Für die ethnografische Forschung ist die Spannung von teilnehmender Nähe und distanzierter Beobachtung konstitutiv. Die zunächst abstrakte Gegenüberstellung wirft ganz praktische Fragen auf, wenn wir über einen längeren Zeitraum im Feld...
moreFür die ethnografische Forschung ist die Spannung von teilnehmender Nähe und distanzierter Beobachtung konstitutiv. Die zunächst abstrakte Gegenüberstellung wirft ganz praktische Fragen auf, wenn wir über einen längeren Zeitraum im Feld durch das Dickicht der untersuchten Lebenswelt dringen. Wie sehr müssen wir uns auf das Feld und seine Aktivitäten einlassen? Wird unser Blick auf Distanz unscharf oder durch zuviel Nähe getrübt? Sind enge Beziehungen zu den Subjekten unserer Forschung erlaubt; gar freundschaftliche? Und was machen wir mit Informationen, die wir vielleicht nur deshalb erhielten, weil das Gegenüber uns als eine von ihnen wahrgenommen hat? Auf diese Fragen müssen wir forschungspraktische Lösungen finden, die methodologisch reflektiert und nachvollziehbar gemacht werden und wissenschaftsethisch vertretbar sein müssen. Wir gehen nicht davon aus, dass die Spannung grundsätzlich, von vornherein und dauerhaft aufgelöst werden kann. Sie lässt sich in unseren Augen nicht einfach umgehen, indem wir als Feldforscherinnen anwesend sind, ohne dabei zu sein. Und sie lässt sich nicht übergehen mit der Haltung: „anything goes“, solange wir nur an interessante Daten kommen. Wir tragen im Gegenteil die Spannung von Nähe und Distanz latent schon ins Feld hinein durch das Selbstverständnis empirisch forschender Kultursoziologinnen, das sich als passionierte Professionalität bezeichnen lässt. Diese vereint die Handlungsaspekte von neugieriger (An)Teilnahme an der untersuchten sozialen Wirklichkeit (um zu verstehen) und dem nüchternen Erhebungs- und Auswertungshandwerk (um begründet zu erklären).
Mit Grauzonen der Feldforschung nehmen wir Handlungen und Situationen in den Blick, die von dieser Spannung geprägt sind. Die Forscherin ist im Feld Mitglied einer Gruppe (geworden) und agiert also auch als solches und nicht ausschließlich als Wissenschaftlerin. Was wir hier als Grauzonen beschreiben, wird in der Literatur häufig als Dilemma bezeichnet, als Unvereinbarkeit feld- und professionsspezifischer Handlungsorientierungen (vgl. Fine 1993). Diese im Forschungsprozess irritierenden Unvereinbarkeitserfahrungen sind wichtig. Sie schärfen den Sinn dafür, in welchen Handlungsbezügen wir agieren. Aber wo Dilemma sprachlich eine unentscheidbare Ausweglosigkeit markiert, müssen wir im Feld eine Lösung finden.
Wir stellen im Folgenden konkrete Problemsituationen aus eigenen Feldforschungen über spezifisch schwer zugängliche Gruppen vor. So verschieden die untersuchten Phänomene sind, so sind doch die Probleme der Feldforscherin, ihr Handeln an mehreren Bezugsgruppen und damit Wertsystemen zu orientieren, vergleich- und verallgemeinerbar. Wir thematisieren sie hier nicht als vermeidbare und ungewollte Fehler. Wir möchten stattdessen ihre Doppelfunktion stark machen: Grauzonen der Feldforschung fordern uns zu einem selbstreflexiven Umgang auf, der unabdingbar für die situationsflexible Anpassung des Forschungsprozesses an eigensinnige Felder ist. Zugleich sind Art und Intensität dieser Bruchstellen feldspezifisch. Die Rollenkonflikte sowie Lösungsversuche und -erfolge können Ausdruck zentraler Merkmale des Feldes sein. Grauzonen sind so ein heuristisches Mittel zu deren Verständnis. Dazu müssen sie sowie der Umgang mit ihnen systematisch ausgewertet werden. Über das souveräne, passioniert professionelle Navigieren in einer Grauzone entscheidet maßgeblich auch die Beherrschung des methodischen Handwerkszeugs der qualitativen empirischen Sozialforschung.
In: Poferl, Angelika/Reichertz, Jo (Hrsg.): Wege ins Feld. Methodologische Aspekte des Feldzugangs. Essen: Oldib. 332-347.