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Spiegelberg: Kriminalroman
Spiegelberg: Kriminalroman
Spiegelberg: Kriminalroman
eBook490 Seiten5 StundenCora Johannis

Spiegelberg: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Düstere Schluchten, windige Höhen und tödliche Geheimnisse.

Während eines schweizerisch-französischen Festakts in Solothurn wird Journalistin Cora Johannis Zeugin, wie die ehemalige Botschafterin Frankreichs von einem Mann angegriffen wird. Wenig später erleidet die Diplomatin bei einem Unfall schwere Verletzungen. Bevor sie das Bewusstsein verliert, nennt sie Cora den Namen des Täters und bittet sie, »Camille zu schützen«. Die Suche nach der ihr unbekannten Frau führt Cora in die Freiberge. Doch statt auf Camille stößt sie dort auf menschliche Abgründe und eine düstere Intrige, die weit in die Vergangenheit reicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2024
ISBN9783987072109
Spiegelberg: Kriminalroman
Autor

Christof Gasser

Christof Gasser, geboren 1960 in Zuchwil bei Solothurn, ist seit 2016 Autor von Kriminalromanen und Kurzgeschichten. Zudem schreibt er als Gastkolumnist für die Solothurner Zeitung. In seinen Romanen, die regelmäßig Spitzenplätze auf der Schweizer Bestsellerliste belegen, spielt seine Heimatstadt stets eine wichtige Rolle. Gasser lebt mit seiner Frau unweit von Solothurn am Jurasüdfuß. http://www.facebook.com/solothurnkrimi www.christofgasser.ch

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    Buchvorschau

    Spiegelberg - Christof Gasser

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

    © 2024 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma/Weber Raphael

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-98707-210-9

    Originalausgabe

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    regelmäßig über Neues von emons:

    Kostenlos bestellen unter

    www.emons-verlag.de

    Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

    Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

    Im Gedenken an

    Hejo Emons

    Wer Neugeburt will,

    muss zum Sterben bereit sein.

    Hermann Hesse (1877–1962)

    Nicht ein Atom des Körpers wird vergehen

    und nicht ein Hauch von Seele.

    Sobald der Nordwind den Saum des Geistes zusammenrafft,

    wird sich der Ostwind erheben und ihn entfalten.

    Khalil Gibran (1883–1931)

    Wo das Recht nicht in der Lage ist,

    für Gerechtigkeit zu sorgen,

    sucht sich die Gerechtigkeit eigene Wege

    und schafft neues Unrecht.

    Cora Amalia Johannis

    Wo das Recht nicht in der Lage ist, für Gerechtigkeit zu sorgen …

    Die Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nase. Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein stiller Protest gegen den erwachenden Tag, der die Geborgenheit der Nacht verdrängte. Die Dämmerung brachte eine Brise, die sie frösteln ließ. Nur die dünne Decke bewahrte ihre Haut vor dem Kontakt mit dem kühlen Lufthauch. Ihre Finger ertasteten den leeren Platz auf der Matte neben ihr, wo sie die Nacht unter freiem Himmel mit ihm verbracht hatte.

    Der Gedanke an seinen Geruch, die raue Weichheit seiner Haut und die Härte seiner Muskeln erregte sie erneut. Ihre Hände glitten unter die Decke und über ihren Unterbauch. Es war, als spürte sie ihn noch in ihr. Sie waren erst weit nach Mitternacht eingeschlafen, über ihnen nichts als das Firmament über der Bucht von Quiberon.

    Mit einem Seufzer wickelte sie sich in die Decke und schloss die Augen, bis sie durch die geschlossenen Lider einen Schatten wahrnahm.

    Er stand direkt über ihr. Die Konturen seines nackten Körpers zeichneten sich dunkel gegen den Halo des Sonnenlichts am azurnen Himmel ab. »Komm her.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. Ein Blick auf seine Körpermitte zeigte ihr, dass er verstand, was sie wollte.

    Er beugte sich über sie und berührte ihre Brüste. »Frierst du?«

    »Ein wenig.«

    »Man spürt’s.«

    »Was …? Idiot.« Sie umfasste seinen Nacken und zog ihn zu sich herunter. Mit geschlossenen Augen gab sie sich der Symphonie der Sinne hin, die ihre beiden Körper wie ein warmer Dunst einhüllte.

    Das Paradies. So musste es sich anfühlen.

    Mit dem Unterschied, dass es dort bestimmt keine Motorgeräusche gibt, die sich rasch näherten.

    Sie löste sich aus seiner Umarmung und setzte sich auf.

    »Idiot!« Diesmal meinte sie den Fahrer des Schnellbootes, das auf sie zusteuerte. Wer konnte das sein, um diese Zeit?

    »Das ist Renaud mit den Croissants zum Frühstück«, meinte er.

    »Jetzt schon?« Dem würde sie was husten. »Wollte er nicht später kommen? Und seit wann hat er so ein Boot?«

    »Gehört wohl seinem Alten.« Renaud arbeitete im Bootsverleih seines Vaters in Kermorvan. Nebst anderem machte er Rundfahrten und Anglertouren mit Touristen. Er hatte ihnen die Yacht zu einem Freundschaftspreis überlassen.

    Sie stand auf und wickelte die Decke um ihre Hüften.

    »Was machst du?«, fragte er. »Wir können nachher –«

    Sie fuhr gespielt lasziv mit beiden Händen über ihre Hüften. »Das hier darf nur einer sehen.« Sie küsste ihn auf den Mund und ging unter Deck. Auf dem Tisch der Kombüse lag das Notebook, an dem sie am Vorabend gearbeitet hatte. Sie klappte es zu und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Dann suchte sie ihren Bikini. Das Oberteil lag auf der Bank in der Kajüte, das Höschen fand sie auf dem Bett. Sie nahm den Grapefruitsaft aus dem Kühlschrank, am Vortag frisch gepresst im Bioladen von Quiberon gekauft. Zum Preis dieser einen Flasche hätte sie im Supermarkt zehn Tüten kaufen können. Sie wollte sich etwas Besonderes gönnen, dazu gehörte frisch gepresster Grapefruitsaft und der Champagner, der neben der Saftflasche im Kühlschrank lag. Sie konnten es sich leisten. Auf der Sitzbank lag die Tasche mit dem Geld, zweihunderttausend Euro. Besser, Renaud bekam das nicht zu Gesicht. Sie verstaute die Tasche in einem Schrank in der Kajüte.

    Durch die Bordwand hörte sie das Schleifen des Motorbootes gegen die Fender ihres Seglers. Der Motorenlärm brach ab. Jemand rief etwas. Daraufhin hörte sie den dumpfen Schlag eines Körpers, der hart auf den Planken aufschlug, und dann zweimal ein trockenes Ploppen.

    Sie ging zurück in die Kombüse und stieg auf die erste Stufe der Treppe an Deck. Vor sich sah sie die Waden zweier Beine in schwarzen Hosen und Sneakers. Dahinter sah sie einen reglosen Körper an der Reling, nackt. Sie biss sich in die Faust, um nicht laut zu schreien, und zog sich in die Kajüte zurück. Die Pistole lag auf der Ablage neben der Kaffeemaschine. Sie nahm die Waffe an sich. Weiter vorne, am Bug, war eine Nische mit einer kleinen Koje, die sie als Abstellraum nutzten. Von dort führte eine Luke ans Oberdeck. Sie öffnete sie und zwängte sich hindurch.

    Sie hatte nur Sekunden.

    »Fallen lassen!«

    Die Stimme hatte die endgültige Schärfe eines Fallbeiles. Es war vorbei. Sie legte die Pistole auf den Boden.

    »Umdrehen.«

    Sie wandte sich um und erstarrte.

    »Du?«

    »Ja, ich. Überrascht?«

    »Warte, du musst mich nicht –«

    »Doch, ich muss.« Die Mündung der Pistole blitzte einmal. Der Einschlag traf sie wie eine Faust aus Stahl in die Magengrube und schleuderte sie über Bord. Das endlose Blau des Himmels war das Letzte, was sie sah, bevor der Atlantik sie verschlang.

    1

    Je mehr ich versuche, zu vergessen, desto eher holt mich die Erinnerung ein.

    Ich habe aufgehört zu rennen. Ich will mich ihr stellen. Welche Alternativen bleiben mir? Der Sprung in den Abgrund? Dafür stehe ich hier am richtigen Ort, am äußersten Ende der Aussichtsplattform des Felsengrates Arête des Sommêtres, rund zweihundert Meter lang und nur eine Handvoll solcher breit. Hinter mir liegt die Hochebene der Freiberge, vor mir, rund fünfhundert Höhenmeter tiefer, die bewaldete Schlucht des Doubs, die über Kaskaden, Windungen und durch Stauwehre fließende Trennlinie zwischen dem Schweizer und dem französischen Jura. Ganz so tief würde ich nicht fallen, wenn ich springen wollte. Aber es wäre ein schöner Tod, an diesem Ort, mit der Weite des Landes vor Augen.

    Ich verscheuche den Schwarm dunkler Gedanken. Stattdessen lasse ich meinen Blick über die weißen Felsen schweifen, in der Hoffnung, die Überreste der Burg zu entdecken, die im Mittelalter hier gestanden hatte.

    Ruine Spiegelberg.

    In einer Gegend, die Wert auf ihre frankofone Identität legt, muten deutschsprachige Ortsbezeichnungen merkwürdig an.

    Spiegelberg. Für mich ist es mehr als nur ein Ort. Er steht für eine Erinnerung, die mich zwingt zu vergessen und mir gleichzeitig verunmöglicht, genau das zu tun. Ein Name, der Gespenster erlebten Schreckens auferstehen lässt, die ich hoffte, aus meiner Erinnerung verbannt zu haben.

    Hier hatte die Burg gestanden, die heute als »La Ruine de Spiegelberg« bekannt ist. Das Blut der letzten Nachfahren der Dynastie, die es erbaute, klebt an meinen Händen seit den Tagen an jenem verwünschten Ort im Berner Oberland vor zwei Jahren: Blutlauenen.

    Charlène, die schwatzhafte Serviererin im Restaurant der Klinik, die einen Steinwurf von hier entfernt liegt, hat mir die Geschichte erzählt. Die im 13. Jahrhundert errichtete Festung war der Sitz der Familie Mireval gewesen. Sie hatte die Grafschaft Muriaux, Spiegelberg zu Deutsch, vom Bischof von Basel als Lehen erhalten. Später verlegten sie ihr Domizil in die Herrschaft Kriegstetten im Solothurner Wasseramt. Dort vermählte sich ein Mireval mit der Adligen Anna von Halten. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellten zwei Generationen der Mireval oder Spiegelberg, wie sie sich fortan nannten, die Schultheißen der freien Reichsstadt Solothurn. Ludivine, der letzte Spross des Geschlechts, war eine meiner besten Jugendfreundinnen gewesen.

    Wenn ich die Augen schließe, werden die Bilder von ihr lebendig. Ich sehe sie vor mir. Der Fels unter meinen Füßen löst sich auf. Unter mir ist die Leere des Abgrunds. Nur etwas hindert mich zu fallen.

    Die Schlinge.

    Sie schnürt mir die Kehle zu. Ich ringe nach Luft, versuche Halt zu finden, den Druck von mir zu nehmen. Mein Blickfeld verengt sich wie das Licht am Ende eines Tunnels, in dem ich rückwärtsfahre.

    »Halten Sie sich fest.« Eine Frauenstimme. Sie spricht französisch mit mir.

    Ich mache die Augen auf.

    »Vorsicht.« Sie packt mich am Arm. »Für einen Moment dachte ich, Sie fallen mir über das Geländer.«

    Ihr Alter ist schwer zu bestimmen, älter als ich auf jeden Fall, zehn Jahre, zwanzig? Sie strahlt Klarheit aus, ohne arrogant zu wirken. So blau ihre Augen sind, ist ihr Haar blond, oder war es mal. Sie scheint nicht eitel genug zu sein, um graue Strähnen nicht zuzulassen.

    »Geht es Ihnen besser?«

    Ich starre sie an. Sie wiederholt die Frage auf Deutsch, wahrscheinlich aus Gewohnheit. Die meisten Touristen in den Freibergen sind Deutschschweizer.

    »Danke, ja. Ich muss mich setzen.«

    Die Frau deutet hinüber zum Wald, wo der Felsenpfad seinen Anfang nimmt. »Können Sie gehen?«

    Ich nicke.

    »Was war mit Ihnen? Es sah aus wie eine Panikattacke.« Es klingt weder neugierig noch übertrieben besorgt, nur mitfühlend.

    »Ich hätte es nicht tun sollen.«

    »Was?«

    Ich winke ab. Der Arzt in der Klinik hat mich ermahnt, es langsam anzugehen. Was heißt langsam? Seit zwei Jahren bewege ich mich im Kriechmodus.

    Meine »Retterin« besteht nicht auf eine Antwort. Stattdessen reicht sie mir eine Wasserflasche. »Sie müssen trinken.« Erst will ich ablehnen, ein Pandemiereflex. Monate bevor das Virus zum Thema wurde, befand ich mich in meinem persönlichen Lockdown. Zuerst die Wochen im Spital, die Rückkehr in die eigenen vier Wände, die immer wieder gleichen Alpträume.

    Bis der Zusammenbruch kam.

    Mit der linken Hand verdecke ich das baumwollene rosa Stoffband mit dem Smiley, das die Narbe an meinem rechten Handgelenk verbirgt. Mila hat es mir geschenkt.

    »Sie können ruhig trinken«, sagt die Frau. »Die Flasche ist noch versiegelt.«

    »Was?« Ich merke, dass ich die Flasche die ganze Zeit nur versonnen in den Händen drehe. »Danke.« Ich trinke das Halblitergefäß fast leer. Mit jedem Schluck merke ich, wie durstig ich bin. Zwei Kaffee beim Frühstück sind eindeutig zu wenig.

    »Besser?«

    »Besser.« Ich versuche aufzustehen und setze mich gleich wieder hin.

    »Warten Sie, bis sich Ihr Kreislauf normalisiert hat.«

    Um nicht reden zu müssen, nehme ich mir Zeit, die Flasche zu leeren. Die Frau hat etwas Irritierendes. Ich glaube, sie von irgendwoher zu kennen, und komme nicht drauf.

    »Sie sind Patientin in der Klinik Le Noirmont.« Sie zeigt auf das Patientenband an meinem linken Handgelenk.

    »Ich war zur Kur, heute ist mein letzter Tag. Und Sie?«

    »Kurzurlaub bei einer befreundeten Familie im Dorf. Morgen geht’s zurück nach Paris. Die Arbeit ruft.«

    »Sie sind Französin?«

    »Merkt man mir das an?«

    Ich nicke, trotz meiner durchschnittlichen Kenntnisse unserer zweiten Landessprache höre ich die geschliffene Aussprache der Pariserin heraus.

    »Sie kommen aus der Deutschschweiz, nicht wahr?«

    »Dürfte schwer zu überhören sein.« Ich strecke die Hand aus. »Cora Johannis.«

    Ein breites Lächeln erhellt ihr Gesicht. »Wusste ich es doch, deine schwarzen Haare, die weiße Strähne über der Stirn, die Bernsteinaugen. Wir kennen uns.« Sie greift nach meiner Hand und schüttelt sie.

    »Sie kommen mir auch bekannt vor, aber –«

    »Marokko, Anfang der Neunziger, erinnerst du dich nicht mehr an mich? Françoise, Françoise Gravier.«

    Die Neunziger? Das war vor Äonen. Trotzdem dämmert es mir langsam. Ich recherchierte für eine Reportage über Flüchtlingsströme nach Europa. Die zu Spanien gehörende Landspitze von Ceuta an der marokkanischen Küste und das weiter östlich gelegene Melilla bilden die einzige EU-Landgrenze zu Afrika. Dort wird mit allem gehandelt, was Geld bringt, erst recht, wenn es auf illegale Weise verschoben werden kann, Alkohol, Drogen und Menschen. Die Arbeit ist mir weniger in Erinnerung geblieben als das lebendige Souvenir, das ich von dort nach Hause gebracht habe.

    Inzwischen ist Julian fünfundzwanzig und lebt seit über einem Jahr mit seiner Freundin zusammen. Je älter er wird, desto ähnlicher sieht er Marzuk, dem marokkanischen Assistenten, den mir Françoise Gravier, damals mein Kontakt in der französischen Botschaft, vermittelt hatte. Mit einer Sonderbewilligung bewegte Marzuk sich frei mit mir zwischen Marokko und den spanischen Exklaven. Mich zu schwängern war nicht Bestandteil seines Jobprofils gewesen, geschah aber im gegenseitigen Einvernehmen, was den Akt betrifft, nicht dessen Resultat.

    »Wie lange bist du danach in Marokko geblieben?«, will ich wissen, nachdem wir uns umarmt haben.

    »Bis Ende 2001. Dann kam die erste Ernennung zur Botschafterin und Vietnam für drei Jahre, darauf folgten zwei weitere in Athen. Dann noch mal Marokko, bevor es zurück nach Europa ging, erst Bern, dann Brüssel.«

    »Du warst Botschafterin in der Schweiz? Davon habe ich nichts mitbekommen. Warum hast du dich nie gemeldet?«

    »Du warst ständig unterwegs. Ich war oft in Paris und dann …« Gravier senkt den Kopf. »Es ist viel passiert seit Marokko.«

    Stimmt. Kaum hatte ich Julian abgestillt, überließ ich ihn der Obhut meines damaligen Partners Matthias. Ein Fehler, wie ich später bemerkte. Seine Assistentin Grazyna unterstützte ihn dabei mehr, als mir lieb sein konnte. Wie man sich bettet … »Bist du noch im diplomatischen Dienst?«

    »Im Ruhestand, offiziell.«

    »Und inoffiziell?«

    »Gibt es so was nicht. Ich arbeite im Stab des Präsidenten.«

    »Und mit Präsident meinst du …«

    »Genau den, ich bin seine Sonderberaterin für Sicherheit in auswärtigen Angelegenheiten.«

    »Diplomaten in Frankreich werden nie pensioniert, oder wie?«

    »Nicht, wenn der Präsident sie um sich haben möchte. Nächstes Jahr werde ich siebzig. Dann ist Schluss.«

    Dass Alter nur eine Zahl ist, unterstreicht ihr Äußeres. Bis auf die Falten um Mund und Augen wirkt sie wesentlich jünger. Sollte sie dereinst die Diplomatie satthaben, könnte sie eine zweite Karriere als Senior Model oder Best Ager ins Auge fassen.

    Die Journalistin in mir stellt sich die Frage, ob Gravier sich nicht nur privat, sondern auch dienstlich in der Gegend aufhalten könnte. Was an den Freibergen könnte für den Hausherrn im Élysée-Palast von Interesse sein? »Vor Jahren kursierte ein Gerücht, der Kanton Jura wolle sich von der Schweiz abspalten und zu Frankreich wechseln«, sage ich augenzwinkernd. »Ist es etwa so weit? Geheime Sondierungsgespräche?«

    Gravier lacht. »Mittlerweile dürfte den maßgeblichen Leuten in Delémont aufgegangen sein, dass sie einen schlechten Tausch machen würden. Doch genug von mir. Was ist mit dir, Cora? Weshalb bist du in der Klinik? Sag nicht, du hast Herzprobleme.«

    Das wäre die simple Antwort gewesen. Die Klinik Le Noirmont ist bekannt für ihre Rehabilitationsprogramme für Herzpatienten. Zudem bietet sie Therapien in der Psychosomatik an. Nur weil ich vor über einem Vierteljahrhundert mit ihr durch den Souk von Marrakesch gezogen bin, habe ich noch lange keine Lust, mich ihr zu offenbaren. Daniel vom Staal verschaffte mir den Kurplatz in der notorisch voll belegten Klinik. Er und meine Kinder sind die Einzigen, welche die düsterste Ecke meiner Seele kennen. »Lange Geschichte, mit der ich dich nicht langweilen will, es sei denn, du hast stundenlang Zeit.«

    Gravier sieht auf ihre Uhr. »Du hast recht, ich muss mich auf den Weg machen. Morgen früh steht ein Treffen in Genf an. Am Nachmittag fliege ich zurück nach Paris.«

    Wir stehen gleichzeitig auf. Erleichtert stelle ich fest, dass meine Füße mich wieder tragen.

    »Lebst du immer noch in Solothurn?«

    »Das weißt du noch?«

    »Du bist keine, die man einfach vergisst, Cora.«

    »Ich wohne in Nennigkofen, das ist ein Dorf ganz in der Nähe der Stadt. Willst du mich mal besuchen?«

    »Bist du übernächste Woche zu Hause?«

    »Denke schon.«

    »Lass dich überraschen. Du hörst von mir.«

    2

    Françoise hat Wort gehalten. Vor zwei Tagen zog ich den Brief aus dem Kasten. Einer offiziellen Einladungskarte der französischen Botschaft lag ein handschriftlicher Brief bei. Françoise freue sich, mich am Festakt am Donnerstag in Solothurn zu sehen, hat sie geschrieben. Sie würde einen Tag vorher eintreffen. Das ist heute.

    Ich lese zum x-ten Mal die Einladungskarte und den Brief, den ich zusammen mit anderer diverser Korrespondenz in einem Holzkistchen auf der Kommode vor dem Garderobenspiegel aufbewahre, welches früher mal Matthias’ kubanische Zigarren enthalten hatte. Ein Poltern von oben reißt mich aus den Gedanken. Mila kommt mit Rucksack am Rücken und Kater Van Helsing im Schlepptau die Treppe herunter. Van Helsing wartet auf der letzten Stufe, bis sie den Rucksack abgestellt hat. Dann streicht er ihr so lange um die Beine, bis sie ihn aufhebt und in die Arme nimmt.

    Seit bald zwei Wochen absolviert sie ein Praktikum auf einem Reiterhof in Muriaux, einer Nachbargemeinde von Le Noirmont. Gestern ist sie für einen Tag zurückgekommen, um etwas für die Schule zu erledigen. Seither ist Van Helsing nicht von ihrer Seite gewichen.

    »Kümmerst du dich um ihn, wenn ich weg bin?«

    Als würde ich das sonst nicht tun. »Die Frage ist eher, ob es Durchlaucht genehm ist, seine Mahlzeiten von mir kredenzt zu bekommen.«

    Als würde er mich verstehen, hebt Van Helsing den Kopf, den er in Milas Armbeuge versenkt hatte. Unsere Blicke verhaken sich ineinander. Ich stelle mir vor, wie er mir am liebsten einen Keil in mein Herz treiben möchte, wenn es in seiner Macht stünde. Mila hatte ihn vor vier Jahren angeschleppt, nachdem er sie von der Bushaltestelle im Dorf bis nach Hause verfolgt hatte. Der europäische Kurzhaartigerkater und ich begegnen uns mit Distanz. Mila meint, es liege an meinen Wurzeln, die in den rumänischen Karpaten liegen. Wegen meiner bernsteingelben Augenfarbe halte er mich für einen Vampir. Sie gab dem Kater den Namen Van Helsing nach dem berühmten Vampirjäger aus Bram Stokers Roman, natürlich um mich zu ärgern. Van Helsing ist geblieben. Ich habe ihr verziehen.

    Mila zuckt mit den Achseln. »Keine Sorge, Katzen sind Pragmatiker. Solange du ihm zu fressen gibst, hast du nichts zu befürchten. Er wird dich lieben.«

    Letzteres wage ich nach wie vor zu bezweifeln. Trotzdem halte ich Van Helsing zugute, dass er bisher noch nicht versuchte, mich zu zerfleischen.

    »Was ist das?« Mila nimmt die Karte aus dem Kistchen. »Der französische Botschafter lädt dich zu einem Empfang ein? Nice. Warum?«

    »Die Einladung kommt nicht vom Botschafter selbst, sondern von einer alten Freundin, Françoise Gravier. Sie war mal Botschafterin in Bern, als du klein warst. Sie lädt mich zu einem Empfang morgen in Solothurn ein. Ich habe dir von ihr erzählt.«

    »Ist das die, die dem französischen Präsi ins Ohr flüstert?« Normalerweise ist das etwas, das Mila nicht heftig zu beeindrucken vermag. »Gehst du hin?«

    »Der Anlass dreht sich um einen historischen Vertrag zwischen der Schweiz und Frankreich aus der Zeit vor der Revolution. Wenn du bis morgen bleibst, kannst du mitkommen. Ich darf eine Begleitperson mitnehmen.«

    »Danke, aber nein danke. Deine Françoise würde ich zwar schon mal gern kennenlernen. Voll abgefahren das Ganze. Sie schnippt mit dem Finger, und der Mächtige macht Männchen. Das nenne ich echte Girl Power.«

    »Wenn du es sagst. Hast du alles eingepackt, die Schulsachen, die du mitnehmen willst? Was genau eigentlich?«

    »Nichts Besonderes, ’n paar Sachen zum Lernen und so, falls ich mal Zeit habe.« Sie wechselt das Thema, indem sie meine Hände nimmt und mir in die Augen sieht. »Ich verlasse mich drauf, dass du klarkommst, Mum.«

    Seit ihrem letzten Wachstumsschub überragt sie mich um einen halben Kopf. Ihre Augen sind grün, nicht bernsteinfarben wie meine, ihre Haare heller, fast dunkelblond. Meine weiße Locke habe ich ihr nicht vererbt. Dafür zieht sich eine weiße Strieme von ihrer Schläfe bis über das linke Ohr, die sie neuerdings mit einem Undercut hervorhebt. Vor vier Jahren hatte die Kugel eines Schwerverbrechers ihren Kopf an dieser Stelle gestreift und die Pigmentierung beschädigt. Ich musste es mit ansehen. Wenn man will, kann man dem abgewinnen, dass die gemeinsam ausgestandene Todesangst im Schwarzbubenland uns beide zusammengeschweißt hat. Regelmäßige Zwiste sind nach wie vor ein Bestandteil unserer Mutter-Tochter-Beziehung. Im Vergleich zu früher sind sie weniger aggressiv, eher versöhnlich, in der Regel. Ich lerne immer noch, meiner Tochter zu vertrauen. Mila ist siebzehn, wobei sie bei jeder Gelegenheit betont, fast achtzehn zu sein. Wie Julian werde ich sie bald vollends loslassen müssen. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, den Moment des Auszugs aus dem mütterlichen Nest so lange wie möglich hinauszögern zu können.

    Keine Ahnung, wie ich ohne Mila zurück ins Leben gefunden hätte. Als meine Seele sich in die dunkelste Ecke meines Wesens verkrochen hatte, rettete sie mir im wahrsten Sinn des Wortes das Leben.

    An jenem Abend vor knapp anderthalb Jahren hatten sich alle meine Dämonen gegen mich verschworen. Weder eine ganze Flasche Gin noch die gleichzeitig eingeworfenen Tabletten hatten sie zu vertreiben vermocht. Auf einmal hatte ich die Packung Einwegrasierklingen Marke »Solingen« in der Hand, ein Überbleibsel von Matthias, die ich zuhinterst im Badezimmerschrank gefunden hatte. Der Schmerz des Schnittes, das Blut, welches das Wasser in der Wanne rot färbte, linderten Angst und die Abscheu vor mir selbst.

    Das Virus hatte zu jenem Zeitpunkt die Welt und Milas Volleyballtraining kurzfristig lahmgelegt. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie früher heimgekommen war und mich ausblutend in der vollen Wanne fand. Nach dem ersten Schnitt an meinem rechten Handgelenk war ich weggetreten, ein weiterer glücklicher Umstand. Hätte ich es geschafft, beide Arme aufzuschlitzen, wäre es um mich geschehen gewesen. Daniel vom Staal, den Mila zusammen mit den Rettungssanitätern alarmiert hatte, erzählte mir später, dass sie vierundzwanzig Stunden lang nicht von meinem Spitalbett gewichen war. Julian hatte mit seiner Freundin Lara auf einem Flughafen eines warmen Landes, ich weiß nicht mehr, welches, festgesessen und auf einen verfügbaren Rückflug gewartet.

    Die neuen Wunden ließen alte vernarben. Mila konnte mir verzeihen, ihrem heiß geliebten Vater den Laufpass gegeben zu haben. Ich habe mich endlich damit abgefunden, dass Matthias schon dreimal länger mit Grazyna zusammen ist als mit mir.

    »Mum? Bist du in Ordnung? Kann ich dich allein lassen?«

    »Sicher kannst du das.«

    »Du rufst mich an oder Patty oder Dani, wenn was ist, versprochen?« Mila hat Daniel vom Staal von Anfang an ins Herz geschlossen. Wie ihre Patentante und meine beste Freundin Patrizia Egger macht sie keinen Hehl daraus, dass sie in ihm gern meinen neuen Lebenspartner sehen würde. Nachdem ihr großer Bruder ausgezogen und Matthias mit Grazyna nach Südamerika ausgewandert ist, vermisst meine Papitochter die männliche Bezugsperson.

    »Ich verspreche dir, dass ich dich bald auf dem Pferdehof besuche. Mittlerweile weiß ich auch, wo Muriaux liegt.«

    Das Centre Équestre »Equus« ist für seine »Freiberger« bekannt, die einzige heute noch gezüchtete Schweizer Pferderasse. Mila hat sich in den Kopf gesetzt, nach der Matur Veterinärmedizin zu studieren. Dank Daniels großzügiger Honorierung meiner Nachforschungen zum Verschwinden seiner Frau im Schwarzbubenland konnte ich ihren Unterricht an einer Solothurner Reitschule finanzieren, wo sie sich als Naturtalent im Umgang mit Pferden erwies. Da es zeitlich nicht anders einzurichten war, ermöglichten ihre ausgezeichneten Schulnoten eine Unterrichtsdispens vor den Herbstferien mit der Auflage, den verpassten Stoff in der Freizeit nachzubüffeln. Ihr Schulfranzösisch hatte sie sogar freiwillig aufpoliert.

    »Hast du alles?«

    Sie zeigt auf ihre Reisetasche. »Heb sie mal hoch, du wirst schon sehen.« Sie hält mir die Einladung unter die Nase. »Frag Dani, ob er dich begleitet. Der freut sich bestimmt.«

    Ich schnappe ihr die Karte weg. »Schauen wir mal. Wir sollten fahren, wenn du den Zug nicht verpassen willst.« Außerdem will ich Françoise am Bahnhof Solothurn nicht auf mich warten lassen.

    Ich lege den Umschlag zur Seite. Daniel bitten, mich zu begleiten? Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt hingehe.

    3

    Jean Gravier, Marquis de Vergennes, der 1777 als Gesandter König Ludwigs XVI. in Solothurn residierte, ist ein Urahne von Françoise Gravier. Das erfuhr ich von ihr, nachdem ich sie am Vorabend am Bahnhof Solothurn in Empfang genommen hatte. Dem für sie reservierten Gästezimmer in der Residenz des französischen Botschafters in Bern zog sie die Formlosigkeit meiner Gastfreundschaft vor. Es half mir, die Leere von Milas Abwesenheit zu überbrücken.

    Bei einem Glas Wein hatte mir Françoise erzählt, wie der Marquis am 28. Mai 1777 in Solothurn den Freundschaftsvertrag zwischen dem Königreich Frankreich und der Eidgenossenschaft erneuerte. Ursprünglich diente der erstmals 1521 geschlossene Pakt dazu, den Einfluss der Habsburger auf die Eidgenossen zu vermindern und sie nach und nach vom Deutschen Reich abzunabeln. Dass eine Nachfahrin des Marquis im Namen des Präsidenten der Republik eine Gedenktafel im Ambassadorenhof einweiht, soll als Geste der Verbundenheit der beiden Länder gelten und helfen, über jüngste bilaterale Differenzen in Bezug auf Kampfjetbeschaffung und Steuerprozesse gegen Großbanken hinwegzusehen. Françoise hat mir am Vorabend geschildert, wie sie dem Präsidenten bei einem gemeinsamen Mittagessen dazu geraten hat. Es könne nicht im Interesse Frankreichs liegen, seinen viertgrößten Investor und größten Schaffer französischer Arbeitsplätze im Produktionssektor vor den Kopf zu stoßen. Gut, dass hinter den Boss-Männern Frauen stehen, die ihnen die Prioritäten erklären.

    Ich hätte es wissen müssen. Der ehemalige Regierungsrat Daniel vom Staal fehlt an keinem hochkarätigen Anlass, wenn die Politik involviert ist.

    Die Einweihungszeremonie fand im Ambassadorenhof statt, der ehemaligen Residenz der Gesandten der Bourbonenkönige in der Eidgenossenschaft. Heute ist er Domizil des kantonalen Departementes des Innern. Mit halbem Ohr höre ich einem Redaktor des »Solothurner Tagblattes« zu, der mir seine Urlaubsabenteuer auf einem Vulkan auf Gran Canaria erzählt. Dabei positioniere ich mich so, dass Daniel mich möglichst nicht im Blickfeld hat. Eigentlich verhalte ich mich ihm gegenüber nicht so. Françoise hat mich gestern gefragt, ob ich ein »plus one« mitbringe, worauf ich vage mit den Schultern gezuckt habe. Daniel habe ich nicht gefragt, er mich auch nicht. Das ist aber nicht die Ursache des unbehaglichen Gefühls, das mich bei seinem Anblick beschleicht. Es ist seine Begleitung, die mir einen feinen, aber spürbaren Stich versetzt: hübsch, blond, sichtlich jünger als er – und ich. Warum ich mich gerade verhalte wie ein eifersüchtiger Teenager, kann ich mir selbst nicht erklären. Daniel ist gradlinig und großzügig. Mit ihm könnte ich mir eine Beziehung vorstellen. Möglicherweise hätte es zwischen uns gefunkt, wenn Blutlauenen nicht gewesen wäre und was danach passiert ist. Warum kann ich nicht dort anknüpfen, wo wir davor gewesen waren? Daniel hat mich am tiefsten Punkt in meiner persönlichen Hölle erlebt, in der ich nichts anderes mehr verkörpern konnte als Wut und Angst. Dafür schäme mich heute noch vor ihm … und vor mir selbst. Ich liebe diesen Mann. Doch selbst wenn er in Mila die bestmögliche Fürsprecherin hat, wird es eine Weile dauern, bis ich mich ihm gegenüber wieder öffnen kann.

    Das hindert mich keineswegs daran, eifersüchtig zu sein.

    Der Ambassadorenhof liegt auf der obersten Stelle einer Anhöhe, auf deren zur Aare abfallenden Südflanke sich die Altstadt ausbreitet. In Tat und Wahrheit residierten die Abgesandten der französischen Könige über den Solothurner Regenten im Rathaus gegenüber. Eine aufschlussreiche Tatsache, was die damaligen Machtverhältnisse betrifft. Ein Gedanke, den ich besser für mich behalte. Meine Eltern flüchteten in den Sechzigern vor dem Diktator Ceausescu in die Schweiz. Zu der Zeit war Moskau de facto die Hauptstadt Rumäniens gewesen. Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert war es Paris oder besser Versailles für die Solothurner und ihre Miteidgenossen.

    Schönes Wetter und milde Temperaturen erlauben ein Buffet unter freiem Himmel im grünen Geviert des Innenhofes. Die reichhaltige Auswahl der Speisen und der Weine, darunter ein edler Champagner, lässt den Schluss zu, dass die Rechnung vom französischen Staat übernommen wird und nicht vom in dieser Beziehung stets klammen Kanton Solothurn.

    Alle und jeder, denen man jeweils an solchen Anlässen über den Weg läuft, sind auch hier zu finden. Zwei Stehtische von mir entfernt unterhält sich Françoise mit der Regierungspräsidentin des Kantons Solothurn, die sie korrekt mit Frau Landammann anredet. Daneben steht der französische Botschafter im Gespräch mit dem Staatssekretär des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten und einem Solothurner Ständerat. Für die Sicherheit sorgen an den Zugängen platzierte Uniformierte der Kantonspolizei. In der Nähe der VIPs stehen zwei Männer und eine Frau in Zivil mit Knopf im Ohr. Ich tippe auf den für die Sicherheit ausländischer Würdenträger zuständigen Bundessicherheitsdienst.

    Ich wage einen Blick in die entgegengesetzte Richtung, wo sich Daniel und seine Begleiterin angeregt mit Vertreterinnen des Kantonsparlamentes unterhalten, bis mich eine Berührung am Oberarm zusammenzucken lässt.

    »Na, na.« Patrizia Egger gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Erwische ich dich gerade bei etwas Verruchtem? Unkeusche Gedanken beim Anblick meines Chefs?«

    Ich umarme sie. »Hab dich vermisst, Patty. Seit wann bist du zurück?«

    »Gestern Abend, direkt von London. Grenzüberschreitende Sorgerechtsverhandlungen sind immer so eine Sache.«

    »Konntet ihr euch einigen?«

    »Sieht so aus. Für einen Monat betreut sie die beiden Katzen, während er sich um den Hund kümmert. Dann wird geswitcht.«

    »Was? Es ging um Tiere?«

    »Emotionale Bindungen bauen sich auch zu Lebewesen mit mehr als zwei oder keinen Beinen auf. Stell dir vor, Matthias erhebt Anspruch auf Van Helsing.«

    »Den würde ich ihm noch so gern überlassen«, entgegne ich achselzuckend. »Überhaupt müsste er sich darüber mit Mila streiten. Van Helsing gehört ihr. Für das Viech bin ich nur Personal, zuständig für die Fütterung sowie die Entsorgung toter Mäuse und Vögel, die er ständig anschleppt. Ich würde nicht in Matthias’ Haut stecken wollen, wenn es

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