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Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen: La Gomera-Krimi
Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen: La Gomera-Krimi
Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen: La Gomera-Krimi
eBook484 Seiten5 Stunden

Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen: La Gomera-Krimi

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Über dieses E-Book

Jorge Alturo, Kommissar aus Teneriffa, ist schüchtern bei Frauen, im Dienst korrekt und hat einen empfindlichen Magen. Schlendrian kann er nicht leiden. Sein Spitzname: El Topo, der Maulwurf. Da wird er wegen des Mordes an einem alten Mann auf die kleine Nachbarinsel La Gomera beordert, wo sich alles um Gemütlichkeit und scharfes Essen dreht. Als sein Wagen explodiert, bleibt ihm nichts übrig, als im rostzerfressenen Kleinbus eines deutschen Alt-Aussteigers über die Insel zu holpern. Schnell merkt er, dass die Einheimischen eine Menge vertuschen – zum Beispiel das spurlose Verschwinden eines Hippie-Mädchens in den 1980er Jahren. Obwohl El Topo um sein Leben fürchten muss, wühlt er sich durch das Dickicht der Spuren. Was ist damals auf La Gomera wirklich geschehen?
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition CW Niemeyer
Erscheinungsdatum1. Sept. 2025
ISBN9783827187444
Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen: La Gomera-Krimi
Autor

Elisabeth Florin

Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Südtirol. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung. Sie arbeitete 25 Jahre lang als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete.

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    Buchvorschau

    Comisario Canario – Der Maulwurf unter Palmen - Elisabeth Florin

    Die letzte Minute

    Der alte Mann hob den Kopf.

    Am dunklen Nachthimmel waren Abertausende von Sternen zu sehen. Dort drüben leuchtete der hellste von ihnen – der Abendstern. Nicht weit davon Kastor und Pollux, die unzertrennlichen Brüder. Im Tode wieder vereint zogen die Söhne von Zeus gemeinsam ihre Bahnen.

    Er lächelte. Irgendwann ...

    So fühlte es sich also an, wenn die Zeit ablief. Noch atmete er. Spürte, wie sich seine Brust hob und senkte. Alles war wie immer. In weniger als einer Minute würde alles anders sein. Er würde fort sein. Die fünfundsiebzig Jahre seines Lebens schrumpften zu einem Punkt in der Ewigkeit.

    Es war nicht so, wie die Leute sagten. Dass sich kurz vor dem Ende das ganze Leben noch einmal abspulte. Da war nur ein winziges Pochen in seiner Brust, wie das Ticken einer Uhr. Und ein bisschen Wehmut.

    Er blickte ein letztes Mal auf den Ozean hinaus. Er war unruhig, kabbelig. Dumpf rollten die Wellen an den Strand und liefen in Schaumkräuseln vor seinen Füßen aus.

    Ein paar Wolken zogen vom Meer herauf. Der Vollmond war verschwunden.

    „Eine gute Nacht für einen Mord, das muss ich dir lassen", sagte er.

    Hinter ihm schnaufte jemand. „Es wäre besser gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen."

    „Ich bereue nichts."

    Vor dem Schuss fielen noch ein paar Worte, aber der alte Mann hörte nicht mehr zu.

    Montag. Lunes.

    Carlos

    Wie immer, wenn er am Steuer saß, hatte Carlos den Arm auf das offene Wagenfenster gelegt. Ein lauer Septemberwind strich über seine Haut.

    Jetzt war die beste Zeit. Eine Ahnung des Sommers lag noch in der Luft. Nachts wehte eine frische Brise von den Bergen.

    Jedes Mal im Herbst überlegte Carlos, seine Bude in Pastrana zu kündigen. Auf der Rückbank seines VW-Busses war Platz genug zum Schlafen. Das hatte er früher, mit zwanzig, so gemacht. Er könnte sich wieder daran gewöhnen.

    Touristen über die Insel zu kutschieren, war kein Job, der einen reich machte. Die dreihundertzwanzig Euro im Monat, die er an Miete zahlte, konnte er anderweitig gut gebrauchen. Aber im Jahr darauf, wenn der Juni in den Juli überging und auf La Gomera die Zeit der Sommerhitze begann, war er froh, dass er es nicht getan hatte.

    Es war kurz nach sieben, und das Glühen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Auf La Gomera blinzelte man ein paarmal, und schon war es hell. Als würde irgendwer eine schwarze Folie an der Ecke packen und von der Insel ziehen.

    Das Chassis des VW knirschte, als er scharf nach rechts in Richtung Tapahuga-Strand abbog. Jede Unebenheit vibrierte in Carlos’ Kopf. Die Nachwirkungen einer schlaflosen Nacht.

    Lang würde es der Bus nicht mehr machen. Carlos seufzte. Es fiel ihm schwer, sich von dem rot-weiß lackierten Schrott auf vier Rädern zu trennen. Vor über dreißig Jahren hatte er den Bus einem Hippie abgekauft, der die Insel verließ und keine Verwendung mehr dafür hatte.

    Seither war das Gefährt mit ihm durch dick und dünn gegangen.

    Der Bus holperte über die sandige Piste entlang einer schmalen Allee von Dattelpalmen, die zum Meer hinunterführte.

    Carlos hielt an und streckte die Hand nach einer Palme aus. Ihre Wurzeln schienen tief ins Erdinnere hinabzureichen. Wenn er einmal niedergeschlagen war, brauchte er nur einen der vernarbten Stämme zu berühren und zur üppigen Krone hinaufzuschauen, die leise im Wind rauschte, und schon fühlte er sich besser.

    Zwischen einem gemauerten Unterstand, der in grauer Vorzeit eine Art Strandbar gewesen war, und einem alten Bananenlager brachte Carlos den Bus zum Stehen.

    Er sah Chico schon von Weitem, wie er über den Kiesstrand rannte und auf ihn zuhielt. Seine riesigen Segelohren, die in keinem Verhältnis zu seinem schmächtigen Körper standen, flatterten im Wind.

    Der Hund sprang an Carlos hoch und jaulte. Er war eine struppige Promenadenmischung und bestand nur aus Haut und Knochen. Wie alt, das wusste niemand.

    Carlos hockte sich hin und kraulte die graue Schnauze. „Hallo, Kleiner. Hast du Hunger?"

    Chico war einer der Gründe, warum er in aller Herrgottsfrühe hier rausgefahren war. Es konnte gut sein, dass Don Federico wieder vergessen hatte, seinen Hund zu füttern. Der Don war in letzter Zeit verdammt schusselig. Manchmal wusste der alte Mann nicht mal, wie spät es war, obwohl er eine Uhr um sein dürres Handgelenk trug.

    Carlos langte zum Beifahrersitz hinüber und zog zwei Blechnäpfe, eine kleine Wasserflasche und eine Tüte Trockenfutter aus einem Jutebeutel.

    Chico schenkte dem Fressen keine Beachtung. Er robbte von den Näpfen weg, hob den Kopf und heulte jämmerlich.

    Carlos beobachtete ihn eine Weile. Schließlich richtete er sich auf. „Komm, Kleiner. Gehen wir zu deinem Herrchen."

    Wie auf Kommando setzte sich der Hund in Bewegung und verschwand zwischen den Überresten der Lagerhallen.

    Plötzlich war Carlos, als ob jemand gerufen hätte. Aber die Brandung übertönte alle anderen Geräusche. Er musste sich geirrt haben.

    Die Sonne war hinter einer Wolkenbank verschwunden, die vom Regenwald herunterzog. Das Meer hatte die Farbe dunkelblauer Tinte. Gischt spritzte von den schwarzen Felsen. Eine Windbö zerrte an Carlos’ Haaren. Niemand war zu sehen.

    Unter einem prächtigen Lorbeerbaum stand ein einsamer Klappstuhl.

    Er gehörte Don Federico. Hier saß der Alte jeden Abend, starrte aufs Meer hinaus und wartete, dass ihn jemand besuchen kam.

    Wenn es in der Feuerstelle prasselte, war das ein Zeichen, dass der Don Gesellschaft hatte. Ein oder zwei Leute, manchmal auch mehr, die ihre eigenen Sitzgelegenheiten mitbrachten. Hin und wieder sogar der Bürgermeister.

    Carlos wusste, dass der Don nie Jura studiert hatte, aber das war unwichtig. Der alte Mann kannte sich im spanischen Rechtssystem besser aus als so mancher Anwalt und Notar aus San Sebastián oder Santa Cruz de Tenerife.

    In dem Elfhundert-Seelen-Ort Playa de Santiago gab es sowieso weder den einen noch den anderen. Don Federico war alles in einem, auch wenn ihm die offizielle Befugnis fehlte.

    In jeder Behörde hatte er irgendeinen Bekannten. Er konnte immer irgendwen anrufen, wenn es Probleme gab, bei denen der Dienstweg nicht weiterhalf.

    Doch mittlerweile brannte das Feuer neben seinem Sitzplatz am Meer immer seltener.

    Das war kein Thema, über das man unten im Ort offen redete. Hin und wieder, wenn die alten Männer auf der Plaza del Carmen unter dem großen Lorbeerbaum saßen und Domino spielten, schnappte Carlos ein paar getuschelte Satzfetzen auf. Die Leute machten sich Sorgen um den Don.

    Inzwischen konnte Carlos den Strand komplett einsehen. Der altersschwache Wohnwagen des Don stand an derselben Stelle wie immer – am anderen Ende, unter einem Felsabsturz.

    Es rührte sich nichts. Der lange Streifen blendend weißer, vom Meer blank geputzter Steine lag einsam da.

    Zögernd ging Carlos los. Er hatte Don Federico etwas vernachlässigt in letzter Zeit.

    Da vorn war Chico. Der Hund hockte im seichten Wasser und bearbeitete etwas mit seiner Pfote.

    Carlos blieb stehen. Chico ging nie ins Meer. Wenn die Wellen auf den Strand schwappten, wich er zurück und knurrte.

    Im seichten Wasser, mit dem Gesicht nach unten, lag ein Mann. Die Hände waren nach vorne ausgestreckt, eine seltsam hilflose Geste, als hätte er sein Schicksal kommen sehen und sich ihm freiwillig ausgeliefert.

    Die langen weißen Haare von Don Federico waren ausgebreitet wie der Kopfschmuck eines Häuptlings, und sie bewegten sich mit den Wellen sachte auf und ab. Auf dem Wasser schwammen rote Schlieren.

    Carlos musste sich zwingen, hinzusehen. Im Hinterkopf von Don Federico klaffte ein kreisrundes Loch. Die Haare drum herum waren rot verklebt. Eine graue Masse sickerte aus der Wunde.

    Wie ein Besessener zerrte Chico an einem Ärmel der ausgeblichenen Makramee-Jacke, die der Don anhatte.

    Carlos watete hinüber. Als er den Arm aus Chicos Maul befreite, war der völlig steif. Er hob den Hund, der sich verzweifelt wehrte, aus dem Wasser. „Hör auf, Chico. Das macht ihn nicht wieder lebendig."

    Die Tür zum Wohnwagen stand offen, als hätte Don Federico nur einen kurzen Spaziergang über den Strand im Sinn gehabt.

    Drinnen sah es wüst aus. Die bestickten Kissen, für die Don Federico eine Vorliebe gehabt hatte, waren zerfleddert. Jemand hatte die Füllung mit roher Gewalt herausgerissen. Die Überreste waren im Wohnwagen verstreut.

    Das Einbauregal war leer. Auf dem Boden lagen Don Federicos Bücher. Hundertmal gelesen, jetzt abgestoßen und beschädigt. Da war sein Steppenwolf, der Buchrücken war gebrochen.

    Carlos setzte sich auf die zerwühlte Pritsche und starrte hinüber zum Lehnstuhl. So hatten sie oft gesessen, nachdem das Feuer an der Strandbar erloschen war und Federicos Klienten gegangen waren. Niemand im Dorf hatte gewusst, dass sie sich trafen. Der Don umgab sich mit der Aura eines Einzelgängers, bei dem Geheimnisse sicher aufgehoben waren. Und Carlos hatte keine Lust, mit irgendwem über Don Federico zu reden.

    Wenn sich Carlos mal wieder beschwerte, weil auf dieser Insel niemand Termine einhielt, sagte der Don milde: „Das bringt doch nichts, Junge. Die Leute auf La Gomera sind nun mal so. Dinge auf die lange Bank zu schieben, ist ihre Art, mit dem Leben klarzukommen. Niemand will, dass sich hier viel ändert, und wenn es sich partout nicht vermeiden lässt, dann eben im Kriechgang. Jetzt bist du so lange hier und hast das immer noch nicht begriffen?"

    „Und wenn mich irgendwann mitten im Gesundheitszentrum der Schlag trifft, dann geht der Arzt seelenruhig mittagessen, weil das seine Art ist, mit dem Leben klarzukommen?"

    Der Don lächelte. „Jetzt übertreib nicht. Du redest nur so daher, weil du Angst vor dem Altwerden hast."

    „Und wenn?, hatte Carlos gesagt. „Altwerden ist was für Leute, die Kohle haben. Meine reicht nicht für einen Platz im Altersheim, wenn’s so weit ist.

    „Altersheim? Was willst du denn da? Hier auf der Insel ist der Himmel blau, fast das ganze Jahr. Die Sonne wärmt dir den Pelz. Und du hast das Meer, das deine müden Knochen kühlt. Bleib mir bloß mit den Ärzten weg. Die lassen dich nicht in Ruhe abtreten. Sie hängen dich an die Maschine, und du kannst nichts dagegen machen. Auf La Gomera behältst du deine Würde, bis zum Schluss."

    „Leb wohl, alter Freund", flüsterte Carlos.

    Er schnappte sich Chicos Leine, die mitten in dem Gewühl lag. Kurz überlegte er, ob er den Don aus dem Wasser ziehen sollte, aber dann ließ er es sein. Bis die Flut kam, würde es noch Stunden dauern.

    Er machte sich auf den Rückweg.

    An der Strandbar blieb er stehen. Er konnte unmöglich zusehen, wie Federicos Stuhl langsam verrottete.

    Als Carlos ihn zusammenklappen wollte, erstarrte er. Unter dem Stuhl lag ein Taschenbuch. „Cien años de soledad", von Gabriel García Márquez. Hundert Jahre Einsamkeit. Komischerweise glich es dem Exemplar, das er Don Federico vor Urzeiten geschenkt hatte. Das gezeichnete Cover im Fünfzigerjahre-Stil. Und da war eine Schutzhülle aus Plastik, genau wie die, die er selbst damals ...

    Carlos bückte sich nach dem Buch und schlug die erste Seite auf. Da stand in einer krakeligen Teenagerschrift, was er schon geahnt hatte:

    „Mir selbst zum 16. Geburtstag. Karl König, Berlin, 1986."

    Carlos sah sich um.

    Er steckte den Schmöker in seinen Hosenbund und zog sein T-Shirt drüber.

    Wieder im Bus, ließ sich Carlos in den Sitz sinken und starrte an die Decke.

    In Playa de Santiago bestand die Polizei aus zwei Beamten der Guardia Civil, die einmal am Tag ihre Runde drehten, ein paar Falschparker verwarnten und anschließend mit den Leuten vom Ort ein Schwätzchen hielten und einen Kaffee tranken. Manchmal auch ein bisschen was Stärkeres.

    Mit der Kriminalpolizei hatte Carlos das letzte Mal vor über dreißig Jahren zu tun gehabt. Keine Erfahrung, die er auffrischen wollte.

    Aber dass der Don keines natürlichen Todes gestorben war, das konnte ein Blinder mit Krückstock sehen.

    Chico war auf den Rücksitz gesprungen und hatte sich eingerollt. Kurze Zeit später waren leise Schnarchgeräusche zu hören.

    Carlos hätte sich am liebsten dazugelegt, aber es wurde Zeit.

    Er drehte den Zündschlüssel und sprach ein Gebet in Richtung Nirgendwo.

    An den lieben Gott und ans Jenseits hatte der Don nicht geglaubt. Aber er hatte immer von einem Ort namens Nirgendwo geträumt, irgendwo da oben in den Wolken.

    Hoffentlich war er jetzt dort.

    Stotternd sprang der Motor an.

    ***

    Die Tür von Mauras Büro im Centro de Salud, dem kleinen Gesundheitszentrum in Playa de Santiago, stand offen.

    Carlos hockte sich auf die Treppe. Seine Beine machten plötzlich nicht mehr mit. Er fühlte sich elend.

    In der Ferne war ein lauter Redeschwall zu hören. Dann Schritte, die sich näherten.

    Maura stürmte über den Flur. Ihr weißer Kittel klaffte auf und erlaubte den Blick auf einen Furcht einflößenden Busen und Oberschenkel von gewaltigen Ausmaßen, die in rubinroten, hautengen Leggins steckten.

    Sie warf Carlos einen unfreundlichen Blick zu. „Bist du unter die Landstreicher gegangen? Setz dich gefälligst auf einen Stuhl wie alle anderen!"

    Carlos versuchte sich aufzurappeln.

    „Ach du liebe Zeit, rief Maura aus, als sie sein Gesicht sah. „Du bist ja kalkweiß, und deine Stirn ist tropfnass. Warte, ich helfe dir auf.

    Widerstandslos ließ sich Carlos von ihr ins Büro führen und auf einen Stuhl setzen.

    „Hast du Schmerzen in der Brust? Ein Ziehen im linken Oberarm?"

    „Nein, alles in Ordnung, wehrte Carlos ab. „Mir war nur einen Moment ein bisschen übel. Aber das kommt bloß daher, dass ich ...

    „Gott sei Dank. Wir hatten heute Morgen bereits einen Herzinfarkt. Das reicht. Maura kramte in ihrem Medikamentenschrank. „Wahrscheinlich hast du was Schlechtes gegessen. Ich möchte nicht wissen, wie der Inhalt deines Kühlschranks aussieht. Ihre Miene war streng wie immer, aber Carlos wusste, dass das bloß ihr Panzer war, den sie sich zugelegt hatte. Maura Acosta war einer der gutherzigsten Menschen, die er kannte.

    „Hier – drei Tage lang eine Tablette nach jedem Essen. Das müsste genügen, um deinen Magen aufzuräumen. Geht aufs Haus, aber häng’s nicht an die große Glocke."

    „Danke, das ist lieb von dir, aber ich bin nicht meinetwegen hier. Es geht um Don Federico, war Carlos endlich in der Lage anzubringen. „Er liegt tot am Tapahuga-Strand.

    „Oh Mann. Dann hat er’s jetzt also überstanden. Mauras Stimme war so sanft wie selten. „War ja irgendwann zu erwarten.

    Carlos starrte sie an. „Was meinst du damit?"

    „Nichts, das dich was angeht. Maura warf einen Blick auf das Barometer an der Wand. „Schon 28 Grad im Schatten. Der Don muss zu Enrique in den Kühlraum. Sonst verliert er die Fasson. Enrique war der örtliche Bestatter und Leichenbeschauer. Unter anderem.

    „Enrique soll einen Termin im Krematorium machen. Keine Ahnung, wer dafür aufkommt, aber die Gemeinde wird bestimmt ..."

    „Hör mir zu, Maura. Mit Mühe unterbrach Carlos ihren Redestrom. „Das war kein natürlicher Tod. Er räusperte sich, seine Kehle war wie zugeschnürt. Es aussprechen zu müssen, machte es noch schlimmer. „Der Don liegt mit dem Gesicht voran im Wasser, mit einem Loch im Hinterkopf."

    Maura schnüffelte. „Bist du betrunken?"

    „Das wäre ich gern. Aber es sieht aus, als hätte ihm irgendein Schwein hinterrücks eine Kugel verpasst."

    Fassungslos starrte die Krankenschwester ihn an. „Jemand hat den Don – erschossen?"

    Carlos nickte schwer.

    Maura fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Was sollen wir jetzt machen?"

    „Es hilft nichts, wir müssen die Polizei einschalten", sagte Carlos.

    Sie nickte langsam und griff zum Telefon, da streckte ein klein gewachsener Mann mit breitem Kreuz den Kopf ins Zimmer.

    „Wir sind wieder da. Luca war Mitte fünfzig und einer der beiden Sanitäter des Gesundheitszentrums. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Pipo wird es schaffen.

    „Echt? Maura ließ den Hörer fallen. „Da bin ich aber froh. Zu Carlos: „Pipo war der Herzinfarkt heute Morgen."

    Carlos kannte den Mann. Er war ein sanftmütiger alter Kerl, einer von denen, die den ganzen Tag auf der Plaza del Carmen Domino spielten.

    Heute war kein Tag für alte Männer.

    „Offenbar hatte er eine Glückssträhne gehabt, als es ihn erwischte, sagte Maura mit schiefem Lächeln. „Das hat ihn wahrscheinlich zu sehr aufgeregt. Er hat selig gelächelt, als wir ihn einluden. Ich hab nicht geglaubt, dass er noch eine Chance hat.

    „So ist La Gomera, sagte Luca. „Bei uns wird das Unwahrscheinliche wahr. Er stammte aus Italien und war immer am Geschichtenerzählen. „Es war so. Wir sind am Fahren, ich sitz hinten bei Pipo. Mein Kollege heizt den Berg hoch, als hätten wir Flügel. Die Kurve nach Jerduñe kannst du nur bloß mit Vierzig nehmen, sonst trägt’s dich über die Klippe. Dann kannst du ein letztes Gebet sprechen, bevor du unten im Barranco landest. Ich schrei wie immer: Alexis, du musst bremsen! Himmel noch mal, fahr langsamer! Und Alexis schreit von vorn wie immer: ‚Ruhe da hinten! Der Herrgott hat uns in der Hand!‘ Dann hat er sich übers Lenkrad gebeugt, ein Kreuz geschlagen – und noch mal Gas gegeben."

    Das Krankenhaus von La Gomera befand sich in der Hauptstadt San Sebastián, einem Hafenstädtchen im Osten der Insel – eine Dreiviertelstunde und ein Dutzend tiefer Schluchten von Playa de Santiago entfernt. Wer von einem Küstenort zum anderen wollte, musste sich am Steilhang entlang unzähliger Kurven hoch in den Urwald schrauben und wieder hinunter zum Meer.

    „Eure Schutzengel haben wirklich den schwierigsten Job auf La Gomera", sagte Maura. Auf Lucas verwittertem Gesicht breitete sich ein verwegenes Grinsen aus. Eine ganze Menge Leute verdankten der gewagten Fahrweise der beiden Sanitäter das Leben. Alexis war ein Naturtalent, sein Hintern war mit dem Sitz des Krankentransporters verwachsen. In seiner Brust schlug ein Benzinmotor. Luca hatte das Fahren in den engen Gassen von Sizilien gelernt.

    „Heute Abend im La Chalana. Ihr seid wie immer eingeladen." Jedes Mal, wenn Alexis und Luca dem Tod ein Schnippchen schlugen, schmissen sie eine Runde. Oder auch zwei.

    Maura starrte den Telefonhörer an, als überlegte sie, wieso der auf dem Schreibtisch lag. „Die Polizei. Luca, es ist was Furchtbares passiert."

    „Don Federico ist tot", hakte Carlos ein.

    Luca funkelte ihn böse an. „Hör auf damit. Über den Tod macht man keine Witze."

    Notgedrungen erzählte Carlos die Geschichte ein zweites Mal.

    „Scheiße", sagte Luca. Carlos wusste, dass Don Federico Luca wieder auf die Beine geholfen hatte. Der kleine Sizilianer war Ende der Achtzigerjahre als junger Mann auf La Gomera gestrandet, nachdem er mit seinem Restaurant in Gelsenkirchen pleite gegangen war.

    „Wisst ihr, dass er mir Spanisch beigebracht hat?"

    Maura warf Luca einen Blick zu, der so viel hieß wie: War keine Meisterleistung vom alten Don.

    Luca richtete sich zu seiner vollen Größe von einsfünfundsechzig auf und verkündete: „Ich ruhe nicht, bis er gerächt ist."

    „Wenn ich’s getan hätte, ich würde schlottern vor Angst, sagte Maura. „Ihr fahrt jetzt zum Tapahuga-Strand und sammelt Don Federico auf; mit einem Maximum an Respekt, wenn ich bitten darf. Dann bringt ihr ihn zu Enrique. Er soll ihn in den Kühlraum schieben, bis die Polizei kommt.

    „Wer ist überhaupt für so was zuständig?, fragte Carlos. „Guardia Civil oder Policía Nacional? Meinst du, sie schicken uns einen Obermacker aus Teneriffa rüber?

    „Das werden wir ja sehen, sagte Maura und zerrte an der Telefonschnur, als wollte sie irgendwem damit den Arm abbinden. „Ich ruf jetzt in unserer Polizeistation an. Die werden schon wissen, was zu tun ist. Macht, dass ihr Land gewinnt, ihr zwei.

    Dienstag. Martes.

    Die Fähre rollte und schlingerte. Die See war rau an diesem Morgen. Aber der Benchijigua-Express, der zwischen Teneriffa und La Gomera verkehrte, fuhr bei fast jedem Wetter.

    Der Kapitän auf der Brücke fluchte unterdrückt. Die steife Brise störte ihn nicht, die war er gewohnt. Was ihn nervte, waren die zu erwartenden Fragen von Passagieren der ersten Klasse. Sobald sich ein Lüftchen regte, machten sich die Gäste der „Clase Oro, der „Goldklasse – so hieß die Lounge auf dem Oberdeck – Sorgen um ihre BMWs und Audis.

    Er ließ den ersten Offizier übernehmen und ging hinunter aufs Passagierdeck, um es hinter sich zu bringen. Doch niemand sprach ihn an, als er am goldbraunen Tresen der „Clase Oro" einen Milchkaffee bestellte.

    Verwundert schaute er sich um. Die Goldklasse war fast leer, ein ungewohnter Anblick für einen Dienstagmorgen.

    Um einen runden Tisch hatte sich eine Familie mit kleinen Kindern gruppiert, wahrscheinlich Touristen.

    In einem Sessel am Fenster saß ein einzelner Mann Mitte vierzig im dunkelgrauen Anzug, einen gleichfarbigen Hut und eine Aktentasche auf dem Schoß. Das schwarze Haar und die Physiognomie verrieten den Spanier. Seine Haut war hell, und sein Teint sah aus, als miede er die Sonne. So, wie er gerade eine unsichtbare Staubfluse von seinem Hut entfernte, machte der Mann einen peniblen, fast überkorrekten Eindruck.

    Zufrieden trank der Kapitän seinen Kaffee aus und wandte sich zum Gehen.

    Hätte er über den Mann im dunklen Anzug nachgedacht, würde er ihn für einen Finanzbeamten oder vielleicht einen Steuerberater gehalten haben. Bestimmt nicht für das, was er in Wirklichkeit war.

    Jorge Alturo – so hieß der Mann – war einer der besten Mordermittler Teneriffas. Sofern man ihn aufgrund seiner Kombinationsgabe beurteilte. In Gegenwart anderer Menschen fühlte er sich manchmal etwas hilflos; das war seine Achillesferse.

    Jorge Alturo legte Hut und Aktentasche beiseite und trat auf das Deck hinaus. Direkt vor ihm erhob sich der mächtige Schornstein der Fähre. Hinter ihm streckte der Radarturm seine metallenen Finger in den wolkenlosen Himmel.

    Die Luft war salzig, es roch nach Fisch und Seetang. Der Wind packte ihn, und er griff nach der Reling, um Halt zu finden. Unter ihm brodelte die See. Die Gewässer waren hier sehr tief, über zweitausend Meter. Vielen Leuten gefiel die Vorstellung. Ein bisschen Nervenkitzel, ein Hauch von Abenteuer.

    Alturo war fester Boden unter den Füßen bedeutend lieber. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, aber dann entdeckte er das Schild mit dem Rauchverbot und steckte die Schachtel weg.

    In der Entfernung war ein dunkler Schemen zu erkennen, der aus dem Wasser aufstieg: La Gomera.

    Alturo war einmal übers Wochenende dort gewesen.

    Die kleine Insel war ihm ein wenig unheimlich. Da war diese Feuchtigkeit, beinahe Kühle, die oben in den Bergen in der Luft lag und auf der Haut prickelte, auch wenn unten im Tal weit höhere Temperaturen herrschten. Und dann die Stille im Regenwald, die eigentlich keine war.

    Prompt hatte er sich verirrt und war stundenlang ziellos herumgelaufen. Die Einheimischen hatten den Kopf geschüttelt, als er ihnen hinterher sein Leid klagte. Überall gebe es Wegweiser.

    Die hatte er wohl übersehen.

    Mit Mühe tauchte Alturo aus der Erinnerung auf und straffte sich. Diesmal war er in offiziellem Auftrag hier.

    Die Informationen, die er zu dem Fall erhalten hatte, waren mager. Ein Einheimischer war tot am Strand gefunden worden, offenbar erschossen. Wahrscheinlich Streitigkeiten, die eskaliert waren. Die Gomeros waren nicht schnell aus der Ruhe zu bringen, aber wenn es einmal so weit war, konnten sie ganz schön hitzig werden – das war allgemein bekannt.

    Alles in allem wohl ein Routinefall, der sich ohne Weiteres aufklären ließ.

    Alturos Kollegen in Santa Cruz waren in Deckung gegangen, um dem Aufenthalt in der Provinz zu entkommen.

    Er war als Einziger unverheiratet. „Wir sollten die anderen nicht von ihren Familien trennen, vor allem jetzt, vor den Feierlichkeiten zu Ehren von Christoph Kolumbus. Das verstehen Sie doch, Alturo?", hatte der Chef gesagt.

    Kolumbus, sicher. Im Juli wäre ihm sein Chef mit der Fiesta del Carmen gekommen, im August mit der Fiesta de la Virgen de Candelaria.

    Wenn ein Fall auf den Tisch kam, der so aussah, als würde er keine Ehre einbringen, landete er bei Alturo. Am liebsten schickten sie ihn in die Provinz, möglichst weit weg von der Zentrale der Policía Nacional in Santa Cruz. Manchmal war der Fall doch komplizierter, als er auf den ersten Blick aussah. Das waren die Ermittlungen, die Jorge Alturo liebte.

    Die Hafeneinfahrt war näher gerückt. Die schroffen Felsen der Steilküste waren deutlich zu erkennen. Möwen flatterten kreischend über seinen Kopf hinweg.

    Jorge wandte sich ab und ging wieder hinein.

    Sein Blick fiel auf die Familie am Nebentisch. Vermutlich Nordeuropäer, der rötlichen Haut nach. Ein Kind in einer Trage. Und ein etwa fünfjähriger Junge, das Gesicht übersät mit Sommersprossen.

    Jorge lächelte, als er den Knirps beobachtete, wie er von einem Fenster zum anderen rannte und sich die Nase platt drückte. Wahrscheinlich hatten ihm seine Eltern erzählt, dass man zwischen den Inseln Tümmler und Grindwale zu sehen bekam. Manchmal sogar Orcas.

    Aber heute war das Wetter zu stürmisch, um da draußen etwas zu erkennen.

    Gischt spritzte am Fenster hoch. Das Schiff schwankte hin und her. Der Junge fiel zu Boden. Er verzog das Gesicht, schrie aber nicht. Tapferer Bursche.

    Jorge hockte sich neben den Kleinen hin, der sich gerade aufrappelte.

    „Da draußen sind gerade eine Menge Delfine, mein Junge", sagte er auf Englisch.

    Die Augen des Jungen leuchteten. „Wirklich?"

    „Auf jeden Fall. Du kannst sie bloß momentan nicht sehen. Aber das Wichtigste ist ja, zu wissen, dass sie da sind. Sie können übers Wasser springen und mit Bällen spielen, hast du das gewusst?"

    Der Kleine schüttelte den Kopf. Der fremde Mann war ihm wohl ein wenig unheimlich, denn auf einmal machte er kehrt und rannte davon.

    Jorge sah ihm nach. Es wäre schön, selbst Kinder zu haben. Eins, oder vielleicht sogar zwei. Aber hierfür fehlte ihm bisher die Grundvoraussetzung – eine Frau.

    Jorge musterte die Eltern, aber die beiden Erwachsenen waren zu sehr mit ihren Handys beschäftigt, um auf ihren Sprössling zu achten.

    Mittlerweile sauste der Kleine kreuz und quer durch die Lounge, vorbei an steinernen Blumenkübeln, einem Chromgeländer und Barhockern, die in den Boden eingelassen waren und ziemlich massiv aussahen.

    Jorge sah es kommen. Die Fähre schlingerte, der Kleine stürzte über eine Treppenstufe und fiel gegen das Geländer. Bevor sein Kopf auf einer der Streben aufschlug, war Jorge auf den Beinen und fing den Jungen auf.

    Jetzt schrie der Kleine aus Leibeskräften. Die Eltern starrten feindselig herüber, als hätte Jorge dem Jungen etwas angetan. Er stellte ihn auf die Beine und führte ihn zum Tisch. „Sie sollten aufpassen."

    Er erwartete keinen Dank, und er bekam auch keinen.

    ***

    Zwanzig Minuten später holperte Jorge mit seinem Wagen über die Rampe der Fähre hinaus auf den Kai.

    Sein Blick streifte die Ansammlung bunter Häuser, die gegenüber dem Hafen am Steilhang klebten. Der Anblick war vermutlich nicht viel anders als vor fünfhundert Jahren, als Christoph Kolumbus von San Sebastián de La Gomera in den Atlantik hinaussegelte, um den Seeweg nach Indien zu finden.

    Jorge Alturo passierte das kleine Fährterminal. Heute herrschte wenig Betrieb. Einmal im Jahr war das anders, im Dezember, wenn das härteste Ruderrennen der Welt in die Karibik startete.

    Die sportliche Leistung nötigte Jorge hohen Respekt ab, aber bei der Vorstellung, in einer Nussschale aufs Meer hinauszufahren, überlief ihn ein Schauder. Zwischen La Gomera und Antigua lagen fünftausend Kilometer Atlantik. Tief. Sturmumtost. Gefährlich.

    Die dunklen Eckquader des mittelalterlichen Wehrturms Torre del Conde glänzten in der Morgensonne. Auf dem Rasen spielten Hunde. Ein alter Mann ging in aller Seelenruhe über die Straße, ohne nach links und rechts zu schauen.

    Jorge dachte an Santa Cruz, die geschäftige Hauptstadt von Teneriffa. Wohin man auch schaute, jedermann schien geradewegs auf sein Ziel zuzusteuern.

    La Gomera war anders. Die Insel war ein vulkanischer Kegel mit schroffen, steil aufragenden Felszacken und tief eingeschnittenen Tälern. Jede Straße endete in einer Bucht. Es gab keine Autopista wie auf Teneriffa, die an der Küste entlangführte.

    Auf La Gomera brauchte man Zeit. Sofort: Das war ein Fremdwort hier.

    Jorge machte das nichts aus. Die Wahrheit herauszufinden, war auch ein Geduldsspiel.

    Er passierte den Roque del Sombrero. Sein terrassierter, von einem riesigen, hutähnlichen Felsen gekrönter Bergrücken zeichnete sich gestochen scharf gegen den blauen Himmel ab.

    Keuchend schraubte sich sein alter Toyota Corolla am Rand der tief eingeschnittenen Vera-Schlucht nach oben. Man hatte ihm wie immer kein Dienstfahrzeug bewilligt. Angeblich waren alle anderweitig im Einsatz.

    Jorge bremste ab und fuhr auf einen kleinen, als Aussichtspunkt gekennzeichneten Parkplatz. Er öffnete die

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