[go: up one dir, main page]

Academia.eduAcademia.edu
HORIZONTE Buchbesprechungen 708 Wie viele psychische Erkrankungen gibt es? Paul Hoff Prof. Dr. med. Dr. phil., Chefarzt, stv. Klinikdirektor, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Andreas Heinz Der Begriff der psychischen Krankheit Berlin: Suhrkamp; 2014. 371 Seiten. 25.90 CHF. ISBN 978­3­518­29708­7 Psychiatrie und Psychotherapie sind, so weit besteht psychiatrischen, psychopathologischen, neurobiolo­ ein weitgehender internationaler Konsens, nicht nur gischen, anthropologischen und philosophischen. wesentliche Elemente einer jeden Gesundheitsver­ Die souveräne Art, in der er diesen enormen Horizont sorgung, sie haben in jüngerer Zeit auch als attraktive erschliesst, ist bemerkenswert. Freilich wird der Text und herausfordernde Forschungsfelder erkennbar an dadurch dicht und anspruchsvoll. Auch sich selbst Dynamik gewonnen. Letzteres bezieht sich allerdings macht es der Autor nicht leicht: Er dekliniert die An­ vorwiegend auf die empirische Forschung, vor allem wendbarkeit des Begriffes psychische Krankheit mit auf neurowissenschaftlichem Gebiet und hier auf die Blick auf die genannten theoretischen Perspektiven komplexen Schnittstellen zwischen neuronaler Funk­ konsequent durch, ja er ringt förmlich um die plausi­ tion und klinischem Erscheinungsbild (paradigma­ belste, die für den Kliniker überzeugendste Position. tisch in diesem Zusammenhang das Konzept der Endo­ In den 14 Kapiteln geht es (unter anderem) um die Ab­ phänotypen). grenzung zwischen Krankheit, Kranksein und Stö­ Theoretische Debatten, die sich bewusst den Grund­ rung (disease, illness, disorder), um das Verständnis von fragen unseres Faches widmen, sind hingegen weiter­ Krankheit als Funktionsstörung in der Innen­, Aussen­ hin rar – ganz im Gegensatz übrigens zur psychiatri­ und Mitwelt, um die Rolle des subjektiven Leides und schen «Gründerzeit» zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Störung sozialer Teilhabe in der Konzeption von als in der Fachöffentlichkeit so manche theoretische psychischer Krankheit sowie, für Psychopathologen Kontroverse auf hohem Niveau ausgetragen wurde. von besonderem Interesse, um die Relevanz von pa­ Ich meine Fragen wie die nach der Abgrenzung von ranoider Symptomatik und von Ichstörungen für die psychischer Gesundheit und Krankheit, nach dem psychiatrische Diagnostik. Detailliert erläutert der praktisch und wissenschaftlich optimalen nosolo­ Autor die psychiatrierelevanten Positionen von vier gischen Modell, nach dem Stellenwert der psychia­ Philosophen aus unterschiedlichen Zeitaltern und von trischen Diagnostik und, am wichtigsten, nach dem ebenso unterschiedlicher Ausrichtung: Es geht um grundlegenden Verständnis von Therapie und the­ rapeutischer Beziehung. Selbst die streckenweise irrational anmutende öffentliche Aufregung um Das Buch stellt die grundsätzliche Frage, was eine psychische Krankheit denn sei. die (angebliche) Diagnoseninflation in der 5. Ver­ sion des Diagnostic and Statistical Manual of Mental die anthropologischen Ansätze von Immanuel Kant, Disorders (DSM­5, 2013) kann nicht darüber hinweg­ Max Scheler und Helmuth Plessner sowie um die Rolle täuschen, dass es um eine nachhaltige, differenzierte von Affektion und Stimmung in Heideggers Existen­ und breit rezipierte Auseinandersetzung mit der zialontologie. Theorie der Psychiatrie aktuell nicht zum Besten Um es noch einmal zu betonen: Bei aller Fülle von steht. theoretischen Argumenten und Ansätzen findet der Genau hier setzt das Buch von Andreas Heinz an, und Autor immer wieder den Weg zurück zur klinischen genau deswegen ist es ein wichtiges Buch: Es stellt Praxis und – was ihm offenbar sehr am Herzen liegt – die grundsätzliche Frage, was eine psychische Krank­ zur Kulturabhängigkeit nahezu aller menschlichen heit denn sei, oder, genauer, welchen Begriff wir uns Erlebens­ und Verhaltensweisen – auch solcher, die von psychischen Krankheiten machen sollen. Es tut wir Psychiater als psychopathologisch auffällig oder dies aber nicht nur in theoretischer Manier, sondern eben als «krank» bezeichnen. Dem Rezensenten er­ mit zahlreichen Ankerpunkten in der klinischen Pra­ scheint dabei das Kapitel 10, Ichstörungen und der ent- xis, um die es ja letztlich geht. fremdete Selbstbezug, besonders überzeugend. Der Autor nähert sich dem grossen Thema aus ganz Die Zielrichtung des Buches ist eine aufklärerische: unterschiedlichen Perspektiven, nämlich der klinisch­ Mit selbstkritischem, aber auch selbstbewusstem SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(19):708–709 HORIZONTE Buchbesprechungen 709 Tenor fordert der Autor dazu auf, menschliches Ver­ Der kritische Impetus des Buches, seine unkonventio­ halten nicht ohne sehr guten Grund zu pathologisie­ nelle, aber profunde Herangehensweise, und dies von ren und insbesondere sicherzustellen, dass mit psy­ einem Autor, der mitten in der psychiatrischen Ver­ chiatrischen Diagnosen kein politischer oder sonstiger sorgung und Forschung arbeitet, sind ausserordent­ Missbrauch getrieben wird. Das aus seiner Sicht zen­ lich anregend. Auf die so angestossene Diskussion trale Mittel zu diesem Zweck besteht in einem eng zu wird sicher gerade der Autor selbst gespannt sein, fassenden, gleichsam sparsamen, aber nicht reduktio­ wird sie doch zeigen, wie weit und wohin sein Ansatz nistischen Krankheitsbegriff in der Psychiatrie: Dabei trägt. Eine mögliche skeptische Frage könnte lauten, ob durch das radikale Zurücknehmen des psychia­ Bei aller Fülle theoretischer Argumente und Ansätze findet der Autor immer wieder den Weg zurück zur klinischen Praxis. trischen Krankheitsbegriffes auf psychotische und Suchterkrankungen nicht ungewollt doch reduktio­ nistischen Tendenzen Vorschub geleistet wird. Auch könnte man fragen, inwiefern bei schweren nicht­ spürt man, vor allem in den Kapiteln über Psycho­ psychotischen Erkrankungen, etwa bei einer ausge­ sen und Suchterkrankungen, sehr wohl den grossen prägten Zwangserkrankung, die These, hier liege keine neurowissenschaftlichen Erfahrungshintergrund des psychische Krankheit im engeren Sinne vor, den be­ Autors. Versuche, eine eliminative Neurowissenschaft troffenen Personen und ihrem Umfeld zu vermitteln zu etablieren, die andere Perspektiven a priori für un­ wäre. Und schliesslich lässt der Text – möglicherweise wissenschaftlich erklärt, weist er aber klar zurück. Es sehr bewusst – die aktuell intensiv diskutierte Frage geht ihm, anders formuliert, darum, das Somatose­ offen, ob wir es bei psychischen Erkrankungen mit postulat Kurt Schneiders, das ja auch einem betont natürlichen Entitäten (natural kinds) – Emil Kraepelin engen psychiatrischen Krankheitsbegriff verpflichtet sprach von «natürlichen Krankheitseinheiten» – zu war, um die anthropologische Dimension (einschliess­ tun haben, oder ob es sich letztlich immer, auch bei lich der Subjektivität) zu ergänzen – aber eben nicht den psychischen Krankheiten im Sinne des Autors, beliebig zu erweitern. Konkret läuft seine Argumenta­ um begriffliche Konstrukte handelt, die nicht auf ein tion auf eine drastische Reduktion der Zahl psychi­ ontologisches Fundament verweisen müssen. scher Erkrankungen hinaus, ein im besten Sinne radi­ Ich möchte die zuletzt genannten Fragen an das Buch kaler Ansatz: nicht missverstanden wissen: Es geht mir keinesfalls «Der hier vertretene Vorschlag besagt, dass eine we­ um eine grundsätzliche Kritik, sondern um das, wozu sentliche Störung einer psychischen Funktion immer der Autor uns auffordert, nämlich mit aufklärerischer dann als Symptom einer Krankheit zu werten ist, wenn sie das Überleben der betroffenen Person gefährdet und entweder erhebliches psychisches Leid auslöst oder die soziale Teilhabe massiv be­ Die Argumentation läuft auf eine drastische Reduktion der Zahl psychischer Erkrankungen hinaus. einträchtigt, und zwar unabhängig von ihrer Ver­ ursachung, zumindest solange die Symptome nicht Grundhaltung und patientennaher Herangehensweise bewusst inszeniert wurden und nicht jederzeit von der alle nosologischen Modelle in der Psychiatrie kritisch betroffenen Person gezielt wieder beendet werden zu hinterfragen, also auch das von ihm selbst postu­ können» (S. 137). lierte. Unser Fach ist es seinen Patientinnen und Pa­ Am Schluss des Buches dann derselbe Sachverhalt, tienten, aber auch sich selbst schuldig, komplexe theo­ kliniknäher formuliert: retische Fragen immer wieder neu aufzuwerfen und «Der hier formulierte Vorschlag reduziert die Zahl mit dem je aktuellen Stand empirischen Wissens zu psychischer Erkrankungen drastisch. Statt mehrerer verschränken. Wer sich diesen Fragen ernsthaft stel­ Korrespondenz: hundert Störungen (disorders), die derzeit in den in­ len will, die sich jenseits des Tellerrandes einer einge­ Prof. Dr. med. Dr. phil. ternational gültigen Klassifikationssystemen alle zu­ schliffenen Praxis auftun, wird das Buch mit grossem mindest implizit als Krankheiten gelten, werden im Gewinn lesen. Er oder sie wird es allerdings nach der hier vorgestellten Ansatz nur exogene und endogene Lektüre auch nachdenklich zur Seite legen. Genau Psychosen sowie Suchterkrankungen als psychische das bringt die Psychiatrie weiter. Paul Hoff Psychiatrische Universitäts­ klinik Zürich Lenggstrasse 31 CH­8032 Zürich paul.hoff[at]puk.zh.ch Krankheiten im engeren Sinne benannt …» (S. 349). SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(19):708–709