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234 D IRK H ARTWIG DIRK HARTWIG Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge der kritischen Koranforschung Perspektiven einer modernen Koranhermeneutik This article traces the beginnings of critical Qur’anic Studies to the nineteenth-century scholars of the so-called Science of Judaism school (Wissenschaft des Judentums). Until the 1930s, when the rise of the Nazis violently suppressed Jewish scholarly activities in Germany and elsewhere, generations of scholars such as Abraham Geiger, who is better known as an early leader of the Jewish Reform Movement, dedicated their lives to the study of the Qur’an and established a new discipline: Qur’anic Studies. These scholars, in many ways pioneers in their fields, authored a series of significant studies that contextualized the foundational documents of Islam with Rabbinic literature and were the first to undertake an unbiased study of early Islamic writings. Zur Erinnerung an Dr. Dieter Adelmann (gestorben am 30. September 2008) I. Der Beginn der Auseinandersetzung mit dem Koran geht zurück in die Zeit der ersten Konfrontation zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, zumeist Christen. Religionsdiskurse bestimmten nicht nur die Entstehung des Islam, der in seinen Anfängen von den christlichen Zeitgenossen einstimmig als eine Variante der christlichen Lehre und keinesfalls als eine fremde Religion wahrgenommen wurde – so hielt Johannes von Damaskus (650-754) die Lehre Mu ammads bezüglich der Christologie für eine christliche Häresie arianischer Prägung 1 –, sondern brachten seit jeher bittere Polemiken hervor. Mit den blutigen Kreuzzügen erstarkte das Interesse am Islam und seinem Gründungsdokument, da man seine vermeintlich spirituelle Überlegenheit widerlegen wollte, die den Muslimen zu Teilsiegen verholfen hatte. Bereits im Jahre 1143 wurde die erste Übersetzung des Korans von Robert Ketenensis2 ins Lateinische angefertigt, die für Jahrhunderte die Basis jeder Beschäftigung mit dem Koran bildete. Erst die Übersetzungen von André du Ryer (ca. 1599-1672; Französisch: 1647) und Ludovico Marracci (1612-1700; Lateinisch: 1698) ersetzten diese Übersetzung im 17. Jahrhundert und bildeten einen Ausgangspunkt für die Erforschung islamischer Glaubenslehren.3 Erst zur dieser Zeit, der Zeit der sich vollziehenden Auf1 Vgl. hierzu Daniel J. Sahas, John of Damascus on Islam: The „Heresy of the Ishmaelites“, Leiden 1972; Robert G. Hoyland, Seeing Islam As Others Saw It: A Survey and Evaluation of Christian, Jewish and Zoroastrian Writings on Early Islam, Princeton 1997. 2 Vgl. Thomas E. Burman, Tafsir and Translation: Traditional Arabic Quran Exegesis and the Latin Qurans of Robert of Ketton and Mark of Toledo, in: Speculum 73 (1998), S. 703-732; ders., Reading the Qur’an in Latin Christendom, 1140-1560, Philadelphia 2007; John V. Tolan, Saracens: Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002, S. 135-169. 3 Vgl. Hartmut Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa, Beirut/Stuttgart 1995. © Koninklijke Brill NV, Leiden Also available online - www.brill.nl ZRGG 61, 3 (2009) Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 235 klärung, erstarkte das Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Koran und den islamischen Traditionen, obgleich dem Islam weiterhin nicht mit Wohlwollen und Achtung begegnet wurde (vgl. z. B. Voltaire oder Montaigne). Der Koran ist aber nicht nur das Gründungsdokument des Islam, sondern – wie hier behauptet werden soll – auch Teil des kulturellen Erbe Europas. Gegenwärtig erregt der Koran mehr und mehr das Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dabei sind die Zugänge naturgemäß verschieden: Für Muslime stellt der Koran das immer gültige Gotteswort dar, das der Tradition zufolge dem Propheten Mu ammad in den Jahren 610-632 offenbart wurde. Der Koran versteht sich als letztverbindliche Offenbarung Gottes, die den Menschen an den vorzeitlichen Bundesschluss (mithāq) mit Gott erinnern soll, der den Menschen auf den Monotheismus (tawhīd) einschwört.4 Um dieses monotheistische Zeugnis und die zwangsläufig folgende „Unterwerfung unter den Willen Gottes“ (islām) manifestiert sich sukzessive bereits während der Verkündigung eine eigene islamische Heilsgeschichte, bestehend aus Straflegenden älterer Völker, die in der Transformation zu einem Gottesvolk gipfelt. Für den europäischen Leser hingegen, der sich eher in jüdisch-christlichen Traditionen zuhause weiß, ist der Koran auf weite Strecken eine Relektüre biblischer Texte. Diese Relektüre wird häufig als verfälscht oder unzureichend wahrgenommen, da unter anderem die Geschichten um den biblischen Erzvater Abraham, aber auch die Geschichten seiner Söhne und Sohnessöhne bis hin zu Maria und Jesus mit auffallenden Abweichungen erzählt werden. Als innovatives Zeugnis einer neuen religiösen Bewegung gelesen, ist der Koran jedoch keineswegs nur eine zweitklassige Wiederholung von althergebrachten Offenbarungen, ein epigonales Machwerk, sondern eine Neuverhandlung theologischer Fragestellungen, die während der Spätantike virulent waren.5 Hinderlich an dieser Wahrnehmung ist die Perspektive westlicher Forschung, die immer wieder bei der Person Mu ammad ansetzt und, statt sich mit der Entwicklung der Gemeinde zu befassen, ein Psychogramm des arabischen Propheten zeichnet, nach dem er aus politischen Erwägungen und Gefühlsanwandlungen das eine oder andere an den Traditionen der Vorgängerreligionen verändert habe.6 In teilweise polemischer und apologetischer Weise werden der Koran und sein Ver4 S. hierzu Dirk Hartwig, Der Urvertrag (Q 7:172) – ein rabbinischer Diskurs im Koran, in: Dirk Hartwig/Walter Homolka/Michael J. Marx/Angelika Neuwirth (Hg.), „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Würzburg 2008, S. 191-202. 5 Vgl. Johann Fück, Die Originalität des arabischen Propheten, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 90 (1936), S. 509-525, Neudruck in ders., Arabische Kultur und Islam im Mittelalter. Ausgewählte Schriften, hg. von M. Fleischhammer, Weimar 1981, S. 142-152. 6 Vgl. z. B. Rudi Paret, Mohammad und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart 1957; Johan Bouman, Der Koran und die Juden. Die Geschichte einer Tragödie, Darmstadt 1990. 236 D IRK H ARTWIG künder kritisiert, was sich allein an den Bucherscheinungen der vergangenen Dekade ablesen lässt. Es ist daher kein Wunder, dass der Koranforschung außerhalb Europas keine große Achtung, ja, nicht einmal Interesse entgegengebracht wird. So kritisiert beispielsweise Parvez Manzoor die westliche Koranforschung: „The Orientalist enterprise of Qur’ānic studies, whatever its other merits and services, was a project born of spite, bred in frustration and nourished by vengeance: the spite of the powerful for the powerless, the frustration of the ‚rational‘ towards the ‚superstitious‘ and the vengeance of the ‚orthodox‘ against the ‚non-conformist‘. At the greatest hour of his worldlytriumph, the Western man, coordinating the powers of the State, Church and Academia, launched his most determined assault on the citadel of Muslim faith.“7 So läuft jede Auseinandersetzung mit dem Koran, der arabisch-islamischen Literatur und dem Islam allgemein Gefahr, als „orientalistische“ Entstellung verstanden zu werden. Und in der Tat sind einige zeitgenössische Studien zum Koran und der Frühzeit des Islam angefüllt mit Polemik,8 die den christlich motivierten Polemiken der Vormoderne an Intensität in nichts nachstehen; so wurde dem Koran zum Beispiel eine „schauerliche Öde“ angedichtet 9 – und auch Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der von den literarischen Erträgen der islamischen Zivilisation durchaus angetan war,10 schrieb, dass der Koran ein Buch sei, „das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt“.11 Erst im 19. Jahrhundert wurde dem Koran die wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt, die einem (heiligen) Buch zukommt, das von Millionen Menschen verehrt und als Gotteswort verstanden wird. 7 S. Parvez Manzoor, Method Against Truth: Orientalism and Qur’ānic Studies, in: Muslim World Book Review 7 (1987), S. 33-49. 8 Ein gutes Beispiel ist Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000, die weitgehend auf der weniger im Rampenlicht stehenden Studie von Günter Lühling, Kritisch-exegetische Untersuchung des Qur’antextes, Erlangen 1970, basiert; und ders., Über den Ur-Qur’an. Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Qur’an, Erlangen 1974. Mit ähnlicher Stossrichtung: Karl-Heinz Ohlig/Gerd-Rüdiger Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005; Karl-Heinz Ohlig, Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007; Markus Groß/Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Schlaglichter: Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Berlin 2008. 9 Siehe Stefan Wild, „Die schauerliche Öde des heiligen Buches“. Westliche Wertungen des koranischen Stils, in: Alma Giese/Johann Chr. Bürgel (Hg.), Gott ist schön und Er liebt die Schönheit, Frankfurt am Main 1994, S. 429-447. 10 Vgl. Katharina Mommsen, Goethe und der Islam, Frankfurt am Main 2001. 11 Zitiert nach Stefan Leder, „Die Botschaft Mahomets und sein Wirken in der Vorstellung Goethes“, in: Oriens 36 (2001), S. 234. Es muss dazu gesagt werden, dass Goethes Verhältnis zum Koran durchaus gespalten war, so paraphrasierte er nicht nur arabische und persische Dichtung auf höchst poetische Weise, sondern auch den Koran. So in seinem Gedicht „Talismane“, wo er auf Q 2:115 und Q 2:142 Bezug nimmt. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 237 Es waren jüdische Gelehrte, zumeist aus der neugegründeten „Wissenschaft des Judentums“ und ihrem geistigem Umfeld, die dem Koran mehr Respekt entgegen brachten als ihre christlichen Zeitgenossen, da sie sich aus „rein wissenschaftlicher Neugierde“ dem Koran näherten und „nicht aus apologetischer Selbstbestätigung in einer judenfeindlichen Umwelt“.12 Es waren gerade jene jüdischen Gelehrten, die den Koran in einen historischen Diskurs überführten, wie sie es – gegen alle Kritik – auch mit den Texten der jüdischen Tradition zu tun pflegten.13 Wenn wir versuchen, die Anfänge der modernen Orientalistik und genauer der Koranforschung zu verorten, so kommen wir nicht umhin, einen Blick auf die moderne Orientalistik zu werfen, die sich seit der Gründung des Ecole spéciale des langues orientales vivantes im Jahre 1795 in Europa verbreitete. Das Institut wurde schon bald von Antoine Isaac Silvestre de Sacy (1758-1838) vertreten, der gemeinhin als Begründer der modernen Orientalistik gilt. Seine wohl bedeutendsten deutschen Schüler waren John M. A. Scholz (1794-1852), Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888), und Johann Gustav Stickel (1805-1877). 14 Unter dem Einfluss der französischen und der erstarkenden deutschen Schule fand die Orientalistik weite Verbreitung und erstreckte sich schon bald über die universitären Kreise hinaus und erfasste auch die entstehende „Wissenschaft des Judentums“. Die „Wissenschaft des Judentums“ bezeichnet eine deutsch-jüdische Wissenschaftstradition aus der Zeit zwischen 1817-1942,15 die das intellektuelle Ringen des Judentums mit Tradition und Moderne dokumentiert.16 Ihre Zentren – Ausstrahlungen waren spürbar von Frankreich und Italien bis in die USA – waren die Hochschule für die „Wis12 S. Angelika Neuwirth, „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, in: Hartwig et al. (Hg.), „Im vollen Licht der Geschichte“ (wie Anm. 4), S. 27; Susannah Heschel, Abraham Geiger and the Emergence of Jewish Philoislamism, in: ebd., S. 65-86. 13 Vgl. Ismar Schorch, From Text to Context: The Turn to History in Modern Judaism, Hanover 1994. 14 Vgl. Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955; Rudi Paret, Arabistik und Islamkunde an deutschen Universitäten, Wiesbaden 1966; Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. 15 Zum Begriff vgl. Immanuel Wolf, On the Concept of a Science of Judaism (1822), abgedruckt in: Leo Baeck Institute Year Book (LBIYB) 2 (1957), S. 194-202; Abraham Geiger, Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, in: ders., Nachgelassene Schriften, Bd. II, Frankfurt am Main 1875, S. 233-242; Siegfried Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1935), S. 1-35. 16 Vgl. Michael Meyer, Response to Modernity: A History of the Reform Movement in Judaism, New York 1988; Jacob Katz, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, München 2002; 17 Vgl. Heinz H. Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869-1900, in: Trumah 2 (1990), S. 24-46; vgl. auch Israel O. Lehman, Lehrer und Schüler an der Hochschule der Wissenschaft des Judentums in Berlin, St. Gallen 1972. 238 D IRK H ARTWIG senschaft des Judentums“ in Berlin 17 und das „Breslauer Seminar (Jüdisch-Theologisches Seminar Fraenckelscher Stiftung)“,18 die sich durch historisch-kritische Methoden und Interdisziplinarität auszeichneten. Die intellektuelle Stoßrichtung der „Wissenschaft des Judentums“ entsprang den Anforderungen der Neuzeit und brach mit dem klassischen jüdischen Lehrsystem, wo das traditionelle religiöse Lehrhaus (hebr. Yeschiva) die eigentliche „hohe Bildung“ vermittelte. Einher ging die Erweiterung des Curriculums um säkulare Disziplinen, insbesondere der Historiographie und der Philosophie. Neben dem jüdischen Schrifttum widmeten sich eine ganze Reihe von „designierten Rabbinern“ daher auch der Islam- und Koranforschung (z. B. Abraham Geiger, Gustav Weil, Ignaz Goldziher, Josef Horovitz und Heinrich Speyer), Indologie (z. B. I. Scheftelowitz) und Vergleichender Religionswissenschaft (z. B. I. Scheftelowitz, L. Gulkowitsch). Mit der Schließung der Hochschule der „Wissenschaft des Judentums“ im Jahre 1942 (in Breslau schon 1938) durch das nationalsozialistische Regime wurde diese große deutsch-jüdische Wissenschaftstradition gewaltsam abgebrochen, eine Überführung dieser Wissenschaftstradition nach Palästina scheiterte,19 und auch in den Vereinigten Staaten ist der Bruch bis heute spürbar. Die vielen Arbeiten zum Islam und insbesondere zum Koran gerieten weitgehend in Vergessenheit. So sind zwar die wegweisenden Werke von Ignaz Goldziher, der oft als Gründerfigur der Islamwissenschaft angeführt wird, bekannt – beispielsweise „Vorlesungen über den Islam“ (1910), „Muhammedanische Studien“ (1889/90), „Die Richtungen der islamischen Koranauslegung“ (1920) – , aber dass die „Wissenschaft des Judentums“ gleichsam als Gründerdisziplin einer kritischen Koranforschung gelten kann, deren Anfänge auf Abraham Geigers preisgekrönte Schrift „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ (1833) und Gustav Weils „Historisch-kritische Einleitung in den Koran“ (1844) zurückgehen,20 wird in der Wissenschaftsgeschichte selten wahrgenommen. Auf sie folgten Generationen von jüdischen Gelehrten, die sich auch mit dem Koran und dem Islam befassten, die kaum bekannt sind, z. B. Isaac Gastfreund, Moritz Wolff, Hartwig Hirschfeld, Jacob Barth, Israel Schapiro, Rudolf Leszynsky, Joachim W. Hirschberg, Fritz Goitein und Dawid H. Baneth. 18 Vgl. Guido Kisch (Hg.), Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenkelsche Stiftung) in Breslau 1854-1938. Gedächtnisschrift, Tübingen 1963; Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel: Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Hildesheim/New York 2000. 19 Vgl. Hava Lazarus-Yafeh, The Transplantation of Islamic Studies from Europe to the Yishuv and Israel, in: Martin Kramer (Hg.), The Jewish Discovery of Islam: Studies in Honor of Bernard Lewis, Tel Aviv 1999, S. 249-260; vgl. auch Robert Jütte, Die Emigration der deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums“. Die Auswanderung jüdischer Historiker nach Palästina 1933-1945, Stuttgart 1991. 20 Chaim [Hans] Noll, Jüdische Sichtweisen auf den Koran, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), pp. 1020-1036; vgl. auch Hartwig et al, „Im vollen Licht der Geschichte“ (wie Anm. 4); neuerdings auch Angelika Neuwirth, Eine „europäische Lektüre des Koran“ – Koranwissenschaft in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, in: Simon Dubnow Institute Yearbook (DIYB) 7 (2008), S. 261-283. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 239 II. Die „Wissenschaft des Judentums“ ist im engeren Sinne eine Bewegung des 19. Jahrhunderts. Sie wurde durch Leoplod Zunz‘ (1794-1886) programmatische Schrift „Etwas über die rabbinische Literatur“ (1818) ins Leben gerufen,21 sowie durch den kurz darauf von ihm und Eduard Gans (1797-1839) gegründeten „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ (1819),22 und die von ihm herausgegebene „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums“ (1822/23). Mit diesen Bestrebungen wurde das historische Bewusstsein zur Basis der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem jüdischen Schrifttum. Das wohl erste und zugleich wichtigste Werk dieser Bewegung „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ (1832)23 stammte ebenfalls aus der Feder von Leopold Zunz und behandelte die rabbinische Literatur erstmals in kritischer Weise, so dass diese in der Folge den orthodoxen Kreisen entzogen und eine historisch Beschäftigung mit dem Quellen der jüdischen Tradition eingeläutet wurde, die auch auf anderer universitäre Disziplinen (Theologie, Religionsgeschichte, Philosophie, Islamwissenschaft, Indologie) hinüber wirkte. Die Aneignung der historisch-kritischen Methode zielte auf eine Veränderung der jüdischen Tradition, eine Anpassung and die Bedürfnisse der Gegenwart – und die jüdische Reformbewegung ist wohl das nachhaltigste Resultat dieses Bemühens. Das Verharren in einer reinen Wissenschaftlichkeit war es auch, was den Juden den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft ermöglichen sollte. Die historisch-kritische Methodik, die erstmals von dem katholischen Geistlichen Richard Simon (1638-1712) angewandt wurde, unterscheidet in ihrer heutigen Form sechs Methodenschritte: (1) Textkritik, (2) Literarkritik, (3) Form- und Gattungskritik, (4) Motiv und Traditionskritik, (5) Überlieferungskritik und (6) Kompositions- und Redaktionskritik.24 Die Übertragung der verschiedenen Methodenschritte dieser Form der Exege21 Vgl. Nils H. Römer, Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany: Between History and Faith, Madison 2005; Schorch, From Text to Context (wie Anm. 13). 22 Siehe auch Sinai [Siegfried] Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums. Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1935), S. 1-34; Henri Soussan, The Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, 1902-1915, in: LBIYB 46 (2001), S. 175-194. 23 Siehe Leopold Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt. Ein Beitrag zur Alterthumskunde und Biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte, Berlin 1832; ders., Der Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt, Berlin 1859. 24 Vgl. Hierzu Christoph Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, München 1998, insbes. S. 56-63; ders./Günther Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996; Wolfgang Richter, Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971. Zum Neuen Testament vgl. auch Klaus Berger, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, Heidelberg 31991. 25 Vgl. John Wansbrough, Quranic Studies: Sources and Methods of Scriptural Interpretations, Oxford 1977; ders., The Sectarian Milieu: Content and Composition of Islamc Salvation History, Oxford 1978; Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der 240 D IRK H ARTWIG se auf den Koran förderte, wie bereits erste Untersuchungen zeigten,25 interessante Lesungen zutage, da durch sie die Genese des Korans sichtbar wurde und die vielfältigen Religionsdebatten wieder gehört wurden. Es geht dabei nicht um eine triumphale Lektüre, die sich über die traditionelle islamische Lesart erhebt, sondern um eine Lektüre, die um ein besseres Textverständnis ringt. Sie steht einer kanonischen Lesart, wie sie vor allem im anglo-amerikanischen Raum vertreten wird, nicht kämpferisch gegenüber, sondern versteht sich als Ergänzung. Ähnliche Prozesse mussten auch die christlichen Kirchen über sich ergehen lassen, wobei allerdings die historische Methode erst im Jahre 1943 durch die Enzyklika „Divino afflante Spiritu“ Papst Pius‘ XII. offiziell anerkannt wurde.26 Die Anwendung der historisch-kritischen Methode war eines der Hauptanliegen der „Wissenschaft des Judentums“ und das Hinüberführen des Judentums in die Moderne – das wohl nachhaltigste Ergebnis ist die jüdische Reformbewegung, die jüdische Gesetze und Bräuche als zeitbedingt und einer gewissen Entwicklung unterworfen sah.27 Der Beitrag der „Wissenschaft des Judentums“ für die Disziplinen innerhalb der Judaistik (Jüdische Studien), Philologie, Historiographie, Philosophie, Midrasch- und Talmudforschung (insbesondere durch die Veröffentlichung kritischer Editionen) steht außer Frage und wird zunehmend erforscht, jedoch steht die wissenschaftsgeschichtliche Auswertung der (Vor-)Arbeiten der „Wissenschaft des Judentums“ zur Islamforschung und insbesondere zur Koranforschung noch aus. Die ersten jüdischen Gelehrten, die sich dem Koran widmeten, waren der berühmte Reformrabbiner Abraham Geiger (1810-1874)28 und der weit weniger bekannte Islamwissenschaftler Gustav Weil (18081889). Beide entstammten der jüdischen Tradition und wurden von frühester Jugend für eine rabbinische Karriere bestimmt, wobei ersterer tatsächlich Rabbiner der neubegründeten jüdischen Reformbewegung wurde. mekkanischen Suren, Berlin/New York 1981 (Nachdruck 2007 mit neuer Einleitung); dies., Erzählen als kanonischer Prozess. Die Mose-Erzählung im Wandel der koranischen Geschichte, in: Rainer Brunner et al. (Hg.), Islamstudien ohne Ende – Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 323-344; dies., „Oral Scriptures“ in Contact: The Qur’ānic Story of the Golden Calf and its Biblical Subtext between Narrative, Cult, and Inter-communal Debate, in: Stefan Wild (Hg.), Self-Referentiality in the Qur’ān, Wiesbaden 2006, S. 71-91. 26 Pius XII., Über die heilige Schrift: Rundschreiben Divino afflante Spiritu, Klosterneuburg 1946, siehe auch Robert B. Robinson, Roman Catholic Exegesis Since Divino Afflante Spiritu: Hermeneutical Implications, Atlanta 1988. 27 Vgl. Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums. Die Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992. 28 Siehe Hartmut Bomhoff, Abraham Geiger: Durch Wissen zum Glauben, Teetz 2006; Ken Koltun-Fromm, Abraham Geiger’s Liberal Judaism: Personal Meaning and Religious Authority, Bloomington 2006; Jacob Lassner, Abraham Geiger: A Nineteenth-Century Jewish Reformer on the Origins of Islam, in: Kramer, The Jewish Discovery (wie Anm. 19), S. 103-135. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 241 Abraham Geiger legte 1833 mit seiner Preisschrift „Was hat Mo ammed aus dem Judenthume aufgenommen?“29 das erste historisch-kritische Werk zum Koran vor und versuchte darin, die Abhängigkeit des Korans von der jüdischen Aggada in Talmud und Midrasch nachzuweisen, und zwar im Sinne einer „wahren Wissenschaftlichkeit“,30 wobei er sich auf die Ergebnisse der Zunz’schen Forschung stützte. Die Bedeutung dieses Werkes für die Koranforschung, oder besser für ihre Inaugurierung, kann heute nicht genug hervorgehoben werden. In seiner Tradition stehen eine Anzahl weiterer Wissenschaftler aus der Schule der „Wissenschaft des Judentums“, die alle auf Abraham Geiger aufbauen und sich in der Methodik auf ihn berufen. Ganz im Gegensatz zu heutigen Koranforschung standen Geiger damals wenige Hilfsmittel zur Verfügung: die rabbinischen Werke lagen noch lange nicht in kritischen Ausgaben vor, und die Datierung der Midraschim und ihre Auswertung standen noch aus. Was war nun aber Geigers Methodik, und was war sein noch heute wegweisender Ansatz? Im Vorwort seiner (ursprünglich auf Lateinisch geschriebenen) Preisschrift geht Geiger genauer darauf ein, und auch manche zeitgenössische Studie täte gut daran, sich daran zu orientieren, denn Geigers Augenmerk war ausschließlich auf den Koran gerichtet – die weitläufige arabische Kommentarliteratur stand ihm nicht zur Verfügung, was er später als positiv empfand; so schreibt er in der Vorrede zu der revidierten Ausgabe von 1902: „Die Hülfsmittel, mit denen ich diese Arbeit unternahm, waren blos der nackte arabische Text [...] Ich hatte dadurch den Vortheil, den Blick frei zu haben und nicht gerade theils durch die Brille arab. Commentare die Stellen anzusehn, theils auch die Ansichten späterer Dogmatiker und die Erzählungen ihrer Historiker im Koran finden zu wollen“.31 Und tatsächlich behindert das durch den späteren Kommentar gefärbte Narrativ das Koranverständnis, zumindest auf historisch-kritischer Ebene. Besonders die anglo-amerikanische Koranforschung verfolgt eine kanonische Schriftauslegung – im Gegensatz zum historisch-kritischen Ansatz – und orientiert sich an der islamischen Kommentarliteratur. Für schwerverständliche Passagen werden zumeist die frühen Überlieferungen ( adīth und tafsīr) befragt.32 Das erweist sich als Trugschluss, 29 Abraham Geiger, Inquiratur in fontes Alcorani seu legis Mohammedicae eas qui ex Judaismo derivandi sunt, 1832; ders., Was hat Muhammad aus dem Judenthume aufgenommen? Eine von der Königl. Preussischen Rheinuniversität gekrönte Preisschrift, Bonn 1833, 2. Auflage Leipzig 1902 (Nachdruck Berlin 2004 mit einem Vorwort von Friedrich Niewöhner). – Geigers Frage wurde aber auch schon zuvor behandelt: D. Mill, Oratio inauguralis de Mohammedanismo e veterum Hebraeorum scriptis magna ex parte composite, Utrecht 1718. 30 Geiger, Muhammad (wie Anm. 29), S. V. 31 Ebd. 32 Vgl. Herbert Berg, The Development of Exegesis in Early Islam: The Authenticity of Muslim Literature from the Formative Period, Richmond 2000; Gordon D. Newby, The Development of Qur‘an Commentary in Early Islam in its Relationship to Judaeo-Christian Traditions of Scriptural Commentary, in: Journal of the American Academy of Religion 47 (1980), S. 685-697. 242 D IRK H ARTWIG denn eine solche Lektüre wird dem Koran in seiner historischen Dimension nicht gerecht. Zwar kann das hermeneutische Verständnis der islamischen Traditionsliteratur, die Verstehensarbeit von Generationen, für eine Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte mit Gewinn herangezogen werden, aber es verstellt nicht selten den Blick auf eine Lektüre des Korans in seinem historischen Kontext; die Neuverhandlung jüdischer und christlicher theologischen Themen verschwindet so gänzlich aus dem Bewusstsein, nicht nur des muslimischen Gläubigen, sondern auch der akademischen Gemeinschaft. Zwar finden wir in der Frühzeit der Kommentarliteratur viele Zitate aus der rabbinischen Literatur (Midrasch und Talmud) zur Erklärung des Korans, so zum Beispiel in az-Zamakhsharīs (gest. 1144) al-Kashshāf ‘an aqā’iq ghawāmiŸ attanzīl, jedoch erscheint hier ein durch die Exegese geformter Koran, der nicht in seiner historischen Dimension erkannt wird. Die Aufdeckung solcher Bezugnahmen auf frühere Texte, insbesondere jene, die nicht von den Kommentaren verfolgt wurden, war ein Anliegen Geigers, der die Genese des Korans vor der Hintergrund jüdischer Legenden annahm. Aber gerade dies unterstreicht auch schon die Prämisse der Geiger’schen Studie, Mu ammad habe aus dem Judentum aufgenommen. Der Koran ist bei Geiger und seinen Nachfolgern weiterhin ein „epigonaler Text aus der Feder eines nur mäßig gebildeten Autors“,33 wie Angelika Neuwirth ausdrücklich betont: „Nicht mangelnde Kritik an der Einheit des Korans, an der Vorstellung des auf eine einzig formende Hand zurückführbaren Textes oder an der Historizität Mu ammads ist Geiger und seinen Nachfolgern vorzuwerfen“, sondern „die hier praktizierte Lektüre des Textes vor dem Hintergrund der theologischen Diskussionen seiner Zeit ist bis heute für den – nicht auf der Grundlage der großen islamischen Tradition stehenden – westlichen Forscher noch immer der seriöseste und konstruktivste Weg zur Erschließung des Textes“.34 Die Inaugurierung der Koranforschung verdankt sich nicht allein Abraham Geiger. Etwa zehn Jahre später, im Jahre 1844, legte Gustav Weil, der gleichfalls ein Schüler von de Sacy war, eine grundlegende Studie zum Koran vor, in der er die ersten Pfade einer historischen Koranbetrachtung beschritt. 35 Erstmals hat Bernhard Lewis auf die Bedeutung Gustav Weils in seinem wenig beachtetem Essay The ProIslamic Jews 36 hingewiesen. Die Bedeutung Weils wird von Lewis folgendermassen zusammengefasst: 33 S. Angelika Neuwirth, „Im vollen Licht der Geschichte (wie Anm. 12), S. 30. Ebd. 35 Gustav Weil, Historisch-kritische Einleitung in den Koran, Bielefeld 1844, 2. rev. Auflage 1878; ders., Mohammed der Prophet, sein Leben und seine Lehre: aus handschriftlichen Quellen und dem Koran geschöpft und dargestellt, Stuttgart 1843. 36 Bernard Lewis, The Pro-Islamic Jews, in: Judaism 17 (1968), S. 391-404; neu abgedruckt in Bernard Lewis, Islam in History: Ideas, People, and Events in the Middle East, New Edition, Revised and Expanded, Chicago/La Salle 32002, S. 137-151. 34 Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 243 „In 1843 he published his first major work – on the life and teachings of the Prophet Mu ammad. There had been many biographies of Mu ammad in Europe; Weil’s was the first that was free from prejudice and polemic, based on a profound yet critical knowledge of the Arabic sources, and informed by a sympathetic understanding of Muslim belief and piety.“37 Und tatsächlich legte Weil nur ein Jahr später die erste „wissenschaftliche“ Einleitung in den Koran vor, die auf Anfrage vom Verlag Velhagen und Klasing angefertigt und die der in diesem Hause erschienen Koranübersetzung von Ludwig Ullmann (1844) beigefügt wurde.38 Die Historisch-kritische Einleitung Weils kann gleichsam als Beginn der modernen Koranforschung aufgefasst werden, da in ihr zum ersten Mal auf die koranische Chronologie (Surenchronologie) verwiesen wurde, die in der arabischen Tradition selbst eine entscheidende Rolle spielt,39 und die in der heutigen Koranforschung viel zu wenig beachtet wird, der der Koran als auktorialer Text aus einem Guss erscheint, der sich jeder historisierenden Betrachtung entzieht. Gleich den „orthodoxen Muslimen“ zeichnet sie einen zeitlosen und immer gültigen Korantext. Dabei ist das Gründungsdokument des Islam ebenso wenig einer historischen Entwicklung entzogen wie die Hebräische Bibel40 oder das Neue Testament, eine Einsicht, die sich, wie bereits betont, auch erst in jüdischen und christlichen Kreisen durchsetzen musste. Die von Weil vorgeschlagene Chronologie – die später von Nöldeke und Schwally ausgearbeitet wurde – ordnet die Suren nach wissenschaftlichen (historisch-kritischen) Gesichtspunkten in vier Perioden ein, früh-, mittel-, spätmekkanisch und medinisch. Auf der Basis dieser Chronologie fertigte Richard Bell in den Jahren 1937 bis 1939 eine Übersetzung des Korans41 an, die die Suren und Verse gemäß einer von ihm revidierten Chronologie neu arrangierte, und so erstmals einen Koran in der Abfolge der Offenbarung zu rekonstruieren versuchte, einen Koran, den es so nie gegeben hat, und der infolgedessen von der modernen Koranforschung zunehmend verworfen wird. 37 Ebd., S. 142. Der Koran, aus dem Arabischen wortgetreu neu übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen versehen von Dr. L. Ullmann, 3., mit Stereotypen gedruckte Auflage, Bielefeld 1844. 39 Siehe dazu Tilman Nagel, Medinensische Einschübe in mekkanischen Suren, Göttingen 1995. Siehe auch Gerhard Böwering, Chronology in the Qur’ān, in: Encyclopaedia of the Qur’ān, Vol. I, S. 315-335. Ein Beispiel für die Bedeutung des Sachverhalts liefert Angelika Neuwirth, Meccan texts – Medinan additions? Politics and the re-reading of liturgical communications, in: Rüdiger Arnzen/J. Thielmann (Hg.): Words, texts, and concepts cruising the Mediterranean Sea. Studies on the sources, contents and influences of Islamic civilization and Arabic philosophy and science. Dedicated to Gerhard Endress on his sixty-fifth birthday, Leuven 2004, S. 71-93. 40 Vgl. hierzu exemplarisch Mark S. Smith, Biblical Narrative Between Ugaritic and Akkadian Literature, in: Revue Biblique 114 (2007), Part I: Ugarit and the Hebrew Bible: Consideration of Comparative Research, S. 5-29, Part II: Mesopotamian Impact on Biblical Narrative, S. 189-207. 41 Richard Bell, The Qur’an Translated with a Critical Re-Arrangement of the Surahs, 2 Vols., Edinburgh 1937-1939. Siehe dazu auch Andrew Rippin, Reading the Qur’an with Richard Bell, in: Journal of the American Oriental Society 112 (1992), S. 639-647. 38 244 D IRK H ARTWIG Mit den Studien von Abraham Geiger und Gustav Weil wurde nicht nur eine wissenschaftlich „Kuriosität“ eingeführt, die weit über polemische Interessen hinausging, sondern der Koran wurde weitestgehend vorurteilsfrei der Hebräischen Bibel gleichgesetzt, die gleichfalls durch die „Wissenschaft des Judentums“ der Orthodoxie entzogen wurde. Wie unter anderem Susannah Heschel nachweist, war die Ursache dieses Interesse die kulturelle und religiöse Nähe von Judentum und Islam – eine Nähe, der sich viele heute kaum noch bewusst sind. Judentum und Islam stehen sich kulturell (und in ihrer religiösen Anschauungswelt) viel näher als Judentum und Christentum oder gar Christentum und Islam. Im Koran findet sich zum Beispiel eine Reminiszenz an das jüdische Shema (Höre Israel, Deut. 6:4): „Sag: Er ist der eine (alleinige) Gott!“ (Q 112:1), wohingegen es zu einer totalen Absage an die Christen kommt (Q 112:3-4, „Er hat nicht gezeugt, noch ist er gezeugt worden, und es existiert nichts, was mit ihm verglichen werden könnte“).42 Insgesamt haben die Hochschule für die „Wissenschaft des Judentums“ und das Breslauer Seminar eine beachtliche Reihe von Wissenschaftlern hervorgebracht, die sich neben ihren Studien in Bibel, rabbinischer Literatur, Aggada und Halacha sowie jüdischer Philosophie auch mit dem Koran, Hadīthwissenschaften, altarabischer und frühislamischer Dichtung, arabisch-islamischer Geschichte und Philosophie etc. auseinandersetzten. Ihre Leistungen auf dem Gebiet einer umfassenden „Judaistik“, aber auch der Religionswissenschaft, Philosophie und Geschichte sind wohl unbestritten, auch wenn sie immer mehr in den Hintergrund treten – und vor allem auf dem Gebiet der Koranforschung sind sie weitestgehend vergessen. Der bis heute bekannteste Vertreter dieser Schule, dessen Werk als Standardwerk für die Beziehungen zwischen jüdischer (und christlicher) Literatur und Koran gelten kann,43 war Heinrich Speyer (1897-1935),44 dessen Dissertation (seinerzeit bei 42 Hierbei handelt es sich meines Erachtens um eine totale Absage an die Christen, die an die heilige Dreifaltigkeit (Gott Vater, Gott Sohn, und Gott Heiliger Geist) glauben. Eine Absage an das Christentum begegnet uns z. B. Q 18:4: „und damit er diejenigen warne, die sagen, Gott habe sich einen Sohn zugelegt“, oder auch die Absage an die Trinität in Q 5:116. 43 Siehe auch Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum. Grundlagen des Dialogs im Koran und die gegenwärtige Situation, Darmstadt 1988. Gewissermaßen setzt sich Busse auch in die Tradition von Abraham Geiger und Heinrich Speyer. Busse bringt hier aber auch Julius Wellhausen und die Schule derer zusammen, die den Islam aus dem christlichen Schrifttum erklären wollten, so u. a. Wilhelm Rudolph, Richard Bell, Tor Andrae und Karl Ahrens. Eine ausgewogene Bewertung nimmt Fück vor, der die „Originalität“ der islamischen Offenbarung unterstreicht, siehe: Die Originalität des arabischen Propheten, in: ZDMG 90 (1936), S. 509-25; ders., Muhammed – Persönlichkeit und Religionsstiftung, in: Saeculum 3 (1952), S. 70-93. 44 Zu Heinrich Speyer siehe Franz Rosenthal, H. Speyer’s Die biblischen Erzählungen im Qoran, in: Nahem Ilan (Hg.), The Intertwined Worlds of Islam: Essays in Memory of Hava Lazarus-Yafeh, Jerusalem 2002, LX-LXV, abgedruckt in Hartwig et al., „In vollem Licht der Geschichte“, S. 113-116 (wie Anm. 4). Einige der von Speyer als Referenztexte des Korans angenommenen Quellen, müssen heute, nach über einem Jahrhundert kritischer Midrasch- und Talmudforschung relativiert werden, eine weitreichende Studie dazu steht noch aus. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 245 Josef Horovitz) die biblischen und rabbinischen Traditionen im Koran nachwies und sich weitestgehend an Geiger und Hirschfeld45 orientierte; auch war Speyer im Jahre 1934 am Breslauer Rabbinerseminar tätig.46 Die Bedeutung der biblischen und rabbinischen Intertexte für das Koranverständnis lässt sich ermessen, wenn wir bedenken, dass der Koran auf weiten Strecken eine Relektüre biblischer Geschichten ist. Dabei scheint durch den Koran häufig (insbesondere in den medinischen Suren) ein rabbinischer Diskurs durch.47 Anhand der biblischen Legenden lässt sich parallel zum koranischen Geneseprozess die Sichtbarwerdung der rabbinischen Gedankenwelt bemerken, die sich insbesondere in den frühen Midraschim wie Genesis Rabba, Leviticus Rabba, Pessiqta de-Rav Kahane, Mekhilta de-Rabbi Yishmael und Sifre(y) Deuteronomium spiegelt.48 Neben biblischen Überlieferungen und rabbinischer Exegese müssen die diversen Traditionen der Spätantike für die Nachzeichung der koranischen Genese in Betracht gezogen werden, seien sie in alt-arabischen,49 jüdischen und christlichen Kontexten zu lokalisieren. Somit treten frühe „christliche“ Texte, sowohl aus dem Neuen Testament bekannte, als auch durch die spätere christliche Tradition unterdrückte,50 und syrische Be- und Verarbeitungen51 älterer Gedankenfiguren in das Blickfeld einer Koranbetrachtung. Dies scheint für den außenstehenden Betrachter und so manchen gläubigen Muslim eine illegitime Herangehensweise. Sie ist aber tatsächlich in der arabisch-islamischen Verstehensarbeit selbst verankert, die sich gerne jüdischer und christlicher Traditionen bediente, um schwer45 Vgl. Hartwig Hirschfeld, Jüdische Elemente im Koran, Berlin 1878; ders., Beiträge zur Erklärung des Korans, Leipzig 1886; ders., New Researches into the Composition and Exegesis of the Qoran, London 1902. 46 Vgl. Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Gräfenhainichen 1931 (Nachdruck Hildesheim 1961); vgl. auch ders., Von den biblischen Erzählungen im Koran, in: Korrespondenzblatt Berlin 1923-1924, S. 7-26. 47 Siehe hierzu die Studie des Verfassers Der Urvertrag: Ein rabbinischer Diskurs im Koran, in: Hartwig et al., „In vollem Licht der Geschichte“ (wie Anm. 4), S. 191-202. Zur rabbinischen Literatur allgemein siehe Günther Stemberger, Midrasch: Vom Umgang der Rabbiner mit der Bibel. Einführung – Texte – Erläuterungen, München 1989; Jacob Neusner/ A.J. Avery-Peck (Hg.), Encyclopaedia of Midrash: Biblical Interpretation in Formative Judaism, 2 Vols., Leiden: Brill 2005. 48 Exemplarisch vgl. Jacob Lassner, The Covenant of the Prophets: Muslim Texts, Jewish Subtexts, in: Association for Jewish Studies Review 15 (1990), S. 207-238. 49 Vgl. Julius Wellhausen, Reste arabischen Heidentums, Berlin/Leipzig 1927. 50 Siehe Bart D. Ehrman, Lost Christianities: the battle for Scripture and the faiths we never knew, New York 2003; siehe auch ders., Lost Scriptures: books that did not make it into the New Testament, New York 2003. Eine Zusammenstellung aller frühchristlichen Schriften findet sich in Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christine Nord, Frankfurt a. M./Leipzig 1999, 6. rev. Auflage 2003. Von besonderer Bedeutung sind hier auch die Traditionen der sogenannten Judenchristen, vgl. Hans-Joachim Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949; ders., Urgemeinde, Judenchristen, Gnosis, Tübingen 1956. 51 Siehe hierzu Theodor Nöldeke, Beiträge zur Geschichte des Alexanderromans, Wien 1890. Zur syrischen Literatur allgemein vgl. Anton Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, mit Ausschluss der christlich-palästinensischen Texte, Bonn 1922. 246 D IRK H ARTWIG verständliche und mehrdeutige Passagen im Koran zu klären. Die islamische Traditionsliteratur führt Traditionarier an, die vornehmlich außerislamisches Erzählgut heranzogen, so etwa ‘Abdallāh Ibn ‘Abbas (starb 687 oder 690), Ka‘b al-Akhbār (starb 652 oder 654)52 und Wahb ibn Munabbih (starb 725, 732 oder 737). Daher scheint diese Herangehensweise, die von Abraham Geiger in die Koranwissenschaft eingeführt wurde, im Islam begründet zu sein, da selbst in den bedeutenden Korankommentaren zum Beispiel Parallelüberlieferungen aus Midrasch und Talmud angeführt werden, auch wenn diese als solche nicht explizit gekennzeichnet sind; sie werden dann generell den Juden in den Mund gelegt.53 Es bleibt festzuhalten, dass islamische Gelehrte durchaus über das Judentum und die Bibel Kenntnisse besaßen.54 Dieser Methode bedienten sich nun also die rabbinisch geschulten Gelehrten deutschsprachiger Tradition. Neben den liberalen Rabbinerseminaren ist die „Wissenschaft des Judentums“ nicht ausschließlich auf die jüdische Reformbewegung beschränkt gewesen; so existierte auch ein konservatives Rabbinerseminar, dass sich gewissermaßen dem orthodoxen Judentum zugehörig empfand, ohne dabei jedoch auf die historisch-kritische Methode zu verzichten. 1873, nur ein Jahr nach der Gründung der Hochschule für die „Wissenschaft des Judentums“, gründete Israel (Esriel) Hildesheimer (1820-1899) ein weiteres Rabbinerseminar in Berlin, dass unter dem Namen „Hildesheimer Rabbinerseminar“ bekannt werden sollte; daneben gilt Israel Hildesheimer als ein Mitbegründer der modernen Orthodoxie. 55 Auch wenn das Hildesheimer Rabbinerseminar mit der Hochschule in Konkurrenz stand und eine andere Auffassung vom Judentum vertrat, so gingen aus ihm bedeutende historisch-kritische Studien hervor, u.a. zur Bibelforschung (Jacob Horowitz), zum Midrasch (David Hoffmann), zur Koranforschung (Hartwig Hirschfeld), zur Philosophie (Alexander Altmann) und zum Talmud (Eduard Baneth). Alle diese Werke sind der historisch-kritischen Methode verpflichtet, was sie auch heute noch zu Standardwerken auf ihren Gebieten macht. Auch das Hildesheimer Rabbinerseminar wurde 1938 von den Nationalsozialisten zur Schließung gezwungen. 52 Vgl. Israel Wolfensohn, Ka‘b al-AÒbār und seine Stellung im adīÓ und in der islamischen Legendenliteratur, Gelnhausen 1933. 53 Teilweise nachgewiesen in einer frühen Studie zur Josefssure, vgl. Israel Schapiro, Die haggadischen Elemente im erzählenden Teil des Korans, Leipzig 1907. 54 Vgl. Camilla Adang, Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible: From Ibn Rabban to IbnHazm, Leiden [et al.] 1996. Vgl. auch Walid Saleh, „Sublime in Its Style in its Tenderness“: The Hebrew Bible Quotations in al-Biqā‘ī’s Qur‘ān Commentary, in: Y. Tzvi Langermann/Josef Stern (Hg.), Adaptions and Innovations: Studies on the Interaction between Jewish and Islamic Thought and Literature from the Early Middle Ages to the Twentieth Century, Dedicted to Prof. Joel L. Kraemer, Paris-Louvain-Dudley 2007, S. 331-347; ders., A Fifteenth-Century Muslim Hebraist: Al-Biqā‘ī and His defense of Using the Bible to Interpret the Qurān, in: Speculum 83 (2008), S. 629-654. 55 Siehe David H. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of a Modern Jewish Orthodoxy, Tuscaloosa 1990. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 247 Aber auch an regulären Universitäten wirkten immer mehr Juden. Während zur Zeit der Begründung der „Wissenschaft des Judentums“ den Juden der Zugang zur Universitätspositionen weitestgehend verwehrt war – die „Wissenschaft des Judentums“ war also auch der Vorstoß in die akademische Landschaft, wie Susannah Heschel betont56 –, so fanden nach und nach auch Juden im „allgemeinen“ universitären Diskurs Gehör; und eben jener Diskurs erforderte die Aufgabe von religiösen Grundannahmen. So war das Eintreten in die Gesellschaft gleichzeitig die Verpflichtung zur Historisierung. Die wohl bedeutendste Koranforschung an einer deutschen Hochschule wurde von Josef Horovitz (1874-1931) an der Universität Frankfurt am Main betrieben.57 Horovitz prägte unter anderem den Begriff „Straflegende“, ein Terminus, der eine Reihe ähnlich strukturierter Erzählungen im Koran beschreibt, dazu zählen unter anderem Abraham- und Moseserzählung. Auch demonstrierte Horovitz, dass Mu ammad bei seinen Hörern auf ein Publikum stieß, bei dem er die biblischen Legenden als bekannt voraussetzen konnte; ein weiterer Vorstoß in das mündliche Milieu des Koran und seiner Parallelüberlieferungen.58 Unter der Leitung von Horovitz wurden mehrere Studien zum Koran angefertigt, von denen heute viele vergessen sind. Mit der Schließung der Rabbinerseminare und der Entlassung jüdischer Professoren unter dem nationalsozialistischen Regime wurde die im deutschen Sprachraum entstandene „Wissenschaft des Judentums“ einschließlich der blühenden Koranforschung ins Ausland getrieben. Diese „transplantation“, wie es Hava Lazarus-Yafeh nennt,59 war nur teilweise erfolgreich, und damit kam die historisch-kritische Koranforschung weitestgehend zum Erliegen. Die von deutschen Juden dominierte Jerusalemer Schule wandte sich anderen Themen zu. So wurde die Arbeit an einer textkritischen Ausgabe des Korans aufgegeben, und Islamforscher, die sich bisher dem Koran verpflichtet fühlten, wandten sich anderen Gebieten der Forschung 56 Siehe Susannah Heschel, Revolt of the Colonized: Abraham Geiger’s Wissenschaft des Judentums as a Challenge to Christian Hegemony in the Academy, in: New German Critique 77 (1999), S. 61-85. 57 Siehe Gudrun Jäger, Josef Horovitz – Ein jüdischer Islamwissenschaftler an der Universität Frankfurt und der Hebrew University of Jerusalem, in: Hartwig et al., „In vollem Licht der Geschichte“, S. 117-130 (wie Anm. 4). 58 Vgl. Josef Horovitz, Koranische Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1926; ders, Das koranische Paradies, Jerusalem 1923; ders., Jewish Proper Names and Derivatives in the Koran, in: HUCA II (1925), S. 145-227; ders., Bemerkungen zur Geschichte und Terminologie des islamischen Kultus, in: Der Islam 16 (1927), S. 248-263 59 Siehe Hava Lazarus-Yafeh, The Transplantation of Islamic Studies from Europe to the Yishuv and Israel, in: Kramer, The Jewish Discovery, S. 249-260 (wie Anm. 19); Robert Jütte, Die Emigration der deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums“: Die Auswanderung jüdischer Historiker nach Palästina 1933-1945, Stuttgart 1991. Insgesamt waren die Islamic Studies an der Hebräischen Universität Jerusalem in ihrem Ursprung eine „deutsche“ Angelegenheit, siehe Menahem Milson, The beginnings of Arab and Islamic Studies at the Hebrew University of Jerusalem, in: Judaism 45 (1996), S. 169-183. 248 D IRK H ARTWIG zu, so z. B. Fritz [Shlomo Dov] Goitein (1900-1985), der sich um die Auswertung der Kairoer Genizafunde verdient gemacht hat.60 Leider gibt es so gut wie keine Untersuchungen über den Beitrag der Forscher der „Wissenschaft des Judentums“ zur Koranforschung, wenn sie existieren, so kreisen sie um die Personen Abraham Geiger und Ignaz Goldziher (1850-1921). Es ist die Hoffnung des Autors, dass die Bedeutung der jüdischen Koranforschung bald in angemessener Weise gewürdigt wird.61 III. Aber nicht nur in der „Wissenschaft des Judentums“ war das wissenschaftliche Interesse am Koran geweckt. Das noch heute grundlegende Werk der Koranforschung wurde auf diesem Hintergrund erarbeitet: „Die Geschichte des Qoran“. „Die Geschichte des Qoran“ ist nicht nur das Resultat eines Autors, sie ist vielmehr die Zusammenschau einer Gelehrtentradition, die sich quasi über ein Jahrhundert erstreckte.62 Der bedeutende Semitist Theodor Nöldeke (1836-1930) begründete das Werk in seiner 1860 erschienen Abhandlung, ähnlich der Geiger’schen Studie ursprünglich eine lateinische Preisschrift,63 die in einer Neubearbeitung und wesentlichen Erweiterung in den Jahren 1909-1919 unter der Mitarbeit von Friedrich Schwally (1863-1919) veröffentlicht wurde. 1938 erschien ein dritter Teil, der „Die Geschichte des Qoran“, um das Themenfeld „Textgeschichte“ erweitert, wobei ein weiteres Kapitel der historisch-kritischen Forschung, nämlich eine textkritische Ausgabe des Korans, eingefordert wurde,64 zu dessen Umsetzung es aber aus Gründen der nationalsozialistischen Bildungspolitik nicht mehr kam. Der dritte Teil wurde von Gotthelf Bergsträsser (1886-1933) und Otto Pretzel (1893-1941) besorgt. In seinem Vorwort zum dritten Teil dankte Otto Pretzel65 seinem Assistenten Anton Spitaler (1910-2003)66 für seine Mitarbeit (1935-1938), der später ein bedeutender Orientalist, Semitist 60 Siehe Shlomo D. Goitein, A Mediterranean Society: The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza, 5 Bde., Berkeley 19671993; ders., Jews and Arabs: Their Contacts Through the Ages, 3rd rev. ed., New York 1974. 61 Vgl. die Liste wegweisender Koranforschungen aus dem Umfeld der Wissenschaft des Judentums im Anhang. 62 Vgl. Theodor Nöldeke/Friedrich Schwally, Geschichte des Qorans, Bd. I-II, Leipzig 1909-1919; Gotthelf Bergsträsser/Otto Pretzel, Geschichte des Qorans, Bd. III: Die Geschichte des Korantextes, Leipzig 1938. 63 Siehe Theodor Nöldeke, De origine et compositone surarum Qoranicarum ipsiusque Qorani, Göttingen 1856. 64 Siehe Gotthilf Bergsträsser, Plan eines Apparatus Criticus zum Koran, München 1930; Otto Pretzel, Die Fortführung des Apparatus Criticus zum Koran, München 1934. Die gesammelten Materialien des existierenden Bergsträsser-Archivs werden heute am Seminar für Arabistik (Freie Universität Berlin) verwahrt. Eine Bearbeitung der Sammlung steht noch aus. 65 Zu Otto Prezel siehe Anton Spitaler, Nachruf: Otto Prezel, in: ZDMG 96 (1942), S. 161-170. 66 Zu Anton Spitaler siehe Stefan Wild, Nachruft: Anton Spitaler, in: ZDMG 156 (2006), S. 1-7; siehe auch Paul Kunitzsch, Nachruf: Anton Spitaler, in: Jahrbuch der Bayrischen Akademie der Wissenschaften 2003, S. 307-313. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 249 und Islamwissenschaftler werden sollte. Während Spitalers Mitarbeit am von Bergstässer an der Bayrischen Akademie der Wissenschaften initiierten Projekt der Herausgabe einer textkritischen Koranausgabe beschäftigte er sich eingehend mit der Verszählung des Korans.67 Anton Spitaler war in erster Linie Philologe und knüpfte nach dem Krieg nicht an die Koranforschung oder die kritische Koranausgabe an,68 obgleich er das verschollen geglaubte Bergsträsser-Archiv ältester Koranhandschriften seit der Zerstörung der Bayrischen Akademie der Wissenschaften 1944 bewahrte, aber unbearbeitet liess. 69 Spitalers Schülerin Angelika Neuwirth legte eine grundlegende Studie zur Komposition der mekkanischen Suren vor – eine systematische Studie zu den medinischen Suren steht weiterhin aus –, in der sie die Einheit und die strukturellen Eigenheiten jener Suren belegte.70 Ihr wegweisendes und innovatives Werk knüpft in vielen Aspekten an die Techniken der alttestamentarischen Exegese (insbesondere Literar- und Gattungskritik) an,71 die bereits einige Jahre zuvor von John Wansbrough (1928-2002) und seiner Schule selektiv auf die Formgeschichte des Korans angewendet wurden. 72 An die Ergebnisse und Vorarbeiten der „Wissenschaft des Judentums“ wurde aber bisher kaum angeknüpft. Erst im Jahr 2007 nahmen deutsche Wissenschaftler unter der Leitung von Angelika Neuwirth diese Arbeit an der Berlin-Brandenburgischen Aka67 Vgl. Anton Spitaler, Die Verszählung des Koran nach islamischer Überlieferung, München 1935. 68 Eine Sammlung von Aufsätzen erschien unter Anton Spitaler, Philologica. Beiträge zur Arabistik und Semitistik, Wiesbaden 1998. 69 Zur problematischen Geschichte des Bergsträsser-Archivs siehe Andrew Higgins, The Lost Archive: Missing for half a century, a cache of photos spurs sensitive research on Islam’s holy text, in: The Wall Street Journal Online vom 12. Januar 2008. 70 Weitgehend auf Neuwirth baut auch auf: Neal Robinson, Discovering the Qur’ān: A Contemporary Approach to a Veiled Text, Washington D.C. 1996, 2nd ed. 2003. Robinson bietet auch einige Überlegungen zur Struktur medinischer Suren, wobei er hier exemplarisch an Q 2 arbeitet (S. 196-223). Erst kürzlich wurde eine Untersuchung von Q 5 vorgelegt, die weitgehend auf der Untersuchung von semantischen Feldern beruht, siehe Michel Cuypers, Le Festin. Unelecture de la sourate al-Mâ’ida, Paris 2007. Cuypers bedient sich hier der rhetorischen Analyse, die verwand ist mit der kolometrischen Aufspaltung, die Neuwirth benutzt. Siehe dazu Michel Cuypers, L’analyse rhetorique: une nouvelle methode d’interpretation du Coran, in: Melanges de Science religieuse 59 (2002), S. 31-57. 71 Sie orientiert sich hierbei an Wolfgang Richter, Exegese als Literturwissenschaft, Göttingen 1971. Siehe auch Andrew Rippins Buchbesprechung in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 45 (1982), S. 149-150. 72 Siehe John Wansbrough, Quranic Studies (wie Anm. 25); ders., The Sectarian Milieu (wie Anm. 25). Aus der Wansbrough-Schule sind ebenfalls bedeutende Forscher hervorgegangen, so etwa Patricia Crone, Michael Cook, Gerald R. Hawting und Andrew Rippin. Besonders kontrovers wurde diskutiert Patricia Crone/Michael Cook, Hagarism: The Making of the Islamic World, Cambridge 1977. Leider wird der Koran von dieser Gruppe als Produkt einer späteren Gemeinde verstanden, auch wird der Koran in das Milieu Syriens oder des Südiraks verlagert. Zur Problematik vgl. Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren. Die literarische Form des Koran – ein Zeugnis seiner Historizität?, 2., durch eine korangeschichtliche Einführung erweiterte Auflage, Berlin/New York 2007, S. 11*-13*. 250 D IRK H ARTWIG demie der Wissenschaften („Corpus Coranicum: Textdokumentation und Kommentar zum Koran“) in Angriff.73 Warum ist nun aber diese Form der historisch-kritischen Koranforschung so wichtig? Warum sollte an die geistige Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts angeknüpft werden, in der Intellektuelle anfingen, „ihren Glauben an den traditionellen religiösen Horizont der Transzendenz zu verlieren; und (dass) das historische Bewusstsein ... an die Stelle des verschwindenden Glaubens an Gott und das von Ihm scheinbar verheißene Leben nach dem Tod getreten“ 74 sei. Die „Wissenschaft des Judentums“ stand in diesem Spannungsverhältnis zwischen Abkehr vom Glauben und Bewahrung religiöser Identität, und daher kann ihre Bedeutung für die Säkularisierung des Judentums kaum überschätzt werden; der Islam hat mit ähnlichen Prozessen der Wandlung seines Selbstverständnisses zu kämpfen, und die moderne Koranlektüre stellt den Muslim vor ähnliche Herausforderungen. Bereits 1950 zeigte Rudi Paret (1901-1983),75 dem wir eine wissenschaftlich sehr brauchbare, leider kaum lesbare, Koranübersetzung zu verdanken haben,76 die Grenzen der Koranforschung auf.77 Und gleichsam ist der sich verschärfende Konflikt von Orient und Okzident ein Hemmnis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Koran. Dabei steht, wie oben beschrieben, eine kontextbezogene, historisierende Lektüre des Korans nicht grundsätzlich und zwangsläufig im Widerspruch mit den islamischen Quellen, insbesondere, da die traditionelle Koranwissenschaft (‘ulūm al-Qur’ān)78 das Grundprinzip des „Offenbarungsanlasses“ (asbāb an-nuzūl) kennt. Dieser Offenbarungsanlass setzt die offenbarten Verse oder auch Passagen in einen historischen Kontext (situational exegesis),79 nämlich einen speziellen Zeitpunkt im Leben des Propheten Mu ammad – damit ist ein Vers der ewigen Gültigkeit entzogen und in einen spezifischen historischen Kontext gesetzt, damit werden Diskussionen um „unvermeidlich“ radikale Verse des Koran entschärft. Auch wird dem Koran nicht der „heilige“ Charakter geraubt, son73 Vgl. Michael J. Marx, Ein Koran-Forschungsprojekt in der Tradition der Wissenschaft des Judentums: Zur Programmatik des Akademievorhabens Corpus Coranicum, in: Hartwig et al., „Im vollen Licht der Geschichte“, S. 41-53 (wie Anm. 4). 74 Hans U. Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt am Main 2003, S. 106. 75 Zur Person siehe William A. Graham, In Memoriam Rudi Paret (1901-1983), in: The Muslim World 73 (1983), S. 133-141. 76 Siehe Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 1966,92004; ders., Der Koran, Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1971, 72005; ders., Mohammed und der Koran, Stuttgart 1957, 92005. 77 Siehe Rudi Paret, Die Grenzen der Koranforschung, Stuttgart 1950. 78 Zu den traditionellen Koranwissenschaften siehe Dorothea Krawulsky, Eine Einführung in die Koran-Wissenschaften: ‘Ulum al-Qur’an, Bern 2006. 79 Siehe zur Problematik Andrew Rippin, The Exegetical Genre ‘asbāb al-nuzūl’: A Bibliographical and Terminological Survey, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 48 (1985), S. 1-15. Vgl. auch Angelika Neuwirth, Qur’an and History – a Disputed Relationship: Some Reflections on the Qur’anic History and History in the Qur’an, in: Journal of Qur’anic Studies 5 (2003), S. 1-18. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 251 dern es wird der ursprüngliche Kontext wiederhergestellt, in dem das Offenbarungsereignis vergegenwärtigt wird.80 Nun sind aber keineswegs alle Offenbarungsanlässe, die uns die islamische Tradition berichtet, auch historisch-kritisch nachweisbar. Dennoch belegt diese traditionelle Herangehensweise das Interesse am historischen Kontext. Die Bedeutung dieser neuen, wiederentdeckten Sichtweise auf den Koran hat Auswirkungen auf zwei Ebenen: (a) die akademische Beschäftigung mit dem Koran könnte ein besseres Verständnis der geistigen Umwelt liefern, die die Koranwerdung begünstigte; (b) das muslimische Koranerständnis wird geschärft, ohne dabei Muslimen eine triumphalistische Lesart aufzuzwingen. Es geht um eine hermeneutische Öffnung des Textes, eine Herüberführung des zeitlosen Textes in die Gegenwart. Meines Erachtens fasst Dan Diner dies vorzüglich zusammen: „Gemeinsam mit anderen reform-orientierten Muslimen galt es, die islamische Rechtstradition so zu verändern, dass die ‚ewigen‘ und damit unveränderlichen Gesetze von historischen und damit dem Wandel folgenden Normen geschieden wurden. Es ging darum, eine Trennung herbeizuführen und zwei Zeiten-Räume zu etablieren – jenes Problem, mit dem die andere Gesetzesreligion, das Judentum, seit dem Beginn der Aufklärung konfrontiert war.“81 Die hier angesprochene Trennung in zwei Zeiten-Räume wurde erst durch die „Wissenschaft des Judentums“ erreicht – erst mit ihr wurde das Judentum in die Moderne geführt und die kritische Auseinandersetzung mit den Quellen der jüdischen Tradition möglich gemacht. Für das Judentum war das „Projekt“, das durch Leopold Zunz und Eduard Gans begründet wurde, mehr als erfolgreich. Da sich Judentum und Islam in ihren grundlegenden religiösen Auffassungen bei allen Unterschieden nahe stehen, ist die Bedeutung der „Wissenschaft des Judentums“ auch in Hinblick auf den Islam nicht zu unterschätzen; letztlich steht auch der Islam an einer Schwelle, die den religiösen Horizont von einem „modernen“ historischen Bewusstsein trennt. Der brutale Abbruch dieser Wissenschaftstradition durch den Nazi-Terror lähmt die westliche Koranforschung bis heute. Auch die innerislamische Forschung ist – auch in Folge der sogenannten revisionistischen westlichen Forschung, die die Grundlagen des Islam als unhistorisch deklariert – in eine Art Abseits geraten. Es wäre wünschenswert, dass sich, wie einst, eine religiöse Traditionen transzendierende Koranforschung herausbildet, die an die Wissenschaftstradition eines Ignaz Goldziher, Paul Kraus (1904-1944)82 oder Israel (Abū Dhu ayb) Wolfensohn (1899-1980)83 anzuknüpfen versteht. 80 Siehe hierzu auch Andrew Rippin, The Function of ‘Asbāb al-nuzūl’ in qur’ānic Exegesis, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 51 (1988), S. 1-20. 81 Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005, S. 254. 82 Siehe Joel L. Kraemer, The Death of an Orientalist: Paul Kraus from Prague to Cairo, in: Kramer, The Jewish Discovery, S. 181-223 (wie Anm. 19). 83 Zu Wolfensohn siehe Reuven Snir, „We Are Arabs Before We Are Jews“: The Emergence and Demise of Arab-Jewish Culture in Modern Times, in: EJOS VIII (2005), 252 D IRK H ARTWIG Nun geht es hier nicht darum, den Muslimen den Weg in die (europäische) Moderne aufzuzeigen. Es geht vielmehr darum, die Bedeutung der historisch-kritischen Forschung und die Entwicklung einer textdurchdringenden Hermeneutik, die sich in weiten Teilen der arabischen Welt auch in Hinblick auf religiöse Texte immer mehr durchsetzt, herauszustellen. Exemplarisch kann man hier die Neugierde nennen, die George Tamers Übersetzung von Theodor Nöldekes Geschichte des Qorans entgegen gebracht wird.84 Von besonderer Bedeutung für den inner-islamischen Diskurs ist die „Ankaraner Schule“ (Ilahiyat Fakültesi, Ankara), die derzeit von zwei Koranhermeneutikern vertreten wird: (a) Mehmet Paçacı (geb. 1961) und (b) Ömer Özsoy (geb. 1963).85 Hierbei orientieren sich die Schlüsselgestalten dieser Schule, die auch gerne islamischer Modernismus genannt wird, an den Vorarbeiten des u.a. in England und den USA tätigen pakistanischen Gelehrten Fazlur Rahman,86 der die Grundfrage stellte: „Wie kann man den Koran als Offenbarung ernstnehmen, ohne seine doch zum Teil offenkundig veralteten Vorschriften heute anwenden zu müssen?“87 Es ist eben jene Re-Integration historisch-kritischer Forschung in das Denken reform-orientierter Muslime, welche den ideologischen Raum oder die „Versiegelung der Zeit“ (im Sinne Dan Diners) aufzubrechen vermag. Während fortschrittliche Kreise in der arabisch-islamischen Welt dabei sind, ihre Zeiten-Räume zu öffnen, sich der Moderne zu ergeben oder sich zumindest mit den drängenden Fragen der Moderne zu beschäftigen,88 können wir u.a. in den Vereinigten Staaten (und weiten Teilen Europas) die gegensätzliche Bewegung beobachten. Hier S. 18 f. U. a. verfasste Wolfensohn eine wichtige Studie zur Geschichte der Juden in den arabischen Ländern und Hadithstudien. Siehe Israel Wolfensohn, Ta’rīÒ al-yahūd fī buldān al-‘arab, Kairo 1927; ders., Ka‘b al-AÒbār und seine Stellung im HadīÓ und in der islamischen Legendenliteratur, Gelnhausen 1933. 84 Siehe Georges Tamer, Tarih al-Qur’an. Arabische Übersetzung und Edition von Theodor Nöldeke/Friedrich Schwally et al., Geschichte des Qorans. Mit einer Einleitung und erweiterten Registern versehen, Beirut 2004. Diese Übersetzung kann kostenlos über die Homepage der Freien Universität Berlin heruntergeladen werden. 85 Siehe Felix Körner, Historisch-kritische Koranexegese? Hermeneutische Neuansätze in der Türkei, in: Görge K. Hasselhoff/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Krieg der Zeichen? Zur Brisanz religiöser Interaktion, Würzburg 2006, S. 57-74; ders., Kritik der historischen Kritik – Eine neue Debatte in der islamischen Theologie, in: Urs Altermatt/Mariano Delgado/Guido Vergauwen (Hg.), Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart 2006, S. 127-142. 86 Siehe Fazlur Rahman, Islamic Methodology in History, Karachi 1965; ders., Islam & Modernity: Transformations of an Intellectual Tradition, Chicago 1982. 87 Körner, Historisch-kritische Koranexegese?, S. 63 (wie Anm. 86). 88 Siehe Nasr Hamid Abu Zayd/Katajun Amirpur/Muhammad N. Setiawan (Hg.), Reformation of Islamic Thought: A Critical Historical Analysis, Amsterdam 2006; Shua TajiFarouki (Hg.) Modern Muslim Intellectuals and the Qur’an, Oxford/New York 2004; Michael Thumann, Der Islam und der Westen: Über Säkularisierung und Demokratie im Islam, Berlin 2004. Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 253 werden Errungenschaften der Moderne wie die historisch-kritische Forschung leichtfertig über Bord geworfen, und für eine erneute Versiegelung der Zeit plädiert, da man das jüdisch-christliche (griechisch-römische) Erbe bedroht sieht. Die Rückbesinnung auf die Werte eines christlichen Europas wurde bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert eingefordert, um die Zersplitterung Europas zu vermeiden. 1799 veröffentlichte Novalis sein „Die Christenheit oder Europa“, in dem er die Aufweichung des Heiligen und den Übergang zur Säkularisierung anprangerte. Die Rückbesinnung auf die christlichen Werte erzeugt eine neue Qualität der Polarisierung von Ost und West, Orient und Okzident, eine Entwicklung, die den Verfasser zutiefst beunruhigt. Die Rückführung des Korans in das europäische Denken als Träger einer gemeinsamen Tradition, die auf dem Diskurs der Spätantike basiert, könnte im Gegenzug diese Verhärtung aufhalten. Dabei können sich reform-orientierte Muslime der historischkritischen Methode bedienen, um ihre religiösen Texte „sinnreich“ modern zu lesen, ohne den Traditionshorizont aufzugeben, da der islamischen Tradition – gleich der jüdischen – eine „Doppel- oder Mehrdeutigkeit des Schriftsinns“ eigen ist, und die Fülle der Traditionsliteratur belegt das.89 Um diese gemeinsame Erweiterung des Blickfeldes zu erreichen, müssen sich beide Seiten einer Hermeneutik bedienen bzw. an ihrer Entwicklung wirken, die sich unvoreingenommen traditionellen Texten, sei es im Judentum, Christentum oder Islam, stellt. Die Erweiterung des Traditionshorizontes auf beiden Seiten könnte als gemeinsamer Nenner eines Zusammenlebens in Europa dienen. IV. Die Koranforschung liegt heute weitgehend in den Händen von Forschern, denen die historische Kenntnis der „Wissenschaft des Judentums“ fehlt, die einen Schlüssel zur Interpretation der Traditionen, die bei der Korangenese im Hintergrund standen, liefern. Während die Bibel in der historischen Forschung längst in ihre historische Umwelt zurücklokalisiert wird – erst im Kontrast zu ihr zeichnet sich ihre theologische Leistung ab – wird der Koran gemeinhin mit dem identifiziert, was die späteren Kommentatoren exegetisch in ihn hineinlegten. Dadurch entwickelte die entstehende „Wissenschaft des Judentums“ den Blick auf den Koran in seiner geistigen Umwelt und ein stringenteres Methodenbewusstsein. 89 Neben der Traditionsliteratur kann man natürlich auch die verschiedensten Koranübersetzungen anführen, die den Koran unterschiedlich lesen und verstehen. Hier können nur die wichtigsten Übertragungen ins Deutsche angeführt werden: Ludwig Ullmann (1840), Friedrich Rückert (unvollständige ed. 1888), Max Hennig (pseudonym, 1901), Lazarus Goldschmidt (1916), Rudi Paret (1963-1966), Abdel Khoury (1990-1999) und Hans Zirker (2004). Für eine vollständige Liste siehe Hartmut Bobzin/Peter M. Kleine (Hg.), Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute. Katalog zur Ausstellung Koranübersetzungen, Arnsberg 2007. 254 D IRK H ARTWIG Meines Erachtens orientiert sich wegweisende Koranforschung an den von Abraham Geiger und Gustav Weil eingeführten Grundmethoden: Erstens wird die Surenchronologie, die später von Theodor Nöldeke weiterentwickelt wurde, jeder Beschäftigung mit dem islamischen Grunddokument zugrunde gelegt, denn nur so kann dem spezifischen Charakter des Korans Rechnung getragen werden, der zumindest in der Frühzeit kein „Buch“ sein will, sondern lebendige Debatte mit einer plurikulturellen Umwelt. Zweitens versucht die Forschung durch Analyse der jüdisch-christlichen und rabbinischen „Referenztexte“ (Intertexte) die ursprüngliche Diskurssituation zu vergegenwärtigen. Die hier als Korrektiv erforderliche Forschungsrichtung versucht daher, „von außen“, historisch-kritisch, das kulturelle Umfeld des spätantiken Arabiens in seiner ganzen Komplexität abzubilden. Der Koran wird also keineswegs als Plagiat jüdischer oder christlicher Überlieferungen, sondern als sich entwickelnde Kommunikation verstanden, die den historischen Kontext seiner Genese abbildet. Dabei evoziert der Korantext, ein im Fluss befindlicher Text, der sich in Relation zu etwas anderem konstituiert, jüdisch-christliche, rabbinische und andere Traditionen in Form einer Textreflexion; der Koran ‚entlehnt‘ daher nicht, sondern kommentiert. Mit der Konstituierung der islamischen Gemeinde und der Kodifizierung des Korantextes nach dem Tode des Propheten verlor das Wissen um die Traditionen, auf die der Koran Bezug nimmt, sukzessive an Relevanz; die vorher offene Debatte wurde nun von ihrem Endergebnis her, der Durchsetzung der neuen Religion, als obsolet betrachtet, das für den oft nicht aus sich selbst heraus verständlichen Text erforderliche Sachwissen wurde von der Exegese (tafsīr) beigebracht, wodurch der Text eine Kohärenz erhielt, der das ihm vorausgehende ‚Drama‘ der Gemeindebildung nicht gehabt hatte. Gerade in diesem Zusammenhang sind die rabbinischen Assoziationen der „Wissenschaft des Judentums“ wichtig, da sie zum Teil den „ursprünglichen“ Kontext der koranischen Verkündigung (wieder) ins Gedächtnis rufen, die in der Verständnisarbeit der entstehenden Gemeinde zu verorten ist. Die hier angestrebte Koranwissenschaft ist also mehr an den Entwicklungen und Diskursen interessiert, die den Koran konstituiert haben, als einem bereits zum Kanon erstarrten Korantext. Auch wenn die von uns angestrebte Forschung die Korangenese heute anders verortet als bei Abraham Geiger und Gustav Weil, so sind doch die Vorarbeiten der „Wissenschaft des Judentums“ weiterhin von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion der komplexen Kommunikationsprozesse, aus denen der Koran hervorgegangen ist, der in der Spätantike entstand, die auch den Hintergrund der Geburtsprozesse der zwei anderen monotheistischen Religionen bildet. Diese Vorarbeiten des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert orientieren sich am Koran selbst und nicht am Kommentar, der ein post-kanonisches Interesse verfolgt, das dem Koran als Kommunikationsprozess gegenübersteht. Es ist daher ein drin- Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge ... 255 gendes Desiderat, diese komplexen wissenschaftsgeschichtlichen Verflechtungen aufzudecken und systematisch zu analysieren, um in einem nächsten Schritt die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung in die gegenwärtig geführte Debatte um den Koran einzuführen. *** ANHANG Koranforschungen aus dem Umkreis der „Wissenschaft des Judentums“ Eine Auswahlbibliographie Bachmann, Ludwig, Jesus im Koran, Frankfurt am Main 1925 (unveröff.; erhalten in den Hochschulschriften der Universität Frankfurt: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Sign. Dq 2/500 [DA 1/105]). Baneth, Dawid Hartwig [Zvi], Beiträge zur Kritik und zum sprachlichen Verständnis der Schreiben Mohammeds, Berlin 1920 (unveröff.; erhalten in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, Sign. ZA 11087-1919/20). Barth, Jacob, Midraschische Elemente, Berlin 1903. Ders., Studien zur Kritik und Exegese des Qorans, Strassburg 1915. 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