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Arcana, secreta, mysterii Geheimkonstellationen in imperialen Ordnungen Eva Marlene Hausteiner Wie imperial sind die arcana imperii? Der kanonischen Bezeichnung für geheimes Herrschatswissen, wie sie in den Annalen des Tacitus erstmals formuliert wird, ist der Bezug auf Imperialität scheinbar bereits lexikalisch eingeschrieben. Doch das in den Annalen beschriebene Wissen ist zwar unter anderem Tiberius, dem imperialen Herrscher Roms, zu eigen, aber darum noch nicht im Kern imperial: Das bei Tacitus erwähnte „imperium“ bezeichnet nämlich nicht das Weltreich, sondern, viel konkreter, die hierarchische Befehlsgewalt im politischen und insbesondere militärischen Zusammenhang. Das arcanum imperii ist kein zwingend imperiales Geheimwissen. Vielmehr steht, so die gängige Forschungsmeinung, das politische Geheimnis gerade in der Moderne in engstem Zusammenhang mit Staatsraison und territorialer Herrschatstechnik, insbesondere aber auch mit demokratischer Staatlichkeit: Die „Kultur des Geheimnisses“ loriert in frühneuzeitlichen und modernen staatlichen Kontexten und ist insbesondere aus dem Zusammenhang des Staatsraisondenkens im 17. Jahrhundert hervorgegangen.1 Ist das arcanum imperii also, irreführend tituliert, lediglich ein Staatsgeheimnis? Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wäre diese Deutung lückenhat: Die Intensitätssteigerung politischer Geheimnisaktivität und -relexion im Kontext moderner westlicher Staatlichkeit darf nicht über die Virulenz von Konstellationen imperialer Geheimhaltung hinwegtäuschen. Die Ainität zwischen Geheimwissen 1 „Souveränität, Arcana imperii und Staatsräson sind die Formeln, die die Entstehung des modernen Staates begleitet haben“ (Stolleis 1980, S. 34). Vgl. die begrifshistorische Darstellung von Lucian Hölscher (1979, S. 130f.) und insbesondere die Deinition von Arnoldus Clapmarius zu Beginn des 17. Jahrhunderts: „Staatsgeheimnisse sind meiner Deinition nach innerste und geheime Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschat innehaben, und dienen teils der Erhaltung der Ruhe in demselben, teils aber auch der bestehenden Staatsverfassung bzw. dem öfentlichen Wohl“ (zit. in Hölscher 1979, S. 133). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 R. Voigt, Staatsgeheimnisse, Staat - Souveränität - Nation, DOI 10.1007/978-3-658-16235-1_5 evahausteiner@uni-bonn.de 91 92 Eva Marlene Hausteiner und Imperialität ist nicht nur historisch bedeutsam, sondern sie ist – als Analogon zum Staatsgeheimnis – ein wiederkehrendes und aktuelles Phänomen. Daher sollen hier grundlegende Konstellationen imperialer Geheimhaltung systematisiert und exempliiziert werden – mit dem Ziel, die Vermutung einer kategorialen Speziik des Imperiumsgeheimnisses zu prüfen. In der synchronen wie in der diachronen Betrachtung seit der römischen Antike hat sich das politische Geheimnis als überaus variantenreich erwiesen. So hat die Germanistin Eva Horn, ausgehend vom historisch prägenden Begrifsrepertoire des Lateinischen, eine dreigliedrige Morphologie des Geheimen skizziert: Ideen des Geheimen als arcanum – als politisch notwendige, stabilisierende und außerhalb moralischer Debatten stehende Praxis, also als „Geheimnis der Herrschatsausübung“ (Stolleis 1980, S. 5) und Sicherung der Staatsform, nicht nur der Position des Herrschenden (Stolleis 1980, S. 18) – stehen im Kontrast zu Konzeptionen des secretum, also des zu Unrecht dem Blick der Öfentlichkeit entzogenen Wissens und Tuns, aus dem eine dialektische Bewegung von Entzug und Transparenz erwächst.2 Das mysterium als Denkigur theologischen Ursprungs, deren politische Karriere Ernst Kantorowicz bis in das 17. Jahrhundert verfolgt hat (Kantorowicz 1955; Horn 2011), sieht Horn schließlich im Kontrast zum arcanum der Staatsraisonlehre und zum eher demokratietypischen secretum nicht bis in die politische Gegenwart fortwirken. Horn unterstellt dabei eine historische Bewegung vom arcanum und mysterium hin zum staatlich und öfentlichkeitsdynamisch bedingten secretum: In der Pendelbewegung zwischen Verbergen und Enthüllen manifestiert sich, so Horn, eine zentrale Dynamik moderner und insbesondere demokratischer Staatlichkeit, aus der es strukturell keinen Ausweg gibt (Horn 2011, S. 104, 109; vgl. Birchall 2011, Münkler 1995, S. 227). Imperiales Umgehen mit dem Geheimen sollte aber seinerseits nicht mit einer historisch eng umrissenen und somit unwiederbringlich vergangenen Phase der Geheimhaltung verwechselt werden – also etwa mit römisch-imperialen Herrschatstechniken oder hochimperialistischen Vertuschungen. Vielmehr soll im Folgenden geprüt werden,3 inwiefern jene imperiale Handlungslogik, die in der jüngsten imperientheoretischen Forschung systematisiert wurde, sich auch in 2 3 Horn 2011, S. 106f. Zum Öfentlichkeitsbegrif in Spannung zum Gegenbegrif des Geheimnisses seit dem 19. Jahrhundert vgl. Hölscher 1979, bspw. S. 128. Dies soll unter der Annahme eines transhistorischen Spektrums des Imperialen geschehen, auf der sich eine Morphologie des imperialen Geheimnisses aufspannen lässt. Die Beispiele im Folgenden entstammen unterschiedlichen Phasen der vornehmlich britischen, aber auch der US-amerikanischen, französischen und russischen Imperialgeschichte und deuten die angenommene Diversität des Imperialen an. evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 93 speziischer Weise in der Kreation und dem Umgang mit geheimem politischen Wissen manifestiert. Existieren also mysteria, arcana oder secreta imperii? 1 Gewalt und Bewältigung Imperien sind heterogene Gebilde, deren Integration auf Machthierarchie beruht. Immer wieder haben sie darum ihre Herrschat auf Zwang gestützt und im Zuge dessen Räume der Gewalt eröfnet. Zwar bezogen viele stabile imperiale Ordnungen ihre Legitimation durchaus aus Verweisen auf innere Friedensherstellung – eine pax Romana, Britannica oder Americana (Parchami 2009) –, doch realiter war diese Befriedung als imperialer Friede bereits in antiken Konstellationen alles andere als gewaltfrei. Imperialität beruht im Kern auf einer hierarchischen und zentrifugalen Machtstruktur, die sich wiederum auf die Androhung und die Praxis von Gewalt stützt. Selbst wenn deren Ausübung aus verschiedenen Gründen minimiert wird, ist die Androhung ihrer Möglichkeit strukturell für imperiale Herrschat: Wie in anderen autoritären Ordnungen wird Entscheidungsindung verschleiert, Ordnungsherstellung dagegen häuig drohend demonstriert und visualisiert.4 Trotz ihrer systemischen Funktion ist Gewalt in imperialen Konstellationen nicht immer sichtbar. Praktiken der Gewalt – die Niederschlagung von Aufständen in Zentrum und vor allem in der Peripherie, die Umsiedelung, Umgestaltung und Teilung von Bevölkerungen, die militärische Kontrollgewinnung und -aufrechterhaltung in umstrittenen Gebieten – werden häuig im Verborgenen und nicht vor den Augen einer prüfenden Öfentlichkeit vollzogen: Ebenso wenig wie autoritäre staatliche Akteure tragen imperiale Deutungs- und Entscheidungseliten Gewaltsamkeit und Ausbeutung stets ofen zur Schau. Der Hinweis auf das Fehlen einer imperialen Öfentlichkeit, die Öfentlichkeiten in demokratischen Nationen ähnele, bietet hier keine plausible Erklärung: Zwar verfügen Imperien nicht über horizontal integrierte Gesellschaten (Osterhammel 2009, S. 610, 614), doch auch in imperialen Gefügen existierten immer Foren der Prüfung und der Kritik politischer Entscheidungen und Handlungen. Auch hier scheint zunächst zu gelten: Geheim gehalten werden solche Praktiken, die gegen herrschende Normen verstoßen und deren Veröfentlichung mit hohen Kosten für die Ausübenden dieser Praktiken verbunden wäre. 4 Münkler 1995, S. 215; vgl. als Beispiel der Einsetzung von Macht als „Drohmittel“ die Ikonographie der römischen Trajanssäule oder des Septimius-Severus-Bogens. evahausteiner@uni-bonn.de 94 Eva Marlene Hausteiner Wann Gewalt – physisch und strukturell – als Teil imperialer Geheimpraxis und nicht als ofene Methode gehandhabt wird, hängt entscheidend von zwei Faktoren ab, von denen der erste nicht zwingend, der zweite aber durchaus speziisch für Imperien ist. Auf der einen Seite sind externe normative Rahmenbedingungen ausschlaggebend dafür, was geheim gehalten und verheimlicht wird; während etwa im römischen Imperium die gewaltsame Niederschlagung von Aufständen als öfentlich vertretbar, ja sie publik zu machen als opportun galt,5 ist der normative Aktionsradius moderner Imperien ein anderer, auf den ersten Blick engerer. Auf der anderen Seite, und damit in Zusammenhang stehend, ist dieser Aktionsradius von der imperialen Deutungs- und Entscheidungselite selbst mitgeprägt, indem die deklarierte imperiale Mission mitbestimmt, welche Handlungen publik und welche geheim gehalten werden. Widerspricht eine Praktik der selbst auferlegten Mission, so ist die Geheimhaltung dieser Praktik gegenüber Teilen der Öfentlichkeit möglicherweise opportun. Die Abhängigkeit vom externen normativen Kontext ist – im Gegensatz zur Abhängigkeit von der eigenen imperialen Mission – eine Folge langfristiger und letztlich weltpolitischer Rahmenbedingungen. Die Unterscheidung zwischen normverletzenden und normativ akzeptablen politischen Praktiken ist für imperiale Eliten insbesondere dann bedeutsam, wenn das betrefende Imperium nicht selbst diese Regeln setzt, sondern, wie dies spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert der Fall ist,6 lediglich großräumig herrscht und seinerseits in internationale Regelwerke wie das Völkerrecht eingebunden ist. Selbst wenn die Verletzung externer Normen, etwa Gewalthandlungen an den imperialen Rändern, nämlich keine prohibitiven Sanktionen für den imperialen Normverletzer nach sich zieht, so steigen die Kosten für das Imperium potentiell – in Form reduzierter internationaler Akzeptanz und Kooperationsbereitschat. Die Geheimhaltung von normverletzenden Handlungen gegenüber einer globalen Öfentlichkeit stellt somit eine Option kostengünstiger Normverletzung dar. Dieser Efekt ist freilich nur dann relevant, wenn das Imperium – trotz des möglichen Strebens nach globaler Dominanz – nicht völlig unangefochten herrscht. Anders verhält es sich im Fall der Imperialmission: Häuig werden Handlungen verborgen, wenn imperiale Akteure sie zwar beispielsweise im Rahmen der imperialen Raison – etwa zur Herrschatsstabilisierung – für notwendig halten, aber eben nicht gegenüber der erklärten imperialen Mission rechtfertigen können. Da es für 5 6 Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung des Triumphzuges nach der Belagerung und Zerstörung Jerusalems am Titusbogen 70 n. Chr. Koskenniemi datiert den Umschwung vom imperialen zum internationalistischen Zivilisierungsmodell auf das Ende des Ersten Weltkrieges (Koskenniemi 2004, S. 5). evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 95 die Loyalitätsbindung der imperialen Elite essentiell ist, ein kohärentes Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein aufrechtzuerhalten (Münkler 2005, S. 132f.), wird die Plausibilität der Imperialmission auch um den Preis der Geheimhaltung von nichtkonformen Handlungen aufrechterhalten. Imperiale Eliten betreiben somit eine Art andauernder Autosuggestion: Sie beteuern die Glaubwürdigkeit der Mission und ihrer eigenen Rolle darin, indem sie sich die politische Realität neu erzählen und widersprüchliche Elemente ausblenden. Dabei sind speziische Annahmen und Normen leitend: Stabilisiert werden in der Imperialmission weniger demokratische oder rechtsstaatliche Werte als Vorstellungen von der zivilisatorischen und moralischen Überlegenheit und Unangreibarkeit des imperialen Zentrums. Es bleiben also andere Handlungen geheim gehalten als im Zusammenhang externer normativer Ansprüche: Maskiert werden etwa besonders brutale Gewalthandlungen, die die moralische Überlegenheit infrage stellen, oder Herrschatsmethoden, die innerhalb der Imperialmission eigentlich als „barbarisch“ gelten. In solchen Fällen steigt der Anreiz zur Geheimhaltung, um den imperialen Zivilisierungsautrag weiter rechtfertigen zu können. Das Verbergen normverletzender Praktiken – ob gegenüber externen Ansprüchen oder internen Selbstverständnissen – kann dabei hochgradig asymmetrisch verlaufen, wenn etwa einzelne Kolonialadministratoren ihre Handlungen gegenüber den übrigen Mitgliedern der Entscheidungselite geheim halten. Was auf den ersten Blick als ein in vielen politischen Konstellationen beobachtbares Phänomen erscheint, ist für imperiale Ordnungen und ihre Herrschatsstruktur in besonderer Weise bezeichnend: Der Kreis „imperialer Akteure“, dem politische Handlungen zugeschrieben werden können, umfasst nicht nur Mitglieder der Entscheidungselite in der Metropole sowie Deuter und Intellektuelle, sondern auch „imperiale Intermediäre“, also Vermittler zwischen Zentrum und Peripherie, die durchaus letzterer entstammen konnten und durch unterschiedliche Anreize kooptiert wurden (Burbank/Cooper 2010, S. 13f.). Da Macht und Herrschat in Imperien vieldimensional strukturiert sind (Münkler 2005, S. 79f.), existiert keine zentrale Autorität, die über ein Gewaltmonopol und über die Geheimhaltung oder Veröffentlichung politischer Handlungen verfügt. Ein locus classicus der Enthüllung kolonialer Verbrechen ist die Verfolgung des indischen Generalgouverneurs Warren Hastings durch Edmund Burke in den Jahren 1788 bis 1795: Burke klagte Hastings umfassender Kolonialverbrechen an, von der Misshandlung von Inderinnen und Indern bis hin zur korrupten Selbstbereicherung und imperialen Plichtvergessenheit, und löste so einen der größten Kolonialskandale der Imperiumsgeschichte aus, obgleich die rechtlichen Folgen für Hastings gering blieben (Bourke 2015, S. 627f.; vgl. Hampsher-Monk 2009; Dirks 2006). Dass Burke sich explizit in der Rolle Ciceros sah, der gegen den korrupten evahausteiner@uni-bonn.de 96 Eva Marlene Hausteiner Statthalter Verres prozessierte (vgl. Hausteiner 2015, S. 77f.), ist indikativ dafür, dass ein Movens des Konservativen die Aufrechterhaltung und Plausibilisierung der britischen Imperialmission war: Weder Cicero noch Burke waren lammende Anhänger der imperialen Zivilisierungsmission, doch beide betonten die Notwendigkeit, die Plausibilität dieser Mission aufrecht zu erhalten. Eine konkrete Gefahr für diese Mission erblickte Burke, neben anderen Beobachtern, in eigenmächtig und eigennützig handelnden Administratoren – den berüchtigten „Prokonsuln“ oder, in der britisch-indischen Variante, den korrupten nabobs (Hausteiner 2015, S. 95; vgl. Lawson/Philipps 1984). Den Prozess verloren hat Burke trotz der erdrückenden Beweislast gegen Hastings: Eine überwältigende Mehrheit der mit dem Urteil betrauten Lords erklärte Hastings für unschuldig und negierte so die Verletzung der Mission – oder die Notwendigkeit ihrer Aufrechterhaltung. Ein zweites Beispiel, das die vielfältigen Verschleierungen und Interpretationen von Gewalthandlungen veranschaulicht, ist die Politik der nordamerikanischen britischen Kolonien sowie der jungen Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber den indigenen Bevölkerungen: Was retrospektiv in der geschichtswissenschatlichen Forschung als genozidale Politik analysiert wurde, ist zeitgenössisch seit dem 17. Jahrhundert variantenreich entweder in staatlichen Narrativen von Krieg („American Indian Wars“) und symmetrischem Vertragsschluss oder in imperialen Narrativen der „westward expansion“ und des „manifest destiny“ präsentiert worden – also der Verschiebung der frontier gen Westen durch eine im Wesentlichen unbesiedelte Leere hindurch (Osterhammel 1998; Huhnholz 2014, S. 255-275). Schließlich wird die Praxis imperialer Verschleierung im rhetorischen Umgang mit Puferstaaten und anderen beherrschten Gebieten sichtbar, wenn diese Gebiete als eindeutig selbständig dargestellt und eine Fassade der nationalen Souveränität aufrecht erhalten wird. Das Verbergen der Instrumentalisierung eines Gebietes als geopolitischer Pufer ist ein Beispiel der Maskierung normverletzender Politik im normativen Umfeld. Nur selten wurde nämlich so ofen über diese Praxis gesprochen wie von Lord Curzon in seinen Ausführungen über imperiale Grenzpolitik im Jahr 1907, in denen er das Einrichten von Protektoraten und Puferstaaten als ofensichtliche und immer wieder praktizierte Machttechnik ofenlegte.7 Häuiger war die Präsentation von besetzten und indirekt beherrschten Staaten als bereits oder in Kürze selbständig – ein Narrativ, das erstaunlicherweise gerade in der Phase 7 „Much more is to be said for the bufer State as commonly understood, i.e. the country possessing a national existence of its own, which is fortiied by the territorial and political guarantee, either of the two Powers between whose dominions it lies and by whom it would otherwise inevitably be crushed, or of a number of great Powers interested in the preservation of the status quo”, so Curzon (1907). evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 97 des „Wilsonian Moment“ und im Rahmen der Legitimationen des Mandatssystems im Völkerbund seine Blütezeit erlebte (Pedersen 2015). Das imperiale Geheimnis als Verbergen normverletzender Praktiken ist also nicht immer gleichbedeutend mit deren vollständiger Ausblendung und Vertuschung. Häuig greifen insbesondere die imperialen Deutungseliten vielmehr zu Umerzählungen und Ablenkungsmanövern. Die Ideenhistorikerin Jeanne Moreiled hat solche Manöver als delection bezeichnet: Imperiumspolitische Handlungen werden, so Moreield, von Deutungseliten häuig beiseitegeschoben mit Verweisen auf die eigene Intention und Identität; derartige Narrative inden sich unter anderem in britischen wie amerikanischen Imperiumsdiskursen – in Konstellationen also, in denen der Widerspruch zwischen dem liberal-missionarischen Selbstverständnis und den politischen Realpraktiken eklatant zutage zu treten droht. Diese kognitive Dissonanz wird aufgelöst oder zumindest maskiert, indem Einwände gegen die normverletzende Handlungsdimension („what we do“) durch Verweise auf eine normativ unangetastete Identität („who we are“) delektiert werden (Moreield 2014, S. 28). Imperiale Geheimhaltung kann so auch in der rhetorischen Vertuschung normverletzender Handlungen bestehen. Das dergestalt umrissene Repertoire von Gewaltandrohung, -verhüllung und -umerzählung wird in imperialen Konstellationen strategisch gebraucht: Die Entscheidungselite versucht mit der Hilfe der Deutungselite zu regulieren, was an das Licht der jeweiligen Öfentlichkeit tritt. Dies gelingt nicht immer: Die longue durée der Imperiengeschichte folgt einem Rhythmus einschneidender Skandale – innerimperial und international (Bösch 1988; Dirks 2005) –, wobei deren Intervalle mit der Verbreitung der Massenmedien und insbesondere der globalen Ausbreitung von Normen des Demokratischen und der Bürger- und Menschenrechte geschrumpt sind. In dieser Hinsicht entspricht das Geheimhalten, das Verbergen und Enthüllen imperialer Gewalt am ehesten dem spannungsreichen Muster des secretum, wie es auch in modernen staatlichen Ordnungen identiiziert wurde – auch wenn der Rhythmus der Skandale aufgrund der speziisch imperialen Machtkonzentration und Normsetzungsbestrebung eben nur sporadisch die Phasen strategischer Geheimhaltung durchbricht. Die Enthüllung ist vorwiegend post-imperialen Akteuren vorbehalten und damit eine retroaktive Handlung: Statt der andauernden Spannung zwischen Geheimhaltung und Transparenz (Birchall 2011), die etwa in der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste institutionalisiert ist, dominiert eine langanhaltende Praxis des Verbergens, die nur gelegentlich von Skandalen unterbrochen ist, wobei die gravierendsten Geheimtaten typischerweise erst ex post aufgearbeitet werden. In der imperialen Peripherie ist Gewalt zwar auch während der imperialen Herrschat ot hochgradig sichtbar, ihre lokale Visibilität bleibt aber ot ohne Konsequenz. In evahausteiner@uni-bonn.de 98 Eva Marlene Hausteiner der postimperialen Phase, in der diese räumliche Hierarchie aufgelöst ist, wird der retrospektive „Einspruch“ der Peripherie dagegen geschichts- und erinnerungspolitisch wirkmächtig. Das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert hat eine Reihe dieser Aufarbeitungswellen erlebt – von den Enthüllungen der brutalen Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion (Elkins 2015) bis hin zur Debatte um die Bezeichnung des Völkermordes für die Massakrierung von Armeniern im Osmanischen Reich und den Herero in der Kolonie Deutsch- Südwestafrika. Auch hierin unterscheiden sich die secreta imperii von jenen des Nationalstaates, wo die Aufarbeitung häuig im Zuge von Regimewechseln geschieht – und nicht nach der Aulösung der politischen Ordnung insgesamt. 2 Epistemische Exklusion und Subversion In Imperien beschränkt sich die Geheimhaltung nicht allein auf normverletzende Praktiken. Sie hat auch eine ausgeprägte epistemische Dimension: Wie vornehmlich in den postkolonialen Studien herausgearbeitet wurde, konstituieren sich imperiale Herrschatshierarchie und koloniales Machtgefälle maßgeblich über die Kontrolle und den Ausschluss von Wissen.8 Auch im Zentrum demokratisch verfasste Imperien – etwa die USA oder das spätere britische Reich – sind nicht etwa horizontal integriert, sondern hierarchisch strukturiert durch eine vertikale Integration zwischen den Eliten in Zentrum und jenen in den beherrschten Gebieten. Diese Hierarchie ist durch verschiedene Exklusionstechniken mittels unterschiedlicher Machtmechanismen organisiert: Ökonomische Ausbeutung, politische Entrechtung und militärische Unterjochung greifen in unterschiedlichen Abstufungen ineinander und strukturieren so den imperialen Raum in Zentrum und Peripherie(n). Was Michael Mann als ideologische Quelle der Macht bezeichnet hat, betrit schließlich im Kern den Mechanismus des Wissensausschlusses (Mann 1986, S. 12f.): Das ideologische Ausstrahlen des Zentrums, das die Peripherie an sich bindet, ist auch strategischer Natur und beinhaltet die Difusion mancher epistemischer Ressourcen – und den Entzug, ja die Geheimhaltung anderer Wissensbestände. Die Spitze der imperialen Herrschatsstruktur, die imperiale Elite, ist darum nicht zuletzt dadurch gekenn- 8 Ob dieses epistemische Gefälle ebenfalls eine Form von Gewalt darstellt – also „epistemic violence“ (Spivak 1996, S. 219) –, ist für den vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend; maßgeblich ist vielmehr die strukturell imperiale Praktik des Entzuges und der Maskierung unterschiedlicher Arten von Wissen. evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 99 zeichnet, dass sie über die Verteilung des imperialen Herrschatswissens verfügt. Die Außengrenze des Imperiums, so verschwommen sie sein mag, ist dagegen dadurch bestimmt, dass jenseits von ihr die angeblichen Barbaren wohnen (Osterhammel 1995, S. 109f.): Barbaren, die deinitiv von jeweils entscheidenden Wissens- und Zivilisationsbeständen ausgeschlossen sind und nicht einmal das grundlegende Wissen beherrschen, um im Zentrum bestehen zu können, nämlich dessen Sprache. Hiermit sind bereits zwei zentrale Elemente imperialer epistemischer Exklusion angedeutet: Einerseits die Geheimhaltung von Herrschatswissen und andererseits die Vorenthaltung von Sprachwissen. Was als Herrschatswissen gilt, hängt von der jeweiligen imperialen Konstellation ab. Ein Beispiel stellt der Status von Armee und Beamtenschat dar: Wurde etwa im römischen Reich über lange Zeit die Partizipation am Heeres- und Oiziersdienst und in noch restriktiverer Weise am Magistrat als zu konservierende Domäne des Zentrums erachtet, stand auch im britischen Imperium in Indien der Ausschluss von Herrschatswissen durch den Ausschluss von der Beamtenschat – und dies wiederum mittels strategischer Wissenspolitik – im Vordergrund: Die Teilnahme am 1858 etablierten Indian Civil Service, der phasenweise mit einer Besetzung von weniger als 1500 Beamten über rund 350 Millionen Inderinnen und Inder herrschte, war seit der Einführung zentralisierter Examina maßgeblich über die Abprüfung kanonischen Wissens reglementiert. Wer nicht über dieses Wissen verfügte, war von der Aufnahme in diese koloniale Machtelite exkludiert. Der Wissenszugang war aber strikt durch das koloniale Bildungssystem reglementiert: Die Eintrittsprüfung für den ICS setzte vertiete Kenntnisse in Philosophie, aber auch den klassischen Sprachen voraus. Während diese Kenntnisse teilweise in indischen Bildungsinstitutionen erwerbbar waren, verhinderte die Senkung des Eintrittshöchstalters im Jahr 1876 von 21 auf 199 realiter den Eintritt indischer Anwärter, die Rückstände gegenüber Absolventen von Cambridge und Oxford auholen und zudem zum Ablegen der Prüfung nach England reisen mussten:10 Die ihnen im Vorfeld vermittelte Allgemeinbildung wurde auf bürokratischem Wege nutzlos gemacht. Nicht 9 Zuvor war das Eintrittsalter temporär erhöht worden – von 16 auf 22. Dies geschah auf die Initiative von Benjamin Jowett hin, der homas B. Macaulays Reformkommittee zum indischen Bildungssystem angehörte und als Fürsprecher klassischer Bildung in Oxford das Bildungsniveau der britischen Bewerber erhöht sehen wollte (Stray 1998, S. 53). 10 „In order to be able to compete for the ICS, Indians had to irst graduate from college in India, then proceed to England, where they would have to spend at least a year preparing for the exam – not least because the syllabus for the exam was so heavily weighted in favor of those who already had an English public school education” (Burra 2007, S. 92). Vgl. Vasunia 2013, S. 193f; Hausteiner 2015, S. 45f. evahausteiner@uni-bonn.de 100 Eva Marlene Hausteiner nur entiel dadurch ein Anreiz zum Erlernen der classics – einer Eintrittskarte in die Imperialelite insgesamt und nicht nur den ICS; gravierender ist der Ausschluss aus einer der zentralen Bildungseinrichtungen für die kolonialadministrative Elite und damit die Exklusion von herrschatsrelevantem Wissen. Diese Rekrutierungspraxis in die imperiale Deutungs- und Entscheidungselite, mindestens aber in die Riege der imperialen Intermediäre, ist kein isolierter Einzelfall, sondern symptomatisch für die anhaltende Debatte über die Wissensfähigkeit und -würdigkeit Indigener. Das Zivilisierungsdenken, das die Teilhabe der beherrschten Bevölkerungen am universal gültigen Wissen Großbritanniens vericht, damit diese schneller die „Leiter der Zivilisation“ erklimmen könnten (Osterhammel 2005), gerät nach dem Aufstand im Jahr 1857 sukzessive unter Druck und wird teilweise sogar revidiert, indem die Überzeugung von der Erziehbarkeit – bzw. deren Wünschbarkeit – umschlägt in die Sorge um den britischen Herrschatserhalt. Die britische Imperialmission wird so von einer Reihe zentraler Akteure reformuliert: An die Stelle der langfristig in Aussicht gestellten Inklusion tritt die dauerhate Exklusion von imperialen Wissensbeständen. Insbesondere um die Jahrhundertwende häufen sich im britischen Kontext Argumente, die der indischen Bevölkerung die Fähigkeit zu vollendeter Zivilisiertheit absprechen. Auf dieser Grundlage erübrige sich eine aufwändige Unterweisung im Wissen der Metropole: „Grossly ignorant, steeped in idolatrous superstition, unenergetic, fatalistic, indiferent“ sei die lokale Bevölkerung laut dem Juristen und Mitglied des Colonial Council in India James F. Stephen – dieser Mangel an Zivilisation sei essentiell und nicht behebbar, sondern nur durch eine Orientierung an Sicherheit und Eizienz einzuhegen (Stephen 1883, S. 554; vgl. Hausteiner 2015, S. 301f.). Bildungsanstrengungen erübrigen sich so weitestgehend. Ähnlich empiehlt der Earl of Cromer, langjähriger Generalkonsul Ägyptens, die Hofnung auf eine gelingende Assimilation und Bildung kolonisierter und abhängiger Völker – ob Ägypter, Inder oder Chinesen (Cromer 1913a, S. 26f.; ders. 1913b, S. 150) – fahren zu lassen: Er führt religiöse, aber auch rassische Dispositionen der Indigenen an, um die Exklusion von metropolitanem Wissen zu verfechten. Macaulays Ideal der Heranziehung einer gebildeten, kulturell anglisierten Klasse von Indern (Macaulay 2003, S. 237), die an historischem, politischem und Herrschatswissen in dem gleichen Maße teilhaben wie die britische Imperialelite, wird hier für obsolet, wenn nicht riskant erklärt. Die zweite zentrale Frage kolonialer Wissensexklusion betrit indes weniger die machtrelevanten Bildungsinhalte als das Medium der Sprache selbst. Häuig wird koloniale Sprachpolitik als Politik der Ausbreitung und des Aufzwingens der evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 101 Sprache des Zentrums auf koloniale Bevölkerungen verstanden:11 Die Russiizierung Zentralasiens oder die frühe Anglisierung Irlands sind kanonische Beispiele für die Aufoktroyierung der Sprache gegenüber indigenen EinwohnerInnen im imperialen Herrschatszusammenhang. Andere Versuche der Unterwerfung und der Stabilisierung des Imperiums wurden dagegen gerade durch die Exklusion von Sprachwissen unternommen: Anstatt einen homogenen Sprachraum zu forcieren, haben sich imperiale Eliten immer wieder auch sprachpolitisch einer Strategie des Teilens und Beherrschens bedient. Demgemäß sollte eine Sprachausbildung nur jenen Gruppen zukommen, die als kooperierende Intermediäre geeignet sind – die Bildung der übrigen Bevölkerungsteile wurde dagegen unterlassen, um Ressourcen zu sparen, aber auch, um die Partizipationsfähigkeit größer Bevölkerungsteile an der Herrschatsausübung und der überwachenden Öfentlichkeit zu minimieren. Die bereits skizzierte britische Debatte um die Bildung und Zivilisation der indischen Bevölkerung und deren Teilhabe am metropolitanen Wissen umfasst beide Dimensionen – einerseits kulturell und sprachlich assimilierenden Imperialismus und andererseits eine Politik der Sprachteilung. Gerade die sprachliche Anglisierung wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder als integraler Teil der britischen Zivilisierungsmission präsentiert, die es den Indigenen ermöglichen sollte, am universal gültigen Wissen Großbritanniens zu partizipieren und so schneller die „Leiter der Zivilisation“ zu erklimmen (Osterhammel 2005). Macaulays berühmte Minute on Education aus dem Jahr 1835 vericht diese Haltung insbesondere in Bezug auf die sprachliche Bildung als Katalysator der Zivilsierung: „English is better worth knowing than Sanscrit or Arabic; […] the natives are desirous to be taught English, and are not desirous to be taught Sanscrit or Arabic; […] neither as the languages of law, nor as the languages of religion, have the Sanscrit and Arabic any peculiar claim to our engagement; […] it is possible to make natives of this country thoroughly good English scholars, and […] to this end our eforts ought to be directed“ (Macaulay 2003, S. 237. Vgl. Pennycook 1998, S. 67-94; Sirkin/Sirkin 1971). Interessanterweise erstreckte sich dieses Sprachwissen nicht allein auf das Englische: Auch die „klassischen“ Sprachen Latein und Griechisch galten als Sprachschätze, deren Vermittlung möglicherweise zur Zivilisierung Indiens beitragen 11 Vgl. die Einschätzung Fanons: „L‘entreprise d‘obscurcissement du langage est un masque derrière lequel se proile une plus vaste entreprise de dépouillement“ (Fanon 2002, S. 180). Bereits in Peau noire, masques blancs beschreibt Fanon die Doppelseitigkeit der Sprachpolitik des französischen Kolonialismus: Einerseits würden Anreize zur sprachlichen Assimilation geschafen („Le Noir qui connaît la métropole est un demi-dieu“ [Fanon 1952, S. 15]), andererseits würden selbst assimilierte und des Französischen mächtige Indigene durch die Anrede im Jargon des „petit-nègre“ herabgewürdigt und exkludiert (ibid., S. 25f.). evahausteiner@uni-bonn.de 102 Eva Marlene Hausteiner könne. Doch es gibt laute Gegenstimmen, die von der sprachlichen Inklusion der Indigenen abraten: Warnt der Earl of Cromer vor der überambitionierten Erziehung und Assimilation der Indigenen – ob in Indien oder Ägypten –, so meint er damit konkret insbesondere deren sprachliche Ermächtigung. Diese sei nicht nur schwierig und wenig aussichtsreich (Cromer 1910, S. 100f.), sondern für die imperiale Stabilität hochriskant, wie sich im Falle Indiens zeige: „Here, of a truth, we have – to use a metaphor which Byron borrowed from a Greek source – been sedulously nursing the pinion which is impelling the steel into our own breasts. For more than half a century we have, perhaps unavoidably, been teaching English through the medium of English literature, and that literature, in so far as it is historical, may easily be perverted from a disquisition on the advantages of steady progress achieved by a law-abiding nation into one which eulogizes disrespect for authority, and urges on the governed the sacred duty of throwing of the yoke of unpalatable Governors“ (Cromer 1910, S. 106). Die Verbreitung des Englischen in den Kolonien sei – anders als in der römischen Antike – aufgrund von „national sentiments“ (Cromer 1910, S. 102) eine Quelle von Unruhe und Aufstand und daher zu minimieren. Durch diese Vorenthaltung der englischen Sprache – in früheren Modellen der Zivilisierungsmission noch „a key which will open to them a world of new ideas“ (so Charles Grant, zit. in Pennycook 1998, S. 78) – sollte die imperiale Welt, oder immerhin deren metropolitane Sphäre den Indigenen verschlossen bleiben. Folgt man der semantischen Trias aus secretum, arcanum und mysterium, so ist die strukturell-epistemische Geheimhaltung in Imperien am plausibelsten als Arkantechnik zu verstehen: Wissensinhalte sollen dem inneren Kreis der Macht vorbehalten und breiten Teilen der imperialen Bevölkerung vorenthalten bleiben. Die Geheimhaltung ist dabei selbst nicht geheim gehalten – sie stellt also kein Geheimnis zweiter Ordnung dar (Riese 2015, S. 53). Obwohl diese arkane Technik der Geheimhaltung von Wissen – von Sprachen und Techniken – also nicht dem Rhythmus des secretum von Maskierung und Enthüllung folgt, hat sie eine koloniale Kehrseite: Imperiale Widerstandskämpfer und -strategen haben, nicht zuletzt seit den kolonialnationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhundert, immer wieder den Versuch der Umwertung angeblich herrschatsbestimmender Wissensdomänen unternommen – auch durch die demonstrative Exklusion der Kolonisatoren vom indigenen Wissen. Die indigene Volkssprache wurde so nicht nur zum Medium kultureller Selbstbehauptung, sondern geradezu zum Gegen-Arkanum der Widerständigen (Said 1994, S.273f.) – sei es im Falle des Gälischen in Irland oder seitens der das Kreolische kultivierenden Bewegung der antillanité in der Karibik. evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 3 103 Imperiumskritik und Konspiratologie Die Speziik imperialer Herrschat ist der Interaktion unterschiedlicher Macht- und Herrschatsdynamiken geschuldet – und ihrer komplexen Aufspannung im geographischen Raum. Wenn imperiale Grenzen verschwimmen, überlappen, expandieren oder kontrahieren (Maier 2006, S. 78-111; Hausteiner 2014), so multipliziert sich diese Komplexität weiter, wenn auch sot power-Einlüsse als mögliche Werkzeuge eines folglich „informellen“ Imperiums erachtet werden. Diese ursprünglich in den 1950er Jahren aufgestellte hese des „informal empire“ (Gallagher/Robinson 1953) hat die Debatte um die Morphologie des Imperialen nachhaltig transformiert. Aus ihr hervorgegangen sind zwei heoriestränge, die die strukturelle und latente Qualität von Imperialität betonen. Geheim ist hier das Imperium selbst. Auf der einen Seite hat die Imperiums- und Imperialismuskritik die Weigerung von Großmächten wie den Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion (Rafass 2012), sich als Imperium zu bezeichnen, immer wieder als Lüge (oder zumindest Selbsttäuschung) zu entlarven versucht. Die empires in denial streben demzufolge nicht allein danach, Gewalttaten – sich selbst oder der Weltöfentlichkeit gegenüber – zu vertuschen oder Wissen vorzuenthalten, sondern sie verhüllen ihre Imperialität als solche. Informelle, insbesondere ökonomische Herrschatstechniken im Sinne des von Gallagher und Robinson diagnostizierten „free trade imperialism“ der Briten (Gallagher/Robinson 1953) erleichtern die Maskierung imperialer Ordnungen als bescheidene Nationalstaaten, wenn die Fassade der Souveränität des okkupierten Staates unangetastet und die ökonomischen Machtverhältnisse verborgen bleiben. Die Verfeinerung der Analysewerkzeuge für Imperialität bei einer gleichzeitigen Ausdehnung der Imperiumsdeinition hat also den Verdacht verstärkt, dass vorgeblich un- oder antiimperiale Staaten in Wahrheit Imperien seien oder sein wollten – dass etwa die USA weiterhin durch eine globale Präsenz des CIA die Geschicke von Staaten in Umbruchsituationen prägen, wie dies in der russischen und teilweise türkischen Propaganda unterstellt wird, dass der deutschen Außenund EU-Austeritätspolitik verborgene imperiale Bestrebungen zugrunde liegen, oder dass gar das britische Empire fortbestünde.12 Auf der anderen Seite wurde theoriegeschichtlich durch die Ausweitung des Imperiumsbegrifs eine Form von Imperialität denkbar, die völlig jenseits solcher konkreter Akteurszuschreibungen operiert: Das Imperium als weltumspannende, politisch und ökonomisch tiefgreifende, totale Ordnung wurde am einlussreichsten von Antonio Negri und Michael Hardt formuliert und mit einer Analyse und Kritik des globalen Kapitalismus und seiner politischen Auswirkungen verknüpt: Das 12 So etwa eine zentrale hese der Organisation um Lyndon LaRouche. evahausteiner@uni-bonn.de 104 Eva Marlene Hausteiner globale Imperium sei nicht als imperialistisches Projekt eines einzelnen Staates misszuverstehen, sondern es stelle eine „structural logic“ dar, „at times imperceptible but always and increasingly efective, that sweeps all actors within the order of the whole“ (Negri/Hardt 2000, S. 14). Die kapitalistisch-hierarchische Herrschatsordnung, die gleichermaßen omnipräsent und latent ist, harrt der Entlarvung als imperiale Totalität durch den wissenschatlichen Beobachter. Im Gegensatz zur Maskierung von Gewalttaten und dem Entzug von Wissen ist der imperiale Verdacht – ob gegen ein konkretes Imperium oder gegen eine imperiale Totalordnung – nicht ohne Weiteres verifzierbar oder falsiizierbar. Darin ähnelt er strukturell konspiratologischen Verdächtigungen: Verschwörungstheorien suggerieren eine einfache und zwingend plausible Deutbarkeit der empirischen Realität durch die Behauptung omnipräsenter Machtstrukturen (Hepfer 2015, S. 23f.), berufen sich dabei aber zentral auf die hartnäckige Verborgenheit und Geheimhaltung ebendieser Strukturen: Ein Letztbeweis der Verschwörung ist aufgrund ihres Geheimnischarakters nicht möglich, der Versuch der Enthüllung darum aber umso essentieller. Manche Imperialitätsdiagnosen scheinen genau diese Strategie der Komplexitätsreduktion und stets unvollständigen Geheimnisenthüllung zu verfolgen. Negri und Hardt etwa verwehren sich zwar explizit gegen eine „conspiracy theory of globalization“ (Negri/Hardt 2000, S. 3), die hinter der Entwicklung der globalen Ordnung den bewussten Plan eines konkreten Akteurs vermute. Doch auch ihre heoriebildung und -anwendung ruht nicht allein auf der Plausibilisierung eines umfassenden Erklärungsmodells für empirische Muster; vielmehr ist auch ihr Gestus jener der wissenden Entlarvung eines sich selbst verbergenden Geheimplanes – „imperceptible“, dabei aber omnipräsent und übermächtig. Verschwörungstheoretische Deutungen bedürfen eines anfänglichen Glaubens in ihre Plausibilität – eines Willens zur Mustererkennung inmitten potentiell kontingenter Fakten und Ereignisse, die als allseitig verbunden präsentiert werden –, sie setzen auf einen metaphysischen Überschuss, der Lücken in der Empirie und Erfahrungsgrundlage komplettiert und gleichzeitig eine klare normative Unterscheidung zwischen imperialer Übermacht und antiimperialem Widerstand anbietet. Es liegt im Kern des Legitimitätsanspruches von Verschwörungstheorien, dass sie über keine hinreichenden Belege verfügen – aufgrund der Geheimnatur der Verschwörung bleibt stets das Residuum des Ungewissen, das aber wiederum als Beweis für die Konspirativität des „Bösen“ gedeutet wird.13 Ähnlich funktioniert der undiferenzierte Verdacht einer Omnipräsenz des Imperialen: Nicht nur sind – ganz im Gegensatz zu den zahlreichen detailgenauen Fallanalysen der postkolonialen 13 Vgl. zur „Asymmetrie“ der Beweisführung Hepfer 2015, S. 31f. evahausteiner@uni-bonn.de Arcana, secreta, mysterii 105 Studien – die empirischen Beschreibungen Negris und Hardts lückenhat; auch die nicht allein normative, sondern metaphysische Auladung, ja Mystiizierung des Imperiums wie auch des anti-imperialen Widerstandes fällt auf: eine „multitude“ kann die Welt von der „new Roman order awaiting its early Christians“ – so der Untertitel des Buches – befreien; diese „multitude“ müsse – so der Epilog von „Empire“ – in die Fußstapfen des Heiligen Franziskus von Assisi treten (Negri/Hardt 2000, S. 413). Geheimnisse des Imperiums behandelt der imperiale Verdacht als mysterium: Es reicht nicht allein, secreta zu entlarven und arcana zu beanspruchen, sondern es gilt, die gesamte imperiale Ordnung als unheil- und bedeutungsvolles Geheimnis, als mysterium, zu demaskieren – dieses mysterium aber ofenbart sich nur dem, der an seine Existenz glaubt. Folgt man dieser Typologie imperialer Konstellationen des Geheimen, so lässt sich festhalten, dass das imperiale Geheimnis nicht existiert; stattdessen wechselt sich eine Reihe imperialer Geheimpraktiken ab, die in unterschiedlichem Maße speziisch für imperiale Ordnungen zu sein scheinen. Erstens ist auch in Imperien – obgleich diese selbst nach autoritativer Normsetzung streben – das Verbergen normverletzender Handlungen opportun, wobei die Frage, was eine Normverletzung ist, massiv von der imperialen Konstellation abhängt. Zweitens bedient sich imperiale Ordnung als Herrschatshierarchie häuig epistemischer Exklusionen und des Entzuges von Wissen, um ebendiesen imperialen Charakter aufrecht zu erhalten. Und drittens wird imperialer Herrschat aufgrund ihres potentiell informellen Charakters jüngst zunehmend ein Element mysteriöser Omnipräsenz zugeschrieben. Diese Morphologie imperialer Geheimkonstellationen hat darüber hinaus eine diachrone Dimension: Mit der Wandlung der Kommunikationsräume und Öfentlichkeitsstrukturen, der verfügbaren Machtrepertoires, der formellen Verfassungen herrschender und beherrschter Gebiete, aber auch der normativen Anforderungen von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Transparenz ändern sich auch die Wahrnehmungen und damit die Konigurationen von Imperialität und Geheimnis – und gemäß diesen Konigurationen changieren die imperialen Geheimpraktiken: Imperiale Elite lügen, verbergen, verschweigen, exkludieren, erzählen um und lenken ab – jeweils in Abhängigkeit vom konkreten Kontext und der aktuellen Herausforderungslage. Das Repertoire der Geheimpolitik ist damit in imperialen Kontexten besonders breit – und diese Varianz ist auch der Diversität imperialer Ordnungen und imperialer Machtmittel geschuldet, die die Vielfalt staatlicher Machttechniken teilweise miteinschließt, aber übersteigt. Die Fokussierung der Analyse auf staatliche secreta wäre daher irreführend: Imperiale Machttechniken sind rekurrierende Phänomene, die überdies in post-imperialen Konstellationen weiter nachwirken. Phänomene evahausteiner@uni-bonn.de 106 Eva Marlene Hausteiner wie die Maskierung (und Enthüllung) internationaler Überwachungsnetzwerke etwa indizieren zwar nicht zwingend eine reale global-imperiale Vorherrschat, möglicherweise aber imperiale Aspirationen einzelner Akteure, die mit staatlicher Politikanalyse nicht zu erklären sind. Es empiehlt sich also dringend, die speziisch imperialen Ausformungen von Geheimtechniken zu beachten – denn es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich politisches Geheimwissen und Geheimpraktiken in Zukunt auf staatliche Konstellationen beschränken. Literatur Bösch, F. 2008. ‘Are we a cruel nation?’ Colonial Practices, Perceptions and Scandals. In: Geppert, D./ Gerwarth, R. (Hrsg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Ainity. 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