegen agierten während des Skandals vornehmlich in der
Rolle des Kommentators und Moderators. So druckte die Times etwa Barttelots
Memoiren mit dem Hinweis, diese würden eine Antwort Stanleys erfordern.
Tatsächlich diskutierten die Expeditionsmitglieder nun über den Atlantik hinweg per Zeitungsinterviews, die sich wechselseitig, mitunter täglich, aufeinander
bezogen. So antwortete Stanley auf Barttelots Veröffentlichung sofort mit einem
Interview aus New York, worauf Troup am nächsten Tag in der Times reagierte,
was wiederum Barttelots Angehörige zu Stellungnahmen herausforderte, die
dann Bonny und Ward mit Zuschriften kommentierten.65 Diese Aussagen wurden durch Einschätzungen von anderen Kennern der Kolonien ergänzt, etwa
von deutscher Seite von Carl Peters und Georg Schweinfurth.66 Auch die Journalisten der Qualitätsblätter vermarkteten die Enthüllungen mit sensationellen
Ankündigungen. Im Stile von Steads Maiden Tribute-Kampagne versprach etwa
die Times: „These Statements will send a thrill of horror throughout the civilised
world.“67 Andere Blätter betitelten die Berichte mit „The African Horrors“ oder
sprachen von einer „cloud of horror“.68 Gerade das herausgestellte Wort „horror“ fasste jene Angstlust gegenüber dem Grauen, die den Artikeln ihre Faszinationskraft und ihr Empörungspotential gaben. „What a season of disaster!
63
64
65
66
67
68
Erste Andeutungen von Barttelots Bruders in: Times 7. 12. 1889, S. 8.
Vgl. von den gedruckten Memoiren etwa: Walter George Barttelot (Hrsg.), The Life of
Edmund Musgrave Barttelot, Captain and Major Royal Fusiliers Commander of the Rear
Column of the Emin Pasha Relief Expedition, London 1890 (dt.: Stanleys Nachhut in Nambuya unter Major Edm. M. Barttelot, Hamburg 1891); J. S. Jameson (Hrsg.), The Story of the
Rear Column of the Emin Pasha Relief Expedition by the Late James S. Jameson, London
1890; Herbert Ward, Five Years with the Congo Cannibals, London 1890; J. Rose Troup,
With Stanley’s Rear Column, London 1890; John Scott Keltie, The Story of Emin’s Rescue
as Told in H.M. Stanley’s letters, London 1890.
Vgl. etwa Times 27. 10. 1890, S. 8; 28. 10. 1890, S. 8; 29. 10. 1890, S. 5.
Pall Mall Gazette 11. 11. 1890, S. 4 u. 14. 11. 1890, S. 6.
Times 8. 11. 1890, S. 11.
Daily Telegraph 12. 11. 1890, S. 7; Pall Mall Gazette 12. 11. 1890, S. 4.
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240
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
The sickening horrors of the Stanley-Barttelot controversy!“, trug etwa auch
Viscount Esher empört in sein Tagebuch ein, als er anscheinend zugleich angezogen und angewidert die Zeitungsdebatte verfolgte.69
Der wörtliche Abdruck der Beschuldigungen erleichterte es, Sagbarkeitsgrenzen zu erweitern. Wie beim Prozessbericht und beim New Journalism legitimierte die Wiedergabe von Interviewaussagen, Briefen und Memoiren, sonst
kaum druckbare Details zu publizieren. Die Leser erfuhren etwa, dass Major
Barttelots Logbuch nahezu täglich das Auspeitschen von Afrikanern verzeichnet habe, bei dem verschiedene Männer starben, da sie 200 bis 300 Schläge bekamen. Ebenso sei ein 10-jähriger Junge durch Barttelots Stiefeltritte gestorben.
Barttelot sei selbst von dem Mann erschossen worden, dessen Ehefrau er wie
andere Frauen zum sexuellen Missbrauch gelegentlich in seiner Hütte festgehalten habe.70 Die Erinnerungen gaben den Einzelfällen eine lebhafte Anschaulichkeit. So berichtete der Expeditionsteilnehmer Bonny etwa ein Gespräch mit
Barttelot über einen Afrikaner, dem sie Diebstahl vorwarfen: „‚If I don’t shoot
him, I will cut his ears off.‘ I replied to this: ‚What will the people in Europe
think of that? Would you like to read an account of this in the papers?‘ He said
he would not and than we discussed the question as to what should be done.“71
Schließlich verurteilten sie ihn zu 100 Peitschenhieben, an denen der Afrikaner
starb. Einen Nubi, der eine Ziege stahl, wollte Barttelot erst erschießen, begnadete ihn dann aber zu 300 Peitschenhieben, wonach sein Rücken in blutige
Stücke zerfiel. Als dieser nach Genesung fliehen wollte, band er ihn laut Erinnerung eines Beteiligten an eine Art Kreuz und erschoss ihn.72 Auch wenn diese
grausamen Praktiken nicht unbedingt neu waren, markierte diese explizite Gewaltdarstellung in den Massenmedien und die Empörung hierüber einen bisher
kaum beachteten Einschnitt in der Kolonialgeschichte.73
An den New Journalism der 1880er Jahre knüpften auch die Berichte über
die Beteiligung eines englischen Offiziers an einem Kannibalismusakt an. Wie
Stanley und andere in den Zeitungen berichteten, habe sein Expeditionsteilnehmer Leutnant Jameson mit dem Sklavenhändler Tippoo Tib über den
Kannibalismus gesprochen und gesagt, dass er nicht daran glaube, da noch kein
Weißer dies gesehen habe. Tippoo Tib habe entgegnet, dass Jameson es für
zwölf Taschentücher aus Baumwolle erleben könne. Daraufhin wurde ein 12jähriges Mädchen gekauft, in Jamesons Anwesenheit mit einem Messer getötet
69
70
71
72
73
Eintrag Tagebuch Esher 19. 11. 1890, in: CAC, ESHR 2/8.
Vgl. etwa: Pall Mall Gazette 7. 11. 1890, S. 3, 8. 11. 1890, S. 4; Times 8. 11. 1890, S. 11,
9. 11. 1890, S. 9.
Times 10. 11. 1890, S. 9.
Pall Mall Gazette 17. 11. 1890, S. 6.
Keine Erwähnung findet der Stanley-Skandal trotz seiner großen Bedeutung für die Zeitgenossen selbst in umfangreichen Standardwerken wie: Andrew Porter (Hrsg.), The Oxford
History of the British Empire, Bd. 3: The Nineteenth Century, Oxford 1999; Lawrence
James, The Rise and Fall of the British Empire, Cambridge 2005 (3. Aufl.); Roland Oliver
und Anthony Atmore, Africa since 1800, Cambridge 2005 (5. Aufl.).
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
241
und aufgegessen.74 Jameson habe daraufhin zur Erinnerung einige Bilder davon
gemalt und seinen Kollegen im Camp gezeigt. Die emotionalisierenden Elemente der Geschichte – wie etwa das junge Alter des Opfers und der niedrige
Preis für ihre Ermordung – erinnerten im hohen Maße an Steads berühmte
Maiden Tribute-Geschichte von 1885, in der berichtet hatte, wie man in London für fünf Pfund ein 13-jährigen Mädchen zur dauerhaften Verfügung kaufen könne. Ebenso knüpfte auch der Kannibalismusbericht an eine menschliche
Urangst an, die schon vorher zahllose Kannibalismusgeschichten aus Schwarzafrika produziert hatte.75 Während zunächst die Zweifel an der Geschichte
überwogen, erschien sie der Mehrheit der Zeitungen seit November 1890 als
wahr, da Stanley und andere Teilnehmer sie stützten. Zudem hatte Jamesons
Frau zur Verteidigung ihres toten Mannes Briefe publiziert, die ihn de facto
belasteten. Wie Jameson kurz vor seinem Tod in einem Brief berichtet hatte,
habe er dem Kannibalismus beigewohnt und gezeichnet, konnte jedoch nicht
eingreifen, weil alles so schnell gegangen sei.76 Auch wenn er nach seiner
eigenen Version den Mord nicht angeordnet hatte, war danach immer noch
ein Engländer Komplize kannibalistischer Slavenhändler. Neben Barttelots
Gewalträuschen bildete diese Szene eine zweite Ikone für den Rückfall in die
Barbarei.
Die öffentliche Debatte, die der Skandal aus diesen Einzelfällen entfachte,
verhandelten verschiedene generelle Normen und Deutungen. Sie hinterfragte
vor allem die Zulässigkeit der Gewalt gegen Afrikaner. Bereits die ersten vorsichtigen Andeutungen von 1888 entflammten diese Diskussion kurz. Die eher
konservativen Blätter verteidigten zunächst die Gewaltanwendung.77 Beim neu
gegründeten linksliberalen Massenblatt The Star führten hingegen bereits diese
ersten Andeutungen zu einer massiven Kritik am britischen Kolonialismus:
It is no private interest which is at stake. It is the whole system of opening up Africa –
,rushing up‘ would be a more appropriate term – by tiny bands of English explorers, personally conducted by cannibals, the villy scum of slave-raiding and slave-trading Africa,
who will only stick to their employers so long as they are given a free hand – getting a free
hand meaning, in its turn, liberty to shoot, burn, torture and eat aborigines on the way.78
74
75
76
77
78
Diese Geschichte bildete in allen Zeitungsberichten den zweiten Hauptanlass der Empörung
(neben Barttelots Strafen) und wurde ausführlich dargestellt und diskutiert; vgl. etwa Pall
Mall Gazette 7. 11. 1890, S. 3.
Selbstverständlich ist der Kannibalismus-Diskurs älter; vgl. Hedwig Röckelein (Hrsg.),
Kannibalismus und europäische Kultur, Tübingen 1996.
Vgl. Jameson an Mackinnon, 3. 8. 1888, abgedr. in Daily Telegraph 15. 11. 1890, S. 5; Times
15. 11. 1890, S. 11. Diese in den Zeitungen gedruckte Passage entstammte den post mortem gedruckten Briefen von Jameson, die 1890 auch als Buch erschienen; Jameson, The Story of the
Rear Column, S. 291. Verschiedene Expeditionsteilnehmer bestritten die Wahrheit der Kannibalengeschichte; vgl. etwa die Aussagen von Troup in: Pall Mall Gazette 12. 11. 1890, S. 6.
Bes. die Times; vgl. ihre Leserbriefe ab 15. 9. 1888; besonders deutlich: „Discipline had to be
enforced by flogging – no other means could maintain discipline with such a class of man.“
Times 22. 9. 1888, S. 6.
Star 2. 10. 1888, S. 1.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Selbst die linksliberale Öffentlichkeit warf somit zunächst den englischen
Kolonialisten keine direkte Brutalität vor, wohl aber deren Förderung. Mit dem
Verweis auf den Sklavenhandel knüpfte das Blatt zudem an eine Debatte an, die
seit dem 18. Jahrhundert durch die Anti-Sklaverei-Bewegung etabliert war.
Nach Offenlegung der Details über die Brutalitäten erschien diese koloniale
Gewalt deutlich weniger legitim. Der zunehmend konservativere Daily Telegraph
tolerierte sie noch am ehesten, als er die Rechte eines kolonialen Eroberers reflektierte: „it may also be necessary that he should strike, flog and occasionally hang
indolent treacherous natives under his command“, gestand er zu. Allerdings seien
viele große Kolonialisten ohne Gewalt ausgekommen, weshalb auch Stanley und
Barttelot nicht über Leben und Tod entscheiden brauchten.79 Die Expeditionsteilnehmer rechtfertigten dagegen ihr Verhalten mit Analogien aus dem Kriegsrecht, da auch die Tötung eines desertierten Soldaten gerechtfertigt sei.
In der liberalen Öffentlichkeit führte der Skandal hingegen zu einer vehementen
Ablehnung derartiger Praktiken. So forderte die Pall Mall Gazette die Bestrafung
der überlebenden Expeditionsteilnehmer vor einem Kriegesgericht, da sie unter
einem Schutzbrief gereist seien und sich Befugnisse wie Todesstrafen angemaßt
hätten, was als Mord zu bewerten sei. Damit wurde die Vorstellung aufgebracht,
dass für Schwarzafrikaner und Europäer in Schwarzafrika ähnliche moralische
Standards und Gesetze zu gelten hätten wie in England.80 In visueller Form legte
dies auch eine Karikatur zu dem Skandal im Punch nahe, bei der Justitia trauernd
am Grab von Jameson und Barttelot stand, während ein Kolonialist sie zu umarmen versuchte.81 Auch wenn sich kein Konsens über die zulässige Gewalt herausbildete, machten die drastischen Zeitungsberichte insgesamt zumindest deutlich,
dass diese Form des Kolonialismus der Vergangenheit angehören müsse.
Ausländische Presseberichte über den Stanley-Skandal förderten diese Einschätzung in England. Gerade die deutschen Zeitungen sparten nicht mit ausführlichen Berichten, die täglich detailliert die grausamen Handlungen schilderten. Insbesondere die konservativen Zeitungen empörten sich über Stanleys
Verhalten, meinten damit aber zugleich den englischen Nationalcharakter.
Stanley sei es nur um seine Bereicherung gegangen, insbesondere um Elfenbein,
nicht aber um Emin-Pasha, der gar nicht von ihm gerettet werden wollte.82 In
England wurden diese deutschen Artikel wiederum als Argument für einen
dringenden Reformbedarf aufgegriffen. Bezeichnenderweise beklagten die
Briten noch mehr als den deutschen Spott den der französischen Presse.83 Dies
erklärt sich nicht nur aus der älteren Rivalität mit Frankreich, die nun bei der
Aufteilung Afrikas neu aufflammte, sondern auch aus dem gerade gegenüber
79
80
81
82
83
Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 5.
Aussage Ward in: Pall Mall Gazette 22. 11. 1890, S. 6; Pall Mall Gazette 10. 11. 1890,
S. 5.
Punch 22. 11. 1890.
Vgl. die Artikel in der Neuen Preussischen Zeitung 25. 10.–20. 11. 1890, bes. 8. 11. 1890
Nr. 523, S. 2; aber auch etwa: Vossische Zeitung 31. 10. 1890 Nr. 509, S. 2.
Star 10. 11. 1890, S. 1; Times 10. 11. 1890, S. 10.
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
243
Frankreich artikulierten Anspruch auf moralische Überlegenheit, der in fast
allen Skandalen sichtbar wurde.
Die wechselseitige Beobachtung der internationalen Presse verstärkte in England die Auseinandersetzung darüber, inwieweit das Ansehen des Empires und
der Anspruch auf moralische Humanität durch den Skandal gefährdet seien. So
sah die Times in dem Verhalten der Expeditionsteilnehmer „a disgrace to the
English name“.84 Der Star deutete den Skandal als Zeichen eines derartigen moralischen Verfalls, dass die ausländische Kritik gerechtfertigt sei: „The Turks in
Armenia, the Bashi Bazouks in Bulgaria never committed more horrible outrages than these [English officers]. [...] In the face of all these stories of horrible
and ghastly beastly barbarities we cannot blame the Paris Débats for saying that
they ,seriously interfere with the Biblical varnish with which pious England
likes to cover her most selfish enterprises.‘“85 Die Pall Mall Gazette, die unter
der Überschrift „Are we a cruel nation?“ das Ansehen des Empires diskutierte,
sah in dem Skandal die schlimmsten Vorwürfe „against the reputation of the
Anglo-Saxon race for humanity“ seit der Veröffentlichung von Onkel Toms
Hütte. Obgleich sie das Auspeitschen und Kidnappen im Kongo als Ausnahmen bezeichnete, erwog das Blatt, ob im englischen Charakter ein latenter Hang
zur Grausamkeit durch die Sozialisation angelegt sei: „Our innate love for bullying, repressed but always present in English schoolboys as a class, in favourable surroundings develops into ferocious cruelty for cruelty’s sake. [...] Schoolboy bullying is a purely British institution. It is without parallel on the continent.“86 Die Kolonialreiche erschienen damit als Gebiete, in denen sich geheime,
sonst unterdrückte menschliche Abgründe zeigen konnten. Dagegen unterstrich
Stanley selbst trotz seiner Anschuldigungen die überlegene Humanität der Engländer „in dealing with the Negro races.“ Gerade die Empörung über Barttelots
Handeln sah Stanley als Beweis dafür, dass dies eine Ausnahme war, die nun
wieder durch moralische Überlegenheit bewältigt werden müsse.87 Dennoch
dürfte gerade die internationale Vernetzung der Presseberichterstattung mit
dazu geführt haben, dass sich die britische Öffentlichkeit umso vehementer von
der kolonialen Erschließung mit der Peitsche distanzierte.
Bei der Suche nach den „wahren“ Begebenheiten löste der Skandal zugleich
Diskussionen darüber aus, inwieweit Aussagen von Farbigen eine glaubwürdige
Quelle für Vorwürfe gegenüber Europäern sein könnten. Dies bezog sich zunächst auf den syrischen Übersetzer der Expedition, der als einer der Urheber
der Gewaltberichte galt. Obwohl er als Araber in der rassistischen Abstufung
der Zeitgenossen den Schwarzafrikanern übergeordnet war, galten seine Vor-
84
85
86
87
Times 24. 12. 1890, S. 6.
Star 10. 11. 1890, S. 1.
Pall Mall Gazette 25. 11. 1890, S. 1.
Times 9. 12. 1890, S. 8. Die überwiegend respektvolle Behandlung der Afrikaner durch die Briten betont etwa: Bernhard Porter, The Lion’s Share. A Short History of Imperialism 1850–
1900, London 1996, S. 70 f.
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244
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
würfe als wenig glaubwürdig. Der Pariser Korrespondent der Daily News interviewte hierzu als Experten einen französischen Kolonial-Gouverneur, der alle
Syrer als arrogant und unzuverlässig bezeichnete.88 Dagegen sprach die liberale
Pall Mall Gazette dem Syrer eine gewisse Glaubwürdigkeit zu, da seine Kleidung und sein Stil sehr britisch seien.89 Insgesamt überwog jedoch der Tenor,
einer derartigen Aussage wenig Bedeutung beizumessen. Erst als europäische
Expeditionsteilnehmer die Berichte stützten, wurde der Syrer als ergänzender
Zeuge akzeptiert und sein detaillierter Bericht auch in der Times abgedruckt.90
Als nicht vertrauenswürdig galten generell schwarzafrikanische Zeugen, deren
Aussagen kaum Berücksichtigung fanden. Der Daily Telegraph bezeichnete
deshalb einen Prozess gegen die Expeditionsteilnehmer als schwer denkbar, da
er eine „cloud of dark witnesses“ ins Gericht bringen würde, die eine Urteilsbildung verhindere.91
Kaum verhandelt wurden in dem Skandal dagegen sexuelle Gewalt und sexuelle Beziehungen zwischen Kolonialisten und indigenen Frauen. Stanley und andere deuteten zwar an, dass Barttelots Tod mit seiner gewaltsamen Verfügung über
Frauen zusammenhing, aber offensichtlich schien es der englischen Öffentlichkeit leichter, Peitschenhiebe zu thematisieren als die Zwangsprostitution.92 Nur
einzelne Zeitungsartikel berichteten etwas detaillierter über die Gefangennahme
von Frauen, die sich nachts im Raum der Offiziere aufhalten mussten und dann
ihren Männern wieder gegen Nahrungsmittel verkauft wurden.93
Stattdessen diskutierte die Öffentlichkeit eher generell den Sinn und Zweck
von derartigen Expeditionen. So fragte Henry Laboucheres The Truth, ob das
hohe Blutopfer berechtigt sei, um noch einen See im Urwald zu verzeichnen.94
Gerade die liberalen Zeitungen beschuldigten Stanley, nicht an Entdeckungen
oder an der Rettung von Emin Pasha interessiert gewesen zu sein, sondern nur
an kommerziellen Interessen. Vor allem die riesigen Elfenbeinvorräte von Enim
Pascha und seinem Territorium seien Stanleys Hauptinteresse gewesen, nicht
das Leben des kurzsichtigen Naturforschers.95 Dies leitete zu jener ökonomischen Kolonialkritik über, die in den 1890er Jahren im hohen Maße Skandalisierungen prägten.
Der Skandal zeigte zudem, dass auch bei der Kolonialberichterstattung eine
Kontrolle der Medien fehlschlug. Die Exklusivverträge und die bevorzugte
Nachrichtenvergabe an die fünf ausgewählten Qualitätszeitungen sollte ursprünglich eine kontrollierte positive Berichterstattung sichern. Tatsächlich spar88
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91
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93
94
95
Daily News 11. 10. 1888, S. 5.
Pall Mall Gazette 28. 9. 1888.
Times 14. 11. 1890, S. 9.
Daily Telegraph 10. 11. 1890, S. 4.
Zuerst Stanleys Beschuldigung in: New York Herald 26. 10. 1890; auch in: Times 8. 11. 1890,
S. 11.
Pall Mall Gazette 13. 11. 1890, S. 6.
Truth 11. 4. 1889.
Daily News 1. 11. 1890, Pall Mall Gazette 30. 10. 1890; Truth 6. 11. 1890.
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2. Im dunkelsten Afrika: Stanleys Rear Column
245
ten auch die Times, die Daily News oder der Manchester Guardian nicht mit
Kritik, obgleich sie das Emin-Pasha-Komitee finanziell für ihre Exklusivnachrichten unterstützt hatten. Ebenso gelang es kaum, das vertraglich fixierte Deutungsmonopol für Stanley und das Komitee zu sichern. Die hohe öffentliche
Nachfrage nach entsprechenden Meldungen aus Afrika, die Stanleys Medienpolitik selbst mit geschaffen hatte, führte vielmehr frühzeitig zu vielen Berichten
von unterschiedlichen Afrikareisenden, die nicht vertraglich gebunden waren. So
erschien bereits 1889, vor Abschluss der Expedition, das erste Buch von einem
Deutschen.96 Ebenso gelang es anderen Zeitungen wie dem New York Herald,
vor dem Nachrichtenkartell Meldungen von Stanley zu drucken.97 Nicht zu verhindern war zudem, trotz der Verträge, die frühzeitige Publikation der Erinnerungen der Beteiligten, die durch die große mediale Nachfrage alle vor der festgelegten Frist erschienen. Die geplante Veröffentlichung von Troups Memoiren
1889 konnte lediglich ein Jahr verzögert werden.98 Bezeichnenderweise verzichtete Stanley auf die angedrohte Klage gegen die publikationsfreudigen Expeditionsteilnehmer. Vermutlich wusste er, dass die detaillierten Zeugenaussagen vor
Gericht vor allem auf ihn selbst zurückgefallen wären.
Auf den ersten Blick schienen diese wochenlangen Diskussionen über detailliert dargestellte Gewalttaten wenig Folgen zu haben. Da sich die konservative
Regierung mit einer direkten Unterstützung zurückgehalten hatte, blieb sie
weitgehend außer Gefahr, auch wenn Zeitungen wie die Pall Mall Gazette ihre
politische Verantwortung anprangerten. Ebenso blieb ein Prozess und damit
eine Verurteilung der Offiziere aus, zumal die beiden Hauptbeschuldigten bereits in Afrika verstorben waren. In den Medien verlor der Fall zudem ab Mitte
November 1890 langsam an Bedeutung. Das lag nicht zuletzt an der Überschneidung unterschiedlicher Skandale. Vor allem Parnells Ehebruch raubte seit
Ende 1889 dem Kolonialskandal viel Aufmerksamkeit. Auch für Stanley selbst
schien der Skandal kaum direkte Folgen zu haben. Er vergrößerte eher das Interesse an seinen Vorträgen und seine Berühmtheit. Ohnehin wurde ja weniger
ihm selbst als seiner Truppe die brutale Gewalt vorgeworfen.
Dennoch sank Stanleys Reputation zumindest bei Teilen der Öffentlichkeit
dauerhaft. Immerhin hatten ihm zahlreiche Zeitungsartikel Ruhmsucht, Ausbeutung, Kooperation mit Sklavenhändlern, die Tolerierung hoher Todesraten
unter den afrikanischen Truppen und vor allem die Deckung der Gewalt der
britischen Teilnehmer vorgeworfen. Seine widersprüchlichen Aussagen hierzu
und seine aggressiven Anfeindungen gegenüber seinen Expeditionsteilnehmer
96
97
98
J. R. Werner, A Visit to the Rear-Guard at Major Barttelot’s Camp on the Aruhwimi, Edinburgh und London 1889. Vgl. die Proteste des Komitees dagegen am 7. 5. 1889, in: SOAS,
SCRR PP MS 1/EPRE/1/2b/55 (Box 93). Tatsächlich ist dieses Buch auch gegenüber Barttelot
recht wohlgesonnen.
Vgl. die Beschwerden in: Walter Wood/The Standard an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR
PP MS 1/EPRE/1/2B/10 (Box 84).
Vgl. Harwood an Winton 3. 4. 1889, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/10 (Box 84);
Woodhouse an Dermott 29. 8. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/14 (Box 84).
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246
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
minderten sein Ansehen auf allen Seiten. Kolonialisten hielten ihm vor, dass er
überhaupt derartige Veröffentlichungen über die Gewalt in Afrika gemacht
habe, selbst wenn sie wahr wären. Eine erneute große Expedition unter Stanley
schien nun wenig wahrscheinlich, und er selbst verzichtete darauf. Stattdessen
hielt er sich für einige Zeit in den USA auf, wo er sich angemessen empfangen
fühlte.99 1891 kam er mit Vortragsreisen nach Großbritannien zurück und wurde ein Jahr später britischer Staatsbürger, um als Kandidat der Unionisten für
das Unterhaus zu kandidieren. Wie sehr Stanley als Sinnbild des brutalen Kolonialisten umstritten blieb, zeigten die Proteste bei seinen Wahlkampfauftritten
und seine Niederlage bei der Wahl.100 Bei seiner erneuten Kandidatur 1895 gelang ihm zwar der Einzug, doch es kam erneut zu einigen Angriffen in der Presse. Als Backbencher blieb seine Parlamentsarbeit eher unauffällig.
Die entscheidenden Folgen des Skandals lagen jedoch weniger auf dieser individuellen Ebene. Er diskreditierte vielmehr den Typus des kolonialen Eroberers
und Entdeckers, den Stanley repräsentierte. Damit hinterfragte der Skandal zugleich die männlich geprägte koloniale Imagination. Das Bild des „kolonialen
Retters“, für das Stanley zunächst gestanden hatte, verkehrte sich in die Figur
des brutalen Eroberers, den allein Ruhm und Reichtum antrieben. Ebenso verkehrte sich die Figur des kultivierenden Europäers in das Bild des Weißen, der
in Afrika in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückfällt. Um dies zu verhindern, markierte gerade die Empörung im Skandal einen Übergang von der ungeordneten Besitznahme Afrikas durch kleine Expeditionstruppen hin zu einer
geordnet erscheinenden kolonialen Verwaltungsstruktur.
Der Skandal führte darüber hinaus zu einer generellen Verunsicherung über
die menschlichen Abgründe, die, so die hier aufgebrachte Annahme, auch in
gewöhnlichen Briten steckten und ausbrechen könnten, wenn sie sich in den
moralisch entgrenzten Räumen der Kolonien befänden. In der Presse wurde
zwar die entlastende Erklärung gesucht, Barttelot sei wohl verrückt gewesen.101
Dennoch formierten die Berichte ein generelles Unbehagen über die menschliche Seele. Joseph Conrads psychologisierender Roman Herz der Finsternis,
der durch diesen Skandal und die Figur Barttelots maßgeblich inspiriert wurde,
gab dieser Verunsicherung einige Jahre später einen besonders prägnanten und
wirkungsmächtigen Ausdruck. Die dort beschriebene Kongo-Reise zum Reich
des Elfenbeinhändlers Major Kurtz nähert sich nach außen hin der geheimen
Welt Afrikas an, stand aber zugleich für eine Reise in die geheime Welt des Unterbewussten.102 Die breite öffentliche Euphorie für das Empire konnte der
Skandal um Stanley zwar nicht erschüttern, aber gleichwohl setzte er einen
nachhaltigen Kontrapunkt zur kolonialen Euphorie der 1880er Jahre.
99
100
101
102
Stanley an Mackinnon 25. 12. 1890, in: SOAS, SCRR PP MS 1/EPRE/1/2B/218 (Box 55).
McLynn, Stanley, S. 373.
Vgl. etwa: Times 10. 11. 1890, S. 9.
Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich 2004 (Heart of Darkness, London 1899). Die
filmische Adaption Apokalypse Now (USA 1979) übertrug Conrads Deutung bekanntlich auf
den Vietnamkrieg. Zu Conrads und anderen Adaptionen in Romanen vgl.: Green, Dreams.
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3. Bereicherung in Südafrika
247
3. Bereicherung in Südafrika:
Vom JAMESON RAID zum WAR STORES SCANDAL
Seit den späten 1890er Jahren entzündete sich die britische Kolonialkritik seltener an den Einzeltaten von „kolonialen Kraftmenschen“ wie Stanley. Vielmehr rückten mit der beginnenden Erschließung Afrikas die koloniale
Administration und die organisierte Kriegsführung in den Vordergrund. Vor
allem die Konflikte in Südafrika bildeten in den Jahren um 1900 einen Kulminationspunkt für die Skandale und Skandalisierungen in Großbritannien. Da
die koloniale Expansion gegen die Buren sich gegen „Weiße“ richtete, reagierte die Öffentlichkeit auf Gewalttaten sensibler. Bezieht man die Vor- und
Nachgeschichte des Burenkriegs zwischen 1895 und 1905 mit ein, so fällt zudem die starke Fixierung auf den Vorwurf der illegitimen Bereicherung auf.
Natürlich war dies ein bekannter Topos der Kolonialkritik, der ja auch beim
Skandal um Stanley aufgeflackert war. Im „Scramble for Africa“ gewann er
jedoch besonders in Südafrika an Bedeutung.103 Die zunehmende öffentliche
Präsenz von Linksliberalen und Sozialisten dürfte diese kapitalismuskritische
Lesart des Kolonialismus um 1900 zusätzlich verstärkt haben. Nicht minder
wichtig war, dass seit 1895 mit Joseph Chamberlain ein Minister die britische
Kolonialexpansion leitete, der im besonderen Maße mit ökonomischen Argumenten angreifbar erschien. Denn Chamberlain blieb auch als Minister ein erfolgreicher Geschäftsmann, der durch vielfältige Investitionen sein Vermögen
mehrte, wozu etwa größere Aktienanteile am South African Gold Trust zählten.104 Kapitalismuskritik, Korruptionsverdächtigungen und Antikolonialismus gingen damit eine Liaison ein, die künftigen Skandalen den Boden bereiteten.
Zunächst ist jedoch auffällig und erklärungsbedürftig, wie viele Skandalisierungsversuche im Kontext des Burenkonfliktes scheiterten. Ein großer Skandal
lag bereits beim Vorspiel zum Burenkrieg in der Luft, dem sogenannten Jameson Raid Ende 1895. Leander Starr Jameson war mit Wissen und informeller
Unterstützung des Premiers der Kapkolonie, Cecil Rhodes, mit Truppen in die
Burenrepublik Transvaal einmarschiert, um einen Putsch auszulösen und so eine
Anbindung ans Empire zu erreichen. Allerdings wurde Jamesons Truppe rasch
gefangen genommen. Kurz darauf hielten linksliberale Journalisten und Politiker Kolonialminister Chamberlain und Kap-Premier Rhodes ein Mitwissen
103
104
Vgl. als frühes Zeugnis des Bereicherungsvorwurfes: Seymour Keay, Spoiling the Egyptians.
A Tale of Shame, London 1882. Entsprechend waren zeitgenössische kritische Lesarten des
Burenkriegs ausgerichtet; vgl. etwa: J. A. Hobson, The War in South Africa. Its Causes and
Effects, London 1900; ders., Imperialism. A Study, London 1902.
Vgl. als grundlegende Biographie: Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in
Politics, New Haven und London 1994. Etwas knapper, aber ebenfalls quellenfundiert: Denis
Judd, Radical Joe. A Life of Joseph Chamberlain, Cardiff 1993.
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248
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
über den Einmarsch vor, was diese leugneten.105 Im Unterhaus und dem dazu
eingesetzten Select Committee attackierten zudem besonders radikale Abgeordnete in Südafrika aktive Firmen, zur Bereicherung einen Angriff gegen die Burenrepublik zu fördern. Deren Wortführer Henry Labouchere argumentierte zugleich in seiner Wochenschrift The Truth, auch Rhodes und Chamberlain seien
vornehmlich an den dortigen Bodenschätzen interessiert. Dabei hielt er ihnen vor,
durch die koloniale Expansion ihre Aktiengewinne zu verbessern.106 Den meisten Liberalen waren diese Vorwürfe jedoch zu heikel, zumal sie bis 1895 vielfach
selbst mit Rhodes kooperiert hatten, so dass die Kritiker in der Minderheit blieben.107 Chamberlain selbst entging dennoch nur haarscharf einem folgenschweren
Skandal, da er durch das Beseitigen von einigen Telegrammen gerade noch sein
tatsächliches Mitwissen über den Putschversuch verheimlichen konnte.108
Dabei lässt sich abermals eine enge Verbindung zwischen den Kampagnen eines
zunehmend investigativen Journalismus und Politikern ausmachen. Wie bei vielen
Skandalen zuvor trat auf Seite der Kritiker vor allem der Starjournalist W. T. Stead
hervor. Und erneut waren die Grenzen des unabhängigen Journalismus erkennbar: Während Stead aus einer alten Freundschaft heraus Cecil Rhodes schützte
und einen ihn belastenden Untersuchungsausschuss verhindern wollte, lenkte er
seine Vorwürfe ganz auf seinen alten Widersacher Chamberlain, wobei Stead
durch interne Hinweise dessen Verwicklung in den Putschversuch belegen konnte.109 Um seine investigative Recherche in eine politische Kampagne umzumünzen, verschickte Stead an diverse Politiker vorab das Manuskript seiner Schmähschrift „The History of a Mystery“, die Rhodes reinigen und Chamberlain steinigen sollte. Ebenso traf er sich mit dem radikalen Abgeordneten Labouchere, um
ihn mit Informationen zu versorgen und selbst Einschätzungen zu erhalten.110
Stead schickte selbst dem vorherigen liberalen Premierminister Lord Rosebury
unaufgefordert Material für dessen Agitation gegen die konservative Regierung.111
105
106
107
108
109
110
111
Diverse Akten mit offiziellen Dokumenten und der Korrespondenz zum Jameson Raid finden
sich in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 10/2. Nahezu ohne Archivbestände, aber
grundlegend zum Ereignisablauf: Elizabeth Longford, Jameson’s Raid. The Prelude to the
Boer War, London 1982.
Vgl. R. J. Hind, Henry Labouchere and the Empire 1880–1905, London 1972, S. 24; A. L. Thorold, The Life of Henry Labouchere, London 1913, S. 390–391. Searle, Corruption, S. 49 u.
66; Marsh, Joseph Chamberlain, S. 401.
Grundlegend zur gesamten politischen Reaktion: Jeffrey Butler, The Liberal Party and the
Jameson Raid, Oxford 1968.
Die Debatte um Chamberlains Wissen über den Putsch wurde bereits untersucht in: Marsh,
Chamberlain, S. 378–402; Judd, Radical Joe, S. 197.
Vgl. bes. Review of Reviews Febr. 1896, S. 117 f., sowie fortlaufend in der Review of Reviews
1897, bes. S. 2 f., 37, 107, 140, 205, 313, 351, 417 u. 546. Bezeichnenderweise war seine wichtigste Schrift ein halbfiktionaler Text: W. T. Stead, History of the Mystery or The Skeleton in
Blastus’s Cupboard, London 1896. Hinweise zu Stead Agitation, die hier jedoch um einige
Quellenfunde ergänzt sind, auch in: Joseph Baylen, W. T. Stead’s ‚History of a Mystery’ and
the Jameson Raid, in: Journal of British Studies 4 (1964), S. 104–132.
Vgl. auch die Briefe Laboucheres an Stead, in: Churchill Archives/Cambridge, Sted 1-45.
Rosebury an Stead 25. 11. 1896, in: CAC, Sted 1/63.
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3. Bereicherung in Südafrika
249
Wiederum suchte Stead sogar die Nähe derjenigen Politiker, die er bekämpfte.
Chamberlain lehnte es jedoch ab, sich mit Stead zu treffen oder seine Beweise anzusehen – vor allem, weil er Stead seit dessen Kampagne gegen seinen Freund
Dilke verachtete.112 Dennoch kam es selbst in diesem Fall zu der für England typischen Gesprächsbereitschaft zwischen Politikern und kritischen Journalisten.
Vor allem der konservative Fraktionsvorsitzende Arthur Balfour versuchte, Stead
mit diversen persönlichen Briefen zu beruhigen.113
Diese Interaktion zwischen Journalisten und Politikern zeigte sich auch auf
der anderen Seite. Hier setzte sich vor allem die Times mit äußerstem Engagement für Chamberlain ein und kooperierte eng mit dem Kolonialministerium.
Chamberlain stand von Beginn an im regelmäßigen Kontakt zu der Afrikaredakteurin der Times, Flora Shaw. Da die Times sie auf Vorschlag des Kolonialministeriums eingestellt hatte und Chamberlain einer der aktivsten Medienpolitiker war, mag diese enge Beziehung wenig erstaunen.114 Bezeichnenderweise
war die Journalistin nicht nur vorher in den Jameson Raid eingeweiht, sondern
die Times bot sich erneut vorauseilend als Verlautbarungsorgan an, um den
Putsch am gleichen Tag in der gewünschten Form mit einem fingierten Hilferuf
aus der Burenrepublik zu rechtfertigen. Die enge Verbindung zwischen der Regierungspolitik und der Times zeigte sich auch darin, dass sich ihr Management
in der Journalistenzunft für Chamberlain einsetzte und versuchte, die Presseberichterstattung über ihn zu verbessern. Dem Journalisten und Herausgeber des
Spectators, John Loe Strachey, der kritisch über Chamberlains Aktiengeschäfte
berichtet hatte, versicherte der Times-Manager Moberly Bell etwa nachdrücklich die Haltlosigkeit der Vorwürfe: „I can only say that after patient searching
with average intelligence that we never found a vestige of evidence which would
justify such a suspicion.“115 Ebenso verteidigte der Times-Manager Cecil Rhodes
Verhalten gegenüber Strachey und Labouchere mit dem Argument, es sei normal, einen bestimmten Aktienanteil für Freunde zu reservieren.116 Wie sehr sich
die Times-Redakteurin Shaw dem Kolonialminister und Rhodes andiente, belegen auch die Briefwechsel, die 1897 im Select Committee verlesen wurden und
die Times insgesamt bloßstellten.117 Chamberlain lancierte über die Redakteurin
112
113
114
115
116
117
Memorandum Stead für Hawsley, in: CAC, Sted 5/3.
Vgl. die Anschreiben von Balfour an Stead, in: CAC, Sted 1/4. Weitere besänftigende Zuschriften von anderen Politikern: an Stead o. D. (Saturday), in: CAC, Sted 5/5
Dieser Hinweis bereits in: History of the Times 1884–1912, S. 161 f. Zu ihrer Vita: Dorothy
Helly und Dorothy Callaway, Journalism as Active Politics: Flora Shaw, The Times and South
Africa, in: Donal Lowry (Hrsg.), The South African War Reappraised, Manchester 2001, S. 50–66.
Bell an Strachey 15. 2. 1896, in: House of Lords Record Office (HLRO), Strachey Papers, STR
2/9/2.
Bell an Strachey 22. 2. 1896 und 26. 2. 1896, in: HLRO, Strachey Papers, S 2/9/4 f.
„Can you advise when will you commence the plans, we wish to send at earliest opportunity
sealed instructions representative of the London Times European capitals; it is most important
using their influence in your favour, Flora Shaw.“ Abgedr. in: History of the Times 1884–1912,
S. 232. Dort abgedruckt auch der rechtfertigende Artikel für den Einmarsch aus der Burenrepublik, der Jameson zur Rettung von Frauen und Kinder zum Einmarsch herbei rief: ebd., S. 211.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
regelmäßig seine Positionen in die Medien. Der Jameson Raid bedeutete somit
im Grunde genommen abermals eine Blamage für die Times, da sie, wie sich
herausstellte, mit dem Abdruck eines gefälschten Briefes einen Gewaltakt unterstützte und durch die Verwicklung ihrer Redakteurin ihr Ansehen als unabhängige Instanz Schaden erlitt. Die vorauseilende Zusammenarbeit zwischen
Journalisten und Politikern, die sich sowohl bei den Kritikern als auch die Unterstützern des Kolonialministers zeigte, spricht dabei erneut gegen die oft formulierte Annahme einer wachsenden Trennung von Politik und Presse.
Da die Kritiker beim Jameson Raid in der Minderheit bleiben, die Beweislage
gegenüber Chamberlain unklar war und sich keine breite Empörung über ihn
einstellte, konnte der Kolonialminister seinen Posten behalten. Lediglich Cecil
Rhodes musste seinen Posten als Premier der Cape Colony verlassen, nachdem
seine Verwicklung deutlich geworden war. Neben Jameson wurden fünf Offiziere und ein Oberst gerichtlich verurteilt und entlassen.118 Obgleich insbesondere Steads Kampagne diesmal auf investigativen Recherchen beruhte, blieb
seine Agitation damit relativ folgenlos. Er erreichte lediglich, dass Chamberlain
unter Rechtfertigungszwang geriet. Die Liberalen um William Harcourt hielten
sich dagegen zurück, obwohl sie von Chamberlains Wissen um den Putsch ausgingen.119 Gerade der regelmäßige Wechsel der Regierungsmacht dürfte im Unterschied zu Deutschland dazu beigetragen haben, dass eine harte Fundamentalkkritik mit skandalösen Beschuldigungen ausblieb, da sie sich an der Mehrheitsstimmung der Öffentlichkeit orientierte.
Wie sehr weite Teile der Öffentlichkeit die imperiale Politik in Südafrika
stützten, zeigte sich auch im Burenkrieg selbst. Der weit überwiegende Teil der
Zeitungen stellte sich hinter den Angriff gegen die Buren, wohingegen von den
größeren Blättern nur der Manchester Guardian und die Arbeiterzeitung
Morning Leader die Anliegen der Buren vertraten und sich gegen die Kriegspolitik der Regierung richteten.120 W. T. Stead, der sich ebenfalls frühzeitig gegen den Krieg positionierte und sogar ein Blatt namens War against War in
South Africa gründete, blieb erneut, trotz seines großen Namens, recht einflusslos und wurde zunehmend zum Außenseiter.121 Auch seine persönlichen
Treffen mit dem liberalen Oppositionsführer Campbell-Bannerman, dem er
erneut Belege gegen Chamberlain vorlegte, sicherten Stead keine breitere Unterstützung bei den Liberalen.122 Seine mitunter scharfen Briefe, die er an den
Premierminister und einige Minister schickte, blieben anscheinend bewusst
118
119
120
121
122
Unterlagen zu dem Fall und den Verurteilungen in: TNA, WO 108/414.
Diese Zurückhaltung der Liberalen unter Harcourt belegt durchweg die Studie von: Butler,
The Liberal Party.
Denis Judd und Keith Surridge, The Boer War, London 2002, S. 239 f.
Stead begann seine Antikriegskampagne schon vor Kriegsbeginn, wobei er Chamberlains
Kriegsplanungen mit dem Dreyfus-Skandal verglich, da letzterer ebenfalls als Angehöriger
einer „unpopular race“ verfolgt würde; vgl. ders., Shall I Slay My Brother Boer? An Appeal
to the Conscience of Britain, London 1899, S. 6.
Zur Reaktion der Liberalen vgl. Butler, The Liberal Party, S. 235 f.
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3. Bereicherung in Südafrika
251
unbeantwortet.123 Die kriegsbegeisterten Zeitungen erhöhten dagegen ihre Auflagen. Insbesondere die 1896 vom späteren Lord Northcliffe gegründete Daily
Mail stieg gerade durch ihre patriotische Unterstützung des Krieges zur auflagenstärksten Zeitung auf, die erstmals die Millionengrenze überschritt.124
Dennoch kam im Zuge des Krieges eine Imperialismuskritik auf, die an die
vorherigen Skandalisierungen gegen das Kolonialministerium anknüpfte und die
Kriegsbegeisterung zu bremsen versuchte. Sie richtete sich zunächst erneut gegen
die Korruption und den Profit, den insbesondere Kolonialminister Chamberlain
aus dem Krieg ziehen würde. Wiederum bestand eine enge Interaktion zwischen
Politikern und Journalisten. Von politischer Seite untersuchte zwischen Mai und
August 1900 ein Select Committee on War Office Contracts elf Firmen auf Irregularitäten – etwa auf überteuerte Preise, minderwertige Ware und Bestechung
von Inspektoren. Tatsächlich konnte das Komitee in einigen Fällen Bestechungen
feststellen.125 Die radikalen Liberalen verdächtigten besonders die Firma Kynoch
& Co, der Chamberlains Bruder vorstand, weil sie Angebote revidieren konnte
und trotz hoher Preise und schlechter Qualität Zuschläge bekam. Radikale Journalisten trieben diese Vorwürfe weiter voran. Insbesondere der sozialistische
Morning Leader erwies sich als investigativer Ankläger. Er veröffentlichte detaillierte Informationen über die minderwertige Qualität der Kynoch-Produkte und
über den Aktienbesitz von 140 000 Pfund, den Chamberlains Familie an ihr habe.
Detaillierte Listen über ihre Aktien veranschaulichten die Verquickung und ihren Reichtum. Ebenso berichtete das Blatt über die Geschäfte von Chamberlains
Sohn, dessen Firma Hoskins & Sons bis vor kurzem die Armee ausgestattet hatte.126 Chamberlain habe zudem aus seinem politischen Wissen bei Aktienspekulationen profitiert. Damit übernahm das linke Blatt die Rolle des investigativen
Anklägers, die gerade im Krieg die bürgerlichen Blätter nicht mehr innehatten.
Obgleich die Journalisten auf diese Weise Chamberlain mit Korruption in Verbindung brachten, vermied das Blatt jedoch aus Angst vor kostspieligen Verleumdungsklagen direkte persönliche Vorwürfe.127 Ähnlich wie bei der deutschen Presse zeigte sich hier ein formeller Kodex, um diese britische Form der
123
124
125
126
127
So hielt er Salisbury vor, er erstrebe die Kapitulation der Buren, „[…] by systematically torturing their women and children to death by first burning their homes, then destroying their
means of subsistence then herding them in huge pestilence camps where children perish for
the lack of milk […]“. Stead an Salisbury 3. 7. 1901 und Notiz Salisbury, in: NL Salisbury,
Hatfield House. Balfour, der einen ähnlichen Brief erhielt, verzichtete in Absprache mit dem
Premierminister ebenfalls auf eine Antwort. Notiz für Salisbury 9. 7. 1901, ebd.
Vgl. Taylor, The Great Outsiders, S. 39–54; Catherine Hughes, Imperialism, Illustration
and the Daily Mail 1896–1904, in: Michael Harris und Alan Lee (Hrsg.), The Press in English Society from the Seventeenth to Nineteenth Centuries, Rutherford 1986, S. 187–200.
Zur Einsetzung, Zusammensetzung und zum Bericht vgl. die Times in der Zeit zwischen dem
9. 5. 1900, S. 12 und 8. 8. 1900, S. 4. Knappe Hinweise bei: Doig, Corruption, S. 75.
Vgl. Morning Leader 3. 8. 1900, S. 4 u. 18. 9. 1900, S. 3. Wichtige Hinweise bereits in: Searle,
Corruption, S. 52–62. Nur erstaunlich knapp erwähnt ist die Kynoch-Affäre in: Judd, Radical
Joe, S. 226; Marsh, Chamberlain, S. 502 f.
Vgl. zu der Schwierigkeit, daraus eine Verleumdungsklage zu machen, Chamberlains Aufzeichnungen von 15. 12. 1900 in: Univ. Birmingham Special Collection, JC12/2/2.
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252
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Zensur zu umgehen. Dennoch erreichten die Verwandten Chamberlains erfolgreiche Verleumdungsklagen.128
Im Unterhaus griff vor allem der junge radikalliberale Abgeordnete Lloyd
George die Anklagen des Morning Leaders auf. Er erweiterte sie mit einer parlamentarischen Rhetorik, die, wie in Shakespeares Brutus-Rede, die Ehrenhaftigkeit Chamberlains zugleich betonte und diskreditierte. Auch Lloyd George
kritisierte den Krieg nicht aus pazifistischen Motiven heraus, sondern als Akt
der Korruption.129 Die liberalen Kampagnen gegen Chamberlain und den Burenkrieg wurden durch den von Lloyd George mit ausgehandelten Aufkauf der
Daily News verstärkt, die sich nun, dank einer Finanzhilfe des Schokoladenfabrikanten Cadbury, zum Blatt der Kriegsgegner entwickelte.130 Auffällig ist
dabei, dass diese linksliberale Kritik mitunter durchaus antisemitische Untertöne aufwies, wenn sie sich etwa gegen den internationalen Kapitalismus von
„Jewburg“ richteten.131 Antideutsche Töne kamen hinzu, da bereits die Namen
einiger Unternehmer eine deutsche Abstammung verrieten. Trotz dieser Mischung aus Populismus und detaillierten Finanzaufstellungen verpufften diese
Skandalisierungen jedoch, was nicht zuletzt die geringe Wirkungsmacht des
Antisemitismus in Großbritannien zeigte.
Abgefedert wurden die Vorwürfe auch durch Chamberlains gewandten Umgang mit den Medien. Schon vor Kriegsbeginn hatte der Kolonialminister seine
Verbindungen zur Presse weiter intensiviert. Mit der Nachrichtenagentur Reuters hatte er den Ausbau des wechselseitigen Informationsflusses und den täglichen Besuch eines Reuters-Journalisten im Ministerium vereinbart, um Meldungen oder Korrekturen aufzunehmen.132 Ebenso pflegte Chamberlain guten
Kontakt zu dem neuen Großverleger Alfred Harmsworth, dem späteren Lord
Northcliffe. Wie sehr er auf ihn einging, berichtete ein Journalist Northcliffe
nach einem Gespräch mit Chamberlain: „Joseph continues very anxious to meet
your views [...] He stated that he values your support very highly, and is much
in debt for your proposal. [...] I think he will do all he can do to meet you.“133
Mit seinen Popular Politics sah Chamberlain sich generell als ein Geistesbruder
der Großverlegers. „Just as Harmsworth knows what the public want to read,
128
129
130
131
132
133
Aufzeichnungen zu Times 21. 3. und 27. 3. 1901 in: Univ. Birmingham Special Collection,
JC12/2/2.
Gleiches galt für den Sozialisten Keir Hardie; vgl. Kenneth O. Morgan, Lloyd George, Keir
Hardie and the Importance of „Pro-Boers“, in: South African Historical Journal 41
(2000), S. 290–311.
Vgl. bereits: John Grigg, Lloyd George and the Boer War, in: A. J. A. Morris (Hrsg.), Edwardian Radicalism 1900–1914. Some Aspects of British Radicalism, London 1974, S. 13–25;
Stephen Koss, Fleet Street Radical. A.G. Gardiner and the Daily News, London 1973, S. 40.
Vgl. die Hinweise bei: Colin Holmes, Anti-Semitism in British Society 1876–1939, London
1979, S. 67–69.
Englander (Reuters) an Chamberlain 26. 5. 1897, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC
6/4m/2.
Wilson an Northcliffe 1. 10. 1903, in: BL, Northcliffe Mss. Add. 62201:1. Vgl. generell zu ihrer
Beziehung: Thompson, Northcliffe, S. 32.
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3. Bereicherung in Südafrika
253
so I know what the elector wants; it is an instinct in both of us.“134 Bei den
konkreten Skandalisierungsversuchen wandte sich Chamberlain persönlich an
kritische Journalisten. Den Herausgeber des Spectator, John Strachey, lud er
etwa zum Dinner ein und schrieb ihm mehrere rechtfertigende Briefe.135 Auch
wenn Strachey darauf beharrte, enge Verwandte von Ministern sollten keine
Geschäfte im Kontext der Regierungspolitik machen, so förderten die Briefe
zumindest einen respektvollen Umgang.136 Zudem reagierte Chamberlain auf
die Vorwürfe mit einer Gegenskandalisierung und hinterfragte den Aktienbesitz
der Liberalen. Die Times flankierte offensichtlich seine Strategie. Sie sprach
Chamberlain von jeglichem begründeten Verdacht frei und erwog spöttisch,
auch als Drohung an die Liberalen, die Offenlegung aller Aktienanteile von
Regierungsmitgliedern der letzten 30 Jahre.137 Die zunehmenden Kriegserfolge
überdeckten die Vorwürfe zusätzlich. Wie begrenzt die Wirkung dieser ersten
Skandalisierung war, zeigte sich nicht zuletzt der Ausgang der vom Burenkrieg
geprägten Wahlen im Herbst 1900, die die Liberalen deutlich verloren.138
Dass Regierungen im Krieg nur schwer mit Skandalen zu treffen waren, zeigte
sich selbst bei der Aufdeckung der grausamen Kriegsführung in Südafrika. Im
Burenkrieg berichteten rund 300 bis 400 Kriegsberichterstatter aus aller Welt,
vornehmlich aus Großbritannien und den USA. Obgleich sie prinzipiell der britischen Zensur unterlagen, ließ sich diese durchaus umgehen. Als kritische unabhängige Journalisten, die etwa Gewalt an der Zivilbevölkerung anprangerte,
verstanden sich die britischen Journalisten jedoch kaum.139 Dementsprechend
war es kein Journalist, sondern die englische Krankenschwester Emily Hobhouse, die die skandalösen Berichte über die britischen „Concentration Camps“
an die Öffentlichkeit brachte.140 Als Leiterin des Women’s Branch of the South
Africa Conciliation Committee hatte sie in den Camps Hilfsmittel an Frauen
und Kinder verteilt und anschließend 1901 in öffentlichen Reden und Publika134
135
136
137
138
139
140
So ebenfalls wiedergegeben in: Wilson an Northcliffe 1. 10. 1903, in: BL, Northcliffe Mss. Add.
62201:1.
Vgl. die Korrespondenz Strachey – Chamberlain 3. 3.–8. 3. 1900, in: HLRO, Strachey Papers,
STR 4/6/11.
Vgl. bes. Strachey an Chamberlain 21. 8. 1900, in: HLRO, Strachey Papers, STR 4/6/13. Strachey an Chamberlain 23. 8. 1900, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC12/2/2; so
schrieb Strachey hier: „I never doubted your patriotic devotion and absolute rectitude of intention and action.“
Times 11. 12. 1900, S. 11.
Dass die Kriegsbegeisterung auch bei unteren Schichten das Wahlverhalten von 1900 prägte,
betont: Paul Readman, The Conservative Party, Patriotism, and British Politics. The Case of
the General Election of 1900, in: Journal of British Studies 40 (2001), S. 107–145.
Zu der Kriegsberichterstattung vgl. Raymond Sibbald, The War Correspondents: the Boer
War, Stroud 1993; Jacqueline Beaumont, The British Press and Censorship during the Boer
War, in: South African Historical Journal 41 (2000), S. 267–289; Steinsieck, Ein imperialistischer Medienkrieg. Vgl. mit Blick auf die Reuters Berichte: Simon J. Potter, News and the
British World: The Emergence of an Imperial Press System, 1876–1922, Oxford 2003, S. 112.
Zu ihrem gut dokumentierten Wirken vgl. Emily Hobhouse, Boer War Letters, hrsg. v. Rykie
van Reenen, Cape Town und Pretoria 1984.
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254
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
tionen Berichte über die katastrophalen Zustände verbreitet. Immerhin kamen
von den rund 160 000 eingesperrten Buren mindestens 25 000 um – überwiegend
Frauen und Kinder.141
Verschiedene linksliberale Politiker und Journalisten griffen Hobhouse’ Berichte auf, um einen Skandal auszulösen, der die Kriegsführung stoppen sollte.
Journalisten und Politiker arbeiteten dabei erneut eng zusammen. Da der Bruder von Emily Hobhouse für den Manchester Guardian schrieb, der sich unter
dem Herausgeber C. P. Scott gegen den Krieg engagierte, konnte das Blatt seine
Schlüsselrolle in der Anti-Kriegs-Agitation ausbauen. Scott wiederum kooperierte in der einsetzenden Kampagne eng mit dem liberalen Oppositionsführer
Campbell-Bannerman und dem Nachwuchspolitiker Lloyd George.142 Mit C. P.
Scott trat dabei erneut ein Journalist hervor, der zugleich Abgeordneter war und
durch diese Doppelfunktion öffentliche Kampagnen vorantrieb. Sein Manchester Guardian druckte Teile des Berichts ab, und Campbell-Bannerman klagte in
seiner berühmten Unterhausrede die Zustände in den Lagern als „methods of
barbarism“ an. Ihre Anfragen nach den Todesraten bezogen sich vor allem auf
„white persons“, was das Skandalpotential vergrößerte.143 Damit engagierten
sich Stead und Scott gegen die mehrheitliche Meinung der Leser, was unterstrich, dass es diesen Ausnahmejournalisten nicht um hohe Auflagen, sondern
um politische Ziele und Debatten ging. Ebenso griff Reynolds’s Newspaper
emotionalisierend die Vorwürfe auf. So druckte sie unter der Überschrift „Our
War on Women and Children. One of the victims“ das Bild eines völlig ausgemergelten Jungen auf dem Sterbebett ab und warb mit Auszügen für Hobhouse’
Broschüre.144 Auch Hobhouse’ Schrift zog dabei ihre schockierende Wirkung
daraus, dass sie über einzelne Frauen und Kinder im Sterben berichtete und damit abstrakte Kriegsgrausamkeiten anschaulich greifbar machte.
Die Mehrheit der Presse, allen voran die Times und die Daily Mail, stellte sich
dennoch klar auf die Seite der Regierung und lehnte Hobhouse’ Bericht und den
Barbarei-Vorwurf als überzogen ab. Vielmehr gaben diese Blätter der Nachlässigkeit der Mütter die Schuld an den toten Kindern und berichteten stattdessen über die großzügige Versorgung der Kriegsgegner.145 Ebenso blieb Lord
141
142
143
144
145
Judd/Surridge, The Boer War, S. 196.
Scott an Campbell-Bannerman 28. 11. 1900, Campbell-Bannerman an Scott 1. 2. 1902 in: BL,
Campbell-Bannerman MS Add. 41236; Stead an Campbell-Bannerman 15. 8. 1901, in: ebd.
Vgl. auch: Mark Hampton, The Press, Patriotism, and Public Discussion. C. P. Scott, the
Manchester Guardian and the Boer War, in: Historical Journal 44 (2001), S. 177–197.
Vgl. bes. die Unterhausdebatten am 17. 6., 21. 6. u. 24. 6. 1901 Hansard’s Parliamentary Debates
Bd. 44, Sp. 541, 573, 597, 887, 1053.
Reynolds’s Newspaper 23. 6. 1901, S. 4. Ein ähnliches Bild in: Reynolds’s Newspaper
7. 7. 1901, S. 6. Bei Studien, die den kaum vorhandenen Protest gegen den Krieg in den britischen Medien betonen, wird das Massenblatt Reynolds’s Newspaper stets übersehen, obwohl
es sich mit ausführlichen Artikeln gegen den Krieg wandte.
Vgl. Times 26. 6. 1901, S. 14 u. 2. 7. 1901; zur Daily Mail: Taylor, The Great Outsiders, S. 70.
Zur öffentlichen Debatte über die Concentration Camps vgl. Paula M. Krebs, Gender, Race,
and the Writing of Empire. Public Discourses on the Boer War, Cambridge 1999, S. 32–54. Im
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3. Bereicherung in Südafrika
255
Kitchener, der für diese brutale Kriegsführung maßgeblich verantwortlich war, in
der Öffentlichkeit weiterhin ein Kriegsheld.146 Obgleich die Grausamkeit der
britischen Kriegsführung durchaus publik wurde, galt sie folglich nur bei kleineren
Teilen der Öffentlichkeit als ein skandalöser Normverstoß. Die Konzentrationslager blieben damit zunächst eher Gegenstand einer politischen Debatte als eines
emotionalisierenden Skandales. Vielleicht lag dies auch daran, dass diese Auseinandersetzung zunächst vornehmlich mit Statistiken geführt wurde und weniger
mit einzelnen Geschichten wie sonst bei Skandalen üblich. Lediglich der fortlaufende Verweis auf die sterbenden Kinder trieb die Empörung voran.
Zugleich minderten die Gegenskandalisierungen der konservativen Politiker
und verschiedener Zeitungen die Vorwürfe ab. Artikel über Erschießungen, die
die Buren angeblich an Verletzten vornahmen, wogen anscheinend die Anklagen auf. Gleiches galt für den ebenfalls von einer Frau verfassten Regierungsbericht über die Lager, demzufolge die Buren die tödlichen Seuchen in den Lagern
durch ihre Schmutzigkeit selbst auslösen würden.147 Immerhin konnten die von
Hobhouse ausgestoßenen Proteste jedoch bewirken, dass die Regierung die Zustände untersuchte, Verbesserungsvorschläge aufnahm und sich so die Todesrate
in den letzten Kriegsjahren senkte. Mit dem Ende des Krieges nahm zudem auch
die Kritik in den Zeitungen zu. Die Berichte über die Concentration Camps und
die toten Zivilisten häuften sich nun, wobei besonders die Times weiterhin die
britischen Kriegsverbrechen und Toten ignorierte.148 Dass diese Nachrichten
jedoch keine schlagartige Empörung gegen die Regierung auslösten, lag vermutlich an dem geringen Neuigkeitswert der Meldungen. Sie führten eher zu einer
kontinuierlichen Unzufriedenheit, die nicht plötzliche Rücktritte, sondern
künftige Verluste bei Wahlen förderte.
Wesentlich stärkere Kritik am Burenkrieg formulierte die Öffentlichkeit auf
dem europäischen Kontinent. Obgleich sich die deutsche Regierung mit Kommentaren zurückhielt, um die außenpolitischen Beziehungen nicht zu gefährden,
warfen die deutschen Zeitungen nahezu einhellig und kontinuierlich den Engländern vor, aus Geld- und Machtgier furchtbarste Kriegsgräuel an den Buren zu
verüben.149 Die Zuschauer bei Filmberichten zum Krieg feuerten die Buren auf
146
147
148
149
Unterschied zu Krebs ist aber zu betonen, dass Hobhouse’ Berichte selbst in der Times wiedergegeben wurden. Von einem Ausblenden der tödlichen Gewalt in den britischen Medien,
die verschiedene Studien betonten, kann man somit nicht sprechen; so jedoch etwa: Glenn R.
Wilkinson, Depictions and Images of War in Edwardian Newspapers, 1899–1914, London
2003, S. 132 f.
Keith Surridge, More than a Great Poster: Lord Kitchener and the Image of a Military
Hero, in: Historical Research 74 (2001), S. 298–313.
Vgl. den positiv gefärbten offiziellen Bericht „Report on the Concentration Camps in South
Africa by the Committee of Ladies“, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 33/3/4.
Kenneth O. Morgan, The Boer War and the Media (1899–1902), in: Twentieth Century
British History 13 (2002), S. 1–16, bes. S. 3.
Vgl. Geppert, Pressekriege, S. 125–132; Ulrich Kröll, Die internationale Buren-Agitation
1899–1902. Haltung der Öffentlichkeit und Agitation zugunsten der Buren in Deutschland,
Frankreich und den Niederlanden während des Burenkrieges, Münster 1973.
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256
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
der Leinwand an,150 und die Presse druckte äußerst detaillierte Schilderungen
über die ‚bestialische‘ Gewalt der Briten, was sonst eher bei Berichten über Kriegsgegner üblich war.151 Auch im Umfeld des deutschen Kaisers deutete man den
Krieg mit dem „schmutzigen Geldinteresse“ und skandalösen Verstrickungen der
Briten. Verlören die Engländer den Krieg, so Prinz Albert, „würde ein Panama
folgen, ärger als das französische.“152 Die von der Polizei aufgezeichneten Kneipengespräche zeigen ebenfalls eine starke Empörung über das britische Vorgehen,
wobei die Gespräche besonders emotionale Gewaltberichte aus der Presse aufgriffen. So beklagten einige Gäste, dass Großbritannien „Frauen und Kinder gemordet hat, um einen Volksstamm mit Haut und Haaren auszurotten.“153
Ähnlich wie der Stanley-Skandal verstärkte der Burenkrieg damit die deutsche
Vorstellung von den zwei Gesichtern Großbritanniens, dessen „dunkle“, geheime Seite nun erneut offenbar würde. Als Chamberlain im Oktober 1901 das
Vorgehen in Südafrika, ähnlich wie ein Times-Leserbrief kurz zuvor, damit rechtfertigte, die deutschen Soldaten hätten im deutsch-französischen Krieg weitaus
schlimmere Gewalt verübt, kulminierten die emotionalen Proteste in Deutschland. Hunderttausende Menschen kamen zu öffentlichen Protestversammlungen
zusammen und die Reichsregierung erhielt zahllose Protestresolutionen.154 Damit bildete allerdings nicht mehr allein die Gewalt, sondern die angegriffene nationale Ehre das eigentliche Skandalon. Überdies löste die britische Gewalt gegen
die Buren sogar von konservativer Seite Kritik an der Reichsleitung und am
Kaiser aus, die der Öffentlichkeit zu englandfreundlich erschienen.155 Auch
wenn sich die Reichsleitung diesen Stimmungen nicht direkt anschloss, veränderten sie doch langfristig das deutsch-englische Verhältnis, zumal die Berichte
in Großbritannien wiederum das Gefühl deutscher Feindseligkeit stärkten.156
In Großbritannien kam es hingegen, trotz dieser zahlreichen Versuche, erst
nach Kriegsende zu einer erfolgreicheren Skandalisierung der Verhältnisse in
Südafrika. Der sogenannte War Stores Scandal, der von 1904 bis 1906 die Öffentlichkeit beschäftigte, lässt sich dabei als eines der wichtigsten öffentlichen
Nachgefechte zum Burenkrieg fassen. Nicht die Kriegsgewalt oder die Bereicherung von Ministern führten zu einer breiten öffentlichen Empörung, sondern die Verschwendung von Steuergeldern.157 Der Skandal entfaltete sich aus
150
151
152
153
154
155
156
157
Vgl. Iris Kronauer, Vergnügen, Politik und Propaganda. Kinematographie im Berlin der
Jahrhundertwende 1896–1905, Ms. Diss. Berlin 2000, S. 67; Kröll, Die internationale BurenAgitation.
Vgl. Daniel, Einkreisung und Kaiserdämmerung, S. 308–311.
Eintrag Waldersee 29. 10. 1899, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 437.
Zit. Bericht Graumann 17. 6. 1902, abgedr. in: Evans (Hrsg.), Kneipengespräche, S. 351; hier
bereits weitere entsprechende Gespräche, ebd. S. 347–352.
Zur Reaktion in Deutschland vgl. Fälschle, Rivalität, S. 47–53.
Vgl. zu dieser Spannung jetzt: Geppert, Pressekriege, S. 132–141.
Kennedy, The Rise, S. 251.
Die Literatur zum Kolonialismus hat den War Stores Scandal bislang weitgehend übergangen.
Einige Hinweise in: Searle, Corruption, S. 75–79.
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3. Bereicherung in Südafrika
257
der Kriegsabwicklung, die mit großen finanziellen Transaktionen einherging.
Da sich die Truppen aus eigenen staatlichen Farmen versorgt hatten, kam es
nach ihrem Abzug aus Südafrika zu umfangreichen Verkäufen von überschüssigen Lebensmitteln, Tieren, Ausrüstungsteilen und Ländereien, aus denen sich
die Regierung insgesamt über 9 Millionen Pfund erhoffte.158 Dass es bei diesen
unüberschaubaren Aktionen zu Unregelmäßigkeiten kam, deuteten am 4. Juni
1904 Berichte in der Daily News und der Times an. Wie die Blätter mit Verweis
auf ein Gerichtsurteil in Südafrika meldeten, hatte der Bruder des südafrikanischen Director of Supplies Oberst Morgan, aus Armeebeständen für 300 britische Pfund Spreu verkauft, dann jedoch wieder die gleiche Menge für rund
2 300 Pfund zurückgekauft und den Gewinn mit den beteiligten Händlern und
Offizieren aufgeteilt.159 Da Oberst Morgan angeblich auch 300 Pfund erhielt,
erschien er beiden Zeitungen als Teil eines kolonialen Korruptionssystems, bei
dem nur die Spitze des Eisberges zufällig entdeckt worden sei. Die Daily News
prägte bereits mit der ersten Überschrift anklagend den Begriff „War Stores
Scandal“, den der Fall auch in den nächsten Jahren behalten sollte. Ihr Kommentar fasste unter der Überschrift „Shame and Scandal“ gleich ein generelles
Urteil: „The story of sordid corruption in South Africa grows daily more shameful. The wrested land, now that the murder has done its worst, seems delivered over to the kites and the vultures.“ Um die Leser emotional aufzuwühlen,
formulierte sie gleich beim ersten Bericht das zentrale Argument des Skandals:
„The British public must remember that it’s their pockets which are being plundered.“160 Auch wenn sie den Fall nicht selbst recherchiert hatte, prägte sie
durch ihre Begriffe den Skandalverlauf. Die Daily News hatte, seit sie sich 1901
durch ihren Aufkauf durch den Schokoladenfabrikanten Cadbury zu einem
parteinahen liberalen Blatt und Kritiker des Burenkrieges entwickelt hatte, auch
in den Jahren zuvor nicht mit skandalisierenden Anklagen gegen die konservative Politik gespart.161 In diesem Fall griffen jedoch selbst die konservativen Blätter die Beschuldigungen auf. Die Times benutzte zwar bei ihrer ersten Meldung
nicht vergleichbar starke Kraftausdrücke, verband aber immerhin den Vorwurf
mit der nachdrücklichen Forderung nach einer Aufklärung, zumal entsprechende Gerüchte seit langem virulent seien.
Bei Skandalbeginn zeigte sich, dass die Medien durch die Telegraphenberichte
und Nachrichtenagenturen besser und schneller informiert waren als die Ministerien. Der Kriegsminister erfuhr, wie seine Telegramme belegen, erst über die
Times-Artikel von den Vorwürfen und verlangte daraufhin zügig Berichte aus
Südafrika. Die Regierung nahm die Pressestimmen äußerst ernst und leitete so-
158
159
160
161
Detaillierte Angaben in: Memorandum Wilson/Director of Army Finance o. D, in: TNA, WO
32/9260; Memoranda Butler 21. 1. 1905, in: TNA, WO 108/383, S. 46.
Daily News 4. 6. 1904, S. 4; Times 4. 6. 1904, S. 7.
Daily News 4. 6. 1904, S. 4.
So zuletzt nur einen Tag vorher mit einem Bericht über „Scandal of Office“; Daily News
3. 6. 1904, S. 8.
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258
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
fort breitere Untersuchungen ein.162 Noch im selben Monat pries der Kriegsminister seine Reformvorschläge als „new system“ an, das, so wörtlich, zukünftig
derartige Skandale verhindern solle.163 Korruption in den Kolonien und die Verschwendung von Steuergeldern wurden offensichtlich sofort als ein besonders
sensibler Bereich angesehen. Zugleich sorgte das Parlament für einen entsprechenden Handlungsdruck, da die liberalen Abgeordneten die Artikel umgehend
in Anfragen aufgriffen. Sie bedienten sich ebenfalls der Steuerzahler-Rhetorik,
als sie auf die Verschwendung von Militäreigentum hinwiesen, „for which the
ratepayers of this country had to pay.“164 In den parlamentarischen Antworten
gab sich die Regierung allerdings abwartend und verwies mehrfach nur auf laufende Ermittlungen in den Verleumdungsprozessen, um Zeit zu gewinnen.
Seine weitere Dynamik entfaltete der Skandal, weil Oberst Morgan die beiden
Zeitungen auf Verleumdung verklagte, da er nicht an den Geschäften seines
Bruders beteiligt gewesen sei. Wie bei allen Skandalen gaben die Prozesse der
Presse erneut Anlass, ausführlich den Fall zu räsonieren. Beide Seiten richteten
ihre Appelle abermals an die Steuerzahler: Während Morgan betonte, seine
sparsame Verwaltung habe den Briten zwei Millionen Pfund erspart, betonte die
Daily News in ihren Kommentaren, „the matter affects the administration of
hundreds of thousands of pounds worth of goods paid for, and belonging to the
people of this country.“165 Obgleich das Gericht den Oberst in beiden Prozessen davon freisprach, an diesem korrupten System beteiligt gewesen zu sein,
urteilte die Jury im Prozess gegen die Times, „that the trial reveals a very lax
state of affairs, and urge a rigid investigation on the part of the Government.“166
Da Medien, Parlament und Gericht skandalöse Zustände ausmachten, war die
Regierung zum Handeln gezwungen. Tatsächlich setzte sie schon vor den Prozessen ein Departmental Committee unter William Butler ein, das generell die
Abwicklung der Militärbestände untersuchen sollte. Obgleich in dem kleinen
Gremium nur hohe Militärs saßen, legte es bereits im Juni 1905 einen kritischen
öffentlichen Bericht vor, wie er in Deutschland damals undenkbar gewesen
wäre. Diese von der Regierung angeregte Untersuchung, und nicht etwa eine
Recherche der Zeitungen, stieß in dieser zweiten Phase des Skandals maßgeblich
eine breite Empörung an. Butlers Bericht, der eingangs ebenfalls auf die Last der
Steuerzahler hinwies, druckten auch regierungsnahe Blätter in umfangreichen
Dokumentationen ab.167 Zudem griff selbst die Times in ihren Kommentaren
162
163
164
165
166
167
Vgl. Secretary of State for War an General Officer Commanding Pretoria 6. 6. 1904 und
20. 7. 1904, in: TNA, WO 108/384.
Memorandum o.D, in: TNA, WO 32/9260.
So der Ire Swift MacNeill 25. 7. 1904 Hansard’s Parliamentary Debates Bd. 138, Sp. 1039.
Daily News 2. 3. 1905, S. 12.
Times 7. 4. 1905, S. 3.
Eingangs kommentierte der Bericht dies mit der Frage: „Are the tax-payers of this country to
continue to be the sport of the many questionable contractors who are ready to follow their
several advocations in the wake of the war […]?“ Report of Committee Appointed by the
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3. Bereicherung in Südafrika
259
emotionalisierend seine Vorwürfe auf: Seit 1902 sei fortlaufend versucht worden, die Bestände zu möglichst geringen Preisen an einen möglichst kleinen
Kreis von Abnehmern zu verkaufen. Nicht minder skandalös fand die Times,
dass in einem „dual system“ Armeegüter zu geringen Preisen verkauft und dann
zu hohen Preisen von Zwischenhändlern zurückgekauft worden seien und zahlreiche wichtige Dokumente fehlten.168 Lediglich das angeblich besonders unabhängige und skandalorientierte Boulevardblatt Daily Mail ignorierte den Skandal und stützte die Regierung, indem sie auf Fehler im Butler Committee hinwies, die Parlamentsberichte unkommentiert ließ und sie mit wohlwollenden
Überschriften versah.169
Die Empörung der liberalen Blätter war dagegen äußerst groß. Reynolds’s
Newspaper beschuldigte unter der Schlagzeile „Great Scandal“ die Regierung
Balfour, die Wahrheit zu verdecken, das Unterhaus nicht informiert zu haben
und jene zu unterstützen, „[which] have been stealing the money wrung from
the poor in war taxation“.170 Ihre Forderung, die Regierung per Impeachment
zu entlassen oder im Strafgericht Old Bailey zu verurteilen, unterstrich den
scharfen und populistischen Ton. Sowohl der Kriegsverlauf als auch die seit
1886 währende Dominanz der Konservativen führten zu diesen für England ungewöhnlich polarisierten Kommunikationsstil, der sich im Skandal weiter zuspitzte. Reynolds sprach nun regelmäßig von „The Thieves Government“, das
sich wie die russische Regierung mit Gewalt an der Macht halte und den Steuerzahler um 7 000 000 Pfund betrogen habe – obgleich dies nur der geschätzte Verkaufswert aller Kriegsbestände war.171 Gerade in Großbritannien, wo im Parlament der Respekt gegenüber jedem Abgeordneten zentral war, bildete diese
Gleichsetzung mit Dieben zweifelsohne einen Affront, der nur über die Medien,
nicht aber im Parlament sagbar war. Bei dieser journalistischen Kritik kam es
wiederum zu einer Zusammenarbeit zwischen der parteinahen Presse und der
Politik. So kündigte der liberale Oppositionsführer Campbell-Bannerman dem
Herausgeber der Daily News schon vorher an, was er Premierminister Balfour
im Unterhaus fragen werde.172 Visualisiert wurde der erdrückte Steuerzahler
zudem in den Karikaturen des Punch, der die südafrikanischen Profiteure als
Schlange darstellte, die den Steuerzahler als Hasen verspeiste, der sich mit Geld
und Verträgen wehrt (Abb. 6).173
168
169
170
171
172
173
Army Council to Consider the Question of Sales and Refunds to Contractors in South Africa,
1905, S. 59. Vgl. Times 15. 6. 1905, S. 3 f., S. 9. Das gesamte Blue-Book des Berichtes hatte 530
Seiten.
Times 17. 6. 1905, S. 12. Vgl. auch die interne Darlegung der Vorwürfe in: Evidence Ward, in:
TNA, WO 32/9260, S. 21.
Vgl. etwa: Daily Mail 17. 7. 1905, S. 5 u. 22. 7. 1905, S. 3.
Reynolds’s Newspaper 18. 6. 1905, S. 1.
Zit. Reynolds’s Newspaper 2. 7. 1905, S. 1. Über „The Thieves’ Governmment“, das der Korruption überführt sei, spricht fast jede ihrer Ausgaben im Juli und August 1905.
Campbell-Bannerman an Gardiner 16. 6. 1905, in: LSE, NL Gardiner 1/6.
Punch 21. 6. 1905.
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260
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Abb. 6: Weniger die Gewalt
im Burenkrieg als die Angst,
der Steuerzahler würde von
korrupten Kolonialverträgen
und dem „Thieves Government“ ausgenommen, führte
zu einem großen Kolonialskandal; Punch 21. 6. 1905.
Charakteristisch für Großbritannien war, dass die Regierung auf die Medienvorwürfe mit einer umfassenden Untersuchung und mit Sanktionen reagierte.
Bereits nach dem Butler-Bericht entließ sie einige Offiziere in Südafrika. Da sich
auch im Unterhaus die Klagen über die Verschwendung von Steuergeldern
häuften, setzte die Regierung zudem in Abstimmung mit König Edward VII.
eine Royal Commission ein, die eidesstattlichen Ermittlungen vornahm und alle
Käufe und Verkäufe zwischen 1902 und 1904 überprüfte.174 Nicht minder bereitwillig stellte das Kriegsministerium umfangreiche Auflistungen zur Verfügung.175 Die von der Regierung eingesetzte Kommission erstickte den Skandal
jedoch nicht mit Aktendetails, sondern hielt ihn durch die Vernehmung von
zahlreichen prominenten Zeugen, wie sogar des Kriegsministers selbst, ein weiteres Jahr am Leben.176 Sie machte zahlreiche neue Korruptionsverdächtige aus,
174
175
176
Vgl. Bericht Balfour an Edward VII. und Kabinettsprotokoll. 22. 6. 1905, in: TNA, CAB
41/30/23. Von den zahlreichen Unterhausdebatten hierzu vgl. bes. die Sitzungen zwischen
dem 21. 6. 1905 und 4. 7. 1905, vor allem 26. 5. 1905, in: Hansard’s Parliamentary Debates
Bd. 148, Sp. 79–367.
Vgl. Akten wie in: TNA, WO 108/383 bis 386.
75 Zeugen wurden an 26 Sitzungstagen vernommen; Times 10. 8. 1906, S. 4 f.
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3. Bereicherung in Südafrika
261
was zu weiteren Suspendierungen führte.177 Ihr Bericht, der im Oktober 1906
endgültig offiziell vorlag, war zwar weniger kritisch als der von der ButlerKommission. Dennoch bestätigte er fast alle bisherigen Vorwürfe. Die Misswirtschaft hatte demnach das Land zwischen 750 000 und 1 250 000 Pfund gekostet und nur Profit für einige „Commissioned officer“ und viele „Non-commissioned officers“ gebracht. Er zeigte die chaotische Kommunikation zwischen
dem War Office und der Verwaltung in Südafrika und belegte erneut das Fehlen
wichtiger Dokumente.178 Vor allem machte der Bericht die Bestechung zahlreicher Militärbeamter deutlich, die insbesondere von der Firma Meyer größere
oder auch erstaunlich kleine Geldgeschenke erhalten hatten und dafür unter
Preis Waren verkauften.
Alles dies belegte, welche bemerkenswerte Selbstkritik und Selbstreinigung
die britische Regierung bei Skandalen zeigte. Obgleich die Kommissionsmitglieder der Regierung nahe standen, führten ihre Recherchen zu derartig
unliebsamen Ergebnissen. Die Presse reagierte entsprechend. Selbst die Times
kritisierte in ihrer Bilanz die Misswirtschaft und Gleichgültigkeit gegenüber
Steuergeldern, die das Kriegsministerium nicht verhindert habe, auch wenn die
Regierung selbst nicht korrupt sei.179
Die Folgen des Skandals waren immens. Parallel zur Diskussion über den
Butler-Report verlor die konservativ-unionistische Regierung ihre Vormachtstellung. Schon bei den zeitgleichen Abstimmungen zu anderen Themen konnte
sie keine Mehrheit mehr bilden, was die liberalen Opposition triumphieren ließ
und Rücktrittsforderungen an Premierminister Balfour bescherte.180 Ende des
Jahres zerbrach die konservative Regierung schließlich ganz und verlor bei den
anschließenden Wahlen erdrutschartig an die Liberalen. Diesen Verfall erklärte
die bisherige Forschung gewöhnlich mit den Konflikten über den Freihandel,
die Gewerkschaftsrechte und billige chinesische Arbeiter in Südafrika. Die „taxpayer“-Kampagne im Zuge des War Stores-Skandals dürfte jedoch ebenfalls einen größeren Anteil an ihrem Reputationsverlust gehabt haben.181
Im Vergleich zu anderen Skandalen zog der Fall umfangreiche personelle
Konsequenzen nach sich. Zwölf Personen aus der Militärverwaltung, darunter
ein Oberstleutnant, wurden entlassen, fünf pensioniert und zwölf getadelt.182
Noch schwerer wog vermutlich, dass die Presse ihre Namen veröffentlichte.183
177
178
179
180
181
182
183
Ward an Royal Commission 27. 1. 1906, in: TNA, WO 32/9258; Ward an Royal Commission
28. 12. 1905, in: TNA, WO 108/384.
Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA, WO 32/9259.
„They were guilty of irresponsibility, indifference to public interest, and want of intelligence.“
Times 10. 8. 1906, S. 7. Ähnlich auch: Times 30. 8. 1906, S. 10; 17. 10. 1906, S. 7; 31. 12. 1906, S. 6.
Daily Mail 21. 7. 1905, S. 5.
In den gängigen Darstellungen zum Regierungswechsel finden sich keine Hinweise auf den
„War Stores Scandal“. Vgl. etwa die umfassende Wahlkampfstudie von: A. K. Russell, Liberal
Landslide. The General Election of 1906, Newton/Hamden 1973.
Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA, WO 32/9259.
Times 16. 19. 1906, S. 9.
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262
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Einen Tadel erhielten diejenigen, die lediglich Armeebestände zu schlechten
Preisen verkauft hatten oder sich von den Käuferfirmen Kredite geben ließen.
Entlassen wurde, wer Geld von den Agenten der Käufer angenommen hatte.
Die Bestechungssummen betrugen bei einigen Beschuldigten 100, 200 und 500
Pfund, also oft mehr als ihre Monatsgehälter. Andere erhielten mehrmals kleine
Beträge von nur ein bis zwei Pfund.184 Wie bei späteren Korruptionsskandalen
zeigte sich damit, dass es keine feste Summe der Käuflichkeit gab, sondern oft
symbolische Bestechungsbeträge ausreichten. Gerade weil das korrupte Handeln von den Beteiligten kaum als Straftat wahrgenommen wurde, fielen die Bestechungen wohl vergleichsweise gering aus. Umgekehrt formuliert: Gerade die
Etablierung von Korruptionsnormen durch derartige Skandale dürfte in späteren Fällen die Summen erhöht haben, die für die Senkung von Hemmschwellen nötig waren.
Damit war auch bei diesem Skandal die entscheidende Folge, dass er Normen
für das Verhalten in den Kolonien setzte. Die große Zahl von bestochenen Offizieren machte deutlich, wie unproblematisch dort bisher korrupte Geschenke
erschienen. Die rigorosen Untersuchungen, die Entlassungen und die öffentliche Empörung verfestigten nun die Norm, dass auch in Afrika ein derartiges
Verhalten nicht mehr tolerierbar war und von der heimischen Öffentlichkeit
geahndet wurde. Die Kritik an der nachlässigen Aktenführung legte zudem heimische Bürokratiestandards fest. Der sparsame Umgang mit Steuermittel wurde
ebenfalls zur Leitlinie erhoben. Die Regierung setzte dafür maßgebliche Akzente, die aber durch die Zeitungskommentare angestoßen worden waren, auch
wenn die Presse den Skandal kaum durch eigene Recherchen forciert hatte. Bekräftigt wurden diese normativen Anforderungen durch eine Gesetzesreform.
Die Verschärfung des Prevention of Corruption Act gehörte 1906 zu den ersten
Handlungen der neu gewählten liberalen Regierung, mit der sie Bestechungen
über den Kreis des öffentlichen Dienstes hinaus unter Strafe stellte.185
Dass es um 1900 ausgerechnet zu Skandalen in der Verwaltung gekommen
war, erklärt sich auch aus der zunehmenden Bürokratisierung des Kolonialismus in Afrika. Erst das Entstehen formeller Verfahren setzte Normen, was Korruptionsskandale begünstigte. Skandale, die sich wie bei Stanley um Gewalt und
sexuellen Missbrauch kolonialer „Eroberer“ drehten, traten dagegen in den
Hintergrund. Dass jedoch weiterhin derartige Skandale um sexuellen Missbrauch in die englischen Medien wandern konnten, mag etwa ein abschließender
kurzer Seitenblick auf den Silberrad-Skandal 1908/9 im Britisch-Ostafrika verdeutlichen. Er entstand, nachdem ein Leserbriefschreiber in der Times berichtete, sein Nachbar, der Assistant District Commander Hubert Silberrad, hätte sich
verschiedene einheimische Mädchen zum sexuellen Verkehr zukommen lassen,
sei deshalb aber lediglich von der Beförderung ausgeschlossen worden.186 Die
184
185
186
Memorandum o. D., in: TNA, WO 32/9259.
Doig, Corruption, S. 77.
Times 3. 12. 1908, S. 10.
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3. Bereicherung in Südafrika
263
kleine Meldung, die die Times reißerisch mit „An East African Official and
native Women“ überschrieb, löste wie der War Stores Scandal eine rasante
Eigendynamik aus. Abgeordnete brachten bei ihren Anfragen an die liberale Regierung gleich noch andere Fälle auf, wie das tödliche Auspeitschen von Afrikanern in Rhodesien, den Kauf von Frauen durch Beamte oder den Missbrauch
von eingeborenen Frauen in Ost-Afrika.187 Wie beim Skandal um Stanleys Rear
Column kamen gerade durch die Rechtfertigung des Hauptangeklagten weitere
Vorwürfe auf und überführten den Verkehr zwischen afrikanischen Mädchen
verstärkt an die Öffentlichkeit.188 Der Skandal zeigte zudem, wie sich nach dem
Regierungswechsel von 1905 die moralische Entrüstung in den Medien komplett veränderte: Liberale Blätter wie die Pall Mall Gazette oder Reynolds’s
Newspaper, die bisher gerade bei derartigen Skandalen besonders ausführlich
und emotional berichtet hatten, beschränkten sich nun auf ganz wenige versteckte Kurzmeldungen.189 Offensichtlich ging ihre journalistische Unabhängigkeit nicht so weit, dass sie mit derartigen Meldungen der liberalen Regierung
hätten schaden wollen. Uneingeschränkter Wortführer bei diesem Kolonialskandal war dagegen die Times, die sich nun unter ihrem neuen Besitzer Northcliffe scharf polarisierend gegen die Liberalen richtete. Dieses Beispiel belegt
damit, dass man aus den Skandalen und Kampagnen im Kontext des Burenkrieges nicht den Schluss ziehen darf, die liberale Öffentlichkeit sei prinzipiell
besonders kolonialkritisch gewesen und hätte nur deshalb Skandale forciert.
Vielmehr ging es vor allem darum, die regierende konservative Partei zu attackieren, weshalb die Liberalen nach dem Regierungswechsel von 1905 plötzlich
mehr Zurückhaltung zeigten.
Sexuelle Normbrüche hatten in britischen Kolonialskandalen bisher nur eine
untergeordnete Rolle gespielt. Der Silberrad-Skandal löste nun auch in diesem
Feld in der Presse und dem Parlament eine koloniale Normendebatte aus. Dabei
wurde zum einen vornehmlich verhandelt, ob afrikanische Mädchen von 12 bis
13 Jahren schon so geschlechtsreif seien, dass mit ihnen, im Unterschied zu englischen Frauen, bereits sexueller Verkehr zulässig sei. Einige Leserzuschriften
und der Staatssekretär im Kolonialministerium argumentierten mit der früher
entwickelten Geschlechtsreife der Afrikanerinnen, während vor allem die Leserzuschriften der Times besagtes Alter als zu jung ansahen.190 Zudem ging es
generell um die Frage, ob britische Beamte mit afrikanischen Frauen verkehren
dürften. Immerhin hatte der Silberrad-Skandal zur Folge, dass das Kolonialministerium eine neue Norm per Anweisung festigte: Ein Rundschreiben warnte
alle zukünftigen Kolonialbeamten, dass der sexuelle Verkehr mit Einheimischen
187
188
189
190
Vgl. die Parlamentsberichte in: Times 8. 12. 1908, S. 7, Times 11. 12. 1908, S. 8; Hinweise zu dem
Skandal in: Hyam, Empire, S. 160–170.
Times 10. 8. 1909, S. 8.
So nur ganz knapp mit dem Hinweis auf Parlamentsdebatten: Pall Mall Gazette 27. 7. 1909;
Reynolds’s Newspaper 1. 9. 1909, S. 9.
Times 9. 12. 1908, S. 6; Times 7. 12. 1908, S. 8.
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264
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
ein Entlassungsgrund sei.191 Dass dieses Rundschreiben speziell für Afrika galt,
unterstrich den rassistischen Unterton. Im Vergleich zu Deutschland, wo zur
gleichen Zeit ebenfalls der sexuelle Verkehr mit Afrikanerinnen und „Mischehen“ debattiert wurde, blieb diese Debatte jedoch weniger ausgeprägt. Dennoch
zeigte der Fall Silberrad, dass neben der Gewalt und der Korruption im edwardianischen England nun auch sexuelle Normverstöße in den Kolonien öffentlich benennbar waren. Diese Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen führte allerdings nicht zu einer Liberalisierung, sondern zu einer verstärkten Kontrolle.
4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch: Leist und Wehlan
Nur wenige Jahre nach dem Skandal um Stanleys Nachschubtruppe kamen auch
in Deutschland zahlreiche Skandale auf, die die grausame Gewalt in Afrika in
die breitere heimische Öffentlichkeit überführten. Die ausführlichen Berichte
über den britischen Skandal trugen sicherlich dazu bei, auch bei deutschen Kolonialhelden und Kolonialbeamte Gewalttaten denkbarer zu machen. Zugleich
legte der Spott über den britischen Kolonialismus die moralische Messlatte der
Deutschen höher und spornte zu gegenseitigen Bloßstellungen an. So hatte insbesondere Stanleys deutsches „Pendant“ Carl Peters während des Skandals in
Interviews dessen Charakter kritisiert. Nicht einmal die Mahdi seien, so Peters,
am oberen Nil eine so große Gefahr für die Zivilisation wie Stanley.192
Die öffentliche Kritik an kolonialen Missständen ging in Deutschland frühzeitig vom Reichstag aus. Obgleich der Reichstag zwar nicht den kolonialen
Kurs bestimmen durfte, erlaubte seine Mitsprache über das Budget doch eine
Korrektivfunktion.193 Die Debatten über die Kolonialhaushalte entwickelten
sich immer wieder zu Anklagen gegen Normbrüche in den Kolonien, aus denen
vielfach Skandale entstanden. Denn gerade weil die Mehrheiten häufig unsicher
waren und insbesondere Teile der Zentrumspartei und der Linksliberalen sich
nicht unbedingt festlegten, versprachen emotionalisierende Anklagen konkrete
politische Folgen.194 Mit den steigenden Kolonialausgaben gewann der Reichstag so an kommunikativer Macht, da die Debatten öffentliche Zuschreibungen
über die Kolonien prägten.
Weniger Beachtung fand bisher, dass die Kolonialkritik seit Anfang der 1890er
Jahre auch mit der Ausbildung eines deutschen Korrespondentenjournalismus
in Afrika zusammen hing. Damit entstand zumindest ansatzweise eine eigenständige investigative Berichterstattung aus den Kolonien, wie sie bisher selbst
England nur vereinzelt besaß. Dies lässt sich gut an der Tätigkeit des Journa191
192
193
194
Hyam, Empire, S. 168.
Vgl. Pall Mall Gazette 4. 11., 11. 11. u. 14. 11. 1890; Carl Peters, Die Deutsche Emin Pascha
Expedition, München und Leipzig 1891.
Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 313.
Als Überblick zur Haltung der einzelnen Parteien vgl. Gründer, Geschichte, S. 63.
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4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch
265
listen Eugen Wolf rekonstruieren. Wolf firmierte seit 1891 beim linksliberalen
Berliner Tageblatt als „Berichterstatter für Ost-Afrika“. Damit berichtete er aus
genau dem Gebiet, das Peters Expeditionen maßgeblich für das Deutsche Reich
erschlossen hatte. Entsprechend war er der erste, der Peters Gewalttaten, die
später zu einem Skandal führten, in Zeitungsartikeln zumindest andeutete.195
Wolf verdankte diese Stelle weniger seinen journalistischen Fähigkeiten als seiner Kolonialerfahrung. So war er bereits 1885 kaufmännischer Beirat des Reichskommissars für Ostafrika gewesen, hatte an Expeditionen unter Wissmann teilgenommen und 1889 Indien bereist. Für eine „wissenschaftliche“ Arbeit mit
gelegentlichen „handelspolitischen Berichten“ erbat er beim Kolonialamt 1890
einen Schutzbrief.196 Bereits seine frühen Berichte überführten die afrikanischen
Geschehnisse kritisch und recht aktuell in die deutsche Öffentlichkeit. So meldete das Berliner Tageblatt 1891: „Blutige Kämpfe im Kilimandjaro-Gebiet
(Kabeltelegramm unseres Ostafrikanischen Spezialberichterstatters. Sansibar,
5. März; 7 Uhr 45 Min. Abends.) Reichskommissar v. Wissmann hat den Stamm
der Kibosho wegen zahlreicher an Karawanen begangener Räubereien blutig
gezüchtigt.“197 Obgleich Wolf zumeist nicht vor Ort war und oft nur aus Sansibar schrieb, waren die Zeitungsleser damit wie in Großbritannien oft besser
über die Vorgänge in den Kolonien informiert als das Auswärtige Amt, wie
Caprivis Reichskanzlei feststellte.198
Allerdings zeigt sich schnell, dass die journalistischen Spielräume in den deutschen Kolonien deutlich enger waren als in den britischen. Das Kolonialamt
reagierte auf die kritische Berichterstattung sofort mit repressiven Maßnahmen,
die an Bismarcks Pressepolitik erinnerten. Alle Telegramme aus Afrika, die einen politischen Inhalt aufwiesen, sollte nach einer geheimen Anweisung vorher
der Gouverneur prüfen.199 Die Bewegungsfreiheit des Journalisten Eugen Wolf
wurde durch ein „Küstenverbot“ eingeschränkt, und nach eigener Aussage
erhielt er eine Freifahrt nach Deutschland geschenkt, um seine journalistische
Arbeit zu unterbinden.200 Ebenso wies der Justizminister an, dass Wolf „aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt“ nicht die Namen von verstorbenen Europäern berichten dürfe.201 Das Modell eines freien Journalismus
195
196
197
198
199
200
201
Berliner Tageblatt 23. 6. 1892. Vgl. Franz Giesebrecht, Ein deutscher Kolonialheld. Der
Fall „Peters“ in psychologischer Beleuchtung, Zürich 1897, S. 27. Das Berliner Tageblatt hatte
mit dem Major August Boshart offenbar schon 1888–90 einen Berichterstatter aus Ostafrika;
Boshart spätere Schriften zeigen ihn als einen extremen Rassisten, der für Ausrottung der
Afrikaner eintrat, da sie sich durch ihre Unproduktivität gegen die Zivilisation stellen würden;
vgl. seinen Beitrag in: Franz Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen in den
deutschen Kolonien, Berlin 1898, S. 39–47.
Wolf an Kayser 24. 10. 1890, in: BAB/L, R1001-4694-7.
Berliner Tageblatt 6. 3. 1891.
Caprivi/Reichskanzleramt an von Soden 6. 3. 1891, in: BAB/L, R1001-4694.
Vgl. an von Soden 27. 5. 1891 u. von Soden an Caprivi 21. 9. 1891, in: BAB/L, R1001-4694.
Wolf an Kayser 12. 2. 1892, in: BAB/L, R1001-4694-77; Berliner Tageblatt Nr. 860,
16. 12. 1891.
Justizamt an Caprivi 9. 11. 1891, in: BAB/L, R1001-4694-43.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
im englischen Sinne kollidierte folglich in den Kolonien noch stärker mit der
obrigkeitlichen Kontrolle als es im Reich üblich war. Eine weitere Strategie des
Auswärtigen Amts war die Verleumdung. Der Journalist wurde etwa durch lancierte Meldungen als unzuverlässig denunziert, da er mit englischer Hilfe reisen
würde.202
Begrenzen ließen sich die Berichte des Afrika-Korrespondenten dennoch
nicht. Auch wenn Wolf und das Berliner Tageblatt gelegentlich Meldungen über
Missstände erst dem Kolonialamt übergaben und nicht gleich veröffentlichten,
spornte die Zensur ihn eher an, zumal sie ihn im Reich berühmt und selbst zum
Thema machte.203 Seine Artikel gegen das „System Soden“, den Gouverneur
von Ostafrika, gewannen gerade durch die Repressionen an offener Schärfe. Er
schrieb über Aufstände, gefallene Soldaten und blutige Vergeltungsmaßnahmen:
„Es geht so weit, daß man den Eingeborenen ihre Lebensmittel wegnimmt, ohne
dafür zu bezahlen, daß Soldaten das gestohlene Vieh nach der Küste senden und
es da verkaufen, daß die Weiber der Eingeborenen sich flüchten müssen, um sich
nicht Vergewaltigungen ausgesetzt zu sehen.“204 Artikel über koloniale Gewalt,
Willkür und sexuellen Missbrauch waren damit bereits vor den ersten großen
Kolonialskandalen in der deutschen Öffentlichkeit präsent. Ein prinzipieller
Gegner des Kolonialismus war Eugen Wolf freilich nicht. Dem von ihm kritisierten „System Soden“ hielt er idealisierend den früheren Reichskommissar
Hermann von Wissmann entgegen, obgleich auch dieser Widerstand in den Kolonien hatte blutig niederschlagen lassen.205
Erst mit den Skandalen um Leist und Wehlan entstand 1894 jedoch eine ausführliche Berichterstattung über die deutsche koloniale Gewalt in der gesamten
Presse, die zugleich in der breiten Öffentlichkeit eine massive emotionale Empörung auslöste. Obgleich der Ablauf dieser Skandale bisher kaum erforscht ist,
wurde zumindest ihr Anlass bereits in der Literatur erwähnt: Dem stellvertretenden Gouverneur und Kanzler von Kamerun, Heinrich von Leist, wurde unter anderem vorgeworfen, dass er mehrere dahomeyische Frauen nackt vor den
Augen ihrer Männer auspeitschen ließ, weil sie die unbezahlte Arbeit verweigert
hatten, was wiederum zu einer blutigen Revolte geführt hatte.206 Seinem Stell202
203
204
205
206
Meldung AA 23. 8. 1892, in: BAB/L, R1001-4694-121.
Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 860, 16. 12. 1891; Berichte etwa in: Weser-Zeitung 3. 6. 1892.
„Neues aus Ostafrika“, Berliner Tageblatt 1. 9. 1892.
So hatte Wissmann den sogenannten Araberaufstand unter Hassan Buschiri blutig niedergeworfen, ebenso den der Wahehe unter Mkwawa; im kollektiven Gedächtnis blieb er jedoch
eine positive Gegenfigur zu Peters u. a.; vgl. Joachim Zeller, „Deutschlands größter Afrikaner“. Zur Geschichte der Denkmäler für Hermann von Wißmann, in: ZfG 44 (1996), S. 1089–
1111.
Vgl. zum Ereignisablauf bereits die knappen Hinweise in: Martin Schröder, Prügelstrafe
und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas, Münster 1997, S. 35–
38; Walter Nuhn, Kamerun unter dem Kaiseradler. Geschichte der Erwerbung und Erschließung des ehemaligen deutschen Schutzgebietes Kamerun. Ein Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte, Köln 2000, S. 140 f.; Gotthilf Walz, Die Entwicklung der Strafrechtspflege in
Kamerun unter deutscher Herrschaft 1884–1914, Freiburg 1981, S. 59–64. Keine Hinweise auf
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4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch
267
vertreter, dem Vizekanzler Alwin Karl Wehlan, wurde zudem die Verantwortung für mehrere grausame Gewaltexzesse seiner Truppen vorgehalten, vom
blutigen Auspeitschen über willkürliche Tötung bis hin zur bestialischen Leichenschändung.207 Nicht nur das Ausmaß der Gewalt übertraf den Skandal um
Stanleys Expeditionstruppe deutlich. Es handelte sich bei den beiden Juristen
auch um offizielle Vertreter des deutschen Staates, deren moralische Fallhöhe
damit noch größer war. Zudem gewann der Skandal um Leist eine emotionalisierende Dynamik, weil er zugleich den sexuellen Missbrauch von Afrikanerinnen verhandelte.
Aufgebracht wurden die Skandale wiederum durch das Berliner Tageblatt,
das sich damit als das Organ einer investigativen Kolonialkritik etablierte. Über
den Publizisten Franz Giesebrecht erhielt die Zeitung die Tagebuchaufzeichnungen des Kameruner Beamten Wilhelm Vallentin, aus denen es anonymisiert
und mit abschwächenden Auslassungen zitierte. Sie wiesen auf die Auspeitschung der Frauen wegen ihrer Arbeitsverweigerung hin, was einen Aufstand
ausgelöst habe, und nannten es gut denkbar, dass die Eingeborenen nun englischen Schutz suchen würden.208 In ihren täglichen kampagnenartigen Berichten forderte sie den Rücktritt von Kanzler Leist und seine Bestrafung. Ihr
Selbstbewusstsein als investigatives Blatt unterstrich das Berliner Tageblatt nach
den ersten Zugeständnissen der Regierung durch das Eigenlob, sie habe „die
schreienden Mißstände der Regierung des Kanzlers Leist in Kamerun schonungslos aufgedeckt“.209 Unverkennbar verfolgte die linksliberale Zeitung weitergehende politische Ziele. Nicht zufällig platzierte sie ihre Vorwürfe gut eine
Woche vor der Reichstagsdebatte über den Etat der Schutzgebiete, um so kolonialpolitisch Einfluss zu nehmen.
Dennoch blieb selbst das Berliner Tageblatt mit seinen Enthüllungen zunächst erstaunlich zurückhaltend. Die Redaktion sparte die drastischen Passagen des Tagebuchs offensichtlich aus, um nicht zu „sensationell“ zu wirken und
sich so selbst zu diskreditieren. Den ausführlichen Abdruck überließ es der
Neuen Deutschen Rundschau im April 1894. Erst diese Veröffentlichung beschrieb nicht nur blutige Prügelstrafen wegen Lappalien, sondern auch Leichenschändungen („Die Soldaten, nämlich einer, hätten es famos raus, den Feinden
die Haut über den Schädel zu ziehen.“).210 Ebenso berichtete sie über den mehr-
207
208
209
210
Leist und Wehlan gibt erstaunlicher Weise: Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in
Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, Zürich 1970.
Hinweise bereits in: Rudi Kaeselitz, Kolonialeroberung und Widerstandskampf in Südkamerun (1884–1907), in: Helmuth Stoecker, (Hrsg.), Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Bd. 2, Berlin (Ost) 1968, S. 11–54, S. 21.
Berliner Tageblatt Nr. 64, 5. 2. 1894. Der promovierte Jurist Vallentin war 1893 nach Kamerun gekommen; vgl. die biographischen Hinweise auf Vallentin, in: Giesebrecht (Hrsg.),
Die Behandlung der Eingeborenen, S. 141 f.
Berliner Tageblatt Nr. 67, 6. 2. 1894.
„Tagebuch eines in Kamerun lebenden Deutschen“ in: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894),
S. 332–353, zit. S. 340.
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268
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
fachen sexuellen Missbrauch von Frauen durch den Kameruner Kanzler, der sie
als Zwangsprostituierte eingesperrt hatte. So hieß es:
Am 5. VIII 93 abends hat sich der stellvertretende Gouverneur Kanzler Leist aus dem
Gefängnis drei Weiber holen lassen (Kassenverwalter Hering sagte es mir am selben
Abend) und dieselben über Nacht bei sich behalten [...] und sah, wie ein Weib unter
Sträuben und Schreien von drei Schwarzen in die Richtung des Kanzlerhauses hinweggeschleppt wurde.211
Diese Berichte sorgten in allen Zeitungen für Aufsehen und Wiederabdrucke
und gaben dem Skandal erst seine Dynamik. Auch wenn die katholische Presse
diese Vorwürfe zunächst aus sittlichen Bedenken nicht wörtlich publizierte, da
sie „sich auf dem Gebiet des 6. Gebotes bewegen“212, führten sie zu einer breiten emotionalen Empörung über das Verhalten der Kolonialverwaltung. Da das
Tagebuch von einem deutschen Beamten stammte, galt es als eine glaubwürdige
Quelle. Zudem legitimierte der wörtliche Abdruck, ähnlich wie bei Gerichtsaussagen, die Publikation von Tabus – wie dem erzwungenen Geschlechtsverkehr zwischen hohen deutschen Beamten und Afrikanerinnen. Bemerkenswerter Weise stand im weiteren Verlauf gerade dieser sexuelle Missbrauch im
Vordergrund der öffentlichen Debatte.
Die gesamte Presse forderte unter Verweis auf die Zeitungsberichte von der
Regierung eine Erklärung. Verschiedene Reichstagsabgeordnete griffen dies auf
und trieben so den Skandal maßgeblich voran. Der Freisinnige Eugen Richter forderte Gefängnisstrafen, und der Zentrumspolitiker Prinz Arenberg beklagte später, dass selbst die Misshandlung eines Pferdes gewöhnlich höher bestraft werde.213 Der Sozialdemokrat August Bebel trug weitere Vorwürfe vor und brachte
in den Reichstag, wie einen Tag zuvor angekündigt, eine Nilpferdpeitsche mit, um
anschaulich zu verdeutlichen, womit die nackten Frauen und andere Afrikaner
blutig gezüchtigt worden seien.214 Bebel passte sich damit der Logik der Medien
und des Skandals an, indem er zur emotionalen Visualisierung beitrug und den
Journalisten auf der Tribüne ein Beispielobjekt vorführte. Die Peitsche erwies sich
dabei als ein Kernsymbol, in dem sich die barbarische Willkür verdichtete. Auch
im folgenden Verlauf forcierten vor allem Reichstagsabgeordnete den Skandal. Sie
fragten nach dem Ermittlungsstand und nannten namentlich verschiedene Zeugen, die man zu den Folterungen und Hinrichtungen befragen könne.215
211
212
213
214
215
Ähnlich ein weiterer abgedruckter Eintrag: „Kanzler Leist [hat] gestern Abend Weiber aus
dem Gefängnis zum Tanze holen lassen, aber dann nach beendigten Tanz nicht wieder alle
zurückgeschickt.“ Neue Deutsche Rundschau April 1894, zit. S. 343 u. 347.
So: Der Westfale Nr. 14, 14. 4. 1894; ähnlich: Kölnische Volkszeitung Nr. 219, 13. 4. 1894.
Vgl. Richter 13. 4. 1894, IX. Legislatur Periode, II. Sess., 1893/94, 81. Sitzung, Bd. 135, S. 2078.
Arenberg RT 13. 3. 1896, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1421.
RT 16. 2. 1894, IX Leg. Per., II. Sess., 1893/94, Bd. 135, 51. Sitzung, S. 1294. Angeblich war das
Mitbringen der Nilpferdpeitsche, die Arbeiter aus Kamerun übermittelt hatten, eine Reaktion
auf Caprivis Ausspruch, er wisse nichts von Nilpferdpeitschen. Vgl. auch: Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, S. 285.
Vgl. bes. Vollmar RT 28. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 71. Sitzung, S. 1751 f.; zu der
Debatte auch: Schröder, Prügelstrafe, S. 45–47.
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4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch
269
Das Kolonialamt nahm die öffentlichen Vorwürfe zunächst sehr ernst und reagierte mit erstaunlicher Konzilianz. Bereits seine offiziöse Antwort über die
„Kreuzzeitung“ gestand die Auspeitschung der Frauen ein, da Leist dies in einem
Selbstbericht beschrieben habe, und es veröffentlichte diesen amtlichen Bericht.216
Schon nach den ersten Gerüchten über den Aufstand schickte es zudem den Regierungsrat Friedrich Wilhelm Rose zur Untersuchung der Fälle nach Afrika.217
Dass auch dieser Bericht Leist „auf das Schwerste belaste“, konzedierte Außenstaatssekretär Marschall von Bieberstein bereits im April 1894 im Reichstag.218
Leist und Wehlan wurden zumindest suspendiert und vor deutsche Disziplinargerichte gestellt. Zudem ermittelte das Auswärtige Amt aber auch sofort gegen den
Beamten Vallentin, dessen Aufzeichnungen den Skandal ausgelöst hatten. Obgleich sich seine Vorwürfe als stichhaltig erwiesen, leitete es seine Entlassung ein,
da er, so Marschall später, seine Vorwürfe „öffentlich in der Presse erhoben hat,
seiner vorgesetzten Dienstbehörde aber nichts davon gemeldet hat“.219 Die vergleichsweise transparente Aufklärung der Regierung ging folglich mit einer Abschreckung gegenüber Beamten einher, die Missstände veröffentlichen wollten.
Die Disziplinarverfahren intensivierten die öffentliche Debatte darüber, in
welchem Maße Gewalt gegen Schwarzafrikaner und der sexuelle Verkehr mit
Afrikanerinnen legitim sei. Sowohl vor Gericht als auch in Presseartikeln verteidigte Leist sein Verhalten als allgemein in Afrika üblich und notwendig. Selbst
nach dem Prozess beharrte er darauf, die Prügelstrafe sei wegen der Faulheit
und Frechheit der Neger nötig, und wegen ihrer Primitivität würde ihre Nacktheit nicht das weibliche Schamgefühl verletzen.220 Ebenso verteidigte der Kameruner Kanzler den sexuellen Verkehr mit Afrikanerinnen. „Die Befriedigung
des Geschlechtstriebes“ unverheirateter Männer sei ja auch in Europa üblich,
nur dass in Afrika keine Prostituierten zur Verfügung stünden:
Die Prostitution wird dadurch ersetzt, daß die Farbigen ihre Weiber den Europäern vermiethen. Die Benutzung der Pfandweiber bot nun an und für sich, d. h. ohne die Veröffentlichung Vallentins, weit mehr Garantie für einen unauffälligen Geschlechtsverkehr als
die Benutzung erst aus den Towns herbeigeholter Personen. Ich wies die Pfandweiber,
deren Bestellung dem Diener am Bequemsten war, nicht zurück, da sie für denselben
Entgelt sich preiszugeben hätten, auch wenn sie nicht zufällig den Gläubigern ihrer Eigentümer verpfändet gewesen wären.221
Auch vor Gericht gab Leist den Verkehr mit den „Pfandweibern“ zu und rechtfertigte dies mit der sexuell stimulierenden Wirkung des Tropenklimas, den verschiedenen Landessitten und damit, dass alle Weißen so verfahren würden. „Was
216
217
218
219
220
221
Neue Preussische Zeitung 6. 2. 1894, morgens. Berliner Tageblatt Nr. 69, 7. 2. 1894
Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten,
Nr. 560, 4. 11. 1894.
RT 13. 4. 1894, IX. Legislatur Periode, II. Sess., 1893/94, 81. Sitzung, Bd. 135, S. 2078 f.
So seine Begründung im: Reichstag 28. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 71. Sitzung,
S. 1753.
Leist, Der Fall Leist, in: Die Zukunft Nr. 45, 8. 8. 1896.
Leist, ebd.
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270
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
ich gethan, haben vor mir alle anderen gethan – heute laufen noch schwarze
Weiber da herum, die den Namen ihrer ehemaligen Besitzer (Deutsche) tragen.“222 Damit knüpfte er an frühe Argumentationen von Kolonialisten an, die
ein derartiges Sexualleben als legitim und notwendig ansahen.223
Das Disziplinargericht schloss sich diesen Deutungen im hohen Maße an. Um
zu ermitteln, was in Afrika eine legitime sexuelle Moral und Prügelstrafe sei,
hatte der mit der Untersuchung beauftragte Regierungsrat Rose vor Ort zahlreiche Gespräche geführt. Dabei gewann er die Erkenntnis, dass das Schlagen
von nackten Frauen nicht landesüblich sei. Das Gericht bewertete jedoch afrikanische Frauen als „Sache“, da „sie der freien Verfügung des Mannes ähnlich wie
eine Sache unterliegt“ und etwa bei Schulden als Pfand verliehen oder gegen
Entgelt vermietet würden.224 Das Gericht akzeptierte zudem zugunsten von
Leist die „eigenartigen Kameruner Verhältnisse und andererseits das dortige
Klima, das eine größere Erregbarkeit hervorruft“.225 Die Aussagen von afrikanischen Frauen, sie seien mit Gewalt zu Leist gebracht worden, sah das Gericht
dagegen als unwahrscheinlich an, „da den dortigen Weibern Schamgefühl und
Geschlechtsehre unbekannte Begriffe seien und von einer Weigerung keine Rede
sei, sobald wie hier Bezahlung in Aussicht stehe.“226 Aussagen von Afrikanern
wurde generell, ähnlich wie in England, keine eigenständige Beweiskraft zugesprochen. Dementsprechend milde fiel das Urteil aus: Leist wurde lediglich versetzt, bei 80 Prozent seiner Bezüge.
Der Prozess machte somit den regen Sexualverkehr zwischen Deutschen und
Afrikanerinnen öffentlich. Wie die Leser aller Zeitungen erfuhren, sagten zahlreiche Zeugen aus, es sei durchaus üblich, dass Weiße diese gegen Entgelt
„fleischlich gebraucht hätten.“ Die Zahl der Pfandweiber sei bei den Kolonialisten so stark angewachsen, dass sie im Gefängnis oder „der sog. Pfandkammer“ untergebracht würden. Dass Leist etwa einem Marine-Offizier solche
Frauen zur Verfügung gestellt habe, hätte nur der üblichen Gastfreundschaft
entsprochen. Dabei würden die Frauen nachts nur eingeschlossen, um sie vor
der „Benutzung“ durch schwarze Polizisten zu schützen, die oft geschlechtskrank seien.227 Die afrikanischen Frauen wurden folglich einerseits als sexuell
frei verfügbare Ware imaginiert, andererseits als Gefahrenherd.228 Die afrika222
223
224
225
226
227
228
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 527, 9. 11. 1894.
Zu Leist Verteidigung vgl. die zahlreichen Presseberichte in: BAK, ZSg 113-629. Zum generellen Diskurs: Wildenthal, German Women, S. 81 f.
So etwa Freiherr von Soden oder von Schuckmann. Diese und folgende Zitate nach dem ‚Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist‘, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 560,
4. 11. 1894.
Begründung zit. nach: Berliner Tageblatt Nr. 176, 6. 4. 1895.
Disciplinar-Urteil nach: Kölnische Zeitung Nr. 893, 4. 11. 1894.
So seine Verteidigung vor Gericht laut: Kölnische Volkszeitung Nr. 619, 18. 10. 1894; ‚Disziplinarurteil gegen den Kanzler Leist‘, abgedr. in: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 560,
4. 11. 1894.
Die Ambivalenz, die der Wahrnehmung von Prostituierten ähnelte, wurde bereits verschiedentlich herausgestellt; vgl. Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 87.
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4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch
271
nischen Kolonien selbst erschienen somit wie ein einziges, nahezu kostenfreies
Bordell.
Die Öffentlichkeit wies diese Deutungen des Gerichts und der Kolonialisten
jedoch klar zurück. Alle politischen Lager empörten sich über das Urteil, dessen
Begründung und die Enthüllungen selbst. Jede Parteirichtung führte Fälle an,
bei denen Beamte bereits wegen politischer Äußerungen viel härter bestraft
worden seien. Konservative und katholische Blätter gingen zwar davon aus, dass
Prügelstrafen bei den „Negern“ noch nötig seien, waren aber bestürzt, dass
Deutsche sich den „landesüblichen Sitten“ anpassen würden und „barbarisch“
handelten.229 Auch der Reichskanzler und der Kolonialdirektor sprachen sich
sofort gegen die Haltung von „Pfandweibern“ aus, und das Auswärtige Amt
weigerte sich, Leist weiter zu beschäftigen.230 Ebenso legte der untersuchende
Rat Rose Berufung ein. Damit zeigte sich, dass die konservative Justiz im Skandal keine Normen zu setzen vermochte.
Vor allem die kolonialkritischen Parteien verallgemeinerten den Fall mit
scharfem Spott. Die sozialdemokratischen Blätter schrieben über die „Frauenpeitscher und Haremshalter“ und die „nächtlichen Orgien im Kameruner Kanzlerpalais“.231 Frühzeitig leiteten sie anhand des Skandals eine Umdeutung der
kulturellen Zuschreibungen ein und bezeichneten deutsche Kolonialisten wie
Leist als die eigentlichen „Wilden“.232 Die liberale Frankfurter Zeitung karikierte: „Wenn fürderhin die Nilpferdpeitschen lustig auf den Rücken von nackten
Negerweibern klatschen, so wundere sich darüber der gute Unterthan in Europa
weiter nicht“, denn dies sei Teil unserer „Kulturmission“.233 Auch die englische
Presse berichtete mit Überschriften wie „The Flogging Scandal“ regelmäßig detailliert über die deutschen Folterungen. Auffälliger Weise blieb die Times bei
der Darstellung des sexuellen Missbrauchs sehr zurückhaltend, da die schwarzweiße Sexualität in England noch kaum publizierbar war. Gerade im Kontext
der deutsch-englischen kolonialpolitischen Verstimmungen 1894 waren jedoch
selbst solche Artikel bereits ein moralischer Triumph über den kolonialen Nachzögling Deutschland.234 Die breite, parteiübergreifende und internationale
Empörung trug wesentlich dazu bei, die kolonialen Normen und die Gerichtsurteile zu revidieren. Im Revisionsprozess betonte der Ermittler Rose nun
plötzlich, dass auch afrikanische Frauen ein Schamgefühl kennen würden. Das
Auspeitschen galt jetzt als Überschreitung der Amtsgewalt. Leist wurde von
229
230
231
232
233
234
Kölnische Volkszeitung Nr. 619, 18. 10. 1894; Deutsche Reichszeitung Nr. 479,
18. 10. 1894; Reichsbote Nr. 245, 19. 10. 1894.
Reichskanzler i.A. Kayser an Zimmerer 8. 11. 1894, in: BAB/L, R 1001/5003.
Würzburger Journal Nr. 279, 19. 10. 1894.
Vorwärts 9. 2. 1894, S. 2.
Frankfurter Zeitung Nr. 288, 17. 10. 1894.
Vgl. etwa Times 6. 2. 1894, S. 5; 9. 2. 1894, S. 5; 17. 10. 1894, S. 5; 19. 10. 1894, S. 3; 24. 10. 1894,
S. 5. Zu den deutsch-englischen Spannungen in der Kolonialpolitik 1894: Fröhlich, Konfrontation, S. 149 f.
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272
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
seinem Posten enthoben, bei eingeschränkter Pension aus dem Staatsdienst entlassen und wanderte in die USA aus.
Während der Leist-Skandal vor allem die Zulässigkeit des (erzwungenen)
Verkehrs mit Afrikanerinnen verhandelte, thematisierte der gleichzeitige Skandal um Vizekanzler Wehlan stärker die Zulässigkeit kolonialer Gewalt. Die Gewalttaten, die er zu verantworten hatte, waren zweifelsohne von einer bisher
undenkbaren Brutalität, und dennoch berichtete die Medienöffentlichkeit besonders im Zuge seines Disziplinarverfahrens ausführlich darüber. Die Leser
erfuhren etwa, dass Köpfe als Trophäen abgeschnitten wurden, Leist Gefangene
töten ließ, weil sie ohnehin sterben würden, und er blutende Gefangene an
Masten binden ließ, bis Würmer in die Wunden traten.235 Wie Leist entschuldigte Wehlan sich damit, dass das Töten von Afrikanern etwas Gewöhnliches sei.
So berichtete er: „Ich weiß, daß ein preußischer Offizier, der fieberkrank war,
sich in einer Hängematte herumtragen ließ und mit einem Revolver mit scharfen
Patronen schoß. Kein Hahn krähte danach [...].“236 Auch in diesem Skandal entlastete der Disziplinargerichtshof den Beschuldigten, da die Tötung der Gefangenen wegen des Kriegszustandes legitim sei und die Sicherheit der Truppe gewährleistet habe. Zudem wurde das angeblich junge Alter des Juristen (von 34
Jahren) als strafmildernd bewertet, weshalb Wehlan mit einer Versetzung ohne
Gehaltseinbußen davon kam.
Jedoch setzte auch bei diesem Skandal der öffentliche Protest der Interpretation des Gerichts und den Kolonialisten Grenzen. Linke und bürgerliche Zeitungen lehnten abermals empört die Rechtfertigung ab, dies sei in Afrika so üblich. Vielmehr klagten sie auch für Afrikaner gewisse Humanitätsforderungen
ein.237 Auch in Missionarskreisen fand die Affäre eine entsprechende Kritik.238
Trotzdem veränderte selbst der Revisionsprozess das Urteil nicht, und eine
strafgerichtliche Verurteilung blieb aus.
Dennoch waren die Folgen dieser frühen deutschen Kolonialskandale beträchtlich. In der Öffentlichkeit diskreditierten sie im hohen Maße das Ansehen
der Kolonialbeamten und den deutschen Kolonialismus insgesamt. Sie wurden
nun mit blutiger Gewalt und sexuellem Missbrauch assoziiert. In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel Stammtischgespräche wie: „Deutschland als einer der kultiviertesten Staaten der Welt hat in den letzten Jahren leider
durch die schlechte Behandlung der Eingeborenen in Afrika gezeigt, wie mangelhaft es mit der Kultur bestellt ist.“ Ein anderer Gast nannte es „unglaublich,
235
236
237
238
So die Einträge des Tagebuches von Vallentini, das im Prozess verlesen wurde; vgl. Beilage
Vorwärts Nr. 6, 8. 1. 1896.
Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 527, 9. 11. 1894
„Wir protestieren dagegen, daß die einfachsten Forderungen der Humanität und des Völkerrechtes für die Schwarzen nicht gelten sollen.“ Frankfurter Zeitung Nr. 8, 8. 1. 1896;
Reichsbote Nr. 5, 7. 1. 1896; Beilage Vorwärts Nr. 6, 8. 1. 1896.
Vgl. die Position des Theologieprofessors und Redaktionsleiters der Allgemeinen Missionszeitschrift, Gustav Warneck, in: Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen,
S. 152–158.
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4. Gewaltexzesse und sexueller Missbrauch
273
wenn man hört, wie die höheren Beamten dort über Leben und Tod der Menschen urteilen.“239 In anderen Kneipen klagte man über die zu geringen Strafen
für Leist und Wehlan.240 Auch die Kolonialskandale trugen damit zur politischen
Urteilsbildung bei. Wie beim Skandal um Stanleys Rear Column dominierte vor
allem die Erschütterung darüber, dass unbescholtene Beamte sadistische Taten
begehen konnten und quasi selbst zu „Wilden“ wurden.241 Die Skandale standen
damit ebenfalls für eine Verunsicherung über die Zivilisiertheit der Europäer.
Die Skandale führten zudem zu Reformen, die über die Entlassung und Versetzung von Beamten weit hinausreichten. So leiteten sie eine rechtliche Neuordnung in den Kolonien ein, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass keine
klaren rechtlichen Regeln bestanden, sondern eher individuelle Willkür dominierte. Die Skandale führten zunächst zu einer Wissensbildung über das afrikanische Recht, auf das sich die Deutschen bei ihren Willkürakten berufen hatten.
So fanden unmittelbar nach den Skandalen zahlreiche Umfragen unter den Eingeborenen über deren rechtlichen Verhältnisse und Sitten statt.242 Parallel dazu
setzten juristischen Ermittlungen ein, die ebenfalls Fragebögen entwickelten,
die unter dem Eindruck des Skandals standen; sie fragten etwa: „Ist die Vielweiberei allgemein verbreitet? [...] Kommt es vor, daß eine Frau mehrere Männer
hat? Wieviel? [...] Kommt der Frauenraub in Wirklichkeit vor oder nur als Form
des Abschlusses der Ehe?“243 Bereits 1894/95 wurden daraufhin in verschiedenen Regionen Eingeborenen-Schiedsgerichte und eine Soldatengerichtsbarkeit eingeführt, um Konflikte vor Ort besser zu lösen.244
Vor allem kam es Anfang 1896 zur Reform der „Gerichtsbarkeit über Eingeborene in den afrikanischen Schutzgebieten“. Unter dem Eindruck der Skandale
forderte die Budgetkommission des Reichstages den Reichskanzler in einer Resolution auf, eine Gesetzvorlage gegen einen derartigen „Missbrauch der Amtsgewalt“ zu machen.245 Nach den darauf folgenden Verordnungen waren Geständnisse nur noch nach deutscher Prozessordnung zu ermitteln. „Ingleichen
ist die Verhängung von außerordentlichen Strafen, insbesondere von Verdachtsstrafen, verboten.“ Auch die Prügelstrafen wurden nach den Skandalen reformiert, wobei England als Vorbild diente. Nur schwarzafrikanische Männer ab
16 Jahren (nicht Inder oder Araber) sollten sie noch erhalten, mit maximal 25
Schlägen pro Züchtigung.246 Um der Prügelstrafe ihre Willkür zu nehmen, wur239
240
241
242
243
244
245
246
Vigilanzbericht Schutzmann Graumann 19. 3. 1896, in: StAH, S 3930-23 Bd. 3.
Vigilanzbericht Schutzmann Erxleben 17. 3. 1896, in: StAH, S 3930-21 Bd. 3.
Einzelne Hinweise hierzu auch in: Walz, Entwicklung, S. 69.
Vgl. die Berichte an die Kolonialabteilung, in: BAB/L, R 1001/5000.
Vgl. Bericht Stradoniutz/Gesellschaft für vergleichende Rechts- und Staatswissenschaft an
Kolonialabteilung 14. 8. 1895, in: BAB/L, R 1001/5000; ähnlich der „Fragebogen der internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“, sowie der Fragebogen von Prof. Dr. Kohler, 1896, in: ebd.
In: BAB/L, R 1001/5003.
RT 13. 3. 1896, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1422.
Vgl. Reichs-Anzeiger Nr. 53, 29. 2. 1896, in: BAK, R 1001-5626. Zur Reform im April 1896
auch: Walz, Entwicklung, S. 77.
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274
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
de sie bürokratisiert. So wurden die genaue Beschaffenheit des Schlaginstrumentes, die ärztliche Aufsicht und Regenerationsphasen festgelegt. Nachdem
die Presse mehrfach gefordert hatte, dass Vergehen wie die von Leist und Wehlan auch durch das Strafrecht ahndbar sein müssten, erfolgten seit Anfang 1896
mehrere entsprechende Verordnungen. Ebenso erließ der Kanzler 1895 eine Anordnung über das moralische Verhalten von Beamten, die ein Einschreiten im
Falle des Amtsmissbrauches forderte.247 Die Skandale trugen somit eindeutig
dazu bei, Normen und Gesetze zu verändern.
Die Skandale stärkten ebenso das Selbstverständnis der deutschen Presse als
„vierter Gewalt“. Vor allem das Berliner Tageblatt beanspruchte dies für sich, da
es die Skandale angestoßen hatte. Das Blatt betonte, die Fälle hätten gezeigt, wie
nötig die Veröffentlichung von Missständen und eine „Censorrolle der Presse“
seien. Weiter hieß es selbstbewusst:
Das Treiben des ersten Beamten einer der größten Kolonien des deutschen Reiches, die
Unmoral der öffentlichen Auspeitschung nackter Weiber und der geheimen Orgien mit
den Pfandweibern, würde sicherlich auch heute noch ein Geheimnis, allenfalls ein öffentliches, vielleicht auch ein amtliches (!) sein, wenn nicht das ‚Berliner Tageblatt‘ durch die
Veröffentlichung der nun historisch gewordenen ‚Tagebuch-Blätter eines deutschen Kolonisten über die Meuterei in Kamerun‘ im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit den
Schleier von den skandalösen Vorgängen in jener Kolonie fortgezogen hätte.248
Die Veröffentlichung des Geheimen erschien somit als Pflicht der Presse. Auch
die Neue Deutsche Rundschau, die durch die Veröffentlichung des Tagebuches
an Bedeutung gewonnen hatte, verstärkte durch zahlreiche weitere investigative Berichte über Missstände in den Kolonien ihren Einfluss. Dabei stützte
sie sich auf Augenzeugenberichte und Akten, um durch die Aufdeckung
von skandalösen Zuständen eine humane Behandlung der Afrikaner zu erreichen.249
Vor allem eröffneten die Skandale den Kolonialismuskritikern breiteren Raum
für ihre Positionen. Dabei deutete sich zaghaft eine Verschiebung an. Zumindest
einzelne Staatsdiener mit Kolonialerfahrung forderten nun öffentlich für Afrikaner ähnliche Menschenrechte wie für Europäer. So bewertete der Premierleutnant Graf von Schweinitz nach seinen Erfahrungen in Ostafrika die Prügelstrafen als kontraproduktiv: „Der Neger ist Prügelstrafe nicht gewöhnt.“250
Auffällig humanitär argumentierten verschiedene Schriften von anderen höheren Militärs, die eine gewisse Zeit in Afrika verbrachten. So schrieb der bayrische Leutnant Rudolf Hofmeister, der vier Monate in Afrika war, unter Ein247
248
249
250
Walz, Entwicklung, S. 65.
Berliner Tageblatt Nr. 182, 9. 4. 1895.
Vgl. etwa: Carl R. Henneke, Zum Sklavenhandel, in: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894),
S. 1135–1143; Franz Giesebrecht, Koloniale Spekulationen, in: Neue Deutsche Rundschau 6 (1895), S. 1084–1100; ders., „Kolonialgreuel“, in: ebd., S. 143–157.
Hans Hermann Graf von Schweinitz, Deutsch-Ost-Afrika in Krieg und Frieden, Berlin
1894, S. 37. Vgl. auch die Schrift von Hauptmann Richelmann, Die Nutzbarmachung
Deutsch-Ostafrikas, Magdeburg 1894.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
275
druck der Skandale: „Die Charaktereigenschaften sind bei den Negern ebensogut ausgebildet, wie bei uns.“ Die „Weißen“ würden jedoch dazu beitragen,
schlechte Charaktereigenschaften wie das Lügen zu verbreiten.251
Neben philanthropischen Argumenten führte diese Schrift ein weiteres Argument für Reformen an, das auch das bürgerliche Lager bewegte: Das schwindende Ansehen des deutschen Kolonialismus im Ausland. „Warum kommen die
Engländer, unsere afrikanischen Nachbarn, ohne die vielen Peitschenhiebe aus
und warum wollen die Schwarzen lieber auf englischen Gebiete arbeiten als auf
deutschen?“, fragte er.252 Auch der 1890–92 in Togo stationierte Hauptmann
Herold glaubte, England sei im Unterschied zu Deutschland eine erfolgreiche
Kolonialmacht, weil es „stets nur vorzügliche, besonders ausgewählte Beamte in
die Kolonien sendet.“253 Gerade diese Angst vor einem Ansehensverlust im
Ausland dürfte ein weiteres Motiv für die Reformen gewesen sein, die die
Medien durch die Skandale anstießen.
5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
Die ersten großen Kolonialskandale förderten sofort weitere Enthüllungen über
die koloniale Gewalt und sexuellen Missbrauch. Nachdem die Öffentlichkeit
für diese Normbrüche sensibilisiert war, schien eine große Aufmerksamkeit garantiert. Afrikareisende publizierten über ähnliche Vergehen, und Journalisten
und Reichstagsabgeordnete griffen sie in kolonialkritischer Hinsicht auf – insbesondere wenn gerade die Kolonialetats diskutiert wurden. Der Blick erweiterte sich dabei über Kamerun hinaus auf andere Kolonien. So konnte August
Bebel im März 1895 Berichte vorbringen, ein Gouverneur habe sieben Männer
wegen Nichtigkeiten aufhängen lassen.254 Und sein Parteifreund Georg von
Vollmar wies auf einen Bahnangestellten hin, der „nachts gewaltsam in die Häuser des Negerdorfes drang, ‚um sich Weiber zu holen‘“, und einen Plantagenangestellten, der afrikanische Mädchen kaufte und deren afrikanische Liebhaber
schlug. Zudem deutete der Sozialdemokrat Vollmar bereits im März 1895 im
Reichstag Vergehen des berühmten Kolonialisten Carl Peters an, ohne ihn namentlich zu benennen. Dieser habe, so Vollmar, seine afrikanische Geliebte und
deren Liebhaber aus Eifersucht hängen lassen.255 Vor allem die just veröffentlichte Broschüre des bayrischen Leutnants Hofmeister dürfte ihm dabei als
Quelle gedient haben.256 Der Kolonialdirektor des Auswärtigen Amtes, Paul
Kayser, wies die Vorwürfe über die Eifersuchtsmorde jedoch als bekannt, aber
251
252
253
254
255
256
Rudolf Hofmeister, Kulturbilder aus Deutsch-Ostafrika, Bamberg 1895, S. 5.
Ebd. (H.i.O.).
Anton Bruno Herold, Die Behandlung der afrikanischen Neger, Köln 1894, S. 8.
RT 19. 03. 1895, IX. Leg. Per., III. Sess., 64. Sitzung, S. 1582. Gemeint waren „7 arme Teufel“ in
Deutsch-Ostafrika, für deren Hinrichtung Gouverneur von Schele verantwortlich sei.
RT 18. 3. 1895, IX. Leg. Per., III. Sess., 63. Sitzung, S. 1571.
Hofmeister, Kulturbilder, S. 20.
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276
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
unglaubwürdig zurück, da sie nur von Engländern stammten. Das Mädchen sei
eine Spionin gewesen und deshalb hingerichtet worden.257 Öffentlich wurde die
Skandalisierung zwar als Ausdruck der englischen Rivalität abgetan, intern
nahm die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes die sozialdemokratischen
Vorwürfe jedoch ernster. So erstellte sie Dossiers zu den einzelnen Beschuldigungen, prüfte die genannten Quellen und holte Berichte ein.258 Die sozialdemokratische Reichstagskritik prägte damit erneut das Regierungshandeln, das
stark unter Rechtfertigungszwang geriet.
Unter den zahlreichen Enthüllungen entwickelten sich die über Carl Peters
zu dem herausragenden Skandal. Dieser trug maßgeblich dazu bei, die durch die
Skandale um Leist und Wehlan aufgebrachte Kolonialkritik zu erweitern und zu
verfestigen. Dass ausgerechnet die Enthüllungen über Peters zum wichtigsten
Kolonialskandal der 1890er Jahre führten, lag zunächst an Peters Prominenz.
Der Pastorensohn, der in Geschichte promoviert hatte und bei seinem englischen Onkel in London die Kolonialbegeisterung erlernte, gehörte zu den
„Kolonialhelden“ der ersten Stunde. Seinen Ruhm begründete er damit, dass
er frühzeitig koloniale Gebiete mit „Schutzverträgen“ sicherte, in der Öffentlichkeit für deutsche Kolonien warb und seit 1891 als Reichskommissar in
Deutsch-Ostafrika diente.259 Bekannt wurde Peters vor allem durch spektakuläre Expeditionen, die er ähnlich wie Stanley mit regelmäßigen Berichten und
Buchveröffentlichungen vermarktete. Das galt vor allem für seine Emin-PashaExpedition.260 Sowohl in den deutschen als auch in den englischen Medien
fanden sich zeitweise tägliche Berichte über ihn, die mitunter spekulierten, ob
Peters noch am Leben sei.261 Trotz seines ausgeprägten Rassismus und übersteigerten Nationalismus war Peters damit, ähnlich wie Stanley, bereits vor dem
Skandal eine Art „Medienstar“.
Dass Peters in Afrika rücksichtslos vorging, wurde ebenfalls frühzeitig öffentlich thematisiert, zumal er selbst damit in seinen Schriften prahlte. So rezensierte die zentrumsnahe Kölnische Volkszeitung 1891 sein Buch Die Deutsche
Emin-Pasha Expedition mit den Worten: „er ist ein Draufgänger, der rasch den
Finger am Drücker hat und was nicht rasch biegen will, das bricht er. Er fordert,
257
258
259
260
261
RT 18. 3. 1895, IX. Legislatur Periode, III. Sess., 64. Sitzung, Bd. 139, S. 1573; vgl. hierzu auch:
von Buol-Berenberg: RT 18. 3. 1895, ebd., S. 1593.
Vgl. die Dossiers in: BAB/L, R 1001: 7249: 141 ff.; z. B. 3. 12. 1895 und 7. 5. 1896 in: BAB/L, R
1001: 7249: 165 f. und 177; Anfragen wie: Kolonialamt an Puttkamer 30. 11. 1895, in: BAB/L, R
1001: 7249: 28.
1891 war diese Anstellung kommissarisch, ab 1894 fest; vgl. seinen eigenen Lebenslauf in:
BAK, ZSg 113-621. Zu seinem Werdegang: Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856–1918. A Political Biography, Oxford 2004. Völlig unzureichend dagegen: Uwe Wieben, Carl Peters. Das Leben eines deutschen Kolonialisten, Rostock 2000.
Carl Peters, Die deutsche Emin-Pasha-Expedition, München und Leipzig 1891.
Vgl. etwa, als Stichprobe zum Jahreswechsel 1890: Frankfurter Zeitung Nr. 1, 1. 1. 1890;
Kölnische Zeitung Nr. 361, 30. 12. 1889; Berliner Tageblatt Nr. 661, 31. 12. 1889; Times
3. 1. 1890, S. 3; 4. 1. 1890, S. 5; Daily News 4. 1. 1890, S. 4; Daily Telegraph 1. 1. 1890, S. 5;
Frankfurter Zeitung Nr. 228, 16. 8. 1889. Presseausschnitte für 1889, in: BAK, ZSg 113-624.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
277
und wenn man verweigert, so wird genommen und unter Umständen geschossen.“262 Tatsächlich berichtete Peters, wie er Afrikaner in Ketten legte und auspeitschte.263 Ebenso hörte die Kolonialabteilung schon seit 1892 von dem
Vorwurf, Peters habe einen Mann und eine Frau aus Eifersucht getötet. Englische Missionare hatten dies übermittelt und Gouverneur Soden prüfte dies.
Peters rechtfertigte jedoch die nicht gemeldeten Todesurteile, er habe sie wegen
Diebstahl und Hochverrat ausgesprochen.264 Dieser Vorwurf wurde sogar
Reichskanzler Caprivi und Außenstaatssekretär Marschall vorgetragen.265 Nach
den sozialdemokratischen Andeutungen im Reichstag 1895 verhörte das Auswärtige Amt erneut Zeugen und bat Peters um eine Stellungnahme über die
Vorkommnisse, wobei Peters am 9. April 1895 über die gehängte Afrikanerin
sagte: „Sie hat sich als eine Art von Freudenmädchen auf der Station aufgehalten, und ich gebe zu, daß ich sie auch in der allerersten Zeit ihrer Anwesenheit
ein- oder zweimal benutzt habe.“266 Damit verhärtete sich zwar der Verdacht
auf einen Eifersuchtsmord, nachweisbar erschien dies aber nicht. Auch aus
Angst, es könne ein weiterer Skandal entstehen, sah die Kolonial-Abteilung von
einer Entlassung ab und bot Peters stattdessen eine hoch dotierte Stelle als Landeshauptmann in Ostafrika an.267 Die vorherigen Skandale um Leist und Wehlan hatten folglich zwar den Willen zur Aufklärung von kolonialer Gewalt gestärkt, ihr aber aus der Angst vor der Öffentlichkeit zugleich gewisse Grenzen
gesetzt.
Der drohende Skandal wurde auch dadurch forciert, dass Peters offensichtlich nicht mehr unbedingt zurück nach Schwarzafrika wollte. So verlangte er
vergeblich einen Posten als Beamter im Auswärtigen Amt oder ein attraktives
Generalkonsulat, und kandidierte ebenso erfolglos für den Reichstag. Einen
Posten als Landeshauptmann lehnte er schließlich ab und ging mit 39 Jahren mit
Pension in den einstweiligen Ruhestand.268 Peters nutzte in Berlin seine freie
Zeit für die Kolonial- und Flottenagitation und bemühte sich, den dortigen Vorsitzenden der Kolonialgesellschaft, den Zentrumsmann Prinz Arenberg, zu
stürzen. Ebenso brachte er sich, wenn auch chancenlos, als Nachfolger des
Leiters der Kolonialabteilung ins Gespräch, da Kaysers Position durch die
Skandale angeschlagen war.269 Gerade diese aktionistische Präsenz förderte Ent262
263
264
265
266
267
268
269
Kölnische Volkszeitung 11. 2. 1891.
Vgl. etwa: Peters, Emin-Pasha, S. 54 f., 59 u. 89.
Bischof Smythies übermittelte dies; vgl. hierzu bereits: Reuss, The Disgrace, S. 121 f.
So zumindest nach der späteren Rechtfertigung Kaysers im RT 13. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1441.
Kolonial-Abteilung an Peters 6. 4. 1895, in: BAB/L, N 2223/42: 16; Aussage Peters 9./10. 4. 1895,
in: BAK, NL 1067-21. Antwort auch verlesen in: RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV.
Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Band 144, S. 1452.
Bei 25 000 Mark Gehalt; Kolonial-Abteilung an Peters 31. 5. 1895, in: BAB/L, N 2223/42: 21.
AA an Peters 18. 11. 1895 abgedr. „Dr. Carl Peters, Mißbrauch der Amtsgewalt, Berlin 1899“,
S. 19 in: BAK, ZSg 113-621.
So sah es Kayser selbst; ders. an Eulenburg 18. 3. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1654.
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278
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
hüllungen durch seine zahlreichen Gegner. Da entsprechende Gerüchte über
ihn in Berlin längst kursierten, war absehbar, dass sich die Reichstagsdebatte
über den Kolonialetat am 13. März 1896 auch um Peters drehen würde.270
Die Reichstagssitzung, bei der der Peters-Skandal seinen Ausgang nahm,
zeigte die enge Verbindung zu den vorherigen Skandalen um Leist und Wehlan.
Schon die ersten Reden griffen sie erneut auf, wobei sich eine gewisse Normverschiebung andeutete. Die Kolonialkritik reichte nun weiter ins bürgerliche
Lager. Der Zentrumsabgeordnete Prinz Arenberg, immerhin vormals Präsident
der Berliner Abteilung der Kolonialgesellschaft, sprach etwa von Wehlan als
einem „ungewöhnlich brutalen, jeder Menschlichkeit baren und geradezu von
einer krankhaften Grausamkeit beseelten Menschen“, und forderte, dass „Neger“ zumindest die Rechte von Tieren bekommen müssten, deren blutiges Auspeitschen bestraft würde.271 Der konservative Pastor Schall forderte sogar, die
„Neger“ nach den gleichen Gesetzen zu behandeln wie die eigenen Landsleute
in der Heimat. Unter Anspielung auf die Vergehen von Carl Peters fragte er, wie
„noch einmal wieder sich ein Fall ereignen konnte, der nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten civilisierten Welt tiefste Entrüstung hervorrufen
musste“.272
Enthüllt wurden die Vergehen von Peters gleich im Anschluss von August
Bebel. Seine Rede ließ verschiedene rhetorische Strategien erkennen, die ihre
Wirkung mit erklären dürften. Zunächst knüpfte Bebel seine Enthüllungen eng
an die bekannten Untaten von Leist und Wehlan an, um Peters Handeln wahrscheinlicher erscheinen zu lassen. Das Vergehen von Peters nannte er nicht einfach, sondern rahmte es in eine detailreich ausgeschmückte Geschichte ein, die
bildhaft Phantasien freisetzte und zugleich verallgemeinerte. Vor allem legte sie
explizit seinen sexuellen Normbruch dar, der besondere Empörung versprach.
Peters habe sich am Kilimandscharo als erstes,
wie das bei den Zivilisatoren drüben in Afrika mit Ausnahme der Missionare, wie ich
wieder hervorhebe, fast ausnahmslos die Regel ist, eine Eingeborene als Beischläferin
erworben. Diese Beischläferin war ein sehr schönes Dschaggamädchen, namens Gidschagga, die Schwester des Häuptlings Manamia in Maba. Gidschagga mochte von den
erzwungenen Zärtlichkeiten des Dr. Peters nicht sehr befriedigt sein und sie knüpfte ein
intimes Verhältnis an mit einem seiner Diener mit Namen Mabrucki. Das erfuhr Dr. Peters. Jetzt gab er sofort den Befehl, das junge Mädchen und den jungen Mann an den
Galgen zu hängen (Bewegung), weil das junge Mädchen ihm gegenüber einen Vertrauensbruch begangen habe.273
Mit den zahlreichen Details und Namensnennungen versuchte Bebel, die Zuverlässigkeit seiner Kenntnisse über Gerüchte hinaus zu zeigen. Als Belege
nannte Bebel vor allem Quellen aus kirchlichen Kreisen, um auch katholische
270
271
272
273
So die Presse rückblickend: Hamburger Nachrichten Nr. 64, 15. 3. 1896.
RT 13. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1421.
Ebd., S. 1422.
Ebd., S. 1432 f. Zum Skandal vgl. bisher, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf die Ereignisrekonstruktion: Reuss, The Disgrace, S. 214–230.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
279
und konservative Abgeordnete zu überzeugen. Neben namentlich genannten
Zeugen von Mission und Station und Auszügen aus Peters eigenen Schriften war
sein Hauptbeleg ein angeblicher Brief von Peters an den englischen Bischof Tucker, in dem Peters sich rechtfertigte, dass er „nach afrikanischem Gebrauch verheiratet gewesen sei, und daß ihm nach afrikanischen Recht zustand, die Ehebrecherin mit dem Tode zu bestrafen“.274 Damit ähnelte Bebels Rede einem Staatsanwalt, der detailliert eine Tat rekonstruierte, Zeugen und Belege nannte und die
Wahrscheinlichkeit der Vergehen prüfte. Zugleich zeigte Bebels Spott über Peters
Sexualität, die nicht zur Befriedigung seiner Geliebten ausgereicht hätte, Züge
eines sensationellen Boulevardjournalismus auf, wie er in Deutschland bisher
kaum existierte. Die Quellen für Bebels Enthüllungen können nicht abschließend
geklärt werden. Einiges spricht dafür, dass neben Rudolf Hofmeister auch der
Journalist Eugen Wolf ihm Material gab, wie auch Peters intern vermutete.275
Bereits im Reichstag kündigte sich an, dass die Vorwürfe eine starke Empörung und damit einen großen Skandal auslösen würden. Da Bebel Sozialdemokrat war, unterlagen seine Enthüllungen per se dem Misstrauen der Abgeordneten. Glaubhaft wurden sie aber dadurch, dass der Kolonialdirektor Kayser in
seiner Antwort zwar widersprach, prinzipiell jedoch die Vorwürfe gegen Peters
bestätigte. Der Kolonialdirektor gestand Peters Liebesaffären und die Hinrichtungen wegen Diebstahl, was nicht nur die Verdienste Peters, sondern auch die
Kolonialpolitik insgesamt verdunkeln würde. Das Protokoll verzeichnete sofort
„stürmische Unterbrechungen“. Auch wenn Kayser in seiner Rede am nächsten
Tag einen „geschlechtlichen Zusammenhang“ mit der Hinrichtung zurückwies,
suggerierten die von ihm vorgetragenen Aussagen doch Peters Schuld.276 Den
Kolonialkritikern war es mit dieser Skandalisierung folglich gelungen, die Kolonialpolitik insgesamt maßgeblich in Frage zu stellen, da deren Verwalter offensichtlich trotz besseren Wissens versagten. Vor allem rückten die Sozialdemokraten öffentlich in die Rolle des moralischen Tugendwächters, die im Unterschied zum Auswärtigen Amt für die Einhaltung von Recht und Sitte eintraten,
wie auch Wilhelm II. verbittert bemerkte.277 Die Sozialdemokratie schien zudem über Informationskanäle zu verfügen, die bis nach Afrika reichten, kirchliche Kreise einschlossen und die der Regierung übertrafen.
Bebels Vorwürfe erschienen sofort in allen Zeitungen.278 Nahezu die gesamte
Öffentlichkeit rückte von Peters ab und empörte sich spöttisch über ihn. Selbst
die „Kreuzzeitung“ erklärte ihre angeblich schon immer bestehende Distanz zu
Peters damit, dass er kein Christlich-Konservativer sei.279 Die Zentrumspresse
274
275
276
277
278
279
RT 13. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1434.
Peters an Harden 21. 3. 1896, in: BAK, N 1062: 79.
RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452.
Vgl. die Marginalien des Kaisers in: Hohenlohe an Wilhelm II. 22. 3. 1896, in: BAK, NL 106721.
Vgl. etwa: Frankfurter Zeitung ab Nr. 75, 15. 3. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 242,
15. 3. 1896.
Neue Preussische Zeitung Nr. 130, 17. 3. 1896.
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280
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Abb. 7: Die Verkehrung der Stereotype: Nicht mehr die laxe Moral der Afrikaner,
sondern die der Kolonialisten erschien nach den zahlreichen Skandalen Mitte der 1890er
Jahre als Gefahr. Aus: Kladderadatsch Nr. 12, 22. 3. 1896.
drohte damit, die Unterstützung des Kolonialismus zu überlegen, wenn derartige Vorfälle nicht aufhörten.280 Peters wurde, wörtlich und in Karikaturen, als
triebgesteuerter Lüstling dargestellt, der sich Afrika als Harem aneignet.281 Wie
bei den Skandalen um Leist und Wehlan erschien auch hier nicht mehr die
moralische Laxheit der Afrikaner, sondern die der Kolonialisten als eigentliche
Bedrohung (vgl. Abb. 7). Gerade wegen des Rassismus und Moralismus der
Kolonialbewegung traf die Herausstellung des Geschlechtsverkehrs einen empfindlichen Nerv. In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel
zahllose Gespräche über Bebels Rede, die Peters Vergehen mit denen von Wehlan und Leist verglichen. So sagte ein Gast etwa laut Polizeiprotokoll: „Wenn
280
281
Germania Nr. 63, 15. 3. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 177, 14. 3. 1896. Sie verwies dabei auf die Rede von Lieber im Reichstag, der diesen Schluss jedoch laut Protokoll nicht so
klar zog; RT 16. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 61. Sitzung, Bd. 144,
S. 1494.
Kladderadatsch Nr. 12, 22. 3. 1896, S. 48.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
281
man die Aufzeichnungen von B. [Bebel] lese, so denke man es könnte gar nicht
möglich sein, daß Deutsche so handeln können, aber man müsste es glauben, da
es ja nicht die ersten Fälle von Grausamkeiten sind, außerdem B. sehr vorsichtig
ist, unwahre Behauptungen an den Tag zu bringen.“282 Die vorherigen Skandale
machten damit die neuen Enthüllungen glaubhafter.
Trotz der breiten öffentlichen Empörung missbilligte die politische Rechte allerdings nicht durchweg derartige Hinrichtungen. Justizminister Schönstedt
wandte sich etwa dezidiert dagegen, Reichsgesetze auch in den Kolonien gelten
zu lassen, und bezeichnete die Todesurteile eines Kriegsherrn rechtens.283 Ebenso nannte der konservative Abgeordnete von Manteuffel die Hinrichtung von
Spionen im Krieg als üblich; problematischer sei, dass Peters sich bei seiner Liebschaft „muselmanischen“ Regeln unterworfen hätte.284 In der Presse unterstützte besonders Maximilian Harden derartige Strafen. Während Harden bei anderen Themen Toleranz zeigte, erwies er sich gegenüber Afrikanern immer wieder
als Rassist. So verteidigte er Peters Verhalten mit den Worten: „Die schwarzen
Brüder sind blutgierige und raubsüchtige Halunken, die einstweilen nur durch
die Furcht zu bändigen sind.“ 285 Ebenso sei es unter den afrikanischen Bedingungen normal, dass keine Keuschheit herrsche. Carl Peters, der mit Harden
nun fast täglich korrespondierte, schrieb dem Journalisten daraufhin, „ich konnte keinen besseren Anwalt finden als Sie sich diesmal erwiesen haben.“286 Gerade
im Rückblick ist diese Liaison zwischen dem antisemitischen Kolonialisten und
dem später wegen seiner jüdischen Herkunft attackierten Harden bemerkenswert. Das Beispiel zeigte zudem einmal mehr, dass Harden eben nicht einfach
auf moralische Empörung und Sensationsgeschichten abzielte, sondern vor allem
auf eine unabhängige und provokative Positionierung.
Zumindest Teile der politischen Rechten sprachen sich weiterhin dagegen aus,
derartige Vorwürfe öffentlich zu verhandeln, da man eine „Selbstschändung“
vor dem Ausland vermeiden müsse.287 Sie fürchteten insbesondere um das Ansehen beim Kolonialvorbild und -rivalen England. Tatsächlich spotteten viele
ausländische Berichte über den deutschen Kolonialismus. Die Pall Mall Gazette
fragte, ob Deutschland wirklich als Kolonialmacht geeignet sei,288 und der englische Spectator deutete die Skandale direkt als Zeichen der angelsächsischen kolonialen Überlegenheit: „This is the third case and yet German officials wonder
why, even when they have acquired colonies, German settlers prefer to immig282
283
284
285
286
287
288
Vigilanzberichte Schutzmann Erxleben 17. 3. 1896, in: StAH, S 3930-21 Bd. 3.
„Kann bei diesen uncivilisierten, wilden, jeder Erziehung, sittlicher und geistiger Erziehung
entbehrender Völkerschaften seitens der Beamten mit den Mitteln operiert werden, wie wir sie
in unseren civilisierten Land für ausreichend halten?“ Schönstedt RT 14. 03. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1461.
Ebd., S. 1480.
Harden, Struwelpeters, in: Zukunft 21. 3. 1896, S. 529–536, hier S. 536.
Peters an Harden 20. 3. 1896, in: BAK, N 1062: 79.
Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 74, 15. 3. 1896; Rheinisch-Westfälische Zeitung
Nr. 91, 31. 3. 1896.
Pall Mall Gazette 16. 3. 1896.
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282
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
rate to America or to the British Colonies.“289 Die Times berichtete wie meist
im Auslandsteil mit ruhiger Distanziertheit, machte den Terror durch den deutschen Kolonialhelden aber unmissverständlich deutlich und hoffte, dass sich
künftig „Christianity, humanity and morals“ gegenüber der rücksichtlichlosen
Grausamkeit durchsetzten.290 Diese Deutungen standen im Kontext der zeitgleichen deutsch-englischen Spannung in der Kolonialpolitik, die der Jameson
Raid in Transvaal und die Krüger-Depesche von Wilhelm II. ausgelöst hatten.291
In der moralischen Rivalität darüber, welches Land einen besonders legitimen
Kulturauftrag in den Kolonien erfüllte, war dieser Peters-Skandal ein weiterer
Rückschlag.
Auch die deutsche Debatte über die koloniale Gewalt blickte vielfach auf die
englischen Skandale. Die politischen Milieus zogen aus der britischen Kolonialpolitik allerdings unterschiedliche Schlüsse. Konservative wie von Arnim führten an, dass man in England aus Patriotismus nie die Grausamkeiten von Stanley
kritisiert habe.292 Auch der Justizminister relativierte die Vorwürfe gegen Peters
damit, dass Stanley und andere grausamer gehandelt hätten, und verschiedene
rechte Zeitungen schlossen sich dem an.293 Dagegen wies der liberale Abgeordnete Richter zwar Vergleiche mit Stanley zurück, argumentierte aber ebenfalls
mit englischen Skandalen. Er verglich Peters Eroberungen mit dem Jameson
Raid in Transvaal. Jameson sei zu Recht vor Gericht gestellt worden, Peters hingegen bisher nicht.294 Das Empire blieb folglich ein Referenzraum, der vielfältige Argumente bediente.
Besonders die Sozialdemokraten führten nach den deutschen Skandalen den
englischen Kolonialismus als Vorbild an. So betonte Wilhelm Liebknecht im
Reichstag, England habe überall Freiheit und Kultur gebracht, Deutschland
hingegen weise nur eine beschämende „Liste der Peters, Leist und Konsorten
auf“. Dies liege an Englands freiheitlicher Verfassung, während in Deutschland
Parteiwillkür und Unfreiheit herrsche.295 Dieser wohlwollende Blick auf das
britische Empire verkoppelte somit die Reform der Kolonien und des Staates.
Der Vergleich eröffnete innerhalb der Sozialdemokratie zudem eine gewisse
Akzeptanz eines reformierten humanen Kolonialismus. Vor allem Eduard Bernstein verstärkte im Zuge der Kolonialskandale diesen Transfer, indem er den
englischen Kolonialismus als Vorbild aufwertete und daraus Überlegungen ableitete, wie sich Sozialismus und humaner Kolonialismus vereinbaren ließen.296
289
290
291
292
293
294
295
296
Spectator 21. 3. 1896, S. 399.
Zit. Times 16. 3. 1896, S. 5; Times 14. 3. 1896, S. 11.
Zu den Spannungen vgl. Fröhlich, Konfrontation, S. 314 f.
RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452.
Ebd., S. 1461. Vgl. etwa: Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 91, 31. 3. 1896.
RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1465.
So Liebknecht rückblickend RT 21. 6. 1899, X. Leg. Per., I. Sess., 1898/99, 98. Sitzung, Bd. 159,
S. 2708; vgl. auch Schröder, Sozialismus, S. 166.
Selbst im Burenkrieg bekräftigte er diese Position; vgl. Bernstein, Sozialdemokratie und
Imperialismus, in: Sozialistische Monatshefte (1900), S. 238–251 u. 549–562; Francis Ludwig
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
283
Auch Carl Peters selbst reagierte auf die Vorwürfe. Über den befreundeten
Abgeordneten von Arnim wies er sie bereits einen Tag später im Reichstag zurück, was damit die gesamte Medienöffentlichkeit erreichte. Zudem dementierte
er, jemals einen Brief an Bischof Tucker verfasst zu haben.297 Ebenso gab er sofort entsprechende Erklärungen an die Presse und ließ den „einzigen Brief“ veröffentlichen, den er je an einen englischen Missionar geschrieben habe, bis die
Regierung Peters tagsdrauf jede weitere öffentliche Stellungnahmen untersagte.298 Wie Peters’ Korrespondenz mit seiner Schwester zeigt, sah er sich selbst
als verletzter Held, der einer Intrige zum Opfer gefallen war. Trost suchte er in
religiösen Deutungen und in der Vorstellung, er könne den Reichskanzler und
Leiter der Kolonialabteilung stürzen.299 Immerhin gelang es Peters und der ihm
nahe stehenden Presse, Kolonialdirektor Kayser die Hauptschuld an dem Skandal zu zuschreiben, da dieser ihn nicht energisch verteidigt habe.300 Dass Kayser
die Vorwürfe nicht vorher genügend untersucht hatte und Peters einen Posten
anbot, machte ihn auch für die Kolonialkritiker zur Zielscheibe. Tatsächlich zermürbte dies Kayser so sehr, dass er um eine Versetzung an das Leipziger Reichsgericht bat, was ihm mit einem großzügigen finanziellen Ausgleich schmackhaft
gemacht wurde.301 Damit zeigte sich wieder einmal, dass gerade bei deutschen
Skandalen zuerst diejenigen ihre Posten verloren, die in der Bürokratie nicht an
deren Vertuschung mitarbeiteten.
Angesichts der massiven Vorwürfe leitete Reichskanzler Hohenlohe sofort
nach Bebels Enthüllungen eine Untersuchung gegen Peters ein, die im September in ein förmliches Disziplinarverfahren mündete.302 Bebels Hauptbeweis,
Peters Brief an Bischof Tucker, erwies sich rasch als nicht existent. Bebel hatte
zwar in London Eduard Bernstein gebeten, das Original zu finden, musste aber
einsehen, dass wohl nur ein Brief an Bischof Smithies vorlag, der jedoch kein
vergleichbares Schuldeingeständnis barg.303 Dafür brachte die Ermittlung andere Belege zu Tage, die sowohl eine illegitime Tötung als auch ein Eifersuchtsmotiv nahe legten. So schrieb der Kompanieführer Freiherr von Bülow etwa am
297
298
299
300
301
302
303
Carsten, Eduard Bernstein 1850–1932, München 1993, S. 51 f. u. 68; Markku Hyrkkanen,
Sozialistische Kolonialpolitik: Eduard Bernsteins Stellung zur Kolonialpolitik und zum Imperialismus 1882–1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Revisionismus, Helsinki 1986, S. 184 f.
RT 14. 3. 1896, IX. Legislatur Periode, IV. Sess., 1895–97, 60. Sitzung, Bd. 144, S. 1452.
Hohenlohe an Peters 18. 3. 1896, in: BAB/L, N 2223/42: 43. Vgl. seine Erklärung im Kleinen
Journal 17. 3. 1896, die in alle Zeitungen wanderte.
Vgl. die Briefe: Peters an Elli o. D. (1896), in: BAB/L, N 2223/89: bes. 6 u. 11.
Rheinisch-Westfälische Zeitung Nr. 91, 31. 3. 1896. Vgl. auch Kaysers Selbstwahrnehmung: Kayser an Eulenburg 18. 3. 1896, abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz
Bd. 3, S. 1653 f.
Schreiben Kayser 28. 9. 1896, in: BAK, N 1007-1604; sowie: Kayser an Eulenburg 4. 9. 1896,
abgedr. in: Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1737.
Hohenlohe an Peters 18. 3. 1896, in: BAB/L N 2223/42: 43; 21. 9. 1896 förmliches Disziplinarverfahren (Urteil in Druck von 1907) in: BAB/L, R 8034 II 347: 103.
Vgl. den Bericht in: Bebel an W. Liebknecht 17. 5. 1896, in: BAB/L, NY 4034-134. Vgl. auch
Perras, Peters, S. 224 f.
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284
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
7. Juni 1892 an den zuständigen Gouverneur: „Dr. Peters hat das Frauenzimmer
und den Diener deswegen aufgehangen, weil sie geschlechtlichen Umgange
zusammen getrieben haben.“304 Ähnliche Aussagen machten ein Konsul, ein
Maler, zwei Ingenieure und ein Leutnant. Damit erschien eine Verurteilung nahe
liegend.
Die Urteilsbegründungen der kaiserlichen Disziplinarkammern deuteten
ebenfalls eine gewisse Verschiebung der Normen an. Abermals erfolgte diese
allerdings bei den Richtern zögerlicher als in der Öffentlichkeit, was ein Vergleich der ersten Urteilsbegründung und der der Revision belegt. So sprachen
die Richter zunächst den Afrikanern weiterhin nur eine untergeordnete Menschenwürde zu. Die Hinrichtung Mabruks bezeichneten sie als „Dienstvergehen“, da der Einbruch oder eine geschlechtliche Beziehung eine „nicht todeswürdige Handlung“ sei. Bei der Tötung von Jagodjo sowie der Prügelung und
Kettenlegung der Frauen hatte sich das Gericht dagegen „von der Schuld des
Angeklagten nicht überzeugen können.“ Wie bei Leist und Wehlan legitimierte
es die Entlastung mit Verweisen auf das angebliche afrikanische Stammesrecht:
Da die Frau ein Geschenk eines Häuptlings gewesen sei, sei eine Zurückweisung
nicht möglich gewesen. Ebenso sei die Prügelstrafe legitim, und die zweite
Flucht sei „geeignet, die Todesstrafe zu rechtfertigen“. Als schwerstes Vergehen
sah es Peters falsche Berichterstattung, „weil es vorsätzlich begangen ist“.305 Besonders aus diesem Grunde lautete das Urteil Dienstentlassung ohne Pension.
Noch schwerer als das Urteil wogen für Peters aber die Aussagen im Prozessverlauf und die Urteilsbegründung, die erneut Details über den sexuellen Missbrauch dokumentierten; etwa, dass Peters Frauen blutig ausgepeitscht und mit
seinen Gefährten drei schwarze Frauen in der Vorratskammer festgehalten hatte. Damit wurde erneut das Bild der afrikanischen Zwangsprostituierten belebt,
das bereits beim Leist-Skandal seine Wirkungsmacht entfaltet hatte.
Gerade diese erneuten Enthüllungen im Zuge des Urteils sorgten für eine vernichtende Empörung über Peters, obgleich das Gericht ihn von dem eigentlichen Vorwurf freigesprochen hatte. Selbst die nationalliberalen, konservativen
und offiziösen Zeitungen richteten sich ausnahmslos gegen ihren einstigen Kolonialhelden. So stellte etwa die „Kreuzzeitung“ resigniert fest, dass die Deutschen statt der Kulturmission „die herbe Enttäuschung erleben müssen, daß
nacheinander drei hervorragende Beamte unserer deutschen Kolonial-Verwaltung sich grobe Ausschreitungen haben zu schulden kommen lassen“.306 Auch
wenn sie die Prügel- und Todesstrafe für Frauen für nötig ansah, seien die Konkubinen und der deutsche Ansehensverlust eine Schande. Die nationalliberale
Presse sah das Urteil als schweren Schlag „für unsere Colonialsache“. Von der
304
305
306
Zit. nach Urteil Disziplinargericht in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 94.
Urteil in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 100.
Neue Preussische Zeitung Nr. 197, 29. 4. 1897. Ähnlich auch die rechte Deutsche Tageszeitung Nr. 192, 26. 4. 1897. Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung sah zwar
von Kommentaren ab, druckte aber alle Vergehen Peters; dies. Nr. 174, 25. 4. 1897.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
285
Regierung forderte sie in Zukunft, die Klagen ernster zunehmen und von der
„Geheimhaltung der Acten“ abzusehen, damit die Sozialdemokratie nicht noch
einmal Profit aus einer „Vertuschung“ ziehen könne.307 Selbst Peters größter
Verteidiger, Maximilian Harden, erkannte nun dessen Schuld an, obgleich er
dessen frühere Verdienste würdigte.308 Ähnlich äußerten sich die Stammtische.
Laut Spitzelprotokollen sahen sie das Urteil als eine Niederlage für die Kolonialisten und für die Regierung, die die Sache übergehen wollte. Peters müsse
unbedingt hart bestraft werden und die Kolonien seien neu zu gestalten, denn
Leute wie Peters, Leist und Wehlan seien eine Schande für Deutschland, das als
„zivilisiertester Staat der Welt“ zur Kultivierung in den Kolonien beitragen
wollte.309
Ähnlich wie Leist ging Peters in Revision, und erneut führte die öffentliche
Empörung dazu, dass das Gericht die Verurteilung verschärfte. Die Justiz reagierte damit auf den Normenwandel im Skandal. Peters wurde nun in allen
Punkten für schuldig gesprochen. Der Schuldspruch bezog sich jetzt auch auf
die Hinrichtung von Jagodjo aufgrund einer geschlechtlichen Beziehung. Ebenso machte es Peters für unzulässige Auspeitschungen und kriegerische Verwicklung verantwortlich. Dabei wurde den Aussagen der Afrikaner jetzt zumindest
ein „gewisser Wert“ beigemessen.310 Vor allem machte der zweite Prozess weitere Aussagen öffentlich, die Peters vollends diskreditierten; etwa den Bericht
eines österreichischen Konsuls, dem Peters prahlend über die Hängung des
Mannes erzählt hatte („Ich bin ein stiller ernster Pastorensohn, aber die Lochbruderschaft mit diesen Schweinen paßte mir nicht“) oder Berichte, wie Peters
im Bambusstuhl sitzend der blutigen Auspeitschung der Frauen zusah.311 Neben der Dienstentlassung und der Aberkennung von Pension und Titel musste
Peters die Prozesskosten zahlen. Eine strafrechtliche Verfolgung, wie sie Sozialdemokraten, Liberale und Teile anderer bürgerlicher Parteien forderten, fand
dagegen nicht statt, da Peters Vergehen im Ausland begangen worden seien und
dafür keine Regelungen vorgelegen hätten. Das Versäumnis, hier entsprechende
Regeln zu erlassen, fiel dabei erneut negativ auf die Kolonialadministration zurück.
Der Skandal hatte erneut Folgen, die über die Entlassung Peters und Kaysers
Rücktritt hinaus reichten. Vor allem sorgte er für die Fortführung der rechtlichen Reformen, die bereits nach den ersten Kolonialskandalen kurz zuvor eingesetzt hatten. So wurde bereits sechs Wochen nach Bebels Enthüllung die Zuständigkeit für die Strafgerichtsbarkeit, die Art der Strafen, ihre Vollstreckung
und die Diziplinarbefugnisse der Bezirksmänner und Stationschefs im Innern
307
308
309
310
311
Kölnische Zeitung 26. 4. 1897.
Harden, Peters, in: Zukunft 1. 5. 1897, S. 236.
Vgl. etwa die Berichte: Schutzmann Graumann 30. 4. 1897 und 5. 5. 1897 in: StAH, S 3930- 22
Bd. 4.
Urteil in Druck von 1907 in: BAB/L, R 8034 II 347: 110.
Vgl. stellvertretend: Vossische Zeitung Nr. 537, 15. 9. 1897.
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286
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
festgelegt. Teile davon verwiesen direkt auf die Skandale. So hieß es nun: „Die
endgültige Verhängung der Todesstrafe steht allein dem Gouverneur zu.“ Ebenso bedurften höhere Haft- und Geldstrafen seiner Genehmigung. Bei schweren
Verbrechen seien zudem bei der Strafverhängung Eingeborene hinzuzuziehen.
Direkt auf die Skandale bezog sich auch § 4: „[...] gegen eine Frauenperson
irgend welchen Alters darf auf Prügel- oder Ruthenstrafe nicht erkannt werden.“312 Auch dieser Skandal verstärkte somit die Eindämmung der individuellen Befugnisse und die Stärkung von Zentralisierung und Reglementierung
von Verfahren.
Da der sexuelle Verkehr zwischen Deutschen und Afrikanerinnen erneut den
Kern des Skandals gebildet hatte, suchte die Kolonialbewegung nach Maßnahmen dagegen. So diskutierte die Deutsche Kolonialgesellschaft bereits bei
ihrem Treffen 1896 die Frage der „Mischehen“, die als Gefahr gesehen wurden.
Aus dieser Debatte heraus entstand die Anregung, die Ansiedlung weißer Frauen
in Afrika zu organisieren, um die sexuellen Kontakte zwischen schwarz und
weiß zu unterbinden. So gewährte die Deutsche Kolonialgesellschaft Reisehilfen
für die Verschiffung von Bräuten und Verwandten. Da Frauen als das sittlich
überlegene Geschlecht angesehen wurden, erhoffte man sich von ihrer Umsiedlung generell eine Hebung der Moral, von den Kolonisierten und den Kolonisten.313
Der Peters-Skandal förderte zudem die öffentliche Aufdeckung weiterer Fälle, die die grausame Gewaltwillkür in den Kolonien dokumentierten und nun
härter bestraft wurden. Sie wiesen vielfach ähnliche Vergehen wie die bisherigen
Skandale auf. So erfuhren die Leser schon im Sommer 1896 von dem Pflanzungsleiter Friedrich Schröder, der in Ostafrika willkürlich auf Farbige schoss,
sie folterte und „wüste Orgien“ mit afrikanischen schwarzen Mädchen abhielt.
Wiederum scheint das Berliner Tageblatt durch ihren Afrikakorrespondenten
Eugen Wolf zuerst entsprechende Berichte aufgebracht zu haben.314 Auf die
Meldungen folgten Zuschriften von Mitarbeitern Schröders an die Presse, die
zahlreiche Geschichten über ihn verbreiteten; so habe er einen Häuptling einfach mit Schrot in den Rücken geschossen oder Schwarze an einen Pfahl gebunden.315 Infolge der bisherigen Skandale wurde Schröder härter bestraft: Auch
wenn die Richter abermals ausführten, dass die afrikanischen Frauen auf einer
312
313
314
315
Reichs-Anzeiger Nr. 104, 1. 5. 1896, in: BAK, R 1001-5626.
Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur.“ Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2005, bes. S. 125–
131. Vgl. zur Ansiedlung deutscher Frauen: Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 78–83;
Wildenthal, GermanWomen, S. 90; Nils Ole Oermann, Mission, Church and State Relations in South West Africa under German Rule (1884–1915), Stuttgart 1999, S. 213 f.; Daniel
Joseph Walther, Creating Germans Abroad. Cultural Policies and National Identity in Namibia, Ohio 2002.
Berliner Tageblatt Nr. 375, 25. 7. 1896.
Germania Nr. 171, 28. 7. 1896 u. Nr. 179, 6. 8. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 523,
1. 8. 1896.
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5. Demontage eines Kolonialhelden: „Hänge-Peters“
287
„äußerst niedrigen sittlichen Stufe stehen und gerade über Geschlechtsehre die
laxesten Begriffe haben“, erhielt Schröder erst 15 Jahre Haft, dann in zweiter
Instanz zumindest fünf Jahre wegen Vergewaltigungen und Körperverletzungen.316 Innerhalb der Kolonialadministration sprach man sich dabei gegen
jede Milde aus, zumal Schröder für „das Mehrfache“ des Verhandelten verantwortlich sei.317 Noch härter bestraft wurden die Vergehen von Prosper von
Arenberg, der einen „Bastard“ betrunken gemacht, an die Decke gebunden, gefoltert und dann erschossen hatte. Nachdem ein Militärgericht ihm erst nur zu
drei Jahren verurteilt hatte, führte die Revision nach öffentlichen Protesten zu
15 Jahren Haft.318 Offensichtlich sollten derartige Urteile abschreckend wirken
und die Öffentlichkeit beruhigen. In gewisser Weise waren sie ein Ersatz für die
ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung der Kolonialbeamten Peters, Wehlan
und Leist. Zugleich gelang es der Regierung aber, die genauen Umstände dieser
Vergehen stärker als bei den vorherigen Skandalen vor der Öffentlichkeit zu
verbergen. Die vor Gericht gegen Schröder vorgebrachten Details, wie die versuchte Vergewaltigung einer zehnjährigen Afrikanerin, wurden etwa nicht öffentlich, um einen neuen großen Skandal zu vermeiden.
Ebenso trug der Peters-Skandal dazu bei, auch nach 1896 die Diskussion darüber fortzusetzen, in welcher Form Afrikaner zu bestrafen seien. So befragte
Franz Giesebrecht in Reaktion auf den Skandal 35 Kolonialbeamte und andere
Kolonienexperten, „Welches ist die beste Methode der Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien?“ Die Antworten, die ausgewählt in der
Neuen Deutschen Rundschau und in ausführlicher Form 1898 als Buch erschienen, wiesen vor allem vier gemeinsame Elemente auf: Die Eingeborenen seien
wie große Kinder, und müssten dementsprechend „streng, aber gerecht“ behandelt werden; sie müssten zur Arbeit erzogen werden; und der Kolonisator müsse ein moralisches Vorbild sein.319 Dass zur Erziehung in Afrika zumindest gegenwärtig Prügelstrafen nötig seien, betonten auch bei dieser umfangreichen
Bestandaufnahme fast alle Befragten. Gerade die Infantilisierung der Eingeborenen wies dem Kolonisator aber vornehmlich die Rolle eines Erziehers zu.
Konsequenzen hatte der Peters-Skandal natürlich auch für den Protagonisten
selbst. Peters emigrierte schon 1896 nach London. Er publizierte regelmäßig
Artikel und Bücher und gründete hier eine Firma zur Erschließung von Bodenschätzen in Afrika, wohin er weiterhin reiste. Wie viele „Skandalopfer“ kämpfte
316
317
318
319
Wörtlich: „wegen gewaltsamer Vornahme unzüchtiger Handlungen an zwei Frauenspersonen,
versuchter Unzucht an einer nicht geschlechtsreifen Frauensperson unter 14 Jahren, Freiheitsberaubung begangen an drei Personen, Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs beziehungsweise einer das Leben gefährdenden Handlung in 14 Fällen, leichter vorsätzlicher
Körperverletzung in vier Fällen.“ Urteile in: BAB/L, R 1001-4812/2.
Stellvertretende Gouverneur Bennigsen an AA 7. 9. 1896 u. an Hohenlohe 8. 9. 1896, in: BAB/L,
R 1001-4812/1.
Vgl. Frankfurter Zeitung Nr. 310 und Berliner Tageblatt Nr. 571, 9. 11. 1900.
„Die Behandlung der Neger“, in: Neue Deutsche Rundschau 8 (1897), S. 77–97. Langfassung der Beiträge in: Giesebrecht (Hrsg.), Die Behandlung der Eingeborenen.
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288
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
er weiter um seine Rehabilitierung – mit Schriften, Klagen und Eingaben von
seinen politischen Freunden.320 Nach 1900 setzte sich vor allem die rechte
Tägliche Rundschau wieder für Peters ein. Immerhin erreichten Vertreter der
Nationalliberalen, der Reichspartei und der Deutsch-Konservativen 1905 mit
Unterstützung von 51 Abgeordneten, dass Peters wieder seinen Titel tragen
durfte. Die Pension blieb aber weiter aus.321 Zwischen 1906 und 1908 stand der
Skandal erneut regelmäßig in der Presse. Das lag zum einen an den zahlreichen
neuen Kolonialskandalen, die rückblickend an Peters erinnerten, zum anderen
daran, dass Peters nun kämpferisch für seine Rehabilitierung eintrat. Er hielt
Vorträge, schrieb Darstellungen über die damaligen Vorgänge und prozessierte
gegen Journalisten, die sich ihn kritisierten.322 Die Zeitungen stellten daraufhin
erneut Material zusammen, das Peters der Lüge überführte.323 Dass ihm 1908
ein Gericht bei einem Prozess gegen einen Journalisten der Kölnischen Zeitung
zugestand, er hätte die afrikanische Frau nicht wegen einer Liebesaffäre gehängt,
verbuchten Peters und die rechte Presse als juristische Rehabilitierung, die restliche Öffentlichkeit jedoch nicht.324 Zumindest für die politische Rechte wurde
Peters so wieder zu einer legitimen Ikone des Kolonialismus. Dass der Kaiser
ihm 1914 wieder seine Pension gewährte, verfestigte diesen späten Ansehensgewinn. Sein jahrelanger Kampf für eine öffentliche Rehabilitierung trug aber auch
mit dazu bei, dass sich die Erinnerung an den Skandal bis heute verfestigte.
In gewisser Weise markierte der Peters-Skandal eine gewisse Zäsur in der
Wahrnehmung und Praxis des Kolonialismus. Der Typus des „kolonialen Kraftmenschen“, der mit dem Gewehr Afrika durchschreitet, galt nunmehr als unzeitgemäß.325 An seine Stelle traten, wie in Großbritannien nach dem Skandal
um Stanley, eine verwaltungsmäßige Erschließung und eine geplante Kriegsführung. Die Skandale markierten diesen Übergang und kamen gerade deshalb auf.
Abermals verschoben sie Normen und waren Ausdruck dieser Normverschiebung.
6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
Die Skandale in den 1890er Jahren hatten sicherlich dazu beigetragen, die
öffentliche Wahrnehmung des Kolonialismus und den kolonialpolitischen
Rahmen zu verändern. Dies bedeutete freilich nicht, dass die koloniale Praxis
automatisch humaner wurde. Vielmehr kam es bekanntlich gerade nach der
320
321
322
323
324
325
Vgl. etwa die Broschüre: „Dr. Carl Peters, Mißbrauch der Amtsgewalt, Berlin 1899“, in: BAK,
ZSg 113-621. Vgl. hierzu auch: Perras, Carl Peters, S. 231–234.
Bülow an Peters 16. 6. 1905, in: BAB/L, N 2223/42: 45.
Vgl. hierzu die zahlreichen Briefe von Peters an Hermann Peters, in: BAB/L, N 2223/95.
Vossische Zeitung Nr. 389, 23. 7. 1907.
Vgl. die Positionen in: Der Tag Nr. 177, 10. 4. 1908; Vossische Zeitung Nr. 37, 23. 1. 1908. Zu
Peters Selbsteinschätzung: Peters an Hermann Peters 27. 1. 1909, in: BAB/L, N 2223/95: 104.
Den Begriff auf Peters und Schröder bezogen: Frankfurter Zeitung 9. 8. 1896.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
289
Jahrhundertwende zu jenen blutigen deutschen Kolonialkriegen, die die bisherige Brutalität weit übertrafen. Das galt zunächst für den deutschen Einsatz
gegen den Boxeraufstand in China, den die Sozialdemokraten zu skandalisieren
versuchten. Der Vorwärts veröffentlichte allein zwischen August 1900 und Januar 1901 47 Briefe von dort kämpfenden Soldaten, die bildreich das grausame
Vorgehen der Soldaten schilderten, und August Bebel las einzelne Passagen aus
diesen Berichten im Reichstag vor. „Alles was uns in den Weg kam, ob Mann,
Frau oder Kind, alles wurde abgeschlachtet“, hieß es etwa in den von Bebel zitierten Passagen.326 Andere Artikel beschrieben, wie an den Zöpfen aneinander
gebundene Chinesen unter Peitschenhieben ihr eigenes Grab ausheben mussten.
Dennoch blieb eine vergleichbar breite Empörung wie bei den vorherigen Skandalen um hohe Kolonialbeamte aus.
Ähnliches galt für den deutschen Truppeneinsatz gegen die Herero und Nama
in Deutsch-Südwest-Afrika 1904 bis 1907, der mindestens 80 000 Afrikanern das
Leben kostete, und die Kämpfe im deutschen Ostafrika, die wahrscheinlich noch
höhere Opferzahlen aufwiesen.327 Bei ihrer öffentlichen Rezeption im Reich
zeigte sich ein ähnliches Phänomen wie beim Boxeraufstand und beim Burenkrieg in Großbritannien: Trotz, oder vielleicht gerade wegen des zehntausendfachen Tötens im Krieg blieb die öffentliche Empörung begrenzt. Erneut protestierten immerhin die sozialdemokratischen Abgeordneten und Zeitungen gegen
das brutale Vorgehen gegen die Hereros und veranstalteten zahlreiche Protestveranstaltungen.328 In ihren Flugblättern sahen sie die Aufstände nicht nur als eine
Folge der Ausbeutung, sondern auch der „Untaten der Leist, Wehlan, Peters,
Arenberg, Kossak, um nur die bekanntesten zu nennen.“329 Ebenso führten
Bebels Reichstagsreden von 1904 die Aufstände auf „Mißhandlungen schlimmster
Art“ und „sittliche Verfehlungen der Weißen gegen Hererofrauen“ zurück.330
Aber im Unterschied zu den medienwirksamen Skandalen der 1890er Jahre fehlte
326
327
328
329
330
Vgl. die Reden 19. 11. 1900 und 23. 11. 1900 in: RT, X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 33 u. zit. S. 113.
Vgl. auch: Ute Wielandt und Michael Kascher, Die Reichstagsdebatten über den deutschen Kriegseinsatz in China: August Bebel und die „Hunnenbriefe“, in: Susanne Kuss und
Bernd Martin (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2002, S. 183–
201; in diesem Band weitere Beiträge zur Stichhaltigkeit der Vorwürfe.
Vgl. aufgrund der zahlreichen jüngeren Publikationen nur als Auswahl: Jürgen Zimmerer
und Joachim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg
(1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003; Janntje Böhlke-Itzen, Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904–1907, Frankfurt
a. M.. 2004. Die Opferschätzungen für den Maji-Maji-Krieg liegen oft deutlich höher; vgl.
Ludger Wimmelbücker, Verbrannte Erde. Zu den Bevölkerungsverlusten als Folge des MajiMaji-Krieges, in: Felicitas Becker/Jigal Beez (Hrsg.), Der Maji-Maji-Krieg in DeutschOstafrika 1905–1907, Berlin 2005, S. 87–99; Walter Nuhn, Flammen über Deutsch-Ost. Der
Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika 1905–1906, München 1998.
Immerhin 33 Veranstaltungen kündigte sie an, die sich auch gegen die Zwanzigjahrsfeier des
deutschen Kolonialreiches richteten; Meldung an AA 7. 11. 1904, in: BAK, N 1016-29; vgl.
zudem Vorwärts 16. 6. 1905; Schröder, Sozialismus, S. 163 u. 186.
Flugblatt „Protest gegen die Kolonialpolitik“ 1904, in: BAK, N 1016-29.
Beispiele bereits in: Schubert, Der schwarze Fremde, S. 254.
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290
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
anscheinend ein konkretes, emotionalisierendes und anschauliches Narrativ zur
öffentlichen Mobilisierung. Wie beim britischen Burenkrieg sorgte vielmehr die
Kriegssituation für eine patriotische Toleranz gegenüber der deutschen Gewalt.
Dagegen kursierten genau umgekehrt emotionalisierende Berichte über die
Grausamkeit der Afrikaner. Als die Regierung vom Reichstag zusätzliche Mittel
für die Bekämpfung des Aufstandes erbat, enthielt sich selbst die SPD der Stimme, was zumindest eine gewisse Zustimmung verriet.331 Und selbst ein kolonialkritischer Abgeordneter wie Matthias Erzberger stimmte für die Mittel für den
Truppeneinsatz gegen die Herero mit der Begründung, dass „eine deutsche
Frau, die diesen Unmenschen in die Hände fällt, von einem ganze Dorf mißbraucht wird, worauf man sie förmlich hinschlachtet“.332 Stärker noch malten
die rechten Abgeordneten die Brutalität der Afrikaner aus und verwiesen dabei
ebenfalls emotionalisierend auf die Vergewaltigung weißer Frauen und auf kannibalistische Praktiken.333 Nachdem die Skandale in den 1890er Jahren das Bild
des schützenswerten Afrikaners etabliert hatten, der barbarischen Kolonialisten
ausgeliefert sei, verkehrte sich dies in das Stereotyp des brutalen Schwarzen,
dem weiße Kolonialisten schutzlos ausgeliefert seien. Das Bild des brutalen
deutschen Kolonialisten verstärkte sich dagegen nur in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit und in Teilen Großbritanniens.334
Mittelfristig trugen die Kolonialkriege jedoch ähnlich wie der Burenkrieg in
Großbritannien zum erneuten Aufkommen wirkungsmächtiger Kolonialskandale bei, die diese Deutungen wieder veränderten. Generell führten die Kolonialkriege ab 1905 zu einer verstärkten Reflektion über die stark gestiegenen
Kosten des Kolonialismus, dessen Akzeptanz und seine Folgen. Sie förderte
eine öffentliche Sensibilisierung für die Kolonialpolitik, die schließlich 1906 in
zahllose Kolonialskandale mündete. Bemerkenswerterweise hingen sie jedoch
kaum direkt mit den massenhaften Morden in Südwest- und Ostafrika zusammen. Vielmehr thematisierten sie einerseits, wie in den 1890er Jahren, einzelne
Gewalttaten und sexuelle Missbräuche von höheren Kolonialbeamten, andererseits die ökonomische Misswirtschaft und Korruption in den Kolonien. Letzteres wies damit deutliche Parallelen zur britischen Entwicklung auf. Aus dem
Zusammenfall dieser unterschiedlichen Skandale mit den Kolonialkriegen entstand die schwerste Krise des deutschen Kolonialismus.
Stärker als in den 1890er Jahren wurden diese Skandale direkt vom Reichstag
aus angestoßen. Die Enthüllungen gingen erneut vor allem von sozialdemokratischen und linksliberalen Abgeordneten aus. Mit detaillierten Kenntnissen
331
332
333
334
Vgl. auch: Schröder, Sozialismus, S. 187; Hyrkkanen, Sozialistische Kolonialpolitik, S. 221 f.
Reichstagsbrief anon., 2. 4. 1904, zit. in: Leitzbach, Erzberger, S. 317.
Vgl. Schubert, Der schwarze Fremde, S. 235; zur Zuschreibung der schwarzen „Zügellosigkeit“: Helmut Walser Smith, The Talk of Genocide, the Rhetoric of Miscegenation: Notes
on Debates in the German Reichstag Concerning Southwest Africa, 1904–14, in: Sara Friedrichmeyer et al. (Hrsg.), The Imperialist Imagination. German Colonialism and Its Legacy,
Michigan 1998, S. 107–123, bes. S. 112.
Fröhlich, Konfrontation, S. 234–238.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
291
traten neben Bebel besonders der freisinnige Justizrat Bruno Ablaß und der
Sozialdemokrat Georg Ledebour hervor.335 Zudem förderten Abgeordnete der
Zentrumspartei durch investigative Ermittlungen die Skandale. Vor allem die
Abgeordneten Hermann Roeren und Matthias Erzberger beklagten detailliert
verschiedene koloniale Missstände, die in Skandale mündeten. Die Zentrumsabgeordneten verdankten ihr Engagement und ihr Wissen vor allem dem Austausch mit katholischen Missionaren und Kolonialbeamten. Hieraus entstand
ein Informationsnetzwerk, das dem der Presse und der Sozialdemokratie mitunter überlegen war. Die katholischen Abgeordneten und Beamten agierten dabei als Anwälte für die Klagen der Missionare und machten die Konflikte zwischen Staat und Kirche in den Kolonien öffentlich. Gerade weil das Zentrum
den Kolonialismus bisher vor allem wegen der Christianisierung Afrikas unterstützt hatte, waren die Klagen der Missionare von großer Bedeutung für den
politischen Katholizismus.
Die Vorwürfe der katholischen Missionare und Beamten bildeten dadurch
einen wichtigen Ausgangspunkt für die zahlreichen Skandale des Jahres 1906. In
den Kolonien war es von Beginn an zu Spannungen zwischen Missionaren und
Kolonialbeamten gekommen. Die Missionare beschwerten sich über die Misshandlung von Afrikanern und den Lebenswandel der Europäer, die ihre Arbeit
konterkarieren würden, gingen damit aber selten direkt an die deutsche Öffentlichkeit.336 Ein wichtiger Schlüsselkonflikt für die Kolonialskandale entstand in
Togo, das aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation als deutsche „Musterkolonie“ galt. Hier kam es zu einem „Kulturkampf in Übersee“ (H. Gründer) zwischen Beamten und katholischen Missionaren. Und selbst wenn es sich dabei
oft, wie Ralph Erbar argumentierte, um individuelle Streitigkeiten handelte, so
wurden die Spannungen in Afrika zumindest in Deutschland mit den Konfliktlinien des Kulturkampfes verbunden.337
Bereits 1890 kam es zu Spannungen, als Missionare beklagten, der Leiter der
Regierungsstation lasse sich nachts schwarze Frauen kommen. 1902 monierten
sie, der Stationsleiter Geo A. Schmidt sei gewalttätig gegenüber Eingeborenen
und habe „ein noch nicht geschlechtsreifes Mädchen Adgaro gewaltsam mißbraucht“, wie ein Bericht des Kolonialamtes vermerkte.338 Schmidt ließ darauf335
336
337
338
Vgl. etwa die Reichstagssitzungen 15. 12. 1905 u. 19. 3. 1906, in: RT 15. 12. 1905, XI. Leg. Per., II.
Sess., 1905/06, 13 Sitz., S. 344–349; 70. Sitz., S. 2147.
Vgl. zu den internen Berichten: Oermann, Mission, S. 178.
Horst Gründer, Kulturkampf in Übersee. Katholische Mission und deutscher Kolonialstaat
in Togo und Samoa, in: AfK 69 (1987), S. 453–472; den „Kulturkampf“-Begriff weist dagegen
zurück: Ralph Erbar, „Ein Platz an der Sonne“? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884–1914, Stuttgart 1991, S. 264 f.
Bericht Kolonialamt 5. 2. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 25 ff. Im Prozess wurde Schmidt freigesprochen, weil das Mädchen seiner Aussage zufolge 14 Jahre alt war. Einzelne Quellen zur
Verhaftung der Missionare in: Karl J. Rivinius, Akten zur katholischen Togo-Mission. Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der Steyler Missionsgesellschaft und den deutschen
Kolonialbeamten in den Jahren 1903–1907, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 35 (1979), S. 123–132 u. 171–190.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
hin jedoch die Missionare wegen Verbreitung beleidigender Gerüchte verhaften.
Dieser Streit spaltete die weiße Bevölkerung und führte zu Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken. Dabei wurde auch gegen den etatmäßigen
Bürovorsteher des Gouverneurs von Togo namens Wistuba, der sich auf die
Seite der Missionare stellte und diese mit Material unterstützte, ein Disziplinarverfahren eingeleitet und dessen Tropenuntauglichkeit festgestellt.
Dieser scheinbar recht marginale Konflikt zwischen Missionaren und Kolonialbeamten übertrug sich von Togo schrittweise auf das Deutsche Reich und
weitete sich rasant aus. Das Disziplinarverfahren animierte den Kolonialbeamten Wistuba nur, weitere Missstände aufzudecken.339 Ebenso wie die Mission
informierte er den Zentrumsabgeordneten Hermann Roeren, der im November
1904 ein gemeinsames Gespräch zwischen Missionsleitung und Berliner Kolonialabteilung vermittelte.340 Zudem überreichte er zahlreiche skandalträchtige
Informationen an einen vertrauten Beamten in der Berliner Kolonialabteilung
namens Oskar Poeplau, der diese im November an den Reichskanzler weiterleitete. Das Material verwies auf unterschiedliche Fälle von Machtmissbrauch:
etwa auf den Kauf von Afrikanerinnen durch höhere Beamte in Kamerun, eine
Passfälschung, die der Kameruner Gouverneur Puttkamer für eine Geliebte persönlich vorgenommen hatten, eine tödliche Auspeitschung unter Anwesenheit
des Gouverneurs von Togo oder auch auf Beamtenbestechung durch koloniale
Lieferfirmen mit überzogenen Preisen.341 Diese Unterlagen aus dem katholischen Kommunikationsnetz bildeten somit die Kerninformationen für die
Skandale, die sich im Laufe des Jahres 1906 entfalteten. Die Reichskanzlei und
die Kolonialabteilung vergaben die Chance, den drohenden Skandal durch eine
frühzeitige Reaktion auf diese Berichte zu verhindern. Daraufhin informierte
der Kolonialamtsbeamte Poeplau Anfang 1905 den Freisinnigen Abgeordneten
Ernst Müller und anschließend den jungen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, die die Reichskanzlei nacheinander drängten, gegen die willkürliche Gewalt
durch Kolonialbeamte und deren Frauenkauf vorzugehen.342 Somit stand zunächst also gerade nicht der Weg an die Öffentlichkeit oder zur Presse im Vordergrund, sondern der Versuch, die gemeldeten Missstände durch interne Gespräche mit der Regierung zu beheben. Die Reichstagsabgeordneten dienten
dabei als informelle Anwälte, die zugleich über das Druckmittel einer potentiellen Veröffentlichung der Missstände verfügten.
339
340
341
342
Bericht Kolonialamt 5. 2. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 22 ff. Knappe Hinweise auf Poeplau/
Wistuba in: Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie,
Berlin 1962, S. 457–459; Hinweise zu dem Skandal jetzt auch in: Bettina Zurstrassen, Die
Steuerung und Kontrolle der kolonialen Verwaltung und ihrer Beamten am Beispiel des Schutzgebietes Togo (1884–1914), Ms. Diss. München (Univ. der Bundeswehr) 2006, S. 218–224.
Rechtfertigung Stuebel April 1907, in: BAB/L, R 43 941: 304 ff.
Seine Eingabe vom 22. 11. 1904 an Bülow enthielt etwa Hinweise auf das Verhalten von Thierry, Horn, Puttkammer, Brandeis, Prinz Arenberg, Besser, Wegener, Kannenburg; so Aufzeichnung für Loebell 11. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 47 ff.
Vgl. auch: Prozessprotokoll 23. 4. 1909, in: BAB/L, R 43 945: 238 ff.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
293
Andere Skandale des Jahres 1906 beruhten auf der Verdichtung von Vorwürfen, die verschiedene Zeitungen und Abgeordnete schon längere Zeit vorbrachten. Das galt insbesondere für den Skandal um die Amtsführung des Kameruner
Gouverneurs Jesco von Puttkamer. Bereits im Kontext des Peters-Skandal hatte
das Berliner Tageblatt dem Gouverneur 1896 vorgeworfen, er sei ein Trinker,
tropenunfähig, neun Monate im Jahr auf Urlaub, verschuldet und für die pekuniäre Misswirtschaft und Abhängigkeit von Handelsfirmen verantwortlich.343
Der Staatsanwalt, der sofort gegen die Zeitung ermittelte, riet kurze Zeit später
dem Justizminister Zurückhaltung, da die Vorwürfe weitgehend berechtigt seien
und eine Klage „alle Ergebnisse der Voruntersuchung zur öffentlichen Kenntniß“ bringen würde.344 Um einen Skandal zu vermeiden, verzichtete die Regierung aber auch auf Puttkamers Absetzung. Als Neffe Bismarcks und Sohn eines
Innenministers war sein Spielraum besonders groß. Dafür folgten in regelmäßigen Abständen weitere Vorwürfe, wie im Jahr 1900 etwa durch die konservative süddeutsche Deutsche Reichs-Post. Da ihr Herausgeber, Friedrich Christian
Schrempf, zugleich Reichstagsabgeordneter war, begleitete er seine Pressekampagne gegen Puttkamers Misswirtschaft mit Vorwürfen im Reichstag, womit es
erneut zu einem Zusammenspiel von Presse und Politik in einer Person kam.345
Wiederum musste Puttkamer sich rechtfertigen, und schob die Schuld auf denunziatorische Berichte von Missionaren.346 Zudem suchte er in zahlreichen
Briefen und persönlichen Gesprächen den engen Kontakt mit dem Journalisten
Maximilian Harden, den er, wie einst Carl Peters, mit Material für dessen wohlwollende Artikel versorgte.347 Den Journalisten, die ihn beschuldigten, warf
Puttkamer dagegen seinerseits den Verkehr mit Prostituierten vor.348
Zudem trat bei diesem Skandal eine weitere Informationsquelle hinzu, die
bislang kaum eine Rolle gespielt hatte: Beschwerden, die afrikanische Stammeshäuptlinge einreichten. Nachdem „King Akwa“ sich bereits 1902 über Puttkamers Regierung beim Auswärtigen Amt beschwert hatte und mit vagen Vertröstungen beruhigt worden war, richtete er im September 1905 mit 27 Häuptlingen
eine Petition an den Reichstag und die Reichskanzlei. Neben Hinweisen auf exzessive Auspeitschungen, Enteignungen und ungerechtfertigte Urteile fand sich
etwa auch der Vorwurf, der Deutsche Oberrichter Meyer und Regierungsrat
von Brauchitsch hätten in Kamerun für je 650 Mark bereits verlobte Frauen ge343
344
345
346
347
348
Berliner Tageblatt Nr. 404, 10. 8. 1896.
Vgl. die gewandelte Einschätzung der Justiz von ihrer zunächst kämpferischen Haltung gegen
die Zeitung: Hohenlohe an Justizminister Schönstedt 19. 8. 1896, Bericht Staatsanwalt an
Schönstedt 11. 7. 1897, in: GStA, HA I 84a Nr. 49811.
RT 11. 03. 1901, X. Leg. Per., II. Sess., 1900/01, 65. Sitz., S. 1796; Deutsche Reichs-Post
Nr. 189–213, 15. 8. bis 12. 9. 1900.
Vgl. die Rechtfertigung 28. 8. 1901, in: BAB/L, R 1001: 7250: 33 ff.; Abschrift, 10. 1. 1901, geschickt von Schrempf an Kolonialdirektor Stuebel 11. 3. 1901, in: BAB/L, R 1001: 7249: 236.
Vgl. etwa Puttkamer an Harden o. D. (wohl März. 1906), 26. 4. 1906, 15. 6. 1906 u. 20. 6. 1906,
in: BAK, N 1062-83.
Bericht Puttkamer, 29. 3. 1906, in: BAB/L, N 2231-9:15 ff.
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294
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
kauft. Die Duala-Häuptlinge verlangten mit diesen Vorwürfen die Absetzung
von Puttkamer, der Richter und der Bezirksamtmänner.349 In dieser Konstellation stärkte die Veröffentlichung der Missstände die Position der Kameruner
vermutlich mehr als eine kriegerische Gegenwehr.
Die Skandale entstanden nicht allein aus diesen ganz unterschiedlich übermittelten Berichten. Sie entzündeten sich nahezu im gleichen Maße an der Reaktion
auf diese Vorwürfe. So ließ Gouverneur Puttkamer, als er zur Petition der
Häuptlinge Stellung beziehen sollte, kurzer Hand alle 27 Unterzeichner festnehmen und teilweise zu langen Haftstrafen verurteilen, da sie nicht den Dienstweg eingehalten hätten.350 Ähnlich reagierte die Reichsregierung auf die Vorwürfe, die der Beamte Poeplau überreichte. Sie ermittelte zunächst weniger gegen die Beschuldigten als gegen diejenigen, die die Beschuldigungen an die
Öffentlichkeit gebracht hatten. Gegen Poeplau leitete sie sofort ein Disziplinarverfahren ein und ließ seine Wohnung durchsuchen, wobei sie den Bürovorsteher Wistuba als Informationsübermittler ausmachte.351 Erst derartige Reaktionen führten zur öffentlichen Konfrontation mit den Zentrumspolitikern. Erzberger und Roeren drohten in Gesprächen mit der Reichskanzlei, das Zentrum
würde den Kolonien keine Etats mehr bewilligen, wenn die Regierung so mit
den Übermittlern umgehe.352 Roeren trat zuerst an die Öffentlichkeit. Bereits
Anfang 1905 brachte er einen „Klagebrief aus Togo“ in die Presse, dann verteidigte er in der Kolonialhaushaltsdebatte am 18. März 1905 im Reichstag die
Missionare gegen den Vorwurf, sie hätten tadellose Beamte beschuldigt.353 Auch
Erzbergers anklagende Reden in der Kolonialhaushaltsdebatte im März 1906
verurteilten weniger die Missstände als die Reaktionen der Kolonialabteilung,
die auf Anfragen stets mit unzureichenden Informationen geantwortet hätte.354
Wie bei vielen Skandalen stand mit Matthias Erzberger ein einzelner Ankläger im Mittelpunkt der Öffentlichkeit, obgleich sich 1906 zahlreiche Abgeordnete von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokratie bei der Skandalisierung engagierten. Die typische Duellstruktur der Skandale machte Erzberger zu einem
öffentlichen Star, der emotional polarisierte. Besonders von linksliberaler und
sozialdemokratischer Seite erhielt der Zentrumsmann hohe Anerkennung. So
lobte das auflagenstärkste deutsche Blatt, die Berliner Illustrirte Zeitung, Erz349
350
351
352
353
354
Das Anschreiben ist auch abgedr. in: Horst Gründer (Hrsg.), „... da und dort ein junges
Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 137 f. Zu den Duala-Protesten vgl. Walz, Die Entwicklung,
S. 121–141; Andreas Eckert, Die Duala und die Kolonialmächte. Eine Untersuchung zu Widerstand, Protest und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg, Münster
1991, S. 139–159.
Vgl. ebd.
Hohenlohe an Chef der Reichskanzlei 31. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 182 ff.
Loebell an Staatssekretär des AA u. a. 26. 9. 1905, in: BAB/L, R 43 945: 17 ff.; Aufzeichnung
Schnee 20. 9, in: BAB/L, R 43 945: 69 ff. Erzberger selbst wies diese Äußerung im Gespräch
mit Loebell später zurück.
RT 18. 03. 1905, XI. Leg. Per., I. Sess., 1903–05, 167. Sitzung, Bd. 203, S. 5390.
RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1975.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
295
Abb. 8: Der Zentrumspolitiker Erzberger in der Pose des
Enthüllungsjournalisten, der
die Missstände in der „Kolonialküche“ von Reichskanzler
Bülow und Landwirtschaftsminister Podbielski aufdeckt,
welche diese ignorieren. Das
„Küchenkabinett“ und die
Kolonien erscheinen als verschlossener Bereich, in den
Erzberger durch investigative
Beobachtung
einzudringen
vermag. Aus: Kladderadatsch
Nr. 33 19. 8. 1906, S. 482.
bergers „enorme Sachkenntnis, Witz und Schlagfertigkeit“ und druckte verschiedene Bildberichte über ihn, denn er sei „mit einem Schlage ein populärer
Mann geworden.“355 Ebenso beschrieb die Times ihn als besten Sprecher des
Reichstages, da er Humor, Aufrichtigkeit, Klarheit und Ausgewogenheit verbinde.356 Karikaturen zeigten Erzberger, wie er die Missstände in der „Kolonialküche“ aufdeckte (Abb. 8), wie er ein gemästetes Schwein namens Tippelskirch
schlachtete (was auf das gleichnamige Unternehmen mit seinen überteuerten
Lieferungen an die Kolonien verwies), oder nach der Wahl vom Bülow-BlockStier auf die Hörner genommen wurde.357 Selbst wenn Erzberger in einer abseitigen Stadt wie Lüdenscheid eine Rede mit bekannten Enthüllungen hielt, führte
dies zu zahlreichen Zeitungsmeldungen.358 Wie sehr Erzbergers Artikel die
Beamten der Reichsleitung beschäftigten, dokumentieren die bis zu zehn Text355
356
357
358
Zit. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 49, 9. 10. 1906 u. Nr. 34, 26. 8. 1906; vgl. auch ebd.
Nr. 31, 5. 8. 1906.
Times 10. 12. 1906, S. 6.
Kladderadatsch 8. 4. 1906 u. 19. 8. 1906 (Beiblatt); Simplicissimus 7. 1. 1907.
National Zeitung Nr. 396, 28. 6. 1906.
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296
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
markierungsstriche nebeneinander, die sie beim Lesen seiner Schriften neben die
Zeilen schrieben.359
Auch die Hamburger Kneipenbesucher sprachen vielfach über Erzberger und
lobten ihn überwiegend. So hieß es etwa laut einem Spitzelbericht: „Erzberger
ist ein Mann der mir gefällt. Er sucht alle Fehler aufzudecken und zu besprechen. Leider wird dieser Mann von seiner Partei verleugnet wie sogleich von
Schädler öffentlich getan wurde. Jede andere Partei würde stolz auf ihn sein.
Auf welche Weise er dies alles erfährt, wissen wir nicht, aber man darf wohl annehmen, daß er Gewährsmänner hat.“360 Auch nach der Reichstagsauflösung
glaubten Kneipengäste, das Zentrum würde allein seinetwegen keine Stimmen
verlieren.361 Die Schlüsselstellung, die Erzberger durch seine erfolgreich betriebene Skandalisierung gewann, zeigte sich aber ebenso in den harten Attacken
der politischen Rechten gegen seine Person. Die „Kreuzzeitung“ sprach etwa
vom „Fall Erzberger“, die Leipziger Neueste Nachrichten vom „fanatischen
Feldzug des Abg. Erzbergers“ und der Hamburger Courier schuf das Wort
„Erzbergereien“.362 Erzberger wurde dabei vorgehalten, die Techniken des
„Sensationsjournalismus“ in die Politik zu überführen. Auf seine Veröffentlichungen reagierte die Rechte und insbesondere der Flottenverein sogar mit der
Publikation „Die Lügen von Herrn Erzberger“.363 Auch diese Gegenreaktionen
belegen die Personalisierung bei Skandalen.
Wie kam es, dass unter den verschiedenen Enthüllern ausgerechnet Erzberger
diese Schlüsselrolle erhielt? Erzbergers souveräner Umgang mit der Öffentlichkeit lässt sich zunächst mit seiner journalistischen Berufserfahrung erklären.
Von 1895 bis 1903 war er Redakteur der Württembergischen Zentrumszeitung
Deutsches Volksblatt gewesen, und 1904/05 hatte er überwiegend für die auflagenstärkste Zeitung des politischen Katholizismus geschrieben, die Kölnische
Volkszeitung. Danach verfasste er zahllose Artikel für diverse, auch nicht-katholische Zeitungen wie Der Tag.364 Ähnlich wie bei vielen anderen deutschen
und englischen Skandalen wurden die Enthüllungen damit durch jemanden vorangetrieben, der an der Schnittstelle von Politik und Medien stand. Erzberger
hob in seinen anonym verfassten Artikeln auch sein eigenes Handeln hervor, um
seine Prominenz zu fördern. So schrieb er Ende 1905 über sich selbst: „Bekannt
ist der scharfe Kampf, den diesen Sommer über der Zentrumsabgeordnete
Erzberger gegen die Kolonialpolitik in der K. Vztg. [Kölnischen Volkszeitung]
359
360
361
362
363
364
Vgl. BAB/L, R 43 941: 70.
Polizeibericht Schutzmann Lücke 1. 12. 1906, in: StAH, S 3930-33; ähnlich auch: 18. 8. 1906, in:
StAH S 3930-33.
Polizeibericht Schutzmann Lücke 14. 12. 1906, in: StAH, S 3930-33. Kritische Stimmen zu
Erzberger in: ebd. 17. 12. 1906.
Neue Preussische Zeitung Nr. 332, 22. 7. 1906; Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 190,
12. 7. 1906; Hamburger Courier Nr. 341, 8. 7. 1906.
Epstein, Erzberger, S. 660.
Vgl. die Aufstellung von: Leitzbach, Erzberger, S. 16.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
297
führte, und der, wie angekündigt, im Reichstage eine Fortsetzung finden soll.“365
In seinen Reden und Artikeln verstand er es, anschauliche Beispiele aufzubringen, die zugleich detailliert recherchiert wirkten. Dank seiner Arbeit in der
Budgetkommission und seinen finanzpolitischen Artikel konnte er souverän
mit großen Zahlenkolonnen umgehen, die er in plastischen Bildern beschrieb.
So erklärte er etwa in Interviews die Konsequenzen der Monopolverträge anhand überzogener Socken- und Schuhpreise oder verdeutlichte die schlechte
Belieferung durch die Woermann-Linie mit dem Verfaulen von Kartoffeln auf
ihren nicht gelöschten Schiffen.366
Seine Vorwürfe brachte Erzberger nicht auf einmal vor, sondern in dosierten
Abständen, wodurch er den Zeitungen laufend neuen Stoff bot. Seine Vorankündigungen auf neue Enthüllungen sicherten bereits eine mediale Aufmerksamkeit. In einer abschließenden Buchpublikation bündelte er schließlich seine
gesamten skandalösen Kolonialenthüllungen, die 1906 anfielen, zu einer übersichtlichen Generalabrechnung.367 Die Untersuchungen und Beschlagnahmungen in seinem Büro gaben ihm zusätzlich eine herausgehobene Märtyrerrolle,
die er ebenfalls medial vermarktete. In Interviews und Artikeln mit Ich-Form
berichtete Erzberger hierüber und stellte dabei seine eigene Recherche-Arbeit
gegenüber den Beschuldigungen in den Vordergrund.368 Besondere Aufmerksamkeit erhielt er durch seine Parteizugehörigkeit. Als Zentrumsmann der politischen Mitte war er politisch anschlussfähiger als die Sozialdemokraten, zu denen die restliche Öffentlichkeit selbst bei berechtigten Anklagen Distanz hielt.
Da das Zentrum in der Kolonialpolitik nicht eindeutig positioniert war, hatte es
eine Schlüsselstellung bei der Annahme der Kolonialhaushalte, auch wenn Erzbergers Position innerparteilich umstritten war. Trotz des leichten Tadels, den
Erzberger vom Fraktionschef Peter Spahn wegen seiner Kolonialkritik im März
1906 erhielt, zeigte sich der Machtgewinn des Abgeordneten schnell: Bereits im
Mai 1906 brachte das Zentrum zusammen mit der SPD zwei Kolonialvorlagen
zu Fall.
Die zahlreichen Skandale, die Erzberger und andere Abgeordnete 1906 anstießen, verhandelten unterschiedliche Normen. Eine erste Gruppe von Skandalen ähnelte den Fällen der 1890er Jahre. Sie schufen erneut eine breite Empörung
über Kolonialbeamte, die Afrikaner körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht hatten. Damit warfen sie abermals die Frage auf, inwieweit gewaltsame
Strafen und sexueller Verkehr in den Kolonien zu tolerieren seien. Diese Fälle
brachten vor allem die sozialdemokratischen und freisinnigen Reichstagsabgeordneten in die Öffentlichkeit. So erinnerte Bebel an einen Fall, bei dem ein
Hauptmann auf eine Mutter und deren schreiendes Kind schoss, weil das Kind
365
366
367
368
Zit. nach: Leitzbach, Erzberger, S. 304 f.
Der Tag 15. 8. 1906.
Matthias Erzberger, Die Kolonial-Bilanz. Bilder aus der deutschen Kolonialpolitik auf
Grund der Verhandlungen des Reichstags im Sessionsabschnitt 1905/06, Berlin 1906.
Freisinnige Zeitung Nr. 327, 31. 7. 1906; Germania Nr. 256, 7. 11. 1906.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
ihn geweckt habe. Und der linksliberale Bruno Ablaß schilderte, wie der Togoer
Gouverneur Waldemar Horn bei einer Auspeitschung wegen Diebstahls teilnahm und den an einem Pfahl gebundenen Afrikaner danach in der Sonne sterben ließ.369 Ebenso monierte Ablaß im Reichstag die ausbleibende Bestrafung
eines Hauptmanns, der ein vor ihm geflohenes Kind der katholischen Mission
erschoss.370 Vor allem freisinnige und sozialdemokratische Abgeordnete brachten zudem neue Vorwürfe über sexuelle Normbrüche im Reichstag auf. So berichteten sie, hohe Beamte in Togo hätten verlobte Afrikanerinnen für sich gekauft, in Kamerun seien mit Steuergeldern Hütten zur Unterbringung von afrikanischen Konkubinen gebaut worden, und Puttkamer habe das unsittliche
Anfassen der Frau eines afrikanischen Übersetzers nicht bestraft.371 Vielfältigen
Spott löste die Enthüllung aus, dass Gouverneur Puttkamer eine deutsche Geliebte unter falschem Namen nach Kamerun geholt, als Cousine ausgegeben und
ihr bei ihrer Abreise eigenhändig einen Pass mit einen Decknamen gefälscht
hatte. „Cousin’chen“ wurde in dem allgemeinen Spott zum geflügelten Wort,
um eine Geliebte zu bezeichnen.372 Obwohl die Zentrumspolitiker um diese
sexuellen Missstände wussten, scheuten sie sich, sie zu benennen. Für die Sozialdemokraten war dies dagegen bereits ein eingeübtes Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen und mit einer derartigen Moralisierung des Politischen die Kolonialisten an einer besonders empfindlichen Stelle zu treffen.
Erst als die Vorwürfe bereits in der Presse kursierten, griffen auch Erzberger
und Roeren sie auf. Sie argumentierten hier allerdings stärker mit der ausbleibenden Bestrafung der Täter und der unzureichenden Reaktion der Kolonialabteilung.
Ähnlich wie in den 1890er Jahren lösten die Fälle eine breite Empörung aus.
Dies mochte auch daran liegen, dass die Vorwürfe weitgehend zutrafen und die
regierungsnahe Presse keine plausiblen Hinweise zur Widerlegung erhielt.373
Unter den wenigen Verteidigern der Vergehen fiel erneut Maximilian Harden
auf, der für Toleranz gegenüber den Sexualdelikten warb: Man solle „unsere
Kolonisatoren nicht an mönchischen Mustern messen“. „Die liebe Frau ist fern
und die Stillung menschenthierischer Lust hat mit wahrer Treue nichts zu thun.“
Denn dies sei doch auch bei den Berliner Parlamentariern üblich, so Harden in
der Zukunft.374 Einig war sich die restliche Presse mit Harden zumindest in
dem Punkt, dass Liebesaffären wie von Puttkamer privat seien und nicht zur
Debatte stehen dürften, die Urkundenfälschung für die Geliebte hingegen
369
370
371
372
373
374
Bebel RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1982. Ablaß RT
15. 12. 1905, S. 344–349 u. 19. 3. 1906, 70. Sitz., S. 2148.
Ablaß RT 15. 12. 1905, XI. Leg. Per., II. Sess., 1905/06, 13. Sitzung, S. 344–349; erneut hierzu
Erzberger RT 13. 3. 1906, IX. Leg. Per., IV. Sess., 1895–97, 59. Sitzung, Bd. 144, S. 1977.
Ablaß RT 19. 3. 1906, 70. Sitz., S. 2147; Ledebour RT 20. 3. 1906, 71. Sitz., S. 2159 f.
Vgl. Artikel wie: „Willst Du mein Kusinchen sein?“ Berliner Tageblatt Nr. 208, 25. 4. 1907;
„Mein ‚Cousinchen‘ bist Du!“ Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906.
Vgl. etwa: Aufzeichnung, überreicht Loebell 11. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 47 ff.
Zit. Harden, in: Die Zukunft 17. 3. 1906, S. 398 und 31. 3. 1906, S. 479.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
299
schon.375 Insgesamt zeugte dieser Tenor somit erneut von einer gewissen Toleranz gegenüber außerehelichen Beziehungen, solange diese nicht mit einem
Machtmissbrauch verbunden waren.376
Zudem verhandelten die Skandale 1906, und das war ein eher neuer Akzent,
administrative Inkompetenz, Vorteilsnahme und Korruption in den Kolonialverwaltungen. Damit wurden auch die ökonomischen und administrativen Normen
des Mutterlandes auf die Kolonien übertragen. Gerade hier profilierte sich Erzberger im Reichstag und in der Öffentlichkeit.377 Diese Vorwürfe bezogen sich
besonders auf die überteuerten Lieferungen der Firmen Woermann und Tippelskirch. Tippelskirch hatte 1903 einen achtjährigen Monopolvertrag über alle Lieferung der Kolonialtruppe erhalten, wodurch sich ihr Umsatz verfünffachte.378
Wie Erzberger vorrechnete, führte dies bei einigen Produkten zu überzogenen
Preisen, die bis zu 70 Prozent über den Marktpreisen lagen, zu schlechter Qualität und zur Nicht-Erfüllung von Verträgen.379 Zudem wurde vom Berliner Tageblatt aufgebracht, dass diese Firma von dem amtierenden Landwirtschaftsminister Victor von Podbielski gegründet worden war und ihm zur Hälfte gehörte,
auch wenn er seine Anteile im Jahr 1900 formell seiner Frau überschrieben hatte.380 Wie eine interne Bücherprüfung belegte, waren die Gewinne tatsächlich
trotz formell getrennter Konten an den Minister als stillen Teilhaber geflossen.381
Ähnlich wie in Großbritannien stand damit ein Minister in der Kritik, von unwirtschaftlichen kolonialpolitischen Entscheidungen zu profitieren.
Noch schwerwiegender als diese Vorteilsnahme des Ministers wog allerdings
der damit verbundene Korruptionsvorwurf. Bereits bei Woermann hatte Erzberger korrupte Strukturen mit kleineren Leistungen ausgemacht.382 Ein echter
kolonialer Korruptionsskandal kam dann Ende Juli gegenüber Tippelskirch &
Co. auf. Dabei gab abermals, wie bei den Sexualitätsskandalen, eine geschiedene
Frau mit Aussagen gegen ihren Ex-Mann einen wichtigen Anstoß.383 Ihr Hinweis führte zur Verhaftung und Anklage von Major Fischer von der Bekleidungskommission beim Oberkommando der Schutztruppe. Wie sich herausstellte,
war Fischer nicht nur ein Duzfreund von Tippelskirch und Podbielski, sondern
hatte von ihnen neben kleineren Waren und Geldgeschenken auch größere
Kredite bekommen, von denen er über 2 000 Mark nicht zurückbezahlte.384
375
376
377
378
379
380
381
382
383
384
Vgl. die Presseausschnitte in: BAB/L, R 8034 III/351.
Vgl. Kap. III.
RT 23./24. 3. 1906 11. Leg. Per. II. Sess. 1905/06, Bd. 3 (216), S. 2235–37 u. 2257–58.
Kempner an Dernburg 30. 10. 1906, in: BAB/L, R 43 944: 71.
Erzberger, Die Kolonial-Bilanz, S. 70.
Berliner Tageblatt Nr. 534, 19. 10. 1905 u. Nr. 543, 24. 10. 1905.
Gutachten Schunck 6. 9. 1906, in: BAB/L, N2106/72: 13 ff.; Gutachten 22. 10. 1906, in: BAB/L,
N2106/72.
Vgl. Erzbergers Korrespondenz mit dem Kolonialamt, bes. 19. 5. 1906, in: BAB/L, R 1001:
7249: 51: 99.
Am 5. 7. 1906 schrieb sie an Fischers Vorgesetzen. Abschrift an Bülow, 21. 8. 1906, in: BAB/L,
R 43: 943: 5-7.
Verfügung 13. 10. 1906, in: BAB/L, R 43: 943: 23 ff.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Rund 2 000 Mark kamen laut Tippelskirch auch von Minister Podbielski.385 Zudem bezeugte der Vorgesetzte von Fischer, genau dieser Beamte habe „beim Abschluß aller Verträge mit der Firma von Tippelskirch u. Co. mitgewirkt und hat
im August 1895 die Denkschrift bearbeitet, die die Grundlage für den Abschluß
der Verträge mit vorgenannter Firma bildete“.386 Gerade weil die deutsche Bürokratie das Ethos der Unbestechlichkeit pflegte und Korruptionsskandale bisher kaum vorkamen, sorgte auch dieser Vorwurf für besondere starke Entrüstung in der Öffentlichkeit.387 Das Berliner Tageblatt titelte unter Anspielung
auf den bisher größten Korruptionsskandal Westeuropas „Ein Panama?“ und
erinnerte, dass auch in Frankreich ein Privatunternehmen den Staat bestochen
habe.388 Dabei verfügte das Berliner Tageblatt abermals über Quellen aus Beamtenkreisen, auf die der konservative Rivale Berliner Lokal-Anzeiger mit
offiziösen Noten entlastend antwortete.389 Der Spott der liberalen und linken
Presse zeigte sich auch darin, dass sie die im Skandal Beschuldigten vorwiegend
mit Kosenamen ansprachen („Pod“, „Tippel“ oder „Jeskolein“).390 Wie die vielen empörten Ausrufezeichen der Presseausschnittssammlung der Reichsleitung
zeigen, rannte die Ministerialbürokratie den Enthüllungen der Abgeordneten
und Zeitungen verzweifelt nach.391
Auch in den Kneipen führte der Korruptionsfall um Tippelskirch, Podbielski
und Fischer zu besonders heftigen Diskussionen. Wie in England bewegte die
Stammtische vor allem die Verschwendung von Steuergeldern zulasten der Bevölkerung. So sagte ein Gast laut Spitzelbericht: „Da hat immer einer vom anderen genommen und dieser Major Fischer ist nur der dumme, der muß die ganze
Geschichte ausbaden, genommen haben sie alle. Dieser Firma Tippelskirch haben sie das Geld nur so in den Hals geworfen, und wenn man da ein paar tausend
Mark springen läßt, so hat das gar nichts zu bedeuten. Da kann man mal sehen,
wie mit den Staatsgeldern gewirtschaftet wird.“392 Ebenso große Empörung löste in den Kneipen aus, dass der Landwirtschaftsminister nicht sofort seinen Posten räumte. Dass er vorerst weiter im Amt blieb, sah ein Kneipengast zu Recht
als Strategie der Regierung, nicht die Macht der Öffentlichkeit einzugestehen.393
385
386
387
388
389
390
391
392
393
Aussage 6. 9. 1906, in: BAB/L, N2106/72: 22; vgl. auch Vernehmung Fischer 10. 9. 1906, ebd.
Oberstleutnant Quade/Vertreter des Oberkommandos der Schutztruppe an Reichskanzlei,
10. 8. 1906, in: BAB/L, R 43 944: 24 ff. Erwähnt wird der Fall in: Lermann, The Courtier,
S. 156 f., die allerdings zu Unrecht betont, die Beschuldigungen gegen Podbielski seien weitgehend ungerechtfertigt.
Berliner Morgenpost 20. 7. 1906; Berliner Tageblatt Nr. 382 u. 383, 30. 7. 1906.
Berliner Tageblatt Nr. 383, 30. 7. 1906.
Vgl. die entsprechende Beobachtung in: Freisinnige Zeitung 31. 7. 1906.
Vgl. etwa: Morgenpost Nr. 180, 4. 8. 1906; Freisinnige Zeitung Nr. 99, 26. 4. 1907; Vorwärts Nr. 58, 10. 3. 1906.
Vgl. BAB/L, R 43: 941: 38.
Polizeibericht Schutzmann Ziegler 7. 8. 1906, in: StAH, S 3930-35 Bd. 1; ähnlich: Polizeibericht
Schutzmann Lücke 18. 8. 1906, in: StAH, S 3930-33.
„Nun bleibt dieser ‚Pod.‘ doch noch in seinem Amte, dieser Schweinehund hätte gerne gehen
können und ich kann nicht begreifen wie so ein Gauner noch auf einen solchen Posten bleiben
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
301
Sowohl die deutsche als auch die britische Öffentlichkeit zog dabei wechselseitig Vergleiche zwischen dem etwa zeitgleichen „War Stores Scandal“ und dem
Tippelskirch/Woermann-Skandal. Während die Times Ähnlichkeiten sah, titelte
die BZ am Mittag erleichtert „Ein englisches Panama. Ein Kolonialskandal in
England.“394 Besonders für die Deutschen war das Empire weiterhin Vorbild,
Schreckbild und Entlastungsargument zugleich. Auch wenn rechte Zeitungen
immer noch betonten, in England seien die Skandale schlimmer, so akzeptierten
sie dies nicht mehr als Trost.395 Die wechselseitigen Beobachtungen zeigten sich
etwa darin, wie ausführlich die Times über eine Rede des Zentrumsführers Peter
Spahn berichtete, als dieser Großbritannien als Vorbild anführte, da dort die
Schuldigen bestraft und Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Fälle getroffen
würden, während in Deutschland keine ernsthafte Untersuchung erfolgte. Dies
würde daran liegen, so Spahn, dass in England Regierungen wechselten und die
Opposition dann die Akten sähe.396 Die Mitte/Linksparteien forderten zudem
unter Verweis auf die englische Skandalbewältigung eine unabhängige parlamentarische Untersuchungskommission, was der Direktor der Kolonialabteilung jedoch ablehnte, da es die Autorität der Regierung erschüttern würde.397
Während die Deutschen also England als Vorbild priesen, übernahm die englische Öffentlichkeit dies zugleich, um ihr eigenes Selbstwertgefühl gegenüber
dem kolonialen Nachkömmling Deutschland zu festigen.
Welche Folgen hatten diese zahlreichen Kolonialskandale, die im Jahr 1906
kulminierten? Insgesamt lässt sich feststellen, dass sie durchaus mehr Konsequenzen hatten als es Spahns Vergleich mit England andeutet. Im Bereich der
Kolonialwirtschaft führten sie nach den Korruptions- und Monopolvorwürfen
zur Kündigung der Verträge mit den Firmen Woermann und Tippelskirch. Bülow
erwies sich hier als treibende Kraft, der sich gegen Widerstände aus der Kolonialabteilung und der restlichen Reichsleitung durchsetzte.398 Zudem waren die personellen Folgen erheblich. Bereits vor 1906 führten die ersten Vorwürfe zu Untersuchungen der Reichskanzlei, die Entlassungen nach sich zogen. So verlor der
Gouverneur von Togo, Waldemar Horn, bereits 1905 seinen Posten. Ebenso
wurde im gleichen Jahr der Direktor der Kolonialabteilung, Stuebel, durch
Hohenlohe-Langenburg ersetzt, da ersterer mit der Bewältigung der Vorwürfe
394
395
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397
398
kann.“ Ein anderer Gast antwortete: „Sie wollen ihn bloß nicht gleich rausschmeißen, damit es
nicht aussieht, als wenn sie den Zeitungen einen Gefallen tun, denn im Amte kann er nach allem was vorgefallen ist nicht mehr bleiben.“ Polizeibericht Schutzmann Ziegler 22. 8. 1906, in:
StAH, S 3930-35 Bd. 1.
Vgl. Times 30. 8. 1906, S. 3, BZ am Mittag Nr. 186, 10. 8. 1906.
Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 210, 1. 8. 1906; Deutsches Blatt Nr. 66, 18. 8. 1906.
Times 30. 8. 1906, S. 3.
Dernburg an Bülow 12. 11. 1906, in: BAB/L, R 43 941: 242 f.; Denkschriften des AA und
Reichsjustizamts an Bülow, 7. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 185 ff.
Vgl. sein Drängen in: Bülow an Hohenlohe 21. 8. 1906, in: BAB/K, R 43 944: 23 ff.; ReichsJustizamt/Nieberding an Oberkommando der Schutztruppen 24. 10. 1906, in: R 43 944: 89;
Auflösungsvertrag 27. 11. 1906, in: R 43 944: 94. Der Vertrag wurde zum 31. 3. 1907 aufgelöst,
ab 1. 10. 1906 galten aber bereits andere Vertragspreise.
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302
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
überfordert schien. 1906 verstärkte die Regierung unter dem Eindruck der zahllosen Enthüllungen ihre Ermittlungen, die zu weiteren Absetzungen führten, bis
1907 selbst Gouverneur Jesco von Puttkamer zum Rücktritt gedrängt wurde,
wenn auch ohne Verurteilung und bei voller Pension.399 Erneut trieb vor allem
Reichskanzler Bülow die Untersuchung mit nachfragenden Briefen voran, während Kolonialdirektor Hohenlohe eine eher passive Rolle einnahm.400 Dass eine
schnelle Aufklärung nötig sei, machte Bülow selbst Wilhelm II. klar. Er richtete
nicht nur entsprechende Briefe an den Kaiser, sondern gab auch die Anweisung,
den Monarchen mit ausgewählten Zeitungsartikeln auf seinen Kurs zu bringen.401 Denn intern kam die Reichsleitung vielfach zu dem Schluss, dass die Vorwürfe von Erzberger und anderen durchaus zutrafen.402
Der spektakulärste Rücktritt infolge der Skandale war der des Staatssekretärs
und preußischen Landwirtschaftsministers Podbielski. Auch er wurde von
Bülow zum Abschied gedrängt, nachdem sich der Verdacht auf Vorteilsnahme
und Korruption erhärtet hatte. Allerdings konnte sich Podbielski zunächst noch
halten, da Wilhelm II. sich für dessen Verbleib stark machte.403 Bülow lancierte
daraufhin in der Presse die Meldung, Podbielskis Rücktritt stehe bevor, was
Podbielski wieder mit Gegenmeldungen konterkarierte.404 Wie sehr sich dieser
lancierte Rücktritt aus einem Wechselspiel von öffentlicher Meinung und offiziöser Pressebeeinflussung entwickelte, verdeutlicht ein Anschreiben des offiziösen Journalisten Eugen Zimmermann vom Berliner Lokal-Anzeiger:
Herr Scherl telegraphierte mir heute aus Tirol, daß ihm die Haltung des Blattes zu sehr
Podbielski-offizös ist. Diesen Eindruck teile auch ich seit einiger Zeit. Da die Sache sich
weiter zuspitzen wird und auch weil es im allgemeinen Interesse liegt, müßte ich jetzt
umschwenken. Hierzu fehlt mir eine Information über die Intentionen des Kanzlers, da
nämlich von der Seite Podbielski fortlaufend Nachrichten an uns gelangen, ich aber ohne
Direktiven bin [...].405
Kanzler, Minister und Journalisten suchten folglich im internen und öffentlichen
Austausch nach einer Lösung des Skandals. Zusammen mit dem Druck der
Öffentlichkeit und den restlichen Staatsministern setzte sich Bülow schließlich
gegen den Kaiser durch, und Podbielski verließ im November 1906 sein Amt.
Besonders der Ministersturz war ein klares Zeichen für die gewachsene Macht
der Medien und des Reichstags.
Eine weitere Konsequenz aus den Skandalen war die Neubesetzung der Spitze
der Kolonialabteilung. Da Hohenlohe während der Skandale keine Initiative ge399
400
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405
Vgl. BAB/L, R 43-945: 58 ff.; Dernburg an Bülow 21. 9. 1906, in: ebd. 67 f.; Bülow an Wilhelm II. 6. 7. 1908, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 32474.
Reichskanzlei an Hohenlohe 13. 8. 1906, in: R 43: 942: 58 f.
Bülow an Hammann 30. 6. 1906 u. 4. 7. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 30 u. 35.
Dernburg an Erzberger 12. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7250: 157.
Bülow an Hammann 5. 10. 1906, in: BAB/L, N2106/12: 20.
Loebell an Bülow 21. 8. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 142; Berliner Tageblatt Nr. 422, 21. 8. 1906.
Berliner Lokal-Anzeiger-Redakteur Eugen Zimmermann an Scheefer 2. 9. 1906, in: BAB/L, R
43: 941: 185
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
303
zeigt hatte und somit für ihr Aufkommen verantwortlich erschien, stieß auch hier
Kanzler Bülow Veränderungen an. Dass die Wahl auf Bernhard Dernburg fiel,
war geradezu spektakulär und zeigte Bülows Reformwillen nach den Skandalen.406 Bereits Dernburgs Biographie unterstrich einen Neuanfang. Als Bankier,
der in den USA gearbeitet hatte, stand er für eine Außenexpertise und wirtschaftspolitischen Sachverstand.407 Und als Sohn des amtierenden Feuilleton-Redakteurs
des Berliner Tagesblattes – also genau der Zeitung, die die aktivste Rolle bei allen
Kolonialskandalen gespielt hatte – hatte er keine Berührungsängste gegenüber
Journalisten. Dementsprechend leitete Dernburg sofort eine intensive Öffentlichkeitsarbeit ein. Schon gleich nach seinem Amtsantritt suchte er den engen Kontakt zur Presse.408 Ebenso beantragte er umgehend einen Fonds für Publikationen
des Kolonialamtes und plante, durch die Ernennung eines „Pressdezernenten“ in
der Kolonialabteilung die Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren.409 Mit Dernburg
wählte der Kanzler schließlich einen Liberalen aus einem jüdischen Elternhaus.
Dementsprechend sah sich Dernburg zunächst dem Spott von antisemitischen
konservativen Beamten ausgesetzt, die seine Wahl als eine Kapitulation vor der
„jüdischen Presse“ ansahen.410 Dernburgs Ernennung war jedoch ein Signal für
einen Neuanfang, das sich an die liberale Medienöffentlichkeit und an den bislang
kolonialkritischen Freisinn richtete, um dessen Unterstützung in der Kolonialpolitik zu sichern. Wie sehr Dernburg die neuen normativen Anforderungen an einen Politiker, die sich durch den Skandal um Podbielski ausgebildet hatten, bereits
bei seinem Amtsantritt akzeptierte, zeigte sich bereits darin, dass er seine 38 Aufsichtsratssitze niederlegte und seinen gesamten Aktienbesitz verkaufte.411
Tatsächlich leitete Dernburg nach seiner Ernennung sofort eine verstärkte
Untersuchung der Skandale und möglicher weiterer Missstände ein. Um der
Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu begegnen, sollten in der Kolonialabteilung drei richterliche Beamte die Vorwürfe zusätzlich prüfen.412 In Afrika wurden Zeugenaussagen gesammelt, die häufig die
kursierenden Beschuldigungen erhärteten.413 Auch in Berlin machte Dernburg
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413
Der Vorschlag stammte wohl von Loebell, wie er in seinen unveröffentlichten, 1930 abgeschlossenen Memoiren schreibt, in: BAK, N 1045-27-48.
Vgl. Werner Schiefel, Bernhard Dernburg 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im
wilhelminischen Deutschland, Zürich 1974.
Vgl. etwa mit dem Chefredakteur der Hamburger Nachrichten: 6. 11. 1906, in: BAB/L,
1001/7250: 154; Theodor Wolff an Dernburg 27. 11. 1906, in: BAB/L, 1001: 7253: 56.
Dernburg an Bülow 27. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 224; Hamburger Nachrichten
Nr. 671, 23. 9. 1906.
Aufzeichnung Holstein 29. 4. 1908, in: Geheimen Papiere Bd. 4, S. 472.
Schiefel, Dernburg, S. 38.
Dernburg an Bülow 14. 9. 1906, in: BAB/L, R 43: 941: 209, Protokoll der Sitzung 13. 9. 1906,
in: ebd.: 216 ff.
Vgl. etwa Kay Pitter aus Duala: „Ich habe eine Togofrau und habe auf Verlangen des H. v.
Brauchitsch, des Herrn Diehl und des Herr Drees ihnen Togofrauen zugeführt. Die drei Frauen haben mit der meinigen in dem Hofgebäude gewohnt“. Protokoll Duala 29. 9. 1906, in:
BAB/L, 1001/7252: 12.
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304
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Vorladungen, bei denen sich hohe Kolonialbeamte wie Gouverneur Puttkamer
einzeln rechtfertigen mussten.414 Um die öffentliche Debatte zu entschärfen, untersagte Dernburg zugleich den beschuldigten Kolonialbeamten, sich öffentlich
zu rechtfertigen.415 Bülow erhielt von Dernburg bereits bis zur Reichstagsdebatte Ende 1906 zahlreiche Berichte über Disziplinarverfahren, zudem entließ Dernburg verschiedene ältere Beamte.416 Die in der Presse vielfach benutzte Metapher,
Dernburg miste mit eisernem Besen aus, hatte insofern eine Berechtigung.417
Eine weitere Folge der Skandale war, dass es im Dezember 1906 nach einer
langen Reichstagsdebatte zur Ablehnung der Haushaltsmittel für Deutsch-Südwest kam und damit zur Auflösung des Reichstags und zu Neuwahlen. Diese
berühmte Reichstagsdebatte war in ganz Deutschland mit Spannung erwartet
worden. In zahlreichen Hamburger Kneipen sprachen die Arbeiter bereits vorher darüber, welche Enthüllungen diesmal aufgebracht würden. So sagte ein
Gast laut Protokoll: „Gespannt bin ich nur auf die Rede von August [Bebel].
Über die Kolonien hat er schon manches mal ordentlich losgedonnert. Dieses
Mal wird er es ihnen aber noch viel dicker [unter] die Nase reiben, denn August
hat es von Anfang an mit der Politik in den Kolonien gehabt. Daß nun die
Schweinereien da vorgekommen sind, aber ist ja erst recht Wasser auf der Mühle.“418 Im Reichstag war wegen der vorausgegangenen Kolonialskandale die Tribüne gefüllt, unter anderem saß dort der Kronprinz und machte sich Notizen.419
Reichskanzler Bülow hatte angesichts der erwarteten Bedeutung der Debatte
seine Rede Monate lang vorbereiten lassen.420 Alle genannten Vorwürfe wurden
seit August systematisch erfasst und mögliche neue skandalträchtige Enthüllungen durchgespielt.421 Bülow stilisierte sich in seiner Rede, nicht ganz zu unrecht, selbst als Aufdecker und Reformer, um gegenüber den Skandalisierern
nicht in die Defensive zu geraten.422 Um möglichen neuen Vorwürfen Erzbergers begegnen zu können, erfragte Dernburg drei Wochen vor der Debatte von
Erzberger eine „Liste derjenigen ‚Fälle‘, welche Ihres Erachtens noch der Untersuchung bedürfen“, und bot ein persönliches Treffen an, um mündlich über
seine Nachforschung zu berichten.423 Statt auf Konfrontation setzte die Regierung damit auf die Einbindung des Enthüllers. In der tagelangen Reichstagsdebatte erkannte Erzberger dann tatsächlich Dernburgs Bemühungen an.
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Kurzprotokoll: 6. 11. und 14. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7252: 22.
Aufzeichnung Guenther 16. 11. 1906, in BAB/L, R 43 945: 116.
Dernburg an Bülow 4. 10. 1907, in BAB/L, R 43 941: 317 ff.; Dernburg an Bülow Dez. 1906,
in: BAB/L, R 43: 941: 271 ff.
Vgl. etwa Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 52, 30. 12. 1906. Weitere Artikel mit dem Topoi
des „Ausmistens“ in: BAB/L, R 8034 II: 6343.
Polizeibericht Schutzmann Ramming, 1. 12. 1906, in: StAH, S 3930-29 Bd. 3.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 49, 9. 12. 1906.
Bülow an Hammann 25. 8. 1906, in: BAB/L, N2106/12.
Verfügung Rose 10. 8. 1906, in: BAB/L, R 1001- 7249: 118.
RT 4. 12. 1906, XI. Leg. Per., II. Sess., 1905/06, 133. Sitzung, Bd. 218, S. 4124 f.
Dernburg an Erzberger 12. 11. 1906, in: BAB/L, 1001/7250: 157.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
305
Zur Ablehnung des Haushaltes führte weniger die Empörung über das Massentöten in den Kolonialkriegen – wie bisher in der Literatur argumentiert – als
die gebündelte Empörung über die aufgezeigten Skandale von 1906.424 Erzberger sowie insbesondere Roeren und Bebel schilderten in der Reichstagsdebatte
Anfang Dezember 1906 erneut ausführlich grausame, korrupte und sexuelle
Normbrüche durch die Kolonialveraltung. Neben den bekannten Skandalstoffen berichtete Bebel etwa emotionalisierend, wie 52 Kinder getötet worden
seien.425 Beide Seiten setzten in der Debatte abermals auch visuelle Zeichen, um
Abgeordnete und Journalisten einzunehmen. Während Roeren einen Knüppel
aus der kolonialen Strafpraxis mit zum Rednerpult brachte, untermauerte Dernburg seine nüchterne Sachkenntnis durch aufgetürmte Akten, aus denen heraus
er seine neu aufgestellte positive Kolonialbilanz begründete.426 Gleichzeitig gelang es Dernburg, den Zentrumspolitiker Roeren mit dem skandalösen Makel
zu behaften, dieser habe mit seinen Enthüllungen die Reichsleitung zu erpressen
versucht, um den Willen des Zentrums durchzusetzen, was er mit Auszügen aus
internen Akten zu belegen versuchte.427 Der Ankläger Roeren und die Zentrumspartei wurden so selbst als unzuverlässige Elemente gebrandmarkt, die im
Einklang mit der SPD das Ansehen der Nation gefährdeten. Die bereits vorher
einkalkulierte Reichstagsauflösung war ein weiterer Schritt Bülows, um nach
dem Machtgewinn des Reichstags im Zuge der Skandale die eigene Autorität
wieder zu stärken.
Wie die folgende Wahl verdeutlichte, die unter der Bezeichnung „Hottentottenwahlen“ in die Geschichte einging, hatten die Skandale die moralische
Legitimität des Kolonialismus zum beherrschenden Thema gemacht. Die äußerst hohe Wahlbeteiligung belegte, wie sehr die Skandale die Politisierung der
Gesellschaft gefördert hatten. Beide Seiten begründeten im Wahlkampf ihre
Position mit emotionalisierenden Narrativen. So warf ein Wahlkampf-Flugblatt
der Rechten dem Zentrum und der SPD vor, aus Parteiegoismus nicht die
europäischen Siedler zu unterstützen, obgleich die Afrikaner „unsere Krieger
auf das scheußlichste mißhandelten, sie bei lebendigem Leibe verstümmelten.
Den Halbtoten das Genick umdrehten, weißen Frauen in viehischer Weise
Gewalt antaten und unschuldigen Kindern den Kopf an Türpfosten zerschmetterten.“428 Die Reichsleitung förderte diese Ausgrenzung des Zentrums aus dem
424
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426
427
428
Ohne Berücksichtigung der Skandale, sondern lediglich mit Verweis auf die Kolonialkrieg argumentiert etwa: Winfried Becker, Kulturkampf als Vorwand: Die Kolonialwahlen von
1907 und das Problem der Parlamentarisierung des Reiches, in: Historisches Jahrbuch 106
(1986), S. 59–84.
Vgl. bes. RT 3./4. 12. 1906, Sten. Ber., 132. Sitzung, S. 4089.
RT 3./4. 12. 1906, Bd. 132. Sitzung, S. 4089. Zu Dernburgs Akten: Kölnische Zeitung
Nr. 1294, 4. 12. 1906.
Inwieweit dies zutraf, ist nicht klar zu ermitteln, da Roeren die Richtigkeit des Gesprächsprotokolls bestritt; Hinweise auch in: Schiefel, Dernburg, S. 52 f.
Zit. nach: Frank Mergenthal, „Ohne Püffe und Knüffe geht es da nicht ab“. Die „Hottentottenwahlen“ 1907 im Regierungsbezirk Düsseldorf, Siegburg 1995, S. 183.
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306
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Kreis der national zuverlässigen Parteien, indem das Staatsministerium offiziell
die Beamtenschaft anweisen ließ, „die Kolonialpolitik zur Wahlparole zu machen“ und sich dabei gegen die SPD, je nach regionaler Konstellation aber auch
gegen das Zentrum zu richten.429 Ähnlich argumentierte Bülows Wahlbrief.430
Die Überbringer der schlechten Nachrichten wurden damit für deren Konsequenzen verantwortlich gemacht. Dass sich der „Bülow-Block“ aus Konservativen und Liberalen gegenüber dem Zentrum behaupten konnte, lag sicherlich
nicht zuletzt daran, dass nicht nur der Freisinn, sondern auch Bülow selbst nach
den Skandalen für Reformen eingetreten war. Dass die Sozialdemokraten hingegen zahlreiche Sitze verloren, war vornehmlich dem Wahlsystem und den Wahlabsprachen geschuldet.431 Dennoch hatte der Wahlkampf einen Stimmungsumschwung eingeleitet, der mit imperialer Euphorie einen kolonialen Neubeginn
einforderte.
Die Reichstagsauflösung und der Wahlkampf hatten so den Charakter eines
Reinigungsrituals. Die Bedeutung des neuen Kolonialstaatssekretärs Dernburg
war dabei kaum zu überschätzen. Er erschien im nationalen Lager schon unmittelbar nach der Reichstagsdebatte wie eine Erlösergestalt, auf die sich alle
Hoffnungen richteten. Unmittelbar nach seiner Rede gegen den Zentrumspolitiker Roeren erhielt er hunderte Telegramme und Briefe von Stammtischen, Vereinen, Journalisten und Einzelpersonen aus der Bevölkerung, die ihn mit oft
antikatholischem Unterton priesen. Neben Gedichten, Büchern oder Bildern
bekam Dernburg zahllose Interview-Anfragen, Einladungen zu Ferienurlauben
in Hotels, die Bitte eines Hamburger Zigarren-Hersteller, seine Zigarren nach
ihm benennen zu dürfen, und ein Verlag bat, Ansichtskarten mit seinem Bild
verkaufen zu dürfen. Auch eher antisemitische Massenvereine beglückwünschten ihn jetzt euphorisch.432
Dernburg setzte zugleich seine intensive Öffentlichkeitsarbeit fort, um nach
den Skandalen dem Kolonialamt den Nimbus der Misswirtschaft zu nehmen
und für den Kolonialismus insgesamt zu werben. Um das Image der Kolonien
zu verbessern, wurde bereits im Mai 1907 eine Kolonialausstellung eröffnet, bei
der „Afrikanische Schönheiten“ (so die Berliner Illustrirte Zeitung) und Kriegsspiele zu sehen waren.433 Dernburgs umfassende Medienpräsenz reichte von
Interviews bis zum Titelfoto auf der Berliner Illustrirte Zeitung, mit der Unterschrift „Der erste Mann der neuen Ära: Bernhard Dernburg, der neue Leiter des
Kolonialamtes.“434 Ebenso reiste er mit Reden durch das Land, die für die
429
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431
432
433
434
Staatsministerium 17. 12. 1906, in: GStA, Rep 90 Bd. 153.
Erklärung Bülow in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung 3. 1. 1907.
Absolut gewann die SPD über 200 000 Stimmen dazu, durch die höhere Wahlbeteiligung sank
ihr prozentualer Anteil aber von 31,7 Prozent auf 28,7.
Vgl. die zahllosen Zuschriften in: BAK, N 1130-12, 13 und 14.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 21, 26. 5. 1907. Zur Ausstellung vgl. Ulrich van der
Heyden, Die Kolonial- und die Transvaal-Ausstellung 1896/97, in: ders. und Joachim
Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 135–142.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 37, 16. 9. 1906.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
307
Kolonien warben und damit die Seiten der lokalen Generalanzeiger füllten.435
Im Juli 1907 fuhr Dernburg nicht nur medienwirksam persönlich nach Afrika,
um sich ein eigenes Bild über die dortigen Zustände zu machen, sondern er
nahm auf seine Reise neben Wirtschaftsvertretern auch sieben Journalisten und
einen Fotografen mit. In Afrika setzte sich Dernburg für die mitreisenden Journalisten vielfältig in Szene, was die Medialisierung der Kolonialpolitik durch die
Skandale unterstrich.436
Diese Öffentlichkeitsarbeit ging 1907 mit einer Ausgrenzung derjenigen einher, die die Missstände aufgedeckt hatten. Die Beamten, die die Vorwürfe an die
Abgeordneten weitergeleitet hatten, erhielten zur Abschreckung Haftstrafen
wegen Verletzung des sogenannten „Arnim-Paragraphen“, der die Veröffentlichung von Amtsgeheimnissen im Auswärtigen Amt bestrafte.437 Die Regierung
versuchte zudem die beteiligten Zentrumsabgeordneten weiter zu diskreditieren. So leitete die Reichskanzlei interne Gesprächsaufzeichnungen über ihre
Treffen mit Erzberger an die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung weiter,
um ihn als erpresserischen Verteidiger von querulantischen Beamten darzustellen.438 Erzberger wies diese Beschuldigung zwar zurück, geriet aber im Reichstag und in der breiteren Öffentlichkeit deutlich in die Defensive, da sich nun
auch die linksliberale Presse gegen ihn stellte.439 Ebenso versuchte Dernburg,
gegen die publizistische Aktivität von Erzberger zu klagen. Er bat den Reichskanzler um die Genehmigung, gegen Blätter einzuschreiten, die die Schutztruppen schlecht machten, und verwies besonders auf ein kleines Blatt aus Erzbergers Heimatort Biberach, in dem dieser entsprechende Artikel veröffentlichte.
Die Reichskanzlei bestätigte dies mit den Worten: „Es würde endlich auch von
politischer Bedeutung sein, wenn eine Verurteilung – namentlich des Abg. Erzberger – erfolgte.“440 Ebenso strebte der Justizminister ein Disziplinarverfahren
gegen den Zentrumsabgeordneten Roeren wegen Beleidigung und Eingriff in
ein schwebendes Disziplinarverfahren an.441 Auch wenn die Immunität die Abgeordneten schützte, förderten derartige Kampagnen doch einen gewissen Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Die rechten, aber auch die liberalen
Medien griffen dies begierig auf und sprachen vom „Fall Roeren“ und vom
„skandalösen öffentlichen Vorbringens von Skandalaffären“.442 Auch ein libe435
436
437
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439
440
441
442
Vgl. etwa Münchner Neueste Nachrichten Nr. 14, 9. 1. 1907 u. Nr. 20, 12. 1. 1907. Zahlreiche Artikel zu den Vorträgen in: BAB/L, R 8034 II. 6342
Als Buchform erschienen die Berichte von: Adolf Zimmermann, Mit Dernburg nach Ostafrika, Berlin 1908. Die Zeitungen warben sogar mit diesen Reiseberichten; vgl. die Anzeige „Mit
Dernburg in Ost-Afrika“ Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 34, 1907.
Zum Prozess gegen Poeplau vgl. Berliner Tageblatt 5. 6. 1907.
Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 41, 17. 2. 1907.
Vgl. im Reichstag die Debatte: Erzberger RT Sten. Ber. 10 Sitzung 5. 3. 1907, S. 244, Loebell, ebd.,
S. 247 ff. Kritische Zeitungsausschnitte (wie Berliner Tageblatt 3. 3. 1907) in: BAK, N 1045:16.
Dernburg an Bülow, 20. 12. 1906, in: BAB/K, R 43/798: 30ff; Guenther an Dernburg 7. 12. 1907,
in: RA, R 43/798: 36.
Loebell 19. 12. 1906, in BAB/K, R 43 945: 156.
Vgl. Deutsche Tageszeitung Nr. 571, 6. 12. 1906; Deutsche Zeitung Nr. 288, 9. 12. 1906.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
rales Blatt wie die Münchner Neuesten Nachrichten verurteilte die neue „üble
Sitte“, „geheime amtliche Dokumente, die nur durch Vertrauensbruch auf die
Schreibtische der Redakteure fliegen konnten, zu veröffentlichen.“443 Wie bei
vielen Skandalen erschien nun die Offenlegung der Missstände als eigentlicher
Skandal.
Man wird den Folgen der Kolonialskandale dennoch nicht gerecht, wenn man
sie auf diese Gegenkampagnen reduziert. Moralisch legitimierbar war die Kolonialeuphorie nur durch den Vorsatz, einen kolonialpolitischen Neuanfang einzuleiten. Tatsächlich führten die Skandale zu einer Reformphase, die über die
bereits skizzierten Entlassungen und Wirtschaftsreformen hinausreichten. Insgesamt gesehen kam es seit 1907 zu einer kolonialen Reformära unter Ausschluss
des Zentrums, obwohl gerade diese Partei die Reformen gefordert hatte.444
Strukturell schlug sich dieser Neuanfang in der Gründung eines eigenständigen
Kolonialamtes nieder, das direkt dem Reichskanzler (und nicht mehr dem Auswärtigen Amt) unterstellt war.445 Ebenso förderte Dernburg die Einrichtung
eines an das Reich angelehnten Pressegesetzes in den Kolonien.446 Zudem bemühte sich die Kolonialverwaltung erneut um die Eindämmung der grausamen
Bestrafung in den Kolonien. So regte Dernburg 1907 unter ausdrücklichem
Verweis auf die Kritik im Reichstag eine Modifikation der Prügelstrafe an und
regelte in einer Verfügung vom Juli 1907 die körperliche Züchtigung.447 Körperlichen Strafen musste nun ein Prozess vorausgehen, ihre Durchführung war
zu protokollieren und das Verlaufsprotokoll war dem Gouverneur vorzulegen.
Die koloniale Rechtsprechung wurde dadurch professionalisiert, dass seit 1908
die Anwärter für das Kolonialrichteramt im Reich eine theoretische Ausbildung
erhielten. Für eine bessere Ausbildung künftiger Kolonialbeamter sollte die
Gründung des Hamburger Kolonialinstituts sorgen, an dem diese zumindest
eine einjährige Ausbildung erhielten.448
Großbritannien diente bei diesen Reformen teilweise als Vorbild. Besonders
Dernburg bemühte sich um Anregungen aus dem britischen Empire. So schickte er bei der Reform des Strafsystems Legationsrat von Jacobs 1907 im amtlichen Auftrag nach London und Paris, um Erkundigungen über das dortige
„Eingeborenenrecht“ einzuholen.449 Dernburg selbst reiste 1907 und 1908 in
die britischen Kolonien in Ost- und Südafrika, um von den dortigen Erfah443
444
445
446
447
448
449
Münchner Neueste Nachrichten Nr. 489, 19. 10. 1906.
Vgl. zu dieser Zäsur, die in der Literatur vielfältig betont wird, etwa: Henderson, German
Colonial Empire, S. 98; Gründer, Geschichte, S. 241 f.
Vgl. die Selbstdarstellung in: Reichs-Anzeiger Nr. 119, 18. 5. 1907, in: BAK, R 1001-5629.
Entwurf in Schreiben Gouverneur Deutsch-Ostafrika 16. 10. 1906, in: BAB/L, R1001-469623.
Schröder, Prügelstrafe, S. 87 f.
Vgl. Thomas Kopp, Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts, in: Voigt und
Sack, Kolonisierung, S. 71–94, S. 75; Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte,
Stuttgart 2005, S. 49.
Harald Sippel, Typische Ausprägungen, S. 354.
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6. Die Kulmination der Kolonialskandale 1906
309
rungen zu lernen. Vor seiner Reise ins britische Südafrika 1908, wo er sich immerhin sechs Wochen aufhielt, machte er in London einen einwöchigen Zwischenstopp, um unter anderem mit Kolonialminister Crewe, Handelminister
Churchill und König Edward VII. über die britischen Kolonien zu sprechen.
Zumindest punktuell lassen sich direkte Übernahmen englischer Verwaltungstechniken ausmachen, wie bei der Einrichtung einer zentralen „Beschaffungsstelle für die Schutzgebiete“, die den Wettbewerb verschärfen sollte.450
Inwieweit die Reformeuphorie nach den Skandalen allerdings im kolonialen
Alltag griff, ist schwer zu beurteilen, zumal sich die Praktiken, Rechte und Normen in den einzelnen Kolonien deutlich unterschieden. In Kamerun bemühte sich
anscheinend Puttkamers Nachfolger, Gouverneur Theodor Seitz, trotz militärischer Auseinandersetzungen und fortgesetzter Ausbeutung der Einheimischen
die alltägliche Gewalt einzugrenzen und die Afrikaner an der Verwaltung zu beteiligen.451 In Deutsch-Südwestafrika folgte dagegen den Kolonialkriegen eine
drastische Eingrenzung der Eingeborenenrechte.452 Die statistisch erfassten Prügelstrafen stiegen in den folgenden Jahren ebenso wie die Verurteilungen.453 Auch
wenn die Todesurteile dafür sanken, kam es nicht andeutungsweise zu einer rechtlichen Gleichbehandlung mit den Europäern. Dass weitere vergleichbare Skandale und Aufstände jedoch nach 1907 in den deutschen Kolonien ausblieben, wurde
in der Öffentlichkeit auf eine insgesamt humanere Praxis zurückgeführt.454
Wie ambivalent die Folgen der Skandale sein konnten, zeigten besonders die
Skandale, die die sexuellen Beziehungen zwischen Kolonialisten und Afrikanerinnen offen gelegt hatten. Wie in den 1890er Jahre führten sie zu einer öffentlichen Debatte über die Zulässigkeit von Konkubinaten und „Mischehen.“ Um
zumindest den besonders anstößigen sexuellen Verkehr mit Mädchen unter 14
Jahren einzudämmen, verbot ein Erlass der Kolonialabteilung 1907 die „Aufnahme unerwachsener weiblicher Eingeborener“ in den Hausstand von unverheirateten Beamten.455 Neben dem erneuten Vorschlag, deutsche Frauen nach Afrika
zu verschiffen, wurde die Einrichtung von Bordellen mit weißen Prostituierten
angeregt, um auch Geschlechtskrankheiten zu kontrollieren.456 Ab 1905/06
nahmen Verordnungen zu, die Ehen zwischen Deutschen und Afrikanern in einzelnen Kolonien untersagten und mit Sanktionen belegten. Obgleich ihre Zahl
450
451
452
453
454
455
456
Schiefel, Dernburg, S. 73 f. u. 198.
So Hausen, Kamerun, S. 252–255.
Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 45–63;
vgl. etwa die Verordnung Deutsch-Südwestafrika 18. 8. 1907, abgedr. in: Gründer (Hrsg.), „...
da und dort ein junges Deutschland gründen“, S. 154 f.
Walz, Entwicklung, S. 201; Hausen, Kamerun, S. 173, Helmuth Stoecker (Hrsg.), Drang
nach Afrika. Die deutsche Expansionspolitik und Herrschaft in Afrika von den Anfängen bis
zum Verlust der Kolonien, Berlin 1991 (2. überarb. Aufl.).
Berliner Tageblatt Nr. 424, 22. 8. 1910.
Erbar, „Ein Platz an der Sonne“, S. 261.
Letztere Hinweise für 1908 in: Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 222.
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310
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
verschwindend gering war, diskutierte auch der Reichstag ein entsprechendes
Verbot, das schließlich 1912 am Zentrum scheiterte.457 Obwohl sich diese Diskussion aus der stark rassistischen Rechtsauffassung und den Kriegen in den
deutschen Kolonien erklärte, hatten doch die Skandale erneut die Vorstellung
verbreitet, die Deutschen würden zahllose sexuelle Beziehungen zu Afrikanerinnen unterhalten und deshalb „verwildern“, weshalb entsprechende Gesetze
notwendig seien. Die Skandale förderten insofern eben nicht nur eine koloniale
Liberalisierung, sondern zugleich auch eine rassistische Verschärfung.
Im Vergleich zu den Kolonialskandalen der 1890er Jahre lässt sich weniger
eindeutig ausmachen, inwieweit die Skandale von 1906 die Vorstellungen über
die Kolonialisten und die afrikanischen Einheimischen verschoben. Die entworfenen Zuschreibungen waren vielmehr oft gegenläufig. Auffällig war jedoch,
dass die Stereotype des grausamen und des gequälten Afrikaners um das Bild
des kultivierten „Negers“ ergänzt wurden, für das der Kameruner Prinz Akwa
stand. Der Kameruner Misswirtschaft unter Gouverneur Puttkamer wurden
Berichte über Akwa gegenüber gestellt, der in Deutschland das Anliegen der
Afrikaner vertrat. Akwa, der in Deutschland erzogen worden war und in katholischen Adelskreisen verkehrte, wurde in der Massenpresse wie ein kultivierter
Gelehrter mit Anzug und Büchern präsentiert; „er kleidet sich elegant und führt
eine anregende Konversation“, schrieb etwa der eher konservative Berliner
Lokal-Anzeiger.458 Freilich war diese Form der Konversion umstritten. Maximilian Harden sprach von „Destillen-Akwa“ und spottete, Akwa sehe aus „wie
jeder andere im Faulenzen fett gewordene Negerlümmel“.459 Die Ambivalenz
der kursierenden Afrikabilder zeigte besonders der Bildhaushalt der Berliner
Illustrirten Zeitung von 1906/07. Neben zahlreichen Fotos von deutschen Kolonialisten bei der Jagd und „südwestafrikanischen Schönheiten“460 erschienen
auch Bilder von abgemagerten gefangenen Hereros und gefolterten Bewohnern
der belgischen Kongo-Republik.461 Die Kolonialskandale hatten zu einer Polarisierung der öffentlichen Deutungen geführt, und das Berliner Massenblatt versuchte diese gleichzeitig zu bedienen.
7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
Eine ähnliche Lesart wie für die Kolonialskandale bietet sich an, um die berühmte Zabern-Affäre zu interpretieren, die sich 1913 aus dem „Reichsland“
Elsaß-Lothringen heraus zu einem zentralen Skandal des Kaiserreiches ent-
457
458
459
460
461
Vgl. Wildenthal, German Women, S. 98 f. u. 107; Essner, Zwischen Vernunft, S. 503–519.
Berliner Lokal-Anzeiger 25. 3. 1906; ähnlich: Frankfurt Zeitung Nr. 64, 6. 3. 1906.
Harden, Puttkamer, Die Zukunft 31. 3. 1906, S. 473–482, ebd. 16. 6. 1906, S. 396.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 30, 29. 6. 1906; Nr. 5, 3. 2. 1907; Nr. 9, 3. 3. 1907; Nr. 47,
24. 11. 1907.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 4, 27. 1. 1907 u. Nr. 21, 26. 5. 1907.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
311
wickelte. Zumindest verhandelte auch dieser Skandal die Verhaltensgrenzen für
deutsche Beamte und Militärs in einem annektierten Gebiet. Machtmissbrauch,
Gewaltwillkür und die Verletzung der Ehre gegenüber den Einheimischen gaben ebenfalls den Anstoß für eine breite öffentliche Empörung. Die Interaktion
zwischen der peripheren Öffentlichkeit im elsässischen Zabern und der reichsweiten Öffentlichkeit bildete eine weitere Parallele. Und auch hier überführte
der Skandal eine Gewalttat fern von Berlin in eine grundsätzliche gesellschaftliche Debatte, wobei er insbesondere die Stellung der Zivilverwaltung gegenüber dem Militär verhandelte.
Natürlich war Elsaß-Lothringen keine Kolonie. Die Diskriminierung der
Elsässer entsprach nicht dem Rassismus gegenüber Afrikanern, und die Selbstlegitimierung der deutschen Besatzer betonte gerade die aus dem Mittelalter
stammenden deutschen Wurzeln des Landes. Allerdings war Elsaß-Lothringen,
nachdem es 1871 gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit aus strategischen,
ökonomischen und nationalistischen Gründen annektiert worden war, auch
kein normaler Bundesstaat, sondern als „Reichsland“ unmittelbar dem Kaiser
unterstellt. Seit 1879 verwaltete es ein vom Kaiser ernannter Statthalter wie eine
„Kronkolonie“ (W. J. Mommsen), unter Mitwirkung eines nicht gewählten und
kaum für die Bevölkerung repräsentativen „Landesausschusses“.462 Erst 1902
wurde der „Diktaturparagraph“ aufgehoben, der der Zivilverwaltung Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und eine Pressezensur ermöglichte. 1911 bekam
Elsaß-Lothringen zwar endlich eine Verfassung, wurde aber weiterhin von
einem vom Kaiser ernannten Statthalter geleitet und erhielt neben einer gewählten Kammer eine weitere Kammer, in der Honoratioren und vom Kaiser ausgesuchten Persönlichkeiten. Die nun zulässigen Wahlen verstärkten die Politisierung und parteipolitische Formierung der Gesellschaft, zumal die vollen Rechte
eines Bundesstaates verwehrt blieben. Insofern waren Spannungen nicht allein
durch die Annexion selbst, sondern auch durch die politische Praxis zwischen
der einheimischen Bevölkerung und den deutschen Beamten und Militärs vorprogrammiert. Kolonial geprägt war auch die Wahrnehmung der zugewanderten
Beamten, die vielfach koloniale Begriffe wie „Eingeborene“ benutzten. Dagegen
reagierte die Bevölkerung auf die „Fremdherrschaft“ mit vielfachem symbolischem Protest und einer Trennung der Lebenswelten im Alltag.463
Diese Spannungen entluden sich in der Zabern-Affäre, die neben dem Eulenburg-Skandal und der Daily-Telegraph-Affäre sicherlich der bis heute bekannteste Skandal des Kaiserreiches ist.464 An ihm lässt sich die Interaktion
462
463
464
Mommsen, Bürgerstolz, S. 395.
Zu diesem kolonialen Blick und dessen Grenzen vgl.: Günter Riederer: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004, bes. S. 410–414 u. 424 f.
Der Ereignisablauf des Skandals braucht deshalb nicht erneut breit ausgeführt werden, da ihn
selbst Überblicksdarstellungen skizzieren; vgl. etwa: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3,
S. 1125–1129; Mommsen, Bürgerstolz, S. 440–445; Volker Ullrich, Als der Thron ins
Wanken kam. Das Ende des Hohenzollernreiches 1890–1918, Bremen 1993, S. 65–85; Stöber,
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312
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
zwischen Medien und Politik als auch die Aushandlung der Grenzen militärischer Machtausübung ausmachen. Ausgelöst wurde der Skandal durch die
Presse. Am 6. November 1913 berichteten zwei elsässische Zeitungen, Leutnant
Günter Freiherr von Forstner vom dortigen Infanterie-Regiment hätte in einer
Instruktionsstunde seinen Rekruten gesagt: „Wenn Du einen ‚Elsässer-Wackes‘
zusammenschießt, erhältst Du keine 2 Monate, für jeden Dreckswackes den Du
mir bringst, erhältst Du 10 M.“465 Die Zeitungsredaktion hatte dies von drei
Rekruten erfahren. Die sozialdemokratische Freie Presse für Elsaß-Lothringen
titelte schon einen Tag nach den ersten Berichten ironisch „Schießt die ‚Wackes‘
zusammen“.466 Die offiziell ermittelte Version des Ausspruches, die der Statthalter in seiner Untersuchung ausmachte, war allerdings nicht minder diskreditierend, auch wenn sich der Leutnant angeblich nur auf Notwehr bezogen hatte
(„Wenn Sie aber angegriffen werden, dann machen Sie von Ihrer Waffe Gebrauch. Wenn Sie dabei so einen Wackes niederstechen, dann bekommen Sie
von mir noch 10 M.“).467 Der Statthalter setzte sich beim Militär vergeblich für
die Versetzung des Leutnants ein, so dass dieser nach nur wenigen Tagen Hausarrest wieder die Stadt betrat, begleitet von einer Eskorte. Menschenmengen
folgten und verspotteten ihn. Die Empörung und Protestversammlungen gegen
die Offiziere, die die Zeitungsmeldungen auslösten, beantwortete das Militär
mit harten und willkürlichen Maßnahmen, die weitere empörte Zeitungsberichte und Unruhen in der Bevölkerung nach sich zogen. So hieb Leutnant von
Forstner mit seinem Säbel auf einen halbgelähmten 19jährigen Schuster ein, der
in einer weglaufenden Gruppe übrig blieb. Zahlreiche Verhaftungen erfolgten
wegen Gelächter und Versammlungen. Auf einen spöttischen Zuruf von Jugendlichen hin ließ der örtliche Regimentskommandeur Oberst von Reuter recht
willkürlich Personen festnehmen und über Nacht in einen Kohlenkeller bringen. Zu den wahllos Festgenommenen zählten ein Landgerichtsrat, ein Staatsanwalt, ein Rechtsanwalt und ein Redakteur.468 Zudem durchsuchten seine
465
466
467
468
Pressepolitik, S. 174–179. Eine aktenfundierte ausführliche Darstellung bietet: David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982. Den Ereignisablauf schildert erneut ohne Archivquellen, mit einer einleitenden Schuldzuweisung an die
„Junker“: Richard W. Mackey: The Zabern Affair, 1913–1914, Lanham 1991. Aus preußischkonservativer Sicht über den „Einzelfall“ bereits: Erwin Schenk, Der Fall Zabern, Stuttgart
1927. Die Affäre führte frühzeitig zu politisch kontroversen Interpretationen des Kaiserreiches, die etwa die hier manifestierte Dominanz des Militärs betonte: Hans-Ulrich Wehler,
Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfassungskrise des Wilhelminischen Deutschlands, in:
Die Welt als Geschichte 23 (1963), S. 27–46; vom Hauptargument ähnlich, aber aus marxistischer Perspektive: Kurt Stenkewitz, Gegen Bajonett und Dividende. Die politische Krise in
Deutschland am Vorabend des ersten Weltkrieges, Berlin (Ost) 1960, S. 125–140.
Die Artikel aus der zentrumsnahen „Elsässer Presse“ und dem liberalen „Zaberner Anzeiger“ vom 6. 11. 1913, die in den meisten Darstellungen falsch zitiert werden, finden sich in:
BAB/L, R 43-170.
Sozialdemokratische Freie Presse 7. 11. 1913; vgl. Presseausschnitte in: BAB/L, R 43-170.
Bericht Wedel an Bethmann 16. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170.
Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
313
Truppen Zeitungsredaktionen. Auch der in der Presse übermittelte Ausspruch
des Leutnants, sie könnten „auf die französische Fahne scheißen“, verstärkte die
Empörung in Elsaß-Lothringen und innerhalb weniger Tage auch im gesamten
Reich. Der Zusammenhang zwischen den lokalen Verhaltensweisen, den Medienberichten und den kollektiven Emotionen ist somit unübersehbar.
Die Presse übertrug diese Empörung aus dem Elsaß weltweit. Nachdem französische Zeitungen wie Le Matin hierüber berichtet hatten, gingen die Meldungen über die Nachrichtenagentur WTB in die Presse des Kaiserreiches und
die internationalen Zeitungen.469 Der Stellenwert der Ereignisse war den Journalisten zunächst noch unklar. Das gut informierte Berliner Tageblatt übernahm
anfangs nur eine kurze Meldung aus der Straßburger Post, und selbst der Vorwärts startete seine ersten Berichte erst fünf Tage später mit einer knappen Meldung, die auf dem offiziösen Wolff’schen Telegraphenbureau beruhte.470 Das
Berliner Tageblatt sandte dennoch einen Tag nach den ersten Artikeln einen
eigenen Korrespondenten nach Zabern, der über das geringe Vertrauen in die
offiziösen Meldungen berichtete, aber eine Beruhigung annahm.471 Erst in den
folgenden Tagen, mit der Eskalation der Gewalt, entwickelte sich Zabern zu
einem Medienereignis, das über Wochen die ersten Seiten mit Berichten über die
„Militärdiktatur“ füllte, wegen der es überall zu einer „leidenschaftlichen Erregung“ komme. Abermals sorgte die Verhandlung des Skandals im Reichstag dafür, dass auch die medial vermittelten Emotionen besonders intensiv wurden
und der Skandal seinen Zenit in der Medienöffentlichkeit erreichte. Insbesondere der Vorwärts dramatisierte die Ereignisse als „Anfang der Revolution von
oben“, die ins Altreich übergreifen werde: „Was gestern in Zabern möglich war,
soll morgen im Ruhrgebiet und übermorgen in Berlin möglich sein: dass konfliktlüsterne Kriegsknechte mit souveräner Handbewegung die Zivilbehörden
beiseite schieben und ein schrankenloses Säbelregiment errichten.“472 Von den
Medien verlagerte sich die Empörung auch auf die Straße. So organisierte die
SPD allein am 7. Dezember 1913 17 Protestversammlungen, bei denen nach
eigenen Angaben 50 000 Leute kamen, weitere sollten folgen.473 Ebenso hielten
zahlreiche liberale Vereinigungen im Land Versammlungen ab und veröffentlichten Protestnoten.474
Nachdem die reichsweite Bedeutung des Skandals deutlich wurde, reisten
zahlreiche Journalisten nach Zabern, um eigene Eindrücke zu übermitteln. Dabei zeigte sich, welches kritisches Potential das Aufkommen von Korrespon469
470
471
472
473
474
Die ersten Meldungen der Times bauen etwa auf dem WTB auf; Times 11. 11. 1913, S. 7; vgl.
Schoenbaum, Zabern, S. 99 u. 113.
Die ersten Meldungen dieser Zeitungen waren: Berliner Tageblatt 10. 11. 1913, S. 3; Vorwärts 11. 11. 1913, S. 2.
Berliner Tageblatt 11. 11. 1913, S. 3.
Vorwärts Nr. 323, 8. 12. 1913, S. 1.
Ebd. Der Aufruf im Vorwärts hatte die Titelüberschrift: „Massen heraus! Auf zum Protest
gegen die Säbelherrschaft! Nieder mit der Militärdiktatur!“ ; ebd., 7. 12. 1913.
Berliner Tageblatt Nr. 617, 5. 12. 1913, S. 2 u. Nr. 619, 6. 12. 1913, S. 2.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
dentenreportagen besaß. So gab der Korrespondent der nationalliberalen National-Zeitung Impressionen über eine verängstigte Stadt und Soldaten, die mit
aufgepflanzten Bajonetten durch die Straße zögen.475 Der Korrespondent des
Vorwärts verfasste eine Reportage, die bereits die Anfahrt als einen Weg in ein
Kriegsgebiet schilderte, während er Zabern selbst als „Kriegsschauplatz“ bezeichnete.476 Sogar der Korrespondent der offiziösen Nachrichtenagentur WTB
berichtete explizit über das willkürliche Eindringen der Soldaten in Wohnungen
unter Eintreten von Türen.477 Auch wenn der WTB-Korrespondent bei anderen Berichten die Offiziere eher in Schutz nahm,478 zeigte dies, dass die Journalisten vor Ort nicht einfach parteipolitischen Richtlinien folgten. Während nationalliberale Abgeordnete das Verhalten des Militärs verteidigten, eröffneten die
Berichte ihres Parteiorgans andere Deutungen. Die Wirkungsmacht der Presse
wurde in dem Skandal nicht nur von der Linken und der Mitte hoch eingeschätzt, die deren aufklärende Rolle hervorhoben, sondern auch von der Rechten. Staatsführung, Militär und Justiz beschuldigten die Zeitungen, die Massen
durch aufgeblähte Halbwahrheiten erregt zu haben. Kaiser Wilhelm II. machte
„zu 75%“ die Presse verantwortlich, ebenso entschuldigte das Gericht das Verhalten der Offiziere mit den „Hetzereien in der Presse“, und General Falkenhayn sprach im Reichstag von „hetzerischen Preßorganen“, was einen empörten
Tumult auslöste.479 Allen Deutungen von links bis rechts war damit gemein,
dass sie den Zeitungen eine entscheidende politische Macht zuschrieben.
Der Skandal verhandelte mehrere Konflikte. Zunächst war er eine Auseinandersetzung über das Ansehen der Einheimischen des „Reichslandes“ in den Augen der Deutschen. Dieser kulturelle Konflikt verdichtete sich in dem Begriff
„Wackes“, mit dem der Leutnant die Elsässer beschimpft hatte, weshalb die Berliner Zeitungen auch häufig von der „Wackes-Affäre“ sprachen.480 Wie auch der
Statthalter dem Reichskanzler erklärte, war das Wort „Wackes“ ein unter
Rekruten gebräuchlicher Spottbegriff für Elsässer, der eigentlich „Vagabund“
und „Nichtnutz“ bedeutete.481 Seine Verwendung war zwar in der Armee untersagt482, aber wie die Presse feststellte, war dieses Wort in den letzten Jahrzehnten
„hunderttausendmal“ gefallen. Die lokalen Zeitungen und die internen Ermittlungen des Statthalters vermerkten sogar, dass sich Elsässer Rekruten mit den
475
476
477
478
479
480
481
482
National-Zeitung o. D. in: BAB/L, R 43-170.
Vorwärts 4. 12. 1913, S. 2; 1. 12. 1913.
Bericht WTB 29. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
So erklärte das WTB dem Statthalter zufolge die Festnahme eines Schumachers durch Leutnant
Forstner, weil er sich auf ihn gestürzt „habe“, während Forstner selbst nur aussagte, dieser
„wollte“ sich auf ihn stürzen; Wedel an Bethmann 2. 12. 1913, in: BAB/L, R 43-170.
RT 181. Sitzung, 3. 12. 1913, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6158; Urteil Kriegsgerichtsrat
10. 1. 1914, in: BAB/L R43-172; Der Hinweis auf Wilhelm II. in: Schoenbaum, Zabern,
S. 121.
Vgl. etwa Vorwärts 29. 11. 1913 u. 12. 12. 1913.
Bericht Wedel an Bethmann 16. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170.
RT 3. 12. 1913, 181. Sitz, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6140.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
315
Worten „ich bin ein Wackes“ bei besagtem Leutnant melden mussten.483 Damit
handelte es sich um einen klassischen Begriff des „Othering“, der eine Bevölkerungsgruppe abwertete, um die eigene Dominanz herauszustellen. Diese verbale
Herabsetzung erleichterte und legitimierte zugleich den Einsatz einer maßlosen
Gewaltrhetorik und -praxis, was erneut an die Kolonialskandale erinnerte, auch
wenn die Repression im Elsaß keine Todesopfer forderte.
Im Skandal wurde mit der Zulässigkeit des Begriffes „Wackes“ der Status der
Elsässer austariert. So riefen die protestierenden Elsässer „wir sind keine
Wackes“ und beschimpften die deutschen Soldaten ebenfalls; angeblich etwa
mit Worten wie „Dreckschweine, dreckige Hunde, Sauschwaben, Schwobesäckel“.484 Angesichts der Unruhen setzte sich sogar der Statthalter von ElsaßLothringen beim Reichskanzler und dann auch beim Kaiser dafür ein, den Begriff „Wackes“ in allen Garnisonen zu verbieten.485 Zahlreiche Konservative
sahen dies jedoch anders. Kriegsminister Falkenhayn sprach sich dagegen aus,
weil dann nur neue Schimpfwörter aufkommen würden.486 Dass die Elsässer im
Reich mit kolonialer Herrenattitüde abgewertet wurden, machten selbst nach
Ausbruch des Skandals zahlreiche Äußerungen deutlich. Der nationalliberale
Abgeordnete Röchling bezeichnete die Elsässer als „Eingeborene“487, und der
Berliner Polizeipräsident verlangte mehr öffentliche Unterstützung „gegenüber
dieser Wackesbevölkerung, der ich lieblose Behandlung wünsche“.488 Vermutlich ein indiskreter Telegrafenbeamter veröffentlichte den Kommentar des
Kronprinzen, der den beschuldigten Oberst Reuter mit einem „immer feste
druff“ zum gewaltsamen Vorgehen gegen die „Unverschämtheit des Zaberner
Plebs“ und die „Eingeborenen“ ermunterte.489 Gerade diese brachiale Abwertung aus dem Mund des Thronfolgers, die an seinen Vater erinnerte, schürte die
Empörung weiter. Als im Elsaß kurze Zeit später ein betrunkener Oberveterinär die Einheimischen mit „Wackes“ beschimpfte und grundlos auf die Gäste
einschlug, ließen sich die Journalisten von Berichten hierüber nur mit dem Versprechen abhalten, dass die Garnison verlegt würde.490 Die massiven Proteste
der Elsässer im Zuge des Skandals machten somit deutlich, dass sie weder eine
verbale noch eine körperliche Herabsetzung durch die Deutschen hinzunehmen
bereit waren.
483
484
485
486
487
488
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490
Bericht Wedel an Bethmann 23. 11. 1913, in: BAB/L, R 43-170.
Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat 13. 1. 1914, in: BAB/L, R43-172.
Wedel an Bethmann 23. 11. 1913, in: BAB/L R 43-170 u. Wedel an Wilhelm II 7. 12. 1913, in:
BAB/L, R43-171.
Falkenhayn an Bethmann 2. 12. 1913, in: BAB/L, R 43-170. Zu Falkenhayns Positionierung in
dem Skandal vgl. Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im
Kaiserreich, München 1994, S. 115–125, hier S. 120.
Preußisches Abgeordnetenhaus, 2. Sitzung, 13. 1. 1914, S. 116.
Polizeipräsident Berlin an Wahnschaffe (Unterstaatssekretär Reichskanzlei) 2. 12. 1913, in:
BAB/L, R43-170.
Valentini an Bethmann 29. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171.
Krieger an Wedel 6. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171.
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IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Der Skandal verhandelte jedoch nicht nur das Ansehen der Elsässer, sondern
zugleich das Ansehen des Militärs und die Frage, mit welchen Mitteln es seine
Ehre verteidigen dürfe. Bereits in den Jahrzehnten zuvor war es zu mehreren
kleinen Skandalen gekommen, weil Offiziere auf angebliche Ehrverletzungen
mit brutaler Gewalt reagierten hatten; etwa 1896, als ein Offizier mit seinem
Säbel einen Schlosser erstach, weil der in einem Gasthof seinen Stuhl angestoßen
und sich nicht adäquat entschuldigt hatte; oder 1903, als ein angetrunkener
Soldat einen Unteroffizier auf der Straße nicht grüßte und daraufhin bei seiner
Festnahme erstochen wurde.491 Skandale entstanden aber auch durch die Verabschiedung von Offizieren, die sich wegen geringfügiger Ehrverletzungen nicht
duellieren wollten, wobei die Kriegsminister ihren Ausschluss tolerierten.492
Willkürliche Gewalt von Offizieren thematisierten zudem Veröffentlichungen
über Misshandlungen von Soldaten, wie sie auch die SPD kurz vor der ZabernAffäre im Reichstag vorbrachte.493 Dass gerade in den Kasernen in ElsaßLothringen die Offiziere keineswegs nach einem strengen Ehrenkodex lebten,
hatte bereits 1904 ein Skandal gezeigt, den ein kaum verschlüsselter Roman des
Leutnant Oswald Fritz Bilse über seine Grenzgarnison in Lothringen auslöste.
Er beschrieb die dortigen Schikanen, Misshandlungen, und Duelle sowie Günstlingswirtschaft, Prostitution, Ehebruch, Alkoholismus, Schulden und Desertionen.494 Prozess und Beschlagnahmung machten das Buch berühmt, demaskierten die beschriebenen Soldaten und führten zur Verabschiedung von sechs
Offizieren. Da das Buch in Frankreich sofort eine Auflage von über 100 000 erreichte, dürfte es gerade im französischen Grenzgebiet die Vorstellungen über
das zügellose Verhalten deutscher Offiziere in Elsaß-Lothringen und damit
auch die Wahrnehmung der Zabern-Affäre geprägt haben.
Der Zabern-Skandal zeigte mehrfach, dass die Soldaten völlig überzogen auf
Beleidigungen reagierten. Dass ein paar Schüler etwa dem umstrittenen Leutnant Forstner ein Schimpfwort nachriefen („Bettschisser“), beantwortete dieser
mit willkürlichen Verhaftungen.495 Auf andere Zurufe reagierte er per Säbelhieb. Das dort stationierte Militär unterstrich zudem verbal seine maßlose Gewaltbereitschaft bei Ehrverletzungen. So entgegnete der dortige Oberst einem
Kreisdirektor, der vermitteln wollte, „er betrachte es im Gegenteil als ein Glück,
wenn jetzt Blut fließe“ und er werde scharf schießen lassen, wenn die Menge,
die die Offiziere beleidige, auf dem Platz stehen bleibe.496 Wie der Skandal
491
492
493
494
495
496
Germania Nr. 239, 26. 1. 1896; Bringmann, Reichstag, S. 254 f. Zum Krosigk-Prozess Vorwärts Nr. 1, 1. 1. 1903.
Vgl. Frankfurter Zeitung Nr. 99, 28. 4. 1912.
RT, XIII. Leg.per., I. Sess., 144. Sitz., 19. 4. 1913, Bd. 28, S. 4932.
Das Buch erschien unter einem Pseudonym: Fritz von der Kyrburg, Aus einer kleinen
Garnison. Ein militärisches Zeitbild, Braunschweig 1903; vgl. Hardtwig Stein, Der BilseSkandal von 1903. Zu Bild und Zerrbild des preußischen Leutnants im späten Kaiserreich, in:
Karl Christian Führer et al. (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 259–278.
Telegramm Wedel an Bethmann 29. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
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zeigte, erschien dieser Ehrbegriff jedoch weiten Teilen der Öffentlichkeit anachronistisch. Die maßlosen Reaktionen erinnerten an das Verhalten in den deutschen Kolonien, wo ebenfalls wegen kleiner Anlässe mit größter Härte reagiert
worden war, um die Autorität zu sichern. Und ähnlich wie dort hatte dies einen
gegenteiligen Effekt, da es zu Aufständen oder zumindest zu einem Ansehensverlust der Deutschen führte. Mit dem in Straßburg stationierten General
Berthold von Deimling trat dabei in der Zabern-Affäre sogar ein Offizier hervor, der bereits 1904 bei der Niederschlagung der Aufstände in Deutsch-Südwest beteiligt gewesen war.
Das Kriegsministerium, die konservativen Abgeordneten und auch der Reichskanzler versuchten dennoch diesen Ehrbegriff zu verteidigen. „Der Rock des
Königs muß unter allen Umständen respektiert werden“, formulierte Reichskanzler Bethmann unzweideutig, selbst wenn die Maßnahmen den rechtlichen
Rahmen überschritten hätten.497 Bestärkt wurde dieser Freibrief, der den Schutz
der soldatischen Ehre gewähren sollte, durch die Justiz. In den späteren Prozessen gegen die Beteiligten verteidigten die Richter das Verhalten der Soldaten damit, dass sie sich wegen der Angriffe auf ihre Ehre „in einer Art Notstand“ befunden hätte, der ihr Eingreifen berechtigt erscheinen lasse.498 Damit wurde wie
bei den Kolonialskandalen deutlich, wie weit die Normen der öffentlichen Meinung und der staatlichen Instanzen divergierten. Nicht nur das Militär verlor so
an Ansehen, sondern auch jene staatlichen Repräsentanten, die die gewaltsame
Wahrung der Ehre verteidigten.
Ein weiterer zentraler Konflikt, der in diesem Skandal ausgetragen wurde,
war das Machtverhältnis zwischen Militär und Zivilverwaltung. In Zabern hatte
sich die Armee polizeiliche Kompetenzen angemaßt, die ihr nicht zustanden.
Das galt insbesondere für die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Legitimiert wurde dies als Notwehr, mit dem angeblichen Versagen der zivilen Behörden oder mit dem Argument, die Truppen stünden im „Feindesland“, wie es der
Berliner Polizeipräsident in einem Beitrag zur „Kreuzzeitung“ rechtfertigte.499
Dagegen war sich die katholische, die liberale und die sozialdemokratische Presse einig, dass das Militär nicht einfach die zivile Gewalt an sich reißen dürfe.500
Zahlreiche Zeitungen prangerten die „Säbelherrschaft“ in Deutschland an. Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblattes, fragte etwa: „Leben wir in
einer südamerikanischen Republik, wo jeder Oberst den Gerichtsbehörden das
Gesetz diktieren darf, und hängen Leben und Freiheit der Bürger von den Ent497
498
499
500
RT 181. Sitzung, 3. 12. 1913, Bd. 291, S. 6157. Preußisches Abgeordnetenhaus, 2. Sitzung,
13. 1. 1914, S. 116.
Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat 10. 1. 1914 u. (zit.) 13. 1. 1914, in: BAB/L, R43172.
Vgl. als Belege etwa: General Deimling/Chef des Generalstab XV. Armeekorps an Oberst
Scheuch 2. 12. 1913; Bericht Wedel 30. 12. 1913, Wedel an Bethmann 2. 12. 1913; Polizeipräsident Berlin an Wahnschaffe (Unterstaatssekretär Reichskanzlei) 2. 12. 1913, alle in: BAB/L,
R43-170.
Vgl. die Kommentare der Frankfurter Zeitung, Vorwärts u. a. Anfang Dezember 1905.
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318
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
schlüssen einer Kasinogesellschaft ab?“501 In der Zabern-Affäre flammte damit
jene Empörung über die Amtsanmaßung von Uniformenträgern auf, die wenige
Jahre zuvor bei der Farce um den „Hauptmann von Köpenick“ noch harmlosen
Spott ausgelöst hatte. Bei beiden Skandalen zeigte die Empörung mit ihren
Schuldzuweisungen, dass der Militarismus im Kaiserreich nicht die Gesellschaft
dominierte, sondern hochgradig umstritten war.502
Auch im Reichstag kam es seit Anfang Dezember 1913 zu zahlreichen Auseinandersetzungen über die Zabern-Affäre, bei denen das Verhältnis von Militär, Zivilverwaltung und Verfassung im Mittelpunkt standen. Wiederum fragten
Vertreter des katholischen, sozialdemokratischen und liberalen Milieus, ob eine
Diktatur des Militärs bevorstehe. Wie der Zentrumsabgeordnete Erzberger
spottete, könne das Militär nach dieser Logik selbst den Reichskanzler und die
gesamten Ministerien der Wilhelmstraße verhaften, wenn es seine Ehre durch
eine unliebsame Reichstagsrede gefährdet sehe.503 Wie wenig die Ansichten der
Reichsleitung der öffentlichen Meinung entsprachen, zeigte schließlich das Mißbilligungsvotum des Reichstages, das dem Kanzler mit 293 gegen 54 Stimmen
das Misstrauen aussprach.504 Nur die Konservativen stützten Bethmann noch.
Damit hatte der Skandal auch im Reichstag verdeutlicht, dass die konservative
Verteidigung der militärischen Härte keine Mehrheitsfähigkeit besaß. Auch
wenn man das Votum keinesfalls mit der Bedeutung der Nationalversammlung
von 1789 vergleichen kann,505 eröffnete der Skandal mit dieser Abstimmung
einen Schritt zur Parlamentarisierung, indem sie die vom Kaiser eingesetzte
Reichsleitung öffentlich demütigte.
Die Zivilbehörden im Elsaß, wie der Statthalter, der Kreisdirektor und der
Bürgermeister, verdeutlichten in ihren Berichten an den Kanzler ebenfalls, dass
das Militär seine Zuständigkeit massiv überschritten hatte.506 Der Statthalter
Graf von Wedel bat sogar dringend um ein Gespräch mit dem Kaiser, „da die
von mir eingeleitete Untersuchung in Zabern so schwere Excesse und derartige
Ungesetzlichkeiten des Oberst von Reuter festgestellt hat, dass ich eine Remedur für unbedingt geboten erachte.“507 Der Staatssekretär des Ministeriums für
Elsaß-Lothringen, Freiherr Zorn von Bulach, untermauerte diesen Standpunkt
sogar öffentlich in einem Interview mit der Berliner Morgenpost, und sprach
501
502
503
504
505
506
507
Berliner Tageblatt Nr. 609, 1. 12. 1913, S. 1.
Dass der Spott über den „Hauptmann von Köpenick“ die Grenzen des Militarismus zeigte,
betont auch: Benjamin Ziemann, Der „Hauptmann von Köpenick“ – Symbol für den Sozialmilitarismus im wilhelminischen Deutschland?, in: Vilém Precan (Hrsg.), Grenzüberschreitungen oder der Vermittler Bedrich Loewenstein, Prag 1999, S. 252–264; zum Köpenick-Fall
vgl. bereits ausführlich: Müller, Auf der Suche.
RT 11. 12. 1913, 187. Sitzung, XIII. Leg-per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6361.
1912 hatte der Reichstag Anträge formell erlaubt, die einem Minister explizit das Misstrauen
aussprachen. Vgl. Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 188 f.
So jedoch die überspitzte Deutung von Mackey, Zabern, S. 230.
Bericht Kreisdirektor 28. 11. 1913, Bürgermeister Knöffler an RK Bethmann 29. 11. 1913, alle
in: BAB/L, R43-170, in: BAB/L, R43-170.
Abschrift in Wedel an Reichskanzler 30. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
319
von einer „ungesetzlichen“ Überschreitung.508 Bemerkenswerterweise kamen
zumindest intern auch das preußische Justizministerium und die Reichsleitung
zu dem Fazit, dass das Militär tatsächlich seine Kompetenzen übertreten habe.
Sowohl der Reichskanzler als auch die Mehrheit des Staatsministeriums vertraten diese Interpretation.509 Allerdings beschlossen sie, das auf keinen Fall öffentlich zuzugeben, da dies „politisch gefährlich“ sei.510 Auch Reichskanzler
Bethmann stellte sich daher im Reichstag entgegen seiner Überzeugungen nicht
auf die Seite der Zivilverwaltung, obgleich er das Verhalten des Leutnants tadelte.511 Zugeständnisse sollten insbesondere deshalb nicht gemacht werden, weil
dies als Beeinflussung der Heeresführung durch die Öffentlichkeit und den
Reichstag hätte gesehen werden könnte.
Kaiser Wilhelm II. förderte in diesem Konflikt zwischen Armee und Verwaltung zunächst die kompromisslose Verteidigung des Militärs mit entsprechenden
Weisungen an die Reichsleitung. Die Bitte seines Statthalters, ihm einen persönlichen Bericht zu erstatten, lehnte er zunächst ab und ließ sich stattdessen von
der Generalität informieren.512 Dann stilisierte er sich als Schlichter im Streit
zwischen Militär und Zivilverwaltung, indem er ihre Vertreter nach Donauesching einlud, wo er sich zur Jagd aufhielt.513 Tatsächlich gelang es hier, einen
gewissen Kompromiss zu erringen: Die Garnison von Zabern sollte bis auf weiteres auf einen Truppenübungsplatz verlegt und die Kriegsgerichtsverfahren beschleunigt werden, Leutnant Forstner in ein anderes Regiment kommen und
Oberst von Reuter nach Abschluss des kriegsgerichtlichen Verfahren seinen
Abschied nehmen.514 Damit zeigte sich ein typisches Verhalten, das bei den
deutschen Skandalen immer wieder auftrat: Während aus Angst vor Autoritätsverlusten in öffentlichen Äußerungen unbeirrt an der Rechtmäßigkeit des administrativen und militärischen Handelns festgehalten wurde, kam es zumindest
intern zu Reformbemühungen, die die Öffentlichkeit beruhigen sollten. Dadurch, dass Teile dieses Kompromisses in der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurden, erschien der Kaiser als der maßgebliche
Löser des Konfliktes.515
Dieses Wechselspiel zwischen öffentlicher Kompromisslosigkeit und internen
Reformen wird auch erkennbar, wenn man abschließend die Folgen des Skandals
betrachtet. Zunächst spricht tatsächlich einiges dafür, dass die Zabern-Affäre vor
508
509
510
511
512
513
514
515
BZ am Mittag 6. 12. 1913, ausführlich in Berliner Morgenpost 7. 12. 1913.
Staatssekr. Reichjustizamt an Bethmann 10. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171, sowie Denkschrift
RKA ebd.
So selbst noch: Protokoll Staatsministerium 18. 3. 1914 in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3620.
Bethmann 3. 12. 1913, 181. Sitz, XIII. Leg.per, 1. Sess., Bd. 291, S. 6157.
Vgl. die Abschrift seiner Antwort in Wedel an Reichskanzler 30. 11. 1913, in: BAB/L, R43-170.
Zur Haltung von Wilhelm II. vgl. auch: Mommsen, War der Kaiser, S. 205 f.
Wilhelm II. an Bethmann 4. 12. 1913, in: BAB/L, R43-170.
Scheüch an Wahnschaffe 6. 12. 1913, in: BAB/L, R43-171; Bethmann an Reichskanzlei
5. 12. 1913, in: BAB/L, R43-170.
Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 287, 6. 12. 1913.
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320
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
allem ein Sieg des Militärs war, wie bereits oft hervorgehoben wurde.516 Dies
zeigte sich vor allem mit Blick auf die personellen Konsequenzen des Skandals:
Während Kriegsminister Falkenhayn seinen Posten behielt, wurde der Statthalter Graf von Wedel, der auf das Fehlverhalten des Militärs aufmerksam gemacht
hatte, durch den konservativen Johann von Dallwitz ersetzt. Ebenso musste
Staatssekretär Zorn von Bulach seinen Posten räumen, der per Interview auf die
Missstände aufmerksam gemacht hatte. Für einen Sieg des Militärs sprach auch
der Ausgang der Prozesse gegen die Offiziere. Leutnant Forstner, angeklagt wegen „Körperverletzung begangen unter rechtswidrigem Gebrauch der Dienstwaffe“, wurde im Berufungsverfahren ebenso freigesprochen wie Oberst Reuter,
der wegen „unbefugter Ausübung eines öffentlichen Amtes, Freiheitsberaubung,
Nötigung und Mißbrauch der Dienstgewalt“ angeklagt war.517 Gerade diese Urteile hatten eine hohe symbolische Qualität in der gespalteten Öffentlichkeit. So
zog die liberale Frankfurter Zeitung hieraus den Schluss: „In der Auseinandersetzung zwischen Militärgewalt und Zivilgewalt hat das Kriegsgericht das Recht
der unbeschränkten Herrschaft der ersten gegenüber dem Bürgertum statuiert.“518 Auch die rechte Presse sah die Urteile, im positiven Sinne, als grundsätzliche Festschreibung, dass „die Armee in Deutschland ein Organ der öffentlichen
Gewalt, eine Obrigkeit ist, die das Schwert nicht umsonst trägt.“519
Wie bei vielen deutschen Skandalen erhielten dagegen ausgerechnet diejenigen Freiheitsstrafen, die den Missstand an die Öffentlichkeit gebracht hatten – in
diesem Fall die Elsässer Rekruten. Ein symbolischer Sieg der Militärs war
schließlich auch die Rückkehr der zunächst ausgelagerten Garnison nach Zabern. Obwohl selbst der kommandierende General in Straßburg sich dagegen
aussprach und ebenso wie der Statthalter Unruhen befürchtete, setzte Kriegsminister Falkenhayn dies durch.520 Am 18. April 1914 zog die Garnison unter Anwesenheit zahlloser Journalisten aus unterschiedlichen Ländern mit Musik ein,
um die Beharrungskraft der Armee zu zeigen.521 Dagegen schlief die Kommission des Reichstages, die die Befugnisse des Militärs genauer klären sollte, schon
nach kurzer Zeit ein.
Dennoch bietet sich zugleich eine andere Lesart der Folgen der Zabern-Affäre
an. Denn ähnlich wie bei den Kolonialskandalen, wo ja ebenfalls die Kolonialbeamten in der Regel nicht verurteilt wurden und der Kolonialismus als solcher
fortbestand, sorgte auch dieser Skandal für eine Erschütterung des Status quo.
Erstens bescherte die Zabern-Affäre, ähnlich wie 1906 nach den Kolonialskan516
517
518
519
520
521
So die Einschätzung bei: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1129; Ullrich, Nervöse
Großmacht, S. 134.
Urteil Forstner Kriegsgerichtsrat 10. 1. 1914 u. Urteil Anklage Reuter/Schad Kriegsgerichtsrat
13. 1. 1914, in: BAB/L, R43-172.
Frankfurter Zeitung Nr. 12, 12. 1. 1914.
Deutsche Zeitung 10. 1. 1914.
Vgl. zu dieser internen Kontroverse: Wedel an Falkenhayn 13. 2. 1914; Deimling an Falkenhayn 5. 2. 1914, Falkenhayn an Bethmann 7. 2. 1914 u. 17. 2. 1914, in: BAB/L, R43-173.
Vgl. den Bericht in Vossische Zeitung Nr. 196, 19. 4. 1914.
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7. Exkurs: Machtmissbrauch im Reichsland: Zabern
321
dalen, der Reichsleitung eine Niederlage und stärkte die Macht des Reichstages.
Während sich dies bei den Kolonialskandalen in der mehrheitlichen Ablehnung
des Nachtragshaushaltes für Deutsch-Südwest manifestiert hatte, machte nun
das von sechs Siebtel des Reichstages getragene Missbilligungsvotum gegen
Kanzler Bethmann die fehlende parlamentarische Mehrheit deutlich. Entsprechend erwartete man vielfach Bethmanns Rücktritt und spekulierte bereits über
Nachfolger.522 Die öffentliche Missbilligung traf zugleich das Ansehen des
Kaisers und des Thronprinzen, die das Militär besonders vehement gestützt
hatten.523 Insofern stärkte der Skandal nicht nur die militärische Dominanz,
sondern schwächte zugleich eine politische Herrschaftsform, die auf keinen
Mehrheiten beruhte.
Zweitens erlitt das Militär trotz seiner symbolischen Erfolge vor Gericht
einen massiven öffentlichen Ansehensverlust. Die Urteile überzeugten die
Mehrheit der Zeitungen und Abgeordneten nicht. Vielmehr galt das Militär als
Instanz, deren Machtmissbrauch der Zabener Fall aufgedeckt hatte. Der Skandal zeigte, dass die Armee in dem annektierten Gebiet eben nicht als Schule des
Deutschtums wirkte, sondern einen gegenteiligen Effekt hatte. Gerade diese
offen gelegte Kulturlosigkeit der angeblichen Kulturträger erinnerte dabei an
die Kolonialskandale. Drittens kam es trotz der nach außen getragenen Halsstarrigkeit schließlich doch noch zu einer Reform, die das Verhältnis von Militär
und Zivilverwaltung im Sinne der Zivilverwaltung regelte. Reichskanzler Bethmann beharrte im Staatsministerium darauf festzuschreiben, dass das Militär
nur dann aus eigener Entschließung gegen Zivilpersonen einschreiten dürfe,
„wenn die Zivilbehörden außer Stand gesetzt seien, die Requisition ergehen zu
lassen.“524 Gegen den Willen von Kriegsminister Falkenhayn kam es am 19. März
1914 zu einer neuen Dienstvorschrift über den Waffengebrauch des Militärs, die
eine eigenmächtige Vergeltung und die Ausübung von Polizeimaßnahmen ohne
Anfrage der Zivilbehörden untersagte.525 Um Falkenhayns Gesicht zu wahren
und nicht den Eindruck zu erwecken, das Militär gebe der Öffentlichkeit nach,
wurde das Gesetz allerdings nicht vom Reichstag erlassen, sondern als Kabinettsorder. Viertens wurden die Offiziere trotz Freispruch zumindest versetzt. Leutnant Forstner kam, in weitmöglichster Entfernung vom Elsaß, nach Bromberg
an die polnische Grenze. Auch wenn dies keine adäquate Strafe für einen Rechtsstaat war, bedeutete es immerhin ein deeskalierendes Zugeständnis an den
öffentlichen Protest. Eine fünfte Folge des Skandals betraf schließlich den Nationalismus in Elsaß-Lothringen. Der Skandal belebte die antideutschen Ressentiments in dem „Reichsland“ und förderte eine an Frankreich orientierte
Vergemeinschaftung. In der nun gegründeten „Liga zur Verteidigung ElsaßLothringens“ fand sie ein Forum. Der Skandal zeigte damit die Grenzen jener
522
523
524
525
Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 620, 6. 12. 1913, S. 1.
Dass der Kaiser geschwächt wurde, sieht auch: Mommsen, War der Kaiser, S. 208.
Protokoll Staatsministerium 3. 2. 1914, in: GStA, HA I, Rep. 90A, Nr. 3620.
Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 4, S. 601 f.; Schoenbaum, Zabern, S. 160 f.
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322
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Germanisierungsversuche und Kulturmissionen, die sich im hohen Maße auf
Soldaten stützten.
Wie bei den Kolonialskandalen führten die Sozialdemokraten erneut das britische Empire als Vorbild für den Umgang mit eroberten Gebieten an. In diesem
Fall bildete Südafrika für sie ein Pendant. Die Briten banden, so ihre Argumentation, „durch freigiebigste Gewährung staatsbürgerliche Rechte die Bewohner
der früheren Freistaaten so fest an das Mutterland, daß sich heute niemand mit
mehr Stolz englischer Bürger nennt als der Bur, der vor nicht langem noch jedem Briten als dem Erbfeind mit der Büchse entgegen trat.“526 Auch wenn diese
Argumentation überzogen war, blieb Großbritannien durch seine demokratischere Struktur trotz imperialer Expansion für die Linke ein Modell.
Dagegen verstärkte die Zabern-Affäre in der ausländischen, insbesondere in der
französischen und britischen Öffentlichkeit das Stereotyp von der Dominanz des
deutschen Militärs und dessen Aggressivität.527 In der britischen Wahrnehmung
rückte Deutschland durch die Zabern-Affäre, was die Freiheitsrechte anging, in
die Nähe von Russland. Der Daily Telegraph schrieb, Deutschland würde lediglich mit Gewalt erobern, was immer zu Widerstand führe, und die Times hinterfragte zumindest, ob sich das Militär tatsächlich den Zivilbehörden unterordnen
würde.528 Besonders weitsichtig erwies sich der Kommentar der englischen Zeitschrift Nineteenth Century. Sie sah die Gefahr, „that the powers of feudalism and
absolutism, which, under the cloak of parliamentarism at present govern the
country, will try to avoid a domestic conflict by provoking a foreign one.“529 Gerade hiermit hatten die englischen Beobachter Recht, da der kurze Zeit später losgeschlagene Weltkrieg zumindest kurzzeitig die Grundprobleme des Staates überdecken sollte, die die Zabern-Affäre ins öffentliche Bewusstsein gerufen hatte.
Zabern war keine Kolonie. Aber sein Status als annektiertes Gebiet förderte
nicht nur die Entgrenzung der Gewalt, sondern auch den kritischen Außenblick
auf diese Gewalt. Wie bei den Kolonien ging es nicht nur um die Durchsetzung
von Autorität, sondern auch darum, sich in den Augen der westlichen Nachbarländer als würdige Gebietsverwalter zu erweisen. Zabern stand dabei für das
erneute Scheitern dieses Anspruches.
8. Zwischenfazit
Am Anfang der Eroberung Afrikas standen zahllose koloniale Träume. Durch
die zahlreichen Skandale verwandelten sich die afrikanischen Kolonien jedoch
526
527
528
529
Vorwärts 12. 11. 1913, S. 1.
Zur französischen Presse vgl. Schenk, Zabern, S. 111–121; zur britischen: Schoenbaum, Zabern, S. 180 f.
Daily Telegraph u. a. zit. in: Vorwärts 3. 12. 1913, S. 2; vorsichtiger: Times 5. 12. 1913, S. 9.
Nineteenth Century Febr. 1914. Dagegen betont Reinermann, Der Kaiser, S. 512 f., mit
Blick auf Wilhelm II., die englische Presse habe eher freundschaftlich im Kontext der ZabernAffäre reagiert.
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8. Zwischenfazit
323
Abb. 9. Vom Traum zum Albtraum: Die Verkehrung der kolonialen Imagination Europas durch die Skandale; Karikatur der Lustigen Blätter Nr. 13 (1896) nach den Skandalen
um Leist, Wehlan und Peters 1896.
vielfach in einen Albtraum (vgl. Abb. 9). Dies förderte eine intensive und auch
kritische öffentliche Debatte über den Kolonialismus. Auch in dieser Hinsicht
lässt sich also kaum die Annahme aufrecht erhalten, die Kolonien hätten in der
heimischen Öffentlichkeit kaum eine Rolle gespielt, wie etwa mit Blick auf die
Mitgliederzahlen von Kolonialvereinen oder Inhalte von Schulbüchern argumentiert wurde. Die oft monatelangen Berichte über die Kolonialskandale, die
Karikaturen, die Parlamentsdebatten und die Prozesse zwangen die breitere Öffentlichkeit dazu, sich über die kolonialen Praktiken ein Urteil zu bilden, wie
nicht zuletzt auch die Auswertung der Kneipengespräche belegt.
Die Kolonialskandale trugen maßgeblich dazu bei, die Idee des Sozialimperialismus zu verkehren. Laut dieser vieldiskutierten These hatte die deutsche
Reichsleitung gehofft, durch die koloniale Expansion die innere Einheit zu
fördern und von Problemen im eigenen Land abzulenken, um so ein weiteres
Erstarken der Sozialdemokratie zu verhindern. Durch die Skandale trat jedoch
genau das Gegenteil ein. Gerade der Sozialdemokratie gelang es durch das Aufbringen entsprechender Skandale, die Kritik an den kolonialen Zuständen auf
das Reich zu beziehen und so ihre öffentliche Position zu stärken. Durch die
Kolonialskandale konnten sie alte Feindbilder und Narrative über Adlige, Offiziere und das Bürgertum revitalisieren, da diese in den Kolonien ein Verhalten
zeigten, das im Deutschen Reich zunehmend beispiellos war – wie tödliche
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324
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen, Bereicherungen durch Monopole
oder den sexuellen Missbrauch des Personals. Statt die Linke in die Nation zu
integrieren, schufen die Kolonialskandale eher einen regierungskritischen Schulterschluss, der die Sozialdemokratie punktuell mit Teilen des Zentrums und der
Linksliberalen verband.
Die Kolonialskandale bildeten transnationale Medienereignisse, die Vorstellungen über den eigenen und den fremden Kolonialismus schufen. Sie beeinträchtigte den Anspruch auf moralische Überlegenheit, wobei sich die Deutschen besonders um ihr Ansehen im Ausland sorgten. Dagegen festigten die
deutschen Skandale in Großbritannien die Selbstwahrnehmung als eine etablierte, moralisch überlegene Kolonialmacht, während die Briten an den deutschen
Skandalen deren koloniale Unreife ausmachten. Zugleich waren die Skandale
auch ein Motor für Transfers. In den Auseinandersetzungen, die die Skandale
auslösten, blickten vor allem die deutschen Reformer immer wieder nach Großbritannien. Um weitere Skandale zu verhindern, wurden rechtliche Regelungen,
institutionelle Formen und Anregungen für die koloniale Praxis vom britischen
Empire befürwortet und teilweise übernommen.
Von der Typologie der Skandale her zeigten sich bei beiden Ländern ähnliche
Entwicklungslinien, wobei in Großbritannien die entsprechenden Fälle etwas
frühzeitiger auftraten. In den 1890er Jahren dominierten zunächst Skandale um
die Gewalt kolonialer „Conquistatoren“, wobei die Skandale Grenzen setzten
und deren Gewalt anachronistisch erscheinen ließen. Die festeren Verwaltungsstrukturen, die diesen „Eroberern“ folgten, lösten in einer zweiten Phase vor
allem Skandale aus, die Normbrüche wie Bereicherung oder Amtsmissbrauch
thematisierten. Die breite Empörung über diese Fälle zeigte, dass trotz aller rassistischen Stereotype die Mehrheit der wilhelminischen Öffentlichkeit verlangte,
dass auch in den deutschen Kolonien die englische Verhaltensstandards zu gelten hätten.
In Deutschland kam es zu deutlich mehr Kolonialskandalen als in Großbritannien. Die geringe koloniale Erfahrung, die größere Willkür der Beamten und
die stärkere Etablierung von kolonialkritischen Gruppen im Reich, wie insbesondere der Sozialdemokratie, dürften dafür verantwortlich gewesen sein. Blickt
man auf die in den Kolonialskandalen verhandelten Themen, so werden weitere
Unterschiede deutlich. Auch in Großbritannien thematisierten Skandale, wie
am Beispiel von Stanleys Expedition gezeigt wurde, Formen exzessiver Gewalt.
Größere Bedeutung hatten im Empire jedoch Skandale, die eine illegitime Bereicherung in den Kolonien anprangerten. Sowohl die Angriffe gegen Chamberlain
als auch der größte Skandal im weiteren Kontext des Burenkrieges, der War
Stores Scandal, bezogen sich auf materielle Normbrüche und Nachteile für den
einfachen Steuerzahler. Dies etablierte wiederum auch in Deutschland die Wahrnehmung, der britische Kolonialismus diene vor allem der Bereicherung.
In Deutschland traten zwar mit den Enthüllungen über die Geschäftspraktiken der Firmen Woermann und Tippelskirch ebenfalls ökonomische Skandale
auf, die wie in Großbritannien die Belastung der Steuerzahler und die teils
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8. Zwischenfazit
325
korrupte Verflechtung zwischen einzelnen Politikern, Beamten und monopolartigen Kolonialfirmen kritisierten, aber eine Schlüsselrolle spielten sie nicht. Im
Vordergrund standen in Deutschland vielmehr zahllose Skandale, die die brutale
Tötung oder Misshandlung von Afrikanern durch deutsche Beamte thematisierten. Zudem legten die deutschen Skandale vielfach den sexuellen Verkehr mit
Afrikanerinnen offen, der zumeist unter Missbrauch ihrer Macht erfolgte. Diese
Unterschiede zwischen den deutschen und den britischen Kolonialskandalen
lassen sich sicherlich nicht damit erklären, dass die deutsche Öffentlichkeit kritischer war oder medial besser vernetzt. Vielmehr verweisen die Skandalthemen
auch auf entsprechend unterschiedliche Praktiken in den deutschen und britischen Kolonien. Allerdings fiel es den Briten schwerer, über sexuellen Missbrauch in ihren Kolonien zu sprechen. Obgleich die puritanische Bewegung
auch hier Anstöße für entsprechende Skandalisierungen gab, verengte sie zugleich die Grenzen des Sagbaren.
Aufgebracht wurden die Kolonialskandale durch eine Verdichtung des Kommunikationssystems zwischen den Kolonien und Europa. Die analysierten Beispiele zeigten, dass die Formen der medialen Interaktionen vielfältig waren.
Korrespondentenberichte förderten zwar die Kolonialkritik, entscheidend waren jedoch weiterhin briefliche Zusendungen von Beteiligten, konkurrierende
Buchpublikationen, die Kommunikation über Missionare und juristische Untersuchungen. Berichte aus den Kolonien waren nicht ausreichend, um Kolonialskandale zu etablieren. Vielmehr mussten sie durch Vermittler im Mutterland vorgebracht werden, die vor Ort reaktionsschnell und kontinuierlich die
Debatte vorantreiben konnten. Im Vergleich zu anderen Skandalfeldern fällt
auf, dass in Deutschland das Parlament eine zunehmend größere Rolle beim
Anstoß der Kolonialskandale spielte als die Presse. Gerade die geringe Möglichkeit des Reichstages, die Kolonialpolitik inhaltlich mitzugestalten, dürfte mit
erklären, dass die Abgeordneten auf sensationelle Enthüllungen setzten.
Die Kolonialskandale waren jedoch mehr als ein Feld der politischen Profilierung. Vielmehr zeigten sie in Deutschland und Großbritannien die Grenzen der
eigenen Zivilisiertheit. Die detailliert über die Medien aufgedeckten Untaten
von Barttelot, Wehlan oder Leist waren gerade deshalb ein Schock, weil sie das
entgrenzte Verhalten von Angehörigen des Bürgertums illustrierten, von denen
aufgrund ihrer akademischen und militärischen Ausbildung ein diszipliniertes
Verhalten erwartet wurde. Die Skandale führten so zu einer Verkehrung der Stereotype: Das Bild von „wilden Schwarzen“, der durch den Kolonialismus zivilisiert würde, verkehrte sich zum Bild wild gewordener Kolonialisten, die eine
Gefahr für die Afrikaner darstellten.
Zugleich etablierten die Skandale zahlreiche Normen, Verhaltensregeln und
Gesetze in den Kolonien. Ob ein Europäer mit afrikanischen Frauen sexuell
verkehren dürfe, wie alt diese zu sein hätten und in welcher Form dies geschehen solle (Prostitution, Kauf, Heirat oder Affären), wurde ebenso öffentlich diskutiert wie die Formen der Züchtigung und Bestrafung (körperliche Strafen,
Haft, Hinrichtungen oder die Zahl der zulässigen Peitschenhiebe). In beiden
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326
IV. Bürgerliche Entgrenzungen: Kolonialskandale
Ländern führten die Skandale dazu, den sexuellen Verkehr mit Afrikanerinnen
als illegitim zu stigmatisieren. Die Beamten riskierten nun nicht nur die Veröffentlichung ihrer Namen in neuen Skandalen, sondern auch Sanktionen. So
führte der Silberrad-Skandal in Großbritannien zu einer Anweisung an die neuen Beamten, dass Liebesverhältnisse künftig ein Entlassungsgrund seien, und in
Deutschland förderten die Skandale Verbote von „Mischehen“ in verschiedenen
Kolonien. Die körperliche Bestrafung der Afrikaner, die trotz der Skandale in
der öffentlichen Diskussion weiterhin mehrheitlich als notwendig galt, wurde in
Deutschland dank der Skandale rechtlich zumindest auf das Maß der Briten reduziert, stark normiert und besser überwacht. Ebenso kam es dank der Skandale zur Umstrukturierung der Kolonialverwaltung und der Versorgung. Obgleich
die englischen Skandale durch die parlamentarischen Ausschüsse mitunter genauere Enthüllungen offen legten, hatten die Skandale in Deutschland mehr
Konsequenzen. Denn offensichtlich bestand hier aus den genannten Gründen
ein größerer Regelungsbedarf.
Gemeinsam war beiden Ländern, dass ihre äußerst brutal geführten Kriege in
den Kolonien, also insbesondere der Burenkrieg der Briten und die deutschen
Kriege in Südwest- und Ostafrika, kaum zu wirkungsmächtigen Skandalen
führten. Zwar kam es in beiden Ländern zu öffentlichen Protesten gegen die
Kriegsführung, die eher linke Zeitungen und einzelne Abgeordnete im Parlament vorbrachten. Eine breite gesellschaftliche Empörung blieb bei den Kriegen
jedoch aus. Offensichtlich legitimierte in den Kriegen die angenommene Gefährdung der eigenen Landsleute das inhumane Vorgehen stärker als bei Einzelfällen, bei denen Beamte oder Eroberer ihre individuelle Macht brutal ausnutzten. Dem Massentöten an Zehntausenden von Menschen fehlten zudem
jene emotionalisierenden Narrative über Einzelschicksale, aus denen sich sonst
die Skandale entfalteten. Allerdings lösten sie in den jeweils anderen europäischen Ländern eine Empörung über die brutale Kriegsführung des Nachbarlandes aus.
Wie der abschließende Exkurs über die Zabern-Affäre zeigte, bietet sich für
die Interpretation dieses bekannten Skandals im „Reichsland“ Elsaß-Lothringen zumindest tendenziell eine ähnliche Lesart wie bei den Kolonialskandalen
an. Auch hier führte in einem annektierten Gebiet, dessen Loyalität mit eingeschränkten Rechten militärisch gesichert wurde, eine lokale Demütigung der
Einheimischen dazu, dass es zu einer Gewalteskalation kam, die nach den Maßstäben im Reich als völlig unangemessen galt. Der Skandal stellte die Art der
militärischen Machtausübung in Frage. Durch die internationale Empörung
über das Verhalten des Militärs diskreditierte der Fall den Anspruch auf eine
kulturelle Überlegenheit ebenso wie die Kolonialskandale, zumal die ZabernAffäre offen legte, dass die deutsche Herrschaft in dem besetzten Gebiet im
Zweifelsfall auf Gewalt beruhte. Entsprechend wäre mit Blick auf Großbritannien zu überlegen, ob sich Auseinandersetzungen und Skandale in Irland ebenfalls aus kolonialen Diskursen heraus interpretieren ließen, auch wenn Irland
natürlich ebenfalls keine Kolonie war.
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8. Zwischenfazit
327
Durch die Skandale entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien das Bild des grausamen deutschen Kolonialismus. Wie nachhaltig die Skandale gerade den deutschen Anspruch auf Kolonien im Ausland diskreditierten,
zeigte sich 1919 im Versailler Vertrag. Der berühmte und umkämpfte Artikel
119 über die Abtretung der deutschen Überseegebiete knüpfte in seiner Begründung explizit an die deutschen Kolonialskandale an, wobei ein britisches Blue
Book die Vorwürfe kurz zuvor erneut zusammengestellt hatte. In ihrer Erwiderung auf den deutschen Protest verwiesen die Alliierten sogar explizit auf Erzbergers und Noskes Anklagen gegen die kolonialen Missstände im Reichstag.530
Damit sorgten die Skandale noch bei der Auflösung der deutschen Kolonien für
wirkungsmächtige Zuschreibungen.
530
Vgl. Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte 16. 6. 1919, abgedr. in: Gründer (Hrsg.),
„...da und dort ein junges Deutschland gründen“, S. 316.
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V. JOURNALISMUS UND PRESSEPOLITIK
ALS SKANDALON
Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Normen des Journalismus.
Als zentrale moralische Anforderung etablierten sich seine Unabhängigkeit gegenüber Regierungen und sein Anspruch, zuverlässige Quellen zu verwenden.
Beides war eng miteinander verbunden. Denn unabhängige und zuverlässige
Berichte waren nur zu erreichen, wenn Medien nicht tendenziösen Regierungseinflüsterungen folgten. Insbesondere in Großbritannien versuchte die Presse
diese Norm auch semantisch festzulegen, indem sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Fourth Estate verstand. Damit grenzte sie sich von
einer „korrupten Presse“ ab, wobei die Zeitungen wegen ihrer Machtstellung,
so die Times 1846, besonders starken Versuchungen ausgesetzt seien.1 In
Deutschland blieb eine vergleichbar engagierte Selbstbeschreibung als „vierte
Gewalt“ aus. Als Errungenschaft galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gerade eine parteinahe „gesinnungstreue“ Presse.2 Aber auch diese deutsche
Selbstverortung der Medien operierte mit ähnlichen Unterscheidungen. So beschworen die deutschen Publizisten ihre Machtstellung und grenzten sich vehement vom offiziösen Journalismus ab, der direkt Nachrichten von der Regierung übernähme und damit nicht unabhängig sei. Ebenso distanzierten sich die
parteinahen Blätter von den Generalanzeigern, die wegen ihrer Anzeigenfinanzierung als ein „Herd der Korruption“ bezeichnet wurden.3 Dagegen sahen sich
die Generalanzeiger gerade wegen ihrer Anzeigenfinanzierung als besonders
unabhängig an. Gegen die Korruption der gesamten Presse richteten sich
wiederum einzelne Publizisten wie Maximilian Harden, der gleich die ersten
Ausgaben seiner Zukunft mit einer Schelte gegen die „Soldschreiber“ und
„Fälschertempel“ startete.4 Trotz der Gegenläufigkeit der Beschuldigungen war
somit auch in Deutschland der zunehmende Anspruch zu erkennen, der Journalismus müsse unabhängig und wahrhaftig berichten.
Ob die Zeitungen solche Normen erfüllten, wurde besonders bei sensationellen oder skandalösen Meldungen geprüft. Das Aufbringen von Skandalen
war deshalb stets mit dem Risiko verbunden, dass sich die Skandale wie ein
Bumerang gegen die Zeitung selbst richteten. Einerseits war es möglich, dass die
Publikation eines Normbruches und das öffentliche Sprechen hierüber als das
eigentliche Skandalon galten. Dementsprechend begannen die Skandale zumeist
1
2
3
4
Times 3. 9. 1846, S. 5. Zum Aufkommen der Selbstbeschreibung als „Vierte Gewalt“ vgl.
George Boyce, The Fourth Estate.
Vgl. zu diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen: Bösch, Volkstribune; Esser, Die Kräfte,
S. 58 f., Requate, Journalismus, S. 269 f.
Walter Hammer (= Walter Hoesterey), Die Generalanzeiger-Presse kritisch beurteilt als ein
Herd der Korruption, Leipzig 1912; Requate, Journalismus, S. 361 f. Zur längeren Tradition
dieser Norm der Unparteilichkeit vgl. Schönhagen, Unparteilichkeit.
Die Zukunft 1. 10. 1892, S. 33–40.
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330
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
mit vorsichtigen Andeutungen in der Presse, um die Grenzen des Sagbaren auszutesten. Andererseits bestand die Gefahr, dass die Enthüllung nicht auf präzisen, belegbaren und zuverlässigen Quellen beruhte und der erhobene Vorwurf
einer öffentlichen Prüfung nicht standhielt. Denn während gewöhnliche Artikel
kaum detailliert überprüft wurden, war bei Aufsehen erregenden Enthüllungen
stets von umfangreichen Kontrollen auszugehen, die leicht die Reputation des
enthüllenden Journalisten und seiner Zeitung gefährden konnten. Ebenso war
mit offensiven Gegenskandalisierungen der Beschuldigten zu rechnen. Ein Bumerang-Effekt konnte zudem dadurch entstehen, dass ein Skandal politische
Hintermänner der Enthüllung aufdeckte und damit die Nachricht zur politischen Intrige stilisierte. Da die einzelnen Journalisten durch die von ihnen angestoßenen Skandale selbst zu berühmten Persönlichkeiten wurden, hatten sie
die nötige Bekanntheit, Fallhöhe und Umstrittenheit, um selbst zum Objekt
von Skandalen zu werden.
Dieses Wechselspiel zwischen skandalöser Enthüllung und der nicht minder
skandalisierenden Kritik an den beteiligten Journalisten prägte im spätviktorianischen England von Beginn an die Entstehung des New Journalism. So musste
sich der Journalist W.T. Stead 1885 bei seiner Maiden-Tribute-Kampagne, die
die Kinderprostitution in London aufdeckte, sogleich vorwerfen lassen, dass sowohl seine tabubrechende Darstellungsweise als auch seine unseriöse Recherche
der eigentliche Skandal wären. Viele Politiker und Journalisten empörten sich
weniger über die beschriebenen Missstände als über den moralischen Verfall,
den Steads explizite Berichte angeblich auslösten.5 Ebenso hielten verschiedene
Zeitungen Stead Fehler in der Recherche und Darstellung vor, was er vor Gericht tatsächlich eingestehen musste. Deshalb lautete der zentrale Vorwurf in
Matthew Arnolds berühmter Kritik am New Journalism: „It throws out assertions at a venture, because it wishes them true, does not correct either them or
itself, if they are false.“6 Diese Kritik am New Journalism stilisierte zugleich den
„alten Journalismus“ als wahrhaftig und vertrauenswürdig.
Auch in Deutschland wurden Ende des 19. Jahrhunderts bedeutende Zeitungen, die bei politischen Skandalen eine größere Rolle spielten, selbst zum
Objekt von Skandalisierungen. Ein ähnliches Schicksal wie Stead durchlebte besonders Maximilian Harden, vor allem als der Wahrheitsgehalt seiner Beschuldigungen gegen Eulenburg und Moltke verhandelt wurde.7 Auch der Vorwärts,
der ja zahlreiche Skandale in Verbund mit SPD-Politikern angestoßen hatte, erlebte 1903, dass sich ein von ihm angestoßener Skandal gegen ihn selbst richtete,
nachdem er über den Bau einer Festung auf der Insel Pichelswerder berichtet
hatte, die zum Schutz des Kaisers bei Revolutionen entstehen sollte.8 Diese Ar5
6
7
8
Vgl. etwa die Vorwürfe im Unterhaus und in der Presse in: Times 8. 7. 1885, S. 5, 10. 7. 1885, S. 6,
31. 7. 1885, S. 6. Zu den Reaktionen vgl. bereits: Schults, Crusader in Babylon, S. 148–156.
Matthew Arnold, Up to Easter, in: The Nineteenth Century 78 (Mai 1887), S. 620–643,
S. 633.
Vgl. Kap. II. 7.
Vgl. die Artikel „Die Kaiserinsel“ in: Vorwärts Nr. 190–192, 16. 8.–18. 8. 1903.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
331
tikel des Vorwärts beruhten jedoch auf einem anonymen, angeblich aus Hofkreisen stammenden Brief mit bewusst falschen Angaben, der die Glaubwürdigkeit des SPD-Blattes durch eine „Ente“ diskreditieren sollte. So wurde der Vorwärts dem öffentlichen Spott ausgesetzt, und seine Redakteure erhielten hohe
Haftstrafen.9 Andere Skandale über die Presse betrafen das moralische Verhalten der Journalisten. So mutierte die „Kreuzzeitung“ 1895, nachdem sie ein Jahr
zuvor gerade den Caligula-Skandal angestoßen hatte, selbst zum Skandalobjekt,
als bekannt wurde, dass ihr Chefredakteur Wilhelm Freiherr von Hammerstein
mehrere 100 000 Mark ihres Vermögens veruntreut hatte und nach Griechenland geflohen war. Da es sich um einen führenden Konservativen handelte,
nahm die Staatsanwaltschaft, im Unterschied zu den Sozialdemokraten, eine abwartende Haltung ein, bis die Flucht Hammersteins und die Proteste der Presse
sie zum Handeln zwangen.10 Die öffentliche Empörung über Hammersteins
Verhalten diskreditierte dabei maßgeblich den moralischen Überlegenheitsanspruch der konservativen Zeitung.
Die angedeuteten Fälle zeigen, dass die Presse durch die zunehmenden Skandale nicht nur an Macht und Reputation gegenüber der Politik gewann. Gerade
weil die Zeitungen und Journalisten selbst als politische Akteure auftraten,
setzten sie sich wie Politiker dem Risiko aus, durch Skandale ihre Reputation zu
gefährden. Auf welche Weise derartige Skandale ihren Anspruch auf Wahrheit
und Unabhängigkeit hinterfragten, soll an zwei Fallstudien analysiert werden,
die jeweils Charakteristika der deutschen und britischen Medienentwicklung
zeigen. Für Großbritannien wird der Parnellism and Crime-Skandal um die
Times untersucht, der die Grenzen des investigativen und unabhängigen Journalismus im Sinne einer Fourth Estate verdeutlicht. Für Deutschland wird der
„Tausch-Leckert-Lützow“-Skandal betrachtet, der die Strukturen der offiziösen
Beeinflussung der Presse und deren Kollaps veranschaulicht. Beides sind nicht
nur herausragende Skandale in diesem Bereich. Sie stehen auch besonders
exemplarisch für die unterschiedlichen journalistischen Traditionen in den beiden Ländern, die durch die Skandale auf den Prüfstein kamen.
1. Die TIMES als Fälscherin und Regierungsorgan?
PARNELLISM AND CRIME
Die Times des 19. Jahrhunderts galt und gilt als Prototyp eines modernen,
soliden und unabhängigen Journalismus. Wie zahlreiche Pressegeschichten
9
10
Vgl. Anklage Isenbiel: BAB/K, R 43/797: 51: 161 ff.; Bericht Staatsanwalt 22. 8. 1903 u. „Beschluß“ Staatsanwalt 26. 8. 1903, in: GStA, HA I Rep 84a Nr. 49718; Stampfer, Erfahrungen,
S. 101 f.
Oberstaatsanwalt Drescher an Justizminister Schönstedt 28. 6. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a
Nr. 58193. Aufzeichnung Waldersee 5. 10. 1895, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten,
Bd. 2, S. 357–360.
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332
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
herausstellten, glänzte sie frühzeitig durch nüchterne und zuverlässige Informationen, eigene Korrespondentenberichte und eine Distanz zu den Parteien, auch
wenn ihre Regierungsnähe gelegentlich hervorgehoben wurde.11 Ihre traditionsreiche Ausnahmestellung im britischen und weltweiten Medienverbund
schuf jedoch zugleich eine große Fallhöhe, falls sich ein Skandal gegen das Blatt
richtete.
Ende der 1880er Jahre kam es tatsächlich zu einem Skandal, der diese Reputation der Times maßgeblich erschütterte und hinterfragte. Er entstand, nachdem
die Times in einer mit Parnellism and Crime überschriebenen Artikelserie dem
politischen Führer der Irish Parliamentary Party, Charles Stewart Parnell, die
Unterstützung von terroristischen Gewalttaten vorgeworfen hatte. Dies belegte
die Times unter anderem mit einem Faksimile-Abdruck eines Briefes mit Parnells Unterschrift, der einem politischen Mord zustimmte.12 Weitere angebliche
Briefe von Parnell und von Patrick Egan, einem Mitbegründer der Irish Land
League, ergänzten die Beschuldigungen. Wie sich jedoch nach mehrjähriger öffentlicher Debatte und Untersuchung im Februar 1889 zeigte, beruhte die Kampagne der Times auf den plumpen Fälschungen eines Journalisten. Zudem kam
der Vorwurf auf, dass die konservative Regierung und Administration die Times
bei ihrer Kampagne unterstützt hatte. Der Skandal nahm damit eine dreifache
Wendung: Nachdem die Times zunächst zusammen mit den Unionisten versucht hatte, den Irenführer Parnell zum Objekt eines Skandals zu machen und
so die Irlandpolitik zu beeinflussen, wurde die Times in einer zweiten Phase
selbst zum Gegenstand des Skandals. Und schließlich musste sich drittens die
Regierung des Vorwurfes erwehren, die Times-Kampagnen gegen den irischen
Spitzenpolitiker gefördert zu haben. Insofern lassen sich anhand dieses Skandals
zugleich die journalistischen Recherchetechniken, Publikationsstrategien und
die Interaktionen zwischen Politik und Presse untersuchen.
Ausgangspunkt des Parnellism and Crime-Skandals war abermals die politische Polarisierung, die sich aus dem Konflikt um die irische Selbstverwaltung
entfaltete. Insbesondere die Abspaltung der unionistischen Home Rule-Gegner
von den Liberalen im Sommer 1886, die zum Bruch von Gladstones liberaler
Regierung und dem Siegeszug der Konservativen unter ihrem Premierminister
Salisbury geführt hatte, verstärkte den Konflikt.13 Salisbury sah, wie andere
Unionisten, die Home Rule als eine Gefahr für die nationale Sicherheit an und
11
12
13
Dieses sehr positive Bild mag auch daran liegen, dass die grundlegende umfassende Darstellung zur Geschichte der Times von ihr selbst verfasst wurde; The Times (Hrsg.), The History
of the Times, 5 Bde.
Vgl. zudem die Artikelserie in der Times am 18. 4. 1887, S. 8 f., sowie die nahezu wöchentlichen Artikel zwischen dem 7. 3. bis 22. 6. 1887. Die ausführlichste Darstellung zu diesem
bislang wenig untersuchten Markstein der Pressegeschichte stammt aus den 1940er Jahren
von der Times selbst; vgl. The Times, The History of the Times, Bd. 3, S. 43–89. Zudem fand
der Skandal Erwähnung in den Biographien über die Beteiligten; vgl. bes. Lyons, Parnell,
S. 390–430.
Zur Spaltung 1885/86 vgl. Cook und Vincent, The Governing Passion.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
333
war ein Gegner des irischen Nationalismus.14 Die ebenfalls unionistisch ausgerichtete Times unterstützte Salisburys Regierung vorbehaltlos mit entsprechenden Berichten und Kommentaren.15 Als Beleg und Symbol für diese Bedrohung
durch gewaltbereite irische Nationalisten galten vor allem die Phoenix Park
Morde von 1882. Bei diesem Attentat hatte eine Gruppe radikaler irischer Nationalisten den Chief Secretary for Ireland, Lord Frederick Cavendish, und
seinen Untersekretär Burke im Dubliner Phoenix Park erstochen. Obgleich
Parnell und andere führende Irenpolitiker sich sofort von den Morden distanzierten und diese verdammten, wurden zahlreiche irische Politiker verhaftet.
Die Phoenix Park Morde wurden damit zu einem emotionalisierenden Sinnbild
der irischen Gewalt und der englischen Polizeiwillkür.16 Dies erklärt, warum
auch der Parnellism and Crime-Skandal besonders in der Frage kulminierte, in
welcher Verbindung Parnell zu diesem Attentat stand.
Während die Irlandfrage den politischen Rahmen für den Skandal bildete,
prägte das zeitgleiche Aufkommen des New Journalism den mediengeschichtlichen Kontext. Öffentlich distanzierte sich die Times von W. T. Steads Kampagnen, der mit sensationellen Meldungen die Politik zu gestalten versuchte. In der
Praxis, so lässt sich anhand ihrer Parnellism and Crime-Serie verdeutlichen,
knüpfte die Times jedoch an die journalistischen Techniken des New Journalism
und insbesondere an Steads berühmte Serie gegen die Prostitution an. Dies
zeigte sich bereits darin, dass die Times eine gezielte Kampagne mit einer regelmäßigen Serienberichterstattung startete, die eigenständig ein Thema setzte und
so einen „Scoop“ erreichen wollte, also eine zuerst aufgebrachte sensationelle
Meldung. Ebenso wie Stead versuchte die Kampagne der Times nicht nur das
politische Klima zu prägen, sondern war zugleich auf die Beeinflussung eines
einzelnen Gesetzes ausgerichtet. In diesem Fall fokussierte die Times-Serie auf
ein Gesetz zur Verbrechensbekämpfung, das vornehmlich die umfassendere
Verfolgung irischer Nationalisten ermöglichen sollte. Genau vor der zweiten
Lesung, am 18. April 1887 veröffentlichte sie deshalb das Faksimile des vermeintlichen Briefes von Parnell, um die Regierung bei der Mehrheitsbildung zu
unterstützen. Gerade weil nicht alle Konservativen anti-irisch dachten, sollten
die Artikel latente Ressentiments stärken und so Mehrheiten sichern.
An Steads New Journalism erinnerten auch die journalistischen Rechercheund Präsentationstechniken. Die Artikel waren eigenständig recherchiert und
14
15
16
Allerdings war Salisbury gemäßigter als sein Irland-Minister Balfour. Er trat zumindest für
eine lokale Selbstverwaltung ein und war zurückhaltender bei der Unterdrückung irischer
Zeitungen; vgl. zum Bruch 1886 und zu Salisburys Haltung: Taylor, Lord Salisbury, S. 119 u.
122.
Diese abwertende Berichterstattung der Times gegenüber Irland hatte bereits eine längere Tradition; vgl. Leslie Williams, Daniel O’Connell, The British Press and the Irish Famine. Killing Remarks, Aldershot 2003.
Vgl. Tom Corfe, The Phoenix Park Murders. Conflict, Compromise and Tragedy in Ireland,
1879–1882, London 1968. Zu Parnells Distanzierung von den Morden, wobei er auch seinen
Rücktritt anbot: Lyons, Parnell, S. 209–211.
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334
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
von einer Gruppe von Journalisten und Zuträgern aufbereitet. Sie arbeiteten
zwar im Unterschied zu Stead kaum mit Interviews, aber ebenfalls mit langen
wörtlichen Zitaten aus Reden, offiziellen Untersuchungsberichten und Dokumenten. Die vergleichsweise großen und emotionalisierenden Überschriften
(wie „The Connection between Parnellism and the Irish Murder Societies“17)
standen der Pall Mall Gazette wenig nach. Dabei knüpfte die Times auch an
Skandalisierungstechniken an, die die Iren Anfang der 1880er Jahre aufgebracht
hatten, insbesondere beim dargestellten Dublin Castle-Skandal 1883. Durch
Ankündigungen von weiteren Artikeln mit entsprechenden Enthüllungen baute
die Times, genau wie bei Steads Kampagne, einen Spannungsbogen auf, der die
Leser binden und die Drohkulisse verstärken sollte.18 Wenig seriös war, wie die
Times einzelne Zitatfetzen aus ihren Kontexten riss, um die von Parnell organisierte Land League mit brutalen Verbrechen und Morden in Verbindung zu
bringen und zu beweisen, dass Parnell zwar offziell gegen Gewalt sei, intern
aber die Mörder wohlwollend unterstützte. Einzelne Aussagen von besonders
radikalen Iren übertrug die Times grob verallgemeinernd auf Parnell.19 Insofern
zeigte sich abermals, dass die Einteilung der Presse in Sensations- und Qualitätszeitungen, wie sie häufig von der zeitgenössischen Kritik übernommen wird,
nicht immer zutrifft. Vielmehr waren die Übergänge selbst bei einem journalistischen Flakschiff wie der Times äußerst fließend.
Zudem erfuhr die Öffentlichkeit im Laufe des Skandals, dass die journalistische Recherche der Times deutlich weniger gründlich verlief als etwa bei der
vermeintlichen Sensationszeitung Pall Mall Gazette. Während deren Herausgeber Stead bei dem Maiden-Tribute-Skandal eigenständig die Recherche leitete
und selbst Interviews führte, bezahlte die Times mit hohen Summen freie Mitarbeiter, die entsprechende Ergebnisse versprachen, und kontrollierte deren
Recherche kaum. In diesem Fall bot der freie Mitarbeiter Edward Caulfield
Houston, der aus Dublin berichtete und bereits über den Phoenix Park-Prozess
geschrieben hatte, der Times Belege für Parnells Verbindungen zu den Mördern
an. Der Herausgeber genehmigte in Absprache mit dem Manager und dem Verleger immerhin 1780 £ für die Briefe, also mehr als das Jahresgehalt eines Redakteurs.20 Da Houston zugleich Sekretär der unionistischen Irish Loyal and Patriotic Union war, beauftragte die Times einen professionellen Gegner der Irenbewegung mit den Artikeln.
17
18
19
20
Times 2. 5. 1887.
Vgl. etwa Times 7. 3. 1887, S. 9.
Als interne Einschätzung zur Zuordnung der Zitate vgl. etwa: Healy an Mrs. Nally 5. 12. 1888,
in: NLI, Ms 22. 827.
Die internen Absprachen, die nicht alle schriftlich überliefert sind, lassen sich vor allem aus
den Aussagen in den späteren Vernehmungen der Special Commission rekonstruieren; diese
finden sich in: John Macdonald, Diary of the Parnell Commission. Revised from „The Daily
News“, London 1890; Parnellism and Crime. The Special Commission, Reprinted from The
Times, 6 Bde., London 1888.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
335
Der Journalist und Funktionär Houston bezog die belastenden Briefe wiederum von einem irischen Journalisten namens Richard Pigott. Spätestens bei diesem Namen hätte die Times-Redaktion stutzig werden müssen. Denn wie damals schon bekannt war, hatte Pigott vorher für die irische Bewegung und für
deren Gegner gearbeitet, je nach dem, wer von ihnen die größeren Honorare
zahlte. Seine permanente Geldnot ließ ihn, wie zahlreiche Briefe belegen, selbst
vor Erpressungen nicht zurückschrecken, bei denen er von irischen Politikern
Geld für den Verzicht auf diskreditierende Artikel oder für Berichte mit einer
bestimmten politischen Tendenz verlangte.21 Houston gab sich dennoch mit
Pigotts Erklärung zufrieden, die Briefe stammten aus einem Pariser Hotel. Tatsächlich hatte Pigott sie eigenhändig gefälscht, indem er Versatzstücke aus
echten Briefen Parnells an einer Fensterscheibe durchpauste und dann um diskreditierende Sätze ergänzte. Bezeichnender Weise bot Houston diese Briefe
zunächst Stead für 1 000 Pfund für die Pall Mall Gazette an, der dies jedoch für
ungeprüfte Belege als zu teuer ansah und ihn deshalb an die Times verwies.22
Damit erwies sich der Wegbereiter des New Journalism als deutlich vorsichtiger
und quellenkritischer als die Times.
Der Skandal zeigte zudem, wie unprofessionell die journalistische Quellenkritik auch bei der Leitung der Times war. Der Herausgeber, der Manager und
der Besitzer der Times überprüften allesamt nur eher formell die Authentizität
der Briefe. Sie besorgten sich Unterschriften von Parnell und verständigten einen Schriftgutachter zum Vergleich. Anscheinend hinterfragten sie jedoch nicht,
wie die Briefe in Houstons Besitz gekommen waren. Auch die Tatsache, dass die
Schrift der Signatur und des Briefinhaltes differierte und auf zwei Zetteln verteilt war, machte sie nicht misstrauisch. Vermutlich waren sie aus ihrer weltanschaulichen Überzeugung heraus so geblendet, dass sie die Fälschungen in der
Hoffnung auf eine spektakuläre Veröffentlichung und eine politische Kurskorrektur für echt hielten.
Bezeichnend für die journalistische Praxis der Times war zudem, dass das
Autorenteam, das an der umfassenden Artikelserie schrieb, nicht nur aus Journalisten bestand. Wie üblich waren die Artikel nicht namentlich gekennzeichnet. Den Großteil des Textes verfasste der unionistische irische Katholik Woulfe
Flanagan.23 Wesentlich problematischer war jedoch, dass einige Artikel ein
21
22
23
Vgl. etwa seine Drohung an Patrick Egan, angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten der
Land League zu veröffentlichen, wenn er nicht ein „Darlehen“ erhalte („there is nothing that
prevents me publishing it except my arrangement with you. [...] All I want from you is a
temporary loan of £ 300“; Pigott an Egan 9. 3. 1881, in: BL, Althorp Papers Ms. Add. 77117.
Zu andere Fällen vgl. Pigott an Lyons 12. 9. 1884, in: ebd; Kommissionsbericht 21. 2. 1889 in:
MacDonald, Diary, S. 154.
Dies betonte Stead erst, als sich der Skandal gegen die Times richtete; vgl. Review of Reviews
Febr. 1890, S. 104; Pigotism and Crime exposed. Pall Mall Gazette „Extra“ No 16. Ein Exemplar hiervon in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 44634: 40. Bestätigt wird dies durch: Brett an
Hartington 22. 2. 1889, abgedr. in: Brett (Hrsg.), Journals and Letters, S. 138.
So bereits: The Times, History of the Times 1884–1912, S. 777 f. Wenig ergiebig ist hierzu
Flanagans Nachlass im TNA, 1189.
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336
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Beamter namens Robert Anderson schrieb. Dieser hatte 1877 bis 1888 nicht nur
leitend in der zentralen Strafverwaltung (Prison Commission) in der Bürokratie
gearbeitet, sondern war auch über seine zusätzlich entlohnte Geheimdienstarbeit mit dem Innenministerium verbunden. Anschließend stieg er immerhin
zum Leiter des Criminal Investigaion Department von Scotland Yard auf.24 Wie
er selbst erst zwei Jahrzehnte später öffentlich gestand, verfasste er die Artikel
in der Times mit Billigung seines damaligen Vorgesetzen von Scotland Yard, weil
er durch die Artikel Dynamitanschläge der Iren hätte verhindern wollen.25 Zudem erhielt die Times vertrauliche Briefe über einen militärischen Agenten namens Henri LeCaron, die ihr ebenfalls vor allem Anderson zuspielte.26 Folglich
beruhten die Times-Artikel also nicht nur auf gefälschten Briefen und Angaben
von Funktionären der anti-irischen Bewegung, sondern auch auf Material von
geheimdienstlich arbeitenden Behörden. Mit dem oft beschworenen Bild einer
unabhängigen „vierten Gewalt“ vertrug sich beides kaum.
Wie reagierte die Öffentlichkeit auf die Enthüllungen der Times? Die erhoffte
breite Empörung, die zu Parnells Sturz führen sollte, konnte sie selbst unmittelbar nach der Veröffentlichung des Faksimile-Briefes nicht auslösen. Die Mehrheit der Presse blieb entweder zurückhaltend oder zweifelte die Enthüllungen
der Times an. Ein irenfreundliches liberales Blatt wie die Reynolds’s Newspaper
druckte zwar die Briefinhalte ab, mutmaßte aber gleich, die Times sei getäuscht
worden und täusche nun dank ihrer Senilität die Öffentlichkeit.27 Andere, wie
der Standard, die Daily News, der Evening Telegraph oder der Daily Telegraph,
druckten die Briefe zusammen mit der sofortigen Entgegnung Parnells ab, was
ebenfalls seine Schuld relativierte. Denn Parnell erklärte unmissverständlich, das
Faksimile sei inklusive der Unterschrift eine Fälschung, und der Haupttext sei
von keinem seiner Sekretäre geschrieben worden.28 Offensichtlich war die Autorität der Times nicht so groß, dass ihr Wort mehr als galt als das des irischen
Politikers. Ob und in welche Richtung sich der Skandal entwickeln würde, war
damit solange unklar, bis die Echtheit der Briefe feststand. Die restlichen Vorwürfe der Times-Artikelserie wurden dagegen eher als Teil einer politischen
Auseinandersetzung gesehen, weniger als skandalöse Enthüllung.
Intensive Debatten löste die Kampagne der Times dagegen sogleich im Unterhaus aus. Damit erreichte sie zunächst ihr Ziel, die parlamentarische Debatte
über die Irlandgesetzgebung zu beeinflussen. Bei ihren Angriffen gegen Parnell
24
25
26
27
28
Vgl. die Angaben zu seinem Lebenslauf in: Memorandum for the Law Officers o. D., in: TNA,
HO 144/926/A49962.
Vgl. Daily News 7. 4. 1910 und 8. 4. 1910, Times 12. 4. 1910. Sein Vorgänger und Chef bei Scotland Yard, Monro, bestritt diese Zustimmung allerdings – er hätte ihm abgeraten, die Artikel
zu schreiben; vgl. TNA, HO 144/926/A49962/43.
Vgl. Unterlagen in: TNA, HO 144/926/A49962, bes. Anderson an Matthews 8. 3. 1890, in:
ebd. Vgl. auch die Aussage LeCaron in der Untersuchungskommission am 6. 2. 1889: Times
7. 2. 1889.
Reynolds’s Newspaper 24. 4. 1887, S. 4.
Daily Telegraph 19. 5. 1887, S. 5.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
337
und andere Angehörige stützten sich die unionistischen Abgeordneten explizit
auf die Belege der Times, und forderten Parnell auf, falls die Beschuldigungen
nicht zuträfen, diese durch eine Verleumdungsklage zu widerlegen.29 Durch die
Times-Artikel spitze sich die ohnehin polarisierte Kommunikation weiter zu.
So warf der Unionist E. J. Sauderson den irischen Abgeordneten den Umgang
mit Mördern vor, woraufhin T. M. Healy ihn als „Liar“ bezeichnete – ein für das
britische Parlament empörender Ausdruck, der Healys vorübergehenden Ausschluss zur Folge hatte.30 Auch bei den Spitzenpolitikern differierte die Bewertung der Briefe entlang ihrer Weltanschauung. Der liberale Oppositionsführer
Gladstone sah die Briefe von Beginn an als Fälschung an.31 Ebenso kritisierte
Gladstone in öffentlichen Reden die Times: Sie würde nicht wegen ihrer moralischen Position gekauft, sondern wegen ihrer guten Parlamentsberichte, den
Leserbriefen von wichtigen Leuten und weil sie als mächtig gelte.32 Dagegen sah
der konservative Premierminister Salisbury die Kampagne der Times als hilfreichen Rückenwind an und griff die Vorwürfe auf. Selbst nachdem die entscheidenden Briefe als Fälschung entlarvt waren, bezeichnete Salisbury die
irischen Politiker als Mordgehilfen, die für die Verbrechen Verantwortung trugen: „When they allowed crime to go forward, it acted; when they suppressed it,
it retreated“, kommentierte er öffentlich den abschließenden Kommissionsbericht.33 Die Times-Kampagne löste somit zwar in der politischen Öffentlichkeit
eine emotionale Empörung aus, da diese jedoch entlang der parteipolitischen
Grenzen verlief, entfaltete sich vorerst noch kein größerer Skandal.
Parnell selbst verhielt sich auffallend zurückhaltend und ignorierte lange die
Vorwürfe. Auf eine Verleumdungsklage verzichtete er, vermutlich, weil er das
Kreuzverhör vor irenfeindlichen Londoner Richtern scheute. Denn wie neuere
Forschungen andeuten, waren seine Verbindungen zu den radikalen Fenians
(der Irish Republican Brotherhood) enger als bisher angenommen.34 Parnell argumentierte deshalb öffentlich, wenn man ihn tatsächlich für einen Kriminellen
halte, solle der Staatsanwalt eingreifen.35 Erst ein Jahr später, nachdem eine Verleumdungsklage gegen die Times eines kaum beteiligten ehemaligen irischen
Abgeordneten gescheitert war, forderte Parnell die Einsetzung eines Select
Committee. Die konservative Regierungsmehrheit gewährte dagegen jedoch,
um kein Risiko einzugehen, nur die Einsetzung einer Royal Commission, die
29
30
31
32
33
34
35
Vgl. etwa die Debatte am 18. 4. 1887, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 313, Sp. 1157–
1162.
15. 4. 1887, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 313, Sp. 1083–1087. Zu Healys Verhalten in
diesem Kontext vgl. auch: Callanan, Healy, S. 185.
Vgl. bes. Gladstone Diaries 28. 4. 1887, Bd. 12, S. 29.
Daily News 21. 8. 1888, S. 3.
Times 21. 4. 1887, S. 8; Salisbury im Oberhaus 21. 3. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates,
Bd. 312, Sp. 1357–1369, S. 1363 f. Zu Salisburys Haltung vgl. auch: Roberts, Salisbury, 1999,
S. 446; Steele, Lord Salisbury, S. 213.
So Patrick Maume, Parnell and the I.R.B. Oath, in: Irish Historical Studies 29. 115 (Mai
1995), S. 363–370.
Reynolds’s Newspaper 8. 8. 1888, S. 1.
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338
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
nicht Parlamentarier aller Parteien, sondern drei Richter leiteten, was eine regierungsfreundliche Untersuchung ermöglichte. Dass der Attorney General bei der
Leitung der Kommissionssitzung ganz auf Seiten der Times stand, machte er
bereits in der ersten Sitzung deutlich.36 Das Kabinett fasste zudem den Beschluss, dass die Kommission nicht nur die Authentizität der Briefe, sondern in
aller Breite untersuchen sollte, ob die Führung der irischen Nationalisten mit
irgendwelchen Verbrechen in Verbindung stehe.37 Auch interne Schriftwechsel
dokumentieren, dass die Kommission zwar offiziell unabhängig erscheinen sollte, tatsächlich aber der Attorney General Richard Webster dem Premierminister
Salisbury versprach, sich an mündliche Absprachen zu halten.38 Dabei bediente
sich die Kommission ebenso wie die Times einer Politik der Sensationen, indem
sie Zeugen vorlud, die emotional bewegend über die bestialische Gewalt der
irischen Land League berichteten. So vernahm sie etwa eine schöne Frau, deren
Vater ermordet wurde, oder einen tauben Bauern, dem die Ohren abgeschnitten
worden seien. Die eingesetzte Kommission diente somit weniger der Überprüfung der Times-Kampagne als ihrer Verlängerung.
Die konservative Regierung unterstützte zudem auch bei der Kommissionsuntersuchung die Times mit zahlreichen Informationen. Der Irlandminister Balfour und Premier Salisbury waren sich der Problematik dieser Schützenhilfe
durchaus bewusst. Beide waren sich aber einig, dass die Regierung auf jeden Fall
eine begleitende Recherche veranlassen müsse. Allerdings war Balfour unsicher,
inwieweit diese der Times zugespielt werden sollte. „If we do not it may get
wasted – if we do shall we not find ourselves in a somewhat embarrassing position?“39 Salisbury entschied, entsprechende Ergebnisse fallweise zu übermitteln:
„[...] if it clearly fixes some one’s guilt, we shall be fullfilling an obvious elementary duty in facilitating the proof of it before the Commission.“40 Dubliner Archivunterlagen belegen tatsächlich die bereits von Zeitgenossen geäußerte Vermutung, dass die Regierung aus ihrer Administration heraus der Times für die
Kommissionssitzungen belastendes Material zuspielte. Diese Informationsübermittlung zwischen Ministerium, Scottland Yard und der Times verlief über
deren Anwalt, Joseph Soames. Er versorgte die verantwortlichen Journalisten
der Times schon vor den Sitzungen mit reichhaltigem Material.41 Wie der irische
Ministerialbeamte Joyce später in einem internen Memorandum vermerkte,
36
37
38
39
40
41
Vgl. seine Eingangsrede in: MacDonald, Diary, S. 2 f.
„[…] in no sense restricted, but should be as large as possible – so as to bring out the circumstances of the conspiracy in their fullest scope.“ Kabinettsprotokoll 23. 7. 1888, in: TNA, CAB
41/21/14.
Vgl. Webster an Salisbury 7. 9. 1888, in: NL, Salisbury Hatfield House.
Balfour an Salisbury 17. 8. 1888, abgedr. in: Robin Harcourt Williams (Hrsg.), SalisburyBalfour Correspondence. Letters exchanged between the Third Marquess of Salisbury and his
Nephew Arthur James Balfour 1869–1892, Cambridge 1988, S. 253.
Salisbury an Balfour 22. 8. 1888, abgedr. in: ebd., S. 254
Vgl. vor allem die Memoranden und Briefe in: NLI, Joseph McGarrity Collection Ms 17. 585;
vgl. auch die überlieferten Briefe Soames an Flanagan, bes. 16. 4. u. 15. 5. 1889, in: NLI, Ms
36. 681/1.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
339
ernannte der Irlandminister Balfour ihn persönlich „as the chief agent in secretly
proving and collating the greater portion of the evidence subsequently used by
the Times“.42 Das ermittelte Material habe er unter größter Geheimhaltung
Soames gegeben, „collating and conveying to the Times the most secret information filed at Dublin Castle and elsewhere.“43 Hierzu hätten auch geheime Akten
des Außenministeriums, der städtischen Polizei und Scottland Yards gehört. Zudem habe er bei regelmäßigen geheimen Treffen über seine Ermittlungen gegen
die Iren berichtet, bei denen neben Irland-Minister Balfour der Generalstaatsanwalt, der Times-Anwalt Soames und der Times-Manager MacDonald teilgenommen hätten. Insofern spricht einiges dafür, dass die Regierung und Times bei der
öffentlichen Diskreditierung der Iren weiterhin Hand in Hand arbeiteten. Als
regierungsunabhängige „Vierte Gewalt“ brillierte die Times also nicht.
Neben dieser offiziellen Schützenhilfe erhielt die Times in der Kommission
auch Unterstützung von dem Abgeordneten William O’Shea, dessen Ehefrau
mit Parnell ein Verhältnis hatte, das zwei Jahre später zu dem bereits dargestellten Eheskandal führte. Bereits hier suchte er eine persönliche Rache. Mit der
Begründung, er müsse danach ins Ausland, wurde O’Shea als erster Zeuge bei
der Kommission vorgeladen. Er überreichte den Richtern belastende Briefe von
Parnell und bezeichnete die Unterschrift des Faksimilebriefes als echt.44 Auch
der Times ließ O’Shea Briefe zukommen.45 Stärker noch als beim späteren Eheskandal sprach er dabei jeden Schritt mit dem führenden Kopf der liberalen
Unionisten ab, mit Joseph Chamberlain.46 Dabei bestärkte er Chamberlain noch
im Sommer 1888 in der Annahme, er wisse von Mitgliedern der irischen Partei,
dass Parnells Faksimile-Brief in der Times „undoubtly genuine“ sei.47 Auch bei
diesem Fall vermischten sich somit private und politische Kontroversen zu einer
Kampagne.
Dennoch zeigte sich, wie wenig sich ein Skandal trotz dieses vereinten Aktionismus steuern ließ. Dies betraf zunächst die Aufdeckung der Fälschung. Sie
wurde gerade durch den Abdruck jenes Faksimilebriefes ausgelöst, der eigentlich die Iren besonders belasten sollte. Schon unmittelbar nach Veröffentlichung
der Briefe hatten verschiedene Iren spontan den Verdacht geäußert, der Journalist Pigott habe sie gefälscht. Wie später beim Dreyfus-Skandal identifizierten
Bank- und Postangestellte die in der Zeitung faksimilierte Handschrift.48 Den
42
43
44
45
46
47
48
Memorandum Joyce o. D. (April 1910) in: NLI, Ms 11. 119.
Zit. ebd. Vgl. auch: Saundars an Joyce 5. 5. 1889 und Monro an Joyce 28. 3. 1890 u. 23. 5. 1890
(Abschrift 1910) in: NLI, Ms 11. 119.
Webster 31. 10. 1888, in: Macdonald, Diary, S. 6
Vgl. O’Shea an Chamberlain 9. 8. 1888 und Chamberlain an O’Shea 11. 8. 1888, in: NLI, Ms
5752.
Vgl. die Korrespondenz Chamberlain an O’Shea, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC
8/8/1/52 u. 53, sowie JC 8/8/1/93 bis 104.
Aufzeichnung Chamberlain 1. 8. 1888, in: Univ. Birmingham Special Collection, JC 8/8/1/92.
Erklärung 7. 5. 1887, in: BL Althorp Papers Ms. Add. 77117. Die Annahme, T.M. Healy habe
Pigott als erster überführt, geht dagegen wohl auf Healys Memoiren zurück; vgl. T.M. Healy,
Letters and Leaders of My Day, London o. D., S. 271.
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340
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
entscheidenden Beleg für die Fälschung brachte der von der Times ebenfalls mit
gefälschten Briefen beschuldigte Patrick Egan, der bemerkte, dass diese Satzteile
aus seiner Korrespondenz aufwiesen, die um weitere Formulierungen ergänzt
waren.49 Da Pigott früher selbst auf Seiten der irischen Nationalisten aktiv gewesen war, erinnerte sich Egan an dessen Handschrift, seine früheren Briefwechsel und seinen Charakter – zumal Pigott ihn einige Jahre zuvor erpresst
hatte.
Wie bei Parnells Gegnern wurden jetzt bei seinen Verteidigern jene Journalisten und Politiker aktiv, die in fast allen Skandalen eine größere Rolle spielten.
Sie schlossen sich zusammen, um die unsauberen Quellen der Times aufzudecken. So bestärkte der irische Journalist und Politiker Tim Healy den radikalen
Journalisten und Politiker Henry Labouchere in dem Verdacht, Pigott habe die
Briefe gefälscht.50 Labouchere lockte Pigott im Oktober 1888 unter einem
falschen Vorwand in seine Wohnung und erreichte dort ein Geständnis, das dieser jedoch sofort widerrief. Labouchere erfuhr hier jedoch bereits alle Einzelheiten der Fälschung und konnte sofort Gladstone die umfassende Überführung
Pigotts und der Times mitteilen.51 Als Pigott als Zeuge der Kommission aussagte, konnten sie ihn im Kreuzverhör unter anderem damit öffentlich überführen, dass Pigott beim Aufschreiben diktierter Worten die gleichen Rechtschreibfehler wie bei den gefälschten Briefen machte. Nach einem Schuldeingeständnis
floh Pigott unter gefälschtem Namen bis nach Madrid, wo er sich, als die
spanische Polizei ihn verfolgte, mit einem Revolver das Leben nahm. Trotz oder
gerade wegen des Selbstmordes des windigen Journalisten konnte das Schuldeingeständnis kaum deutlicher ausfallen.
Die Aufdeckung der Fälschung führte zu einer breiten Empörung und lautstarkem Spott über die Times und die konservative Regierung. Die vormaligen
Ankläger wurden so zum eigentlich Gegenstand des Skandals. Nachdem die
Times und die Konservativen den Begriff Parnellism and Crime als feststehende
Redewendung aufgebracht hatten, bezeichnete die liberale, irische und die sozialistische Öffentlichkeit die politische Rechte nun konsequent nach dem Namen
des Fälschers als „Pigottist“ und „pigottist press.“ Den Titel der Times-Serie
griff etwa die Labour World spielerisch in einer Serie über „Unionism and
Crime“ auf.52 Ebenso startete Steads Pall Mall Gazette eine ausführliche und
gut recherchierte Serie über die falschen Anklagen der Times und ihr Zusammenspiel mit der Regierung, die er „Pigottism and Crime“ betitelte und für nur
einen Penny als Broschüre in einer Sonderausgabe publizierte.53 Auch diese
49
50
51
52
53
Labouchere an Gladstone 28. 10. (1888), in: BL Gladstone Papers Ms. Add. 56449: 208.
Labouchere an Healy 10. 10. 1888, in: UCD P6 B 25.
Labouchere an Gladstone 28. 10.(1888) und 30. 10.(1888), in: BL Gladstone Papers Ms. Add.
56449: 208.
Ausschnitte in: TNA, HO 144/926/A49962/3.
Pigottism and Crime exposed. Pall Mall Gazette Extra Nr. 16, Exemplar in: BL Gladstone
Papers Ms. Add. 44634: 40.
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1. Die Times als Fälscherin und Regierungsorgan?
341
Anklage gegen die Times und ihre Verbindungen zu den Tories fiel äußerst drastisch aus:
The Times stands convicted of this infamous crime, whose heinousness it is impossible to
exaggerate. Behind the Times stands the Government, which as Sir. W. Harcourt truly
declared ,endorse, patronize and promote every calumny of the Times against the Irish
members.‘ […] Here is the real conspiracy to which the attention of every elector should
be directed.54
Mit langem Hintergrundberichten machte die Pall Mall Gazette auf die vorherige journalistische Karriere von Pigott aufmerksam, die die Times leichtsinnig
ignoriert hatte. Stead war dabei besonders gut über die interne Arbeit der Kommission informiert, weil sein Mittelsmann bei vielen Skandalen, Viscount Esher,
ihn erneut mit internen Berichten versorgt hatte.55 Steads umfassende Berichterstattung über den unseriösen Journalismus der Times war zweifelsohne auch
eine Rache für die Schmähungen, die er zuvor durch die „Qualitätsblätter“ erhalten hatte. Indem Stead enthüllte, er habe die Briefe abgelehnt, unterstrich er
seine Allwissenheit und seine Seriosität im Unterschied zur Times.56
Besonders scharf fielen erwartungsgemäß die Reaktionen der irischen und
irenfreundlichen Öffentlichkeit aus. Publikationen wie „Pigottism and Times“
richteten sich noch direkter gegen die Regierung: „Here is the Tory Government revealed as being in trade and traffic with the employer of an avowed
forger and confessed swindler.“57 Vorwürfe wie „conspiracy“ und „corruption“
durchzogen diese Texte. Selbst die deutschen Zeitungen der Zeit spotteten über
die Leichtgläubigkeit der Times. Ein deutscher Journalist machte sich anschließend einen Spaß daraus, eine absurde Meldung über angebliche Forschungen
von Robert Koch an die Times zu geben, die die Times zur Freude der Pall Mall
Gazette erneut leichtfertig druckte.58 Ebenso musste sich die Regierung seit
1888 regelmäßige detailreiche Vorwürfe und Nachfragen im Unterhaus gefallen
lassen, wobei radikale und irische Abgeordnete unter Nennung von Namen die
Unterstützung der Times durch Beamte öffentlich machten.59 Auch wenn hier
keine so markante Überführung wie bei Pigott gelang, wurde Salisburys Regierung durch die parlamentarischen Anfragen dennoch in die Enge getrieben.
54
55
56
57
58
59
Ebd., S. 16.
Zu diesem Austauschverhältnis vgl. Baylen, Politics, S. 128.
Nicht nur in seinen Artikeln, sondern auch in seinen üblichen Vorabdrucken für Spitzenpolitiker stilisierte Stead sich so; vgl. etwa Steads Schreiben an Premierminister Salisbury: „[…]
you may be rather amused to see how easily I might have prevented the publication of Parnellism and Crime and the famous forgeries.“ Stead an Salisbury 5. 2. 1890, in: NL Salisbury,
Hatfield House.
Pigottism and the Times, Exemplar in: NLI, Ms 24,520 Amy Mander Papers. Die Bemerkungen von Lyons Parnell-Biographie zu dem Fall bauen im hohen Maße auf dieser Broschüre
auf.
Pall Mall Gazette 27. 11. 1890, S. 2.
Vgl. etwa die Anfrage: 12. 11. 1888, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 330, Sp. 908 f.;
28. 3. 1889 Bd. 334; 18. 3. 1889, Sp. 44 f.; 28. 3. 1889 Bd. 334, Sp. 1014 f.
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342
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Aus heutiger Sicht erinnert der Skandal an die 1983 im Stern veröffentlichten
gefälschten Hitler-Tagebücher. Im Vergleich dazu waren die Folgen des Parnellism and Crime-Skandals jedoch weitreichender. Ähnlich wie der Stern erlitt
die Times durch den Skandal einen starken Reputationsverlust und hohe finanzielle Einbußen. Da das damalige Ansehen der Times jedoch weitaus größer war
und die Times durch die langjährigen Untersuchungen äußerst hohe Kosten von
angeblich 200 000 Pfund hatte, traf es sie ungleich härter. Die Times verlor ihren
Ruf als quasi unfehlbare Tageszeitung und ihre Auflage sank in den folgenden
Jahren um über ein Drittel von 65 000 auf 40 000. 1890 war sie bereits nahezu
bankrott.60 Dass sie sich in ihrer Entschuldigung gegenüber Parnell selbst als
Opfer einer Verschwörung rechtfertigte, half ihr wenig.61 In der bisherigen Geschichte der Times war dies zweifelsohne ihr dramatischster Einschnitt. Ihr
Herausgeber Buckle behielt zwar trotz seines Rücktrittsangebotes seinen Posten, ihr Manager MacDonald überlebte aber die Krise nicht; während Pigotts
Überführung erkrankte er und starb Ende 1889.62 Gerade die scharfe Kampagne
gegen die Iren förderte zudem die Gründung eines neuen Konkurrenten, des
liberalen Massenblattes The Star, das seit 1888 mit einer pro-irischen Haltung
schnell rund 200 000 Leser gewann.63
Der Times-Skandal hatte zudem größere politische Konsequenzen als das
Stern-Desaster mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern. Durch den Skandal erreichte Parnell den Zenit seines öffentlichen Ansehens. Ganz gegen die Intention der Times und der Regierung stärkte der Fall das Vertrauen in die Integrität
des Irenführers und die Lauterkeit der irischen Fraktion. Dass die Konservativen, die Times und der Kommissionsbericht weiterhin andere irische Abgeordnete in Verbindung mit Verbrechen brachten, war nunmehr unerheblich.
Die von Parnell noch im gleichen Jahr geführten vertraulichen Absprachen mit
William Gladstone über eine irische Selbstverwaltung gingen mit Parnells moralischem Sieg einher. Wäre es im folgenden Jahr nicht zu dem Skandal über
Parnells Ehebruch gekommen, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach die Home
Rule gerade in Folge des Skandals um die Times umgesetzt worden.
Zudem diskreditierte der Skandal nachhaltig die konservative Regierung und
die Unionisten insgesamt. Sie erlitten einen Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust, der mit zu einer Reihe von Niederlagen bei den folgenden Nachwahlen
60
61
62
63
Vgl. Buckles Mitteilung an Esher laut: Tagebuch Esher 9. 1. 1891, in: Churchill Archiv Centre
ESHR 2/9; Enid Moberly Bell, The Life and Letters of C.F. Moberly Bell, London 1927,
S. 134 f. u. 233. Ähnlich auch: Times, History of the Times, Bd. 3, S. 81. Vermutlich waren die
Kosten etwas geringer: 60 000 Pfund als Kosten für die Zeugen benennt der Anwalt der Times
in: Soames an Buckle 17. 2. 1890, in: NL Salisbury, Hatfield House.
Vgl. etwa die Rechtfertigungen in: Times 28. 2. 1889 und 14. 2. 1890.
Sein Tod wurde auch öffentlich mit dem Prozess in Verbindung gebracht; vgl. Illustrated
London News 21. 12. 1889, S. 786.
Zur Gründung vgl. Ian Sheehy, T. P. O’Connor and The Star 1886–90, in: D. George Boyce
und Alan O’Day (Hrsg.), Ireland in Transition 1867–1921, London und New York 2004,
S. 76–91.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
343
beitrug.64 Dass die Konservativen den Kommissionsbericht insgesamt, trotz der
eingestandenen Fälschung, als Beleg dafür interpretierten, dass die irischen Politiker doch in Verbindung zu Mördern standen, half angesichts dieser symbolischen Niederlage bei den Briefen wenig.65 Deshalb empfahl der Irland-Minister Balfour dem Premierminister einen moderaten Kurs gegenüber den Iren,
weil die Regierungsposition nach dem Skandal kaum vermittelbar sei.66
Der Fall zeigte vor allem, dass die Zunahme von politischen Skandalen seit
den 1880er Jahren nicht nur die Macht einzelner Zeitungen stärkte, sondern sie
auch angreifbar machte. Der Fall war ein besonders prominentes Beispiel dafür,
dass die Presse im Zeitalter der Sensationen sowohl Akteur als auch Objekt politischer Konflikte sein konnte, die in Form von Skandalen ausgetragen wurden.
Die Kritik an der Times verfestigte zugleich journalistische Normen. Die solide,
eigenständige und kritische Recherche sowie die journalistische Distanz zur Regierung und zu Behörden bildeten dabei die wichtigsten Verhaltensregeln, um
dem Ideal der „vierten Gewalt“ näher zu kommen.
2. Kollaps eines Spitzelsystems:
Der Tausch-Leckert-Lützow Skandal
Im Vergleich zu Großbritannien verfügten die deutschen Regierungen vor 1914,
insbesondere unter Bismarck, über deutlich größere Möglichkeiten der Presselenkung. Das galt zunächst für Zensurmaßnahmen. Trotz des recht liberalen
Reichspressegesetzes von 1874 wurden Journalisten etwa häufig wegen Majestätsbeleidigung, Hochverrat, Aufruf zum Klassenhass, Gefährdung des öffentlichen Friedens oder unzüchtiger Schriften strafrechtlich verfolgt und ihre
Zeitungen beschlagnahmt. Insbesondere im Zuge des Kulturkampfes und der
Sozialistengesetze kam es trotz des gerade verabschiedeten Reichspressegesetzes
schnell zu einem Anstieg der Verurteilungen, wobei ein Spitzelsystem der Politischen Polizei versuchte, die Namen der meist anonym schreibenden Journalisten zu ermitteln. Nach 1886 nahm die Zahl der Prozesse gegen Journalisten,
nach einer kurzen rückläufigen Phase, erneut zu.67 Die deutschen Regierungen
gaben zugleich stärkere Anreize zur Kooperation als in Großbritannien. Insbesondere die Bestechungsgelder aus Bismarcks geheimen „Reptilienfonds“ luden
ausgewählte Journalisten ein, im Sinne des Kanzlers zu schreiben. Obgleich man
die Bedeutung des Reptilienfonds nicht überschätzen darf, ermöglichte er zusammen mit den ebenfalls unterstützten „offiziösen“ Blättern durchaus einen
64
65
66
67
So auch die Einschätzung von: Steele, Lord Salisbury, S. 213.
Vgl. Rede Salisburys im Oberhaus 21. 3. 1890, Hansard’s Parliamentary Debates, Bd. 312,
Sp. 1357–1369.
Balfour an Salisbury 26. 2. 1890, abgedr. in: Harcourt Williams (Hrsg.), Salisbury-Balfour
Correspondence, S. 307.
Vgl. einführend Wilke, Grundzüge, S. 254; ausführlich: Wetzel, Presseinnenpolitik, bes.
S. 159 u. 189.
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344
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
beachtlichen Einfluss auf die Presse.68 Auch Bismarcks Nachfolger bedienten
sich, trotz der Auflösung des Fonds unter Caprivi, weiterhin staatlich alimentierter Journalisten, die heimlich Meldungen verfassten oder Verfasser von
Zeitungsartikeln ermittelten. So verfügte das Innenministerium 1896 über eine
Liste mit 46 Journalisten, die anscheinend alle in irgendeiner Form mit der Bürokratie kooperierten.69
Im Vergleich zu Großbritannien war in Deutschland zudem der Kontakt zwischen den Regierungsmitgliedern und den Journalisten selektiver. Die deutschen
Kanzler, Minister und das Umfeld von Kaiser und Regierung verstanden die
Zeitungen vor allem als Sprachrohr, gegenüber dem man auf Distanz blieb. Nur
ausgewählten Journalisten gewährten sie eine informelle Übermittlung von Informationen und Einschätzungen, die diese übernehmen sollten. Bei diesen „inspirierten“ Artikeln, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, blieben die
Namen der Übermittler anonym. In politischen Kreisen war allerdings recht
genau bekannt, welches Regierungsmitglied welchen Journalisten empfing und
„inspirierte“. Da derartige Meldungen jeweils den Charakter einer politischen
Handlung hatten, lösten sie sofort Diskussionen darüber aus, wer aus welchem
Grunde welche Andeutung öffentlich gemacht habe. Dabei schlossen die Politiker von den Zeitungen jeweils auf die möglichen „wahren“ Urheber, die sie
dann durch ihnen vertraute Journalisten oder Polizeispitzel zu finden suchten.
Dass bürgerliche Zeitungen ohne Einflüsterungen eigenständig einzelne Reichsämter gezielt in Misskredit brachten, erschien dank dieser Wahrnehmung unwahrscheinlich.70
Charakteristisch für diese Pressepolitik war, dass sie sich nicht allein gegen
gegnerische Parteien richtete, sondern häufig auch gegen Rivalen in der Reichsleitung. Derartige „inspirierte“ Veröffentlichungen konnten sich selbst gegen
den Kanzler wenden, was dieser ebenfalls über offiziöse Mitteilungen beantwortete. Vor allem die Arnim-Affäre machte 1874 derartige Veröffentlichungstechniken bekannt. Sie entstand daraus, dass dem deutschen Botschafter in Paris,
Graf Harry von Arnim, Ambitionen auf das Kanzleramt nachgesagt wurden
und er eine andere Frankreichpolitik als Bismarck forderte. Letzteres untermauerte Arnim durch lancierte Zeitungsartikel mit Dokumenten, die Bismarcks
republikfreundliche Haltung gegenüber Frankreich andeuteten, die dieser
natürlich nur taktisch zur Schwächung Frankreichs hegte. Bismarck sorgte dar68
69
70
Vor einer Überschätzung der Wirkung der Reptilienfonds warnt auch: Requate, Journalismus, S. 327 f. Vgl. zur Entlohnung nach 1890 auch: Stöber, Pressepolitik, S. 60 u. 73.
Verzeichnis der Journalisten 12. 10. 1896, in: GStA, HA I Rep. 77 CB 5 Nr. 3 I. Darunter sind
Namen wie Lützow, Leckert, Normann-Schumann, Huhn, Schwennhagen, Schweinburg,
Hoenig und Zimmermann.
Eine hervorragende Quelle, um dies auszumachen, sind die Briefe von Holstein und von Eulenburg; vgl. Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz; Rich Fisher (Hrsg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins. Aber auch Erinnerungen und Tagebücher verdeutlichen
dies; vgl. etwa Aufzeichnung Waldersees, der sich u. a. des Schwagers des Besitzers der Frankfurter Zeitung „bediente“: Eintrag 6. 1. 1893, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten, S. 274 f.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
345
aufhin nicht nur für Arnims Versetzung nach Konstantinopel und einen Prozess
gegen Arnim wegen Entwendung amtlicher Dokumente, sondern für die Veröffentlichung von Aktenauszügen, die Arnim diskreditierten.71 Eine extra verabschiedete „Lex Arnim“, wie sie schnell genannt wurde, sollte künftig vor
Indiskretionen durch Beamte des Auswärtigen Amtes schützen.
Kontrollierbar war dieses Wechselspiel aus Geheimhaltung, Veröffentlichung
und Bestrafung sicher nicht. Das bekam Bismarck insbesondere 1888 in der
Geffken-Affäre zu spüren, als er den konservativen Geschichtsprofessor Heinrich Geffken verhaften ließ, weil er angeblich eine gefälschte Version des Kriegstagebuches des just verstorbenen Kaisers Friedrich III. veröffentlicht hätte.
Hierauf empörte sich nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch der
neue Kaiser rückte von Bismarck ab.72 Bismarck machte bekanntlich dennoch
selbst nach seinem Rücktritt von der Lancierung skandalöser Interna an die
Presse Gebrauch, um seine politischen Gegner moralisch zu diskreditieren. So
lancierte er einen Bericht, wie der verschuldete Schwiegervater des Innenministers Karl Heinrich von Boetticher saniert wurde, und 1896 ließ er über die Hamburger Nachrichten enthüllen, dass der geheime Rückversicherungsvertrag mit
Russland nicht verlängert worden sei.73 Derartige Enthüllungen boten jeweils
Stoff für eine doppelte Empörung: einerseits über die aufgedeckte Handlung,
andererseits darüber, dass ein ehemaliger Kanzler durch „inspirierte“ Artikel
Staatsgeheimnisse öffentlich machte, um seine Nachfolger zu treffen.
Dieses kaiserzeitliche Pressesystem aus Einflüsterungen, bezahlten Journalisten
und Polizeispitzeln war bereits unter Bismarck durchaus bekannt. Um es jedoch
detailliert nachzuweisen und der öffentlichen Kritik zu unterziehen, bedurfte es
eines größeren Skandals. 1896/97 implodierte diese Pressepolitik, die längst ein
unkontrollierbares Eigenleben entwickelt hatte, im sogenannten Tausch-LeckertLützow-Skandal. Er zeigte, wie mit Hilfe von bezahlten Journalisten Minister
verunglimpft wurden und wie die Polizei eigenmächtig eine intrigante Medienpolitik betrieb. Auch dieser Skandal hatte einen längeren Vorlauf. Bereits seit den
frühen 1890er Jahren suchten die Minister zunehmend nach den Urhebern von
„inspirierten“ Artikeln, die Interna und Falschmeldungen in wichtigen bürgerlichen Zeitungen verbreiteten. Hierzu zählten etwa Meldungen über den angeblich schlechten Gesundheitszustand des Kaisers, vermeintlich bevorstehende
Kanzlerwechsel oder Indiskretionen aus dem Bundesrat. Bei letzterem kam das
71
72
73
Vgl. hierzu bereits ausführlich: George O. Kent, Arnim and Bismarck, Oxford 1968, S. 129–
171. In der Bismarckforschung fand die Arnim-Affäre sicherlich zu Unrecht wenig Beachtung; nur knapp erwähnt ist sie in Engelberg, Bismarck, S. 99 f., u. Gall, Bismarck, S. 568;
Gall deutet sie als Angst Bismarcks vor einer „Palastintrige“.
Engelberg, Bismarck, S. 526 f.
Hank, Kanzler, S. 317; Hammann, Der neue Kurs, S. 11; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4,
S. 281; Stöber, Pressepolitik, S. 159 f. Zum Rückversicherungsvertrag vgl. auch: Notiz Hohenlohe 11. 11. 1896, in: BA/K, N 1007-1604; Eulenburg an Wilhelm II. 3. 11. 1896, abgedr. in:
Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1747; Bülow an Eulenburg 6. 11. 1896, abgedr.
in: ebd., S. 1749; Aufzeichnung Eulenburg für Bülow 8. 11. 1896, abgedr. in: ebd., S. 1750 f.
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V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Staatsministerium noch zu dem Schluss, es handele sich wohl um „Geldgeschäfte,
die von Journalisten angestrengt werden bzw. um Indiskretionen der Subalternen
in den kleinen Kanzleien“.74 Die Annahme einer untergeordneten Korruption
diente damit als Beruhigung, ohne dass Urheber ausgemacht werden konnten.
Welche Intention hinter den lancierten Gerüchten aus „offiziellen Kreisen“
steckte, war oft nicht klar zu erkennen. So meldete die Kölnische Zeitung am
28. April 1896, Eulenburg sei als Kanzler auserwählt, weil er gegen die Reform
der Militärstrafprozesse war, deren angestrebte öffentliche Prozessführung gerade hart umkämpft war. Diese „inspirierte“ Neuigkeit ließ sich einerseits als Warnung vor den Machtambitionen des Kaiserfreundes Eulenburg verstehen. Dementsprechend interpretierte Eulenburg selbst diese „Attacke in der Kölnischen
Zeitung“: „Diese Aktion scheint mir von der Gruppe Marschall, Bronsart lanciert zu sein und beunruhigt mich deshalb. [...] Es unterliegt keinem Zweifel, daß
der Kaiser diese Artikel in der Kölnischen Zeitung ganz direkt in Zusammenhang mit dem Ausw. Amt und Bronsart bringt.“75 Andererseits ließen sich solche
Meldungen als eine doppelte Intrige interpretieren, die den Außenstaatssekretär
Marschall und den Kriegsminister Bronsart von Schellendorf als Urheber von
Falschmeldungen gegen Kaiserfreunde darstellen sollte, um sie beim Kaiser gezielt in Ungnade zu bringen. Eine derartige Auslegung lag dann durchaus in
Eulenburgs Interesse. Entsprechend deutete Wilhelm II. den Artikel und telegrafierte sofort: „M.[arschall] und B.[ronsart] treiben ihr tolles Spiel in frechster
Weise noch schlimmer als je. Der Teufel ist völlig los, es wird ein Blitzstrahl nötig
werden.“76 Gerade weil die Presse als Ort der versteckten politischen Verlautbarung galt, konnte eine derartige Zeitungsmeldung gravierende Reaktionen auslösen und als hochpolitische Intrige erscheinen, die über die Karrieren von Politikern entschied und schließlich sogar Minister stürzte.
Entsprechend intensiv gestaltete sich die Suche nach den Hintermännern solcher Artikel. Bereits 1893 fiel der Verdacht auf einen Agenten der Politischen
Polizei namens Ernst Normann-Schumann. Betroffene Minister, wie Außenstaatssekretär Marschall, mieden daraufhin den Kontakt zur Politischen Polizei.77 Auch der Vorwärts enthüllte 1893, dass Normann-Schumann anscheinend
von Bismarck „inspiriert“ intime Kenntnisse von Hof, Diplomatie und Regierung verbreite. Normann-Schumanns Agitation für die Antisemiten und gegen
die Regierung führte schließlich mit zu seiner Entlassung.78 Aber auch danach
74
75
76
77
78
Staatsministerium 19. 12. 1895, Bd. 120, Staatsministerium 18. 4. 1896, Bd. 122, beide in: GStA,
HA I Rep 90a.
Eulenburg 29. 4. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3,
S. 1663.
Wilhelm II. an Eulenburg 29. 4. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1664.
Vgl. Anklageschrift Tausch 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069.
Vgl. Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069; Vorwärts 22. 4. u. 25. 4. 1893.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
347
sparte der Journalist, der weiter den Kontakt zur Politischen Polizei pflegte,
nicht mit spektakulären Artikeln, die er in insbesondere in Pariser Zeitungen
veröffentlichte. Sie thematisierten etwa die wahnsinnige Unbeherrschtheit des
Kaisers, Caprivis Vermögensverluste beim Zusammenbruch seiner Bank oder
Lucanus „Handel“ mit Orden, um so außenpolitische Verwirrung zu stiften
und die Gerüchte in die deutsche Presse und politische Öffentlichkeit einzuspeisen.79 Bereits der Fall Normann-Schumann deutet damit an, dass sich der
von Bismarck geschaffene Polizeiapparat zu verselbständigen drohte.
Dass für diese intrigante Pressepolitik nicht allein Minister und das Umfeld
des Kaisers verantwortlich waren, sondern die Politische Polizei und ihre journalistischen Spitzel, legte schließlich 1896 der weltweit als sensationell bewerteter Skandal um den Kriminalkommissar Eugen von Tausch offen.80 Die
Öffentlichkeit erfuhr nun detailliert, dass die Politische Polizei durch bezahlte
Journalisten eigenständig gezielte Falschmeldungen verbreitet hatte, um Minister zu stürzen und eine Politik im Bismarck’schen Sinne zu erreichen. Ähnlich
wie der britische Parnellism and Crime-Skandal um die Times machte der
deutsche Skandal die komplexen Beziehungen zwischen Regierung und Presse
öffentlich und verhandelte, wie eine journalistische Recherche auszusehen habe.
Von seinem Ergebnis her stand der Skandal für den Kollaps von Bismarcks
Pressesystem, das seiner Eigendynamik erlag. „Wir haben das traurige Schauspiel vor uns, daß das Lockspitzeltum der politischen Polizei, das in der Zeit der
Sozialistenverfolgung eine so traurige Rolle spielte, sich schließlich gegen die
Regierung selbst gekehrt hat, daß es Ministerstürzerei und Ministerhetzerei mit
Erfolg getrieben hat [...]“, fasste die liberale Frankfurter Zeitung diese ebenso
groteske wie spektakuläre Enthüllung zusammen.81
Ausgelöst wurde der Skandal im September 1896 durch eine erneute „inspirierte“ Pressemeldung mit intriganten Verdächtigungen. Die Nachrichtenagentur WTB hatte einen Toast des Kaisers auf den russischen Zar Alexander angeblich durch einen Hörfehler so übermittelt, dass sich daraus eine russlandkritische
Nuance ergab. Daraufhin setzte die Suche nach dem Urheber der Falschmeldung ein, da sie außenpolitische Konsequenzen zu haben drohte.82 Die liberale
79
80
81
82
So zumindest die Erinnerung von: Hammann, Der neue Kurs, S. 74.
Vgl. etwa zur englischen Rezeption die Wertungen in: Times 8. 12. 1896, Standard 8. 12. 1896,
Daily Telgraph 7. 12. 1896, Morning Post 9. 12. 1896; Daily News 9. 12. 1896.
Frankfurter Zeitung 4. 12. 1896.
Wilhelms Toast beim Zarenbesuch in Breslau am 5. 9. 1895 lautete angeblich: „Je puis vous assurer, Sire, que je suis animé des mêmes sentiments traditionels que Vortre Majesté“; das WTB
meldet jedoch „[...] que mon Père“, was angesichts der geringen Sympathie von Wilhelms
Vater für Russland als Affront galt; zur Rekonstruktion vgl. Anklageschrift Erste Staatsanwalt
3. 11. 1896, in: GStA, HA I. Rep. 84a Nr. 58196. Zum Tausch-Skandal liegen bisher, trotz seiner
immensen Bedeutung, so gut wie keine wissenschaftlichen Arbeiten vor; vgl. bisher nur die
ältere marxistische Interpretation: Dieter Fricke, Die Affäre Leckert-Lützow-Tausch und
die Regierungskrise von 1897 in Deutschland, in: ZfG 7 (1960), S. 1579–1603; Hinweise bes.
aus der SPD-Presse in: Hall, Scandal, S. 106–111.
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348
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Welt am Montag behauptete daraufhin in mehreren Artikeln, die erste Depesche
sei
von einer der jüngst so oft besprochenen ‚unverantwortlichen‘ Stellen der ‚Nebenregierung‘ ausgegangen und dem Vertreter des officiösen Drahtes in die Feder diktiert worden.
Unser Gewährsmann steht nicht an, als den Urheber dieser ‚Aktion‘ einen hohen Beamten der kaiserlichen Hofhaltung zu bezeichnen, dessen Person zwar bisher noch nicht
unter dem Begriff ‚Nebenregierung‘ fiel [...].83
Damit wies der Artikel, der sofort in der gesamten Presse Beachtung fand, ohne
Namensnennung direkt auf den Oberhofmarschall August von Eulenburg und
englandfreundliche Kreise hin.
Bezeichnenderweise war der zuständige Abteilungsleiter der Politischen Polizei, Eugen von Tausch, der auch in diesem Fall mit der Suche der journalistischen Übeltäter und Hintermänner beauftragt wurde, gleichzeitig der eigentliche Drahtzieher dieser Falschmeldung. Durch die von seiner Behörde bezahlten Journalisten hatte er genau jene Falschmeldung verbreiten lassen, gegen die
er jetzt ermitteln sollte. Entsprechend vertuschte der Kommissar die Spur und
lenkte den Verdacht auf den Außenstaatssekretär Adolf Marschall von Bieberstein.84 Die antisemitische Staatsbürger-Zeitung benannte den Außenstaatssekretär, durch Hinweise von Tausch und Lützow, dann auch öffentlich als
Verantwortlichen für die Verleugnung.85 Da Marschall seit Jahren Hauptopfer
derartiger Meldungen war, hatte er jedoch schon seit einiger Zeit eigenständige
Ermittlungen begonnen. Als früherer Staatsanwalt in derartigen Dingen geschult, berief er zahlreiche Journalisten ein und befragte sie auf deren Quellen,
insbesondere im Verkehr mit Ministerien und der Politischen Polizei. Dabei
fand er heraus, dass Tausch bewusst falsche Journalisten als Urheber benannt
hatte, die als Vertraute seines Ministeriums galten. Als Urheber des KaisertoastArtikels in der Welt am Montag machte er zwei von Tausch bezahlte Journalisten aus, die angeblich ihre Informationen direkt vom Auswärtigen Amt haben
wollten, tatsächlich aber nie von Marschall empfangen worden waren. Hier
handelte es sich um den 19-jährigen Journalisten Heinrich Leckert, der erst seit
kurzem in Tausch Diensten für verschiedene Zeitungen schrieb, und den 40-jährigen Journalisten Freiherr Karl von Lützow, der seit 1892/93 im geheimen
Dienst der Politischen Polizei Artikel und Gerüchte in den Medien platzierte.
Gegen beide erfolgte Anfang Dezember 1896 ein Prozess wegen Beleidigung.
Damit brachte weder die Presse noch der Reichstag, sondern ein Staatssekretär den Skandal maßgeblich ins Rollen, indem er die Missstände in der Bürokra83
84
85
Welt am Montag Nr. 39, 28. 9. 1896. Am 5. 10. 1896 bekräftigte sie dies.
Die hier sehr geraffte Rekonstruktion des Falles stützt sich vornehmlich auf die Ermittlungsakten und die Aussagen bei den späteren Prozessen; vgl. bes. Anklageschrift 15. 3. 1897, in:
GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Prozessaussagen in gedruckter Form auch in: Friedlaender,
Interessante Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 72–159.
Staatsbürger-Zeitung Nr. 495, 21. 10. 1896 u. Nr. 497, 22. 10. 1896. Wegen des Artikels
„Zum Kapitel Offiziöse Pressmisswirtschaft“ wurde dieses Blatt daraufhin konfisziert; vgl.
Königliche Amtsgericht 21. 10. 1896, in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 13859.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
349
tie aufdeckte. Allerdings hatten ihm insbesondere Journalisten der liberalen
Presse, wie der Chefredakteur des Berliner Tageblattes Eugen Wolf, die maßgeblichen Hinweise auf die Intrigen der Politischen Polizei gegeben. Bei dem
Beleidigungsprozess gegen die beiden Journalisten Lützow und Leckert trat
Außenstaatssekretär Marschall eigentlich als Zeuge auf, er übernahm aber mit
seiner Aussage schnell die Rolle des Anklägers. Dabei klagte er Kommissar
Tausch öffentlich an, falsche Informationen zu verbreiten. Seit mindestens 1891,
so habe er ermittelt, hätte die Geheime Polizei skandalöse Artikel gegen verschiedene Staatssekretäre lanciert. Die Notwendigkeit, diese Interna nun öffentlich zu machen, rechtfertigte Marschall mit den später viel diskutierten Worten:
„Wenn aber die Vertrauensmänner des Herrn von Tausch sich erdreisten, mich,
meine Beamten und das Auswärtige Amt zu verleumden, so flüchte ich in die
Öffentlichkeit und brandmarke dies Treiben (Große anhaltende Bewegung).“86
Auf Marschalls „Flucht an die Öffentlichkeit“ hin wurde Tausch verhaftet und
verschiedene Ermittlungsverfahren gegen ihn begonnen.
Bereits diese ersten Enthüllungen galten international als eine Sensation. Die
Times sprach in ihren zahlreichen Artikeln etwa von einem „political cause
célèbre“, der Spectator titelte sogar „The German Panama“.87 Unverkennbar
prägten die zahlreichen Berichte die britischen Vorstellungen über die deutsche
Pressepolitik. Steads Review of Reviews beschrieb Deutschland als einen vormodernen Staat, in dem die Geheimpolizei Journalisten einfach verhaften könne
und Falschmeldungen verbreite.88 Andere englische Blätter, wie der Daily Telegraph, deuteten den Fall in Verbindung mit den anderen Skandalen als Zeichen
für die generell fehlgeleitete Politik in Deutschland.89 Die englischen Zeitungen
erwarteten in ihren ausführlichen Berichten dementsprechend als Resultat des
Skandals ein Ende der Pressebeeinflussung, die sie vor allem Bismarck und seinem Sohn anlasteten.90 Dem Skandal wurde somit optimistisch eine reinigende
Kraft zugeschrieben.
Auch in der deutschen Presse fehlte es nicht an Superlativen, um die große
Bedeutung des Falles zu betonen. Die Berliner Illustrirte Zeitung meinte, dass
ein „Rekord für das Sensationelle, das in jenem Hause [dem Gericht] geboren
wird, aufgestellt wurde.“91 Das ebenfalls liberale Berliner Tageblatt kam zu dem
Schluss, der Fall würde selbst französische Skandale noch überbieten. Dass die
86
87
88
89
90
91
Aussage in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 129; wortgleich auch von verschiedenen
Presse-Stenographen festgehalten, vgl. etwa: Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 571, 5. 12. 1896.
Zit. Spectator 12. 12. 1896 u. Times 5. 12. 1896, S. 7; vgl. bes. die Berichte der Times bis
12. 12. 1896, S. 7.
Review of Reviews Januar 1897, S. 6.
„It is obvious that there is something wrong in Germany, not only in the distant colonies,
where men like Wehlan and Leist could work their will upon defenceless savages, but in the
very heart of the cultivated fatherland.“ Daily Telegraph 7. 12. 1896.
So Times 8. 12. 1896, Reynolds’s Newspaper 13. 12. 1896, S. 1; Standard 8. 12. 1896, Daily
Telegraph 7. 12. 1896, Morning Post 9. 12. 1896; Daily News 9. 12. 1896.
Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 50, 13. 12. 1896.
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350
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Politische Polizei Verdrehungen, Verleumdungen und Urkundenfälschungen
begangen habe, deutete sie als Zeichen für den Verfall des preußischen Staates:
„Es wurde ein System aufgedeckt, so verrottet und verderblich, wie selbst der
härtestgesottene Pessimist es im preußischen Staate, im deutschen Reiche, nicht
für möglich gehalten hätte.“92 Damit übernahmen selbst die Liberalen jenes
Verfallsnarrativ, das vor allem die Sozialdemokraten heranzogen. So sprach der
Vorwärts von einem Prozess gegen türkische „Nebenregierungen“, die aus der
Zeit der Sozialistengesetze gut bekannt seien, und zog Analogien zur Halsbandaffäre im Vorfeld der Französischen Revolution.93 Auch in den Kneipengesprächen wurden extrem emotionale Ausbrüche über das Verhalten von Tausch
verzeichnet.94
Der Skandal zeigte, wie der für die Presse zuständige Polizeikommissar Tausch
über die Medien eigenständig Politik betrieben hatte. Seine zahlreichen Normverstöße lassen sich in drei Kategorien gruppieren. Erstens hatte Tausch, unabhängig von seiner Pressepolitik, gegen den generellen Verhaltenskodex der Beamten verstoßen. So hatte er nicht nur im Dienst, sondern auch vor Gericht
falsche Aussagen gemacht. Seinen Journalisten hatte er gegen Bezahlungen falsche
Aussagen und Unterschriften mit falschen Namen abverlangt, was den Bestand
der Urkundenfälschung erfüllte. Zudem hatte Tausch bei zahlreichen Journalisten und Zeitungsverlegern zum Teil hohe Schulden gemacht, die sich auf bis zu
30 000 Reichsmark und damit auf mehrere Jahreseinkommen beliefen. Diese
zinslosen Kredite zahlte er kaum zurück und zum Teil wurden sie ihm erlassen;
so erließ der Großverleger Scherl ihm etwa „einige 1 000 M.“95 Gerade diese hohen Geldgeschenke von Journalisten an genau den Beamten, der die Ermittlungen
gegen die Presse leitete, erfüllten unverkennbar den Tatbestand der Korruption.
Zweitens hatte der Kommissar die ihm unterstehende Aufklärung von Pressemeldungen zur persönlichen Politikgestaltung benutzt. Bei der ihm aufgetragenen Suche nach Journalisten, die die betroffenen Regierungsmitglieder nach
beleidigenden Artikeln verlangten, hatte er bewusst falsche Namen genannt, um
den Verdacht auf ihm missliebige Staatssekretäre zu lenken oder diese gegeneinander aufzuhetzen. So nannte er etwa den Innenminister als Urheber eines
Zeitungsartikels der meldete, das gesamte Preußische Staatsministerium sei für
die Öffentlichkeit der Kriegsgerichtsprozesse und der Kaiser entscheide deshalb
nun über den Verbleib des Kriegsministers. Gegenüber Lützow und Leckert
92
93
94
95
Berliner Tageblatt Nr. 621, 6. 12. 1896.
Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896.
Polizeibericht Schutzmann Struve 26. 5. 1897 u. 5. 6. 1897, in: StAH, S 3930-23 Bd. 4.
Scherl an Dieterici 10. 11. 1897 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2. Schulden hatte Tausch etwa
bei dem Redakteur Hildesheimer, Chefredakteur Oberwinder und Goldberger. Tausch hatte
über den Berliner Tageblatt-Chefredakteur Levysohn auch nach einem Darlehen von Mosse
gefragt, der lehnte dies jedoch ab. Die Gesamtsumme der Schulden wurde erst auf 12 000
Mark, dann auf 30 000 beziffert; vgl. Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898 und Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F
Nr. 2930; Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
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belegte er diese Ansicht damit, Kriegsminister Bronsart habe dies gesagt und
Hohenlohe und Marschall hätten Bronsarts Vermutung bestärkt.96 Durch derartige Verdächtigungen schuf Tausch innerhalb der Regierung ein Klima des
Misstrauens, das die ohnehin bestehende Regierungskrise verstärkte.
Drittens hatte der Kommissar über bezahlte Journalisten, die 200 bis 300
Mark im Monat dafür erhielten, eigenständig politische Meldungen oder Gerüchte in die Zeitungen lanciert. Dies waren mitunter nur banale Vorschläge für
die politische Debatte. Hierzu zählte etwa die Meldung, die Beschäftigung von
Ausländern in der Waffenproduktion berge die Gefahr des Geheimnisverrates,
die er über seinen Journalisten Wingolf Staerck im Berliner Tageblatt platzierte.97 Zu diesen eher banalen Artikeln zählten auch Berichte über ihn selbst.
So gab er Lützow den Auftrag, ihn als Helden eines Prozesses herauszustellen:
„Schreiben Sie, dass Kriminalkommissar v. Tausch in dem Landesverratsprozeß sich große Dienste erworben habe“, wies er ihn an und gab ihm per Zettel
eine Vorlage.98 Brisanter war bereits, dass der Kommissar intime Gerüchte über
den Monarchen verbreitete, wie über eine angeblich bevorstehende komplizierte Ohrenoperation.99 Über Normann-Schumann wurde etwa unter den
Reichstagsabgeordneten lanciert, „Der Kaiser hat bei den Juden ungeheure
Schulden, weil er seiner Frau Schmuck gekauft hat.“100 Damit versuchte der
Polizeiagent einen Skandal auszulösen, der an die Halsbandaffäre anknüpfte.
Direkte Politik betrieb Tausch durch von ihm lancierte Artikel gegen den „neuen Kurs“. Marschall hielt dem Kommissar vor Gericht vor, dass er von 1890 bis
1893 den Journalisten Normann-Schumann als Agenten beschäftigte, der „fast
alle Skandalartikel“ gegen das Auswärtige Amt verfasste, obgleich Tausch eigentlich gegen diesen Journalisten ermitteln sollte.101 Auch unabhängige Journalisten, wie Maximilian Harden, versorgte Tausch mit Nachrichten gegen
Caprivi, Boetticher und Wilhelm II.102 Zudem ergaben die Ermittlungen, dass
Tausch in seinen Hintergrundgesprächen mit Journalisten keine unzweideutigen Urteile scheute. So bezeichnete er Marschall und Hohenlohe gegenüber
Journalisten als „Schwachköpfe“ und „Waschlappen.“103 Selbst wenn Tausch
96
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99
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102
103
Münchener Neueste Nachrichten 4. 11. 1895; vgl. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA,
HA I Rep. 84a Nr. 58195.
Vernehmung Tausch 18. 10. 1897, in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2.
Zit. Tausch an Lützow, Dokument verlesen im Prozess, in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 104. Zu Artikeln, die ihn selbst lobten, vgl. Urteil Disziplinarverfahren Tausch
23. 2. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930; Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930.
Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2.
Aussage Oscar Knack laut: Staatsanwalt 10. 6. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a 49813-9.
Aussage abgedr. in: Friedlaender, Kriminal-Prozesse, Bd. 4, S. 109. Bericht Staatsanwalt
6. 5. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195.
Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Urteil Disziplinarverfahren
5. 1. 1898 in: LB Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2.
Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe
F Nr. 2930.
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V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
nicht alle Meldungen unterbringen konnte, setzte er genügend Gerüchte in die
Welt.
Schon nach den ersten Enthüllungen erschien der Kommissar wie eine Nebenregierung, die über die Presse politische Weichen gestellt hatte. Der Sturz
von Reichskanzler Caprivi und der Rücktritt von Innenminister Ernst Matthias
von Köller 1895 wurden öffentlich mit Tauschs Pressepolitik in Verbindung gebracht.104 Aber auch der große Hofskandal von 1894, die sogenannte KotzeAffäre um die skandalösen Briefe im Umfeld des Kaisers, erschienen als sein
Werk, das er mit Hilfe von Norman-Schumann inszeniert hätte, wie auch der
Kaiser in einer Anfrage vermutete.105 Immerhin hatte Tausch in der Kotze-Affäre nicht nur ermittelt, sondern auch Beweise unterschlagen, was seine Verantwortung an dieser Affäre zwar nicht belegt, wohl aber zeigt, dass er auch hier
Verdächtigungen gezielt nach seinen Ansichten kanalisierte.106
Tausch galt durch sein intimes Wissen um den Hof selbst für die Stellung des
Kaisers als eine potentielle Gefahr. So berichtete Holstein, die graue Eminenz
des Auswärtigen Amtes, gegenüber Eulenburg: „Denn schon jetzt wird in der
Gesellschaft emsig verbreitet, der Kaiser habe Angst, weil Tausch gedroht habe,
Weibergeschichten zu enthüllen. Natürlich ist das Unsinn; denn Tausch, selbst
wenn er was weiß, wird sich wohl hüten, etwas zu enthüllen, weil er sonst später
weder Gnade noch Ungnade zu erhoffen hat.“107 All dies unterstrich die Inversion einer bürokratischen Institution und ihrem Verhältnis zum Öffentlichen
und Geheimen. Während die Politische Polizei eigentlich staatliche Geheimnisse vor der Presse schützen und so Skandale verhindern sollte, erschien sie
nun als Urheber skandalöser Veröffentlichungen.
Durch den Vorstoß des Außenstaatssekretärs erhielt der Skandal die übliche
Dynamik. Auf Marschalls „Flucht in die Öffentlichkeit“, wie es schnell hieß,
meldeten sich zahlreiche Journalisten und Politiker mit weiteren Informationen
bei ihm, was die Ausweitung des Skandals beschleunigte.108 Besonders die Sozi-
104
105
106
107
108
So auch bürgerliche Zeitungen wie: Vossische Zeitung Nr. 63, 7. 2. 1897; Frankfurter Zeitung Nr. 29, 29. 1. 1897; Kölnische Volkszeitung Nr. 845, 11. 12. 1896; auch im Reichstag
wurden diese Gerüchte angeführt: RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97,
Bd. 6, S. 4473 u. 4485.
Der Justizminister sah jedoch in seiner Antwort Tausch nicht als Urheber der Briefe, sondern
allenfalls Normann-Schumann in Verbindung mit Tausch; vgl. Justizminister an Oberstaatsanwalt 21. 1. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195; Erste Staatsanwalt an Justizminister
22. 1. 1897 u. Justizminister an Wilhelm II. 24. 1. 1897, in: ebd.
Vgl. Beweisanträge Friedmann 14. 12. 1894, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/9; AussageProtokolle 29. 9. und 22. 10. 1894, in: GStA, HA I Rep. 89 3307/5; Protokoll 29. 9. 1894, in:
GStA, HA I Rep. 89 3307/5; Oberstaatsanwalt Drescher an Kotze 9. 5. 1895, in: GStA, HA I
Rep. 84a Nr. 58193. Zur Kotze-Affäre vgl. Kap. VI. 3.
Holstein an Eulenburg 5. 3. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz, Bd. 3, S. 1796. Dass Tausch um die Liebesaffären von Wilhelm II. wusste und daher eine
Gefahr für den Kaiser darstellte, deutet auch Röhl an: ders., Wilhelm II., Bd. 2., S. 753.
Vgl. die Schreiben an Marschall 5. 12. 1896, und 11. 12. in: PAAA R 1239; Griesemann an Marschall 8. 1. 1897 und Einzelaussagen wie am 17. 4. 1897, in: ebd.
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aldemokraten brachten eigene Ermittlungsergebnisse vor. Da sie am meisten
unter der Politischen Polizei gelitten hatten, verfügten sie seit längerem über
Material. So konnte Bebel im Reichstag enthüllen, dass sozialdemokratische
Vertrauensleute den Polizeispitzel Normann-Schumann observiert hatten, seine
Besuche im Innenministerium beobachteten und Originalbriefe und Artikel von
ihm besitzen würden, die Normann-Schumanns Angriffe auf den Kaiser, Reichskanzler Caprivi und Marschall belegten.109 Damit übernahm die SPD wieder
die Rolle des investigativen Anklägers. Zugleich zeigten die Sozialdemokraten,
dass sie selbst mit den Methoden der Politischen Polizei operierten und quasi
deren Aufgaben übernahmen, um den Staat zu schützen. Auch wenn die SPD
diesen Skandal nicht angestoßen hatte, trieb sie ihn so zumindest sichtbar voran.
Der Chefredakteur des Vorwärts, Wilhelm Liebknecht, übergab dem Staatsanwalt tatsächlich 21 Briefe von Normann-Schumann und acht Nummern der
Mémorial Diplomatique, die dessen Autorschaft dokumentierten.110 Auch Bebel trat im Prozess als Zeuge gegen ihn mit Material auf und kündigte öffentlich
an, dass er die Hintermänner von Tausch kenne und diese im Reichstag nennen
werde.111
Dabei ging es den Sozialdemokraten selbstverständlich nicht nur um die Verhaftung der korrupten Polizisten und Journalisten. Vielmehr wollten sie den
Skandal als verdichteten Beleg für ihre generellen Anklagen gegen das Kaiserreich ausbauen. Intern sah Bebel den Skandal schon vor dem Prozess als „gefundenes Fressen“ für die SPD112, und auch im folgenden Jahr bildete der Skandal
ein Zentrum seiner Agitation, wie Bebel in einem Brief unterstrich: „Er lieferte
eine Fundgrube von Waffen für uns zur Verwendung im Reichstag. So ist noch
kein System bloßgestellt worden. Es ist ein unabwendbares Verhängnis, was unsere Gegner immer thun, sie blamieren sich und nützen uns. Wäre ich Gegner,
ich würde aus Verzweiflung an dem von mir zu vertretenden System Social-Demokrat.“113 Der Fall war damit eine Staatskrise, die der SPD im doppelten Sinne
zu helfen versprach: Er mobilisierte ihre Anhänger und ließ den Abbau der polizeilichen Willkür erhoffen. Gebremst wurde die SPD-Kampagne allerdings im
Mai 1897, als bekannt wurde, dass der Polizeiagent Normann-Schumann selbst
für den Vorwärts 1895/96 einige Artikel gegen Caprivi verfasst hatte. Deshalb
empfahl Bebel dem Chefredakteur des Vorwärts, keine Artikel hierzu mehr zu
publizieren.114 Im Tauschprozess musste Bebel diese Kooperation öffentlich
zugeben.115 Auch dies zeigte die unberechenbare Eigendynamik von Skandalen,
deren Enthüllungen sich immer auch gegen die Ankläger wenden konnten.
109
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RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4482 f.
Staatsanwalt 4. 11. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a 49813.
Kölnische Volkszeitung Nr. 845, 11. 12. 1896.
Bebel an V. Adler 1. 12. 1896, in: Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl
Kautsky, Wien 1954, S. 224.
Bebel an Frau Bahlmann 10. 6. 1897, in: BAB/L, NY 4022-121: 22.
Bebel an W. Liebknecht 15. 5. 1897, in: BAB/L, NY 4034-134.
Auch der Vorwärts druckte diese Prozessaussage Bebels: Vorwärts Nr. 123 29. 5. 1897.
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V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Zwischen Oktober 1896 und Frühjahr 1897 führte der Skandal zu einer breiten öffentlichen Debatte über unterschiedliche Normen, die weit über die konkrete Arbeit einzelner Polizisten und journalistischer Agenten hinausreichte.
Dabei ging es zunächst um die gerade in Deutschland virulente Frage, ob man
derartige Missstände in der Bürokratie überhaupt öffentlich aufdecken dürfte.
Im preußischen Staatsministerium war es schon vor dem Prozess umstritten gewesen, ob Marschall und Tausch generell zu den „Preßhetzereien“ vor Gericht
und damit in der Öffentlichkeit aussagen dürften oder sich hinter das Amtsgeheimnis zurückziehen müssten.116 Danach machte auch Wilhelm II. Marschalls
öffentliche Aussage direkt für den Skandal verantwortlich und fragte ihn vorwurfsvoll: „Was ist das für ein entsetzlicher Schlamm, der in dem Lützow-Prozeß aufgerührt worden ist.“117 Sein ohnehin bestehender Argwohn gegen den
Außenstaatssekretär wurde dadurch verstärkt, und Wilhelms Umfeld riet ihm,
Marschall nun umso schneller zu entlassen. Insbesondere Eulenburg flüsterte
dem Kaiser ein, dass sich Marschall auf Kosten des Kaisers von den liberalen
Stammtischen feiern lasse.118 In der internen Auseinandersetzung verteidigte
zumindest Reichskanzler Hohenlohe das Vorgehen Marschalls, da nur so die
politischen Verleumdungen beendet und das „ganze Polizeinest“ ausgehoben
werden könne.119
In der Öffentlichkeit erhielt Marschalls Anklage eine klare Unterstützung.
Die liberale, katholische und linke Presse begrüßte seine „Flucht in die Öffentlichkeit“ als einen vorbildlichen und notwendigen Akt der Reinigung. Nur Teile
der Konservativen sahen dies weiterhin anders. Ihnen zufolge sollten Missstände in der Regierung und Bürokratie geheim bleiben, um die Autorität des Staates nicht zu gefährden. Die konservative Presse forderte sogar Marschalls Entlassung, da er die Geschlossenheit der Ministerien durchbrochen und das Ansehen der Beamten vermindert habe, was nur die SPD stärken würde.120 Selbst
Maximilian Harden vertrat diese Position und richtete sich gegen Marschalls
Vorgehen.121 Als Ideal führten die Konservativen Bismarck an, der solche Missstände „mit eiserner Hand“ beseitigt hätte, ohne sie öffentlich zu machen.122 In
der öffentlichen Debatte war diese konservative Deutung jedoch klar in der
Minderheit.
116
117
118
119
120
121
122
Insbesondere der Innenminister sprach sich dagegen aus, Marschall, Boetticher und Justizminister Schönstedt waren dafür. Bezeichnenderweise wurde für diesen Sitzungsteil aus Angst
vor Indiskretionen extra ein getrenntes geheimes Protokoll angefertigt, das überliefert ist; vgl.
Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 27. 11. 1896, und 15. 12. 1896 in: GStA, HA I Rep. 90 A
Nr. 3583-202b sowie 263a.
Wilhelm II. an Marschall 5. 12. 1896, in: PAAA R 1239.
Eulenburg an Bülow 10. 12. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1766.
Vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst an Holstein 17. 10. 1896 u. an Wilhelm II. 8. 12. 1896 (Entwurf), in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 269 u. 287 f.
Deutsche Zeitung 2. 2. 1897; Berliner Börsen-Zeitung 3. 2. 1897.
Die Zukunft 12. 6. 1897, S. 31 f.
So Graf von Mirbach: RT IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4480.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
355
Dies zeigte sich ebenso bei den Parlamentsdebatten im Kontext des Skandals.
Auch hier hatten verschiedene konservative Landtags- und Reichstagsabgeordnete Marschall angriffen und ihm einen Verstoß gegen preußische Traditionen
vorgeworfen.123 Reichskanzler Hohenlohe betonte dagegen die Notwendigkeit,
mit solchen Missständen an die Öffentlichkeit zu gehen,124 und der Außenstaatssekretär verteidigte im Reichstag die Veröffentlichung derartiger Vorgänge. Den
Vorwurf, er verhalte sich als Minister wie früher als Staatsanwalt, griff er produktiv auf. Unter Verwendung der Licht-Metaphern, mit denen der Begriff
„Öffentlichkeit“ historisch verbunden war, argumentierte er im Reichstag: „Mit
diesen Feinden im Dunkeln zu kämpfen, habe ich in meiner Jugend nicht gelernt (Sehr gut). Ich kann mich ihrer nur erwehren im hellen Tageslicht des
Gerichtsaales.“125 Innerhalb der politischen Führung schwächte Marschalls
Aufdeckung zwar seine Position, aber in der Öffentlichkeit etablierte er die
Forderung, ein Minister müsse Missstände in der eigenen Regierung benennen.
Zu diesem Bruch mit preußischen Traditionen kam es wohl auch deshalb, weil
der Kanzler und der Außenstaatssekretär aus dem liberaleren Süddeutschland
stammten. Schon als bayrischer Ministerpräsident hatte Hohenlohe die Öffentlichkeit von Kriegsgerichten eingeführt. Die nunmehrige Verteidigung der Veröffentlichung von Missständen verwies auf ihren generellen Einsatz für mehr
Transparenz – was auch für die gerade umkämpfte Militärstrafreform galt.
Eine weitere Norm, die der Skandal verhandelte, waren die zulässigen Grenzen im Umgang zwischen den Journalisten und den Ministerien. Der Skandal
hatte durch die Zeugenaussagen öffentlich gemacht, dass zahlreiche Journalisten
in den jeweiligen Ministerien verkehrten und somit Kontakt zu einem politischen Arkanbereich hatten, der sich offiziell von der Medienöffentlichkeit abgrenzte. Insbesondere der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblattes, Arthur Levysohn, berichtete als wichtiger Zeuge von seinen Gesprächen im Auswärtigen Amt. Dementsprechend kritisierten Konservative wie der frühere
Außenstaatssekretär Friedrich Wilhelm Graf Limburg-Stirum, dass der Zugang
für Journalisten zum Auswärtigen Amt zu leicht sei, zumal diese nur durch
„Sensation Abonnenten an sich zu ziehen“ versuchten. Es müsse vielmehr für
einen Journalisten eine große Auszeichnung bleiben, Zugang zu Ministern zu
haben und er müsse sich dann Beschränkungen auflegen.126 Dabei bezog sich
die Kritik einerseits darauf, dass ein Minister wie Marschall überhaupt mit
liberalen Journalisten sprach, obgleich diese seine Regierungspolitik mitunter
kritisierten. Andererseits waren antisemitische Motive unverkennbar, weil mit
Levysohn ein jüdischer Journalist, der für einen jüdischen Verleger schrieb,
123
124
125
126
Vgl. bes. die Rede von Limburg-Stirum im Reichstag IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session
1895/97, Bd. 6, S. 4489; sowie 18. 1. 1897, Stenographische Berichte über die Verhandlungen
des Haus der Abgeordneten, 20. Sitz., S. 520.
Hohenlohe 19. 1. 1897, in: Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, 21. Sitz., S. 532 f.
RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz., IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4477.
Rede Limburg-Stirum 18. 1. 1897, Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, S. 520 f.
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356
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
maßgeblich zur Überführung der Politischen Polizei beigetragen hatte. Marschalls „fragwürdige ‚Latitüde‘ gegen jüdische Journalisten“ galt den Konservativen damit ebenfalls als ein Entlassungsgrund.127
Auch in dieser Diskussion traten besonders der Reichskanzler und der Außenstaatssekretär für eine Veränderung der Normen ein. Kanzler Hohenlohe
verspottete im Preußischen Abgeordnetenhaus die geforderte Zugangsbegrenzung für Journalisten als Einführung einer „Hoffähigkeit der Journalisten“.128
Marschall entgegnete im Reichstag, dass zwar nicht jeder Journalist mit einem
Anschreiben eines Chefredakteurs im Auswärtigen Amt empfangen würde,
stellte aber unmissverständlich klar, dass er auch mit Journalisten spräche, die
seine Politik kritisierten, da er Informationen nicht als Belohnung oder Strafe
für Artikel vergäbe. Wichtig sei vielmehr, ob das Blatt im Inland und im Ausland gelesen werde.129 Obgleich diese Praxis durch den Aufstieg der Massenpresse bereits seit einigen Jahren geläufig war, bedeuteten diese Äußerungen
eine bemerkenswerte Anerkennung parteiunabhängiger oder liberaler Zeitungen. Dass sozialdemokratische Journalisten von dieser Praxis ausgeschlossen
blieben, erschien allerdings so selbstverständlich, dass es nicht einmal diskutiert
wurde.
Der Skandal löste zudem eine generelle Diskussion darüber aus, inwieweit
eine Politische Polizei überhaupt noch nötig sei. Selbst bei den Konservativen
bestand zumindest ein Konsens darüber, dass der Skandal das Ansehen der Politischen Polizei stark herabgesetzt habe.130 Nicht nur die sozialdemokratische,
sondern auch die liberale und katholische Öffentlichkeit sprach von der „Korruption“ der Politischen Polizei, was im damaligen Sprachgebrauch nicht nur
die konkreten materiellen Bestechungen meinte, sondern auch deren grundsätzliche moralische Verkommenheit.131 Zumindest Teile der konservativen Öffentlichkeit konzedierten eine nötige Verminderung des Beamtenbestandes in der
Politischen Polizei, der sich von den 18 Beamten im Jahr 1878 in kurzer Zeit
verzehnfacht hatte. Denn gerade weil sie nicht genügend Aufgaben hätten, würden sie eigenständig politisch agieren.132 Für die völlige Auflösung der Politischen Polizei sprachen sich hingegen Linksliberale wie Eugen Richter oder
August Carl Munckel aus, da sie bereits von ihrer Struktur her vornehmlich
Unheil anrichte und aufgrund ihrer eigenständigen Arbeit naturgemäß Politik
betreibe.133 Erwartungsgemäß trat die SPD besonders deutlich für die komplette Auflösung dieser Polizeiabteilung auf, wobei Bebel dies mit zahlreichen
historischen Fällen begründete, bei denen die Politische Polizei selbst ihre
127
128
129
130
131
132
133
Zitat: Deutsche Zeitung 2. 2. 1897.
Hohenlohe 19. 1. 1897, in: Verhandlungen des Haus der Abgeordneten, 21. Sitz., S. 533.
RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4476.
Vgl. etwa von Mirbach im RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6,
S. 4480.
Freisinnige Zeitung Nr. 129, 4. 6. 1897; Germania 5. 6. 1897.
Tägliche Rundschau 6. 6. 1897.
RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4474 u. 4491 f.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
357
Agenten zu Verbrechen ermuntert habe, die sie dann bekämpfte, um ihre Bedeutung zu legitimieren.134 Der Skandal hinterfragte damit recht erfolgreich die
Notwendigkeit einer derartigen Behörde, die Presse, Parteien und Vereine überwachte. Dass ihr Spitzelsystem nun weitgehend überflüssig und sogar gefährlich
erschien, war ein Schritt in Richtung Demokratie.
Zudem eröffnete der Skandal eine Debatte um illegitime Nebenregierungen,
die über die Presse agierten. Insbesondere die Linke ging fest von politischen
Hintermännern hinter der Politischen Polizei aus. Waldersee, Bismarck und Eulenburg galten als die wichtigsten Personen, die über lancierte Meldungen und
Gerüchte gegen Teile der Regierung agieren würden.135 Nachdem Bebel vorab
die Enthüllung der Hintermänner im Reichstag angekündigt hatte, nannte er im
Reichstag tatsächlich erneut diese drei Namen, die nicht ganz unzutreffend waren.136 Direkte Kontakte zu den bezahlten Journalisten der Polizei ließen sich
noch im geringsten Maße bei Herbert und Otto von Bismarck ausmachen, obwohl diese offensichtlich von der Pressepolitik der Politischen Polizei profitierten.137 Bismarck hatte ohnehin genügend direkte Beziehungen zur Presse für
seine Querschüsse, insbesondere zu konservativen Blättern in Hamburg. Berechtigter war der Verdacht gegen Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee,
den der Kaiser zunächst als Nachfolger Bismarcks gehandelt hatte und den die
Sozialdemokratie wegen seiner scharfen, konfrontativen Haltung ihr gegenüber
besonders verachtete. Waldersee scheint seit seiner Versetzung nach Hamburg
Verbindungen zum journalistischen Polizeiagenten Normann-Schumann gepflegt zu haben. So hatte Normann-Schumann in Gesprächen und Artikeln
Waldersee auffällig oft als kommenden Kanzler gelobt. Tausch informierte
Waldersee nach dem Prozess mit Telegrammen, und auch der Chef der Politischen Polizei gestand nach seinem Rücktritt derartige Verbindungen Waldersees ein, die verschiedentlich bereits 1893 vermutet wurden.138 Auch die Tatsache, dass sich Waldersee im Prozess einer Zeugenaussage entzog, erhärtete
eher den Verdacht, den Bebel mit Beobachtungen sozialdemokratischer Spitzel
im Reichstag belegte.
Vor allem rückte aber der Kaiserfreund und vielleicht wichtigste Hintergrundpolitiker dieser Jahre, Philipp von Eulenburg, durch den Skandal in den
Verdacht, über die bezahlten Journalisten für den Sturz von Ministern und
134
135
136
137
138
Ebd., S. 4486.
Vorwärts Nr. 290 11. 12. 1896.
RT 5. 2. 1897 IX. Leg.per., 168. Sitz, IV. Session 1895/97, Bd. 6, S. 4482 f.
So auch die Einschätzung von: Hank, Kanzler, S. 324.
Quellenhinweise hierauf in: Kiderlen an Eulenburg 16. 4. 1893, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 2, S. 1069; Holstein an Eulenburg 7. 1. 1897 u. Aufzeichnung Bülow 7. 4. 1897, abgedr. in: ebd., Bd. 3, S. 1778 u. S. 1810; Hammann, Der neue
Kurs, S. 83. Vgl. die Rechtfertigung Waldersees gegenüber dem Kaiser, Normann-Schumann
habe ihm Briefe geschrieben, er aber durch Nichtbeantwortung den Kontakt abgebrochen;
Eintrag Aufzeichnung Waldersee 11. 12. 1896, in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten,
S. 378 f.
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358
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
Kanzlern gesorgt zu haben und somit den Kern einer „Nebenregierung“ zu
bilden. Der Prozess legte direkte Verbindungen zwischen Eulenburg und Tausch
offen. Eulenburg und Tausch hatten sich bereits früher kennen gelernt, als
Tausch sich um den Schutz des Kaisers auf Reisen kümmerte. Gegenüber seinen
Journalisten-Agenten hatte Tausch mehrfach erwähnt, dass er „die Absicht
habe, diese Sache an den Botschafter Grafen Philipp Eulenburg mitzuteilen, um
ihm dadurch wieder einmal zu zeigen, wie Excellenz v. Marschall gegen die Umgebung des Kaisers konspiriere“.139 Tatsächlich hatte Tausch unmittelbar nach
dem falsch gemeldeten Kaisertoast Eulenburg den Artikel geschickt und gemeldet, er müsse ihn besuchen, da er dazu etwas Interessantes zu erzählen habe,
worauf Eulenburg auch antwortete.140 Eulenburg, der sonst Briefe sorgsam aufbewahrte und später sogar abtippen ließ, bezeichnete ausgerechnet diese Briefe
als „vernichtet“. Dass Eulenburg beim Kaiser für einen Orden für Tausch eintrat, obwohl dessen Vorgesetzter Marschall ihm längst misstraute, spricht ebenfalls für eine Verbindung zwischen Eulenburg und der polizeilichen Pressearbeit.
Eulenburg wies diese Vorwürfe scharf zurück. Aber selbst wenn er keinen
direkten Auftrag gab, so entsprachen viele der Intrigen doch Eulenburgs Plänen
zur Regierungsumbildung, wie sich aus Eulenburgs Korrespondenz vielfältig
herauslesen lässt. Insbesondere Marschalls Sturz verfolgte Eulenburg, um seinen Freund Bernhard von Bülow als Nachfolger einzusetzen.141 Selbst den
Tausch-Prozess benutzte er als Argument, um Marschall auf einen BotschafterPosten abzuschieben und Bülow zu installieren, was ihm tatsächlich beides
plangemäß gelang.142 Insofern verstärkte der Skandal die Annahme, dass nicht
nur Bismarcks Umfeld, sondern auch das des Kaisers über Polizeispitzel mit
falschen Medienmeldungen Politik gestaltete. Dies belegte zwar keine große
politische Verschwörung zwischen Presse und Politik wie zuvor beim PanamaSkandal in Frankreich, es deutete aber an, dass es hinter der nun veröffentlichten
Aufklärung noch eine geheime Sphäre gab, deren Dunkelheit nicht ausleuchtbar
sei.
Dass Kommissar Tausch tatsächlich eine von höheren Instanzen abgesicherte
Stellung innehatte, belegten nicht zuletzt die Urteile in den folgenden Prozessen
gegen ihn. In einem Rechtsstaat wäre durchaus eine Verurteilung des Beamten
zu erwarten gewesen, dem ein mehrfacher Meineid, Urkundenfälschung, Korruption, Amtsanmaßung, Verstoß gegen Amtsgeheimnisse, Unwahrhaftigkeit
139
140
141
142
Aussage Lützow abgedr. in: Friedlaender, Kriminalprozesse, Bd. 4, S. 124.
Vgl. ebd. u. Anklageschrift 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195.
Die Belege dafür sind zahlreich; vgl. etwa die Briefe Eulenburgs an Bülow 29. 4. 1896,
23. 7. 1896, 7. 7. 1896, 26. 10. 1896 u. 10. 12. 1896, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1663, S. 1701, 1702, 1744, 1766; Eulenburg an Bülow 13. 3. 1896,
in: BAK, 1016-76:1.
„Es wird nach Ende der Reichstagssession viel darauf ankommen, daß ein alter Botschafter
krank wird.“ Eulenburg an Lucanus 4. 2. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3, S. 1784.
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2. Kollaps eines Spitzelsystems
359
gegen Vorgesetzte und Majestätsbeleidigung nachgewiesen wurden. Immerhin
hatten die von ihm angewiesenen Journalisten 1½ Jahre Haft bekommen. Doch
obwohl auch die Anklageschrift mehrfache Meineide und „zahlreiche Dienstvergehen“ aufführte, erhielt Tausch schon bei seinem ersten Prozess im März
1897 einen Freispruch mit der eigentümlichen Begründung, er habe seine Pressearbeit nicht politisch aufgefasst.143 Auch die Disziplinarprozesse 1897/98 sprachen Tausch von den Vorwürfen frei und forderten lediglich seine Versetzung.
Zu einer Berufung kam es schließlich nur, weil sich der Kaiser darüber wunderte, dass der Beamte, der auch ihn über die Presse verunglimpfen ließ, einen
Freispruch bekam.144 Als unwürdiges, tadelbares Verhalten erachtete der Disziplinargerichtshof lediglich, dass der Beamte bei Journalisten Schulden gemacht
habe, weshalb Tausch auf ein anderes Amt mit gleichem Rang versetzt werden
sollte.145 Eine Verurteilung des Kommissars blieb bereits deshalb aus, weil dies
ein Eingeständnis gewesen wäre, dass der Staatsapparat nicht so vorbildlich arbeitete, wie stets nach außen dargestellt.
Insofern erwies sich die deutsche Justiz erneut, wie bei anderen Skandalen, als
parteilich und weisungsgebunden. Abermals schützte sie konservative Beamte,
ohne Rücksicht auf Gesetze oder im Skandal verhandelte Normen zu nehmen.
In der Presse und bei den Stammtischen richtete sich deshalb die öffentliche
Empörung wiederum gegen die Gerichte.146 Der Verdacht einer Konspiration
zwischen Politik, Politischer Polizei und Justiz erweiterte die ohnehin kursierenden Verschwörungsvorstellungen. Die Quellen legen den Schluss nahe, dass das
Urteil gegen den Kommissar durch politische Weisungen gezielt milde ausfallen
sollte, damit er sein Wissen nicht öffentlich ausspielte. Schon vor dem ersten
Prozess hatte Eulenburg dem Kaiser mitgeteilt, dass Tausch für sein Schweigen
während des Prozesses hinterher zu entlohnen sei, und auch Reichskanzler
Hohenlohe schlug doppeldeutig ein „Tauschgeschäft“ mit dem Kaiser vor: Für
die „Beseitigung des Prozesses“ wollte der Kanzler das Vereins- und Militärstrafgesetz durchbringen.147 Hohenlohe maß dem Tauschprozess sogar so
große Bedeutung bei, dass er das Drängen verschiedener „Leute“ im Umfeld des
Kaisers auf eine Kabinettsumbildung damit erklärte, „daß sie am Ruder sind,
wenn der Prozeß verhandelt werden soll“.148 Als das Staatsministerium schließ143
144
145
146
147
148
Zit. Anklageschrift Erste Staatsanwalt 15. 3. 1897, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58195.
Vgl. Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 29. 1. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3590; Urteil
Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930.
Urteil Disziplinarverfahren 5. 1. 1898 in: LB Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2 Urteil Disziplinarverfahren Tausch 23. 2. 1898 und Gutachten in der Disziplinaruntersuchung Tausch 22. 10. 1898,
in: GStA, HA I Rep. 90 Reihe F Nr. 2930.
Vgl. stellvertretend etwa: Frankfurter Zeitung 5. 6. 1897; Polizeibericht Schutzmann Struve
5. 6. 1897, in: StAH, S 3930-23 Bd. 4.
Hohenlohe-Schillingsfürst an Holstein 29. 4. 1897, Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 333; Fricke, Affäre, S. 1597 f. Allerdings erwähnt Fricke nicht die weitere Entwicklung und Entlassung von Tausch.
Journal Hohenlohe, Eintrag 30. 3. 1897, in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 327.
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360
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
lich auf Wunsch des Kaisers Tausch Entlassung verhandelte, schützte und verteidigte ihn der Innenminister. In der Diskussion wurde vorgeschlagen: „Man
könne Tausch im Falle der Dienstentlassung später noch Unterstützungen zukommen lassen.“ Ebenso kam im Preußischen Staatsministerium der Vorschlag
auf „Tausch finanziell zu stützen; damit behalte man ihn in der Hand.“149 Am
Ende entstand so ein Kompromiss zwischen der Forderung des Kaisers und der
Absicherung des Kommissars, bei dem das Staatsministerium am 13. März 1899
das Urteil des Disziplinarhofes entsprechend abänderte. Tausch wurde mit immerhin drei Viertel seiner Pension entlassen, wobei die Entlassung mit seinen
verschwiegenen Schulden bei Journalisten begründet wurde, die gegen die finanzielle Unabhängigkeit des Beamten verstoßen hätten.150 1901 wurde Tausch
schließlich in einem ehrengerichtlichen Verfahren vom Kriegsministerium wegen „Verletzung der Standesehre“ das Recht zum Tragen seiner Uniform aberkannt, das er als Leutnant a.D. noch hatte.151 Nicht die Justiz allein, sondern
erst politische Weisungen verhalfen somit zumindest teilweise zu einer Rechtsprechung, die sich auch an Gesetzen orientierte.
Dagegen hatte der Skandal für die Opfer der intriganten Pressepolitik weitaus
drastischere Folgen. Während der Polizeikommissar zunächst einen Freispruch
erhielt, wurde seinen Opfern in der Regierung, den Ministern Marschall und
Boetticher, in konservativen Kreisen und vom Kaiser der Rücktritt nahegelegt.
Marschall trat deshalb nach seiner „Flucht in die Öffentlichkeit“ eine „Flucht in
die Privatheit“ an. Zunächst ging er aus gesundheitlichen Gründen in einen
zweimonatigen Urlaub, dann als Botschafter nach Konstantinopel. Boetticher
wurde dagegen vom Kaiser gedrängt, unmittelbar nach dem Freispruch von
Tausch zurückzutreten, da er die Kritik am „persönlichen Regiment“ im Reichstag nicht genug zurückgewiesen hätte.152 Auch die beiden Journalisten, deren
Spitzeldienste den Skandal ausgelöst hatten, mussten sich nach ihrer Entlassung
aus dem Gefängnis eine neue Existenz aufbauen: Von Lützow wurde Angestellter der Inneren Mission, und Leckert arbeitete unter dem neuen Namen
Heinrich Larsen wieder als Journalist und wurde Redakteur den Altonaer Nachrichten.153
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welche Konsequenzen der Skandal
für die offiziöse Pressearbeit hatte. In der Regierung verschärfte er das generelle
Misstrauen gegenüber Journalisten. Selbst Reichskanzler Hohenlohe, der sich
gegen Zugangsbeschränkungen ausgesprochen hatte, sah den Skandal dennoch
als „ein neuer Beweis, daß man sich mit Journalisten jeder Art nicht einlassen
149
150
151
152
153
Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 29. 1. 1898, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3590.
Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 13. 3. 1899, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3594; Abschrift
Zusatzsitzungsprotokoll in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2; Beschluss, in: GStA, HA I Rep. 90
Reihe F Nr. 2930.
Vermerk Kriegs-Ministerium 4. 1. 1901 in: LB, Pr. Br. Rep. 30 Nr. 8452/2.
So bes. die Reichstagsrede von Eugen Richter am 18. Mai 1897; Röhl, Wilhelm II, Bd. 2,
S. 945.
So zumindest: Vorwärts 9. 4. 1899 u. 4. 10. 1900.
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3. Zwischenfazit
361
darf.“154 Zumindest kurzfristig schien es so, als wenn der Skandal durch das
Eingreifen des Kaisers sogar zu einer Verschärfung der Pressepolitik führen
würde. So verstärkte sich in seinem Umfeld eher das Misstrauen gegenüber den
Journalisten als gegen die Politische Polizei. Unmittelbar nach dem ersten Prozess gegen Lützow/Leckert beschloss etwa das Hofjagdamt, keine Journalisten
mehr bei der Hofjagd zuzulassen, anstatt die Politische Polizei abzuweisen.155
Beim Kaiser selbst förderte der Skandal eher den Anspruch, nur er selbst sei
berufen, Politik zu gestalten und öffentlich zu formulieren.156 Zugleich verlangte er vom Kanzler den Abbruch jeden Kontaktes zur Kölnischen Zeitung,
weil diese Waldersee als Hintermann genannt habe.157 Durchsetzbar war diese
Verschärfung der offiziösen Pressepolitik jedoch nicht. Vielmehr wies der
Reichskanzler den Kaiser diplomatisch, aber bestimmt zurück und verteidigte
dabei sowohl den Kontakt zu kritischen Zeitungen als auch die parlamentarische Auskunft.158
Daher ist eher umgekehrt anzunehmen, dass der Skandal vor allem die Politische Polizei diskreditierte und so die Unabhängigkeit der Presse förderte. Bereits während des Prozesses wurde die Politische Polizei angewiesen, keinen
Kontakt mehr zur Presse zu pflegen.159 Ein Indikator für ihren sinkenden Einfluss gegenüber der Presse ist die deutliche Abnahme von Anklagen gegen Journalisten seit 1897. Vergleichbare Skandale, die erneut ein derartiges Agieren der
Politischen Polizei offen legten, lassen sich zumindest bis zum Ersten Weltkrieg
nicht mehr ausmachen. Insofern stimmte vielleicht doch, was bereits verschiedene Zeitgenossen spotteten: Das Positive an der Politischen Polizei war vor
allem, dass sie sich selbst diskreditierte und damit eine antiquierte Repression
der Medien.
3. Zwischenfazit
Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien traten im späten 19. Jahrhundert Skandale auf, welche die Pressepolitik der Regierungen und die Arbeit
154
155
156
157
158
159
Hohenlohe an Prinz Alexander 17. 10. 1896, in: Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, S. 269.
An Marschall 11. 12. 1896, in: PAAA R 1239.
So schrieb Wilhelm II. dem Kanzler: „In wie fern von Zeit zu Zeit außer durch inspirierte
Preßartikel das Land über das Fortschreiten der Frage zu informieren sei, darüber erwarte Ich
von Eurer Durchlaucht einen jedesmaligen Vortrag oder Mitteilung.“ Wilhelm II. an Hohenlohe 23. 2. 1897 (Telegramm), in: BA/K, N 1016-22. Vgl. Holstein sprach angesichts solcher
Briefe von einem „krankhaften Hauch, der das Kaiserl. Telegramm durchweht.“ Holstein an
Eulenburg 25. 2. 1897, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs Politische Korrespondenz Bd. 3,
S. 1788. Zum Kasernenton, den Wilhelm II. um 1897 besonders deutlich anschlug vgl. Röhl,
Wilhelm II., Bd. 2., S. 941 f.
Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 8. 1. 1897, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3585.
Vgl. bes. Hohenlohe an Wilhelm II. 23. 2. 1897, in: BA/K, N 1016-22
So Wittig, der Nachfolger von Tausch, laut: Deutsche Warte 4. 6. 1897.
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362
V. Journalismus und Pressepolitik als Skandalon
von Journalisten hinterfragten. Sie verfestigten Normen für den Journalismus,
die Politik und für ihr Verhältnis zueinander. Durch die historisch unterschiedliche Medienentwicklung in Deutschland und Großbritannien differierten auch
die herausragenden Skandale dazu. Während sie in Großbritannien vor allem
einen zuverlässigen und eigenständigen Journalismus einforderten, ging es in
Deutschland besonders um die Grenzen des staatlichen Einflusses auf die
Presse. Dennoch lassen die hier analysierten Skandale einige Ähnlichkeiten erkennen, die Aufschluss über grenzübergreifende Entwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhundert geben. So legten sie in beiden Ländern offen, dass staatliche Institutionen wesentlich mehr Einfluss auf die Presse nahmen als jeweils
anzunehmen war und als zulässig erschien. In beiden Ländern waren es zudem
verdeckte, geheimdienstliche Organisationen, die ein gewisses Eigenleben entwickelt hatten, die die Zeitungen mit Gerüchten versorgten. In beiden Fällen
publizierten die Zeitungen dabei unwahre, gefälschte Behauptungen, die politische Gegner zum Rücktritt zwingen sollten. In beiden Ländern wurden sie
jeweils aus materiellen und weltanschaulichen Motiven heraus in die Presse lanciert. Sowohl die Sehnsucht, im neuen publizistischen Konkurrenzkampf einen
Scoop zu landen, als auch der Anspruch der Zeitungen, so Politik mitzugestalten, war für dieses Handeln verantwortlich. Dabei zeigte sich, wie wenig die
Zeitungsredaktionen in beiden Ländern die Quellen und die Informanten überprüften. Insofern sollte man selbst in Großbritannien und sogar bei der Times
die journalistische Professionalität im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht überschätzen. Hierauf verweist auch die Beobachtung, dass die Missstände in der
Pressepolitik in beiden Fällen weniger durch Journalisten als durch Politiker
aufgedeckt wurden.
In beiden Ländern verhandelten die Skandale das Verhältnis zwischen Medien
und Politik und die Unabhängigkeit der Medien. In gewisser Weise „normalisierten“ die Skandale die jeweils unterschiedlichen mediengeschichtlichen Entwicklungspfade der 1880er Jahre, indem sie Grenzen aufzeigten. So kam es in
Deutschland zu einer Implosion des unter Bismarck ausgebauten journalistischen Spitzelsystems der Politischen Polizei, das zwischen 1890 und 1896, wie
der Tausch-Skandal öffentlich machte, eine eigenständige Pressepolitik gegen
unliebsame Minister und Kanzler der eigenen Regierung betrieben hatte und
über lancierte Artikel, intrigante Denunziationen und bezahlte Journalisten
agierte. Für Großbritannien konnte dagegen ausgemacht werden, dass die Times
an die Techniken des von Stead etablierten „modernen“ New Journalism anknüpfte, bei ihrem politischen Kampagnenstil jedoch an ihrer schlampigen
Recherche und Kooperation mit der Regierung scheiterte und so gerade die
Grenzen des professionellen unabhängigen britischen Journalismus bloßlegte.
Die herausgestellten Gemeinsamkeiten waren allerdings nur gradueller Natur. Die wechselseitige Wahrnehmung der Skandale unterstrich ihre Verschiedenheit. Während die Times aus deutscher Sicht als naiv galt, erschien der
Tausch-Skandal aus englischer Sicht als ein Beispiel für das rückständige deutsche Pressesystem, in dem Journalisten willkürlich verhaftet wurden oder
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3. Zwischenfazit
363
Anweisungen erhielten. Gemeinsam war den Skandalen dagegen die Empörung
über die Fälschungen und die hieraus resultierende heilsame Wirkung. In
Deutschland verlor die Politische Polizei und der offiziöse Einfluss auf die
Medien deutlich an Bedeutung, in Großbritannien hingegen büßte die Times
ihre unantastbare Autorität ein. Für die Ausbildung eines unabhängigen und
pluralistischen Journalismus dürften beide Entwicklungen förderlich gewesen
sein.
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VI. ENTZAUBERTE MONARCHEN
Blickt man auf die Geschichte der westlichen Monarchien im 19. Jahrhundert,
so lassen sich zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten. Einerseits verloren
die Monarchen signifikant an politischer Macht, insbesondere durch die Ausbildung von Verfassungen, gewählten Parlamenten und den Bedeutungsgewinn
von Regierungen. Andererseits nahm die öffentliche Präsenz der Monarchen
deutlich zu, was ihre Stellung stärken konnte. Gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich hieraus ein besonders markantes und erklärungsbedürftiges Spannungsverhältnis, in dem sich insbesondere der deutsche Kaiser
Wilhelm II. sowie die späte Queen Victoria und ihr Nachfolger Edward VII.
bewegten.
Beide Prozesse hingen im hohen Maße mit der Medialisierung zusammen.
Zweifelsohne begrenzte die rasante Ausdehnung der Medienöffentlichkeit unübersehbar die Spielräume von Monarchen, insbesondere, wenn ihr Handeln als
Willkür oder gegen die öffentliche Meinung gerichtet erschien. Diese Kritik entlud sich mitunter in Form von Skandalen, die durch eine breite Empörung die
Stellung und das Ansehen der Monarchie erschütterten – wie etwa bei der Halsband-Affäre 1785/86, dem Queen Caroline-Skandal 1820 oder der Daily Telegraph-Affäre 1908. Derartige Skandale schufen eine emotional aufgeladene
generelle Kritik an den jeweiligen Monarchen und führten zu nachdrücklich
formulierten Verhaltensanforderungen. Die mediale Dauerbeobachtung, unter
der die Monarchen im 19. Jahrhundert zunehmend standen, verstärkte dabei die
Wahrscheinlichkeit, dass etwaige Normbrüche veröffentlicht wurden.
Zugleich konnten die Monarchen die zunehmende Medialisierung im 19. Jahrhundert vielfach nutzen, um auf neue Weise in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Diese verstärkte mediale Präsenz der Königshäuser wurde bereits verschiedentlich hervorgehoben. So bezeichnete John Plunkett Queen
Victoria pointiert als „First Media Monarch“1, da sie trotz ihrer zeitweiligen
Öffentlichkeitsscheu eine ubiquitäre mediale Verbreitung fand. Ebenso betitelten verschiedene Arbeiten Kaiser Wilhelm II. als „media monarch“2 und
„ersten deutschen Filmstar“.3 Nicht nur für den Kaiser war demnach die direkte
und mediale Kommunikation mit der Öffentlichkeit essentiell, sondern auch die
Medien ihrerseits stellten bevorzugt den Kaiser in den Mittelpunkt. Die Monarchen versuchten dabei, eher bürgerliche Formen der Öffentlichkeit zur Festigung ihrer Stellung zu nutzen. Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts
1
2
3
John Plunkett, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2002.
Christopher Clark, Kaiser Wilhelm II, London 2000, S. 160.
Martin Loiperdinger, Kaiser Wilhelm II. Der erste deutsche Filmstar, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München 1997,
S. 41–53. Zum komplexen Verhältnis zwischen Wilhelm II. und der Presse jetzt auch: Kohlrausch, Der Monarch, bes. S. 452–456.
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366
VI. Entzauberte Monarchen
ließen ihre Hemmungen nach, in einen direkten Kontakt mit der Presse zu
treten. Eine echte Wahl hatten die Monarchen ohnehin nicht. Zeigten sie sich
gegenüber den Medien eher reserviert, wie Queen Victoria in den 1860/70er
Jahren, so kritisierten die Zeitungen ihre Distanz zur Öffentlichkeit und suchten
ihre Nähe.
Diese Medienberichte über die Monarchen lösten wiederum kollektive Handlungen aus. Die weit verbreiteten, anschaulichen und täglich erscheinenden Artikel über ihre öffentlichen Auftritte verstärkten den Zulauf zu derartigen Ereignissen, die einen persönlichen Blick auf den Monarchen versprachen. Von der
Taufe über die Krönung bis hin zur Beerdigung entstanden nun regelmäßig
Massenaufläufe mit zehntausenden Schaulustigen. Da die mediale Berichterstattung bevorzugt die Menschenmenge um den Monarchen zeigte, suggerierte sie
nicht nur seine Beliebtheit, sondern machte auch das populäre Spektakel um
ihn herum zu selbst einer sensationellen Attraktion, die das Ansehen des
Monarchen steigern konnte. Allerdings verloren die Monarchen zugleich die
Kontrolle über ihre Selbstdarstellung.4 Ihr öffentliches Auftreten machte sie zu
Objekten zahlloser Berichte, die durch die große Nachfrage kaum noch kontrollierbar waren.
Dabei trugen die Medien bereits durch ihre Bilder dazu bei, bürgerliche Erwartungen an den Monarchen zu fördern. So zeigten sie die Monarchen häufig
in bürgerlichen Kontexten – etwa im Kreise der Familie oder bei der Kur.5 Neben dem Aufkommen der auflagenstarken Familien- und Sonntagszeitungen
(wie der Illustrated London News oder der Gartenlaube) verstärkte die Etablierung der Fotographie diesen bürgerlichen Blick auf die Könige. Denn im Unterschied zum Gemälde bildeten die Fotos die Monarchen häufiger in Alltagssituationen ab und suggerierten eine intime Nähe und Vertrautheit.6 Für eine größere Nähe zum Monarchen standen aber auch die textlichen Innovationen im
Journalismus. Persönliche Augenzeugenberichte oder Interviews vermittelten
eine unmittelbare Kommunikation mit den Monarchen. Beides dürfte zugleich
die Erwartungen und Maßstäbe mit verändert haben, unter denen die Herrscher
bewertet wurden. Die Medialisierung konnte so die Stellung der Monarchen
absichern, machte sie aber zugleich auch verletzbarer, wie nicht zuletzt die
4
5
6
So auch mit Blick auf die Bilddarstellungen: Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn
2000, S. 391 f.
Vgl. zu dieser bürgerlichen Darstellung: Alexa Geisthövel, Den Monarchen im Blick. Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse, in: Habbo Knoch und Daniel Morat (Hrsg.),
Kommunikation von Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 59-80. Vgl. zur Etablierung bürgerlicher Bewertungsmaßstäbe für die Monarchie
generell: Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und
England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993, S. 205; Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der Königin, in: Historische Anthropologie
6 (1999), S. 76-103.
Franziska Windt, Majestätische Bildflut. Die Kaiser in der Photographie, in: dies. et al.
(Hrsg.), Die Kaiser und die Macht der Medien, S. 67-98.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
367
Skandale zeigten, die ihr moralisches und politisches Verhalten auf den Prüfstein stellten.
Auf welche Weise diese Skandale auftraten, wie die Öffentlichkeit jeweils mit
den Königshäusern interagierte und welche Rollenerwartungen sie an den Monarchen richtete, wird jeweils an exemplarischen Skandalen für beide Länder geprüft. Zunächst wird vergleichend untersucht, welche Bedeutung sexuelle
Normverstöße für die Monarchen im 19. Jahrhundert haben konnten. Da in
Großbritannien bürgerliche Moralanforderungen an den Monarchen eine größere Rolle spielten, erfolgt eine vertiefte Fallanalyse anhand des Baccarat-Skandals von 1891, der die Spielleidenschaft des späteren Edward VII. und damit die
Bewertung des Glücksspiels thematisierte. In Deutschland hingegen traten herausragende Skandale vor allem im Kontext der politischen Handlungen von
Wilhelm II. auf. Neben der berühmten Daily-Telegraph-Affäre werden dementsprechend weitere Skandale systematisch untersucht, die in Verbindung mit
seinem eigenen Führungsanspruch standen und diesen zu begrenzen versuchten
– wie etwa der Kotze-, Kladderadatsch- und Caligula-Skandal.
1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
Die Skandalisierung des Monarchen zählt zu den Formen des politischen Skandals, die sich lange vor dem 19. Jahrhundert etablierten. Neben Empörungen
über Formen des Machtmissbrauchs bildete der Spott über sein sexuelles Verhalten vielfach den Ausgangspunkt, wobei die Kritik an seinen Maitressen das
Bild des idealen Monarchen entwarf.7 Zu den bis heute vielleicht berühmtesten
Fällen zählt sicherlich die Halsbandaffäre der französischen Königin Marie
Antoinette im Vorfeld der französischen Revolution. Das ihr vorgeblich von
Kardinal Rohan geschenkte Diamantenhalsband bildete dabei nur den Kulminationspunkt einer Reihe von Skandalisierungen, bei der zahllose Pamphlete
der Königin sexuelle Normbrüche, Verschwendung und Verletzung ihrer Mutterpflichten vorgeworfen hatten.8 In Westeuropa verstärkten die Presseberichte
hierüber eine „sex panic“ (Binhammer), bei der sexuelle Normverstöße und
Revolution eng miteinander verbunden wurden.9 Bei späteren MonarchieSkandalen im 19. Jahrhundert blieb die Halsbandaffäre in ganz Westeuropa der
7
8
9
Vgl. etwa für das frühe 18. Jahrhundert: Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und
Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts,
Bonn 2000, bes. S. 207–226.
Angesichts der umfangreichen Literatur vgl. stellvertretend die Beiträge in: Goodman (Hrsg.),
Marie-Antoinette. Zur Visualisierung bes. Lynn Hunt, The Many Bodies of Marie Antoinette: Political Pornography and the Problem of the Feminine in the French Revolution, in:
ebd., S. 117–138.
Katherine Binhammer, The Sex Panic of the 1790s, in: Journal of the History of Sexuality 6 (1996), S. 409–435. Binhammer argumentiert hier allerdings, dass es zu einer Verschiebung von einer aktiven zur passiven weiblichen Sexualität gekommen sei.
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368
VI. Entzauberte Monarchen
Bezugspunkt, an den am häufigsten mahnend erinnert wurde, um die drohenden revolutionären Folgen eines Skandals ins Bewusstsein zu rufen.10 In
gewisser Weise bildete die Halsbandaffäre ein Narrativ, das immer wieder an
die bedrohliche Macht des Skandals erinnerte. Andere Monarchie-Skandale, die
für die Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts ebenfalls spektakulär erschienen, gerieten dagegen eher in Vergessenheit. Dies gilt etwa für den dänischen
Skandal um die Absetzung des liberalen monarchischen Beraters Johann Friedrich Struensee, der nach seiner öffentlich angeprangerten Liebesaffäre mit der
dänischen Königin wegen „Majestätsbeleidigung“ 1772 hingerichtet wurde.11
Bei derartigen Monarchie-Skandalen ging es bereits vor dem 19. Jahrhundert
nicht allein um den Ehebruch des Monarchen. Vielmehr verhandelten sie zugleich den Einfluss von Günstlingen und Beratern, monarchische Verhaltensweisen, Fragen der Gerechtigkeit und grundsätzliche Vorstellungen über die
Gesellschaftsordnung.
Auch in England kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu vielfältigen Versuchen,
den Adel wie in Frankreich durch die Enthüllung seiner Dekadenz zu skandalisieren. So diffamierte der radikale Publizist John Wilkes in den 1760er Jahren
weniger aus moralischen Überzeugungen die sexuellen Affären von Angehörigen des Königshauses, sondern um politische Reformen zu erreichen. Bezeichnender Weise beantworteten die Royalisten die Pressekampagne wiederum mit
Enthüllungen über Wilkes Liebesleben.12 Somit setzten beide Seiten die Lauterkeit des Privatlebens zum Maßstab für politische Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit. Ebenso machte der radikale Journalist Charles Pigott Ende des
18. Jahrhunderts in zahlreichen Pamphleten die sexuellen Normbrüche des
Hochadels öffentlich, um ihn als überflüssigen, dekadenten und korrupten Parasiten darzustellen.13 Die in den 1790er Jahren zunehmenden Zeitungsberichte
über adlige Scheidungsprozesse verstärkten diesen Eindruck.14 Dennoch lösten
derartige Veröffentlichungen in Großbritannien eine geringere Empörung als in
Frankreich aus. Der Historiker Nicholas Rogers führte dies nicht nur auf die
geringere Zensur zurück, sondern auch darauf, dass weniger der Monarch als
bereits das Parlament die Nation verkörperte und dessen stärker pluralistische
Struktur den Spott abbremste.15 Ebenso dürften neben einigen Reformen die
konservativen Gegenkampagnen retardierend gewirkt haben.16
10
11
12
13
14
15
16
Vgl. etwa die Hinweise im Kontext anderer Skandale in: Times 24. 2. 1870, S. 8; Daily Chronicle 10. 9. 1891; Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896; Kölnische Volkszeitung Nr. 923, 15. 10. 1907.
Christine Keitsch, Der Fall Struensee. Ein Blick in die Skandalpresse des ausgehenden
18. Jahrhunderts, Hamburg 2000.
Vgl. zu diesem Wechselspiel: Clark, Scandal, S. 19–52.
Vgl. Nicholas Rogers, Pigott’s Private Eye. Radicalism and Sexual Scandal in EighteenthCentury England, in: Journal of the Canadian Historical Association 4 (1993), S. 247–
263.
Vgl. Binhammer, The Sex Panic, S. 424 f.
Rogers, Pigott’s Private Eye, S. 258.
So das Argument von Clarke, Scandal, S. 113.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
369
Welche starke Wirkung diese Form der Skandalisierung auch in Großbritannien haben konnte, zeigte sich im frühen 19. Jahrhundert bei der Queen Caroline
Affair. Da sie ein wegweisender Monarchie-Skandal für das britische Inselreich
war und eine denkbar breite öffentliche Diskussion auslöste, lohnt ein ausführlicher Blick auf den Fall. Immerhin führte der Skandal zu Massenprotesten, die
die Stellung der Krone so sehr herausforderten wie vermutlich kein anderes Ereignis im langen 19. Jahrhundert. Der Skandal kam 1820 auf, als der unbeliebte
zukünftige König Georg IV. vor seiner Krönung die Scheidung von seiner Frau
durchsetzte, von der er längst getrennt lebte, wobei beide seit längerem mit verschiedenen Partnern verkehrten.17 Da sich weder der bisherige Lebenswandel
des Kronprinzen noch der vorheriger Monarchen durch Monogamie ausgezeichnet hatte, wird man die Empörung über die Verstoßung der angehenden
Königin im hohen Maße mit spezifischen gesellschaftlichen Veränderungen erklären müssen. Vor allem die Revolutionsangst und -hoffnung der Nach-Napoleonischen Ära, das Aufkommen der Radical Press, die zaghafte Formierung
von Proto-Sozialisten sowie die wirtschaftliche und politische Krise ermöglichten erst diese breite Empörung über das Eheleben des angehenden Königs.
Die Scheidung löste eine vielfältige Kommunikationsverdichtung aus. Sowohl
die Auflagen etablierter Zeitungen wie der Times als auch der neugegründeten
radikalen Blätter stiegen im Zuge des Skandals rasant an – von den zahllosen
Flugblättern ganz zu schweigen.18 Wie viele Zeitgenossen hervorhoben, beschäftigte und empörte der Skandal darüber hinaus alle Ebenen der Öffentlichkeit. „Since I have been in the world I never remembered any question which so
exclusively occupied everybody’s attention, and so completely absorbed men’s
thoughts and engrossed conversation“, schrieb etwa Charles Greville in seinem
Tagebuch.19 Der radikale Publizist William Cobbett betonte, der Fall bewegte
„for a time every tongue and pen in England“, und William Hazlitt betonte etwas später: „It was the only question I have ever known that excited a thorough
popular feeling. It struck its roots into the heart of the nation; it took possession
of every house or cottage in the kingdom.“20 Nicht allein der Ehebruch elektrisierte die Zeitgenossen somit, sondern bereits das Medienereignis selbst mit seiner grenzübergreifenden breiten öffentlichen Emotionalisierung. Der Hof und
17
18
19
20
Der Ablauf ist bereits in vielfältigen Darstellungen analysiert worden und muss deswegen hier
nicht erneut ausgebreitet werden; vgl. zuletzt bes. Flora Fraser, The Unruly Queen. The
Life of Queen Caroline, London 1996. Als Quellenedition hilfreich: E. A. Smith (Hrsg.), A
Queen on Trial. The Affair of Queen Caroline, Dover 1993.
Die Auflage der damals auflagenstärksten Zeitung, der Times, erhöhte sich etwa von 7 000 auf
über 15 000 Exemplare; Vermerk Robinson 13. 10. 1820, abgedr. in: Derek Hudson (Hrsg.),
Thomas Barnes of The Times, Cambridge 1943, S. 41.
Eintrag 15. 10. 1820, in: Lytton Strachey und Roger Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, Bd. 1, London 1938, S. 105 f.
In: Commonplaces 15. 11. 1823, zit. nach: T. W. Laqueur, The Queen Caroline Affair. Politics as Art in the Reign of George IV, in: Journal of Modern History 54 (1982), S. 417–466,
S. 417. Als einen Höhepunkt der Berichterstattung über Scheidungen bewertet den Fall auch:
Stone, Road to Divorce, S. 253.
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370
VI. Entzauberte Monarchen
die Regierung versuchten auf vielfältige Weise, den Skandal zu vermeiden. Zunächst boten sie Caroline vergeblich Geld an, um sie umzustimmen. Um einen
Prozess zu verhindern, der auch Georgs Ehebrüche thematisiert hätte, ließ der
Thronfolger im House of Lords ein Gesetz einbringen, nach dem das Fremdgehen der Königin Hochverrat sei, was allein Caroline bei der Scheidung die peinigenden öffentlichen Geständnisse abverlangte. Dennoch konnten die loyalen
Monarchisten nicht verhindern, dass die Medien und die breitere Öffentlichkeit
auf Carolines Krönung beharrten, als sie 1820 nach längerer Abwesenheit aus
Italien zurückkehrte und so den Scheidungsskandal auslöste.
An diesem Skandal lassen sich vor allem drei miteinander verbundene Deutungsebenen der britischen Monarchie ausmachen. Erstens trug die Queen Caroline Affair innerhalb der middle classes zur Konstruktion eines monarchischen
Ideals bei, das sich durch bürgerliche familiäre Werte auszeichnete und von der
Moral des Adels abgrenzte. George IV. hatte nach dieser bürgerlichen Lesart mit
seinem Verhalten seine Pflichten als treu sorgender Ehemann und Vater verletzt.
Für Caroline wurde dagegen das melodramatische Narrativ einer Frau konstruiert, die das Opfer adliger Untreue war.21 Durch diese Abgrenzung förderte der
Skandal ein bürgerlich geprägtes monarchisches Rollenmodell, wie es dann später Queen Victoria einlöste. Zugleich stärkte die Abgrenzung vom Lebenswandel der Herrscher die kulturelle Herausbildung der middle classes selbst, wie
bereits Zeitgenossen bemerkten.22
Der Skandal eröffnete zweitens spezifisch weibliche und proto-feministische
Lesarten des Ehebruchs. Radikale Zeitungen veröffentlichten Texte, die Frauen
als Besieger der männlichen Tyrannen feierten. So hieß es im Black Dwarf:
„Through a WOMAN Rome obtained Liberty. [...] It was a WOMAN that
brought down the bloody tyrant, Marat. [...] And a QUEEN will now bring
down the corrupt Conspirators against the Peace, Honour, and Life of the INNOCENT.“23 Frauen unterstützten die verhinderte Königin Caroline explizit
„in the name of our sex“. Sie schrieben Artikel, die sich gegen die männliche
Doppelmoral richteten, sammelten Unterschriften für sie und beteiligten sich an
den Straßenprotesten.24 Dabei identifizierten sie sich mit der Opferrolle einer
verstoßenen Frau, die sie Caroline zuschrieben, und kämpften zugleich gegen
21
22
23
24
Vgl. neben Laqueur, The Queen, S. 439, zur bürgerlichen Konstruktion der middle classes im
Kontext des Falles bes.: Leonore Davidoff und Catherine Hall, Family Fortunes. Men
and Women of the English Middle-Class, London 2002 (Erstauflage 1987), S. 150–155.
Vgl. Dror Wahrman, „Middle-Class“ Domesticity Goes Public: Gender, Class and Politics from
Queen Caroline to Queen Victoria, in: Journal of British Studies 32 (1993), S. 396–432, S. 406.
The Black Dwarf, 12. 7. 1820 (H.i.O.), abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen on Trial, S. 100.
Vgl. etwa die „Address of the Married Ladies of the Parish of St. Marylebone “ in: Times
28. 8. 1820, S. 2, Times 5. 9. 1820, S. 3; „Address from the Ladies in Edinburgh“ in: Times
4. 9. 1820; Leserbrief einer Frau („of my own sex“) Times 3. 8. 1820. Ähnlich auch die Artikel
im Radical Magazine, vgl. die Faksimile-Ausgaben in: Paul Keen (Hrsg.), The Popular Radical Press in Britain 1817–1821, London 2003, S. 291–296 u. 302–305. Vgl. Anna Clark, Queen
Caroline and the Sexual Politics of Popular Culture in London 1820, in: Representations 31
(1990), S. 47–68; Laqueur, The Queen, S. 442–445.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
371
sie an, wobei sie die Frauen als Verteidiger von Moral und Familienwerten sahen.
Dass Carolines Lebenswandel weder dem puritanischen Ideal entsprach noch
diese ein hilfloses Opfer war, unterstreicht nur die Projektionskraft der öffentlichen Zuschreibungen.
Drittens förderte der Skandal die Herausbildung einer radikalen popular culture, die Scheidung und Ehebruch als Beleg für den monarchischen Machtmissbrauch deutete. Die Queen erschien in ihrer Interpretation als Opfer und Vorkämpferin des Volkes: „[...] her INTERESTS are the same as the interests of the
people!“ (H.i.O.) hieß es etwa im radikalen Black Dwarf.25 Der Kampf für die
wehrlose Frau verband diese popular culture mit dem Kampf für eine freie
unkorrumpierbare Presse.26 Radikale Journalisten wie William Cobbett, der
sich in seinen Artikeln und in direkten Briefen mit Caroline solidarisierte, zogen
Parallelen zwischen der Unterdrückung der Queen und der fehlenden Vertretung der Unterschichten im Parlament.27 Cobbetts Engagement ging dabei sogar so weit, dass er im Namen von Caroline einen Brief in der Times veröffentlichte, in dem sich Caroline als weibliches Opfer monarchischer Willkür stilisierte.28 Die Empörung der sich im Skandal formierenden Populärkultur zeigte
sich vor allem in Spottschriften, Straßenaufläufen und symbolischen Aktionen.
So kam es zum öffentlichen Verbrennen von grünen Tüten als dem Symbol für
Korruption, weil laut Medienberichten die vermutlich bestochenen Zeugen aus
Italien mit Informationen aus einer „green bag“ versorgt worden waren.29 Ebenso kam es zu Gewalt in den Straßen und eingeworfenen Fensterscheiben, was
bei verschiedenen Zeitgenossen die Angst vor einer bevorstehenden Revolution
hervorrief.30 Der Skandal entwickelte sich so zu einem generellen Protest gegen
die Korruption und Ungerechtigkeit der monarchischen Herrschaft. Insbesondere die Karikaturen zum Skandal forderten gleiches Recht für Monarch und
Volk, wobei die Behandlung der Königin die korrupte Willkür des Monarchen
verkörperte.31 Dies galt nicht nur für die radikalen Medien, sondern auch etwa
für bürgerliche Organe wie die Times. Unter Verweis auf die öffentliche Meinung kritisierte sie die Zeugen als gekaufte „Italian devils“ und monierte, dass
der Scheidungsprozess nicht die Moral des Prinzen bewerte.32
25
26
27
28
29
30
31
32
The Black Dwarf 25. 10. 1820, abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen, S. 129.
Vgl. etwa die Erklärung der 1335 Londoner Drucker in: Laqueur, The Queen, S. 432.
Fraser, Unruly Queen, S. 389.
Times 14. 8. 1820, S. 2. Dieser Brief, der offiziell nicht direkt an die Times, sondern am 7. 8. 1820
an den König ging, ohne dass sie eine Antwort erhielt, entwarf vor allem ein Bild der Old Corruption der Monarchie (etwa: „From the very threshold of Your Majesty’s mansion the mother of your child was pursued by spies, conspirators and traitors […]“). Vgl. auch Anthony
Burton, William Cobbett: Englishman. A Biography, London 1997, S. 193.
Vgl. die Berichte über die zahlreichen Sympathiekundgebungen überall im Land in: Times
21. 11. 1820, S. 3.
Vgl. zu dieser Revolutionsangst Tagebucheinträge wie von Greville, 9. 6. 1820, abgedr. in:
Strachey und Fulford (Hrsg.), The Greville Memoirs, S. 95.
Vgl. bes. die Karikaturen abgedr. in: Smith (Hrsg.), Queen, S. 26, 33 u. 47.
Times 17. 8. 1820 und 11. 9. 1820, S. 2.
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VI. Entzauberte Monarchen
Der Skandal um Prinzessin Caroline entwickelte somit jenseits des Ehebruches vielfältige Lesarten, die soziale Dynamiken auslösten. Zugleich konstruierte der Prozess gegen Caroline öffentliche Vorstellungen über das Intimleben des Königshauses, welche sein Ansehen nachhaltig schmälerten. Um ihren
permanenten Ehebruch mit dem jungen Italiener Bergami nachzuweisen, sagten
im Prozess Zimmermädchen über schmutzige Bettwäsche aus, Matrosen über
ihr gemeinsames Schlafzelt auf einem Schiff und englische Reisende über den
Zustand ihrer Kleidung. Die Empörung in dem Skandal hatte zwar nicht die
Kraft, den angehenden König George IV. zu stürzen. Vielmehr gewann er den
Prozess und bestieg den Thron, während Caroline ohne Krönung kurz darauf
verstarb. Aber sowohl die Enthüllungen als auch die breite Debatte über den
Fall artikulierten mit Nachdruck künftige moralische Erwartungen an die
Krone.
Die anfängliche Beliebtheit von Queen Victoria und ihre Verehrung als „Maiden Queen“ lassen sich dementsprechend im hohen Maße aus der Empörung im
Queen Caroline-Skandal erklären. Die Queen verkörperte in den Erwartungen
ein Gegenmodell zu den männlichen „Georgian Kings“. Dementsprechend
zeigten visuelle Darstellungen sie anfangs vor allem als Verkörperung von Tugend und Weiblichkeit, dann als Mutter und Ehefrau. Insbesondere das Aufkommen fotographischer Darstellungen verstärkte die hier bereits angedeutete
monarchische Repräsentation im Sinne bürgerlicher Normvorstellungen.33
Dennoch verschob die Queen Caroline Affair die Grenzen des Sagbaren nicht
so sehr, dass die sexuellen Normbrüche von Queen Victoria in den Medien artikulierbar wurden. Sagbar war im viktorianischen Großbritannien eine Kritik an
der politischen Einmischung der Königin, an ihrer zeitweilig ausbleibenden
öffentlichen Präsenz und an den hohen Kosten der Monarchie, die vor allem
Reynolds’s Newspaper zunehmend monierte.34 Dagegen erwies sich das in der
mündlichen Öffentlichkeit der 1860er Jahre kursierende Gerücht, Queen Victoria sei nach dem Tod ihres Ehemanns Albert eine Affäre mit ihrem Stallmeister
John Brown eingegangen, nicht als druckbar. Während in einem amerikanischen
Blatt die Meldung erschien, in England würde Victoria überall „Mrs. Brown“
genannt und eine Schweizer Zeitung angeblich bereits ein gemeinsames Kind
meldete, hielten sich die britischen Zeitungen mit entsprechenden Andeutungen
zurück.35 Eine Ausnahme bildeten etwa die Anspielungen des kleinen Satireblattes Tomahawk. Dies zeigte einen leeren Thron, an dem Brown lehnte, und
untertitelte in einer anderen Karikatur das berühmte Bild, auf dem Brown das
33
34
35
Vgl. hierzu: Plunkett, Queen Victoria.
Zur Kritik an der politischen Einmischung von Victoria insbesondere 1853/54 vgl. Richard
Williams, The Contentious Crown. Public Discussion of the British Monarchy in the Reign
of Victoria, Aldershot 1997, S. 99 u. 264; zur Empörung über ihre mangelnde öffentliche Präsenz nach dem Tod ihres Gatten: Antony Taylor, ‚Down with the Crown‘. British AntiMonarchism and Debates about Royalty since 1790, London 1999, bes. S. 81–88. Erstaunlicher
Weise lassen diese Studien die Skandale um die Krone weitgehend außen vor.
Die ausländischen Berichte erwähnt: Williams, The Contentious Crown, S. 34.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
373
Pferd der Königin im Trauergewand hält, mit „All is black that is not Brown“.36
Der Liebhaber wurde damit einerseits dafür verantwortlich gemacht, dass die
Königin nicht mehr ihren öffentlichen Aufgaben nachkomme. Andererseits
deutet sich das bekannte Narrativ an, der Liebhaber schwänge sich zum eigentlichen Machthaber auf. Auch der Punch deutete das Verhältnis mit vier versteckten Sätzen an, die Browns Tagesablauf im Stile der täglichen Meldungen über
Monarchen berichteten.37 Zumindest im Spott erschien damit der Liebhaber als
der heimliche Herrscher.
Da die Monarchin mit Anspielungen auf ihr Liebesleben weitgehend verschont blieb, verlagerte sich die Forderung nach einer bürgerlichen Lebensführung stärker auf den Thronfolger. Die Liebesaffären des Prince of Wales, des
späteren Edward VII., waren zunächst ebenfalls nicht druckbar, obgleich sie als
Gerüchte öffentlich kursierten. Am Hof war man sich der Gefährdung durch
Medienberichte bewusst. Da der Prinz extrem unvorsichtig mit Kurtisanen verkehrte und ihnen offene Liebesbriefe schrieb, mussten letztere zurückgekauft
werden, um das Aufkommen von Skandalen zu verhindern.38 Medienkompatibel wurde eine derartige moralische Kritik am Königshaus erst im Rahmen des
Mordaunt-Skandals von 1870, als der Prince of Wales in einem Aufsehen erregenden adligen Scheidungsprozess als Zeuge auftreten musste. Hierzu kam es,
nachdem die 21jährige Lady Harriett Mordaunt ihrem Mann gestanden hatte,
dass er nicht der Vater ihres Kindes sei und sie mit mehreren Hochadligen, unter
anderen mit dem Prince of Wales, ein sexuelles Verhältnis gehabt hätte. Die dann
eingereichte Scheidung überführte diese Vorwürfe in die Medien, die ihr Geständnis über die Ehebrüche in wörtlicher Rede druckten.39
Der Skandal zeigte erneut, dass selbst das Königshaus nicht in der Lage war,
die öffentliche Berichterstattung und Empörung zu begrenzen. Dass ein öffentliches Gericht einen Thronfolger als Zeugen vernahm, war bereits Ausdruck
dieses Kontrollverlustes. Ebenso war schon das Erscheinen des Prinzen ein Zugeständnis an die bürgerliche Rechtsordnung, die seinen Verzicht auf Privilegien
untermauern sollte. Vor Gericht schienen zunächst noch die üblichen Korrekturversuche zu greifen. Indem das Gericht die betrügerische Ehefrau für wahn36
37
38
39
Tomahawk Mai und August 1867; Hinweise hierauf bereits in: Tom Cullen, The Empress
Brown. The Story of a Royal Friendship, London 1969, S. 104.
Punch 7. 7. 1866, S. 4: „Court Circular/Balmoral Tuesday. Mr. John Brown walked on the
Slopes. He subsequently partook of a haggis. In the evening Mr. John Brown was placed to
listen to a bag-pipe. Mr. John Brown retired early.“
Theo Aronson, The King in Love. Edward VII’s Mistresses, London 1988, S. 37. Aus dem
reichhaltigen populären Buchmarkt über königlichen Mätressen vgl. hier: Stanley Weintraub,
Edward the Caresser. The Playboy Prince who became Edward VII, New York u. a. 2001.
Vgl. etwa Prozessbericht Times 19. 2. 1870, S. 11: „,Charlie, I have been very wicked: I have
done very wrong.‘ I said ‚Who with?‘ She said: ,With Lord Cole, Sir F. Johnstone, the Prince
of Wales, and others, often, and in open day.‘“ Zu dem Fall vgl. Elizabeth Hamilton, The
Warwickshire Scandal, London 1999. Eher eine Biographie, die auch Zeitungsberichte aufgreift, als eine Studie über die Monarchie in der Öffentlichkeit bietet: Kinley Roby, The King,
the Press and the People. A Study of Edward VII, London 1975.
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374
VI. Entzauberte Monarchen
sinnig erklärte, machte sie die Schuldfrage irrelevant und bekräftigte das moralische Ansehen des Königshauses, da es demnach nur von einer Verrückten verunglimpft worden sei. Die Zuschreibung des Wahnsinns sollte zugleich die
„normale“ weibliche Sexualität herausstellen, die monogam und zurückhaltend
war. Ebenso musste sich der Prinz vor Gericht nicht dem üblichen detaillierten
Kreuzverhör unterziehen, sondern nur ein paar Fragen beantworten, bei denen
er jeden intimen Verkehr mit der Frau zurückwies. Doch selbst diese Fragen des
Gerichtes („Has there ever been any improper familiarity or criminal act
between yourself and Lady Mordaunt“) rückten den Ehebruch in den allgemeinen Imaginationsraum und unterwarfen den künftigen Monarchen unter ein
staatliches und öffentliches Urteil.
Tatsächlich löste der Prozess auch in diesem Fall einen unkontrollierbaren
Skandal aus, der die Monarchie diskreditierte. Allein die öffentlichen Zeugenaussagen und verlesenen Beweisstücke über das Privatleben des Prinzen führten
zu einem moralischen Reputationsverlust des Königshauses. So erfuhren die
Leser, dass Lady Mordaunts Mann in ihrem Schreibtisch Hotelrechungen,
Briefe, Blumen, Verse und ein Taschentuch des verheiraten Prince of Wales fand.
Zur Diskreditierung des Prinzen trugen zudem die Aussagen des Hauspersonals
bei, das öffentlich von heimlichen Besuchen des Prinzen bei Lady Mordaunt
berichtete, obwohl ihr Ehemann dies in seiner Abwesenheit verboten hatte, und
dass während dieser Besuche niemand sonst ins Haus durfte.40 Wie bei anderen
Skandalen erhielten Angehörige von Unterschichten so die Möglichkeit, sich
aktiv an der Demontage eines künftigen Monarchen zu beteiligen.
Visuelle Darstellungen, wie auf der Titelseite der Illustrated Police News,
zeigten den Prinzen ebenfalls als erwischten Nebenbuhler (vgl. Abb. 10).41 Obgleich die Bilder nur die innige Zuneigung zwischen Prinz und Lady Mordaunt
präsentierten, verstärkte allein schon das hier abgebildete Bett die erotische und
spöttische Suggestionskraft. Nicht nur der suggerierte Ehebruch, sondern bereits das heimliche Eindringen in die Privatwohnung des Mannes war dabei ein
eklatanter Verstoß gegen die bürgerlichen Normen.
Die im Prozess veröffentlichten Privatbriefe des Prinzen an Lady Mordaunt
verstärkten die Banalisierung des Königshauses zusätzlich. Ihr Inhalt, den alle
Zeitungen abdruckten, war zwar wenig amourös und drehte sich vornehmlich
um die Jagd, Reisen und das Wetter. Doch bereits dies ließ den Spott aufflammen. Der Times erschien er „simple, gossiping, everyday,“ der Reynolds’s Newpaper „very silly, very tautological, and very ungrammatical“.42 Reynolds sprach
dem Prinzen deshalb generell die Eignung zum künftigen König ab, da die
Briefe darüber hinaus eine Abhängigkeit von „sensational pleasures“ zeigten
und der Prinz der Nation Schande bereite.43 Auch die Straßenöffentlichkeit
40
41
42
43
Vgl. etwa Prozessbericht Times 21. 2. 1870, S. 10.
Illustrated Police News 26. 2. 1870, S. 1 und 5. 3. 1870, S. 1.
Times 24. 2. 1870, S. 8; Reynolds’s Newspaper 27. 2. 1870, S. 4.
Reynolds’s Newspaper 6. 3. 1870, S. 4.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
375
Abb. 10: Der Thronfolger als Ehebrecher in der populären Presse, der durch sein Eindringen in die Privatsphäre das Eheleben zerstört; Quelle: ILLUSTRATED POLICE NEWS
26. 2. 1870.
reagierte anscheinend entsprechend. Wie zeitgenössische Berichte andeuten,
wurde der Prinz danach auf der Straße verspottet und Schmährufe hinter ihm
hergerufen.44
Ähnlich wie bei der Queen Caroline Affair führte der Skandal zu nachdrücklich formulierten bürgerlichen Erwartungshaltungen an das Könighaus. Die
Enthüllungen in dem Prozess aktualisierten Vorwürfe gegen das adlige Sexualleben, die nun auch das Königshaus mit einschlossen. Die Aussagen von Lady
Mordaunt (wie „Everyone does it“) verstärkten dabei die Vorstellung, weibliche
Adlige würden bürgerliche Normen wie die Monogamie permanent überschreiten.45 Welches breite Interesse an derartigen Medienberichten bestand, zeigte
sich wie bei der Queen Caroline Affair an den sprunghaft ansteigenden Zeitungsauflagen. Ein kleines Blatt wie The Echo erhöhte seine Auflage auf angeblich
124 000 Exemplare. Das belegte, dass die Fähigkeit und das Interesse Zeitungen
zu lesen bereits recht groß war, allerdings die Kaufkraft der Unterschichten nur
44
45
So Havers, Royal Baccarat, S. 20.
Reynolds’s Newspaper 27. 2. 1870, S. 3.
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376
VI. Entzauberte Monarchen
für derartig spektakuläre Berichte ausreichte.46 Neben den Zeitungen verkauften Straßenhändler sofort Publikationen mit Titeln wie „The Infidelities of a
Prince“ und „Unparalled Revelations.“47
Der Mordaunt Divorce Scandal verstärkte so die um 1870 generell grassierende Monarchiekritik erheblich. Die großen Zeitungen fanden so kritische Worte
wie sie in den vorangegangenen fünfzig Jahren wohl nur selten gefallen waren.
Selbst in der Times und dem Daily Telegraph war dies deutlich erkennbar. Sie
betonten zwar im Sinne des Gerichtes die Unschuld des Prinzen und den Wahnsinn der vermeintlichen Liebhaberin, verurteilten aber scharf seinen Lebenswandel, der angesichts der neuen Massenpresse nicht mehr möglich sei. So formulierte die Times: „He had acted as a young man who does not understand the
passion far too many have for scandal, and had given occasion to misconstruction through simple headlessness.“48 Wie bei dem gleichzeitigen Boulton/Park
Homosexuellen-Skandal wurde jugendlicher Übermut als Entschuldigung angeführt. Jedoch warnte die Times zugleich, auch Marie Antoinette sei unschuldig gewesen, aber dennoch hätten hinterhältige Indiskretionen zu ihrem Tod
und dem Ende der französischen Monarchie geführt. Mit dieser Drohung und
der Zuschreibung, dass ein Prinz kein Privatleben habe, verpflichtete sie ihn auf
ein künftiges Leben in „domestic purity“. Während die radikalen Zeitungen den
Prinzen in die Tradition früherer Könige stellten, betonten auch der Daily Telegraph, dass gerade das moralische Verhalten einstiger Monarchen heute dank
einer „modern morality“ nicht mehr toleriert würde.49 Angesichts dieser „modernen Moral“ erschien der Thronfolger wie ein Relikt früherer Unmoral, der
durch die öffentliche Verwarnung zu erziehen sei.
Auch die politische Führung deutete den Skandal als ernsthafte Bedrohung
für das Königshaus. Öffentlich unterstrich der Prinz zwar mit einer Einladung
zum Dinner an das Ehepaar Gladstone seine Verbundenheit mit dem Premierminister.50 Intern sprach der Premierminister aber von einem äußerst kritischen
Ereignis. Der Königin gegenüber, die ihn um Vermittlung bat, mahnte Gladstone unter Anspielung auf die Queen Caroline Affair warnend zur Zukunft des
Throns, „that the revival of circumstances only half a century old tend rapidly
to impair its strength and might bring about its overthrow“.51 Queen Victoria
teilte diese Ansicht und schrieb dem Skandal ebenfalls ein gesellschaftsveränderndes Potential zu. So bezeichnete sie das Verhalten ihres Sohnes und der
anderen beschuldigten Adligen als einen „amount of imprudence which cannot
46
47
48
49
50
51
Vgl. zu diesem : Brown, Victorian News, S. 30.
Times 25. 2. 1870, S. 9.
Times 24. 2. 1870, S. 8; sehr ähnlich: Daily Telegraph 26. 2. 1870, S. 4.
Daily Telegraph 26. 2. 1870, S. 4.
Zur Einladung: Gladstone an Queen Victoria 14. 2. 1870, abgedr. in: Philipp Guedalla
(Hrsg.), The Queen and Mr. Gladstone, Bd. 1, London 1933, S. 267.
Gladstone an Queen Victoria 23. 2. 1870, abgedr. in: Philip Magnus, King Edward VII, London 1975 (Erstausgabe 1964), S. 144. Gladstones Tagebuch verzeichnet hierzu leider nichts;
vgl. Matthew (Hrsg.), The Gladstone Diaries, Bd. 7.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
377
but damage him in the eyes of the middle and lower classes, in their frivolous,
selfish and pleasure-seeking lives, do more to increase the spirit of democracy
than anything else.“52 Dabei sah die Queen die kritischen Zeitungsartikel über
ihren Sohn auch als ein heilsames Mittel, wie sie ihrer Tochter gegenüber erwähnte: „He has however received his warnings now. You read I hope The
Times article of the 24th – and a still finer one in The Daily Telegraph of the 26th.
Have you seen that? B. feels now that these visits to ladies and letter writing are
a mistake – to say the least. […] I hope it will get him to change but it is difficult;
still I never give up reminding him of the trial.“53 Die Presse galt selbst der
Queen somit als moralische Erziehungsinstanz für den kommenden Monarchen,
und nicht etwa umgekehrt.
Dass das Gericht Lady Mordaunt für wahnsinnig erklärte, um das Königshaus zu schützen, verschärfte zusätzlich die Empörung. So zweifelte die Daily
News den Wahnsinn der Ehefrau und die Aussagen des Prinzen an. Damit stellte sie explizit eine gerechte Justiz über das Ansehen der Krone.54 Am schärfsten
fiel erwartungsgemäß der Kommentar der Reynolds’s Newspaper aus, die sogar
den Ausschluss des Prinzen vom Thron und dem sozialen Leben erwog. Bezeichnender Weise nahm jedoch selbst Reynolds den Fall nicht zum Anlass, die
generelle Abschaffung der Krone zu fordern, sondern beschränkte sich auf
bürgerliche Normforderungen an den Monarchie. Insofern dürfte der Skandal,
pointiert bilanziert, vielleicht sogar mehr dazu beigetragen haben, die Monarchie auf bürgerliche Werte wie Moral, Effizienz und Würde festzulegen, als herausragende ideengeschichtliche Entwürfe wie Walter Bagehots English Constitution (1867).55
Der Mordaunt-Skandal war zumindest maßgeblich mit dafür verantwortlich,
dass die Proteste gegen die viktorianische Monarchie im folgenden Jahr ihr
größtes Ausmaß erreichten. Die ständige öffentliche Abwesenheit der Königin
und ihre Forderung nach 30 000 Pfund für die Hochzeit ihrer Tochter verstärkten den allgemeinen Unmut.56 „The Queen is invisible and the Prince of Wales
is not respected“, fasste Gladstone 1872 deprimiert die Situation zusammen.57
Dennoch blieb es bei diesem kurzen Aufblitzen der Empörung über die Krone.
Queen Victoria ging zunehmend auf die öffentlichen Erwartungen ein und
52
53
54
55
56
57
Queen Victoria an Lord Chancellor 21. 2. 1870, abgedr. in: Magnus, King, S. 143.
Queen Victoria an Frederick 2. 3. 1870, abgedr. in: Roger Fulford (Hrsg.), Darling Child:
Private Correspondence of Queen Victoria and the Crown Princess of Prussia 1871–1878,
London 1976, S. 262 f.
„The interests of royalty, important as they are, are less important than the interests of Justice.“
Daily News 26. 2. 1870, S. 4.
Zur Bagehots Redefinition der Monarchie vgl. William M. Kuhn, Democratic Royalism. The
Transformation of the British Monarchy, 1861–1914, London 1996, S. 15–31. Ob man die fünf
von Kuhn diskutierten Argumente Bagehots für die Erhaltung der Monarchie als „democratic
royalism“ bezeichnen sollte, ist allerdings fraglich, da Bagehot vor allem mit der Suggestionskraft der Krone für die Massen argumentiert.
Zur historischen Einordnung: Taylor, Down, S. 81.
Abgedr. in: G. E. Buckle (Hrsg.), Letters of Queen Victoria, Bd. 1, London 1926, S. 244.
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VI. Entzauberte Monarchen
erreichte gerade durch ihre Mischung aus stärkerer öffentlicher Präsenz und
gleichzeitiger politischer Zurückhaltung seit den 1880er Jahren den Höhepunkt
ihrer Beliebtheit. Da die Queen kaum selbstständig eine Medienpräsenz suchte,
wird man zugleich davon ausgehen können, dass die öffentliche Sehnsucht nach
einer visuell präsenten Monarchin zu ihrer inflationären medialen Verbreitung
und Beliebtheit führte.58
Der Prince of Wales blieb dagegen zunächst wenig respektiert und änderte
sein moralisches Verhalten nach dem Skandal kaum. Vielmehr riskierte er weitere Verhältnisse mit Frauen, die ihn in die Nähe von neuen Skandalen brachten.
So wurde er wegen Liebesbriefen erpresst, die eine Geliebte zu veröffentlichen
drohte, und 1879 kam es abermals in einem kleinen abseitigen Blatt namens
Town Talk zu Andeutungen über eine Affäre. Dabei meldete der junge Journalist Rosenberg, der Prinz sei als co-respondent im Scheidungsprozess des Ehepaar Langtry genannt.59 Dieser Fall machte jedoch deutlich, dass sowohl die
Gerichte als auch die britischen Medien es ganz überwiegend vermeiden wollten, erneut das Sexualleben des Prinzen öffentlich zu machen. Rosenberg wurde
wegen Verleumdung verklagt, zunächst erwähnte die Times aber keine Hinweise auf die Verwicklung des Prinzen.60 Im Prozess und der Urteilsverkündigung
wurde der Vorwurf zwar benannt, die harte Strafe von 18 Monaten Haft gegen
den Journalisten aber wegen ihrer abschreckenden Wirkung begrüßt.61 Selbst
Reynolds’s Newspaper druckte nur zurückhaltend die Prozessberichterstattung
ab.62 Gerade wegen der harten Bestrafung war dieser Fall vor allem ein Signal an
die Journalisten, dass der Abdruck von entsprechenden Gerüchten auf keinerlei
Toleranz des Staates treffen würde. Tatsächlich folgten, soweit ersichtlich, darauf keine entsprechenden Artikel mehr. Zumindest bei diesem Fall zeigte sich
damit, dass die Libel Laws zur Sicherung des Ansehens der Krone eine ähnlich
repressive Wirkung entfalten konnten wie die repressive Pressepolitik in
Deutschland, die auch nach dem liberalen Reichspressegesetz von 1874 durch
die Bestrafung von Majestätsbeleidigung entsprechende Artikel zu unterbinden
suchte. Nachdem das Ansehen der Monarchie in zwei großen Sexualitätsskandalen attackiert worden war, verzichtete die Presse mit einem erstaunlichen
Konsens auf weitere Enthüllungen.
Insofern lässt sich bilanzieren, dass von den Sex-Skandalen des 18. und
19. Jahrhunderts eben keine direkte Linie zu jenen Skandalen des Königshauses
führte, wie sie heute in Großbritannien bekannt sind. Die Politisierung der
Printmedien und die Ausbildung der Massenpresse verschoben nur punktuell
58
59
60
61
62
Diese öffentliche Sehnsucht zeigt vielfach: Plunkett, Queen Victoria. Die zahlreichen Biographien heben die Figur der „Imperial Matriarch“ zwar hervor, deuten sie aber kaum als Ergebnis der Medialisierung; vgl. etwa Walter L. Arnstein, Queen Victoria, Basingstoke 2003,
S. 165–194.
Hinweise bei Aronson, Prince, S. 115 f.
Times 16. 10. 1879, S. 11.
Times 27. 10. 1879, S. 4 und 28. 10. 1879, S. 9.
Reynolds’s Newspaper 2. 11. 1879, S. 2.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
379
die Grenzen des Schreibbaren, etablierten aber keine permanente Skandalisierung entsprechender Normverstöße. Latent bekannte Gerüchte gelangten nur
dann in die Presse, wenn Prozesse eine entsprechende Öffentlichkeit schufen
und sich gesellschaftliche Konfliktsituationen mit einer Monarchiekritik vermischten, die sich aus anderen Quellen speiste. Die Marginalisierung jener Journalisten, die entsprechende Gerüchte gelegentlich in die Presse brachten, zeigte
hingegen, dass vielfach der Schutz der Krone höher stand als eine verkaufsträchtige Enthüllung.
Im deutschen Kaiserreich spielten dagegen die sexuellen Normbrüche des
Hohenzollernhauses keine vergleichbare Rolle. Sicherlich lassen sich im 19. Jahrhundert einzelne Fälle ausmachen, bei denen auch deutsche Königshäuser an
moralischen Tugendmaßstäben gemessen wurden. Parallelen zu einem Skandal
wie der Queen Caroline Affair wies am ehesten die Lola Montez-Affäre des
bayerischen Königs Ludwig I. 1847/48 auf, die sich aus seiner Liaison zwischen
dem Monarchen und einer britischen Tänzerin entwickelte. Lola Montez, die
sich als eine spanische Tänzerin ausgab, hatte bereits in ganz Europa Skandale
ausgelöst, als sie 1846 nach München kam und die Geliebte von Ludwig I. wurde. Wie bei der Queen Caroline Affair entstand hieraus ein Skandal mit breiten
öffentlichen Protesten, die schließlich sogar den Rücktritt des Königs einleiteten und die Dynamik der Revolution von 1848 in Bayern verstärkten. Ebenso
ging die Empörung über die Affäre mit Vorwürfen gegen monarchische Willkür
und Verschwendung einher. Sie bezog sich auf die Einbürgerung und Standeserhebung von Lola Montez, die Schließung der Münchener Universität nach
Protesten gegen die Begünstigung Lola Montez’ sowie die Entlassung von protestierenden Ministern.63 Und ähnlich wie Queen Caroline interagierte auch
Lola Montez mit den Medien, um ihre Stellung zu sichern, indem sie sowohl die
deutsche als auch die internationale Presse mit Zuschriften versorgte, um auf die
öffentlichen Vorwürfe zu antworten.64
Zugleich zeigt jedoch ein Blick in die zeitgenössische Presse, dass sich der
bayerische Skandal von dem englischen Fall unterschied. So bezog sich die mediale Kritik im geringeren Maße auf den Monarchen als auf seine Liebhaberin,
deren Vertreibung als die Lösung des Problems galt.65 Weniger dem König als
der Geliebten wurde die Usurpation willkürlicher Macht, der Bruch von moralischen Verhaltensweisen und die Auslösung von Unruhen vorgehalten. Offensichtlich sorgte die wesentlich rigidere Zensur für eine (Selbst)Beschränkung,
die selbst in dem damals relativ liberalen Bayern zu deutlich tabuisierteren
Medienberichten als in England führten. Die politische Skandalisierung des
63
64
65
Von den zahlreichen Publikation zu Lola Montez vgl. etwa: Bruce Seymour, Lola Montez. A
Life, New York 1996; Ishbel Ross, The Uncrowned Queen. Life of Lola Montez, New York
u. a. 1972.
Vgl. etwa ihre Zuschriften in: Times 18. 3. 1847, S. 6 u. 9. 4. 1847, S. 5.
Ausgewertet wurden von mir die Vossische Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung für die Zeit der Hauptkonflikte um die Mätresse (Febr. 1847, Febr./März 1848).
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380
VI. Entzauberte Monarchen
Monarchen verlief stattdessen stärker über die mündliche Öffentlichkeit, über
Flugschriften und Zeitungen aus Nachbarländern, deren Kritik moralischen
Druck auf den König ausübte. Sie zeigte den Monarchen etwa kaum bekleidet
als Lüstling und teuflischen Bock, während Lola als Höllenwesen ebenfalls in
die christliche Ikonographie eingeschrieben wurde.66
Auch bei der Lola Montez-Affäre kam es zu einer intensiven länderübergreifenden Wahrnehmung des Skandals. Englische Presseberichte bezogen dabei das
Verhalten von Ludwig I. auf frühere Skandale und Verhaltensweisen der einstigen „Georgian Kings“, nicht ohne auf deren deutsche Herkunft hinzuweisen.67
Damit stellte sich die britische Öffentlichkeit auf eine moralisch höher entwickelte Stufe, da sie angesichts der regierenden Queen Victoria derartige Skandale überwunden glaubte. Insgesamt stand der Lola Montez-Skandal somit
trotz der Zensur für einen Kontrollverlust, durch den das private und politische
Verhalten des Königs als unzeitgemäß erschien.
Wie sehr sich zwischen 1848 und der Jahrhundertwende die Form der Berichterstattung und die verhandelten Normen veränderten, zeigt ein vergleichender Blick auf den Scheidungsskandal der 37jährigen Kronprinzessin Luise
von Sachsen, einer Tochter des Großherzogs Ferdinand IV. von Toskana. Sie
hatte 1891 den Prinzen Friedrich August von Sachsen geheiratet, der 1904 den
sächsischen Königsthron bestieg. Im Jahr zuvor ließ er sich jedoch von seiner
Frau scheiden, nachdem sie beim Ehebruch mit ihrem belgischen Sprachlehrer
überrascht worden war.68 Da der Scheidungsprozess im Unterschied zu England unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, konnten die Journalisten jedoch weiterhin den Ehebruch selbst nicht derartig detailliert thematisieren wie
in Großbritannien. Dennoch publizierten nun alle Zeitungen monatelang umfangreiche Artikel über den Fall, was sowohl das breite Interesse selbst seriöser
Zeitungen zeigte als auch erneut die Grenzen der Zensur.69
Auch dieser Gesellschaftsskandal eröffnete vielfältige Zuschreibungen über
die Stellung der Monarchie innerhalb der Gesellschaft und die Rolle von adligen
Frauen. Während 1847/48 Lola Montez noch als verdammungswürdige Verführerin erschien, zeigten nun zumindest einige Artikel Verständnis für die adlige
Ehebrecherin. So urteilte der konservative Reichsbote: „So gerecht das Urteil
über den schmachvolle Ehebruch der Prinzessin auch ist, so drängt sich einem
doch unwillkürlich der Gedanke auf, wie leicht über den von Männern verübten
Ehebruch meistens hinweg gegangen wird, und wie unglückliche Frauen, die
unter demselben zu leiden haben, ohne Rechtshilfe ihrem Schicksal überlassen
66
67
68
69
Vgl. etwa die Bilder in: Eduard Fuchs, Ein vormärzliches Tanzidyll. Lola Montez in der
Karikatur, Berlin o. D. (1904).
Vgl. etwa: Times 2. 3. 1847, S. 5; Times 9. 3. 1847, S. 6; ein Journalist des Fraser’s Magazine sah
dagegen Lola Montez als liberale Vorkämpferin; Seymour, Lola, S. 168.
Vgl. von den zahlreichen populärwissenschaftlichen Darstellungen bes.: Erika Bestenreiner, Luise von Toscana. Skandal am Königshof, München 2000.
Vgl. etwa: Berliner Tageblatt Nr. 81, 14. 2. 1903, Münchner Neueste Nachrichten
Nr. 70, 12. 2. 1903.
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1. Monarchen und Ehebruch im 19. Jahrhundert
381
werden.“70 Verschiedene Blätter verteidigten sie zudem als Opfer der „Ultramontanen“ und Jesuiten.71 Andere Zeitungen druckten Briefe der Prinzessin,
die ihr Leiden und ihre Liebe zu den Sachsen ausdrückten.72 Ähnlich wie
Caroline und Lola Montez war die Prinzessin damit nicht nur ein „Opfer“ der
Medien, sondern bediente sich dieser, um ihre Position zu verteidigen. Die
sozialdemokratischen Zeitungen sahen die Prinzessin nicht nur als Musterbeispiel für die Auflösung des höfischen Ehelebens. Sie galt ihnen auch als ein
Opfer von Standesherrschaft und Klerikalismus, die nur frei von den Zwängen
des Hofes leben wollte und dafür bestraft würde.73 Ähnlich interpretierten auch
die Arbeiter in den Kneipen den Fall. Laut Spitzelberichten sahen sie den Ehebruch und die Verstoßung als typisch für die Hofgesellschaft an: „das traurige
wäre ja bei solchen Leuten, daß sie nie nach ihrem Wunsch heiraten könnten.“74
Trotz anderer Stimmen, die wie Maximilian Harden die Prinzessin als „moderne
Frau“ karikierten, zeichnete sich damit eine Interpretation ab, die, neben einer
moralischer Verdammung des Hochadels, wie bei der Queen Caroline Affair
Empathie für die betroffenen Frauen aufbrachte.75
Dass die deutschen Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
kaum in große „Sex-Skandale“ verwickelt waren, lag jedoch sicherlich nicht an
ihrer Lebensführung. Die homoerotischen Neigungen des bayrischen Königs
Ludwigs II. etwa waren den Zeitgenossen zumindest gerüchteweise bekannt.
Dennoch blieben entsprechende Kommentare in den Zeitungen, soweit ersichtlich, selbst im Zuge seiner Entmündigung und seines anschließenden plötzlichen
Todes aus.76 Angriffspunkte gewährte auch der Lebenswandel des jungen Kronprinzen und späteren Kaisers Wilhelm II. Wie John Röhl gezeigt hat, verkehrte
Wilhelm auch nach seiner Heirat noch recht offen mit verschiedenen Prostituierten, mit denen er nicht nur Briefe und Fotos austauschte, sondern anscheinend auch uneheliche Kinder hatte.77 Die Berater des Kaisers mussten daher
mehrfach hohe Erpressungsgelder zahlen. Bismarcks Sohn Wilhelm, der zu den
Unterhändlern zählte, riet zu einem großzügigen Aufkauf, da sie „ungeheuren
70
71
72
73
74
75
76
77
Reichsbote Nr. 37, 13. 2. 1903.
Vgl. etwa Berliner Extrapost 7. 2. 1903; weitere Meldungen und Zurückweisungen dessen
in: Historisches Archiv Köln, 1006 Nr. 189.
Berliner Tageblatt Nr. 85, 16. 2. 1903.
Vgl. die zahlreichen Beiträge in: BA/K, ZSg 113-517.
Vigilanzbericht Schutzmann Struve 24. 12. 1902, in: StAH, S 3930-23 Bd. 9.
Harden, Zukunft, 5. 1. 1903, S. 1–13, zit. S. 2.
Ob Ludwig II. homosexuell war, ist unter seinen zahlreichen heutigen Biographen nicht nur
umstritten, sondern auch weiterhin nur andeutungsweise sagbar; vgl. etwa Hütls Urteil: „Seine
zwischenmenschlichen Beziehungen entsprachen nicht der Norm und stempelten ihn zum
Außenseiter. Die wechselnden Favoriten, die er auswählte, gaben seit je her Anlaß zu entsprechenden Vermutungen.“ Ludwig Hüttl, Ludwig II., München 1986, S. 388. Keine Belege für
die praktizierte Homosexualität sieht: Christopher McIntosh, The Swan King. Ludwig II
of Bavaria, New York 2003 (Erstauflage 1982), S. 157.
So John C. G. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 465–
67; ders., Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie, München 2001, S. 232–237.
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VI. Entzauberte Monarchen
Skandal“ hervorrufen könnten.78 Herbert Bismarck verteidigte diese Skandalabwehr seinem Vater gegenüber mit dem Hinweis auf die veränderte mediale
Stellung des Monarchen:
Nach meiner Auffassung ist die Sache nur ein pudendum. Heutzutage machen solche
Sachen nur mehr Lärm als früher, weil die Presse viel verbreiteter u. gemeiner ist, als
früher, u. weil der Deutsche Kaiser mehr en vue ist, als irgend ein anderer Mensch oder
Monarch, u. von übelsten Elementen, die die verworfenste Presse haben – Franzosen,
Jesuiten, Socialisten, Juden – auf das Bitterste gehaßt wird.79
Die Annahme, die „Sensationspresse“ und die politischen Gegner könnten durch
solche Informationen die Monarchie stürzen oder beschädigen, führte somit zu
verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, um das Privatleben des Monarchen den
bürgerlichen Konventionen entsprechend erscheinen zu lassen. Zugleich spielten diese Aufkäufe den Bismarcks belastendes Material in die Hand, dass bei
einer Eskalation des Konfliktes mit dem Kaiser durchaus eine letzte Waffe sein
konnte.
Trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner eigenen früheren Normbrüche
sorgte sich Wilhelm II. energisch um das moralisch korrekte Verhalten seiner
Verwandtschaft. Verschiedentlich maßregelte er sie mit scharfen Briefen, um
Skandale zu verhindern.80 Drangen dennoch entsprechende Meldungen in die
Presse, wie bei der Liebesaffäre von Prinz Joachim Albrecht von Preußen mit
einer verheirateten Frau, erteilte er Sanktionen. So musste der Prinz zur moralischen Erziehung beim Krieg in Südwest-Afrika teilnehmen. Zudem wurden
ihm symbolische Gesten verweigert, wie der Handschlag beim Hoffest.81 Tatsächlich hoben die bürgerlichen Presseberichte über Wilhelm II. immer wieder
seine moralische Vorbildlichkeit hervor, während monarchiekritische Blätter
selbst im Kontext der Eulenburg-Affäre von Andeutungen über sexuelle Verfehlungen absahen. Anzunehmen ist, dass nicht allein die drohenden Verurteilungen und Zensurmaßnahmen von derartigen Deutungen abhielten. Vielmehr
gab gerade sein politisches Engagement genügend Anlass für Kritik und Empörung. Gerade weil Wilhelm als politische Instanz auftrat, brauchte er in geringerem Maße an moralischen Ansprüchen gemessen werden.
2. Der Prinz als Glücksspieler
Auch die Skandale des britischen Königshauses drehten sich im ausgehenden
19. Jahrhundert kaum noch um sexuelle Verfehlungen. Dennoch stand die mo-
78
79
80
81
W. von Bismarck an H. von Bismarck, zit. nach Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau, S. 233.
H. von Bismarck an O. von Bismarck 25. 11. 1888, zit. nach ebd. S. 235.
Einige Beispiele hierfür in: Lothar Machtan, Wilhelm II. als oberster Sittenrichter: Das
Privatleben der Fürsten und die Imagepolitik des letzten deutschen Kaisers, in: ZfG 54 (2006),
S. 5–19.
Vgl. die Einträge hierzu im Tagebuch Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre, S. 164 u. 190 f.
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2. Der Prinz als Glücksspieler
383
ralische Lebensführung weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Während Queen Victoria nun, nicht zuletzt aufgrund ihres Alters, wieder uneingeschränkt als moralisches Vorbild galt, bot der Lebenswandel des Prince of Wales
weiter Anlässe für kritische Reflexionen. Hierzu zählte insbesondere seine
Spiel- und Wettleidenschaft. Sie mündete 1891 in den Baccarat Scandal, dem sicherlich bedeutendsten britischen Monarchie-Skandal im ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch dieser Skandal trug bürgerliche Erwartungen an die Monarchie
und den Adel heran und verhandelte zugleich generelle Normen – in diesem
Fall die Zulässigkeit von Glücksspielen.
Die Kritik an der Spielleidenschaft des Prinzen war nicht neu. Sie zählte bereits seit längerem zu den festen Topoi der radikalliberalen Presse. So berichtete
die auflagenstarke Reynolds’s Newspaper schon im Zuge der Monarchiekrise
1870/71, der Prinz würde im Bad Homburger Casino jenes Geld am Roulettetisch verspielen, das die englische Arbeiterklasse in ihrem Schweiß erarbeitet
hätte, während der Prinz selbst niemals einen Penny erwirtschafte.82 Selbst
wenn man in Deutschland offen zu Glücksspielen auffordere, müsse der Prinz
auch im Ausland ein Vorbild für die englische Gesellschaft sein. Anderenfalls
tauge er kaum als Thronfolger. Zugleich verwies das Blatt auf die harten Strafen,
die normale Bürger für das Glückspielen erhielten. Die grundsätzliche Kritik an
der Spielleidenschaft des Thronfolgers bezog sich somit auf die Verschwendung,
Ausbeutung und Doppelmoral, auf eine Zweiklassenjustiz und einen fehlenden
bürgerlichen Arbeitsethos. Ebenso spielte der linksliberale Star auf die Baccaratleidenschaft des Prinzen an, als es 1889 um die Bewilligung von 40 000 Pfund
ging: „What guarantee have we that the money will not go to Monte Carlo or
the gambling table?“83, fragte er und sprach von 11 000 Pfund, die der Prinz gerade bei einem Baccaratspiel mit Baron Hirsch gewonnen habe. Der sogenannte
Baccarat-Skandal von 1891 knüpfte insofern an eine bestehende Kritik an, die
jedoch bisher noch nicht zu einem Skandal geführt hatte.
Voraussetzung für die wirkungsmächtige Empörung war zunächst – wie bei
den Ehebruchsskandalen – eine Verschiebung der öffentlichen Bewertung des
Glückspiels, die in den 1880er Jahren einsetzte. Da es sich bei Baccarat um ein
reines Glückspiel handelt, war es unter Geldeinsatz prinzipiell illegitim. Die
bürgerliche Presse sah in dem Kartenspiel, wie bei den meisten moralischen
Normbrüchen, spöttisch ein französisches Laster.84 Ähnlich wie in Sexualfragen
nahmen seit Mitte der 1880er Jahre die Versuche zu, Glücksspiele zu kontrollieren und einzudämmen. Weil der Gaming Act von 1845 nur ungenau die illegitimen Spielpraktiken festschrieb, bestanden wie bei anderen Normbrüchen Spielräume, die durch Präzedenzfälle auszuloten waren. So urteilte ein Richter 1884,
nachdem die Polizei eine vornehme Spielstätte namens Park Club ausgehoben
hatte, „while baccarat is at common law a lawful game, it can become unlawful
82
83
84
Reynolds’s Newspaper 24. 9. 1871, S. 5.
Star 20. 7. 1889, S. 1.
Vgl. noch vor dem Skandal: Times 11. 6. 1890, S. 10.
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384
VI. Entzauberte Monarchen
if […] it is played: (i) (per Hawkins J.) to excess (ii) so as to injure public morals
(iii) in a house kept for the purpose of playing it […].“85 Da der Ermessensraum
selbst nach diesem Urteil groß blieb, fielen die Strafen unterschiedlich aus. Die
zeitgenössische Kritik der späten 1880er Jahre wies deshalb wie bei den sexuellen Normverstößen auf die geringen Strafen für Spieler aus den Oberschichten
hin, wo das Glückspiel zunehmend verbreitet sei.86 Damit verlagerte sich auch
hier der kritische Blick vom armen Londoner East-End auf das reiche WestEnd. 1889 machte die Polizei erneut verschiedene Glücksspielstätten aus. Die
ausführlichen Presseberichte dürften mit dazu beigetragen haben, dass sich 1890
die National Anti-Gambling League gründete, die gegen das Glücksspiel und
das in England weitverbreitete Wetten allgemein vorging.87 Um 1890 war somit
das Narrativ des reichen Spielers, der ungestraft große Einsätze verspielte, im
öffentlichen Diskurs recht präsent.
Ausgelöst wurde auch der Baccarat-Skandal nicht durch eine investigative
Presserecherche, sondern durch einen Gerichtsprozess, der sich aus Streitigkeiten
innerhalb des hohen Adels entfaltete. Ein langjähriger Freund und Spielpartner
des Prince of Wales, Sir William Gordon-Cumming, leitete ihn im Februar 1891
ein. Der Baron und Oberstleutnant in den Scots Guards hatte mit dem Prince of
Wales und anderen Adligen im September 1890 bei einer Einladung auf dem
Schloss Tranby Croft Baccarat gespielt. Nachdem er an zwei Abenden vor allem
vom Prince of Wales 225 Pfund gewonnen hatte, beschuldigten seine Mitspieler
ihn des Falschspieles. Sie nötigten ihn, eine Erklärung zu unterschreiben, in der
er sich zu völliger Abstinenz beim Glücksspiel verpflichtete, wofür die Mitspieler stillschweigen wollten. Wie die Beteiligten später aussagten, machten sie dies
„to avoid an open row and scandal.“88 Tatsächlich führte genau diese Verpflichtung erst zum Skandal, da Gordon-Cumming einige Zeit später hierin eine Verleumdung sah, von der er sich nun zur Rettung seiner Ehre durch einen Prozess
freisprechen wollte.89 Gerade der Versuch, ein Geheimnis mit Nachdruck zu
schützen, führte somit auch bei diesem Skandal zu dessen Veröffentlichung.
Wie bei allen Skandalen leitete bereits die Prozessankündigung im Februar
1890 Presseberichte, Parlamentsanfragen und öffentliche Diskussionen ein, die
jedoch erst mit dem Prozess vier Monate später ihre volle Dynamik erhielten.
Da der Reputationsverlust für die Krone absehbar war, weil der Prinz als einer
85
86
87
88
89
Zit. nach: David Miers, Regulating Commercial Gambling. Past, Present and Future, Oxford
2004, S. 67.
Vgl. zeitgenössisch zu den Gerüchten über die „West End Clubs“ etwa: G. Studtfield, Modern Gambling and Gambling Laws, in: The Nineteenth Century 26 (1889), S. 840–860.
Lediglich auf die recht bedeutungslose Anti-Gambling League, nicht auf Skandale bezogen:
David C. Itzkowitz, The (other) Great Evil: Gambling, Scandal, and the National AntiGambling League, in: Garrigan (Hrsg.), Victorian Scandals, S. 235–256.
Prozessprotokoll nach: Daily News 2. 6. 1891, S. 2.
Zum Ereignisablauf, allerdings ohne eine weitere historische Einordnung, vgl. ausführlich aus
der „Classic Crime Series“: Michael Havers et al., The Royal Baccarat Scandal, London
1977; zudem: Magnus, Edward VII, S. 279–289; Roby, King, S. 229–259.
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2. Der Prinz als Glücksspieler
385
der wichtigsten Zeugen erscheinen sollte, versuchte das Königshaus einzugreifen. Allerdings zeigte sich erneut der Kontrollverlust der Krone. Vertraute des
Prinzen versuchten vergeblich, den vermeintlichen Falschspieler Gordon-Cumming von seiner Klage abzuhalten. Als das nicht gelang, erbaten sie, ebenfalls
vergeblich, Premierminister Salisbury solle gegenüber dem Gericht eingreifen.
Der Premierminister hielt sich jedoch zurück – vermutlich gerade wegen seiner
Erfahrung im Cleveland Street Scandal kurz zuvor, bei dem Salisbury durch
sein Eingreifen selbst in den Mittelpunkt des Skandals gerückt war.90 Eine weitere Taktik war, Gerüchte über den Prozessverlauf in den Medien zu verbreiten.
So sprach der Anwalt der Adligen in einem Zeitungsartikel frühzeitig den Kronprinzen von aller Schuld frei. Eine andere Strategie verfolgten liberale Blätter,
die aus „well-informed circles“ berichteten, der Prinz müsse vor Gericht nicht
ins Kreuzverhör.91 Die so suggerierte Zweiklassenjustiz sollte gerade ein Kreuzverhör unausweichlich machen.
Die Zeugenaussagen im Prozess machten wiederum zahlreiche Details über
das Privatleben des zukünftigen Monarchen öffentlich, die gerade durch ihre
Banalität für Spott sorgten. Das zentrale Bild des Skandals, in dem die Empörung in den Artikeln, Karikaturen und persönlichen Reflexionen kulminierte,
war die Annahme, der Prinz führe stets sein eigenes Baccaratspiel bei sich. Offensichtlich hatte der Prinz bei der Einladung in Tranby Croft die Gastgeber, die
mit Baccarat wenig vertraut waren, sofort zum Spiel aufgefordert, seine eigenen
Spielsteine herausgeholt und die wichtige Rolle der Bank übernommen. Dieses
Bild bildete das Grundmotiv der öffentlichen Vorwürfe: „It was played with his
counters, specially taken down for the purpose“, monierte die Times, und die
Pall Mall Gazette beklagte „a set carried about by him wherever he goes“. Auf
der Straße rief man dem Prinzen nach: „Have you brought your counters?“92
Auf diese Weise etablierte sich die Vorstellung eines spielsüchtigen Thronfolgers, der jederzeit seine Spielsteine bereit hielt, genau wie, so die Daily News,
ein Mohammedaner seinen Gebetsteppich oder, so ein Abgeordneter, ein Trinker seiner Flasche.93
In dem Skandal wurden wiederum verschiedene Normen ausgehandelt. Zum
einen ging es um die offene Frage, inwieweit Glücksspiele generell zulässig
seien. Dabei kam es zunächst zu einer bemerkenswerten Umdeutung. Im Parlament antwortete etwa der konservative Innenminister Henry Matthews auf entsprechende Anfragen – nicht zuletzt um den Prinzen zu schützen –, das Glücksspiel sei in einem Privathaus erlaubt.94 Sowohl die zahlreichen Nachfragen der
90
91
92
93
94
Vgl. Kap. II. 4. Zur Anfrage bereits: Magnus, Edward VII, S. 287.
Pall Mall Gazette 17. 2. 1891; Echo 17. 3. 1891, nach Times 25. 3. 1890, S. 3.
Pall Mall Gazette 4. 6. 1891; Times 10. 6. 1891, S. 9. Eine Sammlung von Karikaturen findet
sich in: Review of Reviews Juli 1891, bes. S. 16–22.
Daily News 5. 6. 1891, S. 2.
„I am advised that it is not an offence against the Gaming laws to play baccarat in a private
house.“ 13. 2. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 350, Sp. 613; vgl. auch
seine Antwort: 26. 2. 1891, ebd., Sp. 1697.
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VI. Entzauberte Monarchen
Journalisten beim Innenministerium als auch die internen Vermerke des Ministeriums zeigen, dass dies als erstaunliche Neuinterpretation galt.95 Die Forderung nach einem schärferen Vorgehen gegen das Glücksspiel, das der Abgeordnete Morton vor allem mit der Oberschicht verband, lehnte der Innenminister
ab und bezeichnete dies als einen lächerlichen Eingriff in die Privatsphäre, da
Agenten der Justiz und Polizei nicht in Privathäusern verfolgen könnten, ob
Familien um einige Pennies Baccarat spielten. „Such an investigation of the
amusements of every private family would be a most intolerable tyranny, and
the country would not bear it.“96 Ebenso hielt der konservative Premierminister
Salisbury intern fest, dass er selbst zwar Geldspiele ablehne, sie aber toleriere
solange sich die Spieler dies leisten könnten.97 Damit verschob das Verhalten des
Prinzen sowohl Rechtsinterpretationen als auch soziale Normen.
Diese Umbewertung des Glücksspiels zeigte sich auch in der Urteilsbegründung des Richters. Er äußerte Verständnis für den Prinzen, da man dem einfachen Mann, der sich nach einem harten Arbeitstag ein wenig Vergnügen gönne, dies auch nicht verübeln würde.98 Die meisten Zeitungen vertraten mit Blick
auf das Glückspiel im allgemeinen eine ähnliche Deutung. Selbst die moralistische Pall Mall Gazette betonte, das Spielen von Baccarat sei generell kein
schweres Vergehen.99 Ebenso bewertete W. T. Stead in der Review of Reviews
das Spielen als etwas, was der Prinz zur Entspannung benötige.100 Somit führte
der Skandal überraschender Weise eher zu einer Lockerung der Normen, indem
Glücksspiele als ein zwar nicht wünschenswertes, aber tolerierbares Privatvergnügen umgedeutet wurden. Kaum Beanstandung fanden zudem die Wetten
beim Pferderennen, mit denen sich der Prinz wie gewöhnlich auch an dem besagten Wochenende in Tranby Croft vergnügt hatte. Die Geistlichen und nonkonformistischen Gruppen, die aus dem Fall die öffentliche Forderung nach
einem generellen Verzicht auf Glücks- und Wettspiele ableiteten, wurden zwar
in den Zeitungen zitiert, blieben jedoch in der Minderheit.101
Diese insgesamt liberale Deutung des Glücksspieles wurde allerdings mit
Blick auf den Prinzen eingeschränkt. Fast die gesamte Presse empörte sich über
das Verhalten des Thronfolgers. Der Skandal festigte und präzisierte dabei die
normativen Anforderungen an sein Leben und seine Aufgaben. So stellte die
Times fest, dass der Prinz im Unterschied zu normalen Bürgern kein Anrecht
95
96
97
98
99
100
101
Vgl. etwa den internen Vermerk der verwunderten Mitarbeiter, der Minister habe bisher angewiesen, „the police must not countenance baccarat even in social clubs or private houses.“
14. 7. 1891, in: TNA, HO 45/9726/ A 52553.
17. 3. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 351, Sp. 1286.
Salisbury an Cadogan o. D. (um 6. 6. 1891) und 19. 6. 1913, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 65
u. 81.
Gerichtsaussagen nach Prozessbericht nach: Daily News 10. 6. 1891, S. 2.
Pall Mall Gazette 10. 6. 1891, S. 1 und 15. 6. 1891, S. 1. Ähnlich etwa: Standard 10. 6. 1891.
Review of Reviews Juli 1891, S. 23–34.
Vgl. die öffentlichen Stellungnahmen von unterschiedlichen Kirchenvertretern bes. in: Times
10. 6., 12. 6. und 15. 6. 1891, S. 6; Reynolds’s Newspaper 14. 6. 1891, S. 5; Pall Mall Gazette
15. 6. 1891, S. 1 und 5.
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2. Der Prinz als Glücksspieler
387
auf ein Privatleben habe, sondern stets der Öffentlichkeit verantwortlich sei.102
Da ihm die Zeitungen die Aufgabe zuschrieben, ein moralisches Vorbild zu sein,
erschien sein Zeitvertreib mit Glücksspielen als völlig unzulässig. Die liberale
Daily News formulierte dementsprechend:
The Prince of Wales is bound to a pure, a simple, and a cleanly life as rigorously as if the
obligations were set down in some constitutional pact. He is not here to command our
armies, or even to initiate great measures of policy, but, in some sort, to show, in the
higher station, how life in every station should be lived. Woe to the Monarchy when it can
not perform what may fairly be called its last surviving use.103
Stärker als beim Mordaunt-Skandal artikulierten die Zeitungen somit die Drohung, der Prinz würde durch sein Verhalten zur Abschaffung der Monarchie
beitragen. Noch deutlicher forderte der irenfreundliche liberale Star, das englische Königshaus müsse des Landes Wert sein, da es sonst, wie eine nicht-geachtete Flagge, keinen weiteren Sinn habe.104 Dem zukünftigen Monarchen
wurde damit erneut auferlegt, durch sein privates und öffentliches Leben bürgerliche Werte nach außen zu repräsentieren – oder auf den Thron zu verzichten.
Die Zeitungen selbst waren sich ihrer exzeptionellen Form der Monarchiekritik bewusst. „Never perhaps during the present reign has there been such an
outspoken criticism of one so near the Throne“, resümierte die Pall Mall Gazette
ihre ausführliche Presseschau.105 Der Verweis auf die Halsbandaffäre unterstrich
in anderen Blättern die drohenden Konsequenzen.106 Lediglich W. T. Stead zog
aus dem Skandal einen geradezu konträren Schluss. Er argumentierte, gerade
weil der Kronprinz keine politischen Aufgaben habe, würde er sich derartigen
Zerstreuungen hingeben. Daher müsse man ihm mehr Verantwortung geben.107
Steads Argument ließ sich vielleicht jedoch eher umgekehrt erweitern: Gerade
weil die Krone sich politisch zurückhielt, fand im Unterschied zu Deutschland
der Lebensstil des Prinzen eine derartig hohe öffentliche Aufmerksamkeit.
Über das Glückspiel hinaus diskreditierte der Skandal den Hochadel insgesamt, weil er zu einer minutiösen exemplarischen Veröffentlichung ihres Alltags
führte. Das Wochenende auf dem Schloss Tranby Croft bestand, wie die Zeugenaussagen deutlich machten, vornehmlich aus Essen, Glückspiel mit hohem
Geldeinsatz und dem Besuch von Pferderennen mit entsprechenden Wetten,
obwohl zeitgleich der Schwager eines Mitspielers verstorben war. Ebenso spotteten die liberalen Zeitungen über die unbürgerlichen Lebenswege der hochadligen Mitspieler, die etwa das College nach einem Jahr abgebrochen hatten,
nur einen Monat in der väterlichen Firma gearbeitet hatten und dann berufslos
102
103
104
105
106
107
Times 10. 6. 1891, S. 9.
Daily News 10. 6. 1891, S. 4 (H.i.O.).
Star 10. 6. 1891, S. 1.
Pall Mall Gazette 10. 6. 1891, S. 6.
Daily Chronicle 10. 9. 1891.
Review of Reviews Juli 1891, S. 23–34, bes. S. 26.
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VI. Entzauberte Monarchen
blieben.108 Entscheidend für die Bewertung des Prinzen und der beteiligten Adligen war zudem, dass es sich bei ihnen auch um Inhaber hoher militärischer
Ränge handelte. Indem sie das Geldspiel und sogar das Falschspiel deckten, verstießen sie gegen Militärgesetze, die eine sofortige Meldung verlangten. Während
der vermeintliche Falschspieler Gordon-Cumming daraufhin von der Queen
aus der Armee ausgeschlossen wurde, konnte der Prinz seinen militärischen
Rang behalten, was vor allem die Reynolds’s Newspaper als Zeichen der Doppelmoral kritisierte.109 Damit stellte der Skandal erneut die Forderung auf, dass
Gesetze gleichermaßen selbst für das Königshaus zu gelten hätte.
In dem Skandal entflammte zudem eine Kritik an den Kosten der Monarchie.
Da der Prinz in seiner Rolle als „Bank“ jeweils um bis zu 100 Pfund spielte –
also mehr als den Monatslohn eines bürgerlichen Einkommens – sah die Öffentlichkeit an einem konkreten Beispiel, wie leichtfertig der Thronfolger mit Geld
umging. Die Gerüchte über die hohen Schulden des Prinzen, die in vielen Zeitungen im Zuge des Skandals erneut kursierten, ergänzten diesen Verstoß gegen
bürgerliche Leitvorstellungen von Sparsamkeit und solider Wirtschaft. So sprach
Reynolds’s Newspaper von 500 000 Pfund Schulden, die durch derartige Vergnügungen entstanden seien, obgleich er seit seiner Volljährigkeit allein über zwei
Millionen Pfund vom Steuerzahler bekommen habe.110 Der Fall belebte so den
schon vorher angelegten und besonders 1870/71 aufgeflammten Vorwurf, das
Königshaus sei ein verschwenderischer Kostgänger der Steuerzahler. Die
Reynolds’s Newspaper setzte den Prinzen in eine Traditionslinie mit dem unmoralischen und verschwenderischen Leben früherer Könige, insbesondere mit
„Queen Carolines“ Gemahl Georg IV., der sich auch durch eine entsprechende
Sinneslust ausgezeichnet habe.111 Der Thronfolger erschien damit wie ein Anachronismus in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Queen Victoria galt
dagegen selbst in der Reynolds’s Newspaper als Gegenbild und Garantin der
Monarchie.
Anschaulich wurde diese Kritik am Prinzen in den Karikaturen. Allerdings
blieben die visuellen Darstellungen des Skandals in den englischen Zeitungen
wesentlich zurückhaltender als die der internationalen Presse. So beschränkte
sich das Satireblatt Punch sogar nur auf die Verspottung der Zuschauerinnen,
die es mit Operngläsern drängelnd darstellte, und erwies sich damit einmal mehr
als wesentlich unkritischer als sein bis heute bewahrter Ruf.112 Die amerikanischen, französischen und deutschen Blätter zeichneten den Prinzen dagegen
als Spieler, Trinker, Schuldenmacher oder Mann mit schlechter Gesellschaft,
wobei sie ihn fast immer als kleinen Jungen neben der großen übermächtigen
Mutter darstellten. Die Übernahme dieser ausländischen Karikaturen in auf108
109
110
111
112
Daily News 24. 6. 1891, S. 2.
Reynolds’s Newspaper 14. 6. 1891, S. 1.
Reynolds’s Newspaper 17. 5. 1891, S. 1.
Reynolds’s Newspaper 7. 6. 1891, S. 1.
Punch 6. 6. 1891.
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2. Der Prinz als Glücksspieler
389
Abb. 11: Der Thronfolger als unreifer Spieler, der sich in schlechte Gesellschaft begibt.
Der Spott der internationalen Presse kam, wie hier in diesen Karikaturen, wieder in die
britische Öffentlichkeit zurück, um durch sie den Prinzen zu erziehen. Quelle: REVIEW OF
REVIEWS Juli 1891.
lagenstarke englische Blätter, wie die Review of Reviews, überführte diese
spöttischen Deutungen des Thronfolgers freilich wieder in die britische Öffentlichkeit (vgl. Abb. 11).113
113
Vgl. die Zusammenstellung in: Review of Reviews Juli 1891, bes. S. 16–22.
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VI. Entzauberte Monarchen
Der Prozess selbst wurde allein schon durch die physische Anwesenheit des
Prinzen zur Sensation. Im Gericht erhielten die Journalisten trotz des enormen
Andranges erneut gute Zugangsbedingungen, was selbst bei diesem Skandal das
im Vergleich zu Deutschland gute Verhältnis zwischen Staat und Presse unterstrich.114 Unter den dicht gedrängten Zuschauern vermerkten die Zeitungsberichte nicht nur wie gewöhnlich die zahlreichen Frauen, sondern auch viele Adlige, was die Möglichkeiten vergrößerte, diese exotisierte Gesellschaftsgruppe
zu beobachten. Insbesondere der Kronprinz wurde durch seine tagelange Anwesenheit auf der Zeugenbank zu einem Beobachtungsobjekt, bei dem Journalisten und Zuschauer jede seiner Bewegungen festhielten. Genau wie das Verhör
nahm dies dem angehenden König die Aura der Unnahbarkeit und des Außergewöhnlichen. Obgleich das Gericht den Prinzen deutlich zurückhaltender befragte und Gordon-Cumming seine Verleumdungsklage trotz fehlender Beweise
über sein Falschspiel verlor, banalisierte allein die Prozessteilnahme den Thronfolger. Der Prinz nahm diese Rolle jedoch bereitwillig an und verzichtete auf
angebotene Privilegien wie das Sitzen bei der Aussage. Damit vollzog er eine
wichtige symbolische Handlung, die der öffentlichen Forderung nach der
Gleichheit vor Gericht entgegen kam und ihn für die Zeitungen „like any other
man“ erscheinen ließ.115
Nach dem Prozess wurde zwischen der politischen Führung und dem Königshaus diskutiert, wie der Prinz wieder an Reputation gewinnen könne.
Schließlich schloss sich auch die Queen dem Urteil der Zeitungen an, dass die
Monarchie insgesamt in Gefahr sei, wenn der Prinz derartig verspottet würde.
Der liberale Oppositionsführer Gladstone und die Times unterstützten das Ansinnen der Queen, der Prinz solle in einem öffentlichen Schreiben an den Erzbischof von Canterbury das Glücksspiel verdammen.116 Premierminister Salisbury sprach sich jedoch gegen eine öffentliche Entschuldigung aus, da dies von der
Wirkung her unberechenbar sei und den Prestigeverlust verstärken könne.117
Schließlich lehnte der Prinz eine solche Erklärung ebenfalls ab, weil sie wie ein
Schuldeingeständnis wirken würde, schrieb aber in einer privaten Erklärung an
den Erzbischof, dass er das „gambling“ ablehne, nicht aber Pferderennen.118
Eine indirekte öffentliche Entschuldigung gab er jedoch über den Kriegsminister Edward Stanhope im Parlament, als dieser im Unterhaus gefragt wurde, wie
er sich zu den militärischen Regelverletzungen verhalte. Der Kriegsminister
114
115
116
117
118
Dies erwähnten die Zeitungen mehrfach lobend: Daily News 2. 6. 1891, S. 2; Times 10. 6. 1891,
S. 12.
Pall Mall Gazette 2. 7. 1891.
Queen Victoria an Cadogan 17. 6. 1891, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 78/3.
Salisbury an Cadogan o. D. (um 6. 6. 1891) und 19. 6. 1913, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 65
u. 81. Cadogan an Salisbury 10. 6., 12. 6. u. 17. 6. 1891, in: NL Salisbury, Hatfield House.
In dem Entwurf hieß es: „I have a horror of gambling and should always do my utmost to
discourage others who have an inclination for it, as I consider that gambling, like intemperance, is one of the greatest curses that a country can be afflicted with.“ Abgedr. in: Magnus,
Edward VII, S. 289.
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2. Der Prinz als Glücksspieler
391
richtete von Seiten des Prinzen aus, es sei ein Fehler gewesen, nicht gleich das
Fehlverhalten von Gordon-Cumming zu melden. Dies sei aber verständlich,
weil jeder so gehandelt hätte, wenn ein enger Freund wegen „dishonourable
conduct“ angeklagt wäre.119 Der Prinz erschien damit wieder in der Rolle des
gewöhnlichen Bürgers, aber eben nicht als Vorbild. Die indirekte öffentliche
Entschuldigung war zwar eine Art Schuldeingeständnis, zugleich ein Zugeständnis, um eine Rehabilitierung einzuleiten.
Um das zukünftige öffentliche Bild des Prinzen zu verbessern, suchte die politische Führung auch bei diesem Skandal den Austausch mit dem damals wichtigsten Journalisten, mit W. T. Stead, dem nunmehrigen Herausgeber der Review
of Reviews. Gladstone, der mit Verärgerung den Prozess verfolgt hatte, wandte
sich danach gleich an den Journalisten.120 Auch der engste Vertraute des Prinzen,
Lord Knollys, bot Stead ein Treffen an.121 Umgekehrt engagierte sich Stead eigenständig, um für den Prinzen eine stärker politische Rolle zu finden, die ihn
von seinem unmoralischen Müßiggang befreien sollte. Wie sehr sich der Journalist mittlerweile als omnipotenter Staatsmann verstand, verrieten seine geradezu
kollegial formulierten Ratschläge an Gladstone über die Lenkung des „somewhat lethargic Prince in the direction that we wish to take him“.122 Um das
moralische Ansehen des Prinzen unmittelbar zu heben, schlug Stead etwa dessen Teilnahme bei einem Treffen des nonkonformistischen International Congregational Council vor, der gerade in London zusammen kam, was natürlich
keine Zustimmung fand.123 Steads Korrespondenz zeigt erneut, wie sehr der
Journalist die Nähe und Abstimmung mit den Mächtigen suchte. So schickte er
die Manuskriptfassung seines großen abschließenden Artikels über den Skandal
vorher an den Vertrauten des Prinzen und an Gladstone. Deren Kritik oder
Kommentare nahm er zumindest teilweise auf.124 Gleichzeitig betonte Stead
weiterhin die Rolle des unabhängigen Journalisten. Sein Artikel enthielt, trotz
seines vergleichsweise wohlwollenden und konstruktiven Grundtons, weiterhin
kritische Passagen. Umso mehr ärgerte er sich, dass er angeblich als „whitewasher“ der Krone verstanden wurde.125 Ein derartig enger Austausch zwischen
einem unabhängigen kritischen Journalisten und dem Königshaus wäre in
Deutschland sicherlich undenkbar gewesen, auch wenn ein deutscher Starjournalist wie Maximilian Harden ebenfalls die Aufmerksamkeit der Krone und den
Austausch mit hohen Politikern suchte.
Der Monarchie-Skandal stellte normative Forderungen an den angehenden
Monarchen. Seinen Lebensstil änderte er jedoch kaum. Vielmehr spielte er bis
119
120
121
122
123
124
125
15. 6. 1891, Hansard’s Parliamentary Debates, 3rd Series, Bd. 354, Sp. 393 f.
Vgl. Tagebucheintrag 19. 6. 1891, in: Matthew (Hrsg.), Gladstone Diaries, Bd. 12, S. 390.
Knollys an Stead 29. 6. und 3. 7. 1891, in: CAC, Sted 1-44.
Stead an Gladstone 2. 7. 1885, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:454.
Stead an Knollys 16. 7. 1891, in: CAC, Sted 1/44.
Gladstone an Stead 25. 6. 1891, in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:447; Knollys an Stead
28. 6. 1891, in: CAC, Sted 1/44.
Stead an Gladstone, o. D. (Juli 1891), in: BL, Ms Add. Gladstone Papers 44303:463.
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VI. Entzauberte Monarchen
zu seinem Tod 1910 weiterhin Glücksspiele. Dennoch blieben Nachfolgeskandale aus. Der Fall zog zwar wie alle Skandale kleinere ähnliche Fälle über adlige
Baccarat-Spieler nach sich, aber das Königshaus blieb, soweit ersichtlich, außen
vor.126 Man kann dies erneut damit erklären, dass sich die Medien nach dem
Skandal bemühten, nicht die Monarchie als Institution zu gefährden, zumal der
Thronwechsel immer absehbarer wurde. Ebenso bemühte sich Queen Victoria
und die Staatsführung verstärkt, die Veröffentlichung von derartigen Meldungen
zu vermeiden. Als kurz nach dem Prozess Gerüchte aufkamen, der Prinz habe
erneut Baccarat gespielt, verlangten ihre Vertrauten etwa mit scharfen Briefen
Rechtfertigungen vom Prinzen.127 Ebenso setzte sich Premierminister Salisbury
1892 persönlich dafür ein, adlige Ehebrecherinnen davon abzuhalten, den Prinzen öffentlich mit ihren Fällen in Verbindung zu bringen, da gerade aus Prozessen Monarchie-Skandale zu entstehen drohten.128
Ein weiterer Grund für das Ausbleiben von weiteren Skandalen um Prinz Edward war die wachsende Beliebtheit des angehenden Königs. Der Skandal hatte
zwar zur Herabsetzung seiner Würde beigetragen und den Respekt gegenüber
der Krone gemindert. Seine persönliche Anwesenheit vor Gericht und seine
Wett- und Spielleidenschaft gaben dem Prinzen jedoch auch volkstümliche Züge.
Angesichts der hohen öffentlichen Nachfrage nach dem Königshaus erschien die
permanente Anwesenheit von Edward VII. auf den Rennbahnen als Volksverbundenheit. Dabei profitierte Edward von dem steigenden Ansehen der Monarchie, das sich aus der wachsenden Beliebtheit von Queen Victoria in den 1890er
Jahren ergab und sich insbesondere in den Feiern zum Diamond Jubilee 1897
zeigte. Bei seiner Thronbesteigung 1901 blieben schließlich kritische Stimmen
ganz aus. Selbst die stets kritische Reynolds’s Newspaper kommentierte eher optimistisch, dass der König seine wilden Jahre hinter sich habe.129 Bereits kurze
Zeit später meldete sie zwar wieder, Edward VII. würde wegen seines Kartenspiels seine offiziellen Termine vergessen, löste mit diesen Berichten aber keine
breite Empörung mehr aus.130 Gerade die weitere Entwicklung zeigte somit, dass
die Reaktionen im Baccarat-Skandal vor allem eine Warnung an das Königshaus
waren, dass die Öffentlichkeit bestimmte Ansprüche an dessen Lebensstil hatte.
Eine ernsthafte strukturelle Kritik, die auf die Abschaffung der Monarchie hätte
zulaufen können, stand nicht dahinter. Mit dem Lebenswandel des Thronfolgers
hatte die Öffentlichkeit somit vor allem diskutiert, welche moralische Lebensführung für die Gesellschaft wünschenswert sei.
Für die deutsche Presse hatte der Skandal bezeichnender Weise eine gewisse
Vorbildfunktion. Zwar betonten selbst die bürgerlichen Blätter mit spöttischer
126
127
128
129
130
So berichteten die Zeitungen im Jahr darauf über einige hohe Adlige, die betrügerisch Baccarat
gespielt hätten; Times 21. 10. 1892, S. 8.
Brodirck an Cadogan 16. 6. 1891, in: HLRO, Cadogan Papers, RC 75.
Zu dem hier angedeuteten Beresford-Fall vgl. die Hinweise in: Aronson, The King, S. 196;
Roberts, Salisbury, S. 559; Magnus, Edward VII, S. 292.
Roby, The King, S. 279.
Reynolds’s Newspaper, 15. 2. 1903, S. 1.
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3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments
393
Abgrenzung, dass der englische Prinz im Unterschied zum deutschen Kaiser als
der „erste Lebemann im Reich“ gelte und der Fall sich in eine Reihe von
zahllosen Skandalen über den hohen englischen Adel einreihe. Aber dennoch
bemerkte die liberale Presse voller Bewunderung, dass die konstitutionelle
Monarchie so gefestigt sei, dass man dort selbst die Königin wegen Ehebruchs
vor Gericht stellen könne, wie man unter Anspielung auf die Queen CarolineAffäre erinnerte.131 Insofern galt für sie selbst der Skandal, der den Prinzen als
Lebemann lächerlich machte, indirekt doch als etwas Vorbildliches, da er
Rechtsgleichheit und die Freiheit der öffentlichen Meinung verdeutlichte. Zugleich schufen die Skandale um Edward VII. Stereotype, die bei Konflikten mit
Großbritannien aktualisiert werden konnten. Bereits die Spannungen, die im
Kontext des Burenkrieges gegenüber England auftraten, führten dazu, dass die
deutschen Karikaturen Edward VII. vehement als Lebemann und Glücksspieler
verspotteten.132 Das durch den Skandal verbreitete Image des Monarchen schuf
somit Zuschreibungen, die bei Bedarf pars pro toto zur Abwertung von ganz
Großbritannien dienen konnte.
3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments
In Deutschland kam es kurz darauf ebenfalls zu einer Häufung von MonarchieSkandalen. Diese unterschieden sich jedoch von den englischen Fällen. Während
in Großbritannien moralische Fragen für Empörung sorgten, gab in Deutschland vor allem das politische Verhalten von Wilhelm II. den Anstoß. Die stärkere Machtstellung der deutschen Monarchen, die im Unterschied zu Großbritannien noch nicht mit demokratisch gewählten Regierungen kooperieren mussten,
begünstigte diesen Unterschied. Auch die bürgerlichen Zuschreibungen dürften
eine Rolle gespielt haben. Folgt man Monika Wienforts Studien, so entwickelten
sie sich bereits seit dem späten 18. Jahrhundert in unterschiedliche Richtungen:
Während den englischen Monarchen eine moralische Tugendbewährung abverlangt wurde, sahen die Deutschen den Monarchen stärker als einen Staatsbürger,
womit sie den Herrscher eher in der politischen Sphäre im engeren Sinne verorteten.133
Das verdichtete Aufkommen von Monarchie-Skandalen, die die politische
Stellung des Monarchen thematisierten, wurde selbstverständlich durch das
Auftreten von Wilhelm II. forciert. Nachdem Kaiser Wilhelm I. sich trotz seiner
starken Stellung im Verfassungsgefüge politisch eher zurückgehalten hatte und
Bismarck das Tagesgeschäft überließ, zeigte Wilhelm II. bekanntlich schnell
131
132
133
Zit. Vossische Zeitung Nr. 262, 9. 6. 1891, S. 1; Vossische Zeitung Nr. 264, 10. 6. 1891, S. 1.
Die meisten Berichte zu dem Baccarat-Skandal fanden sich in der „Kreuzzeitung“, die sich
dabei aber kaum Wertungen machte.
Vgl. Simplicissismus Bd. 4 Nr. 42 (1899/1900); Geppert, Pressekriege, S. 135 f.
So Wienfort, Monarchie, S. 149, 170 u. 205.
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394
VI. Entzauberte Monarchen
weitergehende Ambitionen. An dieser Stelle muss nicht erneut die Debatte aufgerollt werden, ob es sich bei ihm nur um einen bramabasierenden schwachen
„Schattenkaiser“ handelte oder, wie insbesondere John Röhl argumentierte, um
eine „persönliche Monarchie“, in der der Kaiser ein Machtzentrum bildete.134
Zweifelsohne setzte Wilhelm allein durch seine öffentlichen Auftritte, seine
deutlich artikulierte polarisierende Weltanschauung und seine Personalpolitik
Akzente. Eine erste öffentliche Empörung entstand besonders bei der Entlassung Bismarcks und bei einzelnen politischen Richtungsänderungen, die als
„neuer Kurs“ firmierten. Sein „persönliches Regiment“ beruhte dabei nicht nur
auf seinem eigenständigen Eingreifen, sondern ebenso auf persönlichen Beratern und Günstlingen, die zunehmend für das skandalöse Auftreten des Kaisers
verantwortlich gemacht wurden.135
Zunächst galt der Verweis auf die „Jugendlichkeit“ und „Impulsivität“ des
Kaisers noch als Entschuldigung. Bereits Anfang der 1890er führten jedoch insbesondere seine Reden und Selbstinszenierungen zu einem gewissen Unmut,
der durch die Vorwürfe der Bismarck-Anhänger stärker politische Formen annahm. Insbesondere der Journalist Maximilian Harden trat hierbei als akzentuierter Kritiker hervor. Sein viel beachteter Sieg in einem Majestätsbeleidigungsprozess im Juni 1893 zeigte, dass auch die juristischen Grenzen des Sagbaren in
Bewegung gerieten. Harden wurde nicht nur wegen „seiner besten Absichten“
freigesprochen, sondern auch weil man Ehrfurcht gegenüber dem Monarchen
dadurch zeige, dass man „auch ihm gegenüber die Wahrheit hochhält.“136 Im
Jahr 1894, als sich der kaiserliche Machtanspruch besonders deutlich artikulierte, kulminierten daher nicht zufällig mehrere scheinbar unverbundene Skandale,
die alle auf unterschiedliche Weise das Ansehen des Kaisers oder zumindest seines Umfeldes diskreditierten: Der Caligula-Skandal hinterfragte die persönliche
Kompetenz des Monarchen, die Kladderadatsch-Affäre die seiner politischen
Freunde und der Kotze-Skandal das moralische Verhalten des Hofes und damit
der engsten Umgebung des Monarchen. Gerade ihr zeitgleiches, ineinander verschränktes Auftreten und ihre unterschiedlichen Stoßrichtungen dürften dazu
geführt haben, dass in Deutschland die Kritik am Kaiser und seinem Umfeld
artikulierbarer wurde.
Da die Skandale um Wilhelm II. bereits relativ gut erforscht sind, kann an
ihnen gleich ihre Struktur und das Zusammenspiel von Medien und Politik ausgemacht werden. Von ihrem Ablauf her wiesen diese drei Skandale zahlreiche
Gemeinsamkeiten auf. Sie entstanden allesamt nicht aus einer direkten journalis134
135
136
Vgl. zu diesen gegensätzlichen Positionen bes.: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte,
Bd. 3, S. 1001; Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau, S. 15 f. Eine Herrschaft per „Königsritual“, öffentlicher Sinnstiftung und „kaiserlichem Apparat“ sieht: Nicolaus Sombart, Wilhelm II.
Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996. S. 86, 103 u. 109.
Neben Röhls Biographie weiterhin grundlegend hierfür: Hull, The Entourage.
Urteil zit. nach: H. F. Young, Maximilian Harden. Censor Germaniae. Ein Publizist im Widerstreit 1892 bis 1927, Münster 1971, S. 69 Insgesamt ohne nennenswerte Befunde: Neumann
und Neumann, Maximilian Harden, S. 95.
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3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments
395
tischen Kritik an einzelnen Handlungen des Kaisers, seiner Ratgeber oder des
Hofes. Vielmehr entwickelten sie alle aus versteckt artikulierten Vorwürfen, die
ein skandalöses Verhalten umkreisten, das offensichtlich nicht direkt öffentlich
sagbar war. Die Journalisten griffen allerdings diesen verdeckt artikulierten
Unmut auf und beförderten ihn ebenfalls mit Techniken der Camouflage als
gezielte Kaiserkritik in die Öffentlichkeit. So entfaltete sich der Caligula-Skandal aus einer satirisch angelegten Schrift des Historikers Ludwig Quidde, der in
einer schmalen Broschüre scheinbar das Leben des wahnsinnigen römischen
Kaisers beschrieb, tatsächlich jedoch den deutschen Kaiser meinte.137 Diese
Form der Skandalisierung stand damit noch ganz in der Tradition der versteckten
Monarchenkritik in Form von Satiren oder Parabeln, wie sie sich gerade in
Deutschland durch die harten Zensurbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse
im Vormärz entwickelt und lange gehalten hatte. Nicht minder verschlüsselt
und poetisch geformt setzte die Kladderadatsch-Affäre ein. Das nationalliberale
Satireblatt Kladderadatsch richtete seit dem 3. Dezember 1893 regelmäßige Angriffe gegen drei prominente Reichsbeamte, die dem Kaiser nahe standen und
maßgeblich die Außenpolitik, Personalfragen und die Öffentlichkeitsarbeit
prägten (Holstein, Kiderlen-Waechter und Philipp von Eulenburg).138 Allerdings nannte es die Angegriffenen nur mit Kosenamen (Austernfreund, Spätzle,
Troubador) und schrieb nur in verschlüsselten Versen und Märchenformen über
deren Intrigen, die aber für alle politischen Eliten leicht zu enträtseln waren. Die
sprachspielerischen Formulierungen ähnelten freilich ebenfalls weniger den
englischen Artikeln als jener versteckten Monarchenkritik des Vormärzes. Ihre
Brisanz gewannen diese Texte aus der angedeuteten detaillierten Kenntnis der
Hinterzimmerpolitik, die auf einen Informanten aus dem Auswärtigen Amt
hinwiesen.
Ebenfalls mit spielerischen Verschlüsselungen setzte der Kotze-Skandal ein,
obgleich er als intriganter Spott innerhalb des Hochadels begann. Seit Anfang
1891 hatten zahlreiche Angehörige des preußischen Hofes insgesamt einige
hundert anonyme Briefe erhalten, die ihnen mit äußerst derben Formulierungen
insbesondere persönliche sexuelle Normbrüche vorwarfen. Beigelegt waren oft
pornographische Fotos, Fotomontagen oder Zeichnungen der Adligen. So lautete einer der Briefe an Hofmarschall Freiherr von Reischach: „Im Bett ist nicht
viel los/der Prinzen Schwänze sind klein, und Lokes Loch ist riesengroß/Ein
Kürbis geht hinein“, versehen mit gezeichneten Penis-Bilder, die mit Namen
137
138
Vgl. zur Affäre selbst: Karl Holl et al., Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn.
Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde,
Bremen 2001, S. 89–116 u. 153–160; Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen
Cäsarenwahn. Mit einer Einleitung von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt 1977; Kohlrausch,
Der Monarch, S. 118–154.
Vgl. Helmuth Rogge, Die Kladderadatschaffäre. Ein Beitrag zur inneren Geschichte des
Wilhelminischen Reichs, in: HZ 195 (1962), S. 90–130, S. 90 f. Hinweise auch in: Forsbach,
Alfred von Kiderlen-Wächter, S. 127 f.
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396
VI. Entzauberte Monarchen
Adligen des Hofes versehen waren.139 Der Kaiser selbst erhielt zwar keine
Briefe, wohl aber seine engeren Verwandten, wie seine Mutter und seine Schwester, und sein persönliches Umfeld am Hof. Ähnlich wie bei der KladderadatschAffäre war schnell deutlich, dass der Briefschreiber ein „Insider“ war und aus
dem engeren Hofadel um Wilhelm II. kommen musste, da er detaillierte Kenntnisse über geheime Liebesaffären, Ausflüge des Hofes oder die Einrichtung der
Privatzimmer hatte. Seit Juli 1894 wurde die Existenz dieser Briefe schließlich
auch in der Öffentlichkeit bekannt, bis heute aber nicht der Autor. Da zunächst
der Zeremonienmeister Leberecht von Kotze verdächtigt wurde, erhielt der
Skandal seinen Namen.
Die verschlüsselte Struktur der Vorwürfe förderte bei allen drei Skandalen die
breite öffentliche Kommunikation über sie. Bei Quiddes Schrift konnten die
Leser diskutieren, welche der herausgestellten Eigenschaften besonders auf den
deutschen Kaiser anspielten. Der Kladderadatsch-Skandal löste ein öffentliches
Rätselraten über die genannten Spitznamen aus, und in der politischen Führung
ein Rätseln über mögliche Hintermänner. Der Kotze-Skandal führte schließlich
zu einem bis heute andauernden Spekulieren über den Autor der denunziatorischen Briefe. Dabei vermutete die Studie von Tobias Bringmann die Schwester
des Kaisers, Charlotte von Meiningen, als Autorin, John Röhl dagegen Herzog
Ernst Günther zusammen mit „Theaterweibern“.140 Wer auch immer der anonyme Briefschreiber war – er spielte gezielt mit der Öffentlichkeit, um die Aufmerksamkeit auf die Beschuldigten und sich selbst zu richten. So übermittelte er
dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, bereits Anfang 1894
Informationen und bot ein Treffen an.141 Dann richtete er direkt anonyme Briefe
an das Kleine Journal, das diese abdruckte. Die öffentliche Suche nach dem
Briefschreiber verlief dabei, ähnlich wie im Dreyfus-Skandal, über die abgedruckte Handschrift, wodurch sich jeder Leser als Detektiv an der Aufdeckung
beteiligen konnte.142
139
140
141
142
Anonymer Brief an Reischach 25. 1. 1893, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/10, S. 73. Der erste Brief war an Graf Hohenau 15. 2. 1891, in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/10. Eine Abschrift von ca. 40 der Briefe in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/3, ein dutzend weitere in: ebd.,
Nr. 3307/4. Vgl. zu dieser Affäre auch: Tobias C. Bringmann, Reichstag und Zweikampf. Die
Duellfrage als innenpolitischer Konflikt des deutschen Kaiserreiches 1871–1918, Freiburg
1997, S. 152–201; Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 741–755.
Röhl, Wilhelm II, Bd. 2, S. 753; Bringmann, Reichstag, S. 209. Direkte Belege fehlen. Röhl
stützt sich auf eine Aussage des dubiosen Kommissar Tausch; Bringmanns Argumenten wäre
hinzuzufügen, dass in den Briefen die zahlreichen Verweise auf „Emporkömmlinge“ auf einen
Autor schließen lassen, der selbst in der Adelshierarchie denkbar weit oben steht. Die Sprache
und die Art der Bilder in den Beschimpfungen lassen meiner Meinung nach ebenfalls den
Schluss zu, dass eine Frau einen Großteil der Briefe verfasste.
Schreiben an Wolff in: GStA, HA I, Rep. 89, Nr. 3307/5; Wolff an Gräfin Hohenau 30. 6. 1894,
in: ebd.
Zuerst wurde die Handschrift im Kotzefall veröffentlicht in: Das Kleine Journal Nr. 249,
28. 6. 1894. Vgl. die Schriftgutachten, die eine weibliche Handschrift ausmachten, in: GStA,
HA I, Rep. 89, Nr. 3307/6.
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3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments
397
Gemeinsam war den drei Skandalen zudem, dass ihre öffentliche Dynamik
eben nicht aus der Monarchiekritik der politischen Linken entstand. Vielmehr
brachten konservative Eliten die Fälle in die breitere Öffentlichkeit – sei es aus
Verbitterung über Bismarcks Entlassung, über den „neuen Kurs“ oder über den
Charakter des Kaisers und Hofes insgesamt. So überführte beim Caligula-Skandal erst eine scheinbar empörte Rezension der konservativen „Kreuzzeitung“
Quiddes versteckte Kaiserkritik in die breite Öffentlichkeit. Auf der Titelseite
verurteilte sie zwar Quiddes „krankhafte Sucht “ zur Analogienbildung, benannte jedoch diese Analogien so deutlich, dass die Monarchenkritik nicht mehr
zu übersehen war.143 Erst dies machte die Medienöffentlichkeit auf die CaligulaBroschüre aufmerksam, was Quiddes Satire schnell zu einer Auflage von einigen 100 000 Exemplaren verhalf. Ebenso löste bei der Kladderadatsch-Affäre ein
nationalliberales Blatt den Skandal aus, wobei die Informationen für die Artikel
von konservativen Bismarckanhängern wie Maximilian Harden und aus dem
Auswärtigen Amt stammten, insbesondere vom Leiter der Rechtsabteilung
Ernst von Bothmer.144 Auch der Kotze-Skandal entbrannte gerade nicht aus einer sozialdemokratischen Adelskritik, sondern aus dem Adel heraus. Dass selbst
konservative Kreise eine derartige Form der Kritik am Monarchen und seinen
Umfeld lancierten, vergrößerte die Aufmerksamkeit auf die Vorwürfe beträchtlich. Von sozialdemokratischer Seite hätte man derartiges vielleicht erwartet.
Eine Skandalisierung von konservativer Seite zeigte hingegen, wie brüchig das
Fundament der Staatsführung wurde.
Bemerkenswerter Weise sah das Umfeld des Kaisers kaum Möglichkeiten,
nach den Regeln der klassischen Zensur und durch Prozesse einzugreifen, da
gerade dies die Dynamik der Skandale verstärkt hätte. So hätte im Falle Quiddes
ein Prozess dezidiert prüfen müssen, ob und inwieweit die Caligula zugeschriebenen Eigenschaften auch auf Wilhelm II. zuträfen, was den Kaiser leicht in
Misskredit gebracht hätte. Tatsächlich kam es zu keinem Verfahren wegen der
Schrift.145 Bei der Kladderadatsch-Affäre äußerte der verspottete Kaiserfreund
Eulenburg ähnliche Bedenken gegen einen Prozess gegenüber Wilhelm II.:
„Man weiß eben, daß ein Prozeß, der zwei Jahre dauern würde, alle möglichen
speziellen Diener als Zeugen vorrufen würde, große Unruhe erzeugen und
Eurer Majestät Schaden zufügen würde [...] wenn ein Prozeß so sensationeller
Art entstünde, daß ihn der demokratisch-fortschrittliche Richterstand unter
einem schwachen Justizminister zu einer Art Panamaskandal frisieren
könnte.“146 Beim Kotze-Skandal verlor schließlich der Kaiser inmitten der gegenseitigen Beschuldigungen die Nerven und ließ seinen Zeremonienmeister
143
144
145
146
Neue Preussische Zeitung Nr. 226, 18. Mai 1894, Morgen.
Rogge, Die Kladderadatschaffäre, S. 116.
Erst 1896 wurde Quidde wegen einer beiläufigen anderen Äußerung wegen Majestätsbeleidigung verurteilt; vgl. Holl et al., Caligula, S. 26.
Eulenburg an Wilhelm II. 13. 3. 1894, bereits abgedr. in: Rogge, Die Kladderadatschaffäre,
S. 106.
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VI. Entzauberte Monarchen
Leberecht von Kotze verhaften und vor ein geheim tagendes Militärgericht stellen. Dies hatte jedoch zur Folge, dass dadurch die Presse erst auf die brieflichen
Verleumdungen aufmerksam wurde und sich zugleich über den Willkürakt des
Kaisers empörte, der einfach eine offensichtlich unschuldige Person vor ein
nicht-öffentliches Gericht stellen ließ. Nach Kotzes Freilassung lehnte der
Staatsanwalt eine strafrechtliche Verfolgung aus Angst vor einem „tendenziösen
Skandalprozeß“ ab.147 Auch bei der beabsichtigen Privatklage Kotzes ging die
Staatsanwaltschaft davon aus, dass auf diese Weise nur „ein Sensationsprozeß
ersten Ranges bezweckt sei, in welchen die gesamte Hofgesellschaft zur Vernehmung herangezogen werden soll“.148 Die Furcht, eine juristische Verfolgung
könne den Skandal nur ausweiten, schuf somit der Kritik an Kaiser und Hof
neue Spielräume.
Die medialen Skandalisierungen waren bereits in diesem Stadium eine massive Herausforderung der Macht. Gerade weil eine juristische Verfolgung wenig
opportun erschien, reagierten die öffentlich Angegriffenen trotz ihrer hohen
Stellung äußerst verunsichert. In der Kladderadatsch-Affäre verfiel etwa Friedrich von Holstein, gewöhnlich als die mächtige graue Eminenz der Außenpolitik bezeichnet, in völlige Hilflosigkeit. Er fand kaum noch Schlaf und erwog
seinen Rückzug aus der Politik, wie zahlreiche seiner Briefe zeigen. So klagte er
gegenüber Eulenburg: „Unsere Schutzlosigkeit, ohne Polizei, ohne Gerichte,
ohne geeignetes Verständnis für unsere Lage an höchster Stelle, läßt mich wünschen, möglichst bald zur Ruhe zu kommen. [...] Die Gerichte geben sich her
zum Resonanzboden derjenigen Verleumdungen, die in keiner Zeitung würden
gesagt werden können.“149 Nicht minder empfindlich reagierte der Kaiserfreund
Eulenburg auf den Spott in der Presse, obgleich auch er zumindest in den 1890er
zu den einflussreichsten Hintergrundpolitikern zählte. Er spornte den Kaiser
jedoch zu einem schärferen Vorgehen gegen die Presse an, indem er ihm entsprechende Artikel schickte und die Schuld auf Reichskanzler Caprivi lenkte:
„Napoleon und Bismarck wußten solche Dinge nach 24 Stunden zu regeln. Die
Polizei bestach entweder einen Redakteur oder setzte Daumenschrauben an.
Jetzt läßt sich der Reichskanzler ruhig verspotten, Euere Majestät werden hineingezogen [...].“150 Dass ein derartig repressives Vorgehen gegen Journalisten
angesichts des neuen Medienmarktes kontraproduktiv sein musste, war jedoch
offensichtlich.
147
148
149
150
Oberstaatsanwalt Drescher an Justizminister Schönstedt 29. 5. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a
Nr. 58193; Oberstaatsanwalt Drescher an Kotze 9. 5. 1895, in: ebd.
„Information für die Bearbeitung der von Schrader-von Kotze’schen Angelegenheit“, Oberstaatsanwalt Drescher 10. 7. 1895, in: GStA, HA I Rep. 84a Nr. 58193.
Holstein an Eulenburg 19. 3. 1894, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 2, S. 1255. Ähnlich etwa: Holstein an Eulenburg 28. 12. 1893, 10. 1. 1894 u. 7. 2. 1894,
abgedr. in: ebd., S. 1172, 1183 u. S. 1214.
Eulenburg an Wilhelm II. 23. 1. 1894, abgedruckt in: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz, S. 1194. Ähnlich auch: Eulenburg an Wilhelm II. 1. 2. 1894, 5. 2. 1894 u. 9. 3. 1894, abgedr
in: ebd., S. 1203, 1210 u. 1244.
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
3. Skandale als Grenzen des persönlichen Regiments
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Da Gerichtsprozesse aus Angst vor der Öffentlichkeit risikovoll erschienen,
reagierte das Kaiserumfeld mit einem anderen Mittel, das eine Konfliktlösung
ohne eine öffentliche Aussprache versprach: dem Duell. Das Duell lässt sich
dabei eben nicht nur als Mittel verstehen, um die männliche Ehre herzustellen,
sondern auch als Schutz vor öffentlichen Zeugenaussagen, wenn Einblicke in
das Privatleben oder arkane politische Handlungen drohten. So forderte der
verspottete Vortragende Rat des Auswärtigen Amtes, Kiderlen-Wächter, anscheinend auf Drängen des Kaisers den Redakteur des Kladderadatsch, Wilhelm
Polstorff, zum Duell heraus und verletzte den Journalisten schwer.151 Ebenso
führte Leberecht von Kotze in dem nach ihm benannten Hofskandal verschiedene Duelle, um seine Ehre wieder herzustellen, bei denen er unter anderen den
Zeremonienmeister Karl Freiherr von Schrader erschoss.152 Auch hier unterstützte der Kaiser diese Form der Konfliktlösung und trat sogar öffentlich für
eine Tolerierung der Duelle ein.153
Die Versuche, die Skandale per Duell mit dem Erschießen von Journalisten
und vermeintlichen Verleumdern zu lösen, gaben ihnen wiederum eine neue
Dynamik. Denn nun empörte sich die Öffentlichkeit mehrheitlich über diese als
unzeitgemäß empfundene Form der Konfliktbewältigung. Die Zeitungen sahen
darin einen Verstoß gegen Gesetze und kirchliche Gebote.154 Auch in den Kneipen diskutierten die Gäste den Skandal jetzt empört mit Blick auf die Duelle
und klagten laut Spitzelbericht, dass „die Kämpfer für Religion, Sitte und Ordnung“ morden würden, ohne bestraft zu werden.155 Im Reichstag führten die
Duelle ebenfalls zu einer massiven Empörung, die in eine breit unterstützte
Interpellation des Zentrumspolitikers Karl Bachem und eine Resolution des
nationalliberalen Eduard Abt mündeten, die schärfere Gesetze gegen Duelle
forderten. Hier argumentierten die Abgeordneten gerade damit, dass sich jetzt
auch die konservative Presse gegen die Duelle ausgesprochen habe und damit
die gesamte Öffentlichkeit hinter der Forderung stehe.156 Als Vorbild dafür,
dass solche Skandale auch ohne Duelle lösbar seien, sahen die Abgeordneten
England an, wo ja tatsächlich die hier diskutierten Skandale allesamt ohne Duell,
sondern vornehmlich mit Beleidigungsklagen verhandelt wurden.157
151
152
153
154
155
156
157
Vgl. Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 670; Forsbach, Kiderlen-Wächter, S. 137.
Zu diesen Duellen vgl. auch: Bringmann, Reichstag, S. 178–201. Vgl. auch, allerdings ohne
Hinweise auf diese öffentlich besonders wirkungsmächtigen Duelle: Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.
Vgl. Wilhelm II. an Hohenlohe 15. 11. 1896, in: BA/K, N 1007-1604; Wilhelm II. an Hohenlohe 20. 4. 1897, in: BA/K, N 1007-1606.
Vgl. etwa Berliner Tageblatt Nr. 189, 14. 4. 1895; ein gewisses Verständnis für die Duelle
äußerte dagegen das in Adelskreisen beliebte Kleine Journal 11. 4. 1896. Durch die Duelle
wanderte der Skandal auch wieder in die internationale Presse, vgl. Times 16. 4. 1895, S. 3.
Vgl. Vigilanzberichte Schutzmann Graumann 14. 3. 1896 u. 18. 3. 1896, in: StAH, S 3930-23
Bd. 3.
Vgl. die Debatte in: RT 20. 4. 1896, IX. Legislatur-Periode, IV. Sess., 1895–97, 72. Sitzung,
Bd. 145, S. 1797–1802.
RT 21. 4. 1896, IX. Legislatur-Periode, IV. Sess., 1895–97, 73. Sitzung, Bd. 145, S. 1819.
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400
VI. Entzauberte Monarchen
Damit trugen die Skandale dazu bei, Duelle als Form der Konfliktbewältigung zu desavouieren. Aufgrund der Proteste musste der Justizminister Schönstedt im Reichstag bekräftigen, die Duellanten vor Gericht zu stellen.158 Ebenso
setzte in der politischen Führung eine Reformdiskussion ein, die erneut den
engen Zusammenhang zwischen den Duellen und der Angst vor „Skandalprozessen“ zeigte. Im Staatsministerium wurde argumentiert,
daß das Duellwesen dadurch gefördert werde, daß es für einen Angehörigen der gebildeten Klassen heut zu Tage nahezu unmöglich sei, den Weg einer Beleidigungsklage zu
beschreiten, da – abgesehen von der Geringfügigkeit der von den Gerichten verhängten
Strafen – durch das übliche Strafverfahren thatsächlich der Beleidigungskläger zum Angeklagten werden, sich gegen alle Verleumdungen rechtfertigen und dem Verleumder den
Gegenbeweis liefern müsse.159
Deshalb sollten in Zukunft Duelle nur dann stärker bestraft werden, wenn zugleich die Prozessordnung geändert würde, was auch Bachem in seiner Interpellation den Konservativen zugestand. Dabei forderten die Minister, dass neben
schärferen Strafen bei Beleidigung „nicht mehr gerichtlich die ganze Vergangenheit der Beteiligten durchforscht wird.“160 Auch wenn die daraus resultierende
Kabinettsordre vom 1. Januar 1897 keine direkte Strafverschärfung bescherte,161
setzte die Öffentlichkeit durch die Empörung im Skandal der Duellpraxis neue
Grenzen. Kaiser Wilhelm II., der weiterhin bei Skandalen zu Duellen anstiftete,
mochte das anders sehen. In der Öffentlichkeit stellte das Duell nun weniger die
Ehre her, sondern minderte sie vielmehr, indem es den Skandal verstärkte.
Konsequenzen hatten die Skandale zunächst für die Beteiligten. Die CaligulaSchrift des Historikers Ludwig Quidde beendete seine akademische Karriere.
Kiderlen-Wächter erlitt einen langjährigen Karriereeinbruch durch die Kladderadatsch-Angriffe, und Kotze, obgleich anscheinend nicht maßgeblich für die
Briefe verantwortlich, verlor seine Hofstellung als Zeremonienmeister.162 Eulenburg und Holstein behielten zwar ihre einflussreichen Stellungen, wurden nun
aber kritischer beäugt. Eulenburg, der 1894 gerüchteweise auch als nächster
Reichskanzler gehandelt wurde, sah sich selbst gegenüber dem Kaiser wegen des
Kladderadatsch-Skandals als so angeschlagen an, dass er nicht einmal einen Ministerposten übernehmen wollte: „Es müßte also erst Gras über diesen PreßSkandal wachsen, – was ja nicht ausbleiben wird, – ehe ich überhaupt in Frage
komme.“163 Zudem führten die öffentlichen Verdächtigungen zu einem verstärkten Misstrauen, das insbesondere Spannungen im Auswärtigen Amt förderte.
158
159
160
161
162
163
RT 9. 5. 1895, IX. Legislatur-Periode, III. Sess., 1894/95, 88. Sitz., S. 2180.
Staatsministerial-Sitzungsprotokoll 18. 4. 1896, in: GStA, HA I Rep. 90 A Nr. 3579.
Sitzung Staatsministerium 6. 10. 1897, Punkt 3, S. 283.
Vgl. zu der Kabinettsordre: Bringmann, Reichstag, S. 282 f.
Kiderlen wurde zunächst Gesandter in Hamburg und Kopenhagen, der Bruch mit dem Kaiser
erfolgte erst nach 1899; Forsbach, Kiderlen-Wächter, S. 162.
Aufzeichnung Eulenburg für Wilhelm II., 2. 3. 1894, abgedruckt in: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz, S. 1258.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
401
Die weiteren politischen Folgen waren doppelter Natur. Zum einen bemühte
sich das Kaiserumfeld um eine gewisse Aussöhnung mit dem Bismarck-Lager.
Zum anderen setzte die Justiz zwar nicht in den konkreten Skandalen, wohl
aber generell auf eine schärfere Strafverfolgung öffentlicher Kaiserkritik. So erreichte 1894 die Zahl der Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigungen ihren
Höhepunkt.164 Auch die im selben Jahr aufgebrachte Umsturzvorlage stand mit
den Skandalen in Verbindung. Sich politisch stärker zurückzuhalten, war sicherlich ebenfalls keine Konsequenz, die Wilhelm II. aus den Skandalen zog. Vielmehr vergrößerte sich in den folgenden drei Jahren sein Einfluss.
Die wichtigste Folge aller drei Skandale war, dass sie eine kritische öffentliche
Auseinandersetzung mit dem Kaiser, seinem Hof und seinen Beratern förderten. Sie brachen Tabus und leiteten Artikel und Gespräche über das Verhalten
von Wilhelm II. ein, über die Macht seiner Berater und das moralische Verhalten
seines Umfeldes. Alle drei Skandale konstruierten ein Narrativ des dekadenten
Verfalls der Monarchie und brachten Analogien zum Niedergang Roms auf.
Dieser Rombezug reichte vom Wahnsinn des Monarchen über die Verschwörung einer Kamarilla bis hin zur sexuellen Degeneration und der intriganten
Selbstzerstörung des Adels. Während derartige Deutungen bisher eher bei der
Sozialdemokratie verbreitet waren, etablierten sie sich so auch im bürgerlichen
Lager. Zugleich zeigten die Skandale, wie begrenzt die Andeutungen in direkte
Forderungen an den Monarchen umgemünzt werden konnten. Eine explizite
Diskussion, inwieweit etwa die Analogie zu Caligula auf Wilhelm II. tatsächlich
zutraf, blieb in den Zeitungen weitgehend aus.165 Dennoch waren die Berichte
eine Warnung an den Monarchen: Sie machten deutlich, dass das engste Umfeld
des Kaisers kein Arkanbereich war, sondern dass insbesondere Rivalitäten nach
Bismarcks Entlassung zu Indiskretionen und damit zu Skandalen führen konnten. Auch wenn der Kaiser sich im Zuge der Skandale von 1894 vorerst nicht
wandelte, so veränderten sie doch die Zuschreibungen und die Anforderungen
gegenüber dem Thron.
4. Der unmündige Kaiser: Wilhelm II. als Redner und
Interviewpartner
Die frühen Skandale um Wilhelm II. hatten sich noch eher indirekt gegen Wilhelms Regierungsstil und persönliches Umfeld gerichtet. Seit der Jahrhundertwende traten nun zunehmend Monarchie-Skandale auf, die sich häufiger an
konkreten Äußerungen und Verhaltensweisen des Kaisers entzündeten. Die zunehmende Empörung, die insbesondere seine Reden durch ihren aggressiven,
polemischen oder größenwahnsinnigen Gestus auslösten, ist bis heute gut bekannt. Angesichts der vielfältigen Studien über Wilhelm II. sind seine Reden
164
165
Statistiken zur Majestätsbeleidigung in: Röhl, Wilhelm II.: Der Aufbau, S. 625.
So auch Holl et al., Caligula, S. 160.
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402
VI. Entzauberte Monarchen
freilich bislang erstaunlich wenig untersucht worden.166 Pointiert ließe sich argumentieren, dass die Reden des Kaisers eigentlich im hohen Maße der medialisierten Gesellschaft entsprachen. Sie waren so zugespitzt und schillernd, dass sie
eine hohe Aufmerksamkeit erreichten. Ebenso bargen sie Überraschungen, die
Journalisten anzogen, und sie setzten die Agenda für Debatten.167 Insofern hatte die Vossische Zeitung nicht ganz unrecht, dass der Kaiser „der hingebendste
indirekte und direkte Mitarbeiter der Presse ist, ein Journalist höherer Ordnung.“168 Zugleich bildete aber gerade die mediale Fixierung der Worte sein
Problem. Die Reden, die vor Ort oft Begeisterung fanden, lebten vom freien
Vortrag, der körperlichen und stimmlichen Anwesenheit des Kaisers und dem
patriotischen Gemeinschaftserlebnis, wobei angesichts fehlender Übertragungsmöglichkeiten gerade bei größeren Veranstaltungen unter freiem Himmel nicht
jedes Wort die Zuhörer verständlich erreichte. Erst die Übertragung in das gedruckte Wort der Zeitungen machte sie zum Diskussionspunkt, was bei dem
improvisierten Redeakt selbst nicht vorgesehen war.169 Insofern kam der Modus
der medialen Darstellung dem Kaiser nicht unbedingt entgegen, sondern bildete
den Ausgangspunkt für Skandale.
Das wichtigste Beispiel für einen Skandal, der durch eine Rede ausgelöst wurde, ist sicherlich die bekannte „Hunnenrede“ vom 27. Juli 1900. Der Kaiser hatte
die deutschen Soldaten mit den Worten zum Boxeraufstand verabschiedet, sie
sollten ohne Gnade und ohne Gefangene „wie vor tausend Jahren die Hunnen
unter ihrem König Etzel“ kämpfen.170 Man würde es sich jedoch zu einfach
machen, derartige Reden lediglich als Maßlosigkeit oder Wahn des Kaisers zu
interpretieren. Entscheidender ist auch hier die Frage, wie die Regierung und
die (Medien-) Öffentlichkeit mit diesen Worten umgingen. Unter dieser Perspektive, und nicht allein von ihrem Inhalt her, bildet die Hunnenrede tatsächlich einen gewissen Wendepunkt, da sie zu einer breiten Empörung und damit
zu einem Skandal führte, der grundsätzlich die Mündigkeit des Monarchen hinterfragte.
An dem Skandal lässt sich zunächst ausmachen, wie Regierung und Presse um
eine freie Berichterstattung über den Kaiser rangen. Dass in der überregionalen
Presse am nächsten Tag nur eine stark abgeschwächte Redefassung des Auswär166
167
168
169
170
Wer an der Abfassung der Reden beteiligt war, wie der Kaiser improvisierte oder welche öffentliche Wirkung er jeweils auslöste, ist bisher nur für ganz wenige Ausnahmereden bekannt;
zum Veröffentlichungsmodus: Stöber, Pressepolitik, S. 192–201. Gute Beobachtungen zu seinen öffentlichen Auftritten auch in: Clark, Wilhelm II, S. 160–172.
Vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 78.
Vossische Zeitung 8. 11. 1908, morgens, S. 1.
Vgl. Clark, Wilhelm II, S. 168.
Wortlaut laut Presseberichten, etwa Vossische Zeitung 28. 7. 1900, S. 1. Vgl. auch: Bernd
Sösemann, Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: HZ 222 (1976),
S. 342–358; ders., „Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht“. Zeugnisse und
Wirkungen einer rhetorischen Mobilmachung, in: Hans Wilderotter und Klaus Pohl
(Hrsg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh 1991, S. 79–94.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
403
tigen Amtes erschien, wurde bisher in Anlehnung an Bülows Memoiren als
Gentlemen-Agreement zwischen Außenministerium und Journalisten gedeutet.171 Tatsächlich schränkte die Regierung anscheinend schon vorher die Berichterstattung ein. So erhielten die Journalisten nur Zutritt zur Rede, nachdem
sie mit ihrer Unterschrift eine vom Auswärtigen Amt ausgestellte Erklärung unterschrieben hatten, nichts von der Kaiserrede zu veröffentlichen, was nicht
vorher dem Auswärtigen Amt vorgelegen habe.172 Als ein Journalist der Frankfurter Zeitung anschließend dennoch einen Redetext an seine Redaktion telegraphieren wollte, der dem Wortlaut nahe kam, wurde die Meldung auf Bülows
Weisung hin vom Telegrafenamt zurückgehalten, obgleich dies eine gesetzeswidrige Einschränkung der Kommunikationsfreiheit war.173 Diese repressive
Strategie, die den Kaiser von vorneherein als freien Redner entmündigte, schien
zunächst aufzugehen. Am folgenden Tag druckten die Zeitungen die korrigierte
Version des Auswärtigen Amtes ab. Um auf die Redeeindrücke der Anwesenden einzugehen, verbreitete die Regierung sogar noch eine zweite Version im
Reichs-Anzeiger, die etwas direkter, wenn auch ebenfalls entschärfend, Passagen
aus der Rede enthielt. Zudem veröffentlichte die Reichsleitung einige Tage
später eine weitere, eher zurückhaltende Kaiserrede vor Matrosen, die zwar
ebenfalls zum Kampf anspornte, aber das Beten für den Sieg in den Mittelpunkt
stellte.174
Gleichzeitig entfaltete sich der Skandal jedoch aus der Ausbildung eines
eigenständig recherchierenden Journalismus, der dieses Schutzschild um den
Monarchen durchbrach. Zeitungen aus dem regionalen Umfeld, wie die Nordwestdeutsche Zeitung, die Neuesten Nachrichten und das Hamburger Fremdenblatt, druckten abweichende Versionen der Rede, die dank ihrer eigenen Korrespondentenmitschriften dem Wortlaut wohl am nächsten kamen.175 Dies unterstrich abermals den Kontrollverlust der Regierung gegenüber der Presse, die
sich eben nicht mehr über die Nachrichtenagentur WTB, über offiziöse Blätter
wie den Reichs- und Staatsanzeiger und der Norddeutscher Allgemeinen Zeitung oder durch persönliche Loyalitätsabsicherungen des Pressebüros beeinflussen ließ. Die Figur des anwesenden Reporters triumphierte vielmehr über
die offiziöse Meldung.
Bezeichnend für den entstehenden Skandal war, dass sich die Empörung zunächst erneut weniger gegen den Kaiser richtete. Vielmehr begann er mit Spott
über die Reichsleitung, die für die verschiedenen Versionen der Kaiserrede verantwortlich gemacht wurde. So begnügte sich der Vorwärts zunächst damit, die
171
172
173
174
175
Hier baute die Literatur auf: Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1: Vom Staatssekretariat bis zur Marokko-Krise, Berlin 1930, S. 359.
Vossische Zeitung Nr. 355, 1. 8. 1900, S. 1.
Vgl. Vorwärts 1. 8. 1900; Frankfurter Zeitung 28. 7. 1900 (Abendblatt) u. 30. 7. 1900 (Morgenblatt).
Der Text der Seepredigt ging zuerst an: Neue Preussische Zeitung Nr. 356, 2. 8. 1900, S. 1.
In der Presse sprach man daher sogar von vier Versionen der Rede. Vossische Zeitung
Nr. 355, 1. 8. 1900, S. 1.
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VI. Entzauberte Monarchen
unterschiedlichen Versionen nebeneinander zu stellen, um damit die Hilflosigkeit der Regierung im Umgang mit den Kaiserreden vorzuführen.176 Um das
Sensationelle an diesem Vorgang zu unterstreichen, wählte man typographisch
eine der größten Überschriften („Drei Lesarten!“), die das SPD-Blatt bisher gedruckt hatte. Damit wurde der Monarch, wie in der früheren Camouflage, nur
über seine schlechten Berater kritisiert. Das Nebeneinander der Reden kleidete
die Kaiserkritik abermals in ein Rätsel, das die Dynamik der Kommunikation
stärkte. Journalisten und Leser konnten nun spekulieren, welche Passagen tatsächlich vom Kaiser stammten und wie diese eigentlich zu verstehen seien.
In der zweiten Phase des Skandals, als der martialische Inhalt debattiert wurde, hielten zumindest die Zeitungen rechts vom Zentrum die Rede für angemessen. Allerdings belegen interne Aufzeichnungen den Unmut, der auch bei der
konservativen Elite bestand.177 Insgesamt verschob die Rede das Kaiserbild. Die
Sozialdemokraten pathologisierten Wilhelm II. nun vehementer als zuvor, indem sie zahlreiche andere Auszüge seiner Reden präsentierten, in denen der
Kaiser zur blutigen Vergeltung aufgerufen hatte.178 Den Liberalen, die dem Anspruch auf Vergeltung zustimmten, erschien der Kaiser als eine fehlbare Figur,
der man explizit Irrtümer und Fehleinschätzungen nachweisen konnte. Dass die
Chinesen brutal wie noch kein Volk in der Geschichte gehandelt hätten, wurde
ebenso zurückgewiesen wie die Zulässigkeit einer blutigen Rache.179 Die Konservativen hingegen kritisierten den Kaiser zwar nicht offen, düpierten ihn aber
zumindest dadurch, dass sie unter offensichtlichen Verrenkungen die problematischen Sätze umdeuteten.180 Wilhelm II. erschien damit als ein Monarch, dessen
Reden nur durch die Zensur und Nachinterpretation publizierbar waren. Besonders deutliche Worte fand abermals Maximilian Harden, der den Kaiser als
eine der Realität entrückte Figur beschrieb, dessen Reden und Allmachtsvorstellungen für die „monarchische Krise“ verantwortlich seien.181 Andere bürgerliche Blätter kamen zu dem Schluss, wenn der Monarch als Politiker auftrete,
müsse er sich auch mit den „Stacheln der öffentlichen Kritik zurechtfinden.“182
Der Skandal legitimierte damit grundsätzlich eine kritische Auseinandersetzung
mit dem Monarchen.
Die „Hunnenrede“ verschob die Grenzen des Sagbaren so sehr, dass es zu einer Reichstagsdebatte über den Kaiser kam, obwohl seine Person eigentlich im
176
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179
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182
Vorwärts 29. 7. 1900, S. 1. Vgl. als Kritik an der „Unsicherheit“ der offiziösen Berichterstattung von rechts: Neue Preussische Zeitung Nr. 351, 30. 7. 1900, S. 1.
Selbst Generalfeldmarschall Waldersee, dem der Kaiser schon vor der Rede den Oberbefehl
für die Niederschlagung des Aufstandes in China anbot, sah die Rede kritisch; Eintrag 5. 7. 1900
(Datum fehlerhaft, gemeint war wohl 5. 8., F.B.), in: Meisner (Hrsg.), Denkwürdigkeiten,
S. 448.
Vorwärts 31. 7. 1900, S. 3.
Vossische Zeitung Nr. 355, 28. 7. 1900, S. 1.
Vgl. etwa Neue Preussische Zeitung Nr. 349, 28. 7. 1900, S. 1.
Harden, Der Kampf mit dem Drachen, in: Die Zukunft 11. 8. 1900.
Nation 11. 8. 1900, S. 627, zit. nach: Fälschle, Rivalität, S. 200.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
405
Parlament als nicht verhandelbar galt. Der Monarch, so August Bebels Hauptvorwurf im Reichstag, habe mit seinen Rache-Äußerungen direkt zu brutalen
Tötungen aufgerufen, die dann tatsächlich umgesetzt worden seien, was zutiefst
unchristlich sei.183 Wie bei seiner Kolonialkritik versuchte Bebel durch Verweise
auf christliche Grundsätze Teile des Zentrums und der Konservativen zu gewinnen. Die SPD-Presse flankierte dies mit detaillierten quellennahen Berichten
über das brutale Vorgehen der Soldaten in China, für das sie den Kaiser persönlich verantwortlich machte.184 Der Linksliberale Eugen Richter schloss sich im
Reichstag Bebels Kritik an. Er sprach sich generell für eine Debatte über die
Kaiserreden im Reichstag aus, da der Kaiser fortlaufend politische Stellungnahmen mache, Parteien des Reichstages angreife und öffentliche Kritik hervorrufe.
Deshalb verlangte er eine direkte Kontrolle der Kaiserreden durch Absprachen
mit den Ministern.185 Obgleich Reichskanzler Bülow daraufhin die Redefreiheit
des Kaisers verteidigte, entschuldigte er den Kaiser damit, dieser habe erst kurz
zuvor von den Morden gehört und als Soldat, nicht als Diplomat gesprochen.186
Selbst diese wenig überzeugende Verteidigung verfestigte das Bild eines unmündigen Kaisers, der durch die Regierung und die Öffentlichkeit kontrolliert
werden müsse.
Der Skandal um die „Hunnenrede“ hatte zwar nicht zur Folge, dass der
Kaiser seinen Ton mäßigte. Jedoch führte die medial ausgelöste Empörung, die
der Monarch bei einigen folgenden Reden erneut anstieß, immerhin dazu, dass
selbst konservative monarchietreue Eliten eine Begrenzung seiner öffentlichen
Auftritte forderten. So entfachten die überzogenen Reden, die der Kaiser nach
Krupps Tod Ende 1902 in Essen, Breslau und Görlitz hielt, nicht nur einen breiten Unmut in der Presse. Sie leitete auch eine Resolution der Fraktionsführer
der Konservativen, Nationalliberalen und des Zentrums ein, die gegenüber dem
Reichskanzler ihre Besorgnis über die Kaiserreden ausdrückte und aus Angst
vor Angriffen von links auf mehr Zurückhaltung im Sinne der Verfassung
baten.187 Die Skandale um die Reden machten somit das eigenmächtige politische Auftreten des Kaisers zu einem sanktionierbaren Normbruch.
Wilhelm selbst betonte immer wieder, dass er der Presse und der öffentlichen
Meinung keine größere Bedeutung beimessen würde, sondern nach eigenem Ermessen entscheide. Wie verschiedene Zeitgenossen bemerkten, las er selbst vornehmlich nur das konservativ orientierte Massenblatt Berliner Lokal-Anzeiger.
Ansonsten informierte er sich überwiegend über mündliche Berichte und
183
184
185
186
187
Vgl. die Rede 19. 11. 1900 in: RT X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 29. Vgl. auch: Wielandt und
Kascher, Die Reichstagsdebatten.
Dabei stützte sich der Vorwärts nicht nur auf Soldatenberichte, sondern auch auf bürgerliche
Journalisten wie den Kriegsberichterstatter des Berliner Lokal-Anzeigers, Missionare und
Professoren; so: Rechtsanwälte des Vorwärts 11. 6. 1901, in: BAB/L, NY 4060-58.
Rede 20. 11. 1900 in: RT X. Leg., II. Sess., Bd. 179, S. 53 f.
Ebd., S. 63 u. 23. 11. 1900, S. 125.
Das Schreiben der Fraktionsführer vom 20. 1. 1903 ist abgedr. in: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 439.
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VI. Entzauberte Monarchen
Zeitungsausschnitte, die das Auswärtige Amt für ihn bereitstellte.188 Trotz
dieser gewissen Ignoranz war auch seine Herrschaft durchaus auf komplexe
Weise mit der Tagespresse verbunden. Der Kaiser kommunizierte mit der Regierung über seine oft sehr emotionalen Reaktionen beim Lesen der Ausschnitte,
die er mit kurzen schriftlichen Kommentaren versah. Da die Auswahl der Zeitungsausschnitte und die Reaktion auf sie das Wissen und Denken des Monarchen zeigte, verlangte Reichskanzler Bülow vom Literarischen Büro nicht nur
eine Mitteilung darüber, welche Artikel der Kaiser bekomme, sondern auch die
Dokumentation seiner Randnotizen.189 Hierzu zählten Unterstreichungen und
Ausrufezeichen, Ausrufe (wie „gut!“ oder „bravo!“) und kurze Anweisungen
(wie „Dementi!“), die allesamt verdeutlichen, wie sehr der Kaiser die öffentliche
Meinung rezipierte und auf sie zu reagieren verlangte. Diese Anmerkungen wurden oft sogar in abgetippter Form der Reichskanzlei vorgelegt.190 Entgegen Wilhelms Selbststilisierung bildete die Presse damit einen wesentlichen Anstoß für
seine politische Kommunikation, mit der er Reaktionen auf die Pressemeldungen
einforderte oder sich einer bestimmten vorgeschlagenen Meinung anschloss.
Zugleich suchte der Kaiser zunehmend die direkte Kommunikation mit den
Medien – bis hin zum Interview. Zahlreiche Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich haben zu Recht die Daily-Telegraph-Affäre als einen Höhepunkt der Kritik
am „persönlichen Regiment“ bewertet, bei der sich die Empörung gegenüber
den unüberlegten Äußerungen des Kaisers entlud und die mangelhafte Regierungsorganisation enthüllte.191 Die internationale Empörung entzündete sich
dabei vor allem an vier Behauptungen, die der Kaiser in einem Interview äußerte,
das der Daily Telegraph am 28. Oktober 1908 publizierte: Erstens die Aussage, er
gehöre zu einer englandfreundlichen Minderheit in Deutschland, wodurch er,
entgegen seinen Intentionen, leichtfertig die englische Angst vor der deutschen
Aufrüstung stärkte; zweitens, er habe ein russisch-französisches Vorgehen gegen
England im Burenkrieg nicht nur abgelehnt, sondern auch Queen Victoria mitgeteilt, womit er sich als eigenständiger Außenpolitiker im europäischen Bündnis
präsentierte; drittens, durch seinen Schlachtplan sei der Burenkrieg gewonnen
worden, was eine denkbar große Anmaßung war; und viertens, der deutsche
Flottenbau würde sich nicht gegen England, sondern gegen die Fernost-Staaten
richten, was insbesondere eine Provokation gegenüber Japan war.192
188
189
190
191
192
Vgl. etwa: von Holstein an Eulenburg 12. 12. 1889, abgedr. in: Röhl (Hrsg.), Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 1, S. 385 f.; Eintrag Zedlitz-Trützschler 29. 1. 1905, in: ders.,
Zwölf Jahre, S. 106; öffentlich dazu: Germania Nr. 128, 7. 6. 1907. Vgl. auch: Stöber, Pressepolitik, S. 180 u. 189.
Bülow an Minister des Inneren 25. 10. 1901, in: BAB/L, R 43 1567-10.
Vgl. etwa die von Wilhelm II. kommentierten Artikel in Bülows Nachlass, in: BA/K, 1016-35.
Vgl. etwa: Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a. M.
1995, S. 169; Ullrich, Nervöse Großmacht, S. 219; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte,
Bd. 4, S. 303; Mommsen, War der Kaiser an allem Schuld?, S. 143.
Daily Telegraph 28. 10. 1908, S. 11; ein Faksimile-Abdruck der Zeitungsseite in: Bülow,
Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1930, S. 352.
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Zudem sorgte für Empörung, dass Bülow, dem das Interview vorab zur
Durchsicht vorlag, es angeblich nicht durchsah. Dementsprechend ging auch die
historische Forschung insbesondere der Frage nach, ob Bülow tatsächlich die
Korrektur des Interviews überging. So argumentierte Peter Winzen jüngst,
Bülow habe den Text gekannt, was plausibel erscheint, obgleich ein eindeutiger
Quellenbeleg auch bei Winzens Darstellung weiterhin fehlt.193 Eine weitere
Lesart bot Martin Kohlrausch an, der den Skandal zusammen mit der Eulenburg-Affäre als Ausdruck einer Desillusionierung über den Monarchen bewertete, wodurch radikalerer Führerforderungen aufgekommen seien.194
Blick man dagegen zunächst vor allem auf die Medialisierungsprozesse der
Zeit, so bietet sich eine etwas andere Perspektive an. Nicht allein die bekannte
Sprunghaftigkeit des Kaisers, sondern auch die Etablierung der medialen Kommunikationsform des „Interviews“ bildet dann einen wichtigen Ausgangspunkt
für den Skandal. Dabei lässt sich argumentieren, dass der Daily Telegraph-Artikel auch deshalb eine derartige Wirkung entfachte, weil der Kaiser mit einer in
Großbritannien bereits etablierten Medientechnik experimentierte, deren Logik
für ihn ähnliche Ambivalenzen aufwies wie der Abdruck seiner Reden.195
Mediengeschichtlich gesehen waren Interviews zu diesem Zeitpunkt in
Deutschland noch eine gewisse Neuheit. In den USA und Großbritannien hatten sie sich dagegen schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etabliert. Der
Oxford Dictionary verwendete den Begriff bereits 1867 im Pressekontext und
schon wenige Jahre später erschienen Interviews mit prominenten Personen wie
dem Papst oder mit Bismarck in der englischen Presse, so dass das Gespräch von
Wilhelm II. durchaus prominente Vorläufer hatte.196 Etabliert und systematisiert wurde das Interview in Großbritannien vor allem seit 1883 durch den Starjournalisten W. T. Stead in der Pall Mall Gazette.197 Steads Innovation war, dass
er Prominente in deren privaten Räumen aufsuchte und neben dem Gespräch in
Reportageform auch Person und Umgebung beschrieb. Durch das Interview
veränderte sich damit nicht nur das Format des Artikels, sondern auch die
Repräsentation des Politischen. Politik wurde auf diese Weise weitaus stärker
personalisiert, und das Individuum konnte von allen Institutionen losgelöst in
mündlicher Rede Position beziehen, was dem Kommunikationsverhalten von
Wilhelm II. stark entgegen kam.
193
194
195
196
197
Winzen, Das Kaiserreich, bes. S. 34. In Winzens Einleitung zu seiner Quellenedition findet
sich auch die maßgebliche Rekonstruktion des Ereignisablaufes. Dass Bülow es nicht vorher
las, meinen: Lerman, The Chancellor, S. 221; Fesser, Reichskanzler, S. 132 f.
Kohlrausch, Der Monarch, S. 261 f. u. 296.
Stärker mit der neuen Macht der Presse gegenüber dem Parlament interpretiert die Affäre
auch: Platthaus, Novemberrevolution, S. 150 f. sowie generell: Kohlrausch, Der Monarch.
Brown, Victorian News, S. 160.
Schults, Crusader, S. 61 f. Nicht haltbar ist jedoch, angesichts verschiedener Vorläufer, die oft
formulierte Annahme, Stead habe das Interview eingeführt; vgl. etwa zu wichtigen Vorläufer
wie Yates: Joel H. Wiener, Edmund Yates: The Gossip as Editor, in: ders. (Hrsg.) Innovators, S. 259–274, S. 260 u. 265; Richard Salmon, A Simulacrum of Power. Intimacy and Abstraction in the Rhetoric of New Journalism, in: Brake et al. (Hrsg.), Encounters, S. 27–39.
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VI. Entzauberte Monarchen
Diese frühen Interviews sollten bereits in der spätviktorianischen Presse politische Handlungen und gesellschaftliche Debatten auslösen. So leitete 1884
Steads Interview mit General Gordon Großbritanniens militärische Expedition
im Sudan ein. Steads Interview mit Admiral Lord Cooper über die Schwächen
der Navy führte noch im gleichen Jahr zusammen mit seiner anschließenden
Pressekampagne dazu, dass die Navy ausgebaut wurde.198 Ebenso bediente sich
Steads berühmte Serie über die Londoner Kinderprostitution im Jahr darauf
zahlloser Interviews, um das Alter für legalen Geschlechtsverkehr von 14 auf 16
anzuheben. Für die Leser des Daily Telegraph-Interviews mit Wilhelm II. war
somit bereits bekannt, dass per Interview auch direkt Politik gestaltet werden
konnte und sollte. Sein Interview-Partner, der damalige Militär-Attaché in
Frankreich Edward James Montagu Stuart-Wortley verstand sich dementsprechend auch als diplomatischer Vermittler zwischen den Nationen.
Zudem stand das Interview generell für eine soziale Aufwertung der Journalisten, die so stellvertretend für ihre Leser mit Politikern in einen unmittelbaren
Austausch treten konnten. Bemerkenswert ist, dass bei angelsächsischen Journalisten und Publizisten dieser Zugang bereits bis zum Kaiser reichen konnte.
Der amerikanische Journalist William Bayard Hale, der im Sommer 1908 mit
dem Kaiser ein Interview führte, hatte vom deutschen Botschafter eine Empfehlung erhalten. Stuart-Wortley, dessen Gespräch mit dem Kaiser im Daily
Telegraph erschien, war hingegen kein Journalist, sondern ein adliger Offizier,
den der Kaiser bei seinem Englandbesuch 1907 näher kennen gelernt hatte und
daraufhin zu einem weiteren Gespräch im September 1908 als Gast bei einem
Manöver in Saarbrücken einlud.
In Deutschland war das Interview als Format jedoch um 1900 noch wenig
bekannt. Die Lexika der Zeit vermerkten immerhin schon den Begriff „Interviewer“, worunter sie einen Besucher verstanden, der meist ein Journalist sei
und berühmte Persönlichkeiten „ausfrage“.199 Gebräuchlicher in der Korrespondenz zwischen Journalisten und Politikern waren jedoch in Deutschland Begriffe
wie „Audienz“ oder „empfangen“.200 Im Unterschied zum englischen Wort
„Interview“ verwies dies auf eine „Vorlassung“ im Sinne einer gewährten Gnade, weniger auf den Vorgang des Fragens. Zudem war es in Deutschland üblich,
dass die Journalisten, die empfangen wurden, die Einschätzungen des Befragten
unter Hinweis auf eine „offizielle Quelle“ in ihre Texte einbauten, nicht dagegen als transparentes Frage-Antwort-Spiel präsentierten.
198
199
200
Joseph Baylen, Politics and New Journalism: Lord Esher’s Use of the Pall Mall Gazette, in:
Wiener (Hrsg.), Papers for the Millions, S. 114.
Vgl. die Ausgaben von Brockhaus’ Konversations-Lexikon (1898) und Meyers Grosses
Konversations-Lexikon (1906), das auch auf die englische und amerikanische Vorbildfunktion verweist.
Vgl. die Begriffe in Anschreiben von Journalisten wie: Redaktion BZ am Mittag an Bülow
16. 10. 1907, in: BA/K, N 1016-185-43; Hartmann an Bülow 13. 10. 1907, in: BA/K, N 1016185-13.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
409
Für gewöhnlich bewarben sich Journalisten bei Politikern um Gespräche, indem sie lobende Artikel aus Ihrer Zeitung beilegten, die sie jüngst geschrieben
hatten. Im Unterschied zu Großbritannien unterstrichen die Journalisten häufig
gleich, dass sie nicht als unabhängige Gesprächspartner kamen. So bot der Leiter
des Hamburger Fremdenblattes dem Reichskanzler bei einer Interviewanfrage
1907 an, dass es sich nicht „um ein blosses [sic] journalistisches Interview, sondern um einen politischen Schachzug im Interesse der Sache“ handeln würde,
um Bülows Politik zu propagieren; eine Antwort erhielt er zunächst trotzdem
nicht.201 Eine andere charakteristische Strategie, um eine „Audienz“ zu bekommen, wählte ein Redakteur der Neuen Freien Presse, der bei einem neuen Minister einen Termin mit der Versicherung erfragte, keine „Frage politischer Natur
vorzulegen“.202 In der Reichskanzlei und den Ministerien überprüfte man, was
und für welche Zeitungen die Journalisten bisher geschrieben hatten, wobei
bereits frühere Artikel für ein ungenehmes Blatt ein Ausschlusskriterium
waren.203
Um 1907 gewann das Interview in Deutschland deutlich an Bedeutung. So
zeigen die Archivüberlieferungen einen unverkennbaren Anstieg der InterviewAnfragen. Der neu designierte Staatssekretär des Kolonialamtes, Bernhard
Dernburg, erhielt 1907 etwa gleich dutzende Anfragen, und auch bei Kanzler
Bülow nahm in diesem Jahr die Zahl der überlieferten Interviewwünsche und
Interviews zu.204 Ebenso hat bereits die Analyse des Eulenburg-Moltke-Skandals gezeigt, dass 1907/08 sogar ein Staatsanwalt und Journalisten wie Harden
als Interviewpartner auftraten.205 Gleichzeitig kam es zu wechselseitigen Besuchen deutscher und britischer Journalisten bei den Staatsführungen beider
Länder, wobei im Mai 1907 mehrere dutzend britische Journalisten vom Kanzler, Ministern und sogar vom Kaiser empfangen wurden.206 Dieser Austausch
dürfte den Siegeszug des Interviews weiter gefördert haben und ist als eine
Brücke für die Kaiser-Interviews 1908 anzusehen. Um 1907/08 nutzte auch
Reichskanzler Bülow Interviews verstärkt als Mittel der politischen Agitation
und Selbstdarstellung. Er reagierte so auch auf die Krisenstimmung, die insbesondere in der Außenpolitik seit 1906 dominierte. So regte Bülow etwa im Mai
1908 ein Interview mit den Hamburger Nachrichten an, um etwas Emotionales
über sich in der Presse zu bringen.207 Ebenso flankierte er seine Außenpolitik
gegenüber Großbritannien per Interview, als er im August 1908 in Norderney
mit einem englischen Journalisten ein ausführliches Gespräch für den britischen
201
202
203
204
205
206
207
Paul Raché (Leiter Hamburger Fremdenblatts) an Bülow 13. 9. 1907, in: BA/K, N 1016-18547; zumindest fragte er vier Wochen später noch einmal nach.
Adolf Bondy/Neue Freie Presse an Dernburg, 4. 12. 1906, in: BA/K, N 1130-1.
Hierzu zählte etwa die eher konservative Daily Mail; Hartmann an Bülow 13. 10. 1907, in:
BA/K, N 1016-185-13.
Vgl. zu Dernburg die Anfragen ab: 4. 12. 1906 ff., in: BA/K, N 1130-13.
Vgl. Kap. II. 7.
Vgl. hierzu jetzt ausführlich: Geppert, Pressekriege, S. 358–382.
Bülow an Hammann 1. 5. 1908, in: BAB/L, N 2106/14: 12 f.
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VI. Entzauberte Monarchen
Standard machte, das frühere aggressive Äußerungen des Kaisers ein wenig einzudämmen suchte. Hierbei betonte er bereits, dass diplomatische Krisen oft
daraus entstehen würden, dass die Presse Dinge aus ihrem Zusammenhang
reiße. In Deutschland würde niemand an einen Angriff an England denken, eher
müsse Deutschland Angst vor einem englischen Angriff haben.208
Die Interviews, die der Kaiser im November 1907 und Sommer 1908 machte,
sind folglich im Kontext dieser Pressepolitik per Interview zu verstehen, die insbesondere den Engländern die Angst vor der deutschen Flottenaufrüstung nehmen sollte. Dementsprechend ermutigte Bülow den Kaiser zu dem im Daily Telegraph gedruckten Interview, das mit seinem Werben um Englands Vertrauen ganz
auf Bülows Linie lag. Die Interviews standen somit in gewisser Weise für eine
Transformation der Außenpolitik, die statt über diplomatische Absprachen über
die Presse verlief. Da der Kaiser den Text, den der englische Interviewer Edward
James Stuart-Wortley aus zwei Gesprächen zusammengestellt hatte, persönlich
zur Korrektur vorgelegt bekam, kann nicht von einer Überrumpelung durch die
Presse gesprochen werden. Ein weiteres Kaiser-Interview mit dem amerikanischen
Journalisten William Bayard Hale, den das Auswärtige Amt empfohlen hatte, ergänzte diese verstärkte Diplomatie durch direkte Pressekommunikation.
Die Form des Daily Telegraph-Interviews wies zahlreiche Ähnlichkeiten zu
den Reden Wilhelm II. auf und entsprach somit durchaus seinen öffentlichen
Kommunikationsvorlieben. Von den Formulierungen her blieben die Aussagen
äußerst umgangssprachlich und salopp – etwa wenn er den Engländern vorhielt,
völlig grundlos vor Deutschland Angst zu haben („You English are mad, mad,
mad as March hares“).209 Ähnlich wie in seinen Reden gab der Stil der wörtlichen Wiedergabe Gelegenheit, Bedrohungen farbig auszumalen und sich zugleich selbst als Friedensbringer zu präsentieren. Die Zeitungsleser konnten so
den Eindruck haben, der Kaiser würde unmittelbar mit ihnen sprechen. Dabei
konnte sich der Kaiser durch die Interviewform selbst als entscheidender politischer Akteur herausstellen, der sein Land außenpolitisch lenkte. Das Wort
„Ich“ hatte hier, wie in seinen Telegrammen oder Reden, einen zentralen Stellenwert. Diese Unmittelbarkeit des kaiserlichen Sprechens, die durch die spezifische Struktur des Interviews bedingt war, dürfte wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass unter den zahllosen problematischen kaiserlichen Handlungen
gerade das Interview eine derartige Wirkung entfaltete.
Die mediale Verschriftlichung der Gespräche brachte allerdings ähnliche Probleme mit sich wie die der Reden des Kaisers. So wählte er auch im Interview
recht spontan Formulierungen, um seinem unmittelbaren Gegenüber zu gefallen. Während er im Daily Telegraph-Interview seine Liebe zu England pries,
betonte Wilhelm II. in dem nahezu zeitgleichen Interview mit dem amerika208
209
Das Interview führte Sydney Whitman, in: Standard 13. 9. 1908; WTB an Bülow 14. 9. (1908),
in: BA/K, N 1016-185-73. Dass das Daily Telegraph-Interview des Kaisers im Kontext von
Bülows Interviewpolitik zu sehen ist, zeigte jüngst auch: Geppert, Pressekriege, S. 262 f.
Alle folgenden Zitate aus dem Interview nach: Daily Telegraph 28. 10. 1908, S. 11.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
411
nischen Publizisten Hale seine Freundschaft zu den USA und monierte die Bedrohung durch England.210 Dass Kanzler und Kaiser jeweils glaubten, über ein
Interview die nationale Stimmung eines Landes beeinflussen zu können, geht
dagegen aus ihren Formulierungen recht deutlich hervor. Eine mittlerweile etablierte transnationale Öffentlichkeit, die diese Aussagen in wenigen Stunden
weltweit per Telegraph miteinander verglich und auf den Prüfstein stellte, hatte
der Kaiser dagegen während der Interviews anscheinend nicht vor Augen.
Im Vergleich zur Rede schien das Interview zwar wesentlich kontrollierbarer,
da seine Freigabe eine Korrektur durch den Kaiser und anschließend durch das
Auswärtige Amt beziehungsweise den Kanzler voraussetzte. Tatsächlich zeigte
sich aber, dass Interviews ähnlich schnell mediale Eigendynamiken entwickeln
konnten wie die Reden. Wie bei der Hunnenrede machte allein die Geschwindigkeit der medialen Übermittlung eine Pressekontrolle kaum möglich. In diesem Fall präsentierte die BZ am Mittag schon wenige Stunden nach dem englischen Erscheinen eine deutsche Version des Interviews, bevor eine offizielle
Erklärung über das WTB ausgegeben werden konnte.211 Beim Hale-Interview
gelang es dem Auswärtigen Amt zwar, unter Mühen die gesamte gedruckte Auflage des Century Magazine, immerhin rund 150 000 Stück, vor der Auslieferung
aufzukaufen und einstampfen zu lassen, aber dennoch drangen in den folgenden
Wochen einzelne Auszüge in die Zeitungen. Zudem erfuhr die deutsche Öffentlichkeit sofort mitten in der Daily Telegraph-Affäre von dieser Maßnahme, was
Kaiser und Regierung erneut diskreditierte.212
Dass Wilhelm II., die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und vermutlich
auch Bülow die problematischen Stellen der Artikel nicht realisierten, lag sicherlich nicht nur an ihrem mangelnden diplomatischen Gespür. Zugleich dürften
sie, wie in ihrer bisherigen Außenpolitik üblich, die Interviews als einen Testballon angesehen haben, um den deutschen Großmachtanspruch zu untermauern
und die Flottenaufrüstung zu legitimieren. Insofern stand das Interview eher in
einer Tradition von öffentlichen Vorstößen wie der Krüger-Depesche und der
Tanger-Landung. Sie alle wurden zwar von ihrer medialen Performanz her allein dem Kaiser zugeschrieben wurden, waren aber tatsächlich oft kollektive
Produkte der außenpolitischen Führung – sei es als kalkulierter Affront, sei es
als Ausdruck diplomatischer Inkompetenz.213
210
211
212
213
Vgl. Ralph R. Menning und Carol Bresnahan Menning, „Baseless Allegations“. Wilhelm II
and the Hale Interview of 1908, in: CEH 16 (1983), S. 368–397.
BZ am Mittag 28. 10. 1908.
Dass ein zweites Interview in letzter Minute verhindert wurde, war in der Presse gleich bekannt; vgl. Vossische Zeitung 7. 11. 1908, S. 1 u. 9. 11., S. 2. Vgl. zur Unterdrückung auch:
Bünz an Bülow 6. 11. 1908, abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 176–178; dazu auch: Winzen,
Kaiserreich, S. 86; Menning und Menning, „Baseless Allegations“.
In diesem Sinne ist hier der pointierten Argumentation von Wolfgang J. Mommsen zuzustimmen, der die Akteure um den Kaiser herum hervorhebt: Mommsen, War der Kaiser an allem
Schuld, passim.
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VI. Entzauberte Monarchen
Obgleich sich die öffentliche Empörung zunächst vor allem gegen das unprofessionelle Verhalten des Kanzlers und des Auswärtigen Amtes richtete, prägte
der Skandal zugleich die kollektiven Vorstellungen über den Kaiser. Stärker als
zuvor etablierte er das Bild des unmündigen Monarchen, der weder in der Lage
noch befugt war, alleine öffentlich zu sprechen. Denn unabhängig von den Inhalten des Interviews lernten die Zeitungsleser aus Bülows Rechtfertigungen,
dass die Kontrolle und Überarbeitung der kaiserlichen Äußerungen in der politischen Praxis nicht nur vorgesehen, sondern auch dringend nötig war. Dass der
Kaiser ohne ein zuverlässiges Lektorat aus dem Auswärtigen Amt schweren
Schaden anrichte, untergrub jenen Souveränitätsanspruch, den er öffentlich bis
hin zum Gottesgnadentum pflegte. Während sich in der Eulenburg-Affäre kurz
zuvor die Empörung noch gegen die schlechten Ratgeber des Kaisers gerichtet
hatte, erschien der Kaiser bei einem Medienformat wie dem Interview ganz
alleine für den skandalösen Inhalt verantwortlich. Die Forderung nach einem
Ende des „persönlichen Regiments“, die von allen Seiten artikuliert wurde,
stand daher im Mittelpunkt der rasant anwachsenden Kritik.
Zudem erschien der Kaiser im Zuge des Skandals wie ein Opportunist, der
sich jedoch nicht an den heimischen Volksstimmungen orientierte, sondern am
Herkunftsland seiner Interviewpartner. Dass er etwa im Daily Telegraph-Interview mit seinem Schlachtplan für den englischen Sieg im Burenkrieg prahlte,
sorgte allein schon deshalb für Empörung, weil die deutsche Bevölkerung mehrheitlich auf Seiten der Buren gestanden hatte. Insofern ging es nicht einmal darum, ob seine Prahlereien über den siegreichen Feldzug der Wahrheit entsprachen, sondern um die Anbiederung an das Empire. Die liberale Öffentlichkeit
artikulierte nun eine generelle Unzufriedenheit mit den öffentlichen Auftritten
des Kaisers in den letzten zwanzig Jahren. So hätten seine Reisen, seine Reden
und seine Vielgeschäftigkeit dem Volk viele „Unannehmlichkeiten“ gebracht.214
Während der Kaiser in der Medienöffentlichkeit für eine Politik der „Sprunghaftigkeit“ verantwortlich gemacht wurde, bildeten „Stetigkeit“, „Ruhe“ und
„Einheitlichkeit“ die positiven Leitbegriffe einer zukünftigen Politik. Ebenso
störte man sich daran, dass der Kaiser während des Skandals eben nicht direkt
auf die öffentliche Kritik reagierte, sondern fernab auf der Jagd in Donaueschingen weilte. Auf diese Weise entstand das Bild eines Monarchen, der sich nicht
um die öffentliche Meinung und um die Folgen seiner Äußerungen kümmerte.
Was vormals eine anerkannte Repräsentationspflicht war, galt jetzt als Flucht
vor der Öffentlichkeit.
Ähnlich wie bei den frühen Skandalen um den Monarchen erreichte der Skandal seine Schlagkraft dadurch, dass die Empörung gegen den Kaiser von links
bis hin zu den Konservativen und Nationalliberalen reichte und sogar von ihnen
ausging. Selbst Reichskanzler Bülow zählte indirekt zu den Kaiserkritikern, als
er in seiner Rechtfertigung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und im
214
Vossische Zeitung Nr. 521, 5. 11. 1908, S. 1, 4. 11. 1908, S. 1.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
413
Reichstag unterstrich, er hätte den Text nicht zugelassen.215 Auffällig war bereits, wie schnell auch das konservative Milieu die Macht der emotionalen Medienwirkung thematisierte. Die Zeitungen, Tagebucheinträge und Berichte geben davon vielfältige Zeugnisse. So sprach die „Kreuzzeitung“ von der „immer
noch anwachsenden Erregung im Volke“216, und der badische Gesandte von
Berckheim hielt fest, „auch das große Publikum ist hier in allen seinen Schichten
tief erregt, und zwar richtet sich der allgemeine Unwille mehr oder minder verblümt gegen die Person des Monarchen.“217 In den Hamburger Kneipen vermerkten die Polizeispitzel schon zwei Tage nach Abdruck des Interviews Spott
über den Monarchen („Diese Schmach werde er nie mehr gut machen“), womit
sie das Interview sogleich als einen Wendepunkt fixierten. Andere Kneipengäste
sahen es unter taktischen Gesichtspunkten als guten Stoff für die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten.218
Gerade weil die Empörung durch die ganze Gesellschaft ging, standen besonders die Konservativen vor dem Problem, ihren Unmut über Wilhelm II. zu artikulieren, ohne sich in eine monarchiekritische Phalanx bis hin zur SPD einzureihen. Um einer gemeinsamen Erklärung vorzubeugen, preschte der Parteivorstand der Deutsch-Konservativen Partei deshalb bereits eine Woche nach dem
Interview mit einer Resolution vor, die dem Kaiser mehr Zurückhaltung abverlangte, da er das Reich in eine schwierige Lage brächte.219 Nicht minder resolut
fiel Ernst Bassermanns Erklärung der Nationalliberalen im Reichstag aus, die
Öffentlichkeit protestiere einmütig „gegen das Eingreifen Seiner Majestät des
Kaisers in die offizielle Politik Deutschlands (lebhafte Zustimmung bei den
Nationalliberalen und links) gegen das, was man im Lande das persönliche Regiment nennt“.220 Gerade wenn man diese nun sogar im Reichstag formulierte
breite Kritik mit jener vergleicht, die in den Skandalen 1894 noch in Form von
verschlüsselten Satiren gemacht wurde, wird die immense Verschiebung der
Sagbarkeitsgrenzen in nur einem Jahrzehnt deutlich.
Diese Verschiebung im Monarchendiskurs entging auch den Zeitgenossen
nicht. Maximilian Harden druckte stolz seine Kaiserkritik von 1892 ab, die ihn
damals vor Gericht brachte, um aufzuzeigen, dass nun selbst die offiziösen
Blätter kritischer schreiben würden als er damals.221 Sein eigener Artikel zu der
Interview-Affäre 1908 war sicherlich der schärfste aus dem bürgerlichen Lager.
215
216
217
218
219
220
221
Bülow im RT 10. 11. 1908, 158. Sitz., S. 5395–5397; auch kommentiert abgedr. in: Winzen,
Kaiserreich, S. 197–204.
Neue Preussische Zeitung 3. 11. 1908, abends, S. 1.
Berckheim an Marschall 2. 11. 1908, abgedr. in: Winzen, Kaiserreich, S. 14.
Polizeibericht Schutzmann Noroschat, 1. 11. 1906, in: StAH, S 3930-30 Bd. 2.
Erklärung des Vorstandes der Deutschkonservativen Partei (DKP) 5. 11. 1908, abgedr. in:
Winzen, Kaiserreich, S. 172 f.
Erklärung des Parteivorstandes der DKP 5. 11. 1908, abgedr. in: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 440.
Harden verwies auf seine Kritik von 1892 in der Zukunft 15. 10. 1892 u. 31. 12. 1892.
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VI. Entzauberte Monarchen
Der Kaiser erschien in seinen unmissverständlichen Formulierungen als gefährlicher Schmarotzer:
Wilhelm der Zweite, der vierzig Jahre nach der Revolution auf den Zollerthron kam und
im Reich kein Monarch ist, hat der Nation nie Nützliches geleistet und für seinen Willen
dennoch höchste Geltung verlangt. Nun sieht er die Ernte. Wenn ihm, nach allem Geschehenen, möglich dünkt, wird er die Krone auf seinem Haupt behalten. Doch niemals
wieder darf an seinem Willen das Schicksal des Deutschen Reiches, deutscher Menschheit
hängen.222
Aus diesem Grunde forderte er, dass der Kronprinz frühzeitig den Thron übernehmen sollte. Noch bemerkenswerter als der Inhalt war, wie Regierung und
Kaiser mit einem derartigen Artikel umgingen. Reichskanzler Bülow setzte sich,
wie beim zeitgleichen dritten Moltke-Harden-Prozess, für Harden ein und
überzeugte den Kaiser, gegen den Journalisten keinen Prozess wegen Majestätsbeleidigung einleiten zu lassen. Denn selbst bei einer Verurteilung, die nicht
wahrscheinlich sei, „würde der Prozeß unendlich viel Staub aufwühlen und insbesondere dem Angeklagten die (von ihm wahrscheinlich erhoffte) Gelegenheit
bieten, die ganzen Vorgänge der letzten Zeit für sich zu verwerten und zu giften.“223 Harden, der über den offiziösen Journalisten Zimmermann von dieser
Fürsprache hörte, bedankte sich entsprechend beim Kanzler.224 Der Skandal
führte folglich mit dazu, dass es wegen Majestätsbeleidigungen kaum noch zu
Prozessen und Verurteilungen kam. Die Kritik am Kaiser wurde durch die
Wucht des Skandals vergleichsweise legitim.
Ähnlich wie bei den Skandalen um die englischen Monarchen herrschte nach
der ersten Empörung dennoch die Vorstellung vor, den Kaiser gerade durch die
breite Entrüstung in der Presse erziehen zu können. So wie der Prince of Wales
bei seinen Skandalen gezielt bestimmte Artikel zur moralischen Besserung vorgelegt bekommen hatte, so hoffte auch Friedrich von Holstein weiterhin, dass
man den Kaiser durch die Vorlage kritischer Artikel zur Vernunft bringen und
lenken könne. Schon am Tag der deutschen Publikation empfahl er dem Reichskanzler: „Die Sache ist unbequem, kann aber vielleicht den Nutzen haben, daß
S.M. etwas vorsichtiger wird?? [...] Für S.M. ist dies eine harte Lektion. Aber
wird sie nützen? Er bekommt doch reichlich fremdländische Ausschnitte?“225
Eine Woche später fragte er Bülow erneut, was der Kaiser zu lesen bekomme
und regte an: „Der Artikel von Naumann würde ihm gut tun.“226 Derartige
Formulierungen ließen die kritische Presse als eine Art Medizin für einen
kranken Kaiser erscheinen. Auch Bülow nutzte die problematischen Interviews
als Erziehungsmittel, wenn er ihm etwa ein letztes Exemplar des eingestampften
222
223
224
225
226
Zukunft 21. 11. 1908, S. 296.
Bülow an Wilhelm II. 21. 11. 1908, in: BA/K, N 1016-112-100. Die Argumente lieferte dabei:
Zimmermann an Bülow 19. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-113.
Zimmermann an Bülow 21. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-132.
Holstein an Bülow 29. 10. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein und Harden, S. 363. Den Erziehungsansatz betont bereits Kohlrausch, sieht aber stärker sein Scheitern; ders., Monarch, S. 286.
Holstein an Bülow 6. 11. 1908, abgedr. in: Rogge, Holstein und Harden, S. 377.
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4. Wilhelm II. als Redner und Interviewpartner
415
Hale-Interviews mit den Worten zuschickte: „Eure Majestät bitte ich niemanden
auf der Welt diesen Auszug zu zeigen und ihn mir zurückzuschicken, damit ich
ihn vernichten kann.“227 Der Kaiser bekam damit vorgeführt, dass seine Worte
weder für die Öffentlichkeit noch für spätere Historiker geeignet seien, sondern
sein Ansehen durch die Vernichtung seiner Interviews geschützt werden müsse.
Als folgenlos wird man den Skandal sicherlich nicht bezeichnen können, auch
wenn verfassungsrechtlich keine direkte Veränderung eintrat. Der Skandal veränderte vielmehr die faktische Stellung des Kaisers und das Sprechen über ihn.
Durch Bülow ließ er sich sogar zu einer Erklärung bewegen, in der er künftig
mehr Zurückhaltung gelobte.228 Tatsächlich führte der Skandal dazu, dass sich
der Monarch in der politischen Praxis stärker gegenüber der Regierung, dem
Reichstag und der Öffentlichkeit zurücknahm. Durch die breite öffentliche
Empörung war Wilhelm II. zunächst auch psychisch so verletzt, dass er die
folgenden Reden vom Blatt ablas.229 Auf der personellen Ebene hatte der Skandal zur Konsequenz, dass nicht nur Außenstaatssekretär Wilhelm von Schoen
kurze Zeit später zurücktrat, sondern auch Bülow an Ansehen verlor, so dass
seine 1909 erfolgte Absetzung eine Frage der Zeit wurde, nachdem er schon
während des Skandals dem Kaiser seinen Rücktritt angeboten hatte. Bereits die
Tatsache, dass der Skandal den gleichzeitigen Urlaub von Kanzler, Außenstaatssekretär, Pressechef und anderer wichtiger Repräsentanten zeigte, erweckte den
Anschein von mangelnder Koordinationsfähigkeit und fauler Arbeitsscheu. Ein
Hamburger Kneipenbesucher kommentierte dies laut Spitzelbericht etwa mit
den Worten: „Dem Bülow wird das Herz auch in die Hose fallen wenn er seine
Faulheit erörtern soll. [Ein] Reichskanzler der das ganze Reich blamiert muß
fort.“230
Vor allem eröffnete der Skandal eine Debatte über eine Parlamentarisierung.
Sowohl die Linksliberalen als auch die SPD verlangten eine dem Reichstag verantwortliche Regierung, die SPD sogar ein Anklagerecht des Reichstages gegenüber dem Kanzler.231 Die Reformforderungen bezogen sich direkt auf das Versagen der Reichsleitung, die Kaiserrede ordnungsgemäß zu redigieren. Der
Skandal führte darüber hinaus im ganzen Land zu verschiedenen Protestversammlungen mit Resolutionen, die eine Parlamentarisierung forderten.232 Auch
wenn diese Vorstöße chancenlos waren, verstärkte der Skandal zumindest den
227
228
229
230
231
232
Bülow an Wilhelm II. 21. 11. 1908, in: BA/K, N 1016-112-97.
Die von Bülow vorher angefertigte Erklärung für den Reichsanzeiger ist abgedr. in: Winzen,
Kaiserreich, S. 247.
Aufzeichnung Zedlitz-Trützschler 26. 11. 1908 ff., in: ders., Zwölf Jahre, S. 194–201.
Polizeibericht Schutzmann Noroschat, 10. 11. 1906, in: StAH, S 3930-30 Bd. 2.
Vgl. etwa Rede Singer RT 10. 11. 1908, 158. Sitz., S. 5389–5392, und die Reichstagsdebatte am
2. 12. 1908, etwa Ernst Müller-Meiningen 174. Sitz., S. 5904-5910; Vossische Zeitung
10. 11. 1908, S. 1 u. 18. 11. 1908, Nr. 543, S. 1. Anders argumentiert Platthaus, die Affäre sei
nicht in parlamentarische Reformforderungen gemündet; Platthaus, Novemberrevolution,
S. 150.
Saldern, Arbeiter-Reformismus, S. 65.
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VI. Entzauberte Monarchen
öffentlich artikulierten Anspruch auf eine Parlamentarisierung der Monarchie.
Die Rechte des Reichstages wurden zumindest über seine Geschäftsordnung erweitert.233
Mit den Kaiser-Interviews ließen sich die Zeitungsauflagen leicht steigern.
Dennoch erwiesen sich selbst die stark kommerziell orientierten englischen Zeitungen als recht verantwortungsbewusst. Gerade bei dem Hale-Interview zeigte
sich, dass sich auch die britischen Zeitungen bewusst zurückhielten, um eine
außenpolitische Krise zu vermeiden. Die englischen Massenblätter von Northcliffe lehnten den Druck ebenso ab wie die amerikanischen Zeitungen, obgleich
aus dem Interview heraus ein auflagenstarker Skandal zu erwarten gewesen
wäre, der die Daily Telegraph-Affäre noch in den Schatten gestellt hätte. Stattdessen suchten die britischen und die deutschen Journalisten intern den Kontakt
zu den Regierungen, um eine diskrete Beilegung zu finden, so dass am Ende nur
verzögert Auszüge an die Öffentlichkeit kamen.234 Die Versicherung des Kaisers, er werde sich künftig zurückhalten, dämpfte sich die monarchiekritische
Stimmung. Selbst Harden nahm nach der reumütigen Erklärung des Kaisers den
Monarchen wieder in Schutz und verteidigte ihn bei seinen zahlreichen Vorträgen.235
Die Kritik am Kaiser und die Frage, ob die Macht des Monarchen durch eine
Verfassungsreform eingeschränkt werden sollte, blieben weiterhin in der öffentlichen Debatte virulent. Selbst den runden 50sten Kaisergeburtstag, den Wilhelm II. am 27. Januar feierte, nahmen die liberalen Zeitungen zum Anlass für
derartige Reflexionen – während früher an diesem Tag stets ergebene Glückwünsche und Festberichte dominiert hatten. So forderte das Berliner Tageblatt
in seinem Kommentar eine genauere Klärung der kaiserlichen Position in der
Reichsverfassung und mehr Sparsamkeit bei Festen und Militärausgaben.236
Den kritischsten Geburtstagsgruß unter den bürgerlichen Blättern richtete
sicherlich die nationalliberale Rheinisch-Westfälische Zeitung an den Kaiser:
„seine Arbeitsmethode sei verfehlt gewesen, sein Wirken ohne Erfolg geblieben,
seine Erwartung nicht in Erfüllung gegangen.“237 Eher subtilen Spott zeigte die
Berliner Illustrirte Zeitung, die statt der Feierbilder vom 50. Geburtstag vor
allem Kinderfotos von ihm abdruckte und ein Kostümbild im Schottenrock von
ihm in der Mitte (vgl. Abb. 11).238 Damit zementierten sie fotographisch jenes
Bild des unmündigen Monarchen, das die Skandale zuvor etabliert hatten.
233
234
235
236
237
238
Ritter, Der Reichstag, S. 915.
Winzen, Kaiserreich, S. 70–73.
Zimmermann an Bülow 21. 11. 1908, in: BA/K, 1016-32-124.
Berliner Tageblatt 27. 1. 1909, S. 1.
Zit. in: Berliner Tageblatt 27. 1. 1909, Abend.
Berliner Illustrirte Zeitung 24. 1. 1909, S. 3.
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417
Abb. 12: Der unmündige Monarch im Bild. Nach der Daily-Telegraph-Affäre zeigt die
Berliner Illustrirte Zeitung (Nr. 4 27. 1. 1909, S. 3) Wilhelm II. zu seinem fünfzigsten
Geburtstag vor allem als Kind und als Rockträger in schottischer Verkleidung.
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VI. Entzauberte Monarchen
5. Zwischenfazit
Mit Edward VII. und Wilhelm II. bestiegen im ausgehenden 19. Jahrhundert
zwei Monarchen den Thron, die die Öffentlichkeit nicht scheuten und schon
früh einer gesteigerten medialen Beobachtung ausgesetzt waren. Wie die Analyse
der deutschen und britischen Monarchie-Skandale jedoch zeigte, trafen sie frühzeitig auf recht unterschiedliche öffentliche Erwartungen an die Krone, die
Normen für ihr Verhalten prägten. In Großbritannien war die Monarchie vor
allem einer moralischen Kritik ausgesetzt, die in gewisser Weise an das Narrativ
der französischen Halsbandaffäre anknüpfte. Der Bruch der monogamen Ehe,
die finanzielle Verschwendung oder das Glücksspiel bildeten allesamt Themen,
bei denen bürgerlich-puritanische Normen ebenso spöttisch wie nachdrücklich
an den Monarchen herangetragen wurden. Gerade weil sich das britische Königshaus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker aus der Politikgestaltung
zurückgehalten hatte, verlagerten sich die Aufmerksamkeit, die Anforderungen
und das mögliche Potential für Skandale auf Fragen der moralischen Lebensführung. Der spätere König Edward VII. wurde deshalb schon lange vor seinem
Thronantritt durch Skandale auf die Rolle eines moralischen Vorbildes festgelegt. Dagegen wiesen in Deutschland moralische Fragen eine vergleichsweise
geringe Bedeutung auf. Dies erklärt sich nicht nur durch die deutsche Pressezensur, sondern vor allem durch die größeren politischen Gestaltungsspielräume der Monarchen, die eher politische Skandalisierungen begünstigten. Die
deutschen Skandale schrieben daraufhin die Rollenerwartung fest, dass der
Monarch sich aus der Tagespolitik heraushalten solle.
Während die Monarchie in den letzten Lebensjahren von Wilhelm I. und
Queen Victoria gerade durch die Medienöffentlichkeit an Glanz gewonnen
hatte, trugen die Skandale in beiden Ländern zur Entzauberung der Thronfolger
bei. Die Skandale hinterfragten deren Verhaltensweisen, durchbrachen ihre
Selbstinszenierung und verspotteten diese. In Großbritannien geschah dies über
Veröffentlichungen aus Privatbereichen, die auch und gerade für das Königshaus nicht als privat gelten sollten. Die Publikation privater Briefe des Prince of
Wales oder die Berichte über seine stets mitgeführten Spielsteine banalisierten
den Thronfolger. In Deutschland kam es dagegen zu Veröffentlichungen über
bisher eher arkane politische Handlungsabläufe, die Wilhelm II. als unselbständige und unmündige Figur erscheinen ließen. Bereits die mehrfache Offenlegung
von Berater- und Kontrollsystemen, die das politische Handeln des Monarchen
eingegrenzten, raubte ihm den Nimbus eines souveränen Herrschers.
Stärker als bei allen anderen Skandaltypen unterschieden sich die sprachlichen
Formen, in denen in den beiden Ländern während der Skandale über die Monarchen gesprochen wurde. Während in Großbritannien frühzeitig Zeitungskommentare mit mahnenden Worten direkt den Monarchen kritisierten, wiesen
die deutschen Skandale noch in den 1890er Jahren eine spielerisch-versteckte
Sprache auf, die an die Zeit des Vormärzes erinnerte, aber das Tor zu expliziten
Formulierungen öffnete. Erst nach 1900 etablierte sich auch in der deutschen
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5. Zwischenfazit
419
Tagespresse eine direktere Kritik. Ebenso verlagerte sich erst in dieser Phase die
stellvertretend artikulierte Empörung über die schlechten Ratgeber des Kaisers
schrittweise auf den Monarchen selbst. In beiden Ländern zeigten sich dabei die
geringen Kontrollmöglichkeiten, die die Monarchen gegenüber den Medien bei
den Skandalen besaßen. In Großbritannien ließ sich der Skandal nicht dadurch
abmildern, dass der Prince of Wales im Kreuzverhör privilegiert behandelt wurde. Und obgleich in Deutschland rigide Zensurmöglichkeiten bestanden, sahen
der Kaiser und sein Umfeld bereits seit den 1890er Jahren Prozesse gegen
Journalisten als problematisch an, da sie die Dynamik der Skandale intensivierten, so dass seit der Jahrhundertwende zunehmend auf Verfolgungen verzichtet wurde.
Nicht bestätigen ließ sich die Annahme, dass die britischen Monarchieskandale stärker durch einen investigativen Journalismus angestoßen und geprägt
wurden. Bei den hier untersuchten Skandalen bildeten wie bei andere Skandaltypen Gerichtsprozesse, in die das Königshaus verwickelt war, den Anstoß und
die Quellenbasis für kritische Enthüllungen. Über moralische Normverstöße,
die zumindest als Gerücht wohl bekannt waren, recherchierte und veröffentlichte hingegen auch die britische Presse des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht
eigenständig. Selbst einzelne abseitig veröffentlichte Andeutungen über derartige Normbrüche griff die Mehrheit der Tagespresse nicht auf, um die Krone
nicht zu diskreditieren. Und nicht zufällig konzentrierten sich die Skandale vor
allem auf den Prince of Wales, während das Verhalten der regierenden Monarchin zwar kritisiert, aber eben kaum skandalisiert wurde. Monarchie-Skandale,
die aus Prozessen heraus entstanden, wurden in Deutschland dagegen bereits
dadurch verhindert, dass eine gerichtliche Vernehmung eines führenden Mitgliedes des Königshauses undenkbar blieb. Den Anstoß für die MonarchieSkandale gaben in den 1890er Jahren vielmehr konservative Eliten, die verdeckt
ihre Kritik am Verhalten des Monarchen und seines Umfeldes artikulierten, was
dann wiederum von der restlichen Presse in einer offeneren und kritischeren
Form aufgegriffen wurde. Auf diese Weise trug die deutsche Presse durchaus
entscheidend dazu bei, die Skandale auszulösen.
Die Orte, an denen sich bei den Skandalen die Empörung äußerte, veränderten sich im 19. Jahrhundert. Während sie sich in der ersten Jahrhunderthälfte
nicht nur über Medien, sondern auch häufiger durch Proteste in der Straßenöffentlichkeit artikulierte, blieben diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert
bei Monarchie-Skandalen eher die Ausnahme, auch wenn einzelne Fälle zu Protestversammlungen führten. Stattdessen formulierten die Presse und die Parlamente stellvertretend die Empörung, wobei die emotionale Monarchiekritik im
Zuge der Skandale die Grenzen von politischen Milieus überwand. Im Vergleich
zu anderen Skandaltypen war das Parlament jedoch bei den Monarchie-Skandalen in beiden Ländern weniger aktiv beteiligt als die Presse. Kritik am König
wurde aus Rücksicht auf die Monarchie kaum originär von den Abgeordneten
aufgebracht. Diese verstärkten in diesem Skandalfeld eher die Debatten in der
Presse.
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VI. Entzauberte Monarchen
Die Skandale standen in beiden Ländern für den Versuch, die Monarchen zu
erziehen. Auch bei starken Befürwortern der Monarchie galten die Skandale oft
als verdiente Lektionen. Die kritischen Zeitungsartikel der bürgerlichen Zeitungen sahen sie als pädagogisches Mittel und bittere Medizin, um den Monarchen oder Prinzen auf den rechten Weg zu bringen. Damit galt nicht mehr das
Königshaus als Vorbild und Erzieher des Volkes, sondern umgekehrt die Öffentlichkeit als Mentor der Monarchen, die der politischen oder moralischen
Lenkung bedurften.
Die Folgen der Monarchie-Skandale mögen auf den ersten Blick vergleichsweise gering erscheinen, da sie nur selten zum Rücktritt der Monarchen oder zu
direkten Reformen im Verfassungsgefüge führten. In beiden Länder erschien jedoch die zunehmend artikulierte Drohung, die Monarchie verspiele durch die
skandalisierten Normverstöße ihre Existenzberechtigung, nicht folgenlos. Dies
galt insbesondere, weil die Skandale den Monarchen moralische und politische
Grenzen setzten und ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit veränderten.
Besonders in Deutschland legte die zunehmende Häufigkeit und Intensität der
Skandale seit den 1890er Jahren dem Monarchen und seinem politischen Umfeld nahe, sich allmählich den öffentlichen Forderungen anzupassen. Insofern
formten die Skandale eben nicht nur kollektive Deutungen über die Monarchen,
sondern auch deren Auftreten und Handeln.
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VII. KORRUPTION UND BEREICHERUNG IM
VORFELD DES KRIEGES
1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien
In Deutschland entstehen heute die meisten Skandale durch Korruption oder
finanzielle Begünstigungen. Obgleich die Praxis der Korruption denkbar alt ist,
bot sie jedoch nicht immer das gleiche Potential für Skandale. Vielmehr beruhen
auch Korruptionsskandale auf variablen Normen, die sich in der Neuzeit spürbar veränderten. In der Frühen Neuzeit, als der Ämterkauf oder Geschenke an
„Beamte“ vielfach eine etablierte Praxis waren, bedeutete dies zumeist kein
skandalfähiges Vergehen. Allerdings gab es, je nach regionaler Entwicklung, bereits im 17. und 18. Jahrhundert Proteste gegen korrupte Praktiken, was bereits
eine Ausdifferenzierung der zeitgenössischen Normen dokumentiert. So zeigten
die unter dem Schlagwort der „Corruption“ geführten englischen Proteste und
Verurteilungen der 1720er Jahre nicht allein eine Zunahme der Korruption, sondern auch ein verändertes Gesellschafts- und Verfassungsverständnis. Mit der
Klage über die Korruption forderten die Kritiker politische Normen ein, die
sich gegen Privilegierungen, Unproduktivität und Verantwortungslosigkeit
richteten.1
Da sich die Praxis der Korruption, ihre Bewertung und die Bedeutung des
Begriffes im Laufe der Geschichte veränderten, bedarf es zunächst einer analytischen Definition des Wortes. Im Anschluss an die Fachliteratur lässt sich Korruption zunächst als Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Nutzen
beschreiben.2 Korruption sollte man dabei weder auf Geldgeschenke noch auf
Gesetzesbrüche verkürzen. Vielmehr kann sie bei jeder persönlichen Vorteilnahme und beim Bruch der moralischen Normen der Zeit vorliegen, auch wenn
dies nicht strafbar war. Da sich diese Normen wandelten, musste regelmäßig
öffentlich ausgehandelt werden, was jeweils als korrupt galt oder noch zulässig
1
2
Zu den Antikorruptionsdiskursen, die von Machiavelli, von protestantisch geprägten Leistungsidealen und von republikanischen Ideen zehrten, vgl. Isaac Kramnick, Corruption in
Eighteenth-Century English and American Political Discourse, in: Richard K. Matthews
(Hrsg.), Virtue, Corruption and Self-Interest. Political Values in the Eighteenth Century, London 1994, S. 55–75; Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen
Verfassung im 18. Jahrhundert, in: HZ 234 (1982), S. 33–62. Wichtige Anregungen gibt der
Überblick von: Engels, Politische Korruption.
Vgl. etwa die Definitionen in: Susan Rose-Ackerman, Corruption and Government. Causes,
Consequences, and Reform, Cambridge 1999, S. 9; Arnold Heidenheimer, Parties, Campaign Finance and Political Corruption. Tracing Long-Term Comparative Dynamics, in: ders.
und Michael Johnston (Hrsg.), Political Corruption. Concepts and Contexts, New Brunswick und London 2002, S. 764; Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in
der Geschichte des Parlamentarismus, in: Ebbighausen und Neckel (Hrsg.), Anatomie des
politischen Skandals, S. 130–148, S. 133.
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422
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
erschien. Gerade dies macht Korruption zu einem wichtigen historischen Untersuchungsfeld, da sie die sich wandelnden Normen über die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft zeigt.
Was das Wort „Korruption“ jeweils umschrieb, variierte begriffsgeschichtlich
mitunter stark. Zudem unterschied sich der Korruptionsdiskurs von Land zu
Land. Dies zeigt auch ein vergleichender Blick auf Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. In Großbritannien entwickelten sich frühzeitig intensive Debatten über das korrupte Verhalten von Adel, Regierung und Administration. Der Kampf gegen die Old Corruption bildete besonders Ende des 18.
und Anfang des 19. Jahrhunderts das zentrale Thema einer kritischen Öffentlichkeit, die Reformen einforderte. Vor allem für die Publizisten der Radical
Press, die in den 1810ern expandierte, war dies der zentrale Kampfbegriff. In
enthüllenden Publikationen listeten sie detailliert ungerechtfertigte Einkommen
ohne Gegenleistung auf.3 Der Begriff Old Corruption bezog sich dabei auf unterschiedliche Bereiche. Im weitesten Sinne konnte er auf alle politischen Missstände verweisen, wie die Machtanmaßung der Krone oder die Verschwendung
von Steuergeldern. Im engeren Sinne bezog er sich vor allem auf Patronage, Bestechung, Wahlbeeinflussung und die Vergabe von lukrativen Ämtern und Pensionen ohne adäquate Gegenleistungen.4 Die starke öffentliche Resonanz dieser
Proteste gegen die Old Corruption förderte zwischen 1780 und 1840 zahlreiche
Reformen – etwa eine Reduzierung der Patronage und des Titel- und Ämterverkaufs, die Ausdehnung des Wahlrechtes, die Senkung der Regierungskosten und
letztlich eine Minderung des monarchischen Einflusses zugunsten des Parlaments. Zudem entstanden neue Verhaltensregeln für Politiker, die eine Trennung
von privaten und öffentlichen Interessen einforderten. Skandale wie die Duke of
York Affair 1809, die von dem prominenten Journalisten William Cobbett ausging, gaben hierfür entscheidende Anstöße.5
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese britische Debatte. Vorwürfe im Sinne der Old Corruption spielten öffentlich eine deutlich geringere
Rolle. Opposition und Presse suchten vielmehr konsensuale Lösungen für
punktuelle Probleme.6 Den öffentlich weiterhin virulenten Vorwurf der „Corruption“ bezogen die viktorianischen Medien vor allem auf Wahlbestechungen,
bei denen die Wähler Vorteile aus ihrem öffentlichem „Amt“ zogen. Bis in die
1860er Jahre barg die in Großbritannien besonders auf dem Land übliche Wählerbeeinflussung durch Geld, Geschenke oder Verköstigungen jedoch kaum Potential für folgenschwere Skandale. Insbesondere für adelige Abgeordnete blieb
3
4
5
6
Vgl. bes.: o. V., The Black Book, or: Corruption Unmasked, London 1820; Harling, The
Waning of „Old Corruption“.
Für eine weite Definition plädiert deshalb: W. D. Rubinstein, The End of the Old Corruption
in Britain 1780–1860, in: Past & Present 101 (1983), S. 55–86.
Vgl. generell zu diesen Reformen aufgrund der Kampagnen: Harling, The Waning of Old
Corruption. Als Fallstudie zudem: ders., The Duke of York Affair (1809) and the Complexities
of War Time Patriotism, in: Historical Journal 39 (1996), S. 936–984.
Harling, The Waning of Old Corruption, S. 259.
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1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien
423
der gesellschaftliche Ansehensverlust gering, wenn unterlegene Kandidaten Bestechungen öffentlich anprangerten. Erst die Wahl 1865 leitete umfangreiche
Untersuchungen ein, die sich 1868 in Gesetzen gegen die Wahlkorruption niederschlugen, die Wahlentscheidungen mit Bestechungen für ungültig erklärten.7
Die Debatte um die Wahlbestechungen führte dazu, dass der Begriff „Corruption“ bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Medien an noch stärkerer
Präsenz gewann. In der Times fiel das Wort bereits seit dieser Zeit im Schnitt in
jeder zweiten Ausgabe.8
Wie bei anderen Skandalfeldern etablierten sich durch diese Reformdebatten
schrittweise Erwartungshaltungen an die Politiker. Diese mündeten seit den
1880er Jahren in umfassende Skandalisierungen. Dabei waren es weniger die
Enthüllungen von Journalisten als der Report einer Royal Commission über die
korrupten Praktiken bei der Wahl 1880, der zu einer breiten öffentlichen Empörung, Gesetzesreformen mit harten Strafen und einer Begrenzung der Wahlausgaben führte. Tatsächlich sank so die Zahl der wegen Bestechung angefochtenen
Wahlkreise deutlich.9 Wie bei der Old Corruption-Debatte zeigte dies, dass in
Großbritannien nicht nur Korruptionsvorwürfe eine große Rolle spielten, sondern die Regierungen hierauf auch mit Reformen antworteten, um Korruptionsskandale zu verhindern.
Größere politische Korruptionsskandale blieben in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts in Großbritannien selten – besonders im Unterschied zu
Frankreich. Neben den Reformen minderte besonders die zurückhaltende Präsenz des Staates das Potential für Skandale. Natürlich traten dennoch einzelne
Fälle auf. So entstand 1849 ein Skandal um den Eisenbahnkönig George Hudson,
als dessen verdeckte Ankäufe von anderen Gesellschaften und seine unredlichen
Aktienspekulationen bekannt wurden. Ein Abgeordneter warf ihm zudem die
Bestechung von Politikern vor. Allerdings richtete sich die öffentliche Empörung in den Zeitungen vor allem gegen seine Bereicherung auf Kosten der
kleinen Aktienbesitzer.10 In den Jahrzehnten nach 1850 fanden sich in den
Zeitungen immer wieder Artikel, die einzelne korrupte Handlungen oder Ver7
8
9
10
Hierzu entstanden frühzeitig grundlegende Studien; vgl. Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1868–1911, Oxford 1962, S. 26 u. 49–53; William
B. Gwyn, Democracy and the Cost of Politics in Britain, London 1962; John B. King,
Socioeconomic Development and the Incidence of English Corrupt Campaign Practices, in:
Arnold J. Heidenheimer (Hrsg.), Political Corruption. Readings in Comparative Analysis,
New York u. a. 1970, S. 379–390.
Häufigkeit des Wortes corruption in der Times 1786–1985; eigene Auswertung Times Digital
Archive.
So O’Leary, The Elimination, S. 230; Gwyn, Democracy, S. 91 f. Dennoch sind auch danach in
den britischen Archiven weiterhin Fälle von Wahlbestechung dokumentiert, auf die hier nicht
eingegangen werden kann; vgl. etwa TNA, HO 45/9883/B16523; ebd., CO 873/29; ebd., ASSI
72/25/9.
Vgl. Times 1. 3. 1849, S. 4; 9. 4. 1849, S. 3; 1. 5. 1849, S. 4. Von den zahlreichen Studien zu Hudson
vgl. zuletzt: Robert Beaumont, The Railway King. A Biography of George Hudson, London 2002, bes. S. 126–135.
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424
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
untreuungen von Staatsbediensteten anprangerten. So machte die Times 1865
öffentlich, ein Mitarbeiter hätte in einem Patentamt jahrelang insgesamt einige
hundert Pfund unterschlagen und sprach deshalb von „corruption“.11 Das Potential für einen größeren oder gar politischen Skandal bot der Fall freilich nicht.
Dass er trotz seiner Marginalität solche Beachtung fand, zeigte vielmehr das
Fehlen größerer Normbrüche.
Die Zahl der Korruptionsvorwürfe nahm mit der Etablierung der Massenpresse in den 1880er Jahren in Großbritannien deutlich zu. Sie bezogen sich auf
bis heute typische Korruptionsbereiche – etwa bei Bauaufträgen in den Kommunen oder im Sport.12 Spektakuläre Skandale entstanden daraus jedoch selbst
in den 1880er Jahren kaum, soweit der bisherige Forschungsstand und die
Quellen diesen Schluss zulassen. Im Unterschied zu Frankreich betrafen die
Vorwürfe weder Spitzenpolitiker noch handelte es sich um vergleichbare Bestechungssummen. Zudem reagierte die Regierung schnell, indem sie die Fälle
durch Kommissionen untersuchen ließ und gleich mit Gesetzesreformen antwortete. Vor allem der 1889 auf den Music Hall-Skandal folgende Prevention
of Corruption Act bestrafte jede Form von Zuwendungen an öffentliche Bedienstete mit bis zu zwei Jahren Haft.13 Im späten 19. Jahrhundert war Korruption damit in Großbritannien ein Phänomen, bei dem die Öffentlichkeit den
Staat zu einer fortlaufenden flexiblen Anpassung an sich ändernde Normen
zwang.
Anders verlief die Entwicklung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Im Vergleich zu Großbritannien spielten bis 1870 öffentliche Korruptionsvorwürfe
nur eine untergeordnete Rolle. Der Begriff „Corruption“ war so wenig etabliert, dass er sich in vielen Lexika der Zeit nicht fand oder kaum beschrieben
wurde. Selbst bei den revolutionären Bewegungen von 1848 standen Korruptionsvorwürfe nicht im Mittelpunkt. Im Sprachgebrauch bedeutete Korruption
noch um 1900 nicht unbedingt Bestechung, sondern generell schwere Verfehlungen, (sittliche) Verdorbenheit oder schlechte Beeinflussungen. So wurde Maximilian Hardens Kampagne gegen die homosexuellen Freunde um Wilhelm II.
als Kampf gegen die Korruption gesehen.14 Von Korruption im engeren Sinne
sprachen die deutschen Lexika nur, wenn sie die politische Geschichte anderer
11
12
13
14
Zu diesem sog. „Edmund-Scandal“ vgl. Times 15. 3. 1865, S. 9 und 23. 3. 1865, S. 14.
Vgl. den „Wimbledon-Scandal“, Times 18. 9. 1880, S. 9 oder den „Cricket Scandal“, Times
15. 5. 1882, S. 12. Zur Korruption etwa beim kommunalen Bau der 1880er, etwa von Music
Halls, vgl. bereits: Doig, Corruption 1984, S. 70–72. Beispiele zur Thematisierung von Alltagskorruption auch in: Phil Fennell und Philip A. Thomas, Corruption in England and
Wales. A Historical Analysis, in: International Journal of the Sociology of Law 11
(1983), S. 167–189.
Doig, Corruption, S. 79.
Hamburger Correspondent Nr. 205, 23. 4. 1908. Brockhaus’ Konversations-Lexikon
1898 hat nur den Eintrag „korrumpieren“, hinter dem Korruption mit „Verderbnis, Bestechlichkeit“ übersetzt wird; Meyers Konversationslexikon fasst sie 1888 als „Verdorbenheit,
Sittenverderbnis, besonders Bestechlichkeit.“
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1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien
425
Länder beschrieben wie die der USA, Englands oder Frankreichs.15 Neuere Arbeiten über deutsche Beamte im frühen 19. Jahrhundert lassen vermuten, dass
die Korruption im Deutschen Bund auch alltagsgeschichtlich eine vergleichsweise geringe Bedeutung hatte.16 Erklären lässt sich dies erstens mit der Selektion und Privilegierung der deutschen Beamten, die sich in ihrer guten Besoldung
niederschlug. Zweitens bestand in Deutschland frühzeitig eine Gesetzgebung,
die entsprechendes Fehlverhalten ahndete. Das galt sowohl für das Preußische
Allgemeine Landrecht von 1794, den in Süddeutschland übernommenen Regelungen des Code Napoléon und das Strafgesetzbuch von 1871. Immerhin sah
das Strafgesetzbuch für die aktive Bestechung bis zu fünf Jahre Haft vor (§ 332).
Drittens begrenzte, wie bei anderen Normbrüchen, die späte Ausbildung einer
parlamentarischen Opposition, öffentlicher Gerichtsprozesse und einer freien
Presse eine Thematisierung etwaiger Korruption. Viele Handlungen der deutschen Monarchen und Regierungen, wie etwa Bismarcks Umgang mit dem Reptilienfonds aus dem Welfenvermögen, konnten die Medien deshalb zunächst nur
im begrenzten Maße recherchieren und öffentlich anklagen. In Großbritannien
wäre derartiges ausführlich als Old Corruption attackiert worden.
Auch bei preußischen Beamten kam es mitunter zu regelwidrigen Verhaltensweisen, die zu Skandalen führten, die internationale Beachtung fanden. Dies galt
etwa für den Skandal um den Berliner Chef der Exekutiv-Polizei 1861, der
falsche Papiere ausgestellt hatte. Daraufhin warf die Presse dem Polizeipräsidenten und dem Innenminister vor, den Fall gedeckt und die Flucht ermöglicht
zu haben, weshalb die Zeitungen selbstbewusst deren Rücktritt forderten. Sie
deuteten das „öffentliche Ärgernis“ bereits als Zeichen einer „Staatskrankheit“,
weshalb nur mit grundsätzlichen Personal- und Strukturreformen das „Vertrauen“ wieder hergestellt werden könnte.17 Die Berichte über die Stadtgespräche
und die Menschenaufläufe bei der Überführung des verhafteten Polizeichefs belegen, dass der Fall zudem in der Öffentlichkeit der alltäglichen Begegnungen
eine größere Empörung hervorrief.
Ähnlich wie Großbritannien führte auch in Deutschland die Medialisierung
und vorsichtige Demokratisierung der Gesellschaft im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Korruption.
Ebenso wie in den westlichen Nachbarländern barg der rasante, von monopolartigen Strukturen geprägte Eisenbahnbau Potential für Korruptionsskandale.
15
16
17
Vgl. im Meyers Konservationslexikon 1888 Einträge wie Belknap, Butler, Frankreich (Geschichte: Julirevolution, Ludwig Philipp), Grant, Hayes, Vereinigte Staaten (Geschichte 1874–
1889).
Zumindest spielt in den Arbeiten Korruption eine untergeordnete Rolle; vgl. Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten
in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830), Göttingen 1999, S. 191; Joachim Eibach, Der
Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M.
1994, S. 41.
Vgl. täglich Vossische Zeitung ab 8. 5. 1861, zit. 15. 5. 1861, S. 1; auch in: Times 17. 5. 1861,
S. 10.
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Bekannt sind die Korruptionsvorwürfe, die der liberale Abgeordnete Eduard
Lasker 1873 im Preußischen Abgeordnetenhaus gegen den Eisenbahnkönig
Bethel Henry Strousberg und einige hohe preußische Beamte richtete.18 Tatsächlich mussten Handelsminister Heinrich August von Itzenplitz und der Vortragende Rat im Staatsministerium, Wagener, ihre Ämter niederlegen, nachdem
Lasker dem Rat Bereicherung im Amt beim Handel mit Eisenbahn-Konzessionen vorgehalten hatte. Unverkennbar handelte es sich dabei um eine politische Skandalisierung, zumal sich Laskers Enthüllungen vor allem gegen
Bismarck und seine Minister richteten. Auf den Kanzler richteten sich auch die
Angriffe der politischen Rechten gegen das Finanzgebaren seines Bankier Gerson von Bleichröder, die dem Kanzler vor allem im so genannten „Ära-Artikel“
der „Kreuzzeitung“ unlautere Finanztransfers vorhielten.19 Wie in Großbritannien kam es in Deutschland zudem zu Protesten gegen die Wahlbeeinflussung
durch Beamte, Pastoren und Unternehmer, die allerdings weniger über Geschenke als Drohungen verlief.20
Seit den 1890er Jahren häufte sich auch in Deutschland die öffentliche Empörung über die Korruption in der deutschen Bürokratie. Das lag zunächst erneut
am Aufkommen der sozialdemokratischen Presse. Der Vorwärts scheute keine
Berichte über Korruption in der deutschen Politik und verglich etwa Bismarcks
Umgang mit dem Welfenfonds mit den Bestechungen im französischen Panamaskandal oder italienischen Skandalen.21 Allerdings dauerte es, bis die bürgerliche
Öffentlichkeit derartige Beschuldigungen wahrnahm, zumal der Vorwärts kaum
direkte Belege vorbringen konnte. Der Thema Korruption wanderte zudem
durch die Rezeption ausländischer Skandale in die deutsche Presse. So thematisierten die relativ wenigen Berichte über Korruption in der auflagenstärksten
wilhelminischen Zeitschrift, der Berliner Illustrirten Zeitung, insbesondere die
Korruption in den USA, wo der investigative Muckracking-Journalismus um
1900 zahlreiche entsprechende Verstöße aufdeckte.22
18
19
20
21
22
Vgl. Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. München 1991, S. 172–177; knapp zur Biographie: Ralf Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs
Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 86–112. Recht ähnlich und
ebenfalls antisemitisch geprägt war in Frankreich die Affäre Raynal; vgl. Bruno Marnot, Un
scandale parlamentaire oublié. L’Affaire Raynal (1888–1895), in: Journal du Midi 114 (2002),
S. 331–349.
Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt a. M.
1978, bes. S. 609–616.
Vgl. Robert Arsenschek, Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf
2003.
Vgl. etwa Vorwärts Nr. 27, 1. 2. 1893.
Zum Aufkommen dieses Muckraking-Journalism vgl. Robert Miraldi, Muckraking and
Objectivity. Journalism’s Colliding Traditions, New York 1990. Als deutsche Rezeption vgl.
etwa den Artikel „New Yorker Polizei-Korruption“, Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 16,
19. 4. 1903.
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1. Korruptionsdiskurse in Deutschland und Großbritannien
427
Das Thema Korruption trat zudem in Verbindung mit anderen Skandalthemen an die Öffentlichkeit. So schufen der britische und deutsche Kolonialismus nicht nur zahlreiche neue Gelegenheiten für korruptes Verhalten. In
beiden Ländern förderte er auch die Thematisierung von Korruption, die zum
Arsenal der Kolonialkritik gehörte, um die Regierungen zu treffen. Die bereits
analysierten britischen Kampagnen gegen Kynoch oder die Abwicklung der
Kriegsbestände zeigten dies ebenso wie die bereits untersuchten deutschen
Skandale um Tippelskirch oder Woermann.23 Dabei setzte sich insbesondere in
Großbritannien der Verweis auf den Steuerzahler durch, auf dessen Kosten
Gelder verschwendet würden. Ebenso machten die Sexualitätsskandale
korrupte Handlungen öffentlich, die die Ermittlungen von Polizei und Justiz
behinderten; sei es, weil Zeugen, wie im Cleveland Street-Skandal, Geld für
ihre Flucht erhielten, sei es, dass Polizisten, wie im Fall Sternberg, durch
Bestechungsgelder auf Ermittlungen verzichteten, Falschaussagen machten und
andere Polizisten zu bestechen versuchten. Die Aufdeckung der Bestechung
eines deutschen Kommissars empörte in diesem Skandal die deutsche Öffentlichkeit sogar mehr als der Missbrauch der jungen Mädchen durch den Bankier.24
Fasst man die Voraussetzungen für Korruptionsskandale in beiden Ländern
zusammen, so sind die Unterschiede unverkennbar. In Großbritannien war der
Vorwurf der Korruption seit langem etabliert und eine Selbstreinigung durch
Reformen erprobt. In Deutschland erhielt der öffentliche Vorwurf dagegen erst
Ende des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung, nachdem bislang eher auf
die Integrität der Bürokratie vertraut wurde. Während in Großbritannien die
Kampagnen gegen die Old Corruption Reformen einleiteten, die den Staatseinfluss eher schwächten, sorgten die deutschen Reformen im 18. Jahrhundert für
seine Stärkung.25 Dies schuf unterschiedliche Ausgangsbedingungen für spätere
Skandale: In Großbritannien drehten sich die Skandale eher um den Aktienhandel von Politikern, in Deutschland dagegen um korrupte Beziehungen zwischen
der Bürokratie und Unternehmen mit einer monopolartigen Stellung und engen
Verbindungen zum Staat.
Gemeinsam war der deutschen und der britischen Öffentlichkeit, dass sie sich
beide von Frankreich abgrenzten, das ihnen als Hort der Korruption galt. Insbesondere der Panama-Skandal Anfang der 1890er Jahre, bei dem die Gesellschaft zum Bau des Panama-Kanals zahlreiche Minister, Abgeordnete, Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bestochen hatte, erwies sich
23
24
25
Vgl. Kap. IV. 3 und 6.
Der bestochene Kommissar Thiel bot dabei Kommissar Stierstädter dabei 15 000 Mark sofort
und weitere 70 000 bei Sternbergs Freisprechung an; Urteil Staatsanwalt 21. 12. 1900, in: GStA,
HA I Rep 84a Nr. 57914.
Vgl. Eckhart Hellmuth, Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements
in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: T. C. W. Blanning
und Peter Wende (Hrsg.), Reform in Great Britain and Germany 1750–1850, Oxford 1999,
S. 5–23.
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
in beiden Ländern als der entscheidende Referenzpunkt.26 Der Panama-Skandal
diente nicht nur der Abgrenzung, er schuf auch Vorstellungen über mögliche
korrupte Verschwörungen im eigenen Land. So klagte etwa ein Professor in der
intellektuellen Neuen Deutschen Rundschau mit Blick auf den Panama-Skandal,
in allen westlichen Ländern würde die Börse die Parlamente und die Presse korrumpieren.27
In beiden Ländern kulminierten die Korruptionsvorwürfe in den Jahren vor
dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in größeren politischen Skandalen. Im
Vordergrund standen dabei zwei Fälle, die durchaus vergleichbare Strukturen
hatten und sich auch deshalb für eine exemplarische Analyse anbieten: Der Marconi-Skandal von 1912 in Großbritannien, der im Kontext einer langfristigen
Kampagne der Konservativen gegen die Liberalen stand, und der KornwalzerSkandal um Krupp 1913 in Deutschland, der sich ebenfalls aus einer langfristigen Kampagne der Sozialdemokraten entwickelte.
2. Konservative Kampagnen gegen RADICAL PLUTOCRATS
Die zahlreichen Korruptionskampagnen in Großbritannien, die in den Jahren
vor dem Ersten Weltkrieg auftraten, waren erneut Ausdruck und Ergebnis starker politischer Veränderungen. Die Konservativen hatten zwei Jahrzehnte nahezu ununterbrochen die Regierung gestellt, als sie 1905 im Streit über Chamberlains protektionistische Zollreform auseinanderbrachen, worauf eine desaströse
Wahlniederlage und der Weg in die Opposition folgte.28 Während bislang vor
allem die moralische Kritik der liberalen Journalisten und Politiker Skandale
angestoßen hatte, versuchte nun die politische Rechte, die liberale Regierung
mit ähnlichen Vorwürfen zu diskreditieren. Da die Einheit der Tories durch den
Zollstreit und die Wahlniederlage gefährdet schien und ihr Vorsitzender Arthur
Balfour kaum noch Autorität hatte, versprachen scharfe emotionale Kampagnen gegen die Liberalen neuen Zusammenhalt. Besonders der neue Tory-Vorsitzende Bonar Law setzte seit 1911 ganz auf eine polarisierende Agitation gegen
die liberale Regierung, um die neu zusammengeschlossenen Konservativen und
Unionisten zu einen.29 Gleichzeitig rivalisierten die Liberalen nun mit einer
wachsenden Zahl an Labour-Abgeordneten, deren Fraktion 1906 nach der
offiziellen Gründung der Partei auf 29 Sitze angestiegen war. Die zahlreichen
26
27
28
29
Vgl. als einführend zum Panama-Skandal: Pierre-Alexandre Bourson, L’affaire Panama,
Paris 2000; Jean Bouvier, Les deux scandales de Panama, Paris 1964.
J. Platter, Die Corruption, in: Neue Deutsche Rundschau 7 (1896), S. 97–114.
Zu dieser Wahlniederlage vgl. Russell, Liberal Landslide. Nachdem sie lange Zeit Balfour
angelastet wurde, betonte E. H. H. Green ihre Ursache in einem längerfristigen Niedergang
der Konservativen seit den 1890er Jahren; E. H. H. Green, The Crisis of Conservatism. The
Politics, Economics and Ideology of the British Conservative Party, 1880–1914, London 1995,
S. 308 f.
Green, The Crisis of Conservatism, S. 310.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
429
Krisen und politischen Reformversuche der Liberalen verschärften um 1910 das
ohnehin polarisierte Klima zusätzlich. Insbesondere die Steuerreform, die Entmachtung des Oberhauses, die Arbeiterstreiks, die komplizierte internationale
Lage im Vorfeld des Krieges und der erneute Versuch, die irische Home Rule
umzusetzen, sorgten für äußerst emotionale und scharfe Kämpfe zwischen den
Parteien. Dabei richtete sich die liberale Reformpolitik im hohen Maße gegen
die „landed interest“ des Adels, was die durch die Labour Partei gefährdeten
Arbeiterstimmen sichern sollte. Gerade um diese Stimmen rangen nun aber auch
die Konservativen mit ihren Kampagnen.
Die bisherige liberale Korruptionskritik an den Konservativen hatte zudem
die moralische Messlatte der neuen Regierung recht hoch gelegt. Besonders die
linksliberale Kritik an Chamberlain, wie sie Lloyd George vorgebracht hatte,
prägte Erwartungen. Das gleich nach dem Regierungswechsel verabschiedete
Korruptionsgesetz, mit dem die Liberalen nach dem War Stores Scandal ihren
Kampf gegen Bestechungen beteuerten, setzte weitere moralische Maßstäbe für
Politiker. Die neu gegründete Bribery Prevention League hielt das Thema mit
Vorträgen und massenhaft publizierten Schriften in der Öffentlichkeit.30 Wie
ernst die Liberalen das Thema Korruption nahmen, zeigte sich nicht zuletzt
darin, dass das Innenministerium alle Verurteilungen wegen Korruption zusammenstellte, um auf Anfragen vorbereitet zu sein.31
Die Antikorruptionskampagnen, mit denen sich die Konservativen seit 1906
profilierten, knüpften an die vorherigen der Liberalen an. Ebenso standen sie in
der Tradition der Old Corruption-Agitation hundert Jahre zuvor. Sie warfen
den Liberalen vor, seit ihrem Regierungsantritt ein korruptes Patronagesystem
entwickelt zu haben. Loyale liberale Unternehmer, die der Partei Großspenden
zukommen ließen, würden dafür Aufträge, Orden und Nobilitierungen erhalten. Einzelne fragwürdige Ehrungen, wie für einen Firmendirektor, der der
Marine defekte Ruder geliefert hatte, verbanden die Tories bereits 1907 mit der
generellen Frage, ob diese Auszeichnungen mit Spenden an den liberalen Parteifond zusammenhingen.32 Dies waren Vorwürfe, die die Konservativen bereits
während der kurzen liberalen Regierungszeit von 1892 und 1895 aufgebracht
hatten. Tatsächlich hatten seit den 1890er Jahren alle Parteien ihren stark gestiegenen Finanzbedarf mit dem indirekten „Verkauf“ von Titeln aufgebessert, die
an ihre Unterstützer gingen.33
Zudem verspotteten die Konservativen die Liberalen nun regelmäßig als Radical Plutocrats. Der Vorwurf der liberalen Doppelmoral sollte das eigene Image
30
31
32
33
Vgl. Searle, Corruption, S. 104.
Vgl. die Fälle in: Convictions under the Prevention of Corruption Act, in: TNA, HO
45/10909/R614.
Zum Einsetzen der Debatte vgl. Times 12. 7. 1907, S. 6 und 16. 7. 1907, S. 6.
Zur öffentlichen Kritik in den 1890er vgl. Times 1. 7. 1895, S. 9; Truth 38 (1895), S. 137. Zu den
Titelverkäufen der Parteien vgl. T. A. Jenkins, The Funding of the Liberal Unionist Party and
the Honours System, in: English Historical Review 105 (1990), S. 920–938; H. J. Hanham,
The Sale of Honours in Late Victorian England, in: Victorian Studies 3 (1960), S. 277–289.
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430
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
der Tories aufbessern, die Partei der Oberschicht zu sein.34 So karikierten die
parteinahen konservativen Blätter, wie die National Review und Our Flag, liberale Spitzenpolitiker als neureiche verschwenderische Millionäre. Lloyd George
stellten sie etwa als Villenbesitzer und Golfspieler in Nizza dar und Churchill
als Hummer- und Kaviaresser.35 Ebenso sprachen ihre Pamphlete vom „gigantic
wealth“ der „Radical Plutocrats“, die weit vermögender seien als die konservativen Politiker und deshalb erklären sollten, inwieweit sie von bestimmten Regierungsentscheidungen profitieren.36 In den Debatten verglichen die Konservativen die Bedrohung durch die „radikalen Plutokraten“ sogar explizit mit den
spektakulären Fällen der Old Corruption im 19. Jahrhundert.37 Auf diese Weise
etablierten sie mit suggestiven Bildern und Begriffen ein politisches Klima, das
für das Aufbringen von entsprechenden Skandalen eine wichtige Voraussetzung
war. Mit diesen Vorwürfen konnten die stark gespaltenen Konservativen unterschiedliche Schichten ansprechen. Der Angriff gegen die „radikalen Plutokraten“ appellierte gleichzeitig an die Ressentiments der alten Eliten gegenüber
sozialen Aufsteigern, an den moralischen Arbeitsethos von Mittelschichten und
an das Klassenbewusstsein von Unterschichten. Man wird diese Rhetoriken somit als ein wichtiges Element jener programmatischen Transformation der Konservation sehen müssen, die sich jenseits der „landed interest“ nun mit sozialen
Themen profilierten.38
Stärker noch als bei früheren Skandalen zeigte sich dabei ein Zusammenspiel
von Politik und Presse, das parteinahe Journalisten und Verleger wesentlich
vorantrieben. Das galt bereits für die Skandalisierung von liberalen Unternehmern. Dem Schokoladenfabrikanten Cadbury, der die Liberalen und ihre Daily
News wesentlich unterstützte, hielt etwa der konservative Standard vor, er
würde seinen Kakao durch Sklavenarbeit gewinnen. Leopold Maxses konservative National Review baute diesen Vorwurf modifiziert weiter aus und hielt dem
Philantropen Cadbury eine Doppelmoral vor, die sich in seinen Zeitungsinhalten niederschlage.39 Ebenso starteten Northcliffes Zeitungen eine Kampagne
gegen den Seifenfabrikanten William Lever, der ebenfalls einer der wichtigsten
34
35
36
37
38
39
So auch die explizite interne Begründung für die Kampagne; Maxse an Tryron o. D. (1912), in:
West Sussex Record Office, Maxse Papers 467.
Our Flag Febr. 1912, S. 26; National Review 60 (1912), S. 38.
Vgl. die Broschüren in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. Die Rhetorik über die
„radikalen Plutokraten“ lässt sich bereits vor dem Regierungswechsel ausmachen; vgl. etwa
den Leserbrief Frederick Milners in: Times 6. 1. 1905, S. 10: „I venture to assert that if the incomes of the Unionist members of Parliament were added up they would only make a poor
show against the income of many wealthy men who sit on the radical side of the House.“
Auch er verweist auf Yachten, Villen u.ä.
Vgl. etwa Times 25. 6. 1907, S. 6.
Zur programmatischen Transformation der Konservativen generell Green, The Crisis of
Conservatism.
National Review Mai 1910, S. 402–416. Vgl. auch John A. Hutcheson, Leopold Maxse and
the National Review, 1893–1914. Right-Wing Politics and Journalism in the Edwardian Era,
New York und London 1989, S. 416 f.; Searle, Corruption, S. 129.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
431
Unterstützer der Liberalen war und 1906 sogar für sie ins Unterhaus einzog.
Ihm warf die Daily Mail in einer Artikelserie ein Monopol auf dem Seifenmarkt
und überzogene Preise vor. In gewisser Weise knüpfte Northcliffe so an das
trust-busting in den USA an, das sich dort gegen die großen Öl- und Stahlmonopole richtete. Die Daily Mail konnte zunächst als Erfolg feiern, dass die Lever-Aktien durch ihre Kampagne um sechzig Prozent sanken („Public Opinion
Smashed the Soap Trust“).40 In beiden Kampagnen verteidigten jedoch die Unternehmer in Verleumdungsprozessen erfolgreich ihr Ansehen vor Gericht, was
Northcliffe empfindliche Unkosten von rund 150 000 Pfund bescherte. Während Northcliffe sich nach diesen Prozessniederlagen zurückhielt, führten die
konservativen Politiker die Vorwürfe fort. Sie warfen Lever etwa vor, er hätte
dem Staat nur deshalb einen ehemaligen Adelssitz zur Verpachtung übergeben,
um Konzessionen für West-Afrika zu erhalten. Lever zog daraufhin sein Pachtangebot für das Stafford House vorläufig zurück, was wiederum auf die Konservativen zurückfiel.41 Die direkten Pressekampagnen gegen liberale Unternehmer waren somit, so lässt sich zusammenfassen, nur bedingt erfolgreich. Da
die Zeitungsverleger an ihre Anzeigen dachten und auch viele Konservative die
Unternehmerschelte missbilligten, erwiesen sie sich auch in der eigenen Partei
als nicht konsensfähige Strategie, um das Image der Liberalen zu verändern.
Die daran anknüpfenden konservativen Korruptionskampagnen gegen liberale Politiker organisierten ebenfalls Journalisten, die den Tories nahe standen.
Eine Schlüsselfigur war dabei der Herausgeber der National Review, Leopold
Maxse. Maxse schrieb nicht nur für sein einflussreiches Blatt und zahlreiche
Tageszeitungen, er stand auch seit den 1890er Jahren mit zahllosen führenden
Politikern und Verlegern in regelmäßiger Korrespondenz. Wie sein Nachlass
zeigt, wandten sich zahlreiche Spitzenpolitiker Rat suchend an den Journalisten,
etwa mit der Frage, wie sie ihre Reden gegen Lloyd George gestalten sollten.42
Maxse war vom „despotism“ der liberalen Regierung fest überzeugt. So schrieb
er Northcliffe: „Indeed there is no limit to their powers of mischief and they
will have to be fought like the devil.“43 Ebenso wie Northcliffe selbst sprach er
dabei intern selbstverständlich von „our party“, was ebenfalls auf ein geringes
Bewusstsein von journalistischer Unabhängigkeit schließen lässt.44
Um die Kampagnen der Konservativen systematisch zu organisieren, gründete Maxse die „Radical Plutocracy Enquiry“. In deren Vorstand waren zwar
Abgeordnete, allerdings übernahm der Journalist als Sekretär die eigentliche
Arbeit. Zur Sammlung von skandalösen Hinweisen über die vermeintlichen Ra40
41
42
43
44
Auch wenn die Artikel von dem heute als Kriminalautor bekannten Edgar Wallace geschrieben wurden, trug Northcliffe eine persönliche Verantwortung; vgl. Taylor, Northcliffe,
S. 111; Thompson, Northcliffe, S. 137 f.
Times 1. 1. 1913, S. 10 u. 29. 3. 1913, S. 8; Daily News 17. 6. 1913, S. 1.
Vgl. die Briefe an Maxse in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 468.
Maxse an Northcliffe 24. 2. 1913, in: BL, Northcliffe Papers Add. 62175:56.
Für Northcliffe vgl. etwa: Northcliffe an Maxse 20. 12. 1912, in: BL, Northcliffe Papers Add.
62175:55.
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432
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
dical Plutocrats verschickte er 1912 ein Rundschreiben an alle Abgeordneten
und an die konservative Öffentlichkeit, das in einem langen Fragebogen denunziatorische Hinweise erbat. Der Fragekatalog began mit den Worten: „I. Are
there any Radical millionaires or quasi millionaires or Radicals pass for being
plutocrats in your neighbourhood or have you any knowledge of such persons
elsewhere? II. Have any of them received any ,honours‘ since the Radical Party
came into office in November 1905 […].“45 Zudem fertigte sein Komitee eine
Liste „of possible Plutocrats among radical members of the House of Commons“ an, die über 70 Abgeordnete umfasste und dann dank der eingehenden
Hinweise auf über 200 anwuchs. Erwartungsgemäß trugen die vielfältigen
Antworten gehässigen Klatsch über das Privatleben von reichen Liberalen zusammen, der mitunter auch antisemitisch gefärbt war. So verlangte ein Antwortschreiben „a closer investigation of those Hebrew gentlemen (your friends) who
live in this country and do not pay income tax and of course escape all local
taxation.“46 Über den Fragebogen versuchte der Journalist eine Art Kartei zusammenzustellen, um in Zeitungsartikeln oder Parlamentsreden Skandale zu
starten. Sie sollte sowohl andere Zeitungen als auch konservative Politiker mit
skandalösen Informationen versorgen. Gerade dieses Beispiel zeigt somit, dass
auch in der scheinbar parteiunabhängigen britischen Presse durchaus Journalisten als aktive Akteure in parteipolitischen Auseinandersetzungen agierten.
Große Skandale entstanden aus diesen Vorwürfen jedoch zunächst nicht. Trotz
der Fragebögen blieb ihr substanzieller Gehalt zu gering, und ähnlich wie bei den
Gerichtsprozessen von Cadbury und Lever konnten die Liberalen die Vorwürfe
entkräften. In ihrer breiten und suggestiven Pauschalität förderten sie jedoch generelle Vorurteile und Verdächtigungen. Der liberale Premierminister Asquith
wurde daraufhin vorsichtiger. Als Churchill etwa in Rücksprache mit Northcliffe vorschlug, einige liberale Journalisten mit Ehrungen auszuzeichnen, lehnte
Asquith dies sogleich ab.47 Selbst oder vielmehr gerade Journalisten sollten vorerst nicht mehr mit Ehrungen an die Regierung gebunden werden, obgleich dies
zuvor auch bei den Konservativen durchaus üblich gewesen war. Lord Northcliffe war schließlich selbst auf diese Weise zu seiner Nobilitierung gekommen.
Der sicherlich wichtigste britische Korruptionsskandal in den Jahrzehnten
vor dem Ersten Weltkrieg – der Marconi-Skandal von 1912/13 – lässt sich in
gewisser Weise als Ergebnis und Höhepunkt dieser seit 1906 eingeleiteten
konservativen Kampagnen gegen die Radical Plutocrats verstehen.48 Der Ereig45
46
47
48
West Sussex Record Office, Maxse Papers 467.
An Maxse 19. 10. 1912, in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467; ein anderer Brief
richtete sich gegen „German Jews [...] abusing the hospitality of their adopted country“, in:
ebd.
Churchill an Asquith 12. 8. 1912, in: CAC CHAR 2/57/30-32; Asquith an Churchill 16. 8. 1912,
in: CAC CHAR 2/57/33.
Die bislang grundlegende Darstellung des Skandals von Frances Donaldson betrachtet den
Marconi-Skandal dagegen als singuläres Ereignis; ders., The Marconi Scandal, London 1962,
S. 249. Eingeordnet in die Korruptionsgeschichten bei Searle, Corruption, S. 172–200. Als
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
433
nisablauf des Skandals ist unter England-Historikern bereits gut bekannt. Er
entwickelte sich aus der Kritik an einem Vertrag, den die liberale Regierung
1913 mit Marconi‘s Wireless Telegraph Company ausgehandelt hatte, um das
Empire mit drahtlosen Telegraphenstationen auszustatten. Die konservative
Opposition beklagte, Marconi bekomme zuviel Geld, liefere nicht die besten
Anlagen und erhalte quasi ein Monopol. Seit dem Sommer 1913 verbanden
konservative Journalisten und Politiker diese Vorwürfe zudem mit zwei skandalfähigen Gerüchten, die schrittweise ihren Weg in die Medien und ins Parlament
fanden. Zum einen brachten sie den antisemitischen Vorwurf auf, der Vertrag
belaste die Steuerzahler übermäßig, weil der Manager von Marconi der Bruder
des Kronanwalts Rufus Isaacs sei und beide, ebenso wie der zuständige Postminister Herbert Samuel, Juden wären, die sich an öffentlichen Mitteln bereicherten. Zum anderen sprachen sie die Vermutung aus, der Kronanwalt
Isaacs, der Finanzminister Lloyd George und der ehemalige liberale Fraktionsführer Lord Murray hätten durch ihr Insiderwissen Spekulationsgewinne mit
Marconi-Aktien gemacht.49 Da alle Beteiligten eine große öffentliche Prominenz besaßen, schien eine breite Empörung garantiert. Immerhin war der Erfinder und Unternehmer Marconi bereits seit einigen Jahren ein internationaler
Medienstar, den auch die deutschen Illustrierten als einen der größten lebenden
Erfinder feierten.50 Dass seine Telegraphie zahlreiche Leben beim Untergang
der Titanic retten half, vergrößerte seinen Ruhm zusätzlich. Nicht minder prominent war Lloyd George, der durch seine Kampagnen gegen die Korruption
der Konservativen seit 1900 eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erreicht
hatte und dank seiner radikalen Reformansprüche besonders umstritten war.
Mit diesen Vorwürfen konnten die Konservativen ihn an seinen eigenen Ansprüchen messen.
Angestoßen und vorangetrieben wurde auch dieser Skandal nicht durch die
Boulevard- und Massenzeitungen, sondern durch kleine parteinahe politische
Wochenblätter. Die ersten Artikel erschienen im Juli 1912 im Outlook, dann
folgten Vorwürfe im Eye-Witness. Bemerkenswert bei diesen Artikeln war
bereits ihre äußerst antisemitische Ausrichtung. Den Postminister Samuel und
den Marconi-Geschäftsführer Godfrey Isaacs nannten sie „two financiers of the
same nationality“, die auf Kosten der englischen Steuerzahler Gewinne machten.51 Stereotype pauschalisierende Verweise auf ihre jüdisch klingenden Nachnamen („these Samuels and Isaacs“) zeigten dabei ebenfalls einen Antisemitismus,
49
50
51
Verteidigung von Lloyd George, der angeblich in den Fall hineingeschlittert sei, vgl.: Bentley
B. Gilbert, David Lloyd George and the Great Marconi Scandal, in: Historical Research
62 (1989), S. 295–317.
Zum bereits bekannten Ereignisablauf des Marconi-Skandals, der hier nicht im Detail erneut
wiederholt werden braucht, vgl. bereits: Donaldson, The Marconi Scandal.
Vgl. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 3, 19. 1. 1902, Berliner Illustrirte Zeitung
Nr. 20, 14. 5. 1905, Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 44, 3. 11. 1907.
Outlook 20. 7. 1912.
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434
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
wie man ihn eher von konservativen deutschen Zeitungen kannte.52 Die Juden
wurden so national und kulturell, im Sinne des „modernen Antisemitismus“,
rassistisch über ihr Blut ausgegrenzt, welches ihr korruptes Handeln bedingen
würde: „Like the other eminent recipient of public money he [Samuel, F. B.] is
not of our blood or tradition and owes no real allegiance to the foreign state
which has very unwisely hired him to serve it.“53 Generell sei es ein Fehler der
Liberalen gewesen, Juden als Engländer mit einem anderen Glauben anzusehen.
Den Liberalen hielten sie deshalb vor, durch ihre korrupte Haltung quasi Marionetten dieser Juden geworden zu sein, die Politiker und die Presse aufkaufen
würden: „We know that they [the Liberals, F. B.] sell peerages, that they sell
places on the Front-Bench, that they sell policies. We know that a rich financier,
though an alien and an unsavoury one at that, can get hold of a politician just as
he gets hold of a racehorse.“54 Wie der Besitzer des Eye-Witness auch einige
Monate später vor dem Untersuchungsausschuss aussagte, war diese antisemitische Stoßrichtung durchaus ein Hauptziel der Kampagne.55
Der Antisemitismus knüpfte damit an die Stereotype über jüdische Börsenhändler und Aufsteiger an, die sich bereits in den Kampagnen gegen den Burenkrieg angedeutet hatten. Er stand im Kontext einer neuen radikalen Rechten,
die sich im Zuge der verstärkten jüdischen Einwanderung aus dem Zarenreich
Ende des 19. Jahrhunderts formierte.56 Besonders der antisemitische Akzent
korrespondierte mit den vorherigen Skandalen in Frankreich, von wo aus der
Panama-Skandal und die Dreyfus-Affäre europaweit Imaginationen über die
jüdische Macht prägten. So glaubten die Verleger und Redakteure des EyeWitness, England sei einer ähnlichen jüdischen Verschwörung ausgesetzt, wie
sie sich in Frankreich angeblich beim Dreyfus-Skandal gezeigt habe.57 Dass
ausgerechnet Hilaire Belloc diese aus Frankreich bekannte Form der Skandalisierung nach Großbritannien transferierte, dürfte auch mit seiner Sozialisation
zusammen hängen. Bellocs Vater war Franzose, und durch seine enge Verbindung zu Frankreich hatte er vor Ort die dortigen Bestechungsskandale erlebt.
Da Herbert Samuel und Rufus Isaacs zu den ersten gläubigen Juden auf britischen Ministerposten zählten und sich die Londoner Politik erst schrittweise
für Juden öffnete, hatte diese Kampagne grundsätzlich eine ähnliche Stoß-
52
53
54
55
56
57
Eye-Witness 8. 8. 1912, S. 227.
Eye-Witness 15. 8. 1912, S. 257; vgl. ebenso Eye-Witness 8. 8. 1912, S. 227–230.
Eye-Witness 17. 10. 1912, S. 545 f.
„The real motives are an attack upon Jews as Jews.“ Aussage Granville in: Select Commitee in:
BT, Archives POST 88/34, S. 411.
Arnd Bauerkämper, Die ‚radikale Rechte‘ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991,
S. 82–87.
So schrieb Granville am 6. 4. 1913 an das Select Committee: „I am in short in a position to
unmask a conspiracy as dangerous to England as the Anti-Dreyfus agitation was to France.
This can be done by me telling the story of the ,Eye-Witness‘ (which I financed from its start
up to September last year) […]“ Aussage in: BT, Archive POST 88/34, S. 411.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
435
richtung wie die Dreyfus-Affäre: Es ging darum, welche Rolle Juden im öffentlichen Leben spielen durften.58 Umgekehrt bedienten sich die französischen
konservativen Journalisten kurz vor dem Kriegsbeginn dieser britischen Verleumdungsformen. Die französische Kampagne gegen „radikale Plutokraten“,
die 1913/14 insbesondere gegen den Premierminister und vorherigen Finanzminister Joseph Caillaux kulminierte, benutzte die gleichen Stereotype – insbesondere den Verweis auf Spekulationsgewinne und Begünstigung jüdischer Financiers.59 Gerade die antisemitischen Enthüllungen wiesen somit besonders
starke Ähnlichkeiten auf.
Offen war, welche Reaktionen die antisemitischen Vorwürfe in Großbritannien auslösten. Bemerkenswerterweise griffen sie lediglich einzelne kleinere
konservative Wochenzeitungen auf, wie die National Review, New Age, und
der Spectator.60 Die großen Tageszeitungen wie die Times erwähnten sie zunächst weder negativ noch positiv, sondern ignorierten sie – ganz ähnlich, wie es
in Deutschland in den Zeitungen von Ullstein und Mosse bei antisemitischen
Kampagnen zumeist üblich war. Ebenso sahen die verleumdeten Minister von
Klagen ab, um den Blättern keine Aufmerksamkeit zu geben. Der Antisemitismus innerhalb der Kampagne erwies sich damit für die Liberalen als vorteilhaft,
da er die Angriffe insgesamt entwertete und den Ausbruch des Skandals retardierte. Über antisemitische Behauptungen ließ sich in Großbritannien offensichtlich kein Skandal anstoßen.
Dennoch belegt die interne Korrespondenz der britischen Konservativen einen gewissen Antisemitismus, auch wenn er nicht die deutschen Ausmaße aufwies. So sprachen Briefe an den konservativen Oppositionsführer Bonar Law
etwa von Lloyd George „and his Hebrew associate“.61 Der führende konservative Journalist Loe Strachey vom Spectator verwahrte sich zwar gegen jeden Antisemitismus, meinte aber zugleich: „I am afraid that there is an inveterate habit
in the Jewish mind, no doubt the result of persecution, of holding that one Jew
must always give a helping hand to another Jew in the financial line.“62 Diese
Annahme vertrat auch der konservative Journalist Hilaire Belloc, der die Artikel
im Eye-Witness mit verfasst hatte. Er beschrieb sich nicht als Antisemit, da er
jüdische Freunde habe und nichts gegen arme Juden einwände. Zugleich verband er dies aber mit dem taktisch vorsichtigen Hinweis: „I recognise, as everyone must, that the racial Jewish element in cosmopolitan finance is a large ele58
59
60
61
62
Vgl. generell zu Isaacs Biographie Denis Judd, Lord Reading. Rufus Isaacs, First Marquess of
Reading, Lord Chief Justice and Viceroy of India 1860–1935, London 1982. Der frühere Premierminister Disraeli stammte zwar aus einem jüdischen Elternhaus, war aber getauft.
Berenson, The Trial, S. 74.
Vgl. National Review Sept. 1913, in Anlehnung an den Outlook-Artikel: „The PostmasterGeneral for the time being bears the name of Samuel. Here we have two financiers of the same
nationality pitched against each other, with a third in the background, acting, perhaps, as
mutual friends.“ Zurückhaltender dagegen der Spectator 7. 9. 1913 und 14. 9. 1913.
Sisley an Bonar Law 26. 5. 1913, in: HLRO, Bonar Law 29/4/25.
Strachey an Dicey 23. 3. 1913, in: HLRO, Strachey Papers, S5/6/9.
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
ment.“63 Eine dominante Wahrnehmung war der Antisemitismus jedoch auch
bei den Konservativen nicht, selbst wenn man dessen Präsenz höher veranschlagen muss als es lange üblich war.64
Auffällig war erneut, auf welcher geringen journalistischen Recherche die
Vorwürfe selbst am Ende des langen 19. Jahrhunderts beruhten. Der Publizist
und Schriftsteller Hilaire Belloc musste vor dem Untersuchungsausschuss zum
Marconi-Vertrag zugeben, dass er für seine schweren Beschuldigungen im EyeWitness keinerlei Quellenbelege hatte, sondern seine Artikel lediglich auf
Gerüchten beruhten und er nicht über mehr Informationen verfüge als jeder
Zeitungsleser auf der Straße.65 Er sah es aber gerade als journalistische Leistung
und Aufgabe an, diese Gerüchte aus der Straßenöffentlichkeit in die Presse zu
überführen. Ähnlich dürftig war die Recherche des Journalisten Wilfrid R. Lawson vom Outlook, der ebenfalls auf die Frage, ob er die von ihm gedruckten
Gerüchte überprüft habe, antwortete: „No, I made no special inquiry.“66 Sein
Herausgeber Edwin Oliver sagte ebenfalls, er habe lediglich Gerüchte über
Aktienkäufe in Clubs gehört, könne sich aber nicht an Namen erinnern.67 In
einem späteren Verleumdungsprozess gegen den Journalisten Cecil Chesterton
stellte das Gericht erneut fest, dass dessen Artikel teilweise durch rassistische
Vorurteile, teilweise durch Unkenntnis von Wirtschaftsfragen geprägt seien,
nicht aber durch recherchierte Belege.68 Dementsprechend schien sich die Skandalisierung zunächst ähnlich wie beim Parnellism and Crime-Skandal gegen die
konservativen Ankläger selbst zu richten, gegen die sich die Mehrheit der Presse
und Parlamentsöffentlichkeit empörte. Selbst die Konservativen zeigten sich enttäuscht und verbittert über das geringe Quellenfundament der Journalisten.69
Die allgemeine Distanzierung von diesem Meinungsjournalismus setzte zugleich
den recherchierten Nachrichtenjournalismus als die anzustrebende Norm fest.
Weniger die unfundierten Presseangriffe als die parlamentarische Auseinandersetzung und Untersuchung führte die Vorwürfe in die breite Öffentlichkeit.
Auffälligerweise distanzierten sich auch im Parlament die konservativen Politiker explizit von den vorgebrachten Gerüchten und referierten sie lediglich. Zu63
64
65
66
67
68
69
Belloc 24. 4. 1913 in Sel. Com. in: BT, Archives POST 88/33, S. 427. Die Biographie von Joseph
Pearce geht weder auf den Antisemitismus gegenüber den Ministern noch auf den Skandal ein;
vgl. ders., Old Thunder. A Life of Hilaire Belloc, London 2002, S. 149 f.
Vgl. als internationale Vergleichsstudie, die auch den Antisemitismus in England betont:
Herbert A. Strauss (Hrsg.), Hostages of Modernizations. Studies on Modern Antisemitism
1870–1933/39, Bd. 3: Germany – Great Britain – France, Berlin 1993. Einen relativ starken
Antisemitismus bei britischen Akademikern sieht vergleichend auch: Thomas Weber, AntiSemitism and Philo-Semitism among British and German Elites. Oxford and Heidelberg before the First World War, in: The English Historical Review 475 (2003), S. 86–120.
Aussage 24. 4. 1913 in Sel. Com. in: BT, Archives POST 88/33, S. 431.
Aussage nach: Times 7. 2. 1913, S. 4.
Times 11. 2. 1913, S. 5; Times 13. 2. 1913, S. 7.
Vgl. Times 29. 5. 1913; vgl. bereits Donaldson, Marconi, S. 184 f.
Vgl. die Zuschriften an Maxse im Februar 1913, in: West Sussex Record Office, Maxse Papers
468.
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437
gleich betonten sie aber, dass diese, auch wenn sie haltlos seien, untersucht werden müssten.70 Selbst in diesem besonders polarisierten politischen Klima hielten die britischen Abgeordneten damit an dem parlamentarischen Kodex fest,
politische Gegner als „honourable gentlemen“ anzusprechen. Ebenso zeigte
sich die Regierung so konzessionsbereit, wie es in Deutschland undenkbar gewesen wäre. Die Minister unterstrichen eindringlich, sie hätten niemals Aktien
„of this company“ gehabt und Rufus Isaacs betonte, er sei nie in die Verhandlungen seines Bruders involviert gewesen. Dennoch stimmten sie sofort der Einrichtung eines Select Committee zu, um den Fall ausführlich zu untersuchen.
Trotz dieser konzilianten Zurückweisung und der weiterhin fehlenden Belege
war der Korruptionsvorwurf durch die Parlamentsdebatte das Gesprächsthema
in London. Lediglich die liberalen Zeitungen im engeren Sinne wie die Daily
News, die Pall Mall Gazette und Reynolds’s Newspaper setzten mit einer erstaunlichen Parteiloyalität das Thema nicht auf die erste Seite, wo sie statt dessen die Bedrohung Bulgariens durch die Türken platzierten.71
Im Zuge des Untersuchungsausschusses wurde jedoch deutlich, dass die
Minister Lloyd George und Rufus Isaacs im Parlament nur die halbe Wahrheit
gesagt hatten. Der konservative Journalist Leopold Maxse, der sich nun zur
treibenden Kraft im ausbrechenden Skandal entwickelte, nutzte den Untersuchungsausschuss für die Frage, ob die Minister nicht vielleicht Aktien von
Marconi-Unternehmen in anderen Ländern gekauft hätten. Nach dieser Andeutung gestanden Lloyd George und Isaacs in einem Verleumdungsprozess gegen
einen französischen Journalisten ganz beiläufig ein, parallel zum Vertragsabschluss mit amerikanischen Marconi-Aktien spekuliert zu haben: Rufus Isaacs
erwarb von seinem Bruder, dem Marconi-Geschäftsführer, im April 1912 10 000
Marconi-Aktien, von denen er jeweils 1 000 für je zwei Pfund an Lloyd George
und Lord Murray verkaufte. Letztere veräußerten davon die Hälfte zwei Tage
später für drei Pfund pro Aktie und kauften mit dem Gewinn 3 000 neue. Wie
etwas später zufällig durch die Insolvenz eines Börsenhändlers öffentlich wurde, kaufte zudem der ehemalige Fraktionsvorsitzende Lord Murray Anteile für
9 000 Pfund, um Geld der liberalen Partei anzulegen.72 Diese Enthüllungen waren für die Konservativen ein dringend benötigtes Geschenk. Denn Anfang 1913
zeigte sich bei der Debatte über ihr Parteiprogramm, dass sie in sich so zerstritten waren, dass Abspaltungen bevorzustehen schienen.73 Der nun ausbrechende
70
71
72
73
Vgl. die Formulierungen in den Anfragen von Norman, Archer-Shee und Lansbury bes.
Hansard’s Parliamentary Debates 11. 10. 1912, Bd. 42, Sp. 667, 697 u. 712 f. Vgl. auch Times
12. 10. 1912, S. 6.
Pall Mall Gazette 12. 10. 1912, S. 3 u. 6; Reynolds’s Newspaper 13. 10. 1912, S. 1; Daily
News 11. 10. 1912, S. 5 u. 12. 10. 1912, S. 1 u. 3. Insbesondere die einst kritische Daily News
druckte lediglich die Verteidigung der Liberalen, nicht die Vorwürfe. Zu den Gesprächen in
der Stadt vgl. etwa: Tagebuch Balcarres 14. 10. 1912, in: Vincent (Hrsg.), The Crawford Papers, S. 280.
Vgl. zu diesen Spekulationsgeschäften bereits Donaldson, Marconi, S. 52 f.
Green, The Crisis of Conservatism, S. 278.
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Skandal bot die Möglichkeit, die Tories und Unionisten wirklich in einer Partei
zu einen.
Die große Empörung, die das Bekanntwerden der Aktiengeschäfte allgemein
auslöste und so den Ausbruch des Skandals verursachte, lässt sich auf vier Ebenen fassen. Der erste und wichtigste Normbruch war die falsche und unzureichende Aussage der Minister gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit.
Beides diskreditierte generell das Vertrauen in ihre Aufrichtigkeit. Mit der offiziell stenographierten Aussage vom Oktober 1912, sie hätten keine Aktien von
„this company“ gehabt, hatten Lloyd George und Rufus Isaacs zwar spitzfindig
eine direkte Lüge im Parlament vermieden, die ihren sofortigen Rücktritt bedeutet hätte. Allerdings hatten die stenographischen Mitschriften in den
Zeitungen berichtet, sie hätten keine Aktien in „the company“, weshalb die
Spitzfindigkeit in der Öffentlichkeit übersehen wurde und man allgemein von
der falschen Erwartung ausging, die Politiker hätten überhaupt keine MarconiAktien gehabt.74 Umso mehr erschien dies wie eine bewusste Irreführung des
Parlamentes und als Verletzung des Ehrenkodex des Hauses. Lloyd Georges
Rechtfertigung, er hätte den Aktienbesitz aus Respekt vor dem Select Committee
erst dort berichten wollen, versuchte genau diese Hochachtung vor den parlamentarischen Institutionen zu zeigen, wirkte aber kaum glaubhaft. Umso größer
war die Empörung, als zwei Monate nach dem verspäteten Eingeständnis zufällig Lord Murrays Marconi-Aktien für die Parteikasse herauskamen. Überall
im Land, so der Spectator, würde sich gefragt: „If accident can have disclosed so
much, what may not accident now be concealing?“75 Gerade die zufällige Enthüllung verstärkte damit den Eindruck, die Regierung habe viel größere Geheimnisse.
Zweitens sorgte für Empörung, dass Minister private Vorteile und internes
Wissen aus ihrem öffentlichen Amt vermischten. Die Verbindung von „private
interest“ und „public duty“ blieben in der Debatte strukturbildende Begriffspaare.76 Damit verhandelte der Skandal generell, welche Grenzen zwischen
Politik und privaten Geschäften bestanden und ob Politiker Vorteile gegenüber
der Bevölkerung haben dürften. Festgemacht wurde dies an dem Vorwurf, die
Minister hätten die amerikanischen Marconi-Aktien vorab zu einem besonders
günstigen Preis bekommen, zu dem die Öffentlichkeit sie weder hätte kaufen
können, noch hätte der einfache Mann von ihrem Wertanstieg durch den bevorstehenden Vertragsabschluss mit der englischen Marconi-Firma gewusst. In
Wirtschaftsfragen, so die hier aufgebrachte Norm, seien demnach Politiker dem
74
75
76
Vgl. Times 12. 10. 1912, S. 6, Daily Mail 12. 10. 1912, S. 6; Hansard’s Parliamentary Debates
11. 10. 1912, Bd. 42, Sp. 717 f. Die Unterscheidung zwischen „this“ und „the“ wurde zwar in
der Literatur bereits erwähnt, nicht aber die Verwechslung in den Zeitungen. Die Konservativen vermuteten daher intern sogar, Samuel habe den Eintrag in Hansard geändert; Amery an
Bonar Law o. D., in: House of Lords’ Record Office, Bonar Law 33/2/27.
Spectator 14. 6. 1913, S. 1002.
Vgl. etwa den Minority-Report der Konservativen in: House of Lords’ Record Office, Bonar
Law 41/H/1.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
439
„ordinary man“ gleichzustellen. Wie auch C. P. Scott vom Manchester Guardian
sogleich feststellte, war die Kampagne damit der Versuch, neue Standards in der
Politik zu etablieren. Denn bislang würden alle Politiker mit Aktien spekulieren, mit denen man nicht unbedingt hantieren sollte.77 Die Rechtfertigung der
Minister, das amerikanische Unternehmen sei völlig unabhängig und der baldige
Vertragsabschluss bekannt gewesen, war dagegen wenig überzeugend. Beide
Firmen lebten vom gleichen Patent und hatten zum Teil die gleiche Firmenleitung. Bereits die schnellen anfänglichen Gewinne sprachen für sich.
Ein drittes Moment, das für eine breite Empörung sorgte, waren die so eröffneten Einblicke in die privaten Finanzen der Minister und ihre Spekulationen.
Der Skandal legte ihr Vermögen und ihren Umgang mit ihm offen. Immerhin
erfuhren die Zeitungsleser, dass ein radikaler Liberaler wie Lloyd George mit
vierstelligen Beträgen jonglierte und die Minister in zwei Tagen so mehrere
Jahresgehälter eines Mittelklasse-Einkommens verdient hatten. Die Stereotype,
die die konservativen Kampagnen über die „radikalen Plutokraten“ veröffentlicht hatten, schienen damit tatsächlich zu stimmen. Lloyd George rechtfertigte
sich sogleich, er habe insgesamt kein Vermögen mit den Aktien gemacht, sondern einige hundert Pfund verloren. Ebenso legte er seine Vermögensverhältnisse offen.78 Dennoch traf Northcliffes interne Bemerkung zu, dass diese Enthüllung nicht nur Einfluss auf Lloyd Georges Image habe, sondern auch auf
seine Politik: „He cannot attack the rich as he has done in the past“, bemerkte er
gegenüber George Riddell von der News of the World.79 Da Lloyd George sonst
kaum Aktien besaß, fiel um so mehr auf, wie sehr er auf Marconi vertraute.
Eine vierte Ebene des Skandals betraf schließlich die Frage, wie mit Parteifinanzen umzugehen sei. Denn in gewisser Weise handelte es sich hier um einen
frühen Parteifinanzierungsskandal. Er machte öffentlich, dass der ehemalige
liberale Fraktionsvorsitzende Lord Murray ohne Wissen der Partei Gelder akquiriert hatte und diese anscheinend auf undurchsichtige Weise verwaltete.
Nachdem die Tories die Liberalen in den letzten Jahren als die reichere Partei
hingestellt hatten, die große Summen aus dem Verkauf von Titeln erhalte, schien
dies der Beleg dafür.80 Da die Parteien erst seit den 1880er Jahren eine stärker
ausgebaute Organisation entwickelt hatten, waren solche Parteivermögen bisher unbekannt und wurden zugleich als inakzeptabel deklariert. Besonders
mysteriös wirkte die Parteienfinanzierung über Marconi-Aktien, weil Lord
Murray, der 1912 schon aus der Politik ausgeschieden war, während der ganzen
Debatte geschäftlich in Südamerika blieb und deshalb im Select Committee
keine Aussage machte.81
77
78
79
80
81
Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 8/1/4.
In: HLRO, Lloyd George Papers C 24/2/9. Zu seinem Vermögen vgl. auch: Gilbert, Lloyd
George, S. 44.
Riddell Diary 1. 5. 1913, in: BL, MS 62972.
Vgl. die Position der Zeitschrift Nation, in: Times 21. 6. 1913, S. 8.
Die Ausgaben der Parteien waren zu dieser Zeit bereits recht beträchtlich. So gaben die Liberalen um 1910 etwa 100 000 Pfund für ihren Wahlkampf aus; Jenkins, Parliament, S. 106.
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440
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Wie gingen die Printmedien mit diesen Vorwürfen um? Dass die konservativen Zeitungen und Politiker nun Korruptionsanklagen erhoben, überraschte
wenig. Auffällig war jedoch, wie zurückhaltend die unionistisch-konservativen
Zeitungen von Lord Northcliffe berichteten. Obgleich die Daily Mail als die
erste Boulevardzeitung Englands gilt, beteiligte sie sich kaum an der sensationellen Berichterstattung. Ebenso wie die von Northcliffe 1908 gekaufte Times
nahm er eine recht neutrale Position ein. Alle beteiligten Minister bedankten
sich dafür bei Northcliffe mehrfach in persönlichen, recht devoten Briefen, was
die starke Ehrerbietung der Politik vor dem mächtigen Verleger zeigte.82 In seinen Antworten begründete Northcliffe seine Zurückhaltung generös damit,
dass er die Aktienspekulationen für nichtig halte und angesichts der Lage in
Deutschland wichtigere Probleme anstünden. „Moreover, I am neither a rabid
party man nor an anti-Semite“, rechtfertigte der Pressebaron seine Position, die
die politische Unabhängigkeit der kommerziellen Massenpresse unterstreichen
sollte.83 .
Dennoch ergab sich auch Northcliffes Zurückhaltung aus einer engen Interaktion von Politik und Journalismus. Wie seine Briefe belegen, hatte sie vor
allem der liberale Marineminister Winston Churchill ausgehandelt. Churchill
umgarnte Northcliffe mit dem Versprechen, es gäbe keine weiteren Enthüllungen und versicherte ihm eine Woche vor der entscheidenden Parlamentsdebatte, wie sehr die Minister ihr Verhalten bedauern würden.84 Zugleich machte
er ihm indirekt ein großzügiges Geschenk: „I should like to take you down in
a submarine to testify my appreciation of the fine way in which The Times and
the D.M. have treated us.“85 Da Northcliffe äußerst technikbegeistert war und
eine U-Bootfahrt selbst für den Millionär etwas Besonderes war, war dies ein
Freundschaftsanreiz, der zugleich Werbung für den Ausbau der Marine versprach. Northcliffes Technikbegeisterung dürfte ebenso erklären, warum seine
Zeitungen Marconi nicht in Misskredit bringen wollten. So berichtete die Daily
Mail vor der ersten entscheidenden Parlamentsdebatte wohlwollend, wie
selbstlos Marconi lange Zeit ohne Einnahmen in den Ausbau der drahtlosen
Telegraphie investiert habe.86 Die Reaktion des Pressezaren unterstrich somit
zugleich Northcliffes parteipolitische Unabhängigkeit, seine enge Beziehung
zur Regierung und den großen Einfluss des Verlegers auf seine Zeitungsredaktionen.
Ebenso auffällig war, wie kritiklos liberale Zeitungen Lloyd George und die
Regierung in Schutz nahmen. Die einst kritische Daily News erwies sich nun als
82
83
84
85
86
Gedruckt sind diese Briefe zumindest in Auszügen in: Reginald Pound und Geoffrey
Harmsworth, Northcliffe, London 1959, S. 442.
Northcliffe an Lloyd George 24. 3. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 6/8/1 A.
Northcliffe an Churchill 8. 6. 1913, in: CAC CHAR 2/62/39.
Churchill an Northcliffe 9. 4. 1913, in: CAC CHAR 28/117; Northcliffe an Churchill
11. 4. 1913, in: CAC CHAR 2/62/27. Northcliffe an Churchill (Abschrift) o. D. (nach März
1913), in: HLRO, Lloyd George Papers C 3/15/20.
Daily Mail 11. 10. 1912, S. 5.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
441
ein völlig loyales Parteiorgan, was ebenfalls auf den großen Einfluss zurückzuführen ist, den die neuen liberalen Besitzer auf die Redaktion hatten.87 Noch
bemerkenswerter ist die große Loyalität, die die Reynolds’s Newspaper der Regierung entgegen brachte, da das radikale Blatt bislang durchweg durch eine
kritische Haltung auch gegenüber der eigenen Partei aufgefallen war. Erneut
sicherten die Politiker diese Verbundenheit durch intensive Kontaktpflege ab.
Die Herausgeber erhielten von den Ministern freundschaftliche Dankesschreiben für ihre wohlwollenden Artikel. „Nothing could be better than your
handling of the matter“, schrieb etwa Rufus Issacs dem Herausgeber der Daily
News, A. G. Gardiner.88 Ebenso ging Lloyd George mit dem Herausgeber des
Daily Chronicle, Robert Donald, am Wochenende vor der großen Unterhausdebatte Golf spielen.89 Wie sehr die Politiker vorab die Positionen der Presse
aushandelten, zeigt ein Tagebucheintrag von Lord Riddell kurz vor der Enthüllung des skandalösen Aktienhandels:
Masterman said that the press had been arranged with. Northcliffe had promised that The
Times and the Daily Mail would not be objectionable and Harry Lawson had agreed to
refrain from attacks in the Telegraph. Massingham had been very nasty and they feared an
attack in the Nation. Gardiner of the Daily News and Donald of the Chronicle were both
friendly.90
Fasst man diese Beobachtungen zusammen, erwies sich die britische Presse in
diesem Skandal kaum als eine unabhängige vierte Gewalt, sondern vielmehr als
ein symbiotisch mit der Politik verflochtener Teil der Öffentlichkeit. Die parteipolitischen Bindungen der Zeitungen nahmen eher zu.
Diese enge Zusammenarbeit zwischen Presse und Politik zeigte sich erneut
im Vorfeld der entscheidenden Unterhausdebatte am 18./19. Juni 1913, die den
Bericht des Select Committee diskutierte und den Kulminationspunkt des Skandals bildete. Konservative Journalisten wie Strachey (Spectator) und Gwynne
(Morning Post) versorgten den Tory-Oppositionsführer Bonar Law vorab mit
Hinweisen und Material über Lloyd George.91 Lloyd George erhielt dagegen
von C. P. Scott (Manchester Guardian) ausführliche Verhaltensratschläge: wenn
er etwas zu bedauern habe, dann solle er das in dieser Form auch im Unterhaus
sagen.92 In ihrer ausführlichen Vorberichterstattung zu der Debatte nahmen die
Zeitungen bereits die wichtigsten Schlagabtäusche der Unterhaussitzung vorweg. Die konservative Morning Post behauptete dabei neue Enthüllungen. So
habe der vormalige Fraktionssprecher Lord Murray 20 000 Pfund Parteigelder
87
88
89
90
91
92
Zum guten Verhältnis von George Cadbury zu Lloyd George noch aus der Anti-Burenkriegskampagne her vgl. Koss, Fleet Street Radical, S. 118.
R. Isaacs an Gardiner 22. 3. 1913, in: LSE, NL Gardiner 1/18.
Gilbert, Lloyd George, S. 47.
Eintrag 19. 3. 1913, in: BL, Riddell Diaries Add MS 62972.
Strachey an Bonar Law 17. 6. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/5/31;
Gwynne an Bonar Law o. D. (wohl 18. 6. 1913), ebd., 29/5/36.
Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in HLRO, Lloyd George Papers C 8/1/4.
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442
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
in eine Ölfirma in Mexiko angelegt, die mit der Regierung Geschäfte mache.93
Ebenso bereitete vor allem Strachey im Spectator Angriffe gegen die Liberalen
vor. Nicht mit recherchierten Ergebnissen, sondern abermals mit Verweis auf
kursierende Gerüchte über Marconi-Aktien bei anderen Ministern und Angehörigen des Untersuchungsausschusses forderte er den Premierminister zu einer
Stellungnahme heraus.94 Zudem warf er den Liberalen vor, bei Silberaufkäufen
in Indien einer unerfahrenen Bank von Montagu den Vorzug gegeben zu haben,
weil dessen Bruder Unterstaatssekretär im Kolonialministerium war. Die erneut
antisemitische Stoßrichtung war dabei unverkennbar.95
Die Medien strukturierten folglich die entscheidende Parlamentsdebatte vor.
Nicht nur der konservative Angriff kurz vor den Unterhaussitzungen lief über
die Zeitungen, sondern auch dessen Abwehr. Die liberale Daily News antwortete auf die Vorwürfe täglich auf der ersten Seite unter der Überschrift „Slander
as a Policy“ und hielt ihnen ebenso skandalisierende Anklagen entgegen. So
sprachen sie dem konservativen Eye-Witness die moralische Urteilsfähigkeit ab,
weil dessen Financier Charles Granville gerichtlich der Bigamie überführt worden sei.96 Ebenso brachte die Daily News begleitend zur Debatte Vorwürfe über
das frühere Verhalten der Konservativen auf; etwa, dass Oppositionsführer
Bonar Law als Secretary of Trade zugleich Bankdirektor war und es dabei zu
viel engeren Überschneidungen zwischen privaten und öffentlichen Interessen
gekommen sei.97
Diese recht scharfe Debatte in der Presse stand im Kontrast zum moderaten
Ton des Parlamentes. Die habituellen und sprachlichen Regeln des Unterhauses
ließen anscheinend selbst in dieser Situation keine derartig harten Angriffe zu,
so dass sie sich in die Medien verlagerten. Bereits vor der großen Debatte zeigte
sich, dass im Unterhaus andere Verhaltensstrategien als angemessen galten. So
verlangte Premierminister Asquith von Lloyd George und Rufus Isaacs im Kabinett, bei einem privaten Treffen vor der Debatte und über seine Ehefrau, sich
defensiv zu verhalten und gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit Bedauern zu zeigen. „This debate must show that nothing of the kind can ever
happen again“, betonte Frau Asquith gegenüber Lloyd George.98 Tatsächlich
zeigte die Regierung trotz der polarisierten Öffentlichkeit erneut ein defensives
Verhalten, wie es den englischen parlamentarischen Riten entsprach und in
93
94
95
96
97
98
Morning Post 14. 6. 1913. Zur Debatte um die Mexican Oil Company vgl. auch Hansard’s
Parliamentary Debates 16. 6. 1913, Bd. 54, Sp. 35; Searle, Corruption, S. 212–217.
Spectator 14. 6. 1913, S. 1002 f.
Vgl. zum Engagement von Journalisten im „Indian Silver Scandal“ etwa: Strachey an Bonar
Law 4. 7. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/6/6.; Hansard’s Parliamentary Debates ebd.; Searle, Corruption, S. 201–211.
Daily News 18. 6. 1913, S. 2; vgl. zudem: Daily News 16. bis 18. 6. 1913, S. 1.
Daily News 21. 6. 1913, S. 5.
Zit. Lady Asquith an Lloyd George 13. 6. 1913, in: HLRO, Lloyd George Papers C 6/12/2;
Asquith an Lloyd George 16. 6. 1913, in: ebd., C 6/11/13. Kabinett 17. 6. 1913, in: TNA, CAB
41/34/21.
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2. Konservative Kampagnen gegen Radical Plutocrats
443
Deutschland undenkbar gewesen wäre.99 So betonte der Kronanwalt Isaacs, sein
Verhalten im Parlament im Oktober 1912 sei ein Fehler gewesen, und auch der
Mehrheitsbericht des Select Committee räumte Versäumnisse ein.100 Ebenso
formulierte Lloyd George: „If you will, I acted thoughtlessly, I acted carelessly,
I acted mistakenly, but I acted innocently, I acted openly and I acted honestly.“101 Obgleich er seine Unschuld beteuerte, zeigte er damit seine Demut gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament. Premierminister Asquith argumentierte ähnlich zurückhaltend, indem er seinen Ministern fahrlässiges Handeln
vorwarf, wenn auch nicht vorsätzliches.
In seiner Rede stellte der Premierminister Verhaltensregeln auf, die als Normen für Politiker gelten sollten. So forderte er etwa:
[…] Ministers ought not enter into any transactions whereby their private pecuniary interest might, even conceivably, come into conflict with their public duties. […] Again, no
minister is justified under any circumstances in using official information that has come
to him as a Minister, for his own private profit or for his friends. […] Ministers should
scrupulously avoid speculative investments in securities as to which, from their position
and their special means of early and confidential information they have or they may have
advantage over other people in anticipating market changes.102
Damit setzte er genau jene Normen, gegen die seine Minister gerade verstoßen
hatten. Verglichen mit den Pressedebatten zuvor reagierten auch die Konservativen konziliant. So sprachen sie nicht direkt von Korruption, sondern von Verstößen gegen die Regeln des öffentlichen Lebens.103 Dabei unterstrichen sie allerdings, dass über das Verhalten der Liberalen kein Konsens bestand und sie die
Entschuldigung in dieser Form unzureichend fanden. Ebenso beharrten die
Konservativen auf einem Minderheitenbericht im Select Committee.
Die Unterschiede zwischen der medialen und der parlamentarischen Korruptionsdebatte, die in Deutschland deutlich geringer waren, lassen sich zunächst
mit den seit langem eingeübten parlamentarischen Redekonventionen und der
Vertrautheit der Elite untereinander erklären. Nicht nur ihre ähnliche akademische Ausbildung, sondern auch die informellen Begegnungen, etwa in Clubs
oder beim Golf, überbrückten selbst bei einem Radical wie Lloyd George die
Fraktionsgrenzen. Zudem mussten die britischen Parteien mit Regierungswechseln leben, die bei jedem moralischen Vorwurf die Gefahr bargen, an die eigene
Regierungszeit erinnert zu werden. Gerade bei Fragen der Aktienspekulation
gingen die Konservativen entsprechende Risiken ein. Beides mag erklären, warum die Redner in der entscheidenden Parlamentsdebatte eher aus der zweiten
Reihe kamen.
99
100
101
102
103
Vgl. die Reden der langen Debatte in: Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44,
Sp. 391–514; 19. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 542–670.
Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 422.
Ebd., Sp. 448 f.
Ebd., Sp. 548–560; Daily News 20. 6. 1913, S. 2.
Hansard’s Parliamentary Debates 18. 6. 1913, Bd. 44, Sp. 391.
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444
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Schließlich war unklar, inwieweit der Begriff „Korruption“ überhaupt zutreffend war. Im Unterschied zu den großen Korruptionsskandalen auf dem Kontinent ging es hier ja nicht um direkte Bestechung, sondern eher um Insiderwissen
im Aktienhandel. Dass sich in Großbritannien ausgerechnet entlang von Aktienspekulationen ein Skandal entwickelte, war Ausdruck einer Wirtschaftsstruktur,
die sich von Deutschland unterschied. Seit den 1850er Jahren hatte sich England
zu einer „nation of shareholders“ entwickelt, bei der um 1900 etwa zwei Fünftel
des nationalen Vermögens in Aktien investiert waren. Da ein beträchtlicher Teil
der Ober- und Mittelklassen von deren Erträgen lebte, waren Spekulationen
gängig und nötig. Sie kollidierten jedoch mit den zeitgenössischen Vorstellungen vom moralischen Wirtschaften und der Verdammung des Glücksspieles.
Dementsprechend war es um 1900 umstritten, im welchen Maße Aktienspekulationen als legitim galten.104 Im Marconi-Skandal wurde dies an einem prominenten Beispiel diskutiert, ohne dass es zu einer eindeutigen Lösung kam. Insgesamt setzte er zumindest die Norm, dass Politiker keine Aktienspekulationen
mit Unternehmen machen sollten, die unmittelbar in Regierungsverträge eingebunden waren.
Damit schrieb der Fall erneut fest, wie sich ein idealer Politiker zu verhalten
habe. Um dieses Bild des Politikers drehte sich auch die Rechtfertigung von
Lloyd George, die er seiner Partei gegenüber im National Liberal Club gab: „In
politics there is no cash. […] In politics, men go in, if you like, for fame. Men go
in, if you like, for ambition. Men go in for a sense of duty (cheers). But for mere
cupidity, never!“105 Gerade weil dieser Idealtypus gefährdet schien, musste er
beschworen werden. Zugleich festigte der Skandal bei den Konservativen die
Vorstellung, dass gerade die wachsende Zahl von sozialen Aufsteigern im Parlament für die Zunahme der Korruption verantwortlich sei. Dies kulminierte in
der Formulierung „you cannot corrupt a millionaire“.106 In dieser konservativen Lesart sollte der ideale Politiker über ein Vermögen verfügen, das ihn angeblich von materiellen Verlockungen unabhängig mache.
Die konkreten personellen Folgen des Skandals waren dagegen eher gering.
Lloyd George war zwar stark angeschlagen und durchlebte eine seiner bisher
schwersten politischen Krisen, konnte aber sein Amt behalten und bis zum
Premierminister aufsteigen.107 Rufus Isaacs behielt nur noch kurzzeitig sein
Amt und wechselte auf den Posten des Lord Chief Justice. Versetzt wurde nur
ein Mitarbeiter der Ministerialbürokratie, der wegen seiner Spekulation mit
104
105
106
107
Vgl. David C. Itzkowitz, Fair Enterprise or Extravagant Speculation. Investment, Speculation, and Gambling in Victorian England, in: Victorian Studies 45 (2002), S. 121–148.
Grundsätzlich zu Aktienbesitz und Spekulationen: George Robb, White Collar Crime in
Modern England. Financial Fraud and Business Morality, 1845–1929, Cambridge 1992, S. 3 u.
191.
Redetext National Liberal Club 1. 7. 1913, in: HLRO, Lloyd George, LG C 36/1/9.
Daily News 18. 6. 1913, S. 1.
Von den zahlreichen Biographien über ihn vgl. bes. John Grigg, Lloyd George, 4 Bde., London 1973–2002.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
445
englischen Marconi-Aktien schon vor Ausbruch des Skandals auf einen niederen Dienstrang heruntergestuft worden war.108
Die konservativen Journalisten, die den Fall maßgeblich angestoßen und vorangetrieben hatten, versuchten auch nach der Parlamentsdebatte die Vorwürfe
weiter am Leben zu halten und zu ergänzen. Wie bei den meisten Skandalen erhielten sie jedoch kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit, und auch die restliche konservative Presse verhielt sich ihnen gegenüber kritisch.109 Journalisten
wie Cecil Chesterton hielten dabei an ihrem Antisemitismus fest, blieben aber
marginalisiert. Auch nach der Debatte unterschied Chesterton zwischen „Jew
and Gentile“-Rassen und kam zu dem Fazit: „and so long as the jews are there
the problem is there.“ Deshalb halte er ein spezielles Gesetz für die Juden als die
beste Lösung oder auch ihre Auswanderung nach Israel.110
Insbesondere der Ausbruch des Weltkrieges überdeckte die konservativen
Kampagnen gegen den „Sales of Honours“. Langfristig zeigten sie dennoch Folgen. Kurz nach dem Krieg entfaltete sie ihre Wirkung in einem Skandal, der den
Verkauf von Ehrungen durch die Liberalen aufdeckte und 1922 mit den Sturz
des nunmehrigen Premierministers Lloyd Georges auslöste. Die in der edwardianischen Zeit begonnene Kampagne hatte damit die Öffentlichkeit für eine
Norm sensibilisiert, die nach dem Weltkrieg nicht mehr überschreitbar war. Mit
dem Honours (Prevention of Abuses) Act von 1925 folgte hierauf auch die rechtliche Festlegung der in diesen Skandalen erkämpften Norm, nach der Peerages
und andere Ehrungen nicht verkauft werden durften.
3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
Die antisemitischen Verschwörungsvorstellungen, die in Großbritannien das
Bild vom raffgierigen und korrupten Juden aufbrachten, kursierten auch frühzeitig im deutschen Kaiserreich. Prominent verbreitet wurden sie bereits 1874/75
durch Otto Glagaus Artikel in der Gartenlaube, der eine korrupte Herrschaft
reicher Juden ausmachte. Bei der Reichsgründung hätten sich danach die Juden
per „Börsen- und Gründungsschwindel“ bereichert und dies dadurch verschleiert, dass sie fast die gesamte Presse kontrollieren würden und zahlreiche verbündete Parlamentarier hätten.111 Nicht nur die konservative Presse, sondern
auch katholische Zeitungen schlossen sich dieser Kampagne an, die sich dann
gegen Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder verdichtete.112
108
109
110
111
112
So Samuel im Kabinett am 27. 11. 1912, in: TNA, CAB 41/33/72.
Vgl. etwa Strachey über Chesterton in: Spectator 21. 6. 1913, S. 1023.
Vgl. den Artikel „The Jewish Problem Re-Considered“, in: New-Witness 26. 6. 1913, S. 240 f.,
ähnlich: New-Witness 3. 7. 1913, S. 264.
Die zwölfteilige Serie in der Gartenlaube 1874/75 findet sich, mit Erweiterungen, in: Otto
Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Leipzig 1876, ders., Der Börsenund Gründungsschwindel in Deutschland, Leipzig 1877; vgl. auch: Weiland, Otto Glagau.
Stern, Gold, S. 608–610.
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Seit Anfang der 1890er nahmen derartige antisemitische Vorwürfe im Reichstag und in der Publizistik zu. Die Etablierung antisemitisch orientierter Massenverbände, die explizit antisemitische Positionierung der Konservativen im Tivoli-Programm 1892 und die Wahlerfolge antisemitischer Reichstagsabgeordneter
1893 repräsentierten und verstärkten den öffentlichen Antisemitismus.113 So
warf der antisemitische Reichstagsabgeordnete Hermann Ahlwardt erst Bleichröder korrupte Absprachen mit der Polizei vor und beschuldigte dann 1892 den
jüdischen Leiter der Gewehrfabrik Ludwig Loewe & Co, bewusst minderwertige Waffen zu produzieren, um sich zu bereichern und deutschen Soldaten zu
schwächen.114 Vor dem Reichstag löste er dadurch stürmische Menschenaufläufe
aus, die ihn begrüßten.115 Für den 22. März 1893 stellte Ahlwardt der Presse
neue Enthüllungen in Aussicht, weshalb sich die Journalistenränge und Tribünen im Reichstag füllten. Neben einer erneuten Anklage gegen minderwertige
„Judenflinten“ versprach er zu beweisen, dass bei der Stiftung des Reichs-Invalidenfonds der Staat von der jüdischen Finanzwelt um 100 Millionen Mark geprellt worden sei und die damalige Regierung, unter anderem Finanzminister
von Miquel und einige Abgeordnete, daran beteiligt wären.
Indem Ahlwardt größeren Teilen der Regierung, Verwaltung und des Reichstages eine Korruptionsbeteiligung mit jüdischen Hintermännern vorwarf,
knüpfte er explizit an den jüngst in Frankreich ausgebrochenen Panama-Skandal an. Zwei umfangreiche Aktenordner, die er bei seiner Rede medienwirksam
auf das Pult stellte, sollten seine Vorwürfe bereits visuell erhärten.116 Tatsächlich
fanden sich weder unter den mitgebrachten Aktenstücken noch unter den angeblich weiteren „2 Centner Akten“ Beweise. Vielmehr konnte Ahlwardt lediglich eine antisemitische Broschüre Rudolph Meyers von 1877 vorlegen sowie
Papiere, die sich auf die Diskontogesellschaft beim rumänischen Eisenbahnbau
bezogen, den Otto Glagau bereits in den 1870er Jahren thematisiert hatte.117 Da
sich die Vorwürfe eben nicht nur gegen eine jüdische Firma, sondern gegen
113
114
115
116
117
Vgl. zum parlamentarischen Erfolg 1893 durch Übernahme konservativer Wahlkreise: Stefan
Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland 1881 und 1912, Berlin 1999, S. 85–99.
„So weit, wie in Rußland und Frankreich, soll die jüdische Korruption in unserem Volke nicht
gedeihen!“ Hermann Ahlwardt, Judenflinten, Dresden 1892, S. 6; vgl. auch: ders., Judenflinten Theil II, Dresden 1892. Bezeichnenderweise hatte Ahlwardt seinen Posten als Schulrektor 1889 wegen der Unterschlagung von Geldern verloren, die seine Schule für die Weihnachtsfeier gesammelt hatte. 1893 hatten die Antisemiten 16 MdR, 1897 13, vgl.: Peter G. J.
Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867
bis 1914, Göttingen 2004 (ergänzte Ausgabe von 1964), S. 153 f. u. 215.
Vgl. Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 50, 12. 12. 1892.
RT 18. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 70. Sitz. S. 1736 f.; 20. 3. 1893, ebd., S. 1745–1750; Vossische
Zeitung Nr. 138, 22. 3. 1893.
Ahlwardt rechtfertigte die nicht vorgebrachten Beweise damit, dass er sie bei entfernten
Freunden versteckt habe; RT, 22. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 73. Sitz. S. 1802–1805; Vossische
Zeitung Nr. 139, 23. 3. 1893. Vgl. zu den Reaktionen im Reichstag: Berliner Illustrirte
Zeitung Nr. 14, 2. 4. 1893.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
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Staatssekretäre, Abgeordnete, die Justiz und die Heeresverwaltung richteten,
distanzierten sich nahezu das ganze Parlament und selbst die konservative Presse von Ahlwardt.118 In gewisser Weise hatte die fehlgeschlagene Skandalisierung
damit vor allem die Konsequenz, dass sie die radikalen Antisemiten diskreditierte.119 An der antisemitischen Skandalisierungsstrategie hielt die politische
Rechte dennoch fest. Nur ein Jahr später beschuldigte die „Kreuzzeitung“ die
SPD, immer abhängiger von jüdischen Geldern zu werden, was sie mit einer
Spende von 300 000 Mark von Leo Arons belegen wollte, die das Blatt zur Fortführung eines Bierboykottes erhalte.120
Die Häufung derartiger antisemitischer Skandalisierungsversuche seit 1892
lässt sich wie in Großbritannien auch als Transfer der französischen Skandale
verstehen – insbesondere des Panama-Skandals. Dass an den korrupten Handlungen in Frankreich auch verschiedene jüdische Finanziers beteiligt waren,
hatte dort antisemitische Verschwörungs- und Korruptionsvorwürfe verstärkt.
Durch die zahllosen Zeitungsberichte über den französischen Skandal wurden
sie offensichtlich auch in Deutschland verfestigt. In Deutschland mündete diese antisemitische Agitation allerdings schon deshalb nicht in Skandale, weil sich
die Vorwürfe als völlig haltlos erwiesen. Das Kriegsministerium wies Ahlwardts Kampagne in einem Prozess zurück, der ihm eine fünfmonatige Gefängnisstrafe einbrachte. Sowohl Hammerstein als auch Ahlwardt wurden vielmehr selbst Objekt von Gegenskandalisierungen, die ihnen beweiskräftig die
Unterschlagung von Geldern vorwarfen. Ahlwardt wurde somit in der liberalen Presse als „Todtengräber des Antisemitismus“ verspottet, weil seine haltlosen Beschuldigungen nur auf Ablehnung stießen.121 Dass Ahlwardt dennoch
1893 im ersten Wahlgang wieder in den Reichstag gewählt wurde, dokumentiert allerdings die latente Unterstützung, die er zumindest in diesem Wahlkreis
für seine antisemitischen Kampagnen bekam. Spätere Korruptionsskandale in
der Weimarer Republik schlossen an diese antisemitischen Argumentationsfiguren an.
Dagegen bot der größte deutsche Korruptionsskandal des Kaiserreiches, die
sogenannte „Kornwalzer-Affäre“, keinerlei Ansatzpunkte für antisemitische
Angriffe. Er entfaltete sich auffälliger Weise nahezu zeitgleich zum englischen
Marconi-Skandal. Seit April 1913 erfuhr die Öffentlichkeit, dass die Fried.
Krupp AG jahrelang regelmäßig für kleine Bestechungssummen interne Informationen aus dem Kriegsministerium erhalten hatte, die ihr erhebliche Wettbe118
119
120
121
RT 20. 3. 1893, 8. Leg. Per., 2 Sess., 71. Sitz. S. 1750–1766; 21. 3. 1893, ebd., S. 1794–1797,
22. 3. 1893, ebd., S. 1796–1817. Auch Adolf Stöcker stellte sich klar gegen Ahlwardt; ebd.,
S. 1807 f. Vgl. die Presseschau in: Vossische Zeitung Nr. 137, 22. 3. 1893.
Die Grenzen von Ahlwardts Agitation und derartiger antisemitischer Anklagen zeigt auch:
Barnet Hartston, Sensationalizing the Jewish Question. Anti-Semitic Trials and the Press in
the Early German Empire, Leiden und Boston 2005, S. 219–259 u. 264–267.
Vgl. die Zurückweisung im Vorwärts Nr. 178, 3. 8. 1894; Hinweise bereits in: Hall, Scandal,
S. 145.
Vossische Zeitung Nr. 140, 23. 3. 1893, S. 1 f.
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448
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
werbsvorteile bei der Auftragsvergabe verschafften.122 Dass sich ausgerechnet
an dem Großunternehmen Krupp ein herausragender Korruptionsskandal entzündete, war sicher kein Zufall. Wie bereits beim Capri-Skandal 1902 deutlich
geworden war, vereinigte Krupp als Unternehmen symbolisch vielfältige kritische Deutungen des Kaiserreiches. Kampagnen gegen Krupp richteten sich
zugleich gegen den Militarismus, den Kaiser oder einen konservativ-gewerkschaftsfeindlichen Paternalismus.
Zudem war die skandalisierende Kritik an der Fried. Krupp AG bereits seit
langem eingeübt. Ihre herausragende Stellung im Rüstungssegment hatte immer
wieder öffentliche Beschuldigungen über unlautere Wettbewerbstechniken erzeugt.123 Seit 1899 gewannen sie eine neue Intensität und wurden regelmäßig im
Reichstag artikuliert. Die Beschuldigung, Krupp besäße durch die enge Verbindung zu Kaiser und Regierung ein Monopol und nutze die Bevorzugung für
überhöhte Preise, stand besonders in den Reichstagsdebatten von 1901, 1903
und 1905 im Mittelpunkt.124 Ebenso hatten Teile der Presse schon häufig versucht, Krupp als unpatriotisch hinzustellen, da er auch für das Ausland Waffen
produziere und dort sogar billiger anböte.125 Wie die spätere Kornwalzer-Affäre wurden diese Debatten allerdings weniger von der Presse als vom Reichstag
aus angestoßen. Der oft unterschätzte Reichstag erfüllte damit gerade in diesem
Bereich, ähnlich wie bei den Kolonialskandalen, durchaus eine Kontrollfunktion.126 Die neue Massenpresse trat weniger durch investigative Enthüllungen
hervor, sondern griff die Vorwürfe der Parlamentarier kommentierend auf und
122
123
124
125
126
Vgl. ausführlicher zum Ablauf des Falles bereits: Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 270
(2005), S. 337–379. Knappe Hinweise im Standardwerk von Gall, Krupp, S. 336 f.; aus Krupps
Perspektive: Gert von Klass, Aus Schutt und Asche. Krupp nach fünf Menschenaltern, Tübingen 1961, S. 337–339; mit sachlichen Fehlern: Manchester, Krupp, S. 269–271; mit Blick
und auf Grundlage der SPD-Presse: Hall, Scandal, S. 183–186. Zudem Erwähnungen in politischen Schriften: Aus dem SED-Umfeld und fast ohne Gehalt ist die Broschüre von Walter
Bartel, Karl Liebknecht gegen Krupp, Berlin (Ost) 1951; ähnlich: Georg Honigmann,
Kapitalverbrechen oder Der Fall des Geheimrats Hugenbergs, Berlin (Ost) 1976; mit kritischem Gestus zu Teilaspekten: Klaus Wernecke und Peter Heller, Der vergessene Führer:
Alfred Hugenberg. Pressemacht und Nationalsozialismus, Hamburg 1982, S. 48–54; einige
Quellen in: Annelies Laschitza, Karl Liebknecht. Eine Biographie in Dokumenten, Berlin
(Ost) 1982.
Für die Zeit bis 1900 vgl. Wolbring, Krupp, hier bes. S. 283 f. u. 295 f.
Vgl. etwa: Verhandlungen des Reichstages, 11. Leg., I. Sess. 1903/05, 166. und 173. Sitz.,
17. 3. 1905 u. 27. 3. 1905, Bd. 7. Berlin 1905, S. 5360–5366 und 5615–5630. Dass Krupps Preise
trotz der hohen Reinerlöse dem internationalen Niveau entsprachen, betont: Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991, S. 200 f.
Vgl. etwa die Karikaturen in: Kladderadatsch, 17. 3. 1901; Wahre Jacob 6. 5. 1902; Ulk
15. 7. 1900 u. 7. 9. 1902; Presseausschnitte in: HAK, FAH 3 D 19. Grundlegend für Krupps
Presse für die Zeit bis 1900: Wolbring, Krupp, hier bes. S. 283 f. u. 295 f.
Diese kommunikative Funktion wird in der Debatte über die Schwäche des Reichstages oft
vernachlässigt; vgl. etwa Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Anders dagegen:
Biefang, Der Reichstag.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
449
förderte damit wiederum die parlamentarische Auseinandersetzung. Zudem traten in den Zeitungen immer wieder Reichstagsabgeordnete als Kommentatoren
auf, die so auch in der Presse die parlamentarische Macht unterstrichen.127
Dass sich der Korruptionsskandal ausgerechnet im Militärbereich entzündete, war ebenfalls kein Zufall. Die Rüstungskritik der Sozialdemokraten hatte
schon länger eine Bereicherung Krupps auf Kosten der Steuerzahler angeprangert und so dies Narrativ etabliert. Auch andere Beispiele für finanzielle Unregelmäßigkeiten im Rüstungsbereich waren bekannt. So berichteten die Zeitungen wochenlang über einen Prozess gegen Mitarbeiter der Kieler Reichswerft,
die systematisch Waren von hohem Wert unterschlagen und zur privaten Bereicherung benutzt hatten.128 Denn gerade die Rüstungsproduktion stand wie
wenige andere Sektoren für eine enge Liaison zwischen Staat und Wirtschaft,
was die Korruptionsmöglichkeiten erhöhte. Bemerkenswerterweise stammten
zahlreiche führende Mitarbeiter des Kruppschen Unternehmens aus der Ministerialbürokratie, was eine vertrauliche Zusammenarbeit erleichterte. So hatte
der Direktoriumsvorsitzende Alfred Hugenberg zuvor im Preußischen Finanzministerium gearbeitet, Direktor Max Dreger war früher als Hauptmann Dezernent für Feuerwaffen im Kriegsministerium gewesen und der Aufsichtsratsvorsitzende und quasi-Besitzer Gustav Krupp von Bohlen und Halbach hatte seine
Karriere ebenso im Auswärtigen Amt begonnen wie die Direktoren Eccius und
Muehlon.129 Der Krupp-Angestellte im Berliner Büro des Unternehmens,
Maximilian Brandt, der die vertraulichen Informationen aus der Bürokratie einholte, hatte früher in der Berliner Depotverwaltung der Artillerieprüfungskommission gearbeitet und dort die Lieferung und Verwendung des Artilleriematerials organisiert. Somit kam er genau aus jenem Amt, das maßgeblich die Aufträge koordinierte, die seinen neuen Arbeitgeber Krupp interessierten.130 Seine
potentiellen Informanten kannte er vielfach von der gemeinsamen Ausbildung
zum Feuerwerker, weshalb er den Posten überhaupt erhalten hatte.131 Gerade
diese enge personelle Verflechtung förderte eine Vertrautheit zwischen Unternehmen und Bürokratie, die korrupten Praktiken ermöglichte.
Der Resonanzboden für einen großen Skandal ergab sich auch aus der spezifischen Konstellation der Jahre vor Beginn des Weltkrieges. Einerseits bildete
die SPD seit der Reichstagswahl 1912 die stärkste Fraktion und trat mit neuem
Selbstbewusstsein gegen die massive Erhöhung der Rüstungsausgaben an, die
der Reichstag 1912/13 intensiv diskutierte und die im hohen Maße Krupp begünstigten. Andererseits nahm Krupps öffentliche Präsenz im selben Jahr stark
127
128
129
130
131
Vgl. als Beispiel etwa: Otto Wiemer, Unlautere Machenschaften, in: Vossische Zeitung
Nr. 199, 21. 4. 1913.
Vgl. die täglichen Berichte in Vossische Zeitung Nr. 529, 10. 11. 1909. Berliner Illustrirte
Zeitung Nr. 47, 21. 11. 1909.
So bereits mit kritischem Gestus: Bernhard Menne, Krupp. Deutschlands Kanonenkönige,
Zürich 1936, S. 273 f.
Vgl. Personalakte Brandt in: HAK, WA 131/417.
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2.
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450
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
zu. Insbesondere die pompöse „Jahrhundertfeier“ der Fried. Krupp AG unterstrich die enge, geradezu symbiotische Beziehung zwischen Unternehmen und
Staat.132 Da hier Kaiser, Kanzler, Kabinettsmitglieder und Generäle in Essen
zusammenkamen, erschien Krupp in der bürgerlichen Presse wie ein Teil des
Staates. Im gleichen Jahr verstärkte zudem der Vorsitzende des Krupp-Direktoriums, Alfred Hugenberg, sein (verbands-)politisches Engagement, indem er
etwa als Vorsitzender des Vereins für Bergbauliche Interessen Parteispenden
zentralisierte und die Agitation gegen die Sozialdemokratie intensivierte.133
Dies förderte Gegenreaktionen.
Öffentlich gemacht wurden die korrupten Handlungen und Indiskretionen
durch den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht. Ihm
war die Wirkungsmacht des Marconi-Skandals im Jahr zuvor bestens bekannt.
Liebknecht war kurz vor seinen öffentlichen Enthüllungen über Krupp in London gewesen und hatte vor Ort erfahren können, welche Sprengkraft die dortige
Skandalisierung hatte. Unter anderem kam er hier mit J.T. Walton Newbold zusammen, der mit auflagenstarken Broschüren englische Rüstungsfirmen angriff.134 Zudem bestärkten sich 1913/14 die sozialistischen Parteien Westeuropas
gegenseitig in ihrer Agitation gegen die Rüstungsindustrie, in deren Profitstreben sie einen wesentlichen Grund für die drohende Kriegsgefahr sahen.135 Liebknechts erfolgreiche Skandalisierung gegen Krupp, die ihn auch in den Nachbarländern berühmt machte, vertiefte diese Kooperation mit französischen und
britischen Sozialisten und führte dazu, dass Liebknecht und Newbold gemeinsam eine Schrift über die „Internationale der Rüstungsindustrie“ vorbereiteten.136 Auch wenn beim Krupp-Skandal keine konkrete grenzübergreifende
Zusammenarbeit nachweisbar ist, förderten die Reisen des Sozialdemokraten
zumindest die Kenntnis der britischen Kampagnen.
Das belastende Material erhielt Liebknecht allerdings nicht durch eine eigenständige investigative Recherche, sondern per Zufall. Ein im Streit entlassener
Krupp-Angestellter namens von Metzen hatte ihm anonym Anfang November
1912 die Korruptionsvorgänge beschrieben und als Beleg 17 vertrauliche Berichte der Heeresverwaltung zugesandt, die intern an das Krupp-Direktorium
weitergeleitet wurden.137 Für verschiedene Rüstungsaufträge beschrieben sie
132
133
134
135
136
137
Vgl. Klaus Tenfelde, „Krupp bleibt doch Krupp“. Ein Jahrhundertfest – Das Jubiläum der
Firma Fried. Krupp AG in Essen 1912, Essen 2005; Gall, Krupp, S. 339.
Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 54.
Vgl. Heinz Wohlgemuth, Karl Liebknecht. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1975, S. 219.
Vgl. hierzu für Frankreich: Paul B. Miller, From Revolutionaries to Citizens. Antimilitarism in France, 1870–1914, Durham und London 2002.
Laschitza, Karl Liebknecht, S. 196.
Anonym an Liebknecht o. D. (Abschrift), in: BAB/L, NY4001-41, sowie in: Erster Staatsanwalt an Justizminister 6. 2. 1913, in: GStA, HA I Rep. 84, 5a Bd. 1. Metzen selbst leugnete die
Zusendung an Liebknecht vor Gericht und gab Brandt die Schuld. Allerdings stimmen die
Berichte mit den heimlich kopierten Exemplaren von Metzen überein, und auch Metzens sonstiges Verhalten spricht klar für diese Annnahme.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
451
unter anderem die Preisangebote von Krupps Konkurrenten, deren Konstruktionspläne, den Ablauf ihrer Versuche und die Planungen des Ministeriums.
Liebknecht stand mit diesem Krupp-Angestellten in keiner Beziehung. Dass
ausgerechnet Liebknecht das Material erhielt, lag eher daran, dass er seit vielen
Jahren als kompromissloser Gegner von Militarismus und Aufrüstung bekannt
war, wozu insbesondere seine Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ und
seine anschließende Verurteilung beigetragen hatten.138 Daher war von diesem
jungen Abgeordneten vom linken SPD-Flügel am ehesten eine wirkungsmächtige Skandalisierung zu erwarten, mit der sich der ehemalige Krupp-Angestellte
rächen wollte.
Hätte Liebknecht das Material sofort im Reichstag oder Vorwärts veröffentlicht, wäre die Sprengkraft der Enthüllung vermutlich geringer gewesen. Der
SPD-Abgeordnete reichte die Unterlagen jedoch vertraulich an den Kriegsminister weiter, verbunden mit dem Hinweis, dass hier Bestechung und Geheimnisverrat vorlägen.139 Auf diese Weise konnte Liebknecht sicher gehen, dass er
nicht wie beim Kaiser-Inselskandal, wo er 1903 als Anwalt agiert hatte, einer
Fälschung aufsaß, die zu einem Skandal gegen die SPD hätte führen können.140
Zudem konnte er die Ermittlung von Regierung und Justiz abwarten, um dann
eventuell zusätzlich deren Untätigkeit anzuprangern.
Tatsächlich reagierten das Kriegs- und das Justizministerium jedoch sofort
mit intensiven Ermittlungen, da sie aus früheren Skandalen um den bevorstehenden öffentlichen Rechtfertigungsdruck wussten. Die Militärführung leitete
die polizeiliche Observation von Krupps Geschäftsstelle ein und fing Krupps
Post zwischen Berlin und Essen ab. Als sich dadurch der Verdacht auf den Verrat von Militärgeheimnissen erhärtete, wurden am 7. Februar 1913 der Kruppangestellte Brandt und mehrere Angehörige der Militärverwaltung verhaftet und
bei der Essener Unternehmensführung, im Berliner Büro und bei der Heeresverwaltung umfangreiche richterliche Durchsuchungen und Beschlagnahmungen vorgenommen.141 Immerhin beschlagnahmten die Justizbehörden in Essen
allein aus den letzten drei Jahren 741 Geheimberichte mit ähnlich vertraulichen
Informationen aus der Militärbürokratie.142 Eine staatliche Protektion Krupps
bestand in diesem Stadium des Skandals also nicht. Vielmehr kam es durch die
Weiterleitung der Dokumente zu einer bemerkenswerten Zusammenarbeit
138
139
140
141
142
Vgl. einführend: Helmut Trotnow, Karl Liebknecht. Eine politische Biographie. Köln 1980,
S. 90.
Liebknecht an Heeringen 8. 11. 1912, zit. nach: Anklageschrift 11. 8. 1913, in: GStA, HA I Rep.
84, 5a Bd. 1.
Vgl. Vorwärts 16. bis 18. 8. 1903 und Kap. V. 3, S. 330.
Vgl. Löwenstein an Dewitz 6. 4. 1914, in: Historisches Archiv Krupp (HAK) WA 4/1672: 33
und Vermerk Krause 3. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672:1. Die falsche Datierung der Untersuchung auf September 1912, die sich mitunter bei kursorischen Erwähnungen in der Fachliteratur findet, beruht auf: Ernst Haux, Bei Krupp. Bilder der Erinnerung aus 45 Jahren von
Finanzrat Dr. Ernst Haux, in: HAK, FAH 4 E 16.
Laut Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 32. Im Prozess wird auch die Zahl 751 genannt.
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452
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
zwischen Sozialdemokratie und dem Kriegsministerium, die die Konservativen
nach der Veröffentlichung anprangerten.
Justizminister und Kriegsminister informierten dabei umgehend und fortlaufend Kaiser Wilhelm II., was die Brisanz unterstrich, die die Reichsleitung dem
Fall beimaß. Sie sprachen dem Kaiser gegenüber explizit vom Verrat militärischer Geheimnisse durch verbrecherische Methoden und teilten ihm in drastischen Worten mit, dass der von Liebknecht übermittelte Verdacht gegen Krupp
zutreffend sei und im Panzerschrank der Unternehmensführung Berichte gefunden worden waren.143 Die frühe und umfassende Einbindung des Kaisers
sollte zweifelsohne verhindern, dass Wilhelm sich wie beim Capri-Skandal 1902
erneut mit zu großer Verve vor Krupp und gegen die „verleumderische“ Sozialdemokratie stellte und so den drohenden Korruptionsskandal um einen Monarchie-Skandal ergänzte.144 Stattdessen setzten Justiz, Reichsleitung und Unternehmensführung auf ein Stillschweigen: Die Offiziere und der Krupp-Angestellte wurden zwar verhaftet, aber dies wurde nicht öffentlich gemacht.
Liebknechts Enthüllung im Reichstag richtete sich deshalb weniger gegen die
Untätigkeit der Justiz als gegen die Geheimhaltung der Ermittlungsergebnisse.
Der Zeitpunkt, zu dem der Sozialdemokrat sein Wissen dem Parlament präsentierte, war gut kalkuliert. Am 18. April 1913 diskutierte der Reichstag gerade
den Wehretat. Um die öffentliche Meinung einzunehmen, setzten die Parteien
auf unterschiedlichste mediale Strategien. Während die Nationalliberalen etwa
über eine Sonderausgabe der Illustrierten Zeitung mit Militärfotos Stimmung
machten, versuchte die SPD mit vielfältigen sensationellen Enthüllungen gegen
die Erhöhung der Militärausgaben vorzugehen. Der Vorwärts veröffentlichte
Dokumente über Preisabsprachen bei der Waffenproduktion, und Liebknecht
beschrieb detailliert deutsche Rüstungsunternehmen, die sich wie Krupp „unpatriotisch“ durch Waffenlieferungen ans Ausland bereicherten und gezielt
falsche Meldungen in der französischen Presse lancierten, um die deutsche Aufrüstung voranzutreiben.145 Schließlich enthüllte Liebknecht plakativ und zugespitzt, Krupp habe einen „Agenten“ in Berlin beschäftigt, „der die Aufgabe
hatte, sich an die Kanzleibeamten der Behörden der Armee und der Marine heranzumachen und sie zu bestechen, um auf diese Weise Kenntnis von geheimen
Schriftstücken zu erhalten, deren Inhalt die Firma interessiert.“146
Entscheidend für die erregte und intensive öffentliche Rezeption von Liebknechts Vorwurf war vor allem, dass er auf die laufenden Ermittlungen und Verhaftungen verweisen konnte. Dies beglaubigte seine Enthüllungen und zwang
selbst die Konservativen, die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Liebknechts
143
144
145
146
Vgl. Kriegsminister an Wilhelm II. 6. 2. 1913 u. 7. 2. 1913; Justizminister an Wilhelm II.
7. 2. 1913 u. 13. 2. 1913, in: GStA, HA I Rep. 84, 5a Bd. 1.
Vgl. zu Wilhelms skandalöser Essener Rede bei der Beerdigung von F. A. Krupp bereits Kap.
II. 6.
Vgl. zu dieser Interaktion zwischen Presse und Reichstagsreden: RT, XIII. Leg., I. Sess., 143.
Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4910–4913.
RT, XIII. Leg., I. Sess., 143. Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4911.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
453
Beschuldigung führte im Reichstag und in den Medien sofort zu einer polarisierten Debatte, die die breitere Öffentlichkeit über ein halbes Jahr intensiv beschäftigte. Kriegsminister von Heeringen gab in seiner knappen Entgegnung
zwar die laufenden Ermittlungen zu, bestritt aber den Verrat von militärischen
Geheimnissen und lobte die Verdienste Krupps. Um die Debatte zu deeskalieren, verwandte der Minister ebenso wie andere Repräsentanten der politischen
Rechten eine Argumentationsfigur, die im Kaiserreich häufig bei Skandalen benutzt wurde: Da das Verfahren nicht abgeschlossen sei, dürfe man sich zu den
Vorfällen nicht öffentlich äußern.147 Damit wurde die Justiz, und nicht die öffentliche Meinung, als einzige legitime Bewertungsinstanz beschworen, um die
Anschuldigungen der Mitte-Links Parteien aufzufangen. Entsprechend defensiv
kommentierte der Kriegsminister auch am nächsten Tag die gerichtliche Untersuchung im Reichstag: „Erstens geht sie mich nichts an, und zweitens weiß ich
tatsächlich nicht, wie sie tatsächlich steht“.148
Gerade diese Mischung aus Unkenntnis, der Zurückweisung der Öffentlichkeit und der Preisung von Krupp erschien mittlerweile jedoch so unpassend,
dass diese Reaktion maßgeblich zum Rücktritt des Ministers einige Monate später beitrug.149 Denn alle Parteien, von der Linken über die Nationalliberalen bis
hin zur äußersten Rechten, betonten, man müsse, wenn die Vergehen zuträfen,
mit „eiserner Strenge“ gegen sie vorgehen. Die kollektive Empörung des Reichstags gegen Rüstungsunternehmen ging sogar soweit, dass eine von den Nationalliberalen und vom Zentrum eingebrachte Resolution angenommen wurde, die
forderte, „dass die Beschaffung des Kriegsmaterials tunlichst durch die reichseigenen technischen Institute erfolgen“ sollte.150 Damit wurde durch den Bestechungsskandal die sozialdemokratische Forderung nach einer vornehmlich
staatlichen Rüstungsproduktion konsensfähiger. Ebenso musste die Reichsleitung eine von allen Parteien (außer den Konservativen) geforderte Enquete
zur Untersuchung von Rüstungslieferungen zugestehen, in der Regierungs- und
Parteivertreter sitzen sollten. Auch wenn die Kommission nicht das von der
SPD verlangte Recht zur Zeugenbefragung im Sinne eines britischen Untersuchungsausschusses erhielt, war dies für sie ein Teilerfolg auf dem Weg zur
Stärkung des Parlamentes. Allerdings bestand die Reichsleitung darauf, dass in
ihr auch Fachleute aus der Wirtschaft einbezogen wurden, um eine Frontstellung
der Parlamentarier gegen die Regierung und das Antlitz einer parlamentarischen
Untersuchungskommission zu vermeiden.151
Angesichts des drohenden Imageschadens reagierte auch Krupp umgehend.
Der Direktoriumsvorsitzende Alfred Hugenberg fuhr sofort nach Berlin, um vor
Ort und im Reichstag Einfluss auf die Journalisten und Politiker zu nehmen.
147
148
149
150
151
RT, XIII. Leg., I. Sess., 143. Sitz., 18. 4. 1913, Bd. 289, S. 4914.
Ebd., 144. Sitz., 19. 4. 1913, Bd. 289, S. 4926.
Vgl. etwa als unmittelbare Kritik: Vossische Zeitung Nr. 198, 20. 4. 1913, S. 1.
RT, XIII. Leg., I. Sess., 161. Sitz., 13. 6. 1913, Bd. 290, S. 5522.
Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13.
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Hugenberg und die Friedr. Krupp AG versuchten in ihren öffentlichen Entgegnungen den ausbrechenden Skandal vor allem über vier Argumente zu deeskalieren: Erstens bezeichnete das Unternehmen die Praktiken als gängig, da Geschäftsstellen mit entsprechenden Kontakten in Berlin üblich seien. Zweitens
versuchte Krupp, den Stellenwert des Vergehens mit dem Argument herunterzuspielen, es hätte nur ein „Bureaubeamter“ gegen „kleine Geschenke“ an „Subalternbeamte der Militärbehörden“ Informationen erhalten. Und drittens hob
die Pressestelle die Unschuld der Unternehmensführung hervor, die erst von der
Polizei von dem Fall erfahren hätte und sofort alle Unterlagen zur Verfügung
gestellt habe. Auch Hugenberg betonte wider besseren Wissens, die Berichte
seien so unbedeutend, dass er sie weder gelesen habe noch ihre Inhalte kenne.152
Viertens ließ die Fried. Krupp AG ebenfalls wider besseren Wissens über die
Rheinisch-Westfälische Zeitung verbreiten, der fragliche Angestellte habe kein
besonders hohes Einkommen und keine Tantiemen gehabt. Um die Lauterkeit
der Veröffentlichung zu diskreditieren, meldete man den Journalisten, es handle
sich um einen Racheakt eines wegen Betrugs entlassenen Angestellten von
Krupp.153
Krupp konnte zur Verteidigung auf einen privilegierten Pressezugang zurückgreifen. Besonders die von der Schwerindustrie subventionierten Zeitungen,
wie die Deutsche Zeitung, die Post und die Rheinisch-Westfälische Zeitung, griffen die Argumentation zuerst auf, die anderen Zeitungen druckten es nach. Die
persönlichen Interviews und Erklärungen Hugenberg versuchten auch in den
folgenden Tagen, die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens zu sichern.154
Von den Massenblättern setzte sich jedoch während der folgenden Prozesse allein der Berliner Lokal-Anzeiger für Krupp ein. Das Blatt scheute selbst vor
direkten Angriffen gegen die Richter und Staatsanwälte nicht zurück, die diese
explizit in den Sitzungen zurückwiesen.155 Diese hartnäckige Unterstützung
Krupps durch das Blatt aus August Scherls Verlag erklärt sich freilich sowohl
aus dessen offiziöser Beziehung zur Regierung als auch aus der finanziellen Unterstützung, die der Verlag durch von Hugenberg organisierte Wirtschaftsgelder
erhielt.156 Sie zeigten einmal mehr, dass auch ein modernes Anzeigenblatt eben
nicht „parteiunabhängig“ sein musste.
152
153
154
155
156
Vgl. Hugenbergs Interviews in: Berliner Lokal-Anzeiger 26. 4. 1913; Kölnische Zeitung
25. 4. 1913; Rheinisch-Westfälische Zeitung 25. 4. 1913; Neue Preussische Zeitung
Nr. 191, 25. 4. 1913.
Vossische Zeitung Nr. 198, 20. 4. 1913, S. 1; Neue Preussische Zeitung Nr. 183, 20. 4. 1913,
S. 2. Zu diesen gezielten Indiskretionen, gegen die von Metzen klagte: Sello an Bell 27. 6. 1913,
in: HAK, WA 4/1414: 201.
Vgl. zu diesem Schritt: Bohlen und Halbach 22. 5. 1913, in: GStA, 1 Rep 92-38. Vgl. Hugenbergs Interviews und Erklärungen in: Rheinische Westfälische Zeitung Nr. 488, 25. 4. 1913;
Kölnische Zeitung Nr. 473, 25. 4. 1913; Berliner Lokal-Anzeiger 26. 4. 1913.
Berliner Lokal-Anzeiger, 24. 10. 1913, 29. 10. 1913 und 6. 11. 1913.
Vgl. die Unterlagen in Hugenbergs Nachlass: Bundesarchiv Koblenz, N 1231- 410 (Annoncenpacht- und Kommissionsverträge mit Scherl bis 1910). Generell zu Scherl: Mendelssohn,
Zeitungsstadt Berlin, S. 114–129.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
455
Abb. 13: Liebknecht im scheinbar aussichtslosen Kampf gegen Krupp. Quelle: KLADDERADATSCH Nr. 18, 4. Mai 1913.
Die folgenden zwei Prozesse machten jedoch deutlich, dass das Unternehmen
regelmäßig von bezahlten Indiskretionen profitiert hatte. Wie bei den meisten
Skandalen konstruierten erst die Gerichtsverhandlungen ein umfassendes öffentliches Wissen über den Normbruch. Die erste Verhandlung vor dem Berliner
Kriegsgericht Anfang August 1913 richtete sich gegen sieben Offiziere aus der
Heeresverwaltung, die Krupp über Jahre hinweg mit geheimen Informationen
versorgt hatten. Wie sich herausstellte, hatte das Berliner Büro der Fried. Krupp
AG seit 1906 jährlich über 300 solcher Geheimberichte an das Essener Direkto-
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VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
rium verschickt, die nach dem internen Telegrammcode „Kornwalzer“ hießen.
Die Anklage lautete auf militärischen Geheimnisverrat, Bestechlichkeit und
Ungehorsam gegen militärische Befehle in etwa 900 Fällen.157 Die zuständigen
Direktoren von Krupp und der Berliner Bürovorsteher Brandt traten vor dem
Militärgericht zwar nur als Zeugen auf, aber immerhin zeigte bereits dieser
Prozess ihre Verwicklung. Denn nach Protesten gegen eine nicht-öffentliche
Verhandlung erhielten gut ein Dutzend ausgewählter Journalisten Zutritt, um
Legendenbildungen zu vermeiden.158 Sowohl die katholischen, liberalen und
sozialdemokratischen Zeitungen als auch die konservativen und offiziösen Blätter druckten über mehrere Seiten recht wörtlich die Aussagen ab.
Der Prozess zeigte ein erstaunlich geringes Unrechtsbewusstsein. Im Verhör
gaben die angeklagten Offiziere bereitwillig ihre systematischen Indiskretionen
zu, ohne dies als problematisch zu empfinden. Die Zahlungen und Geschenke
von Krupp hätten sie nicht als Bestechung für ihre Informationen gesehen, sondern als gastfreundliche Gabe eines älteren Kameraden.159 Ebenso verteidigte
sich der Krupp-Angestellte bei der Zeugenbefragung mit seiner Allwissenheit.
Für ihn habe es in Berlin ohnehin keine militärischen Geheimnisse gegeben, und
die Geschenke habe er nur aus Gutmütigkeit gemacht.160 Noch gewagter waren
die Zeugenaussagen der Direktoren von Krupp. So sagten etwa die Direktoren
Mouths und Rausenberger aus, die „Kornwalzer“ hätten nur gewöhnliche Informationen enthalten, die in keinem Fall zu einem materiellen Vorteil für das
Unternehmen geführt hätten.161 Die Berichte hätten allenfalls zur Überprüfung
von Kalkulationen gedient.
Im Prozessverlauf wurde dies jedoch klar zurückgewiesen. Tatsächlich hatten
die „Kornwalzer“ der Fried. Krupp AG deutliche Wettbewerbsvorteile beschert. Erstens führten sie Preisangebote von Konkurrenten wie der Phoenix
oder der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik auf, so dass Krupp
seine Preise leicht unter diese Margen senken konnte.162 Die dabei übermittelten
tabellarischen Auflistungen belegen, dass die Offiziere nicht nur beiläufig Zahlen ausplauderten, sondern systematisch ganze Dokumente kopierten. Zweitens
berichteten die „Kornwalzer“ sowohl über die Konstruktionen der Konkurrenz
als auch über deren Vorführungen. Krupp erfuhr auf diese Weise technische Daten, Stärken und Schwächen der Umsetzung und die Einschätzungen der Offiziere.163 Drittens übermittelten die Schreiben, nach welchen Kriterien sich die
Heeresverwaltung jeweils für bestimmte Produkte entschieden hatte. Das er157
158
159
160
161
162
163
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2.
Vossische Zeitung Nr. 381, 30. 7. 1913, S. 3; Vorwärts Nr. 195, 1. 8. 1913, S. 5.
Vgl. Prozessprotokolle in: Vossische Zeitung Nr. 384, 31. 7. 1913, S. 1 ff.; Norddeutsche
Allgemeine Zeitung Nr. 179, 1. 8. 1913, S. 2 bis ebd. 7. 8. 1913, Nr. 184, S. 3.
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 180, 2. 8. 1913, S. 4.
Ebd.
Vgl. etwa: Aktennotiz N.B. 2. 3. 1913, in: HAK, WA 4 1414: 6. Da die Kornwalzer selbst nicht
überliefert sind, müssen ihre Inhalte vor allem aus den Gerichtsakten rekonstruiert werden.
Vgl. etwa: Justizrat Gordon an Königliche Landgericht 10. 9. 1913, in: HAK, WA 4/1415.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
457
möglichte eine bessere Vorbereitung für spätere Angebote.164 Viertens erfuhr
Krupp von Lieferschwierigkeiten der Konkurrenz, so dass die Firma im Bedarfsfall ihre Produktpalette darauf einstellen konnte.165 Und fünftens übermittelten die Berichte Informationen über die zukünftigen Bedürfnisse der Militärs.
So enthielt ein „Kornwalzer“ Aktenstücke über die nötigen Lieferungen im Falle der Mobilmachung.166 Die durch die Berichte gesteigerte Gewinnmarge lässt
sich zwar nicht beziffern, aber sie gaben Krupp einen breiten Informationsvorsprung, der gerade im Vorfeld der Kriegsmobilisierung und steigenden Rüstungsproduktion von großer Bedeutung war. Auch die äußerst geheime Übersendung, Aufbewahrung und Thematisierung belegte, dass das Krupp-Direktorium
durchaus um ihre Brisanz wusste.
Natürlich war es allgemein üblich, dass Unternehmensangestellte Kontakte
zu öffentlichen Auftraggebern hielten und Informationen an die Firmenleitung
übermittelten. Dementsprechend lassen sich auch in den Krupp-Akten andere
Berichte von Mitarbeitern ausmachen, die Neuigkeiten oder Gerüchte meldeten.167 Die „Kornwalzer“ hatten jedoch eine völlig andere Qualität: Sie beruhten nicht auf vagen Andeutungen, sondern auf regelmäßigen, detaillierten
Informationen aus der Verwaltung, die durch materielle Belohnungen erlangt
wurden. Sie bestanden nicht nur aus beiläufigen mündlichen Mitteilungen, sondern aus abgeschriebenen Listen oder vorgelegten Geschäftsbüchern, die Brandt
für seine Berichte erhielt. Insofern hatte die Aufdeckung dieses Amtsmissbrauchs tatsächlich das Potential für den bislang größten Bestechungsskandal
im Kaiserreich.
Der Prozess zeichnete juristisch und medial ein desaströses Bild des Unternehmens und der Bürokratie. Er führte zu einem ersten Kulminationspunkt
des Skandals, der der symbiotischen Verbindung zwischen dem Staat und
Krupp deutliche Grenzen setzte. So betonte ein Sachverständiger der Heeresverwaltung, es gäbe durchaus auch gegenüber Krupp militärische Geheimnisse
und gerade die Preise und Konstruktionen der Konkurrenz seien aus gutem
Grunde geheim. Ebenso sprach die Anklage von „unlautere[m] Wettbewerb“
und „Bestechung“.168 Insgesamt machte das Kriegsministerium in einem späteren Gutachten 32 „Gegenstände“ aus, „deren Geheimhaltung im Interesse
der Landesverteidigung erforderlich ist“. Die Verurteilung erfolgte dementsprechend in fast allen Fällen wegen Bestechung in Verbindung mit der Preisgabe von militärischen Geheimnissen. Die Urteile für die sieben Offiziere lagen
freilich deutlich unter der Forderung der Anklage und klar unter der zulässigen
Haftstrafe von bis zu fünf Jahren (§ 332). Die Angeklagten erhielten nur
zwischen sechs Monaten Gefängnis und drei Wochen Arrest, wobei das Urteil
164
165
166
167
168
Erklärung Eccius 15. 2. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 143f.
Staatsanwalt 4. 6. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 154-156.
Steinmetz an Muehlon 27. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672.
Vgl. etwa die Meldung vom 17. 11. 1908 und 15. 1. 1909, in: HAK, FAH 4 E 58a.
Ebd.
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458
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
lediglich in drei Fällen eine Dienstentlassung bedeutete. Das Gericht selbst bezeichnete diese Urteile ebenfalls als sehr milde im Hinblick auf den Ehrverlust,
den das Heer und die Beamtenschaft erlitten hätten. Das Urteil war das Ergebnis eines Spagates, der den Prozess prägte: Er sollte einerseits eine deutliche
Warnung an die Beamtenschaft und Offiziere sein, anderseits aber zeigen, dass
es sich nur um einen kleinen Ausnahmefall handelte. Beides war jedoch kaum
gleichzeitig zu vermitteln, weshalb sich auch die Presse über die milden Urteile
empörte.
Der Prozess machte öffentlich, wie korrupte Praktiken in der scheinbar unkorrumpierbaren preußischen Bürokratie verlaufen konnten. Für Verwunderung und Empörung sorgte zunächst, welche geringen Summen im Spiel waren.
So spottete die auflagenstarke BZ am Mittag: „Das hat wohl niemand für möglich gehalten, daß man in Preußen richtiggehende Staatsgeheimnisse zu wahren
Schleuderpreisen kaufen kann. Zehn bis zwanzig Mark und gelegentlich ein
warmes Abendbrot im ‚Rheingold‘ hat Herr Brandt dem Zeugleutnant Schleuder und Genossen für interessante Nachrichten aus dem Ministerium der Landesverteidigung gezahlt.“169 Gerade im Vorfeld des Weltkrieges löste dies die
Angst aus, ausländischen Agenten könnte ähnliches gelingen.
Tatsächlich hatte der Krupp-Angestellte Brandt nur geringe, aber regelmäßig
fließende Beträge zum Einholen der Informationen benötigt. Das Krupp-Direktorium überwies diese regelmäßig über eine dafür vorgesehene Sonderzulage
zu seinem hohen Gehalt.170 Einige Offiziere erhielten nur Essenseinladungen
oder Theaterkarten, andere bekamen zudem Beträge von zehn bis zwanzig
Mark für besonders interessante Nachrichten. Außerdem machte Brandt zu
Weihnachten regelmäßig Geldgeschenke von bis etwa 100 Mark pro Person,
was immerhin dem halben Monatslohn vieler Offiziere entsprach.171 Die zudem
gewährten Darlehen von etwa 1 000 Mark, die Brandt vergab, wurden in der
Regel zurückgezahlt.172 Wie die anfangs noch geführten Einzelaufstellungen
Brandts belegen, kam er dementsprechend bei seinem Kontakt mit mindestens
acht Zeugoffizieren mit durchschnittlich 200 bis 250 Mark pro Monat aus.173
Gerade die beiläufige Vergabe kleiner Begünstigungen im Kontext eines sorgfältig angebahnten Vertrauensverhältnisses dürfte den dauerhaften Erfolg der korrupten Beziehung erklären. Die kleinen Summen wirkten auf die Beteiligten
nicht wie Bestechungen, sondern wie eine freundliche Unterstützung eines ver169
170
171
172
173
Berliner Zeitung Nr. 181, 5. 8. 1913.
Sein Verdienst von 12 000 Mark bestand aus 6 500 Mark Grundgehalt, 2 000 Mark Gratifikationen und 3 500 Mark Pauschale für seine „Sonderausgaben“. Metzen an Eccius 7. 9. 1909 (Abschrift in Urteil), in: HAK, WA 4/1415: 271; Vermerk Marquardt 14. 9. 1909, in: HAK, WA
131/417; sowie: HAK, WA 4/1415:176.
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 180, 2. 8. 1913, S. 3.
Urteilsbegründung in: HAK, WA 4/1415. Abwegig ist daher die von William Manchester
ohne Quellenbeleg angeführte Behauptung, acht „Marineoffiziere“ hätten 50 000 Mark erhalten und ein Offizier der Heeresartillerie 13 000 Mark; Manchester, Krupp, S. 269.
Schütz an Rötger 26. 4. 1907, in: HAK, WA 131/417.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
459
trauten Kollegen. Die Vertrauensbildung, und weniger die materielle Vorteilsnahme, erklärt somit den korrupten Akt.
Dagegen zeigte sich bei dem zweiten großen Prozess, der sich nun gegen das
Unternehmen richtete, wie stark die Justiz Krupp begünstigte, um dem Skandal
einzudämmen. Da die Ermittlungen belegten, dass zahlreiche Direktoren von
dem korrupten Verhalten gewusst und es durch Extrazahlungen an Brandt gefördert hatten, richtete sich die Anklageschrift zunächst auch gegen die KruppDirektoren Hugenberg, Rötger, Haux, Eccius und Muehlon sowie den stellvertretenden Direktor Marquardt.174 Immerhin sah das Strafgesetzbuch für die
aktive Bestechung Gefängnisstrafen ohne eine nähere Eingrenzung vor (§ 333).
Tatsächlich ging der zweite Prozess für das Unternehmen denkbar glimpflich
aus. So erreichten Krupps Anwälte, dass neben Brandt nur der Krupp-Direktor
Eccius „wegen Bestechung, Verrat militärischer Geheimnisse und Beihülfe zur
Bestechung“ angeklagt wurde. Der Direktoriumsvorsitzende Hugenberg und
die anderen zunächst beschuldigten Direktoren mussten abermals nur als Zeugen aussagen, da ihre Verteidiger im Vorfeld deren Unkenntnis über die Vorgänge vermitteln konnten. Die Justiz akzeptierte großzügig, die Direktoren hätten
nicht davon ausgehen können, „daß bei preußischen Militärbeamten [...] Bestechungen, seien es auch nur indirekte, möglich seien“.175 Dass Direktor Eccius
stellvertretend die alleinige Verantwortung für das Direktorium vor Gericht
übernahm, lässt sich vermutlich mit dem Gesundheitszustand des 45-jährigen
erklären: Da er zunehmend kränkelte, schien er sich ohnehin aus dem Berufsleben zurückziehen zu wollen.
Von staatlicher Seite wurde schon vorher signalisiert, dass man trotz aller Anschuldigungen auf Krupps Seite stehe. Durch die Verleihung des Roten Adlerordens an Gustav Krupp von Bohlen und Halbach unterstrich Kaiser Wilhelm
im Sommer 1913 sein Vertrauen in das Unternehmen. Auch Tirpitz betonte in
einem Brief an Bohlen und Halbach vor dem Prozess, „Krupp und die Marine
gehören historisch zusammen.“176 Diese Verbundenheit lässt sich nicht allein
mit der ökonomischen Stellung von Krupp erklären. Vielmehr ging es darum,
einen moralischen Sieg der Sozialdemokratie über die Monarchie, Bürokratie
und Wirtschaft zu verhindern. Ähnlich argumentierte auch Bohlen und Halbach: Es sei nötig „selbst wenn alles, was die Sozialdemokraten behaupten, wahr
wäre, [...] trotzdem für eine Firma wie die Kruppsche Partei zu ergreifen und
den Sozialdemokraten nicht den billigen Triumph zu lassen, den sie jetzt scheinbar vor aller Welt davongetragen haben.“177
174
175
176
177
Staatsanwaltliche Unterlagen 4. 6. 1913, in: HAK, WA 4/1414: 163; außer Verfolgung waren
dagegen zu setzen: Dreger, von Dewitz und Metzen.
Justizrat Gordon an Königliche Landgericht 10. 9. 1913, in: HAK, WA 4/1415.
Brief vom 5. 10. 1913, zit. nach: Michael Epkenhans, Grundprobleme des Verhältnisses von
Staat, Militär und Rüstungsindustrie in Deutschland, 1871–1933, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 81–112, S. 82.
Krupp von Bohlen Halbach an Bueck 19. 6. 1913, in: HAK, FAH 4 E 328.
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460
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
Mit dem Verlauf der Verhandlung war das Unternehmen ebenfalls zufrieden.178 Das Gericht akzeptierte ihre Verteidigung, die Informationen hätten vor
allem zur Senkung der Preise beigetragen und damit dem Staat keinen Schaden
und dem Unternehmen keinen zusätzlichen Profit zugefügt. Statt von Korruption zu sprechen, führte die Verteidigung den Begriff „Schwatzhaftigkeit“ ein.
Das Besondere wurde so in das Alltägliche überführt, der Vertrauensbruch in
eine Vertrauensseligkeit. Quasi ein Schuldeingeständnis war auch díe offensiv
vorgetragene Verteidigung, Krupps Konkurrenz hätte genau die gleichen Methoden angewandt und auch bei Krupp spioniert. Diese Strategie mochte Krupp
entlasten, aber ihre Verbreitung über die Medien dürfte zugleich dazu beigetragen haben, das Vertrauen in die Unternehmenskultur insgesamt zu untergraben.
Darüber hinaus konnte Krupp durch statistische Berechnungen recht erfolgreich die Bedeutung der „Kornwalzer“ herunterspielen. Danach hätten die ausgeschriebenen Lieferungen an die preußische Heeresverwaltung, die die Berichte
beträfen, nur 0,15% des Gesamtumsatzes ausgemacht und wären somit irrelevant.179 Die nüchternen Zahlen verschleierten freilich, dass die Informationen
über die Konkurrenz und die Bedürfnisse des Heeresministeriums einen viel
größeren Stellenwert hatten, der sich nicht in direkten Gewinnmargen zeigen
ließ. Ansonsten betonten die Krupp-Direktoren durchweg ihre Erinnerungslücken und behaupteten, sie selbst hätten die von ihnen abgezeichneten Geheimberichte nicht gelesen.180
Obgleich das Gericht das Unwissen der Direktoren und die geringe Bedeutung der Berichte zurückwies, fiel auch das Urteil denkbar milde aus. Brandt
wurde nach 13 Verhandlungstagen wegen „fortgesetzter Bestechung“ zu vier
Monaten Gefängnis verurteilt, die mit der Untersuchungshaft bereits als verbüßt galten. Direktor Eccius wurde wegen „Beihülfe zur fortgesetzten Bestechung“ zu 1 200 Mark Geldstrafe verurteilt, während der Staat die Verfahrenskosten übernahm.181 Die geringe Höhe der Bestechungsgelder und die Ansicht,
dass der Geheimnisverrat weder zur Preiserhöhung noch zum unbefugten Verrat von Militärgeheimnissen geführt hätte, galten als strafmildernd. Eine weiterführende Ermittlung über den Fall hinaus blockte das Gericht ab. So schnitt es
Karl Liebknecht bei seiner Zeugenvernehmung sofort das Wort ab, als er andeutete, Brandt habe auf ähnliche Weise mit dem Reichsmarineamt verkehrt und
Krupp besteche ausländische Zeitungen.182 Dem Gericht ging es vielmehr
darum, den Vertrauensverlust in die Beamtenschaft, das Militär und das Unternehmertum einzudämmen, ohne selbst einen Reputationsverlust zu erleiden.
Deshalb diskutierte es äußerst ausführlich die gesellschaftliche Bedeutung des
178
179
180
181
182
Vgl. Berichte wie Klöpfer an Vielhaber 28. 10. 1913 und Antwort 29. 10. 1913, in: HAK, WA
4/1415: 214.
Auflistungen in: HAK, FAH 4 E 58a.
Aussage in Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 262; Prozessprotokoll in Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 259, 2. 11. 1913, S. 7.
Urteilsbegründung, in: HAK, WA 4/1415: 214.
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 261, 5. 11. 1913, S. 2.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
461
Bestechungsfalles. In der Urteilsverkündung verbreitete es, die Untersuchung
habe gezeigt, dass „kein Makel auf unser deutsches Beamtentum im allgemeinen
fällt“.183 Gerade die bürgerliche Presse sah dies als das entscheidende Urteil.
Die Bedeutung des Falles verdichtete sich in der Öffentlichkeit und vor Gericht in der Frage, ob ein „Panama“ vorliege. Damit näherte sich der Skandal
seinem Ausgangspunkt. Bereits Liebknecht hatte bei seiner Enthüllung im
Reichstag mit dem Vorwurf Emotionen ausgelöst, „Es handelt sich hier um ein
Panama, schlimmer als Panama.“184 Damit spielte er, wie viele Skandale zuvor,
auf den damals weltweit bekanntesten Bestechungsskandal an, der 1892/93
Frankreich erschüttert hatte und seitdem auch in Deutschland ein geflügeltes
Wort für Korruption in größerem Umfange geworden war. Sowohl die Gerichte
als auch die bürgerliche Presse stritten nun immer wieder darüber, ob von einem
„Panama“ zu sprechen sei. So begründet das Kriegsgericht die Öffentlichkeit
des Prozesses damit, „das Wort Panama, wenn irgend möglich, auszumerzen.“185
Der Verhandlungsführer verlas bei der Anklage erneut die entsprechende Panama-Passage aus Liebknechts Rede und stellte sie quasi als Leitfrage zur Debatte.186 Auch die Verteidigung argumentierte von Beginn an, es läge „kein Panama“ vor: „Unter Panama versteht man die Käuflichkeit höherer Stellen, davon
ist hier nicht die Rede.“ „Hier handelt es sich um feile Schreiberseelen, die beim
Biertopf nicht das Maul halten konnten.“187 Die Anklage kam trotz aller Vorwürfe schließlich ebenfalls zu dem Befund, „daß ein Panama nicht vorliegt“.
Zugleich warf der Kriegsgerichtsrat Liebknecht vor, er habe durch den PanamaVorwurf das Ansehen der Heeresverwaltung erheblich herabgesetzt, da bisher
„Machenschaften, wie sie in anderen Ländern der Verwaltung nachgesagt werden, im preußischen Beamtentum und im deutschen Heere nicht gang und gäbe
waren.“ Auch in der Urteilsbegründung hieß es, „Unter Panama versteht das
Gericht Korruption schlimmster Sorte.“188 Dies sei nicht der Fall, da es sich um
wenige untergeordnete Personen handele, die Mitteilungen gegen kleine Beträge
gemacht hätten. Deshalb sprach das Gericht sogar von „einem glücklichen Ausgang des Prozesses, weil ein ‚Panama‘ nicht aufgedeckt worden sei“.189 Die bürgerliche Presse schloss sich erleichtert diesem Deutungsmuster an, um einen
Schlussstrich zu ziehen.
Warum kulminierte die Korruptionsdebatte ausgerechnet in dem Wort „Panama“? Der Begriff war seit zwei Jahrzehnten ein allgemeines Synonym für
den größtmöglichen Skandal, und wurde von den Zeitgenossen wesentlich
183
184
185
186
187
188
189
Urteilsverkündung Neue Preussische Zeitung Nr. 527, 9. 11. 1913, S. 9.
RT, XIII. Leg., I. Sess., 144 Sitz., 19. 4. 1913, 4926.
Vossische Zeitung Nr. 394, 6. 8. 1913, S. 4.
Prozessprotokoll in: Vossische Zeitung Nr. 391, 4. 8. 1913, S. 2; Norddeutsche Allgemeine
Zeitung 6. 8. 1913 Nr. 183, S. 3.
Prozessprotokoll in: Vossische Zeitung Nr. 393, 5. 8. 1913, S. 2 und Vorwärts 6. 8. 1913
Nr. 200, S. 6.
Prozessprotokoll in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 184, 7. 8. 1913, S. 3.
Vossische Zeitung Nr. 394, 6. 8. 1913, S. 1
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462
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
häufiger aufgegriffen als etwa der heute bekannteste französische Skandal, die
Affäre Dreyfus. Nicht allein Korruption, sondern alle Formen von Machtmissbrauch wurden in der öffentlichen Debatte mit dem assoziationsreichen Wort
Panama angeprangert, das eine breite Verschwörung suggerierte und gerade
deshalb so umkämpft war.190 Panama stand dabei nicht allein für den heute
benutzten Begriff „Bananenrepublik“, sondern war vor allem eine Bezeichnung für die französischen Verhältnisse im Vorfeld der Dreyfus-Affäre, von
denen sich gerade die preußische Verwaltung in jeder Hinsicht abgrenzen wollte. Im Hinblick auf den französischen Panama-Skandal 1892/93 galt es vor
allem zu belegen, dass keine Regierungsmitglieder involviert waren. Von ihrem
Ausmaß war die Kornwalzer-Affäre tatsächlich in keiner Weise mit dem
Panama-Skandal zu vergleichen. So waren weder Minister, Abgeordnete oder
Journalisten bestochen worden, noch ging es um hohe Bestechungssummen.
Dennoch, und das war entscheidend, erreichte die öffentliche Empörung 1913
ein vergleichbares Ausmaß, sei es, weil die Maßstäbe andere waren, sei es, weil
die Berichte aus Frankreich derartiges prinzipiell auch für Deutschland möglich erschienen ließen.
Der Begriff „Korruption“ blieb hingegen in dem Skandal wenig gebräuchlich.
In den Debatten um den Krupp-Skandal sprachen die Beteiligten vornehmlich
von „Schmierereien“ oder „Bestechungen“. Gängiger war das Wort vornehmlich bei der Linken. So sprach der Vorwärts von einem „ganzen Korruptionssystem“.191 Die Erklärungen für die Ursprünge der Korruption divergierten erwartungsgemäß in den Medien, standen aber insgesamt im Zeichen einer gewissen Kapitalismuskritik. Während die linke Presse die Korruption explizit als
Folge des Kapitalismus interpretierte und deshalb eine rein staatliche Rüstungsproduktion forderte, erklärte die konservative Presse das „Schmiergeldwesen“
als ein Zeichen des zunehmenden „Amerikanismus“. Um dem Skandal trotz der
Nichtbeteiligung von Juden antisemitisch zu interpretieren, verband die konservative „Kreuzzeitung“ dies mit der Behauptung, der Fall wäre nicht angeklagt
worden, wenn es um „Herrn Cohn“ ginge.192 Eine große Übereinstimmung
zwischen der Presse und dem Gericht gab es bei der Bewertung der bestochenen
Staatsdiener, die als verführte Opfer eines geschickt agierenden Unternehmensangestellten gesehen wurden.193 Die Ehre des Beamten wurde damit über das
Unternehmen gestellt, obwohl beide prinzipiell die gleiche Schuld traf und das
Fehlverhalten der Staatsdiener schwerer wog.
190
191
192
193
Vgl. die bereits oft angeklungene Diskussion des Wortes „Panama“ bei den unterschiedlichsten Normbrüchen: Dem Polizeiskandal um Tausch (Vorwärts Nr. 287, 8. 12. 1896, Spectator 12. 12. 1896, Tägliche Rundschau 6. 6. 1897), den Kolonialskandalen 1906 (Berliner
Tageblatt Nr. 383, 31. 7. 1906; BZ am Mittag Nr. 186, 10. 8. 1906) oder auch bei den Skandalen um die Vorwürfe, F. A. Krupp und Eulenburg seien homosexuell (Vorwärts Nr. 293,
16. 12. 1902; Neue Preussische Zeitung 4. 11. 1908, abends, S. 2).
Vorwärts Nr. 195, 1. 8. 1913 S. 5.
Neue Preussische Zeitung Nr. 363, 6. 8. 1913, S. 1 f.
Vgl. selbst die ansonsten kritische Vossische Zeitung Nr. 384, 31. 7. 1913, S. 1.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
463
Welche Folgen hatte der Skandal? Trotz der milden Urteile führte er zu einer
Diskreditierung tragender Säulen des Kaiserreiches. Durch die ausführlichen
und kritischen Presseberichte verloren die preußische Bürokratie, das Militär
und Krupp massiv an Ansehen. Gerade in Verbindung mit der sich anschließenden Zabern-Affäre, bei der deutschen Offizieren die Misshandlung von Elsässer
Rekruten vorgeworfen wurde, bildeten sie eine schwere Niederlage für die
Eliten des Kaiserreichs, insbesondere für das Kriegsministerium. Während sich
die politische Rechte, wie bei allen Skandalen, zugleich um einen Ansehensverlust Deutschlands im Ausland sorgte, sahen sich die Mitte-Links-Parteien
und insbesondere die Sozialdemokratie durch ihre öffentlichen Anklagen gestärkt.
Personelle Konsequenzen hatte die Kornwalzer-Affäre vor allem für den
Kriegsminister von Heeringen. In der Presse waren bereits unmittelbar nach
Liebknechts Enthüllungen im Reichstag entsprechende Rücktrittsgerüchte
aufgekommen, da Heeringen die Beschuldigungen schlecht gemeistert hatte.194
Nachdem von Heeringen nur mit Mühen die Erhöhung der Militärausgaben
durchgebracht hatte, war sein schwaches Krisenmanagement ein weiterer
Sargnagel für seine Karriere. Auch die politische Rechte sparte nicht mit einer
harten Kritik am Kriegsminister und dem Kriegsministerium insgesamt, die
verantwortlich für das Ausmaß des Skandals seien.195 Nach seinem Rücktritt
sprachen selbst regierungstreue Blätter wie die Leipziger Neuesten Nachrichten
davon, dass Heeringens „parlamentarische Entwicklung eine ununterbrochene
Kette von Blamagen war, dessen letzte und größte an den Namen Krupp
anknüpfte“.196 Damit konnte die von der SPD angestoßene Kampagne trotz
der fehlenden Ministerverantwortlichkeit immerhin zu einem Ministersturz
beitragen.
Zudem löste auch dieser Skandal Gesetzesreformen aus, um die Handlungsbereitschaft der Regierung zu unterstreichen und Wiederholungsfälle zu verhindern. Bereits ein halbes Jahr später, am 3. Juni 1914, trat eine Novelle über den
Verrat militärischer Geheimnisse in Kraft, die das Strafmaß deutlich herauf
setzte. Darüber hinaus wurde sogar die Veröffentlichung schwebender Ermittlungen über Verstöße gegen das Gesetz mit bis zu einem Jahr Haft bestraft, um
gegen derartige Skandalisierungen vorgehen zu können.197 Auch wenn diese
Novelle im Zeichen des wachsenden Misstrauens im Vorfeld des Krieges stand,
war sie doch eine Antwort auf den Krupp-Skandal. Um Gesetzestreue zu zeigen
und Risiken zu vermeiden, ließ die Fried. Krupp AG das neue Gesetz überall
194
195
196
197
Vgl. Germania Nr. 183, 21. 4. 1913.
Zur Rhetorik der konservativen Kritik vgl. als Quelle: Zimmermann, Prozeß gegen Brandt,
S. XI.
Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 187, 6. 7. 1913
§ 11 Reichs-Gesetzblatt 3. 6. 1914 Nr. 32 (1914) S. 195–199, S. 198. Selbst der Geheimnisverrat
ohne den Vorsatz, die Sicherheit des Reiches zu gefährden (was in dem Skandal der Fall war),
wurde hier mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft, ebenso, wie im Skandal vorgefallen, die Beschaffung der Kenntnisse mit bis zu drei Jahren.
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
464
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
aushängen, und jeder Angestellte musste per Unterschrift die Kenntnisnahme
bestätigen.198
Im Unterschied zu Großbritannien blieb zwar erneut eine parlamentarische
Untersuchung des Vorganges aus, aber der Skandal verhalf immerhin zu bemerkenswerten Ansätzen. So setzte die Regierung eine von der Reichstagsmehrheit
geforderte „Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen“ ein. Gleichzeitig blockierte sie jedoch eine weiterführende Untersuchung von Missständen
bei Rüstungslieferungen.199 Um dies sicherzustellen, lehnte die Regierung die
von der SPD geforderte Beteiligung Liebknechts ab, da die Kommission ein
„unparteiisches objektives Organ“ sein solle, und schlug als SPD-Mitglieder mit
Gustav Noske und Albert Südekum zwei Vertreter des rechten Parteiflügels
vor.200 Die SPD verzichtete daraufhin im November 1913 ganz auf eine Beteiligung an der Kommission, was deren kritisches Potential weiter schmälerte. In
der Kommission diskutierten die bürgerlichen Abgeordneten mit den Regierungs- und Unternehmensvertretern die Preise und Verflechtungen der
Rüstungsindustrie sowie Möglichkeiten ihrer Verstaatlichung. Trotz des Engagements von Matthias Erzberger, der auf gemäßigte Weise Liebknechts Rolle
übernahm, verloren sich die Berichte aber im Ergebnislosen. Die Regierungsvertreter setzten weiter auf Krupp: Andere Konkurrenten hätten nicht genügend
Erfahrung, keine vergleichbare Vertrauensstellung, und selbst Unternehmen
wie Ehrhardt und die staatlichen Institute würden oft nicht an Krupps Qualität
heranreichen.201 Die Bildung einer gemischt-wirtschaftlichen Produktion konnte Krupp umgekehrt mit dem Hinweis auf den Verlust von 100 000 Arbeitsplätzen und den Anschlussverlust an internationale Rüstungsstandards abwenden.
Selbst der linke Zentrumsflügel unter Erzberger rückte von der Staatsproduktion 1914 ab und stellte sich gegen die fortgesetzte Agitation der SPD.202
Innerhalb des Unternehmens hatte der Skandal kaum Konsequenzen. Die
Rüstungsaufträge boomten 1914 durch die expandierende Aufrüstung und die
folgende Mobilmachung, und die Führungsspitze veränderte sich durch den
Skandal kaum. Alfred Hugenberg blieb bis zum Kriegsende Vorsitzender des
Direktoriums, und in der Führung schied niemand wegen des Skandals aus. Lediglich der verurteilte Direktor Eccius trat nach dem Prozess aus dem Unter198
199
200
201
202
Kruppsche Mitteilungen 30. 6. 1914, in: HAK, WA 41/5-7.
So äußerte der Staatssekretär des Inneren, Clemens von Delbrück, bereits in einer Vorbesprechung mit Vertretern der Ministerien: „Die Verhandlungen [in der Kommission, F.B.] müssen
m. E. von vornherein darauf angelegt werden, daß eine Erörterung darüber, ob Mißstände bei
Rüstungslieferungen vorliegen, ausgeschieden und im wesentlichen allgemeine Fragen wirtschaftlicher Natur erörtert werden. Dies wird dadurch erleichtert werden, daß ich die Führung der Verhandlungen übernommen habe. [...] Wenn Fragen erörtert werden, dann wird das
Ergebnis sein, daß keine angeblichen Mißstände als solche zur Erörterung gelangen.“ Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13.
Aufzeichnung 15. 10. 1913, in: BAB/L, N 2176-13.
Aufzeichnung 3. 7. 1913, in: BAB/L, N 2176-13.
Zu der weiteren Diskussion in der Kommission ab 1914 vgl. bereits Epkenhans, Flottenrüstung, S. 377–389.
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3. Ein deutsches „Panama“? Korruption bei Krupp
465
nehmen.203 Sein weiterhin äußerst gutes Verhältnis zur Friedr. Krupp AG legt
nahe, dass dieser Entschluss freiwillig und mit einer gütlichen Einigung geschah.204 Die in dem Korruptionsfall verwickelten Mitarbeiter des Unternehmens wurden intern allesamt äußerst großzügig abgefunden, um ein Wiederaufflammen der Vorwürfe zu verhindern. Bei Eccius übernahm die Fried. Krupp
AG die Geldstrafe und alle anderen „Auslagen“, die durch den Prozess entstanden seien.205 Ebenso bekam der ehemalige Direktor Marquardt, der die Zulage
für Brandt ausgehandelt hatte, alle Auslagen erstattet.206 Das Unternehmen versuchte so Konflikte zu vermeiden, durch die weitere interne Informationen an
die Öffentlichkeit hätten kommen können.
Am bemerkenswertesten war jedoch die Versorgung des Krupp-Angestellten
Brandt, dessen korrupte Angebote die ganze Affäre ausgelöst hatte. Die Unternehmensführung bemühte sich, Brandt durch eine hohe Abfindung loyal zu stimmen, nicht an Konkurrenzfirmen zu verlieren „und in der Hand zu behalten“.207
Schließlich wurde im nächsten Jahr eine äußerst großzügige Entschädigung von
insgesamt rund 65 000 Mark ausgehandelt, die er verdeckt erhielt.208 Brandt verpflichtete sich dafür, „keine neue Stellung anzunehmen, die der Firma nicht zusagt.“209 Um sein Wohlwollen zu bewahren, bemühte sich der Anwalt von Krupp
noch lange Jahre um ihn. Er verschaffte Brandt eine neue Stellung beim Hanfverband210 und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass Brandts Straftaten im Zuge der
Amnestie zum Kaisergeburtstag 1916 per Sondergenehmigung aus dem Strafregister gelöscht wurden.211 Gleichzeitig stieg Brandt zum Leiter der Hanfabrechnungsstelle auf, die vom Kriegsministerium geschaffen wurde.212 Damit erreichte
er abermals eine Position, die zwischen Verwaltung und Wirtschaft vermittelte.
Noch im Inflationsjahr 1923 bemühte sich die Fried. Krupp AG um eine Stellung
für Brandt und gewährte ihm eine einmalige Zahlung.213 Auch bei den verurteilten Offizieren beobachtete das Unternehmen die weiteren Karriereverläufe, um
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
Eccius an Vielhaber 28. 11. 1913, in: HAK, WA 4/1416: 26 und Vielhaber an Loewenstein
29. 2. 1916, in: HAK, WA 4/1416: 59.
Vgl. die Korrespondenz in: HAK, FAH 4 C 239. Direkte Hinweise auf die Abfindungssumme
fanden sich hier allerdings nicht.
Gordon an Vielhaber 2. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1416: 62.
HAK, WA 4/1416: 4.
Eccius an Vielhaber 28. 11. 1913, in: HAK, WA 4/1416: 25; Muehlon an Loewenstein
17. 11. 1913, in: HAK, WA 131/417.
Brandt bekam sein Gehalt für 1 ½ Jahre und Extra-Gratifikationen von jährlich 1 000 Mark für
zehn Jahre, die sein Vertrag noch lief, auf einmal gutgeschrieben (30 000 Mark). Zudem zahlte
die Firma 35 000 für Verluste, die Brandt angeblich beim Verkauf seines Hauses hatte; Schickler an Fried. Krupp AG, 14. 4. 1914, in: HAK, WA 131/417.
Direktorium Fried. Krupp, 10. 12. 1913, in: HAK, WA 131/41.
Loewenstein an Vielhaber, 11. 6. 1914, in: HAK, WA 131/417.
Dies gelang, obwohl Brandts Verurteilung erst zwei Jahre her war und die Amnestie eigentlich
eine Zehn-Jahres-Regelung vorsah; Loewenstein an Vielhaber 8. 3. 1916, in: HAK, WA 4/1416:
124; Anschreiben Erster Staatsanwalt 6. 6. 1916, in: HAK, WA 131/615.
Loewenstein an Vielhaber 28. 1. 1916, in: HAK, WA 4/1416: 117.
Vielhaber an Baur 23. 8. 1923, in: HAK, WA 131/417.
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466
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
sich abzusichern. Der Krieg ermöglichte den verurteilten Männern der Militärverwaltung ebenfalls einen Neuanfang, da sie trotz des eingeleiteten ehrengerichtlichen Verfahrens bei Kriegsausbruch eingezogen wurden.214
Zudem sorgte das Unternehmen für die Vernichtung des Beweismaterials.
Das Direktorium drängte nach dem letzten Prozess auf eine schnelle Rückgabe
der Kornwalzer, „damit wir sie hier unter Aufsicht verbrennen“. Dies sei nötig,
da „sie im Interesse der Landesverteidigung unbedingt geheimgehalten werden
müssen“.215 Auch wenn ihr Anwalt empfahl, mit der Verbrennung noch etwas
zu warten („Man kann ja doch nicht wissen, was etwa Herr Liebknecht oder
sonst jemand noch bringt“216), fielen die Berichte offensichtlich schnell der Vernichtung anheim.
Der Skandal dürfte zudem auch eine fundamentale Umstrukturierung der
Medien mit gefördert haben. Bei dem Skandal hatte Alfred Hugenberg wie nie
zuvor die Macht der Presse zu spüren bekommen. Diese Erfahrung dürfte
Hugenbergs Entschluss gefördert haben, sogleich nach der Affäre mit einem
schwerindustriellen Kreis die „Ausland GmbH“ als eine Holdinggesellschaft zu
gründen. Dieser Vorläufer der späteren „Allgemeinen Anzeigen GmbH“ (AlA)
versuchte über Anzeigen die Tagespresse zu beeinflussen, was sich vor allem
gegen die Anzeigen-Expedition des liberalen Verlegers Rudolf Mosse richtete.
Institutionell war sie zusammen mit dem zeitgleich eingefädelten Kauf des
Scherl-Verlages der Beginn von Hugenbergs späterem Medienimperium.217
Liebknecht bemühte sich, seine Kampagne gegen den Militarismus über die
Aufdeckung von Korruption fortzuführen. So verteidigte er kurz nach dem
Krupp-Prozess einen ehemaligen Angestellten von Siemens-Schuckert vor Gericht, der das Unternehmen mit Firmenbriefen erpresst hatte, welche die Bestechung von hohen japanischen Offizieren und Beamten nachwiesen, um gute
Preise und Monopole zu erreichen.218 Nicht minder brisant war seine gleich
darauf folgende Enthüllung, ein Geschäftsführer des „Reichsverbandes gegen
die Sozialdemokratie“ habe für 40 000 Mark Professorentitel gehandelt.219 Die
Kornwalzer-Affäre hatte damit einen dreifachen Effekt: Sie ermutigte Liebknecht, der Sozialdemokratie über Prozesse und Enthüllungen Aufmerksamkeit
zu sichern; sie war für Firmen eine Bedrohung, da sie um Nachahmungsfälle bei
scheidenden Angestellten fürchten musste; und sie bestärkte die deutschen Gerichte darin, möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit hart gegen Enthüller
vorzugehen, während sie das Ansehen der deutschen Unternehmen zu schützen
suchten. So wurde der ehemalige Siemens-Angestellte mit zwei Jahren Haft bestraft, während die entsprechenden Briefe des Unternehmens nicht vorgelesen
214
215
216
217
218
219
Loewenstein an Vielhaber 11. 8. 1914 und 20. 11. 1914, in: HAK, WA 4/1416: 101 u. 103.
Direktorium an Loewenstein 27. 2. 1914, in: HAK, WA 4/1672:6.
Gordon an Dewitz 11. 3. 1914, in: HAK, WA 4/1672:21.
Vgl. zum Aufbau dieses Medienimperiums: Dankwart Guratzsch, Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, Düsseldorf 1974, S. 183–343.
Vossische Zeitung Nr. 36, 21. 1. 1914, S. 15, Vorwärts 21. 1. 1914, S. 6.
Vorwärts 20. 5. 1914, S. 1, mit Abdruck eines belastenden Briefes.
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4. Zwischenfazit
467
werden durften. Wie im Fall Krupp ließ sich diese Geheimhaltung jedoch durch
das Zusammenspiel von aktiven Parlamentariern und Journalisten nicht mehr
aufrechterhalten. Liebknecht kündigte auch in diesem Fall in parlamentarischen
Debatten die Veröffentlichung der entsprechenden Briefe an, die dann im Vorwärts mit erneutem Bezug auf den Krupp-Skandal erfolgte.220 Was jedoch auch
für Politiker wie Liebknecht nicht zu kalkulieren war, war das öffentliche Interesse. Und das erlahmte nach dem spektakulären Kornwalzer-Fall und dem Beginn der Kriegsmobilisierung. Die allgemeine Diskussion über die Aufrüstung
hatte den Resonanzboden für diesen Skandal geschaffen, nun aber sorgte der
ausbrechende Krieg dafür, dass der Skandal in Vergessenheit geriet.
4. Zwischenfazit
In Deutschland und Großbritannien bestanden bis 1870 unterschiedliche Traditionen im öffentlichen Umgang mit Korruption. Während sie in Deutschland
kaum Gegenstand öffentlicher Debatten war, bildete sie in Großbritannien ein
zentrales Schlagwort, mit dem zunächst ungerechte Formen von Herrschaft bekämpft wurde und seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt die materielle Beeinflussung von Wählern. Dennoch kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu
ähnlichen Formen von Korruptionskampagnen und -skandalen. Dabei bildete
Frankreich einen gemeinsamen Bezugspunkt. Einerseits grenzten sich beide
Länder von der französischen Korruption ab, andererseits speisten sich ihre
Skandale aus Imaginationen, die vor allem der französische Panama-Skandal
grenzübergreifend aufgebracht hatte. Die Skandale zeigten jedoch schnell, dass
in Deutschland und Großbritannien keine vergleichbaren korrupten Praktiken
wie in Frankreich vorherrschten. Vielmehr handelte es sich jeweils um kleinere
Summen oder eher symbolische persönliche Vorteile. Diese Enthüllungen waren dennoch für die Öffentlichkeit so ungewöhnlich, dass sie spektakulär und
außergewöhnlich erschienen und die gewachsenen moralischer Ansprüche dokumentierten. Genährt wurde diese Empörung in beiden Ländern aus einer latenten Kapitalismuskritik, die Großunternehmen mit monopolartiger Stellung vorwarf, sich auf Kosten der Steuerzahler bei Staatsaufträgen zu bereichern. Diese
Kritik artikulierten nicht nur Radicals und Sozialdemokraten, sondern in beiden
Ländern auch eine neuartig kampagnenorientierte populistische Rechte.
An den französischen Pananama-Skandal erinnerte zudem der Antisemitismus, der auch bei den britischen Korruptionsskandalen einen wichtigen Subtext
bildete. In Großbritannien wurde er zwar nur von einer Minderheit offen formuliert und mehrheitlich öffentlich ignoriert oder zurückgewiesen. Die Annahme einer Verschwörung zwischen zwei jüdischen Ministern und dem jüdischen
Geschäftsführer von Marconi prägte jedoch die ersten Vorwürfe in dem größten
Korruptionsskandal vor 1914. Ähnlich antisemitisch gefärbte Skandalisierungen
220
Vorwärts 2. 6. 1914, S. 1.
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468
VII. Korruption und Bereicherung im Vorfeld des Krieges
traten auch in Deutschland insbesondere Anfang der 1890er auf. Gerade weil
ihnen Belege fehlten, diskreditierten sie jedoch eher die Antisemiten. Dass antisemitische Vorurteile keine notwendige Komponente für Korruptionsskandale
war, zeigte sich zudem daran, dass der bedeutendste Korruptionsskandal des
Kaiserreichs, die Kornwalzer-Affäre um Krupp, sich gegen ein Unternehmen
richtete, das sich vielmehr wegen seiner engen Verbindung zur Ministerialbürokratie und zum Kaiser angreifbar machte.
Die Presse spielte bei den Korruptionsskandalen in Deutschland und Großbritannien eine unterschiedliche Rolle. Während in Großbritannien die parteinahe konservative Presse die Vorwürfe aufbrachte, stieß in Deutschland das
Parlament die Veröffentlichung und Empörung an, dem dann die Printmedien
folgten. Dabei zeigte sich in Großbritannien eine überraschend enge Zusammenarbeit zwischen einzelnen Zeitungen und den Parteien. Die englischen
Zeitungen organisierten die Korruptionskampagnen, recherchierten Vorwürfe,
trugen Gerüchte in den parlamentarischen Raum und führten scharf polarisierte
Debatten im Kontext von Unterhaussitzungen. Da der Ehrenkodex des Unterhauses derartig schwere und kaum belegbare Vorwürfe nicht zuließ, forcierten
die Zeitungen stellvertretend die politische Konfrontation. In Deutschland versprach dagegen der Angriff aus dem Parlament eine größere Öffentlichkeit,
wobei insbesondere im Unterschied zu den Monarchie-Skandalen im Reichstag
keine engen Sagbarkeitsgrenzen blockierend wirkten.
In beiden Ländern versuchten die Regierungsparteien den Verlauf der Ermittlungen zu beeinflussen. In Großbritannien nutzten sie ihre Mehrheit im Untersuchungsausschuss, in Deutschland unterbanden sie Ermittlungen. Wie bei den
meisten Skandalen schützte die deutsche Justiz großzügig die angeklagten konservativen Eliten. Dennoch diskreditierten die Korruptionsskandalen gesellschaftliche Repräsentanten, die jeweils einen gewissen Vertrauensvorschuss hatten: in Großbritannien Regierungsmitglieder, in Deutschland die Bürokratie. In
beiden Fällen schuf die Empörung über die aufgedeckten Normbrüche ethische
Entwürfe für die Zukunft. In Deutschland beschwor der Kornwalzer-Skandal
Grenzen zwischen Unternehmen und Bürokratie, und in Großbritannien konstruierten die Korruptionsvorwürfe das Ideal eines Politikers, dessen private
Geldanlagen in keiner Verbindung zu seinem politischen Handeln steht und der
keinen Wissensvorsprung gegenüber dem „ordinary men“ ausnutzt. Ein solches
egalitäres Argument lag auch der deutschen Empörung zugrunde, die einen
fairen Wettbewerb der Unternehmen einforderte.
In beiden Ländern waren schließlich die Korruptionsvorwürfe in den Jahren
vor 1914 der Auftakt für systematische Korruptionskampagnen, die nach dem
Weltkrieg die politische Debatte prägten. Die Figur des politischen Aufsteigers,
der durch korrupte Handlungen sich selbst und Parteifreunde begünstige, prägte
in den zwanziger Jahren ebenso die konservativen Kampagnen gegen Lloyd
Georges Regierung wie die Attacken gegen Erzberger, Barmat oder Sklarek.
Dabei knüpften sie nach dem Weltkrieg vielfach an Begriffe, Kommunikationsstile und Konfliktlinien an, die vor 1914 etabliert worden waren.
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VIII. FAZIT
In der westlichen Welt setzte im späten 19. Jahrhundert eine rasante Medialisierung und Politisierung der Gesellschaft ein. Das schlagartige Anwachsen der
Zeitungsauflagen, der Protestversammlungen und der weltanschaulichen Vereine waren Zeichen dafür, dass sich die politische Kommunikation veränderte.
Politik beruhte nun in geringerem Maße auf Entscheidungen in arkanen Räumen als noch wenige Jahrzehnte zuvor. Die zeitgleich in Westeuropa zunehmenden Skandale, so die Ausgangsüberlegung, bildeten einen Ausdruck und
Motor dieser medialen, politischen und kulturellen Umbrüche. Die Analyse der
Skandale versprach daher Erkenntnisse über die sich verändernde Beziehung
zwischen Politik, Medien und weiteren Formen der Öffentlichkeit. Darüber
hinaus zeigten die Skandale, wie gesellschaftliche Normen im Aufbruch zur
Moderne ausgehandelt wurden und welche nationalen Besonderheiten diese
transnationale Entwicklung aufwies. Die Untersuchung steht somit für einen
Perspektivwechsel im Sinne einer „Kulturgeschichte der Politik“, die eine andere Sichtweise auf Machtstrukturen ermöglicht.
Wie die Studie zeigte, waren die politischen Eliten selbst in einem eher autoritären Staat wie dem deutschen Kaiserreich oder einer Weltmacht wie dem britischen Empire äußerst verletzlich. Diese Verletzlichkeit beruhte eben nicht auf
revolutionären Bedrohungen, sondern auf zunächst unscheinbaren Medienberichten in kleinen Zeitungen, aus denen heraus sich eine Dynamik entwickeln konnte, die die moralische Integrität gesellschaftlicher Systeme in Frage
stellte. Die Skandale forderten die Inhaber von Machtpositionen öffentlich
heraus, indem sie mit der Enthüllung von Tabus in einer medialisierten Öffentlichkeit drohten. Sie standen für eine „Politik der Sensationen“, bei der Techniken der medialen Aufmerksamkeitsökonomie auf die Politik übertragen
wurden, um übergeordnete politische Ziele zu erreichen. Auf diese Weise veränderten die Skandale politische Themen, Kommunikationsweisen und Partizipationsformen.
Selbst marginale und für gewöhnlich belanglos erscheinende Ereignisse, die
sich fern von den Metropolen London oder Berlin abspielten, konnten die
Machthaber in schwere Krisen versetzen, wenn sie als Skandal kommuniziert
wurden und so als „öffentliche Geheimnisse“ die moralische Legitimität von
Herrschaft hinterfragten. Die Beleidigung eines Rekruten im Elsaß, eine homosexuelle Handlung am Starnberger See, das Auspeitschen von Frauen in
Ostafrika oder ein überteuerter Getreideverkauf in Südafrika führten die Regierungen in stärkere Bedrängnis als es eine klassische Oppositionspolitik vermocht hätte. Die Telegraphie und die Reporter vor Ort ermöglichten dabei eine
mediale Kommunikationsgemeinschaft, bei der diese Vorgänge ins Zentrum
der nationalen und weltweiten Öffentlichkeit rückten. Vordergründig hatten
diese Enthüllungen oft nur wenig mit den Machthabern zu tun. Aber spätestens in der Auseinandersetzung mit den Vorwürfen gewannen sie eine poli-
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470
VIII. Fazit
tische Dimension, die die Responsivität und Legitimität politischer Herrschaft
herausforderte.
Mit Deutschland und Großbritannien standen zwei westeuropäische Länder
im Mittelpunkt der Untersuchung, deren mediale und politische Kultur im ausgehenden 19. Jahrhundert als recht unterschiedlich gilt. Dennoch zeigten sich,
so lässt sich bilanzieren, durchaus bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen
beiden Ländern – sei es bei der Veränderung der politischen und mediale Strukturen, den verhandelten Wertkonflikten oder den staatlichen Reaktionsweisen.
Während sich im deutschen Kaiserreich stärkere Modernisierungsprozesse als
erwartet ausmachen ließen, zeigten die britischen Skandale vielfach, dass man
die politische und kulturelle Liberalität Großbritanniens nicht überschätzen
sollte. Gerade im deutschen Kaiserreich waren die Skandale ein wichtiger Indikator für die vielfältigen Grenzen, die der Reichstag, die Medien und die breitere Öffentlichkeit dem autoritären Machtstaat setzten.
Direkte kulturelle Transferprozesse und Interaktionen zwischen den beiden
Ländern ließen sich hingegen seltener ausmachen als erwartet. Wenn dies der
Fall war, so verliefen die Transfers vornehmlich von Großbritannien nach
Deutschland und bestanden vornehmlich in einem indirekten Aufgreifen von
Konflikt- und Deutungsmustern. Dennoch ist von einer wechselseitigen Beobachtung und von parallelen Entwicklungen zu sprechen, die auf ähnlichen Medialisierungs- und Demokratisierungsschüben beruhten. Die nahezu gleichzeitige Ausdehnung der Wählerschaft und der Zeitungsleser gab hierfür den
Anstoß. Anhand von rund dreißig untersuchten Skandalen ließen sich zudem
typische Verlaufsformen im ausgehenden 19. Jahrhundert ausmachen. Anhand
dieser Anatomie der damaligen Skandale, von ihrem Aufkommen bis zu ihren
Folgen, lassen sich abschließend einige Befunde der Studie bündeln. Welche
Normen in den Skandalen ausgehandelt wurden, wird anschließend in einem
zweiten Schritt bilanziert.
1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten
Skandale waren kein neues Phänomen. Aber ihr verstärktes Auftreten im späten
19. Jahrhundert markierte durchaus Zäsuren. In Großbritannien kamen die
Skandale jeweils rund ein Jahrzehnt früher als in Deutschland auf und gewannen bereits Mitte der 1880er Jahre an Intensität. In Deutschland lassen sie sich
hingegen erst seit 1894 verstärkt beobachten. Die etwas frühere Ausbildung der
britischen Massenpresse erklärt dies nur teilweise. Nicht minder bedeutend war
die zeitgleiche Umstrukturierung des politischen Feldes durch neue Spieler, die
andere Regeln einführten. Das signalisierte im Großbritannien der 1880er Jahre
die Formierung der Irish Parliamentary Party, die Spaltung der Liberalen und
das verstärkte Auftreten der Radicals. Im deutschen Kaiserreich korrespondierte
das Aufkommen der Skandale nach 1890 mit der Re-Etablierung der Sozialdemokratie nach den Sozialistengesetzen und den politischen Spannungen, die den
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1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten
471
Anspruch von Wilhelm II. auf ein „persönliches Regiment“ auslöste. Die Skandale waren insofern in beiden Ländern auch Ausdruck neuer politischer Konfliktstrukturen.
Das frühere Auftreten von Skandalen in Großbritannien lag auch am rechtlichen Rahmen. Einerseits wies das Inselreich bei tabubesetzten Themen wie
Homosexualität oder Ehebruch eine besonders restriktive Gesetzgebung auf,
die spektakuläre Prozesse und damit die Veröffentlichung des Normbruches erzwang. Andererseits förderten die größere Pressefreiheit und stärkere Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen das Entstehen von Skandalen. Die von der
Justiz eingeforderten Geständnisse über Normbrüche in der privaten oder arkanen Sphäre waren so detaillierter publizierbar. Dass in Deutschland dagegen
spektakuläre Skandale lange Zeit seltener auftraten, war ganz überwiegend der
restriktiven Begrenzung der Öffentlichkeit geschuldet, sei es vor Gericht, in den
Medien oder in Parlamenten. Ein gewisses Maß an Pressefreiheit und pluralisierter öffentlicher Kommunikation war offensichtlich eine wesentliche Vorbedingung.
Als nicht haltbar erwies sich dagegen die naheliegende Annahme, dass vor
allem die neuen Boulevard- und Massenzeitungen, die sich im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts etablierten, die Skandale auslösten. In beiden Ländern waren es
vornehmlich kleinere politische Blätter und Qualitätszeitungen, die Skandale
anstießen. Die Skandale waren aber auch nur bedingt ein Zeichen für eine neue
unabhängige Presse im Sinne einer „vierten Gewalt“. Vielmehr starteten häufig
jene Zeitungen Skandale, deren Herausgeber und Journalisten eine enge Beziehung zu bestimmten Parteien pflegten. Mitunter waren es sogar die Politiker
selbst, die in diesen Zeitungen Enthüllungen vorbrachten. Die Skandale begannen zudem nur selten mit Aufmachern und Überschriften, die eine sensationelle
Enthüllung anpriesen. Typischer waren vielmehr recht versteckte Andeutungen,
die erpresserisch die Änderung von politischen oder moralischen Zuständen
verlangten. Bei verschiedenen Fällen wurden die sensationellen Enthüllungen
sogar zunächst bewusst in abseitige Zeitungen verlegt, um sie dann als Zitat
gleich aufzugreifen. Alle diese Befunde weisen darauf hin, dass man das Aufkommen der Skandale weniger mit kommerziellen Zielen als mit einer Veränderung der politischen Kommunikationsformen erklären muss. Sowohl Politiker
als auch politische Journalisten wählten zur Durchsetzung ihrer Ziele Techniken, die sich Medienlogiken anpassten. Gerade weil sie die „Masse“ als „sensationssüchtig“ einschätzten, wählten sie diesen Weg, der in einer medialisierten
Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und eine emotionale Unterstützung ihrer
Politik versprach. Insofern standen die Skandale für eine Medialisierung der
Politik.
Bereits diese Beobachtungen deuten einige Korrekturen an der bisherigen
mediengeschichtlichen Forschung an. So ist die oft gezogene normative Trennung zwischen einer sensationsorientierten Massenpresse und nüchternen Qualitätsblättern für Deutschland und Großbritannien zu relativieren. Neben den
kleineren parteinahen Zeitungen (wie United Ireland, North London Press, Vor-
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472
VIII. Fazit
wärts, „Kreuzzeitung“) waren es auch überparteiliche Qualitätszeitungen (wie
die Times oder das Berliner Tageblatt), die sensationelle Enthüllungen aufbrachten. Dabei bedienten sie sich durchaus Techniken des New Journalism, wobei
ihre Recherchen oft weniger solide ausfielen als bei einem „Sensationsjournalisten“ wie W. T. Stead. Vielmehr druckten sie vielfach Gerüchte ab, um die Reputation des politischen Gegners zu schwächen. Selbst die Times bediente sich, wie
der Parnellism and Crime-Skandal belegte, kaum geprüfter und sogar gefälschter
Quellen oder übernahm, wie sich bei den Kolonialskandalen zeigte, Verlautbarungen der Regierungspartei. Erst im Zuge der folgenden Gerichtsprozesse
starteten die meisten Journalisten Recherchen. Und erst in dieser Phase setzte
eine ausführliche Berichterstattung in der Massenpresse ein, die die Dynamik
der Skandale verstärkte.
Ebenso belegen die Skandalverläufe, dass der oft betonte Gegensatz zwischen
der deutschen Parteipresse und der überparteilichen britischen Presse zu relativieren ist. Vielmehr standen die britischen Journalisten generell in einem überraschend engen Austauschverhältnis mit weltanschaulich nahe stehenden Politikern. Besonders nach 1900 zeigte sich bei den britischen Skandalen eine wachsende Loyalität gegenüber den Parteilinien. Die britischen Journalisten
organisierten Kampagnen für einzelne Parteien oder verteidigten sie loyal gegen
die Vorwürfe, auch wenn diese eine gewisse Berechtigung hatten. Getrennte,
autonome Felder waren Politik und Medien damit nicht. Maßgeblich bestimmt
wurde die Ausrichtung der Zeitungen durch die weltanschauliche Präferenz der
Verleger. Diese konnten allerdings auch, wie etwa Lord Northcliffe im Marconi-Scandal 1912/13, mäßigend auf den Kurs der Zeitungen wirken und Parteiloyalitäten abschwächen. Doch selbst dies bedeutete eine gewisse Begrenzung
der oft postulierten journalistischen Unabhängigkeit in Großbritannien.
Die Zahl derjenigen, die im weiteren Verlauf der Skandale als Akteure auftraten, war auffällig begrenzt. Bei zahlreichen Fällen trafen immer wieder ähnliche
Politiker, Journalisten, Vermittler, Staatsanwälte und Anwälte aufeinander. Angestoßen wurden die Skandale oft von Politikern der Oppositionsparteien, die
gleichzeitig journalistische Erfahrungen hatten und für Zeitungen schrieben
(wie Healy, Labouchere oder Erzberger). Dies mag auch erklären, dass besonders die Sozialdemokraten, die Iren und die Radicals diese medial ausgerichtete
Kommunikation pflegten, da sie im Parlament stets den größten Anteil an Journalisten aufwiesen. Offensichtlich übertrugen die journalistisch erfahrenen
Politiker die ihnen vertrauten Medienlogiken auf den politischen Raum. Zudem
traten durch die Skandale einzelne unabhängige Journalisten, wie W. T. Stead
und Maximilian Harden, als Schlüsselfiguren hervor, die jene neue Macht verkörperten, die die Presse durch das Aufbringen von Skandalen gewinnen konnte. Diese Personalisierung wurde dadurch verstärkt, dass die Skandale häufig als
Duelle zwischen zwei Protagonisten inszeniert wurden, die für unterschiedliche
weltanschauliche Ziele standen.
Ob Skandale im Parlament oder in Zeitungen angestoßen wurden, hing mit
vom Themenfeld ab. Besonders tabubeladene Vorwürfe wie Homosexualität,
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1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten
473
Ehebruch oder das Fehlverhalten der Monarchen formulierten die Journalisten
zuerst, da die parlamentarischen Kommunikationsregeln bei diesen Bereichen
engere Grenzen setzten. Dagegen ging die Initialzündung bei Themen wie Korruption und kolonialem Machtmissbrauch häufiger vom Parlament aus – insbesondere in Deutschland. Die Schilderung mediengerechter emotionalisierender
Einzelfälle im Parlament machte dabei auf generelle Missstände aufmerksam.
Insofern kann man nicht davon sprechen, dass der Reichstag und das Unterhaus
im Zuge der Medialisierung ihre Macht verloren hätten. Die Skandale zeigten
vielmehr eine enge Interaktion zwischen den Parlamenten und der Presse, die
auch die Machtstellung der parlamentarischen Gremien förderte. Insbesondere
die weniger mächtigen deutschen Reichstagsabgeordneten gewannen durch das
Aufbringen von Skandalen an politischem Einfluss – selbst wenn sie nur an medial gesetzte Skandale anknüpften und die oft verletzenden Enthüllungen kaum
normativen Demokratiekonzepten entsprachen.
Gerade in Deutschland stärkten die Skandale damit die Stellung des Reichstages. Sie standen für den erfolgreichen Versuch, den Parlamenten in einer medialisierten Gesellschaft eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen und Reformen zu erreichen, auch wenn sich der formale institutionelle Rahmen durch
die Skandale kaum änderte. Die kommunikative Wirkungsmacht dieser Parlamentsdebatten zeigte sich nicht nur in den ausführlichen Medienberichten und
der großen Zuhörerschaft auf den Tribünen, sondern auch in den Alltagsgesprächen über die Debatten. Die Polizeiberichte verzeichneten bereits vor entsprechenden Parlamentssitzungen in den Kneipen erwartungsvolle Gespräche
und anschließend Diskussionen über die Enthüllungen. Die Aufwertung der
Parlamente belegten zudem die Folgen der Skandale, da selbst der Reichstag
trotz fehlender Ministerverantwortlichkeit die Reichsleitung zu Zugeständnissen und Rücktritten von Ministern und hohen Beamten zwingen konnte. Erreichen konnte der Reichstag dies, weil er in enger Kooperation mit den Medien
und der breiten Öffentlichkeit agierte. Gerade dieses Wechselspiel gab den
Skandalen ihre Dynamik: Die Abgeordneten griffen Zeitungsmeldungen auf,
die sie mitunter selbst verfasst hatten, ergänzten die Enthüllungen und Kommentare vom Rednerpult und brachten so Forderungen in die Medien, die wiederum Ermittlungen starteten, die der Reichstag erneut aufgriff.
Innerhalb der Parlamente werteten die Skandale insbesondere die Rolle der
politischen Opposition gegenüber den Regierungen auf. Durch die Skandale
etablierte sie Feindbilder, Stereotype und Narrative über die politische Führung,
die die eigenen Anhänger mobilisierten und ihre Gegner verunsicherten. Die
irischen Nationalisten und die Sozialdemokraten wiesen dabei auffällige Gemeinsamkeiten auf, die ihre spezifische Rolle beim Aufbringen der Skandale erklären dürfte. Ihre Konflikterfahrungen mit Staat und Regierung verstärkten
ihre Bereitschaft, in der politischen Kommunikation eher zum Schwert als zum
Florett zu greifen. Ihre Außenseiterstellung erleichterte den Bruch ungeschriebener Kommunikationsregeln. Die provokativen Enthüllungen gewährten den
irischen und den sozialdemokratischen Abgeordneten eine herausgehobene
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474
VIII. Fazit
öffentliche Aufmerksamkeit, die sie zu „Stars“ machte. Politiker wie Healy,
Parnell, Bebel oder Karl Liebknecht wurden, wie auch die Kneipenberichte belegen, gerade durch die von ihnen angestoßenen Skandale zu berühmten und
verehrten Parlamentariern, die erfolgreich die scheinbar unumstößliche Obrigkeit herausforderten und lächerlich machten.
Im weiteren Skandalverlauf besaß das britische Unterhaus jedoch allein schon
deshalb eine größere Machtstellung, weil es in Untersuchungsausschüssen Zeugen vernehmen konnte und so den Verlauf der öffentlichen Debatte gestaltete.
Obgleich die jeweilige Mehrheitspartei ihre Machtstellung ausnutze, ermöglichte diese Befragung immer wieder überraschende Wendungen, die sich auch gegen die Regierungsmehrheit richten konnten. Im Zuge der Skandale forderten
die deutschen Parteien – mit Ausnahme der Konservativen – immer wieder ähnliche parlamentarische Untersuchungsausschüsse wie in Großbritannien. Obgleich die deutsche Reichsleitung dies grundsätzlich ablehnte, musste sie im
Laufe der Skandale einige entsprechende Zugeständnisse machen – vom Einsetzen von Ermittlungskommissionen, wie bei den Kolonialskandalen 1906, bis
hin zu Ausschüssen, bei denen allerdings neben Parlamentariern auch Vertreter
der Regierung und Wirtschaft saßen, wie 1913 bei der Zabern-Affäre und dem
Kornwalzer-Skandal. Auch wenn diese Kommissionen bereits durch ihre Zusammensetzung die Ermittlungen nicht vorantrieben, waren sie zumindest der
Beginn einer institutionellen Umgestaltung des Parlaments.
Ebenso trugen die Skandale besonders in Deutschland dazu bei, die Pressefreiheit zu stärken. Bereits in den 1890er Jahre lässt sich erkennen, dass sich aus
Angst vor Skandalen die Toleranzspielräume für journalistische Berichte gerade
in Deutschland vergrößerten, da sich die mediale Aufmerksamkeit auf Missstände durch gerichtliche Vernehmungen zu erhöhen drohte. Weil der Ausbruch
von Skandalen massive Folgen für die bestehende Ordnung haben konnte,
setzten Regierung, Justiz und die Betroffenen seltener auf Repressionen wie
Zeitungsverbote und Anklagen gegen die Journalisten. Wenn dennoch Verleumdungsprozesse folgten, so geschah dies oft im Vertrauen auf das Wohlwollen der
Justiz. Zudem forcierte Kaiser Wilhelm II. durch seinen überspannten Ehrbegriff, sein mangelndes Verständnis für die gewandelte Öffentlichkeit und sein
taktisches Unvermögen Gerichtsprozesse. Allerdings zeigte sich schnell, dass
angesichts der auflagenstarken reaktionsschnellen Presse und der aktiven Opposition derartige Repressionen drohende Skandale nur verstärkten.
Gefördert wurde das Aufkommen von Skandalen auch durch den Niedergang des Duells, den sie zugleich weiter beschleunigten. Im Unterschied zum
Prozess stand das Duell für eine Wiederherstellung der Ehre, ohne dass Vorwürfe wie beim Verleumdungsprozess öffentlich ausgetauscht und untersucht
wurden. Insofern trugen sie vormals mit dazu bei, Skandale zu verhindern. In
den 1890ern bedeutete nun auch in Deutschland eine Konfliktlösung per Duell,
wie sich beim Kladderadatsch-Skandal und Kotze-Skandal zeigte, selbst neuen
Stoff für Skandale und einen zusätzlichen Reputationsverlust, obgleich Wilhelm II. diese Form der Konfliktlösung weiterhin unterstützte. Die Medienbe-
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1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten
475
richte über die Duelle und deren Anlässe verstärkten jedoch nur die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Vergehen und damit die Dynamik des Skandals.
Der weitere Verlauf der Skandale hing im hohen Maße vom Verhalten der
Regierungen ab. Generell reagierten sie mit einem starken Aktionismus, was belegt, welche Macht sie den Medien zuschrieben. Dabei schöpften die Regierungen in beiden Ländern ihre Eingriffsmöglichkeiten aus und übertraten sie
sogar, um das Ausbrechen von Skandalen zu verhindern. Gegenüber den beteiligten Journalisten und Politikern setzten sie sich vielfach für einen informellen
Ausgleich ein. Diese Annäherung, oft über Unterhändler arrangiert, stand ebenfalls für eine neue Anerkennung der medialen Öffentlichkeit und der politischen
Opposition. Die Journalisten erhielten nicht nur persönliche Aufmerksamkeit
und Rechtfertigungen, sondern gelegentlich auch Zugeständnisse oder sogar,
wie im Moltke-Skandal, hohe Zahlungen aus Sonderfonds.
Zudem nahmen die Regierungen beider Länder direkten Einfluss auf die
Justiz, um Skandale zu verhindern oder abzumildern. In Deutschland zeigte
sich dies häufig schon bei dem Regierungseinfluss auf die Entscheidung, ob die
Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen Journalisten oder andere am Skandal beteiligte Personen aufnahm oder ein Verfahren einstellte. Während der Prozesse richtete das Reichskanzleramt über den Justizminister vielfach Leitlinien
an die Staatsanwaltschaft. Überraschend stark wirkten auch die britischen Regierungen auf offizielle Untersuchungen ein. Sie blockierten mitunter Ermittlungen der Polizei und der Justiz, wie insbesondere der Cleveland Street-Skandal zeigte, sie ermöglichten die Flucht der Beschuldigten, um diskreditierende
Enthüllungen in einem Prozess zu verhindern, oder sie riskierten öffentliche
Rechtfertigungen, deren Wahrheitsgehalt die Öffentlichkeit zurecht anzweifelte. Auf diese Weise lösten die Regierungen sekundäre Skandaldynamiken aus,
die nun den Umgang mit dem Skandal zum eigentlichen Thema machten.
Bei den Prozessen zeigte sich mehrfach, dass die Justiz beider Länder nicht
unabhängig urteilte, sondern sich häufiger als parteiisch und weisungsgebunden
erwies. Zudem orientierte sie sich erst verzögert an der Veränderung der öffentlichen Normen. Auch dies mag für die konservativ geprägte Justiz des deutschen Kaiserreichs weniger erstaunen, obgleich verschiedene historische Darstellungen die Rechtsstaatlichkeit im Reich betonen. So kam es bei so gut wie
keinem der untersuchten deutschen Skandale zu einer spürbaren Verurteilung
der beschuldigten Eliten. Die Korruption von Beamten, das Foltern, Töten und
Halten von Zwangsprostituierten in den Kolonien oder die Homosexualität
mündete bei ihnen nicht in Gefängnisstrafen, da es sich um Repräsentanten des
Staates handelte, deren Ansehen geschützt werden sollte. So erhielt etwa ein Polizeibeamter wie Tausch in dem nach ihm benannten Skandal einen Freispruch,
obwohl ihm nachweisbar Vergehen wie mehrfache Urkundenfälschung, Meineide, Korruption, Amtsanmaßungen, Verstöße gegen Amtsgeheimnisse, Unwahrhaftigkeiten gegen Vorgesetzte und Majestätsbeleidigungen vorgeworfen
wurden. Häufiger wurden dagegen die Beamten verurteilt, die Missstände öffentlich gemacht hatten. Aber auch für Großbritannien fiel auf, dass die Justiz
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476
VIII. Fazit
den beschuldigten Staatsrepräsentanten zunächst äußerst wohlwollend gegenüber trat, bis die öffentliche Empörung über das Urteil eine Revision mit einem
schärferen Vorgehen nötig erscheinen ließ. Die Richter erreichten derartige Urteile dadurch, dass sie den guten Willen der Beschuldigten unterstrichen und
ihre Rechtfertigungen oft ungeprüft akzeptierten, während sie die Aussagen von
einfachen Zeugen recht pauschal abwerteten. Frauen, die gegen Männer aussagten, erklärten die Richter immer wieder als „hysterisch“, die Aussagen von
Afrikanern galten prinzipiell als „unzuverlässig“ und Aussagen von europäischen Männern wurden als widersprüchlich abqualifiziert. Die Prozesse zogen
dementsprechend allenfalls die Versetzung oder Entlassung der Beschuldigten
nach sich, wenn es sich um höhere Beamte oder Repräsentanten des Staates handelte. Auf diese Weise verstärkten die Skandale gerade in Deutschland den Eindruck, dass sich die Justiz weit von der öffentlichen Meinung entfernt habe. Die
breite Empörung über das ungerechte Verhalten der Justiz ging dabei soweit,
dass die Reichsleitung Revisionen der Prozesse anregen musste, damit die Empörung nicht auch auf sie zurückfiel und das Vertrauen in den Staat weiter
schwand. Die Urteilsbegründungen in den Revisionsprozessen zeigten dabei,
dass sich die Justiz langsam an die durch die Skandale veränderten öffentlichen
Normen anpasste.
Dennoch lassen sich derartige Urteile nicht allein in das Großnarrativ einer
politisch gelenkten übermächtigen „Klassenjustiz“ pressen. Vielmehr unterliefen gerade die Skandale derartige Steuerungsversuche, da sie unkalkulierbare
Eigendynamiken auslösten. So starteten die angeklagten Journalisten erst im
Zuge der Prozesse ihre eigentlichen Recherchen und versuchten, oft mit Hilfe
von Privatdetektiven, Zeugen auszumachen. Pointiert gesprochen förderte nicht
das Aufbringen von Skandalen den investigativen Journalismus, sondern die
Verfolgung beschuldigter Journalisten. Die Zeugenaussagen gaben den Skandalen immer wieder unkontrollierbare Wendungen. Bereits die Zeitungsmeldungen über die Skandale führten dazu, dass zahllose, oft völlig haltlose Denunziationen eingingen. Die Recherche der Massenpresse vor Ort, die nun ihr neues
Potential an eigenen Korrespondenten nutzte, förderte diesen Strom an Neuigkeiten zusätzlich. Die Zeitungsleser waren damit aktiv in die Skandale eingebunden.
Auch die Zeugenaussagen vor Gericht lassen sich als ein karnevalesker Vorgang fassen, der die Macht spöttisch herausforderte und Machtkonstellationen
verkehrte. Menschen aus unteren sozialen Schichten erhielten durch die Skandale Zugang zu einer weltweiten Medienöffentlichkeit, die ihre Aussagen transportierte. Zimmermädchen, Fischer oder Prostituierte konnten so dazu beitragen, mächtige Staatsrepräsentanten dem allgemeinen Spott auszusetzen und zu
stürzen. Insbesondere geschiedene Frauen erwiesen sich bei zahlreichen Skandalen als Schlüsselfiguren, die intimes Wissen vermittelten. Sie alle trugen dazu
bei, durch ihre Aussagen die geheimen und privaten Sphären von mächtigen
Personen aufzulösen und ihnen so ein banales lächerliches Antlitz zu geben, das
Reputation, Vertrauen und Autorität zerstörte. Auch wenn die Beschuldigten
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1. Medien, Politik und Öffentlichkeiten
477
durch die Protektion der Richter am Ende oft nicht verurteilt wurden, war bereits diese oft weltweite Veröffentlichung der Aussagen die eigentliche Strafe.
Gerade die Prozessaussagen trugen maßgeblich dazu bei, die Grenzen des
Sagbaren zu verschieben und ein öffentliches Wissen über Tabubereiche zu
konstruieren. Die im stenographischen Stil gehaltenen Prozessberichte arbeiteten zwar immer noch mit Aussparungen, da viele Aussagen als nicht druckbar
galten, dennoch legitimierten sie einen recht offenen Umgang mit tabuisierten
Fragen wie Homosexualität, Ehebruch oder sexuellem Verkehr mit Afrikanerinnen. Die Zeitungen wiederum übernahmen diese Bewertungen und führten
sie weiter. Auf diese Weise entstand trotz aller offizieller Einflussnahmen ein
Steuerungsverlust während der Skandale.
Vor Gericht zeigte sich ebenso wie in den Parlamenten, dass die Dynamik der
Skandale nicht allein aus der Medienöffentlichkeit entstand, sondern aus ihrer
Interaktion mit der Versammlungsöffentlichkeit und der Face-to-Face-Kommunikation. Die mündlichen Debatten in den Gerichtssitzungen, Untersuchungsausschüssen oder Parlamentsdebatten waren serielle Ereignisse, die den Skandalen einen festen Spannungsbogen gaben, zugleich aber täglich neue Überraschungen versprachen. Sie erlaubten zudem eine persönliche Partizipation der
Zeitungsleser, die scharenweise entsprechende Parlaments- und Gerichtssitzungen aufsuchten und selbst vor überfüllten Sälen auf Neuigkeiten warteten.
Frauen und Unterschichten konnten so erneut aktiv an den öffentlichen Ereignissen teilnehmen. Die Berichte über die Sitzungen griffen wiederum die emotionalen Reaktionen vor Ort auf und offerierten so den Zeitungslesern Rezeptionshaltungen.
Die Dynamik des Skandals lebte von anschaulichen Schlüsselsituationen und
Bildern, die die komplexen Themen verdichteten und den Normbruch assoziationsreich erfassten. Hierzu zählten amüsant wirkende Szenen, die ein spöttisches Lächeln provozierten; etwa im Parnell-Skandal das Bild, wie der Irenführer vor dem gehörnten Ehemann auf der Feuerleiter floh, oder im BaccaratScandal, wie der Prince auf Wales seine stets mitgeführten eigenen Spielsteine
zum Glücksspielen herausholt. Hierzu zählten aber auch Szenen, die Schauer
und Mitleid auslösten; etwa wie der Kolonialist Peters seine afrikanische Geliebte hängen ließ, der Kameruner Kanzler Leist entblößte afrikanische Frauen
vor den Augen ihrer Männer auspeitschen ließ oder ein Offizier aus Stanleys
Expedition einen Kannibalismus-Akt an einem Mädchen zeichnete. Gerade
solche Schlüsselszenen, die oft in Karikaturen aufgegriffen wurden, dürften jene
breite emotionale Empörung ausgelöst haben, die aus den Skandalen Konsequenzen einforderte.
Welche Bedeutung die Skandale für die alltägliche Kommunikation in den
Straßen und Kneipen hatten, konnte für Deutschland anhand der Spitzelberichte der Politischen Polizei ausgemacht werden. Hier zeigte sich, dass
sämtliche Skandale im Sinne eines Agenda-Settings zu Gesprächen über entsprechende Themen anregten, die dann unterschiedlich aufgegriffen oder bewertet wurden. Erstens lösten die Skandale generelle Diskussionen über ihren
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478
VIII. Fazit
politischen Kontext aus, etwa über die Bewertung des Kolonialismus, der
Monarchie oder eines Großunternehmens wie Krupp. Insofern trugen die
Skandale auch auf dieser Ebene zur Politisierung der Gesellschaft bei, da sie
eine wertende Kommunikation über politische Fragen förderten. Zweitens
regten die Zeitungsartikel Gesprächen an, bei denen die Kneipengäste die im
Skandal verhandelte Norm auf ihre persönliche Lebenswelt übertrugen. Auf
diese Weise entstanden selbst über tabuisierte Themen wie Homosexualität
recht offene Gespräche, etwa über persönliche Erfahrungen mit Homosexualität im Militär im Kontext des Moltke-Skandals. Eine dritte charakteristische
Reaktionsform waren die emotionale Empörung und der bissige Spott. Gerade
dies zeigte, wie sehr die Skandale in alltäglichen Gesprächen zu einem Vertrauensverlust in den Staat und seine Repräsentanten beitrugen. Da polizeiliche
Spitzelberichte in aggregierter Form an die politische Führung gingen, konnten
solche Stimmungen durchaus, schon vor Erfindung der Meinungsforschung,
direkte Rückkopplungseffekte haben.
Das Aufkommen der Skandale wurde zweifelsohne durch die zunehmende
Ausdifferenzierung der politischen Öffentlichkeiten gefördert. Aus ihr heraus
entstanden Konflikte um Lebensweisen und Deutungen, die in Form von Skandalen ausgetragen wurden. Die oft harten Debatten während der Skandale trugen dazu bei, diese Gruppen weiter zu polarisieren. Zugleich hatten die Skandale eine integrative Funktion. Sie sorgten dafür, dass die unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten mit großer Intensität gemeinsam über ein Thema kommunizierten.
Somit ist selbst im deutschen Kaiserreich nicht von weltanschaulichen Milieus
auszugehen, die unverbunden neben einander existierten. Vielmehr griffen gerade in Deutschland die politischen Teilöffentlichkeiten intensiv die Deutungen
der anderen Milieus auf und diskutierten sie. Zudem entstanden durch die
Skandale gemeinsame Empörungen über Missstände, die oft Parteigrenzen
überbrückten und somit zumindest eine punktuelle Überwindung von weltanschaulichen Grenzen schufen, auch wenn dies nur eine Gemeinschaft auf Zeit
war, die sich beim Abflauen des Skandals wieder auflöste. Dennoch: das kommunikative Band des Skandals reichte vom Monarchen bis zum einfachen Zimmermädchen.
2. Normen und Deutungen
Ein zweiter Schwerpunkt des Buches widmete sich den Normen und Deutungsmustern, die bei den Skandalen verhandelt wurden. Die Ausdifferenzierung von
Lebens- und Gesellschaftsentwürfen machte um 1900 offensichtlich grundlegende Diskussionen hierüber nötig. Die Skandale verschoben Deutungsmuster,
schufen wirkungsmächtige Zuschreibungen und Stereotype und konstruierten
ein öffentliches Wissen über Bereiche, die bislang in der Sphäre des Geheimen
lagen. Generell galt die Zunahme der Skandale als Zeichen des gesellschaftlichen
Verfalls. In Deutschland und Großbritannien regten sie Analogiebildungen
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2. Normen und Deutungen
479
zwischen der Gegenwart, dem späten Rom und den Zuständen vor der Französischen Revolution an. Dies eröffnete unterschiedliche Zukunftsvorstellungen.
Die Konservativen deuteten die Skandale als Niedergang der Kultur und Rückfall in die moralische Barbarei, gegen den mit einer verschärften Zensur und einer Restriktion der Öffentlichkeit vorgegangen werden müsse. Dagegen glaubte
die politische Linke, die Skandale würden den Verfall der alten Eliten belegen,
weshalb ein Zeitalter der gesellschaftlichen Reformen und der Demokratie
bevorstehe. In beiden Fällen eröffneten die Skandale somit Annahmen über die
derzeitige und die zukünftige Gesellschaft.
Dabei lassen sich einige ähnliche Deutungen für Großbritannien und Deutschland ausmachen, aber je nach Skandalthema auch markante Unterschiede. So
eröffneten die Skandale um Homosexualität zunächst ähnliche Deutungsmuster. In beiden Ländern förderten sie die Vorstellung, die Homosexualität hätte
sich rasant ausgebreitet und vornehmlich zu einem Phänomen der Oberschicht
entwickelt, wobei diese durch ihr Geld junge Männer der Unterschicht verführe.
Die Skandale etablierten damit das Stereotyp des reichen, dekadenten Homosexuellen ohne geregelten Arbeitsalltag, der sich durch feminine „weiche“ Charakterzüge auszeichne und daher bereits an seinem Verhalten zu erkennen sei.
Homosexualität erschien damit nicht mehr als ein Problem, das mit der Bekehrung von angeblich amoralischen Unterschichten verbunden war, sondern wurde in klassenkämpferische Anklagen eingebunden, die sogar die jungen männlichen Prostituierten als Opfer erscheinen ließen. Zu politischen Skandalen entwickelten sich die Fälle vor allem, weil der Eindruck entstand, die gut situierten
Homosexuellen würden von der Regierung und der Justiz geschützt.
Die Homosexualitätsskandale führten in beiden Ländern zu einer neuartig
breiten öffentlichen Aussprache über das Thema. Wie man Homosexualität
feststellen könne, welche Ursachen sie hatte und welche Stellung Homosexuelle
in der Gesellschaft einnehmen dürften, wurde in beiden Ländern im Zuge der
Skandale erstaunlich offen diskutiert. In Deutschland verbreitete sich so die Ansicht einiger Mediziner, Homosexualität sei angeboren und als eine Art „drittes
Geschlecht“ zu verstehen. Neben den Sozialdemokraten, die nur eine als dekadent bezeichnete Form der Homosexualität ablehnten, traten insbesondere liberale Zeitungen zunächst dafür ein, Homosexuellen selbst im Militär und in der
politischer Führung gleiche Rechte einzuräumen. Erst im Laufe der Debatte
verloren diese Stimmen an Bedeutung, zugunsten einer scharfen Ablehnung
Homosexueller. In Großbritannien überwog dagegen von Beginn an eine scharfe
Verdammung, wobei die Aussprache zurückhaltender ausfiel und die Tabuisierung stärker blieb. Lediglich einzelne liberale Stimmen räsonierten etwa, ob die
elitäre männliche Ausbildung in den Privatschulen für die Homosexualität in
der Oberschicht verantwortlich sei. Letztlich führten die Homosexualitätsskandale jedoch in beiden Ländern eher zur Verschärfung der sexuellen Normen.
Dies war mit der Furcht verbunden, dass Homosexualität zu einem Verlust der
Männlichkeit führe, der nicht nur das Ansehen der Nation, sondern auch die
militärische Verteidigung gefährde.
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480
VIII. Fazit
Deutlichere Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien zeigten
sich bei der Frage, inwieweit frühere außereheliche Beziehungen für ein öffentliches Amt disqualifizierten. Wie bei der Homosexualität förderten auch die
Ehebruchskandale die Annahme, außereheliche Verhältnisse seien bei Adligen
und bürgerlichen Eliten besonders verbreitet. Auch in Deutschland kamen, insbesondere um 1908/09, verschiedene Kampagnen auf, die Politikern entsprechende Normbrüche vorhielten. Dennoch konnten diese Politiker, ganz im Unterschied zu Großbritannien, zumeist weiterhin ihre Posten behalten, was auf
einen größeren moralischen Toleranzspielraum hinweist. Im spätviktorianischen
Großbritannien waren die Spielräume allerdings nicht von vorneherein so eng,
wie angesichts gängiger Zuschreibungen über die puritanische Moral der Zeit zu
erwarten wäre. So machten sich zu Beginn des Dilke-Skandals durchaus liberale
Stimmen dafür stark, Privates und Politisches zu trennen. Auch beim ParnellSkandal zeigten die Katholiken recht große Toleranz. Erst die detaillierten Geständnisse, die durch die Öffentlichkeit der britischen Scheidungsprozesse aufkamen, veröffentlichten jeweils soviel über das Privatleben der Politiker, dass
die puritanischen Kampagnen obsiegten, die im Skandal die Öffentlichkeit
mobilisierten. Dabei etablierten sie die Norm, dass ein Politiker nur dann das
öffentliche Vertrauen genießen könne, wenn auch sein Privatleben makellos sei.
In Deutschland bremste zumeist der Ausschluss der Öffentlichkeit in Gerichtssälen drohende Eheskandale ab. Zugleich lässt sich feststellen, dass die Journalisten ihr Wissen eher zurückhaltend ausspielten. Lediglich bei dem antisemitischen Abgeordneten Wilhelm Schack griff diese Skandalisierung, um den polarisierenden Politiker zum Rücktritt zu bewegen.
Die Skandale um den heterosexuellen außerehelichen Verkehr trugen ebenfalls dazu bei, Annahmen über die Geschlechterrollen zu verschieben. Gerade in
Großbritannien verbreiteten diese Skandale Vorstellungen über die aktive und
unkeusche Sexualität von bürgerlichen Frauen. Obgleich die Gerichte und Teile
der Medien diese Frauen als hysterisch ausgrenzten, durchkreuzten diese
Geständnisse unverkennbar bürgerliche Geschlechtszuschreibungen. In beiden
Ländern dokumentierten die Skandale zugleich die Verzweiflung betrogener
Männer, die den Ehebruch aus Rache öffentlich machten. Neben dem Entwurf
des sexuell triebhaften Mannes entstand so die Figur des hilflosen Gatten, der
sich in den Skandal flüchtete und so das Scheitern der Ehe eingestand.
Auch bei den Kolonialskandalen sorgten sexuelle Normbrüche vielfach für
Empörung. Insbesondere in Deutschland gaben Enthüllungen über den sexuellen Verkehr zwischen hohen Beamten und Afrikanerinnen mehrfach den Skandalen ihre Dynamik. Sie etablierten ein öffentliches Wissen über die große Verbreitung solcher Beziehungen und ihre Verbindung mit Gewalt und Zwangsprostitution. In Großbritannien wurde dieser Aspekt allerdings, selbst bei Berichten
über deutsche Kolonialskandale, eher zurückhaltend diskutiert, was wie bei der
Homosexualität die engeren britischen Sagbarkeitsgrenzen zeigte. In beiden
Ländern führten auch diese Skandale zu einer Normverschärfung. Sexuelle Beziehungen zu Afrikanerinnen wurden als illegitim deklariert und mit rassisti-
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2. Normen und Deutungen
481
schen Verordnungen untersagt. Obgleich die deutschen Mischehenverbote weiter reichten, verbot auch Großbritannien seinen Beamten, als Reaktion auf den
Silberrad-Skandal, den Verkehr mit Afrikanerinnen.
In den 1890er Jahren traten zudem in beiden Ländern Kolonialskandale auf,
die der brutalen Gewalt einzelner Kolonialisten Grenzen setzten. Die gewaltsame Bestrafung der Eingeborenen, die diese Skandale zur Diskussion stellten,
wurde weiterhin als notwendig gesehen. Aber zumindest sorgten besonders die
Skandale um 1896 und 1906 auch in Deutschland für eine Begrenzung, Regulierung und Formalisierung der Prügel- und Todesstrafen. Die festeren Verwaltungsstrukturen, die diesen „Eroberern“ folgten, lösten in einer zweiten Phase
verstärkt Skandale aus, die Normbrüche wie die Bereicherung oder den Amtsmissbrauch in den Kolonien thematisierten. Auch hier führten die Skandale
insbesondere in Deutschland zu zahlreichen Reformen, wobei eine Professionalisierung der Kolonialverwaltung künftig derartige Missstände eindämmen
sollte.
Generell spielten Kolonialskandale in Deutschland eine deutlich größere Rolle als im Empire. Dies verweist auf eine stärkere Kolonialkritik, aber eben auch
auf das stärkere Auftreten von Praktiken, die als Normbrüche galten und das
Potential für Skandale besaßen. Sie minderten den gerade vom Kaiserreich erhobenen Anspruch, eine kulturell überlegene Kolonialmacht zu sein. Bemerkenswerterweise entstanden in beiden Ländern kaum wirkungsmächtige Skandale
als die koloniale Gewalt massenhaft in Form von Kriegen auftrat. Eine stärkere
Dynamik lösten stattdessen Narrative über einzelne Opfer aus, insbesondere
wenn es um die korrupte Bereicherung von einzelnen Politikern, Beamten und
Firmen ging oder die Misshandlung von Frauen und Kindern. Die Kolonialskandale schufen dabei Vorstellungen über die moralischen Abgründe von
scheinbar zivilisierten Vertretern des Bürgertums. Sie machten Handlungen öffentlich, die bisherige Stereotype über Kolonisierer und Kolonisierte verkehrten:
Das Bild vom „wilden Schwarzen“, den die Europäer zivilisierten, vertauschte
sich zum Bild des wild gewordenen Kolonialisten, der eine Gefahr für unschuldige Eingeborene darstellte.
Besonders markante Deutungsunterschiede zwischen Deutschland und
Großbritannien zeigten sich bei den Monarchieskandalen. In Großbritannien
kreisten sie bereits im 19. Jahrhundert vornehmlich darum, dem Königshaus
bürgerliche Normen abzuverlangen. Gerade weil die politische Macht des Monarchen bereits gering war, bezogen sich die Skandale auf seinen Lebenswandel,
der die Tugenden der Nation repräsentieren sollte. Skandalisiert wurde jedoch
nicht jeder Normbruch, sondern insbesondere das Verhalten des Thronfolgers.
Der Prince of Wales sollte durch die Empörung der Öffentlichkeit zu bürgerlichen Tugenden erzogen werden, ohne den amtierenden Monarchen direkt zu
verspotten und damit die Reputation der Krone zu gefährden. Dagegen konzentrierten sich die Skandale um die deutschen Monarchen, insbesondere bei
Wilhelm II., auf ihr politisches Verhalten. Sie legten den Monarchen auf die
Rollenerwartung fest, sich aus der Tagespolitik zurückzuhalten und stärker auf
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482
VIII. Fazit
repräsentative Aufgaben zu konzentrieren. Die Skandale unterstrichen damit
die unterschiedlichen Anforderungen an die Monarchie, die in Deutschland und
Großbritannien bestanden, leiteten aber prinzipiell eine Annäherung der monarchischen Rollen ein.
In beiden Ländern ermöglichte die Medialisierung den Monarchien, ihre öffentliche Präsenz im ausgehenden 19. Jahrhundert auszubauen und so zumindest teilweise ihren politischen Machtverlust zu kompensieren. Die zunehmenden Medienberichte über den Hof stärkten jedoch nicht nur die Monarchie.
Sie schufen auch Gegenerzählungen, die in beiden Ländern in Skandalen münden konnten, die den Thron entzauberten. Indem diese Skandale detaillierte Berichte über ihren banalen Alltag, die Grenzen ihrer politischen Kompetenz oder
die Unfähigkeit ihrer Berater veröffentlichten, raubten sie Edward VII. und
Wilhelm II. das Antlitz souveräner und außeralltäglicher Persönlichkeiten und
damit die Chance auf eine Charismatisierung ihrer Herrschaft. Vielmehr förderten die Skandale den Spott über die Monarchen und damit eine Abwendung
vom monarchischen Herrschaftsanspruch.
Ähnliche Erwartungen und Normen förderten in beiden Ländern die Korruptionsskandale, die zulässige Beziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und
Verwaltung verhandelten. In Präzedenzfällen machten sie aus, dass die privaten
Geldanlagen eines Politikers in keiner Verbindung zu seinem politischen Handeln oder dem der Regierung stehen dürfe. In Großbritannien drehten sich die
Skandale eher um den Aktienhandel von Politikern, die keinen Wissensvorsprung gegenüber dem „ordinary man“ haben sollten. In Deutschland kreisten
sie dagegen um Wirtschaftsaufträge des Staates, wobei die Skandale einen fairen
Wettbewerb einforderten. Antisemitische Vorurteile spielten bei den Korruptionsvorwürfen nicht nur in Deutschland eine größere Rolle, sie bildeten auch in
Großbritannien seit 1900 einen entscheidenden Subtext. Gerade in England
gingen die Korruptionsskandale mit dem Versuch einher, politische Aufsteiger
auszugrenzen, was sich im hohen Maße auch gegen Juden richtete. In beiden
Ländern wendeten sich die Skandale aber zugleich umgekehrt gegen jene Antisemiten, die haltlose Vorwürfe aufbrachten und sich wegen ihrer fehlenden Belege so selbst diskreditierten.
Letzteres weist daraufhin, dass die Skandale nicht nur für Politiker und
Beamte Verhaltensnormen einforderten, sondern auch für Journalisten. Entsprechend kamen auch Skandale auf, die die versuchte Skandalisierung der Journalisten selbst zum Gegenstand der Enthüllung und Empörung machten. Die
beiden größten Skandale in diesem Kontext korrespondierten mit den spezifischen mediengeschichtlichen Traditionen in beiden Ländern, deren Grenzen
sie zeigten: In Großbritannien markierte der Parnellism and Crime-Skandal die
Grenzen des scheinbar unabhängigen Qualitätsjournalismus der Times, und in
Deutschland offenbarte der Leckert-Lützow-Tausch-Skandal, wie sich die unter
Bismarck etablierte Pressekontrolle und das journalistische Spitzelwesen verselbständigt hatten und im Zuge des Skandals implodierten. In beiden Ländern
forderten die Skandale damit als künftige Norm einen unabhängigen und zuver-
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2. Normen und Deutungen
483
lässig recherchierenden Journalismus ein, während sie die journalistischen Beeinflussungsversuche des Staates scharf zurückwiesen.
Bei der Aushandlung dieser Normen durch Skandale beobachteten sich
Großbritannien und Deutschland wechselseitig. Auf diese Weise entstanden
nicht nur Vorstellungen über die Kultur des jeweils anderen Landes, sondern
auch über die eigene. Dabei bildete Frankreich jeweils den wichtigsten Vergleichsmaßstab. Frankreich galt beiden Ländern als unmoralisches Schreckbild,
in dem alle Formen von Skandalen auftreten würden. Die Halsbandaffäre bildete zunächst den wichtigsten Referenzpunkt, um im eigenen Land vor Skandalen zu warnen. Seit Mitte der 1890er Jahre übernahm der französische PanamaSkandal, der Korruption im größten Stil offen gelegt hatte, diese vielfältige Leitfunktion. Er machte eine korrupte politische Verschwörung denkbar und löste
in Großbritannien und Deutschland ähnliche Vorwürfe aus, die oft wie in
Frankreich antisemitisch gefärbt waren. Bei späteren Skandalen bildete der Panama-Skandal zudem einen Gradmesser, eine Art offene Richterskala, um die
Schwere eines Skandals zu messen. Insbesondere beim deutschen KornwalzerSkandal wurde deutlich, wie sehr der Begriff „Panama“ auf diese Weise die
Semantik eines ganzen Skandals durchziehen konnte. Indem Frankreich als das
eigentlich amoralische Land abqualifiziert wurde, versicherten sich beide Länder ihrer moralischen Integrität, auch wenn die Skandale im eigenen Land stets
französische Verhältnisse androhten.
Kulturelle Transfers zwischen Großbritannien und Deutschland gingen vor
allem vom Inselreich aus, wo die Skandale jeweils etwas frühzeitiger auftraten.
Besonders deutlich wurde dies bei den Homosexualitätsskandalen, bei denen
die Berichterstattung über die britischen Fälle auch in Deutschland eine Auseinandersetzung mit dem Thema einleitete, die schließlich in Skandale mündete.
Umgekehrt griff die britische Öffentlichkeit durch ihre Berichte über die deutschen Homosexualitätsskandale zumindest zögerlich die dortigen Debatten auf,
die eine wissenschaftliche Neubestimmung versuchten. Bei anderen Skandalen,
wie um die Korruption in den Kolonien und im eigenen Land, eröffnete die
rasche Abfolge ähnlicher Skandale einen Transfer von Diskurselementen, die
entsprechende Normbrüche denkbar machten. Besonders bei den Kolonialskandalen sahen die Deutschen Großbritannien explizit als ein Vorbild an, um
Skandale zu bewältigen und konkrete Lösungsvorschläge zu entwickeln. Die
Monarchieskandale um Wilhelm II. zeigten schließlich einen direkten Austausch mit der britischen Öffentlichkeit und waren ein weiterer Beleg dafür,
dass Skandale grenzübergreifend ihre Dynamik entfalteten.
In der britischen Öffentlichkeit wurden die deutschen Skandale aufmerksam
und ausführlich verfolgt und kommentiert. Sie trugen maßgeblich dazu bei,
Vorstellungen über die Deutschen zu prägen. Besondere scharfe Kommentare
lösten die zahlreichen Kolonialskandale und die Zabern-Affäre aus. Sie etablierten das Bild des brutalen Deutschen, der mit Gewalt erobert und selbst vor dem
Auspeitschen von Frauen nicht zurückschreckt. Hieraus leiteten die Briten das
Bild einer kolonialen Unreife Deutschlands ab. Ähnliches galt für die Skandale
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VIII. Fazit
um Wilhelm II. Auch wenn er erst im Weltkrieg zum Abbild des deutschen
„Hunnen“ und Barbaren wurde, etablierten diese Skandale doch bereits Annahmen über die deutsche Aggressivität und Englandfeindschaft. Ebenso verbreitete
der Leckert-Lützow-Tausch-Skandal Vorstellungen über die autoritäre Presselenkung der deutschen Polizei. Insgesamt waren die britischen Kommentare zu
den deutschen Skandalen jedoch zurückhaltender als umgekehrt. Zudem sahen
die Briten das Aufkommen der deutschen Skandale zugleich als Beleg eines anderen Deutschlands, das problematische Missstände nicht tolerierte.
Die deutsche Öffentlichkeit zeigte im Zuge der Skandale ein viel größeres Bedürfnis, sich an Großbritannien zu messen und hieraus die eigene kulturelle
Überlegenheit abzuleiten. Insbesondere die eher konservativen Zeitungen sahen
es immer wieder als schlimmste Folge der Skandale, dass sie das deutsche Ansehen im Ausland minderten. Öffentliche Enthüllungen und Debatten über die
skandalösen Missstände wollten sie allein deshalb schon untersagen, um nicht
den Spott der englischen und französischen Presse zu riskieren. Die deutschen
Berichte über die britischen Skandale übten sich hingegen genau in diesem Spott
und verstärkten ebenfalls Stereotype. So dienten die britischen Kolonialskandale
als Beleg dafür, dass Großbritannien nur an der ökonomischen Ausbeutung
Afrikas interessiert sei und nicht an humanitären Zielen, und aus den Skandalen
um den Prince of Wales leitete sich die mangelnde Ernsthaftigkeit der Krone ab.
Das wichtigste Ziel derartiger Berichte war jedoch, die deutschen Skandale zu
relativieren und so die eigene nationale Reputation zu retten. Allerdings fielen
die Bewertungen sehr unterschiedlich aus. So bildete etwa der britische Kolonialismus trotz der Skandale für die Liberalen und Sozialdemokraten ein Vorbild,
an dem sich der deutsche Kolonialismus prinzipiell und bei der Behebung skandalöser Zustände orientieren sollte.
Als folgenlos wird man die Skandale somit nicht bezeichnen können. In vielen Fällen führten sie nicht nur zu ungeschriebenen Verhaltensmaßregeln, sondern auch zu Gesetzesnovellen, die derartige Skandale künftig verhindern sollten. Sie verschoben die Grenzen zwischen der Sphäre des Privaten und Öffentlichen und ergänzten die politische Kommunikation um neue, nur scheinbar
unpolitische Themen. Sie stärkten einen professionellen Journalismus und das
Selbstbewusstsein der Presse. Zugleich förderten sie eine enge Verschränkung
zwischen der Politik und den Medien, die insbesondere das Parlament aufwertete. Nicht minder folgenreich waren die Skandale auf der Ebene der individuell
Betroffenen. Obgleich die beschuldigten Eliten zumeist nicht verurteilt wurden,
verloren sie fast durchweg ihre bisherigen Stellungen. Vielfach kam es zu einer
sozialen Ausgrenzung, die entweder den Rückzug ins Privatleben oder die
Emigration nach sich zog. Auf allen diesen Ebenen entschieden die Skandale
damit über soziale Inklusion und Exklusion. Sie formulierten, welcher Lebenswandel als zulässig galt, um eine politische Führungsposition einzunehmen oder
als Beamter in den Kolonien zu dienen. Sie markierten, wer als ein zuverlässiger
Journalist gelten konnte und welches Wirtschaftsunternehmen als angemessener
Partner des Staates.
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2. Normen und Deutungen
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Im normativen Sinne führten die Skandale mitunter zu Veränderungen, die
man als Modernisierungs- oder Demokratisierungsprozess bewerten könnte.
Das galt natürlich besonders für Skandale, die sich gegen Korruption, Vorteilsnahme oder Amtsanmaßungen von Beamten richteten. Nicht anders wird man
die Konsequenzen der Kolonialskandale bewerten, die etwa die Todes- und
Prügelstrafen stärker regulierten, die Ausbildung der Beamten verbesserten oder
administrative Strukturen so veränderten, dass monopolartige Wirtschaftspraktiken mit überteuerten Produkten erschwert wurden. Gleiches gilt für Skandale,
die das willkürliche Handeln der politischen Polizei oder den politischen Einfluss des Königshauses einschränkten.
Dennoch waren Skandale kein Allheilmittel zur Verbesserung der Gesellschaft. Dies wird bereits deutlich, wenn man rekapituliert, was alles nicht zum
Skandal wurde, obwohl es uns heute skandalös erscheinen mag. Insbesondere
die soziale Ungerechtigkeit blieb nur im sehr begrenzten Maße ein Thema, das
in Skandale mit einer wirkungsmächtigen Empörung mündete. Dennoch wiesen
fast alle Skandale, trotz ihrer unterschiedlichen Themen, zumindest latent Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auf, indem sie sich gegen Privilegien
wandten. Insbesondere die öffentliche Forderung nach einer Gleichheit vor Gericht trat bei fast allen Skandalen auf, wenn sich Eliten vor Gericht zu verantworten hatten. Dass Personen Normen brachen, die eigentlich für ihre Wahrung
standen, machte die Skandale interessant und spektakulär. Dass diese Personen
aber im Unterschied zum „einfachen Mann“ nicht verurteilt wurden, sorgte in
den Medien, den Parlamenten und in den Kneipengesprächen für eine emotionale Empörung.
Dennoch ging die „Politik der Sensationen“, die mit den Skandalen betrieben
wurde, eben nicht in solchen Demokratisierungstendenzen auf. Die Skandale
zeigten vielmehr, dass der Zusammenhang zwischen Medialisierung und Demokratisierung äußerst ambivalent war. Die Skandale politisierten und förderten
Debatten, aber ihre Enthüllungen und ihre Folgen entsprachen häufig kaum demokratischen Idealen – etwa wenn sie mit Enthüllungen aus dem Privatleben
Politiker diskreditierten und so verschärfte moralische Kontrollen auslösten.
Die Skandale förderten eine politische Kritik, übten aber eine Kultur des Misstrauens ein, die das Vertrauen in die Politik schmälerte. Zugleich eröffneten sie
jedoch die Chance, durch Reformen und Reinigungsrituale, wie unter Bernhard
Dernburg nach den Kolonialskandalen 1906, neues Vertrauen zu schaffen.
Wie schmal dieser Grad zwischen destruktiven Kampagnen und konstruktiver Empörung war, zeigte sich vor allem in der Weimarer Republik. Nun übernahm die politische Rechte jene Techniken der Skandalisierung, die bisher vornehmlich von den Sozialdemokraten, dem Freisinn und dem politischen Katholizismus eingeübt worden waren. Ihre Kampagnen, die mitunter in Skandale
mündeten, sollten den Reputationsverlust der ersten deutschen Demokratie
maßgeblich verstärken.
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DANK
Am Beginn dieser Studie stand in gewisser Weise der CDU-Spendenskandal des
Jahres 2000. Im Rahmen meiner Doktorarbeit über die Geschichte der Christdemokratie und der bürgerlichen Integration nach 1945 war ich vielfach auf die
historische Dimension dieses Skandals angesprochen worden. Beim Versuch,
mich hierzu genauer historisch einzulesen, stellte ich jedoch verwundert fest,
dass systematische Arbeiten zur Geschichte von Skandalen oder zum Umgang
mit Korruptionsvorwürfen bisher kaum vorlagen. Was damals als kleine Recherche begann, entwickelte sich dann zu einem umfangreichen Projekt zur Medien- und Kulturgeschichte der Jahrzehnte vor 1914.
Diese Studie entstand dabei an zahlreichen akademischen Stationen, bei denen ich vielfältige Anregungen erhielt. Die ersten Konzeptionen und Forschungen begann ich 2001/02 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger
Lehrstuhl von Bernd Weisbrod, dem ich zahlreiche Impulse zur deutsch-britischen Geschichte verdanke. Von den damaligen Kollegen waren besonders
Habbo Knoch und Daniel Morat wichtige Gesprächspartner, so wie auch andere Mitglieder des „Arbeitskreises Geschichte+Theorie“, mit denen ich die ersten
Entwürfe diskutierte. Den Großteil der Quellenstudien und die Niederschrift
führte ich dann zwischen 2003 und 2007 während meiner Zeit als Juniorprofessor am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum durch. Trotz meines
etwas freischwebenden Status unterstützten mich dabei zahlreiche Kollegen
durch einen konstruktiven wissenschaftlichen Austausch. Das galt ganz besonders für Lucian Hölscher und Klaus Tenfelde, die auf sehr unterschiedliche
Weise meinen Blick auf das Kaiserreich und die historische Analyse insgesamt
schärften, aber auch für Norbert Frei und Regina Schulte. Dem Historischen
Institut und der damaligen Geschäftsführung ist zudem dafür zu danken, dass
mir als Juniorprofessor, anders als damals in den Medien befürchtet, tatsächlich
genug Freiraum für die Forschung blieb.
Zudem gewährten sie mir eine Auszeit, um 2005 die Recherchen in den englischen Archiven und Bibliotheken mit einem Stipendium des DHI London
vorzunehmen, wo ich zudem in zahlreichen Diskussionen konstruktiven Rat
erhielt. Neben Dominik Geppert, der mir stets mit hilfreichen Anregungen zur
Seite stand, nahmen sich besonders Karina Urbach, Benedikt Stuchtey und
Indra Sengupta Zeit für Gespräche. Bei meinen zahlreichen Archivreisen in
Großbritannien stand mir besonders Bernhard Fulda hilfreich zur Seite, der
mir dankenswerterweise schon im Sommer 2004 seine Wohnung in Cambridge
zur Verfügung stellte. Dank gebührt dem DHI London und seinem Beirat
schließlich nicht nur für das Forschungsstipendium, sondern auch dafür, dass
die Studie in seine Reihe aufgenommen wurde. Nachdem das Manuskript abgeschlossen wurde, erfolgten 2007 nach meinem Wechsel an die Universität
Gießen die letzten Überarbeitungen. Insbesondere die äußerst produktiven
Diskussionen im Rahmen des dortigen Graduiertenkollegs „Transnationale
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Dank
Medienereignisse“ machten mir deutlich, wie viel man bei der Studie noch hätte
ergänzen können.
Darüber hinaus ermöglichten mir zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, Teile
meiner Studie in ihren Forschungskolloquien zu diskutieren, so etwa in Bielefeld, Braunschweig, Freiburg, Frankfurt a. M., Göttingen, Köln, Stuttgart,
Zürich und der University of Sussex, bei denen ich ebenso vielfältige Hinweise
erhielt wie bei Tagungsvorträgen zu einzelnen Kapiteln. Produktive Anregungen
verdanke ich insbesondere auch dem Arbeitskreis Deutsche England-Forschung
(ADEF), dessen Jahrestagung 2007 zu einem entsprechenden mediengeschichtlichen Themenfeld organisiert werden konnte.
Zu großem Dank bin ich auch zahlreichen studentischen Hilfskräften verpflichtet, die mich bei der Entstehung des Buches unterstützten. Patrick Buber
und Markus Höninger trugen Buchpakete heran und recherchierten historische
Zeitungsartikel, ebenso wie Eva Modrey, Jutta Abraham und Marcus Boieck,
die zugleich erste Textentwürfe korrigierten. Bei der Formatierung der Buchpublikation und Durchsicht der Fahnen halfen schließlich Alexander Gast,
Annalena Schmidt und Paul Berten.
Zudem standen mir zahlreiche Kollegen bei der inhaltlichen Durchsicht des
Manuskriptes zur Seite. Insbesondere Peter Hoeres und Norman Domeier gaben detaillierte Hinweise zum gesamten Text. Großer Dank gebührt aber auch
Manuel Borutta, Jens Ivo Engels und Dominik Geppert, die Teile des Buches
Korrektur lasen. Schließlich möchte ich von Seiten des DHI London Markus
Mößlang und ganz besonders Jane Rafferty danken, die durch ihre äußerst umsichtige Endkorrektur dem Text seinen letzten Schliff gaben.
Gießen, im März 2008
Frank Bösch
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ABKÜRZUNGEN
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Sitz.
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Sp.
Staatssekr.
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Sten. Ber.
UCD
UiO
WTB
ZfG
Auswärtiges Amt
abgedruckt
Archiv der sozialen Demokratie
Archiv für Kulturgeschichte
Archiv für Sozialgeschichte
Bundesarchiv Koblenz
Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde
Berliner Illustrirte Zeitung
British Library Manuscript Collection
British Telecommunications
Churchill Archives Centre
Central European History
Committee of Emin Pasha Relief Expedition
ergänzte Ausgabe
Faksimile
Geschichte und Gesellschaft
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
Historisches Archiv Krupp
Hervorhebung im Original
House of Lords Record Office
Hauptstaatsarchiv Hamburg
Historische Zeitschrift
Landesarchiv Berlin
Legislaturperiode
London School of Economics
Member of Parliament
Nachlass
Neue Politische Literatur
The National Archives
National Library of Ireland, Manuscript Department
Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes
Reichstag
Special Collections Reading Room
Session
Sitzung
School of Oriental and African Studies Library/London University
Spalte
Staatssekretär
Hauptstaatsarchiv Hamburg
Stenographische Berichte
University College Dublin Archives
Unterstreichung im Original
Wolff’s Telegraphisches Bureau
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Ungedruckte Quellen (Kurzverzeichnis)
Archive in Großbritannien
Birmingham University, Special Collections Department
Joseph Chamberlain
British Library, Manuscripts Collection, London
John Poyntz Althorp (5. Earl Spencer)
Viscount Alverstone (Richard Webster)
Hugh Oakeley Arnold-Forster
Arthur James Balfour
Henry Campbell-Bannerman
G.K. Chesterton
Charles Dilke
Thomas Escott
James Garvin
Viscount Herbert John Gladstone
William Gladstone
Sir Edwald Hamilton
Lord Northcliffe
George Alladice Riddell
George Bernhard Shaw
John Alfred Spender
CUP 363 (Sammlung zur Homosexualität)
BT Archives, London
Bestand Post Office
Cambridge University/Churchill Archives Centre
Reginald Brett (2nd Viscount Esher)
Winston Churchill
William Thomas Stead
Hatfield House, Hatfield
Marquess of Salisbury
London School of Economics, Archives Division
Alfred George Gardiner
The National Archives, Kew
Records of the Cabinet Office
Colonial Office
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492
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Records of the Director of Public Prosecutions
Pro Domestic Records/Kitchener Papers
Pro Domestic Records/Napier Papers
Records of the Exchequer
Home Office, Ministry of Home Security
Records of Justices
Records created and inherited by HM Treasury
War Office
House of Lords Record Office/Parliamentary Archives, London
Bonar Law
Ralph David Blumenfeld
George Henry Cadogan
Lloyd George
John St. Joe Strachey
School of Oriental and African Studies Library (SOAS), Archives & Manuscripts,
University of London
Sir William Mackinnon
West Sussex Record Office, Chichester
Maxse Papers
Archive in Irland
National Library of Ireland, Manuscript Department, Dublin
Michael Davitt
Harrington Papers
Amy Mander Papers
Michael McDonough Papers
McWeeney Papers
Joseph McGarrity Collection
William O’Brien
W. H. O’Shea
Richard Pigott
Diverse Unterlagen zu Parnellism and Crime und Parnell vs. O’Shea
Trinity College Dublin
T. P. O’Connor
University College Dublin
Tim Healy
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Quellen
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Archive in Deutschland
Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
August Bebel F. 202
Kurt Eisner F. 212
Wilhelm Liebknecht F. 200
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam
Rep. 12 B Berlin I
Rep. 37 Liebenberg
Bundesarchiv Berlin (Lichterfelde)
August Bebel NY 4022
Georg Bernhard N 2020
Kurt Eisner NY 4060
Eugen Ernst NY 4025
Otto Hammann N 2106
Eduard Lasker N2167/1-367
Theodor Lewald N 2176
Karl Liebknecht NY4001
Wilhelm Liebknecht NY 4034
Nachlass Carl Peters N 2223
Jesko von Puttkamer N 2231/1-11
Reichskanzlei R 43
Reichspressekammer R 56
Reichskolonialamt R 1001
Behörden Deutsch Südwest R 1002
Reichsjustizministerium R 3001
Reichslandbund Pressearchiv R 8034 II und III
Bundesarchiv Koblenz
Bernhard Fürst von Bülow NL 1016
Bernhard Dernburg NL 1130
Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld NL 1029
Sammlung Fechenbach ZSg 113
Walter Frank NL 1067
Maximilian Harden N 1062
Hohenlohe-Schillingsfürst N 1007
Alfred Hugenberg N 1231
Friedrich Wilhelm Loebell N 1045
Theodor Wolff NL 1207
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Geheimes Zivilkabinett, Rep. 89
Haus und Hof der Hohenzoller/Wilhelm II., BPH Rep. 53
Justizministerium, HA I. Rep. 84 a,
Kronrats-Sitzungsprotokolle, HA I. Rep. 90a
Ministerium des Innern, Rep. 77
Oberhofmarschallamt, Rep. 113
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Staatsministerium, Rep. 90 Abt. ST
von Studt, HA I. Rep. 92 NL
Hauptstaatsarchiv Hamburg
Bestand Politische Polizei 331-3, Vigilanzberichte und Unterlagen Schack
Historisches Archiv Köln
Nachlass Bachem 1006
Historisches Archiv Krupp/Essen
FAH
WA
W IV
Landesarchiv Berlin
Landgericht Berlin
Stadtgericht Berlin
Polizeipräsident Berlin
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin
Deutschland 122
Deutschland 126
Deutschland 126a secr.
Gedruckte Quellen
Systematisch ausgewertete Zeitungen/Zeitschriften
Ausgewertet in: Cambridge University Library, British Library London, Staatsbibliothek Berlin, Institut für Zeitungsforschung Dortmund; nicht aufgeführt
sind punktuell oder durch Ausschnittssammlungen erfasste Medien.
The Daily Mail
Daily News
The Daily Telegraph
Illustrated London News
Illustrated Police News
Morning Leader
Morning Post
The Pall Mall Gazette
Punch
Reynolds’s Newspaper
The Standard
The Star
The Times
United Ireland
Westminster Gazette
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Quellen
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Berliner Illustrirte Zeitung
Berliner Lokal-Anzeiger
Berliner Tageblatt
BZ am Mittag
Kladderadatsch
Kölnische Volkszeitung
Monatsbericht des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees
Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“)
Simplicissimus
Vorwärts
Vossische Zeitung
Die Zukunft
Parlamentsprotokolle
Hansard’s Parliamentary Debates, London.
Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte, Berlin.
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der
Abgeordneten, Berlin.
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ABSTRACT
In the late 19th century the whole of Western Europe saw numerous spectacular
scandals that led to political crises and indignation across national boundaries.
This study looks at these political scandals systematically for the first time by
drawing international comparisons and using extensive archival sources. How
they evolved, and the effects they had, are analysed by comparing Britain with
Germany, but also taking account of the transfer effects across national borders.
Approaching politics from the perspective of cultural history, the book addresses the question as to how far the scandals influenced political communication,
power structures and cultural norms, and how the relationship between politics
and public changed. Thus it contributes equally to cultural, media and political
history.
Although the structures of politics and public were different in Germany and
Britain, the scandals reveal similar tendencies in the two countries. In the
German Kaiserreich the media and the Reichtsag imposed limits on the authoritarian state by the scandals, while the British scandals show that Britain’s political and cultural liberalism should not be over-estimated. In both countries the
governments sought to prevent scandals by influencing the judiciary, though
this was generally counter-productive. What also becomes clear is that the increase in scandals in the two countries was not only attributable to the simultaneous emergence of the mass and popular press. Rather, the revelations were the
result of interaction between politicians and those newspapers closely connected with them. They deliberately broke rules of communication in order to
attract attention and stir up emotions, and to instrumentalise the revelations for
the purposes of their general political aims.
The scandals also played a part in removing taboos. They made such issues as
homosexuality, divorce or relationships with African women into popular topics
of public discussion. They created not only stereotypes, but also new knowledge of spheres that were previously relatively unknown. In this way the
scandals developed normative demands as regards the behaviour of monarchs,
politicians, or civil servants. Moreover, they led to legal reforms, but also to a
pessimistic perception of increasing moral decline. In each case the British commentary on German scandals and vice versa reinforced ideas about the other
country.
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REGISTER
Personenregister
Fußnoten wurden nicht berücksichtigt.
Ablaß, Bruno 291, 298
Abt, Eduard 399
Ahlwardt, Hermann 210, 446 f.
Akwa, Prinz 293, 310
Albert Victor („Prinz Eddy“) 75, 80, 94,
256
Alexander, Zar 347
Allers, Wilhelm 100
Anderson, Robert 336
Antoinette, Marie 367, 376
Arenberg, Prosper von 268, 277 f., 287,
289
Argyll, Duke of 164
Aristophanes 8
Arnim, Harry von 283, 344 f.
Arnolds, Matthew 330
Arons, Leo 447
Asquith, Emma Alice Margaret 442
Asquith, Herbert Henry 432, 443
August, Heinrich 426
Bachem, Julius 209, 211
Bachem, Karl 210 f., 399
Balfour, Arthur 87, 203, 249, 259, 261,
338 f., 343, 428
Ballestrem, Franz Graf von 111
Ballin, Albert 140
Bankes, William John 55 f.
Barmat, Brüder Judko, Henry, Julius und
David 468
Barschel, Uwe 108
Barth, Boris 226
Barttelot, Major 237–244, 246
Bassermann, Ernst 147, 413
Beaufort, Duke of 82
Bebel, August 49, 98, 100, 152, 169, 268,
275, 278–281, 283, 285, 289, 291, 294,
304, 305, 353, 357, 405, 474
Bell, Moberly 249
Belloc, Hillaire 434, 436
Belt, George 208
Bennett, James Gordon 234
Berckheim, Sigismund von 413
Bergami, Bartolomeo 372
Berger, Alfred von 123
Bernstein, Eduard 97 f., 101, 128, 130,
282 f.
Beseler, Max von 136, 139
Bethmann-Hollweg, Theobald von 317–
319, 321
Bilse, Fritz Oswald 316
Bismarck, Herbert von 357, 382
Bismarck, Otto von 32, 58, 108, 265,
273 f., 315, 344–347, 354, 357 f., 362,
382, 394, 397 f. 401, 407, 426
Bismarck, Wilhelm von 381
Bleichröder, Gerson von 210, 426, 445 f.
Boetticher, Karl Heinrich von 345, 351,
360
Bolton, George 62–64, 66, 68
Bonny, William 239 f.
Booth, Charles 31
Bothmer, Ernst von 397
Böttcher, Karl 105
Boulton, Ernest 56–58
Bourdieu, Pierre 13
Bradlaugh, Charles 162
Brake, Laurel 78
Brand, Adolf 50, 97, 117, 129 f., 156
Brandt, Maximilian 449, 451, 456–460,
465
Brauchitsch, von (Regierungsrat) 293
Brennam, James 25
Brett, Reginald 75 f., 81 f., 183, 196, 240,
341
Bringmann, Tobias 396
Bronsart von Schellendorf, Walter 346,
350 f.
Brown, John 372 f.
Buchner, Max 226
Buckle, George Earle 342
Bulach, Zorn von 318, 320
Bülow, Bernhard von 40, 121–123, 125,
129 f., 134 f., 139–141, 147, 151 f., 156,
212–215, 217, 271, 283, 295, 301–306,
357, 403, 405–414
Bülow, Kuno Graf von 119
Burke, Thomas Henry 61, 333
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
532
Register
Burkes, Edmund 228, 261
Butler, Josephine 192
Butler, William 258–260
Cadbury, George 36, 252, 257, 430, 432
Caillaux, Joseph 435
Caine, W. S. 183
Campbell, Lord Colin 164, 190
Campbell-Bannerman, Henry 232, 250,
254, 259
Caprivi, Leo von 265, 277, 344, 347,
351–353, 398
Caroline, Queen 365, 369–372, 375 f.,
379, 381, 388, 393
Carpenter, Edward 50 f.
Castlereagh, Viscout 55
Cavendish, Frederick 61, 333
Chaillaux, Joseph 208, 209
Chamberlain, Joseph 96, 178, 183 f., 188,
196 f., 199, 206, 247–253, 256, 324, 339,
428 f.
Chesterton, Cecil 436, 445
Churchill, Randolph 181, 309
Churchill, Winston 430, 440
Clark, Anna 26
Clifford, John 204
Clinton, Arthur 57
Cobain, Edward Samuel Wesley de 86,
87, 89, 94, 207
Cobbet, William 53, 369, 371, 422
Columbus, Christoph 234
Connellan, Corry 62
Conrad, Joseph 246
Cooper, Admiral Lord 408
Cornwall, Gustavus Charles 66
Courtenay, Viscount 53
Crawford, Virginia 185 f., 188, 191
Crewe, Earl of 309
Dallwitz, Johann von 320
Daniel, Ute 17
Dasbach, Georg Friedrich 117
Deimling, Berthold von 317
Dernburg, Bernhard 303–308, 409, 485
Dilke, Charles 24, 173, 177–185, 187–
192, 194–196, 200, 203, 206 f., 222 f., 249
Donald, Robert 441
Donaldson, Frances 24
Douglas, Lord Alfred 89, 91, 100
Dreges, Max 449
Dreyfus, Alfred 2, 25, 98, 111, 250, 339,
396, 434 f., 462
Dyer, Alfred S. 230
Eardly-Wilmot, Sir John 229
Eccius, Direktor 449, 459 f., 464
Edward VII. (bis 1902 Prince of
Wales) 71, 75, 180, 236, 260, 309, 365,
367, 373–378, 383–393, 410, 414, 416,
418 f., 477, 481 f., 484
Egan, Patrick 332, 340
Einem, Karl von 147
Eisner, Kurt 101, 107, 113
Elbe, Lilli von 124
Ellis, Havelock 51
Ellis, James 62
Engels, Friedrich 59
Erbar, Ralph 291
Ernst Günther, Herzog von SchleswigHolstein 396
Ernst, Jakob 139
Erzberger, Matthias 290–292, 294–299,
304 f., 307, 318, 327, 464, 468, 472
Esher, Viscount siehe Brett, Reginald
Eulenburg, August Graf zu 112, 348
Eulenburg-Hertefeld, Philipp Friedrich
Alexander Fürst zu 110 f., 113, 116,
119–140, 142, 144, 146, 148–150, 152–
154, 211–214, 216, 219, 311, 346, 352,
357–359, 382, 395, 397 f., 400, 407, 409,
412
Euston, Lord 77, 80, 85, 89
Falkenhayn, General 314 f., 320 f.
Farran, Assad 238
Ferdinand IV., Großherzog von Toskana
380
Fischer, Major 299 f.
Fiske, John 17
Flanagan, Woulfe 335
Foucault, Michel 13 f., 159
Forstner, Günter Freiherr von 312, 316,
319–321
French, James Ellis 64, 66
Friedrich III. 345
Friedrich August, Prinz von Sachsen
380
Fröhlich, Michael 30
Gardiner, A.G. 441
Gaß, Flora 210
Geffken, Heinrich 345
Georg IV. 369–372, 388
George, Lloyd 232, 252, 254, 429–431,
433, 435, 437–440, 441–445, 468
Geppert, Dominik 30
Giesebrecht, Franz 267, 287
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
Personenregister
533
Gladstone, William 32, 61, 67, 68, 84,
178, 181, 188, 191, 193 f., 197, 202–206,
236, 238, 332, 337, 340, 342, 376 f., 390 f.
Glagau, Otto 445 f.
Gordon, Charles George 236, 408
Gordon-Cumming, William 384 f., 390 f.
Gradenauer, Georg 105
Granville, Charles 442
Greville, Charles 54, 369
Groth, Otto 15
Gründer, Horst 291
Guillaume-Schack, Gertrud 168
Gutmann, Eugen 166
Holstein, Friedrich von 122, 134, 154,
213, 217, 395, 398, 414
Horn, Waldemar 298, 301
Houston, Edward Caulfield 199, 334 f.
Huber, Ernst-Rudolf 119
Hudson, George 423
Hugenberg, Alfred 449 f., 453 f., 459,
464, 466
Hughes, Hugh Price 204
Hughes-Hallet, Francis Charles 190
Hülsen-Haesler, Dietrich Graf von
154
Hyam, Ronald 226
Habermas, Jürgen 6
Hale, William Bayard 408, 410 f., 414, 416
Hall, Alex 24
Hall, Stuart 17
Hamilton, Emma 201
Hammann, Otto 40, 129, 173, 214–217,
222
Hammerstein, Wilhelm von 210, 331,
447
Hammond, Charles 74, 85
Hampton, Mark 30
Harcourt, William 250, 341
Harden, Maximilian 1, 44, 106 f., 113,
120 f., 123–134, 136, 139–142, 146, 150–
153, 281, 285, 293, 298, 310, 329 f., 351,
354, 381, 391, 394, 397, 404, 413, 414,
416, 424, 472
Hauptmann, Gerhart 49
„Hauptmann von Köpenick“ 318
Haux, Ernst 459
Healy, Tim 60, 62, 64, 67, 86, 195, 206,
337, 340, 472, 474
Heber, Richard 55
Heeringen, Josias von 453, 463
Heinrich VIII. 159
Heinze, Hermann 35, 169 f., 210
Herold, Anton Bruno 275
Hirsch, Baron 383 f.
Hirschfeld, Magnus 49, 98, 100, 106 f.,
116 f., 120, 130–132, 142, 148, 153, 157
Hobhouse, Emily 253–255
Hobson, John 232
Hofmeister, Rudolf 274 f., 279
Hohenau, Wilhelm Graf von 116, 138,
144, 148, 153
Hohenlohe-Langenburg, Ernst zu 301 f.
Hohenlohe-Schllingfürst Chlodwig
Carl Viktor Fürst zu 40, 122, 283,
351, 354–356, 359–361
Isaacs, Rufus 433 f., 437 f., 441–443
Isenbiel, Hugo 133, 139
Israel, Hermann 118
„Jack the Ripper“ 35, 189
Jacobs, Legionsrat 308
Jagodjo 284, 285
Jameson, Leander Starr 238–242, 247,
250, 282
Jeffries, Mary 172
Jenkins, Roy 188
Joachim Albrecht, Prinz von Preußen
382
Jocelyn, Percy (Bishop of Clogher)
52 f.
Joyce, Ministerialbeamter 338
Kayser, Paul 275, 277, 279, 283, 285
Kennedy, Paul 30
Kiderlen-Wächter, Alfred von 173, 211–
213, 215–217, 395, 400
Kitchener, Lord 255
Knollys, Lord 391
Koch, Robert 341
Koeppen, Marie 170
Kohlrausch, Martin 25, 149, 407
Köller, Ernst Matthias von 352
Korn, Assessor 102–104, 112
Kotze, Leberecht von 395–400
Krüger, Stephanus Johannes Paulus
(„Ohm“) 282, 411
Krupp, Alfred 106
Krupp, Friedrich Alfred 1, 5, 94, 96 f.,
99–117, 120, 125–127, 141 f., 148, 157,
218, 405
Krupp, Margarethe 112 f.
Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav
449, 459
Kupffer, Hugo von 49
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
534
Register
Labouchere, Henry 34, 69 f., 75, 78,
80–86, 91, 122, 197 f., 232, 244, 248, 340,
472
Larsen, Heinrich 360
Lasker, Eduard 426
Lassalle, Ferdinand 59
Law, Bonar 428, 435, 441 f.
Lawson, Harry 441
Lawson, Wilfrid R. 436
Le Caron, Henri 336
Leckert, Heinrich 343, 345, 348–350,
360 f., 482
Lecomte, Raymond 123
Ledebour, Georg 291
Lee, Alan 37
Leid, Carl 103
Leist, Heinrich von 18, 264, 266–274,
276–278, 280, 282, 284 f., 287, 289, 323,
477
Lever, William 430–432
Levysohn, Arthur 355
Liebermann, Max 49
Liebknecht, Karl 450–452, 455, 460 f.,
464, 466 f., 474
Liebknecht, Wilhelm 353
Limburg-Stirum, Friedrich Wilhelm
Graf 355
Livingston, David 234–236
Loebell, Friedrich Wilhelm von 215
Lucanus, Hermann 347
Ludwig I. 379 f.
Ludwig II. 58, 381
Luhmann, Niklas 17
Luise von Sachsen 380 f.
Lützow, Karl von 343, 345, 348–351,
354, 360 f., 482
Lynar, Rochus Graf 128, 138, 144, 147,
153
Mabruk 284
MacDonald, Hector 44, 92–97, 104, 339,
342
Mackinnon, William 235
McKenzie, Kirsten 26
Malzan, Reichsfreiherr von 58
Manning, Kardinal Henry Edward 181,
183, 191
Manteuffel, Otto von 281
Marconi, Guglielmo 433
Marquardt, Direktor 459, 456
Marschall von Bieberstein, Adolf
von 269, 277, 346, 348 f., 351–356, 358,
360
Marx, Karl 59
Massingham, Henry William 441
Matthews, Henry 73–76, 80, 385
Maxse, Leopold 430–433, 437
Meiningen, Charlotte von 396
Melbourne, Viscount 173–177, 188, 201
Meyer, Oberrichter 293
Meyers, Rudolf 446
Miquel, Johannes von 446
Moll, Albert 116
Moltke, Kuno Graf von 119, 121–124,
127 f., 130–132, 138–142, 144, 146–149,
154, 211–213, 216, 409, 414, 478
Mommsen, W. J. 311
Montefiore, Dora 208
Montez, Lola 379–381
Mordaunt, Harriett 373–376
Morel, Edmund 232
Morgan, Oberst 257 f.
Mosse, Rudolf 29, 36, 435, 466
Mouths, Direktor 456
Muehlon, Wilhelm 449, 459
Müller, Ernst 292
Munckel, August Carl 356
Murray, Lord 433, 437–439, 441
Napoleon 398, 425
Naumann, Friedrich 414
Nicholas, Rogers 368
Nicholls, David 188
Nelson, Admiral Horatio 201 f.
Newbold, J.T. Walton 450
Newnes, George 29
Normann-Schumann, Ernst 346 f.,
351–353, 357
Northcliffe, Lord 21, 29, 36, 38, 252,
263, 431f,. 439 f., 441, 472
Norton, Caroline 173–176
Norton, Richard 173–175
Noske, Gustav 327, 464
O’Brien, William 60 f., 63–67, 122, 203
O’Kane, Timothy Joseph 177
O’Shea, Katherine 194 f., 199, 202 f.,
206
O’Shea, William 192–200, 202, 339
Oliver, Edwin 436
Osterhammel, Jürgen 226
Ostwald, Hans 31
Palmerston, Lord 177, 201
Park, Fredrick William 56–58
Parke, Ernest 76 f., 79, 80, 84
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
Personenregister
Parnell, Charles Stewart 24, 61, 132, 173,
190, 192–208, 212, 222, 245, 332–343,
474, 482
Pascha, Emin 236–238, 242, 244 f., 276
Pearson, Arthur 36
Peel, Robert 54
Peters, Carl 18, 233, 236, 239, 264 f.,
275–289, 293, 323, 477
Pfeiffer, Maximilian Joseph 118
Pigott, Richard 335, 339–342, 368
Podbielski, Victor von 295, 299 f., 302
Poeplau, Oskar 292, 294
Polo, Marco 234
Polstorff, Wilhelm 399
Porter, Bernhard 28
Preußen, Joachim Albrecht von 166
Probyn, Dighton 81
Puttkamer, Jesco von 212, 292–294, 298,
302, 304, 309 f.
Queensberry, Marquis of 89, 91
Quidde, Ludwig 395–397, 400
Rathenau, Walter 123
Redl, Alfred 149
Reischach, Hofmarschall Freiherr von
395
Requate, Jörg 29
Rhodes, Cecil 247–250
Richter, Eugen 268, 282, 356, 405
Richthofen, Oswalt von 102
Riddel, George 439, 441
Riedel, Georg 139
Rilke, Rainer Maria 49
Robbins, Alfred 197
Roeren, Hermann 291 f., 294, 298,
305–307
Rohan, Kardinal Louis René de 367
Röhl, John 153, 381, 394, 396
Rose, Friedrich Wilhelm 269–271
Rosebery, Lord 91, 178, 248
Rosenberg, Journalist 378
Rötger, Direktor 459
Salisbury, Lord 70, 72–76, 80–84, 188,
203, 236, 332 f., 337 f., 341, 385 f., 390,
392
Samuel, Herbert 433 f.
Sauderson, E.J. 337
Schack, Wilhelm 173, 217, 218–220,
222 f.
Schall, Martin 278
Scheckell, Edward 55
535
Scheefer, Max 129
Scherl, August 29, 36, 302, 350
Schmidt, Geo A. 291
Schmidt-Gernig, Alexander 25
Schmitz, Bruno 214–216
Schoen, Wilhelm von 211, 415
Schönstedt, Karl Heinrich von 281
Schrader, Karl Freiherr von 399
Schrempf, Friedrich Christian 293
Schröder, Friedrich 286, 287
Schweinfurth, Georg 239
Schweizer, Johann Baptiste von 59
Scott, C. P. (Charles Prestwich) 93, 254,
439, 441
Seitz, Theodor 309
Senett, Richard 6
Shaw, Bernhard 83
Shaw, Flora 232, 249
Silberrand, Hubert 262–264, 326
Sklarek, Brüder Max, Willi u. Leo 468
Smithies, Bischof 283
Soames, Joseph 338 f.
Soden, Julius Freiherr von 266, 277
Somerset, Arthur 24, 71–77, 81 f., 85, 89,
94, 101
Spahn, Peter 147, 297, 301
Spencer, Earl 63, 68
Stadthagen, Arthur 211
Staerck, Wingolf 351
Stampfer, Friedrich 108
Stanhope, Edward 390
Stanley, Henry Morton 28, 233–238,
241–247, 256, 262–264, 267, 273, 276,
282, 288, 324, 477
Stead, William T. 13, 39 f., 65, 69, 73, 85,
90 f., 93, 120, 164, 167–169, 171 f., 177–
179, 182 f., 184 f., 187, 189 f., 194–196,
201–203, 222 f., 230, 239, 241, 248–250,
330, 333 f., 340 f., 349, 386 f., 391, 407 f.,
472
Stephenson, Augustus 71
Sternberg, August 170–172, 427
Strachey, John Loe 249, 253, 435, 441 f.
Strausberg, Bethel Henry 426
Struensee, Johann Friedrich 368
Stuart-Wortly, Edward James 408,
410
Stuebel, Oskar Wilhelm 301
Südekum, Albert 464
Sullivan, Timothy Daniel 194
Tausch, Eugen von 343, 345, 347–354,
358–360, 362, 482
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
536
Register
Taylor, Alfred 89
Thiele, Adolf 117, 137
Thyssen, Heinrich 166
Tippelskirch, Kurt von 299–301, 427
Tippoo Tib 240
Tirpitz, Alfred von 459
Tresckow, Hans von 100, 131, 144, 149
Trevelyan, George 62
Troup, John Rose 239, 245
Tschirschky, Heinrich Leonhard von
146
Tucker, Bischof Alfred Robert 279, 283
Uetritz, Leutnant von 146
Ullstein, Leopold 29, 36, 38, 435
Ulrichs, Karl Heinrich 48–50, 59 f.
Valentin, Wilhelm 267, 269
Verney, Edmund Hope 207 f.
Victoria, Queen 32, 84, 163, 188, 365 f.,
370, 372 f., 376–379, 383, 388, 390, 392,
406, 418
Virchow, Rudolf 48
Vollmar, Georg von 111, 115, 275
Wagener, Vortragender Rat 426
Waldersee, Alfred Graf von 357, 361
Wangenheim, Baron von 212
Ward, Herbert 239
Webster, Richard 338
Wedel, Graf Edgar von 128, 136, 153,
318, 320
Wehlan, Alwin Karl 18, 264, 266 f., 269,
272–274, 276–278, 280, 284 f., 287, 289,
323
Wellington, Duke of 55, 202
West-Ridgeway, Joseph 93
Wilde, Oskar 44, 87–92, 94, 97 f., 100 f.,
116, 207
Wilkes, John 368
Wilhelm I. 32, 366, 393, 418
Wilhelm II. 3, 25, 99, 102 f., 109–113,
116, 119–125, 127, 131, 136, 138, 141,
148–154, 156, 172, 279, 282, 302, 314 f.,
318 f., 347, 350–352, 354, 359–361, 365,
367, 381–383, 393–419, 424, 450, 452,
459, 471, 474, 481–484
Wilmot-Brooke, Graham 237
Winzen, Peter 407
Wissmann, Hermann von 265 f.
Wistuba, Emanuel Leopold 292, 294
Woermann, Carl 301, 427
Wolf, Eugen 265 f., 279, 286, 349
Wolff, Theodor 317, 396
Wortley, Colonel Stuart 95
Zastrow, Carl von 59
Zedlitz-Trützschler, Graf Robert 100,
148
Zimmermann, Eugen 139, 302
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Sachregister
537
Sachregister
Die Fußnoten wurden nicht berücksichtigt. Zeitungen und Zeitschriften sind nur
verzeichnet, wenn sie im Text namentlich und häufiger erwähnt sind.
Antisemitismus 118, 128 f., 131, 171, 217,
220, 252, 303, 346, 351, 355, 433–435,
442, 445–447, 462, 482
– Skandale gegen Antisemiten 217–223,
446 f., 467 f.
Baccaratskandal 382–392, 418, 477
Berliner Illustrirte Zeitung 22, 29, 40, 105,
120, 164, 230, 294, 306, 349, 416, 417
Berliner Lokal-Anzeiger 21, 29, 39, 49,
105, 137, 150 f., 300, 310, 405, 454
Berliner Tageblatt 21, 94, 105 f., 131, 137,
152, 218 f., 232, 265–267, 274, 286 f.,
293 f., 313, 317, 343, 351, 355, 396, 416,
466
Boxeraufstand 289, 402–406
Burenkrieg 92 f., 231 f., 247 f., 250–262,
289 f., 326, 393, 406, 412
BZ am Mittag 21, 29, 38, 40, 105 f., 112,
118, 124, 133, 149, 301, 411, 458
Caligula-Skandal 331, 394–401
Cleveland-Street-Affair 44, 70–85, 88–92,
96, 101, 136, 385, 475
Daily Mail 21, 38 f., 94, 162, 231, 251, 254,
259, 431, 440 f.
Daily News 21, 64, 94 f., 187, 198, 207,
235, 244 f., 252, 257–259, 336 f., 385,
387, 430, 437, 440–442
Daily Telegraph 2, 21, 24 f., 64 f., 108, 139,
153, 162, 179 f., 182, 187, 191, 200,
211 f., 216 f., 235, 242, 244, 311, 322,
336, 349, 365, 367, 376–378, 406–408,
410–412, 416 f.
Daily-Telegraph-Affäre 24 f., 139, 153,
211 f., 216, 365, 406–417
Detektive 66, 77, 89, 91, 124, 156, 185,
476
Dienstmädchen/Diener 100, 133–135, 143,
164, 174, 176, 182 f., 185 f., 199, 207,
210–213, 216, 278, 284, 374, 397
Dilke-Affaire 24, 173, 177–192, 194–196,
200, 203, 206 f., 222 f., 249
Dreyfus-Affäre 2, 25, 98, 111, 250, 339,
396, 434 f., 462
Dublin-Castle-Scandal 60–69, 192
Duell 123 f., 316, 399 f., 474 f.
Ehebruch/außerehelicher Verkehr
– Adel 159, 164 f., 173 f., 190 f., 211,
368–382
– Deutungen 175, 179–182, 187, 189, 191,
200–207, 213 f., 218 f., 480
– Enthüllung 164–166, 173 f., 178–180,
193–197, 211 f., 215, 217 f.
– Folgen 176 f., 188–191, 207, 215–217
– Toleranz 175 f., 179–181, 198, 201, 203,
212–215, 221, 298 f.
Frankfurter Zeitung 118, 141, 271, 320,
347, 403
Frankreich (vgl. auch Panama-Skandal,
Dreyfus-Affäre u. ä.) 3, 46 f., 51, 55, 57,
66, 74, 82, 86, 90–92, 97, 108, 161, 182,
188, 208 f., 242 f., 256, 300, 313, 316,
322, 344, 349 f., 358, 367 f., 376, 383,
388, 418, 426, 423–427, 434, 446 f., 452,
461 f., 467 f., 483
Frauen (vgl. Dienstmädchen, Ehebruch,
Kolonialismus/Sexualität, Prostitution)
– Ehefrau des Skandalisierten 61 f., 66, 68,
99, 103, 112 f., 124, 131, 148, 180,
183–185, 187, 206, 214 f., 241 f., 299,
351, 368–371
– Ehefrauen als Unterhändlerinnen 124,
183–185, 187, 194, 202, 212, 241 f.,
253–255, 299, 442, 476
– Frauenbewegung/-verbände 167 f., 170,
192, 286
– Homosexualität 46, 90, 97, 103
– Hysterie-Zuschreibung 131, 180 f., 187,
191, 374–377, 476
– Zuschauerrinnen/Leserinnen 124, 135,
149, 191 f., 390, 477
Freeman’s Journal 62 f., 67, 198, 204
Halsbandaffäre 119, 350 f., 367 f., 376, 387,
418, 483
Homosexualität Kap. II
– Adel 58, 70–91, 119–155
– Begriff 43, 48, 51 f., 54, 65, 77, 108, 122,
156
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
538
Register
– Bordelle 70–81
– Deutungen 43–60, 65, 67, 77–80, 88–90,
93, 97 f., 106 f., 116, 141–158, 479
– Emigration nach Skandal 53, 55, 56, 66,
74 f., 81 f., 85, 87
– Erpressung von H. 55, 68, 85, 87, 116–
118, 121, 129, 134, 146 f.
– Geistliche 52–55, 68, 117
– Justizurteile 44–47, 53, 55 f., 59, 66, 89,
128 f., 153
– Kolonien 92–97
– Militär 57, 92–97, 119, 127, 144–149
– Recht 44–49, 69, 98, 101, 106–108,117,
125, 130, 153, 155
– Schichtübergreifender Verkehr 52 f., 58,
70–81, 92 f., 101, 133–135
– Selbstmorde 11, 94–97, 104–108, 110,
118 f., 147
– Sexualwissenschaft 48–51, 59 f., 98, 107,
116, 141 f., 153
– Toleranz 49, 83 f., 90 f., 106 f., 117, 141 f.
Houses of Parliament (Ober- und Unterhaus) 35, 60–69, 79–83, 86, 96, 164, 172,
180, 184, 189, 197, 207 f., 246, 248, 252,
254, 258–260, 263, 336 f., 341, 390 f.,
441–443, 468, 473 f.
„Hunnenrede“ 402–406
Illustrated London News 18, 22, 36, 230,
366
Illustrated Police News 22, 79, 90, 162,
374 f.
Iren/Irish Parliamentary Party
– Iren als Skandalisierte 192–208, 332–343
– Irische Presse 53, 60–64, 66 f., 76, 86 f.,
177, 198 f., 204–206, 471 f., 477
– Skandalisierung durch Iren 53, 60–69,
86 f., 177, 195, 206, 341, 472
Jameson Raid 247–251, 282
Journalisten (vgl. auch Kolonialismus,
Korruption)
– Skandale gegen J. Kap. V, 482 f.
– New Journalism (vgl. auch W. T. Stead)
37, 39, 65, 76 f., 85, 167–169, 179, 189 f.,
239–241, 330, 333–335, 362, 407 f., 472
Juden s. Antisemitismus
Justiz
– Schutz von Beschuldigten Deutschland
104, 111 f., 132 f., 136, 139 f., 270–272,
284, 358–360, 398, 459 f., 475
– Schutz von Beschuldigten England 53,
55, 66, 71–83, 86, 386, 475
Karikaturen 54 f., 99, 125, 145 f., 186, 200,
205, 242, 259 f., 280, 295, 323, 371–375,
385, 388 f., 393, 448, 477
Katholiken
– Großbritannien 34, 63, 68, 174, 181,
183 f., 191, 200, 204–206, 325, 480
– Deutscher Katholizismus (vgl. auch
Zentrumspartei/zentrumsnahe Presse)
117 f., 152, 169, 222, 291 f.
Kladderadatsch 22, 143, 283, 295, 395,
399 f., 455
Kladderadatsch-Affäre 211 f., 394–401
Kneipen- und Clubgespräche 17, 22, 52,
54, 59, 76, 113–115, 132, 137 f., 146 f.,
150, 156, 202, 256, 272 f., 280 f., 296,
300, 304, 323, 350, 381, 399, 413, 415,
473 f., 477 f.
Kölnische Volkszeitung 21, 137, 150, 209,
276, 296
Kolonialismus (vgl. auch Korruption,
Prostitution)
– Deutungen 241–246, 250, 254–258, 263,
268–275, 280–288, 300–310, 480 f.
– Enthüllung K.-Missstände 237–239,
248, 251, 257, 263, 266 f., 278 f., 291
– Folgen K.-Skandale 245 f., 261 f.,
270–274, 285–287, 301–310
– Gewalt: britischer K. 237–246, 253 f.
– Gewalt: deutscher K. 266–286, 289 f.,
305
– Journalismus 230–232, 234–236, 244 f.,
249 f., 253, 257, 264–268, 274, 296
– K.-Recht 227 f., 263 f., 273 f., 285 f., 308 f.
– Sexualität/sexuelle Gewalt 225 f., 228–
230, 240, 244, 262–264, 268–271, 275–
280, 284–286, 291, 293 f., 298, 325 f.
Konservative Deutschland
– Konservative Presse 1, 21, 49 f., 105,
108–112, 128–130, 133, 136 f., 142, 144,
148–152, 181 f., 189, 210, 219 f., 213,
256, 269, 271, 279, 284, 296, 300, 317 f.,
331, 355–357, 380, 393, 397, 399, 404 f.,
412 f., 426, 447, 462, 472
– Skandalisierungen durch K. 293, 397,
426, 344 f., 355, 397, 419, 445
– Skandalisierungen gegen K. Kap. II.6 u.
7, III.4, IV.4–7, V.2, VI.3 u. 4, VII.3, bes.
210, 212–217, 331, 344 f., 447, 448–455
Konservative Großbritannien
– Konservative Presse 21, 37 f., 80 f., 85,
90, 174–176, 198–200, 210, 231, 241 f.,
251, 254 f., 259, 332–341, 354, 413,
428–445, 484
Bereitgestellt von | Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam / Bibliothek
Sachregister
539
– Skandalisierungen durch K. 173–176,
198 f., 254 f., 332–339, 428–445
– Skandalisierungen gegen K. 70, 80–87,
190, 247–262, 332, 340 f.
Korruption Kap. VII
– Begriff 421–425, 444, 461 f.
– Deutungen 421–423, 430–435, 443 f.,
453, 456, 461–463, 482
– Enthüllungen 423, 426, 429–436, 438 f.,
450–452, 455 f.
– Folgen 422–424, 431, 440, 443–445, 460,
463–467
– Handel Ehrentitel 429–432, 445
– K. im Journalismus 329, 335, 348–353,
358, 398
– K. in Kolonien 247–253, 256–262,
299–301
– Militär 447–468
– Spekulationsgewinne 433–447
Kotze-Skandal 394–401
„Kreuzzeitung“ s. Neue Preußische
Zeitung
Krupp-Skandal
– Homosexualität 1, 97–117
– Korruption 445 f.
– Gewalt 311–322
– Glücksspiel 381–393
Monarchen (s. Queen Victoria, Wilhelm II. u. a.) Kap. VI
– Deutungen 370–372, 374–377, 380,
385–392, 394–396, 401, 404, 412–420,
481 f.
– Enthüllung 368, 370 f., 372, 374, 380,
384 f., 395–397
– Glücksspiel 381–393
– Kosten 372, 383, 388
– Sex-Skandale 367–382, 395–401
– Umgang der M. mit Medien 365, 371 f.,
379, 397 f., 401–412
Morning Leader 84, 250–252
Labour Party 34, 208, 247, 340, 428 f., 450
Leckert-Lützow-Skandal s. Tausch
Liberale
– Liberale Presse Deutschland (s. auch
Berliner Tageblatt u. a.) 21, 58, 103–108,
118, 130 f., 140, 146–153, 155, 158, 210,
212–220, 222, 265–268, 271, 282–287,
293 f., 300, 314, 317–320, 347–350,
354–356, 393, 395–399, 404, 412, 456,
466, 479, 484
– Liberale Presse England (vgl. Daily
News u. a.) 21, 37 f., 64, 72–86, 88, 94 f.,
179–188, 198, 201, 204, 207, 222, 232 f.,
242, 244–259, 263, 341–343, 383, 387,
430, 437, 440–442, 480
– Radicals/„Radikalliberale“ England
(vgl. auch Reynolds’s Newspaper, Star
u. ä.) 21, 34 f., 44, 69 f., 72 f., 75–91, 95,
108, 122, 173, 177–185, 187–192, 194–
198, 200, 203, 206 f., 222 f., 232, 244,
247 f., 251–254, 340, 336 f., 372, 374,
377 f., 383, 388, 392, 430–433, 437, 441,
472
Offiziöse Presse 139, 214, 217, 269, 284,
300, 302, 307, 313 f., 319, 329, 343–363,
403 f., 412–414, 454
Marconi-Skandal 24, 432–445, 450, 467
Militär s. Duell, Homosexualität, Korruption
Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“) 21, 137, 142, 210, 269, 279, 284,
296, 317, 331, 393, 397, 413, 426, 447,
462, 472
Nonkonformisten (s. W. T. Stead) 34, 65,
86, 164, 166 f., 178, 181, 202, 204 f., 222,
230, 325, 386, 391, 480
Norddeutsche Allgemeine Zeitung 21,
307, 319, 407, 412
The Pall Mall Gazette (s. W. T. Stead) 21,
39, 64 f., 69, 72–74, 76, 91, 164, 167–169,
178–180, 184, 187, 197 f., 200 f., 230,
242–245, 263, 281, 334 f., 340 f., 385 f.,
397, 407, 437
Panama-Skandal 2, 98, 111, 256, 300 f.,
349, 358, 397, 426–428, 434, 446, 461 f.,
467, 483
Parlamente s. Reichstag u. Houses of
Parliament
Parnellism and Crime-Skandal 83, 198 f.,
332–343, 436, 472
Prostitution 85, 166–172, 207, 217 f.
– Homosexuelle P. 44, 70–81, 92 f., 133,
143
– Kinderp. 92 f., 167 f., 170–172
– P. in Kolonien 92 f., 226, 229 f., 263, 268,
270 f., 277 f.,284, 292 f., 298, 303, 309
Proteste auf Straßen s. Straßenöffentlichkeit
Punch 22, 242, 259 f., 373, 388
QueenCaroline Affair 54, 164, 369–372
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540
Register
Reichstag 30, 49 f., 98–100, 111, 115, 117,
147, 152, 169 f., 210 f., 217–219, 264,
267–269, 273, 275–279, 282, 290, 304–
307, 318, 321, 356, 404 f., 413–415, 448–
453, 468, 473 f.
Reynolds’s Newspaper 21, 36, 64 f., 79,
88–90, 95, 108, 177, 179, 187, 198, 205,
254, 259, 263, 336, 372, 374, 377 f., 383,
388, 392, 437, 441
Scheidungsprozesse 160–217, 368–382
Scheidungsrecht 159–163, 169, 176, 183
Sozialdemokraten/SPD
– Skandalisierungen durch die SPD 11,
97–104, 111–115, 142, 152, 217 f., 313 f.,
404 f., 426, 449–453, 466
– Skandalisierung gegen die S. 59, 330 f.,
353, 447
– SPD-Politiker 49, 59, 98, 100, 152, 169,
268, 275, 278–281, 283, 285, 289, 291,
294, 304, 305, 353, 357, 405, 449–452,
455, 460 f., 464, 466 f., 474
– SPD-Presse 1, 21, 25, 99–113, 126, 142,
171, 211, 213, 218 f., 289, 313 f., 330 f.,
346, 350, 353, 403, 405, 426, 451 f., 463,
467
Stammtisch s. Kneipengespräche
The Standard 235, 237, 338, 410, 430
The Star 21, 77, 81, 84, 90, 197, 201, 204,
341–343, 383, 387
Sternberg-Skandal 170–172
Straßenöffentlichkeit 34, 55, 67, 111,
167 f., 170, 189, 204, 246, 256, 289, 294,
312–314, 370 f., 374–376, 415, 419
Tausch-Leckert-Lützow-Skandal 98, 343–
362, 482, 484
The Times 2, 17 f., 21, 33, 53 f., 57, 62–64,
77, 83, 94, 108, 156, 162 f., 174 f., 177,
182, 188 f., 191 f., 195 f., 198, 200, 232,
235, 237, 239, 243–245, 249 f., 253–259,
261–263, 271, 276, 282, 295, 301, 322,
329, 331–343, 352, 362 f., 369, 371, 374,
376–378, 385 f., 390, 423 f., 435, 440,
441, 472, 482
Vorwärts 1, 21, 25, 99–113, 126, 171, 211,
213, 218 f., 289, 313 f., 330 f., 346, 350,
353, 403, 426, 451 f., 463, 467
Vossische Zeitung 21, 100, 144, 213, 402
United Ireland 21, 61–64, 76, 471
Unterhaus s. Houses of Parliament
West-End-Scandals s. Cleveland-StreetAffair
Zabern-Affäre 24, 310–322, 326, 463, 474,
483
Zentrumspartei (vgl. auch Katholiken/dt.
Katholozismus)
– Skandalisierungen durch die Z. 268,
278, 291–306, 318
– Skandalisierung gegen Z. 117 f., 209–
211, 307 f.
– Generell 111, 147, 152 , 264, 277–280,
290, 312, 324, 327, 399, 405, 453, 464,
472
– Zentrums(nahe)-Presse 102, 105, 109,
131, 137, 142, 144, 146, 149, 152, 209 f.,
268, 271, 276, 297 f., 296 f., 317, 354,
356, 454, 456
Die Zukunft (s. Max. Harden) 1, 21, 116,
120, 122, 127, 139, 142, 298, 329
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