Sonderdruck aus
Roland Berbig / Walter Erhart /
Monika Sproll / Jutta Weber (Hg.)
Phantastik und Skepsis
Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten
Mit 33 Abbildungen
V& R unipress
ISBN 978-3-8471-0550-3
ISBN 978-3-8470-0550-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0550-0 (V& R eLibrary)
Inhalt
Klaus-Dieter Lehmann (Präsident des Goethe-Instituts)
Adelbert von Chamisso – ein früher Bote im internationalen
Kulturaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Jutta Weber (Vorsitzende der Chamisso-Gesellschaft e.V.)
Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Walter Erhart / Monika Sproll
Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos Lebens- und
Schreibwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Ren-Marc Pille
Ein aufgeklärter Romantiker : Zu Chamissos
dichterisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung
33
. . . . . . . . . . . . .
200 Jahre Peter Schlemihls wundersame Geschichte
Walter Erhart
Siebenmeilenstiefel, Kronometer, Geschichte der Pflanzen – Chamissos
Zeit-Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Joseph Twist
‘[D]ie Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie’:
The Critique of German Idealism in Peter Schlemihls wundersame
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Michael Schmidt
Peter Schlemihl und das romantische Spiel mit der Herausgeberfiktion
77
.
6
Inhalt
Nikolas Immer
Schlemihl in Afrika. Auf den Spuren seiner ursprünglichen Reiseroute . .
91
Das Unbekannte erfahren – Aufbruch in neue Welten
Anna Busch / Johannes Görbert
,Rezensiert und zurechtgeknetet.‘ Chamissos Briefe von seiner Weltreise
– Original und Edition in Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Monika Sproll
„Das ist Natur!“ – Adelbert von Chamissos Bildkritik an Ludwig Choris’
Voyage pittoresque zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem
Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Wolfgang Dohle
Adelbert von Chamisso und seine Entdeckung des Generationswechsels
bei den Salpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Paul Hiepko
Botanische Orte: Sammeln und Auswerten . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Dorit Müller
Chamissos Reise um die Welt: Explorationen geographischer und
literarischer Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Lyrische Stationen
Volker Hoffmann
Selbstinitiation in eine neue Werkphase. Ein Brief Chamissos an Uhland
wiedergelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Torsten Voß
Dialektische Überschneidungen? Realer und imaginärer Ort in Einem:
Die Sehnsucht nach der Kindheit als Utopie des Glücks in Chamissos Das
Schloß Boncourt (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Marie-Theres Federhofer
Die „Facilitäten der Communication“ – Die Branger-Übersetzung von
Adelbert von Chamisso und Franz von Gaudy als ein Beitrag zur
Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
7
Inhalt
Caroline Gerlach-Berthaud
Adelbert von Chamisso als Selbstübersetzer
. . . . . . . . . . . . . . . . 277
Roland Berbig
Chamissos Notizbuch 1828. Analytische Stichproben . . . . . . . . . . . 305
Benjamin Fiechter
Tinte und Blei: Überlegungen zur Wertigkeit von Schreibgeräten . . . . . 313
Lisa Trekel
Adelbert von Chamissos Das Dampfroß – Das Notizbuch von 1828 als
„Dichterwerkstatt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Tabitha van Hauten
Strategien der poetischen Produktion. Adelbert von Chamissos
Mordthal-Entwurf im Briefjournal 1828 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Moritz Rauchhaus
Chamissos Listen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Johanna Hähner
Verspieltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Christiane Clever
Die fehlenden Blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Anne Baillot
Wissen, Lieben – und Schreiben: Phantastik und Skepsis im Briefwechsel
Chamissos mit seiner Frau aus dem Sommer 1823 . . . . . . . . . . . . . 351
Zu den Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Moritz Rauchhaus
Chamissos Listen
Aus philologischer Perspektive muss man darüber glücklich sein, dass das von
Chamisso als Briefjournal von 1828 geplante Heft seinen Gegenstand verlassen
hat und unbestimmteren Wegen gefolgt ist. So können wir an Methode und
Inhalt die Arbeits- und Denkweise seines Verfassers herauslesen. Auch Michael
Bienert hat dies in seinem Überblicksartikel über Chamissos Nachlass in der
Staatsbibliothek betont, indem er die „Auseinandersetzung“ mit diesem als eine
„Chance zu neuen Einsichten und Fragestellungen“ beschreibt. Er widmet dem
hier zugrunde liegenden Notizbuch eine kurze Charakterisierung, die folgende
Beschreibung enthält: „Die übrigen Seiten sind ohne erkennbares System angefüllt mit rätselhaften Zahlenkolonnen, Listen mit den Namen berühmter
Männer, schwer entzifferbaren Versen, Zeichnungen und Adressen.“1 Tatsächlich lohnt die Beschäftigung mit Chamissos Ordnungen und Formen für das
Verständnis seines gesamten Schaffens, wenn man sich aufmerksam auf die
Spuren dieser Rätselhaftigkeit begibt.
Die unterschiedlichsten Inhalte, seien es Reimwörter, botanische Beobachtungen, Namenslisten oder Adressen, werden im gleichen enumerativen Medium dargestellt. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass es sich um pragmatische2
Listen handelt, die einen Gebrauchswert haben und notiert werden, um später in
wissenschaftlichen oder literarischen Arbeiten benutzt werden zu können.
Demgegenüber, oder genauer : diese ergänzend, gibt es poetische Listen, die für
den ausschließlichen Gebrauch in literarischen Werken oder als literarische
Produkte selbst zu verstehen sind. Umberto Eco stellte dazu fest, dass „das, was
eine poetische von einer praktischen Liste unterscheidet, nur die Absicht [ist],
mit der wir sie betrachten.“3 Hier soll gezeigt werden, wie genau dieser Verdacht
der Nähe von poetischen und pragmatische Listen zueinander bei Chamisso
bestätigt wird, der als Botaniker und Dichter auch an beide Formen gewöhnt ist.
1 Bienert 2013, S. 110 u. 115.
2 Die Unterscheidung zwischen pragmatischer und literarischer Liste folgt Belknap 2004.
3 Eco 2009, S. 371.
334
Moritz Rauchhaus
Den Anfang macht Blatt 2r eine Aufzählung der geschriebenen und erhaltenen
Briefe aus den Monaten Januar und Februar des Jahres 1828. Die Einträge sind
vertikal angeordnet, mit Endpunkten und oft mit einem vorangestellten Kreuz
versehen. In der Beiläufigkeit des Auflistens von Briefkontakten, die den Alltag
eines jeden Korrespondierenden des 19. Jahrhunderts ausgemacht haben
könnte, wird gleichzeitig die Selbstverständlichkeit des Kombinierens und
Formalisierens offenbar, an der sowohl der Forscher als auch der Dichter Chamisso teilhaben.
Auf den beiden Seiten von Blatt 4 wird ein ganz ähnliches Gestaltungsmuster
sowohl für die erledigten Arbeiten als auch für exemplarische Reimwörter
verwendet. Die vier untereinander aufgeschriebenen Reime münden direkt in
vier Verse, in denen sie jedoch nicht enthalten sind. Alles ist mit Blei geschrieben
worden und einem Notizbuch entsprechend fragmentarisch, schließlich fehlt
sogar ein Großteil der Seite.
„Forschen“ reimt sich in gewisser Weise auf „rauschen“, vor allem mit einem
französischen Akzent4 gedacht, und genau das ist notiert. Mag es eine Gedächtnisübung5 sein, poetische Aufwärmung vor dem eigentlichen Schreiben
oder eine Notiz, das Auflisten dieser vier Wörter ist direkt in Ideen zu ganzen
Versen übergegangen, die später Teil des 1830 entstandenen Gedichts „Ein Lied
von der Weibertreue“6 sein werden. Aus dem Klang – dem Handwerk des Reimens – heraus entstanden diese poetischen Gedanken. Die Liste hilft hier nicht
nur beim Systematisieren der erfassten Inhalte, sondern funktioniert auch als
ein Ausgangspunkt, von dem aus das Schreiben abstrahiert und erweitert wird.
Sie bietet ein empirisches Material, das dieser kleinen Dichtung vorausgeht, ist
also eine pragmatische Liste für einen poetischen Zweck.
Weitere Listeninhalte sind beispielsweise die auf Blatt 6r notierte, aus Zahlen
bestehende Verhältnisliste und, erstmalig auf Blatt 13v, der Komplex der Namenslisten, der nun im Fokus stehen soll. Es handelt sich um Aufzählungen von
Namen bedeutender Persönlichkeiten vorwiegend des 18. Jahrhunderts, wobei
es sich durch den Umfang und die Häufigkeit im Notizbuch um mehr als
Bienerts Beobachtung einer Liste „berühmter Männer“7 handeln muss. In
kleinen Struktureinheiten fußen die Listen durchaus auf Äquivalenzen
(„Göthe“, danach: „Gothes Mutter“), im gesamten Aufbau geben sie jedoch
Rätsel auf. Immer wieder werden diese Namen in den verschiedensten Kombi4 Dazu Werner Feudel: „Bis in seine letzten Tage zählte er französisch, den Akzent seiner
Muttersprache hat er nie überwunden […].“ Feudel 1971, S. 24.
5 Eco bemerkt zur „Anordnung als Gedächtnisstütze“: „Eine bestimmte Ordnung der Dinge half
dabei, sich an sie zu erinnern, sich an die Stelle zu erinnern, die sie im Gefüge der Welt
einnehmen.“ Eco 2009, S. 155.
6 Zuerst erschienen in Chamisso 1831, S. 95.
7 Bienert 2013, S. 114f., Anm. 21.
Chamissos Listen
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nationen auftauchen und durch andere Namen erweitert werden.8 Einige sind
mit Schlusspunkten versehen, alle mit Blei geschrieben. Sämtliche Namen verweisen auf bedeutende Schriftsteller, Politiker, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Militärs sowohl aus Europa als auch aus Nordamerika. Ein Teil der
notierten Persönlichkeiten waren Chamisso beispielsweise durch seine Aufenthalte in den verschiedensten Intellektuellenkreisen in Deutschland sowie in
Frankreich9 bekannt. Es kann sich aber aufgrund der zeitlichen Distanz vieler
Personen zum Autor nicht nur um Korrespondenzlisten handeln. Für die Interpretation dieser Auflistungen scheint von Lektürewünschen oder -protokollen bis hin zu Bewunderungslisten alles möglich zu sein. Hier wird es notwendig,
das Notizbuch im Kontext des gesamten Schaffens Chamissos, seiner anderen
Hefte und Gedanken zu verorten, die dieses Phänomen möglicherweise beschreiben können. Das Briefjournal von 1828 stellt diesbezüglich mehr Fragen,
als es zu beantworten vermag.
Noch umfangreicher ist das Auflisten dann auf Blatt 16r, auf dem erstmals
auch die Anordnung der Namen in Zehnereinheiten vorgenommen wird. In dem
nun teilweise auch mit Tinte geschriebenen Dokument lassen sich am linken
Rand ein Ansatz zu einem Rahmen und innerhalb der Liste vereinzelte Unterstreichungen beobachten. Diese Aufzählungen sind also abermals in sich gegliedert, so als wäre mit ihnen eine besondere Anordnung angestrebt worden.
Vielleicht hat Chamisso dadurch eine Auflistung der zehn in irgendeiner Art
richtigen Anordnung von Namen gesucht, also ein Projekt verfolgt, das aus dem
Notizbuch allein heraus nicht erkennbar ist.
Ebenfalls als praktische Erinnerungen funktionieren die wissenschaftlichen
Notizen zur Botanik, denn ihr Verwendungszweck wird aus den vorliegenden
Seiten nicht deutlich. Sie tauchen nur vereinzelt auf, zum Beispiel auf Blatt 51r. Sie
sind hier mit Tinte geschrieben worden, in lateinischen Buchstaben, durch klare
Unterteilungsstriche getrennt und enden vereinzelt mit Schlusspunkten. Diese
botanischen Notizen sind wohl die Keimzelle des systematischen Listens, wie es in
diesem Notizbuch sichtbar geworden ist. Denn die Fixierung empirischer Beobachtungen, von Ergebnissen oder Vermutungen in einer schnell identifizier- und
vor allem verifizierbaren Darstellungsform der Auflistung ist verbreitetes Werkzeug (natur-)wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei darf jedoch nicht außer Acht
8 So zum Beispiel auf den Blättern 13v, 15v, 31v und 41r.
9 Feudel schreibt: „[…] der Dichter hingegen entsagte vorläufig der philosophischen Spekulation, seit er in den Salons der jüdischen Familien Cohen, Herz, Levin und Ephraim verkehrte. […] Hier traf sich alles, was Rang und Namen hatte, ohne Rücksicht auf Stand und
Bekenntnis.“ Sowie: „Chamisso folgte im Herbst 1810 A. W. Schlegel ins Exil der Frau von
Stal nach Chaumont und später nach Foss […]. In Chaumont hatte die Stal auf einer alten
Burg an der Loire einen Kreis interessanter Persönlichkeiten um sich versammelt […].“
Feudel 1971, S. 27 u. 60.
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Moritz Rauchhaus
Abb. 1: Nachl. Adelbert von Chamisso: Notizbuch 1828, Blatt 16r (Photographie: Staatsbibliothek zu Berlin).
Chamissos Listen
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gelassen werden, dass Chamisso 1828 Zeitgenosse einer sich ausbildenden systematischen Botanik ist. Die bedeutende Grundlagenarbeit Carl von Linns, der
Nomenklatur für Tier- und Pflanzenarten, lag nicht lange Zeit zurück, andere
wichtige Beiträge zur modernen Biologie werden zum Beispiel erst durch Darwins
folgen.10 Der Naturforscher Chamisso adaptierte diese effiziente Arbeitsweise in
alle Bereiche seines Schaffens. Reime waren nicht mehr nur Teile eines Verses,
sondern poetische Partikel, die gesondert neue Verbindungen miteinander eingehen konnten, wenn sie aufgelistet wurden. Dies galt ebenfalls für Namen, Zahlen,
Arbeiten und Korrespondenzen. Möglicherweise begannen sie aus Chamissos
Alltag heraus als pragmatische Listen, fungierten dann aber auch als Teil kreativer
Prozesse, verwandelten sich also je nach Betrachtungsart durchaus in Listen für
poetische Zwecke, legten also ihren ursprünglichen Zweck nie gänzlich ab. Für die
Rezeption stellen sie zu seinem umfangreichen Schaffen zwischen den Disziplinen
und Kontinenten seiner Zeit eine der aufschlussreichsten Quellen dar. Sie laden
nachgerade zwingend zu einer grundlegenden Analyse ein.
Abbildung
Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamissos, K. 34, Nr. 6: Notizbuch
1828, Blatt 16r.
Ungedruckte Quellen
Staatsbibliothek zu Berlin – PK: Nachl. Adelbert von Chamisso, K. 34, Nr. 6.
Literatur
Becker, Hans Joachim (Hg.): Goethes Biologie. Die wissenschaftlichen und die autobiographischen Texte. Würzburg 1999.
Belknap, Robert E.: The List. New Haven 2004.
Bienert, Michael: ,Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher‘, in: Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen.
Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen 2013, S. 107–121.
Chamisso, Adelbert von: Gedichte. Leipzig 1831, S. 95.
Eco, Umberto: Die unendliche Liste. Übers. v. Barbara Kleiner. München 2009.
Feudel, Werner : Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. Leipzig 1971.
10 Vgl. dazu das Kapitel „Wo setzt Goethe mit seinen Untersuchungen an?“, in: Becker 1999,
S. 14f.