thema
■ Undine Ott
Europas Sklavinnen und Sklaven im Mittelalter
Eine Spurensuche im Osten des Kontinents1
Sklavenhalter waren oft nur die anderen. Die europäische Mediävistik hat die Institution der
Sklaverei gern in anderen Epochen und fernen Geilden verortet: im antiken Römischen Reich,
in der mittelalterlichen islamischen Welt und den neuzeitlichen Amerikas. Im mittelalterlichen
Europa, so war häuig zu lesen, habe es Sklaverei nicht in nennenswertem Maße gegeben.2 Seit
einiger Zeit ist jedoch ein verstärktes Interesse an Formen der Sklaverei in Europa spürbar,
wobei sich die Forschung auf das früh- und hochmittelalterliche Westeuropa3 und das spätmittelalterliche Mediterraneum4 konzentriert. Im Folgenden wird es dagegen um den Osten des
Kontinents gehen, um den Raum zwischen Elbe und Ural, Ostsee und Kaukasus. Dieser Teil
Europas spielte, wie auch das byzantinische Reich,5 in den Diskussionen um Vorhandensein
und Ausprägung von Sklaverei in Europa bisher kaum eine Rolle.6 Die vorhandenen Arbeiten
zu Europas Osten interessieren sich in erster Linie für den Export von Sklavinnen und Sklaven
in andere Weltgegenden (vornehmlich jene, die unter muslimischer Herrschaft standen) und
1
2
3
4
5
6
Der Aufsatz beruht auf den Forschungen, die ich 2012–2013 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) im Rahmen des
Projektes Die frühmittelalterlichen Zentren an der Donau. Städtische Topographie, Christentum und
Handel zwischen Mitteleuropa und dem Schwarzen Meer betrieben habe. Ich danke Jens Scheiner
(Courant Forschungszentrum Bildung und Religion der Georg-August-Universität Göttingen)
und den Herausgeberinnen für ihre hilfreichen Anmerkungen zu früheren Fassungen des Beitrags.
Die vorerst wohl polemischste Variation das Narrativs vom sklavenfreien Europa stammt von
dem Althistoriker Egon Flaig (Weltgeschichte der Sklaverei, München 2009). – Zur Forschungsgeschichte vgl. Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von
den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2013, S. 479–483.
David A. E. Pelteret, Slavery in Early Medieval England, From the Reign of Alfred Until the 12th
Century, Rochester, NY 1995; Carl I. Hammer, A Large-Scale Slave Society of the Early Middle
Ages. Slaves and their Families in Early Medieval Bavaria, Aldershot 2002; Alice Rio, Freedom
and Unfreedom in Early Medieval Francia. he Evidence of the Legal Formulae, in: Past &
Present 193 (2006), S. 7–40.
Charles Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale, 2 Bde., Brügge/Gent 1955/1977; Susan
Mosher Stuard, Urban Domestic Slavery in Medieval Ragusa, in: Journal of Medieval History 9
(1983), S. 155–171; Sally McKee, Domestic Slavery in Renaissance Italy, in: Slavery & Abolition
29 (2008), S. 305–326 und zuletzt Juliane Schiel/Stefan Hanß (Hg.), Mediterranean Slavery
Revisited (500–1800)/Neue Perspektiven auf mediterrane Sklaverei (500–1800), Zürich 2014.
Vgl. Youval Rotman, Byzantine Slavery and the Mediterranean World, übers. v. Jane Marie Todd,
Cambridge, MA/London 2009 (frz. 2004), S. 5–24; Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce, AD 300–900, Cambridge, UK u. a. 2001,
S. 733–777.
Zur Terminologie Christian Lübke, Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, östliches Europa. Wahrnehmung und Strukturen im frühen und hohen Mittelalter, in: HSoz-u-Kult 7.6.2006, http://
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2006-06-008 (letzter Zugrif 27.10.2014).
WERKSTATTGESCHICHTE / Heft 66–67 (2014) – Klartext Verlag, Essen
S. 31–53
31
32
kaum für Sklaverei in der Region selbst. Herrschender Konsens ist bisher, dass sich spätestens
seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts ein weitreichender Sklavenhandel entwickelt habe, der
Menschen aus dem östlichen Europa in die islamische Welt brachte. Die Erlöse aus diesem
Handel seien in erster Linie an die politischen Eliten Ostmittel- und Osteuropas gelossen, und
zwar in Form von Silber. Anders als in der Völkerwanderungszeit, so Matthias Hardt, hätten
die Eliten der Region nicht mehr von den edelmetallgefüllten Schatzkammern des Römischen
Reiches proitieren können, sondern seien auf neue Ressourcen zur Beschafung materieller
Reichtümer angewiesen gewesen, mit denen sie ihre Herrschaft visualisieren und ihre Gefolgsleute entlohnen konnten.7 Die neue Quelle des Reichtums slawischer und altrussischer Fürsten
habe in Silbermünzen, -barren und -schmuck bestanden, wie die in großer Zahl im östlichen
Europa geborgenen, zum Teil äußerst umfangreichen Silberhorte aus dem 9. und 10. Jahrhundert belegten. Da die Münzen und Münzfragmente in den Horten des östlichen und nördlichen
Europa vor allem aus Zentralasien, dem Iran, dem Nahen Osten und Nordafrika stammten,
müsse ein reger Handel bestanden haben zwischen jenen islamisch beherrschten Ländern, in
denen die Münzen geprägt worden waren, und den Regionen, in denen die Silberschätze in der
Erde verborgen wurden. Als Exportprodukt, das wertvoll genug war, um als Äquivalent für die
islamischen Silbermünzen, die Dirham, zu dienen, kämen vor allem Menschen in Frage. Mus-
Politische Gliederung Eurasiens und Nordafrikas in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Colin McEvedy, he New Penguin Atlas of Medieval History, London 1992, S. 49. Reproduced by permission of Penguin Books Ltd.
7
Matthias Hardt, Fernhandel und Subsistenzwirtschaft. Überlegungen zur Wirtschaftsgeschichte der frühen Westslawen, in: Uwe Ludwig/homas Schilp (Hg.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 2008, S. 741–763; zur Wanderungszeit ders., Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten
Jahrtausend, Berlin 2004.
thema
lime von der Iberischen Halbinsel bis Zentralasien seien bereitwillige Abnehmer dieser Ware
gewesen, da ihre Gesellschaften nicht-muslimische Sklaven in großer Zahl zum Zwecke der
herrschaftlichen Repräsentation benötigten und Sklaverei einen integralen Bestandteil ihres
Wirtschafts- und Soziallebens dargestellt habe. Als Sklavenhändler hätten sich vor allem Juden
betätigt. Da der Zustrom islamischer Silbermünzen, von denen bisher mehr als 200.000 Exemplare in Europa gefunden worden sind, bald nach dem Jahr 1000 versiegte und sich in dieser
Zeit neue Reiche etablierten, die politisch stärker zentralisiert waren und wirtschaftlich zunehmend auf den Erträgen der Landwirtschaft und dem Absatz agrarischer Überschüsse auf Märkten aufbauten, sei in dieser Zeit auch der Sklavenhandel im östlichen Europa abgelaut.8
Im Folgenden möchte ich vier Bausteine dieses Narrativs genauer betrachten und fragen,
ob tatsächlich unzählige Menschen aus dem östlichen Europa nach Zentralasien verschleppt
wurden, ob die Quellen wirklich eine Dominanz jüdischer Kauleute im Sklavenhandelsgeschäft belegen, ob überhaupt der Großteil der versklavten Ostmittel- und OsteuropäerInnen
im Rahmen des Fernhandels in andere Weltgegenden exportiert wurde und, schließlich, ob
wir davon ausgehen sollten, dass Sklavenhandel und Sklaverei im östlichen Europa nach dem
11. Jahrhundert nicht mehr vorkamen. Dabei richtet sich mein Blick vor allem auf arabische
Schriftquellen, die bisher hier und da zitiert, nie aber systematisch ausgewertet worden sind.
Untersuchen möchte ich geo- und ethnographische sowie historische Werke des 9. und
10. Jahrhunderts.9 Etliche der Autoren waren in jenen Regionen unterwegs gewesen, in denen
die islamisch geprägte Welt ans östliche Europa angrenzte, und hatten dort von Augenzeugen und Gelehrten Informationen über Europa gesammelt.10 In anderen Fällen beruhen die
8
Charles Verlinden, L’esclavage; ders., Wo, wann und warum gab es einen Großhandel mit Sklaven
während des Mittelalters?, Köln 1970, S. 4–17; Maurice Lombard, Blütezeit des Islam. Eine
Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 8.–11. Jahrhundert, übers. v. Jürgen Jacobi, Frankfurt a. M.
1991 (frz. 1971), S. 57–62; McCormick, Origins, bes. S. 733–777; Mary A. Valante, Castrating
Monks. Vikings, Slave Trade, and the Value of Eunuchs, in: Larissa Tracy (Hg.), Castration and
Culture in the Middle Ages, Cambridge, UK 2013, S. 174–187; Hardt, Fernhandel und Subsistenzwirtschaft, S. 742–748; Hans-Wilhelm Haussig, Die Praxis des Warenaustausches im Warägerhandel mit den chasarischen Märkten Sarkel und Itil, in: Klaus Düwel/Herbert Jankuhn/
Harald Siems/Dieter Timpe (Hg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Bd. 4: Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit, Göttingen 1987 [nachfolgend: UHV 4], S. 528–544; Dušan Třeštík, »Eine große Stadt
der Slawen namens Prag«. Staaten und Sklaven in Mitteleuropa im 10. Jahrhundert, in: Petr
Sommer (Hg.), Boleslav II. Der tschechiche Staat um das Jahr 1000, Prag 2001, S. 93–138;
Marek Jankowiak, Two Systems of Trade in the Western Slavic Lands in the 10th Century, in:
Mateusz Bogucki/Marian Rębkowski (Hg.), Economies, Monetisation and Society in the West
Slavic Lands. 800–1200 AD, Stettin 2013, S. 137–148.
9 Ibn Hurdādbih, Al-masālik wa-l-mamālik, ed. Michael J. de Goeje (Bibliotheca Geographorum
˘
¯ [nachfolgend: BGA], Bd. 6), Leiden 1889; Ibn al-Faqīh al-Hamadānī, Muhtasar
Arabicorum
˘ ˙
¯
kitāb al-buldān, ed. ders. (BGA 5), Leiden 1885; Ibn Rusta, Kitāb al-a‘lāq an-nafīsa/
al-Ya‘qūbī,
Kitāb al-buldān, ed. ders. (BGA 7), Leiden 1891; al-Ist ahrī al-Fārisī, Kitāb masālik al-mamālik,
˙˙ ˘
ed. ders. (BGA 1), Leiden 21927; Ibn Hawqal, Kitāb al-masālik
wa-l-mamālik, ed. ders. (BGA 2),
˙
Leiden 1873; al-Muqaddasī (al-Maqdisī), Kitāb ahsan at-taqāsīm fī ma‘rifat al-aqālīm, ed. ders.
˙ prairies d’or, ed. und ins Französische übers.
(BGA 3), Leiden 21906; Maçoudi (al-Mas‘ūdī), Les
v. Charles Barbier de Meynard/Abel Pavet de Courteille (Société Asiatique, Collection d’ouvrages
orientaux), 9 Bde., Paris 1861–1877; außerdem noch das anonyme persische Werk Hudūd al˙
‘ālam, ed. Manūčihr Sutūda (Intišārāt-i Dānišgāh-i Tihrān, Bd. 727), Teheran 1340/1962.
10 Al-Ist ahrī, Ibn Hawqal, al-Mas‘ūdī und al-Ǧayhānī. Die Geographie al-Ǧayhānīs (oder mögli˙˙ ˘ mehrerer
˙ Männer der Ǧayhānī-Familie) wurde im 10. Jahrhundert im Reich der Sacherweise
33
34
Texte auf Erzählungen von Kauleuten, Gesandten und anderen Reisenden, die das östliche
Europa aus eigener Anschauung kannten.11 Darüber hinaus sind Werke von Männern überliefert, die Ostmittel- oder Osteuropa selbst bereist oder gar dort gelebt hatten.12 Da die
Schrift im frühen Mittelalter erst langsam Verbreitung im östlichen Europa fand, sind aus
der Region selbst nur wenige Zeugnisse erhalten. Dies lässt die aus dem 9. und 10. Jahrhundert überlieferten arabischen Werke zu zentralen Quellen für die Geschichte des europäischen Ostens werden. Daneben ziehe ich ergänzend lateinische und, in Übersetzung, griechische und slawische Überlieferungen heran.
Wenn ich im Folgenden von Sklavinnen und Sklaven spreche, dann bezeichne ich damit
Menschen, die sich in der Verfügungsgewalt anderer befanden, als deren Eigentum galten
und theoretisch unbegrenzt Arbeit und Dienste für sie leisten mussten. Die Betrofenen
waren unter Anwendung von Zwang aus ihren sozialen Netzen herausgerissen und ihre
Körper zu einem Tauschmittel gemacht worden.13 Es soll hingegen nicht um Formen von
Unfreiheit gehen, die mit der im mittelalterlichen Westeuropa verbreiteten Hörigkeit vergleichbar wären, bei der die Betrofenen nicht entwurzelt wurden und in ihrem sozialen
Umfeld verblieben, um als Unfreie das Land zu beackern, auf dem sie lebten.14 Zu bedenken
bleibt, dass vormoderne Gesellschaften viele Formen der Abhängigkeit kannten, die nicht
zwingend immer negativ konnotiert waren, mitunter aber mit demselben Vokabular belegt
wurden wie die Sklaverei. Ein Beispiel aus dem mittelalterlichen östlichen Europa und Zentralasien stellt die arabische Bezeichnung ġilmān (Sg. ġulām) dar, die sowohl für Sklaven
verwendet wurde als auch für militärische Gefolgsleute eines Herrschers, die sich diesem
freiwillig angeschlossen hatten.15
11
12
13
14
15
maniden verfasst, ist jedoch nur in Auszügen in späteren Werken wie den Hudūd al-‘ālam, den
˙
»Grenzen der Welt«, überliefert (Charles Pellat, Art. al-Djayhānī, in: Encyclopaedia
of Islam,
2. Aulage [nachfolgend: EI2], Bd. 12, Leiden 2004, S. 265 f.). – In einigen Fällen verdankten
die hier benutzten Werke ihre Informationen denselben Quellen, s. Orientalische Berichte über
die Völker Osteuropas und Zentralasiens im Mittelalter. Die Ǧayhānī-Tradition (Ibn Rusta,
Gardīzī, Hudūd al-‘Ālam, al-Bakrī und al-Marwazī), übers. und komm. v. Hansgerd Göckenjan/
István Zimonyi (Veröfentlichungen der Societas Uralo-Altaica, Bd. 54), Wiesbaden 2001,
S. 1–49.
So im Falle al-Ǧayhānīs.
Relacja Ibrāhīma ibn Ja‘k ūba z podróży do krajów słowiańskich w przekazie al-Bekrīego, ed. und
˙
ins Polnische und Lateinische
übers. v. Tadeusz Kowalski (Monumenta Poloniae Historica, N. S.,
Bd. 1), Krakau 1946 (Ibrāhīm b. Ya‘qūb); Rihlat Ibn Fadlān. Ibn Fadlān’s Reisebericht, ed. und
˙
˙ 1939, und
˙ aus dem 12. Jahrhundert
ins Deutsche übers. v. Ahmed Zeki Velidi Togan,
Leipzig
noch Abū Hāmid el Granadino y su relación de viaje por tierras eurasiáticas, ed. und ins Spanische übers. ˙v. César E. Dubler, Madrid 1953 (al-Ġarnāt ī).
˙
Vgl. Zeuske, Handbuch, S. 99–115.
Vgl. dazu ebd., S. 113 f. und 543 f.
Dominique Sourdel/Cliford E. Bosworth/ Peter Hardy/Halil İnalcık, Art. Ghulām, in: EI2,
Bd. 2, Leiden 1965, S. 1079–1091, hier S. 1079–1084 (Sourdel; Bosworth); Jürgen Paul, Khidma
in the Social History of pre-Mongol Iran, in: Journal of the Economic and Social History of the
Orient 57 (2014), S. 392–422; Peter B. Golden, Some Notes on the comitatus in Medieval Eurasia with Special Reference to the Khazars, in: Russian History 28 (2001), S. 153–170; Christopher
I. Beckwith, Aspects of the Early History of the Central Asian Guard Corps in Islam, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 4 (1984), S. 29–43. – Zur arabischen Terminologie für Sklavinnen und
Sklaven s. Robert Brunschvig, Art. ‘Abd, in: EI2, Bd. 1, Leiden 1960, S. 24–40, hier S. 24–34.
thema
Baustein 1:
Verschleppung von Menschen aus dem östlichen Europa nach Zentralasien
Eine liebgewonnene hese der Forschung zum Sklavenhandel im östlichen Europa besagt,
dass ein beträchtlicher Teil der aus der Region verschleppten Menschen nach Zentralasien
gelangt sei: nach Transoxanien (dem Land zwischen Oxus/Amu Darya und Jaxartes/Syr
Darya, einem Gebiet, das heute größtenteils zu Usbekistan gehört), ins östlich anschließende Schasch (heute die Region um Taschkent/Usbekistan) und in den südlich angrenzenden
Osten Khorasans mit der Stadt Balkh als Zentrum (beim heutigen Mazar-i Scharif/Afghanistan). Das alleinige Argument, auf dem diese hese beruht, liefern Horte samanidischer
Silbermünzen, die im östlichen Europa und in Skandinavien gefunden wurden und in jenen
Regionen geprägt worden waren. Die muslimische persische Dynastie der Samaniden beherrschte im 9. und 10. Jahrhundert einen großen Teil Zentralasiens sowie Khorasan (Ostiran; eine Region, die heute vornehmlich in das Territorium des Iran, Turkmenistans und
Afghanistans fällt). Als Emire waren sie nach islamischen Vorstellungen nur Gouverneure
der abbasidischen Kalifen von Bagdad und Samarra (reg. 750–1258), de facto aber herrschten
sie zunehmend eigenständig über ihr Reich. Silbermünzen, Dirham, ließen sie seit den
880er Jahren prägen.16
Noch im 9. Jahrhundert waren im östlichen Europa und in Skandinavien vor allem nahöstliche Dirham als Teile von Schätzen vergraben worden, das heißt Münzen aus dem Irak,
Syrien, dem westlichen Iran oder Nordafrika.17 Aus den Fundstellen der Dirhamschätze und
den Prägestätten der Silbermünzen ist in Kombination mit den Schriftquellen geschlossen
worden, dass über die großen Flüsse wie den Don und die Kama rege Handelsbeziehungen
aus dem östlichen Europa in den Nahen Osten und nach Nordafrika bestanden, die über
Byzanz oder das khazarische Reich abgewickelt wurden.18
Mit dem Beginn des 10. Jahrhunderts änderte sich die Zusammensetzung der im östlichen
und nördlichen Europa verborgenen Münzschätze signiikant: Nun waren es ganz überwiegend Dirham aus den samanidischen Prägestätten Samarkand, Bukhara (beides in Transoxanien gelegen), Schasch und Balkh, die in Europa thesauriert wurden19 – in Skandinavien
und Ostmitteleuropa vor allem in zerhackter Form, in Osteuropa noch häuiger intakt – und
die in dieser Zeit im Rahmen einer Gewichtsgeldwirtschaft, in der es nicht auf den Nominalwert einer Münze ankam, sondern auf ihren Anteil an Edelmetall, ein in der Region
16 Richard N. Frye, he Sāmānids, in: ders. (Hg.), he Cambridge History of Iran, Bd. 4: he
Period from the Arab Invasion to the Saljuqs, Cambridge, UK/New York 1975, S. 136–161.
17 Sebastian Brather, Frühmittelalterliche Dirham-Schatzfunde in Europa. Probleme ihrer wirtschaftsgeschichtlichen Interpretation aus archäologischer Perspektive, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 23/24 (1995/1996), S. 73–153.
18 homas S. Noonan, Why Dirhams First Reached Russia. he Role of Arab-Khazar Relations in
the Development of the Earliest Islamic Trade with Eastern Europe, in: Archivum Eurasiae
Medii Aevi 4 (1984), S. 151–282.
19 Roman K. Kovalev, Khazaria and Volga Bulğāria as Intermediaries in Trade Relations Between
the Islamic Near East and the Rus’ Lands During the Tenth to Early Eleventh Centuries. he
Numismatic Evidence, Teil 1, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 18 (2011), S. 43–155; ders.,
Dirham Mint Output of Samanid Samarqand and its Connection to the Beginnings of Trade
with Northern Europe (10th century), in: Histoire & Mesure 17 (2006), S. 197–216; Jankowiak,
Two Systems.
35
36
verbreitetes Zahlungsmittel darstellten.20 Seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts nahm die
Zahl der Dirhamhorte, die in der Erde verborgen wurden, rapide ab, was wohl mit dem seit
den 940er Jahren beständig sinkenden Silbergehalt der zentralasiatischen Münzen zusammenhing. Bis in die Schlussphase der großen Dirhamschätze, das heißt bis ins beginnende
11. Jahrhundert, gelangten weiterhin aber nahöstliche Silbermünzen nach Ostmittel- und
Osteuropa, wenn auch in vergleichsweise geringer Zahl.21
Die meisten HistorikerInnen haben bisher angenommen, dass im Austausch gegen das
samanidische Silber Sklavinnen und Sklaven in großer Zahl aus den östlichen Geilden
Europas nach Samarkand, Bukhara, Balkh oder Schasch gebracht wurden. Doch was sagen,
jenseits des numismatischen Befundes, die aus dem 10. Jahrhundert erhaltenen Schriftquellen? Zwar wissen wir, dass es im samanidischen Reich Sklavinnen und Sklaven in großer
Zahl gab, sie wurden in städtischen Haushalten ebenso eingesetzt wie im Militär und in der
Verwaltung des Reiches.22 Allerdings bezeichnen die Quellen sie in der überwiegenden Zahl
der Fälle als »Türken« (at-Turk).23 Deutlich wird, dass die meisten Nicht-Muslime waren und
aus den Gebieten stammten, die im Norden, Osten und Süden an das Samanidenreich angrenzten.24 Von Sklaven, die aus dem östlichen Europa ins samanidische Reich gebracht
worden wären, ist, soweit ich sehe, nirgends die Rede.
Sklavinnen und Sklaven wurden nicht allein zur Deckung des Eigenbedarfs ins Samanidenreich importiert, sondern waren zum Teil zum Re-Export nach Indien25 oder – als Handelsware oder Bestandteil von Tributen der samanidischen Emire an die abbasidischen Kalifen – in den Nahen Osten bestimmt.26 An Sklavinnen und Sklaven scheint es im samanidischen Zentralasien also nicht gemangelt zu haben, weshalb der wirtschaftliche Anreiz,
zusätzlich Massen von Menschen aus dem weit entfernten östlichen Europa in das streckenweise nur über Land zu erreichende Transoxanien oder gar nach Balkh oder Schasch zu
holen, nur sehr gering gewesen sein kann.
20 Die Hortfunde bilden nicht die Zirkulation islamischen Silbers als Zahlungsmittel ab, sondern
lediglich einen vorübergehenden Überschuss an Silber, das nicht ausgegeben, sondern thesauriert
wurde (während gültige Prägungen im Rahmen einer Münzgeldwirtschaft in der Regel immerfort im Umlauf waren und nicht gehortet wurden): Heiko Steuer, Gewichtsgeldwirtschaften im
frühgeschichtlichen Europa. Feinwaagen und Gewichte als Quellen zur Währungsgeschichte,
in: UHV 4, S. 405–527, hier S. 459–490; Jens Schneeweiß, Münz- und Gewichtsgeldwirtschaft
an der westlichen Peripherie der slawischen Welt, in: Bogucki/Rębkowski (Hg.), Economies,
Monetisation and Society, S. 237–265; Birgitta Hårdh, Silber im 10. Jahrhundert. Ökonomie,
Politik und Fernbeziehungen, in: Joachim Henning (Hg.), Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit, Mainz 2002, S. 181–194.
21 Brather, Dirham-Schatzfunde, S. 90–114; Kovalev, Mint Output; ders., Khazaria and Volga
Bulğāria.
22 Frye, Sāmānids.
23 Hudūd al-‘ālam, S. 112, § 25; Ibn Hawqal, S. 337. – Vgl. Cliford E. Bosworth, he Ghaznavids,
˙ Mukhammed S. Asimov/Cliford
˙ E. Bosworth (Hg.), History of Civilizations of Central Asia,
in:
Bd. 4: he Age of Achievement. A. D. 750 to the End of the Fifteenth Century, Teil 1: he Historical, Social and Economic Setting, Paris 1998, S. 95–117, hier S. 113.
24 Ibn Hawqal, S. 337, 349; vgl. auch noch ebd., S. 120; Hudūd al-‘ālam, S. 101 f., § 24.
˙
25 Siehe˙ bspw. al-Maqdisī, S. 325.
26 Reuven Amitai, he Mamlūk Institution, or One housand Years of Military Slavery in the Islamic World, in: Christopher L. Brown/Philip D. Morgan (Hg.), Arming Slaves. From Classical
Times to the Modern Age, New Haven, CT/London 2006, S. 40–78, hier S. 45–51.
thema
Dass im 10. Jahrhundert zwischen dem östlichen Europa und diesen Regionen in Zentralasien Austauschbeziehungen geplegt wurden, davon legen die entdeckten Dirhamhorte
beredt Zeugnis ab. Viele der Münzen sind gewiss im Rahmen des Handels nach Ostmittelund Osteuropa gelangt. Nur zählten Menschen wohl eher nicht zu den Exportschlagern des
östlichen Europa; vielmehr werden vor allem Felle von Eichhörnchen, Bibern, Zobeln und
ähnlichem Getier, von denen in den Schriftquellen unentwegt die Rede ist, exportiert worden sein.27 Ferner wurde der Handel über Etappen im wolgabulgarischen Reich und in
Khorezm (der Oasenregion am Unterlauf des Oxus und an seiner damaligen Mündung in
den Aralsee, heute Turkmenistan und Usbekistan) abgewickelt,28 sodass nicht zwangsläuig
direkte Austauschbeziehungen zwischen Osteuropa und Zentralasien bestanden.29
Statt Zentralasien benennen die Schriftquellen des 10. Jahrhunderts den Nahe Osten,
Nordafrika und den Iran (nicht aber Balkh, die Münzstätte der Samaniden) als Destinationen ostmittel- und osteuropäischer Sklavinnen und Sklaven.30 Auch Khorezm indet
Erwähnung,31 und ein Teil der Sklavinnen und Sklaven wurde von dort in andere Regionen
der islamisch geprägten Welt weiterverhandelt.32 Von Khorezm aus bestanden zwar Verbindungen ins östliche Khorasan und nach Transoxanien, ebenso aber sind Verbindungen in
den westlichen Iran und den Nahen Osten belegt, und dorthin sind wohl auch die Sklavinnen und Sklaven aus dem östlichen Europa gebracht worden.33 Al-Ist ahrī und Ibn Hawqal,
˙˙ ˘ von europäischen
˙
die beide selbst in Transoxanien gewesen waren, wussten jedenfalls nichts
Sklavinnen oder Sklaven, die über Khorezm in die Gebiete jenseits des Oxus gebracht worden wären.34 Ibn Fadlān war in den 920er Jahren gar den Weg der samanidischen Dirham
˙ Khorezm ins östliche Europa entlanggereist – west-östliche Sklavenvon Transoxanien über
karawanen auf dieser Route erwähnt er nicht.
Neben dem Nahen Osten, dem Iran oder Khorezm wird auch die islamisch regierte
Iberische Halbinsel als Exportziel »slawischer« Sklaven genannt. Unter dem Terminus »Sla-
27 Roman K. Kovalev, he Infrastructure of the Northern Part of the »Fur Road« Between the
Middle Volga and the East During the Middle Ages, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 11
(2000–2001), S. 25–64; Ahmad Nazmi, Commercial Relations Between Arabs and Slavs (9th–
11th Centuries), Warschau 1998, S. 198–210.
28 Ein alternative Route führte nicht über Khorezm, sondern nordöstlich am Aralsee vorbei, vgl.
Roman K. Kovalev, Commerce and Caravan Routes along the Northern Silk Road (Sixth–Ninth
Centuries), Teil 1: he Western Sector, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 14 (2005), S. 55–105,
hier S. 69–73.
29 Der Numismatiker Roman Kovalev konnte wahrscheinlich machen, dass ein Teil der samanidischen Dirham des 10. Jahrhunderts gar nicht über Khorezm, sondern über den Iran oder den
Nahen Osten ins östliche Europa gelangte, diese Münzen also Kontakte Ostmittel- und Osteuropas in diese Regionen belegen und nicht unmittelbare Verbindungen nach Zentralasien: Kovalev, Khazaria and Volga Bulğāria, S. 99 f.
30 Siehe bspw. al-Mas‘ūdī, Bd. 7, S. 324; Hudūd al-‘ālam, S. 191 f., § 47, 49. – McCormick, Origins,
˙
S. 244–254; Nazmi, Relations, S. 184–186,
191–197; Peter B. Golden, Khazar Turkic Ghulāms
in Caliphal Service, in: Journal Asiatique 292 (2004), S. 279–309.
31 Al-Ist ahrī, S. 305; Ibn Hawqal, S. 281.
˙˙ ˘
32 Al-Maqdisī,
S. 323–325:˙ »Wa-ammā at-tiǧārāt fa-tartai‘u […] min Hwārazm […] wa-r-raqīq min
˘
as-Saqāliba wa-[…] – kull hādā min Bulġār.«
˙
˙
¯
33 Khorezm war im 10. Jahrhundert zeitweilig Teil des samanidischen Reiches gewesen, samanidische Münzen aus der Region fanden sich aber kaum in den Dirhamhorten des östlichen Europa.
34 André Miquel, Art. al-Ist akhrī, in: EI2, Bd. 4, Leiden 1978, S. 222 f.; ders., Art. Ibn Hawk al,
˙˙ S. 786–788.
˙ ˙
ebd., Bd. 3, Leiden 1971,
37
38
wen« (as-Saqāliba) wurden in arabischen Darstellungen oft diverse Gruppen zusammenge˙
fasst, die ˙das östliche Europa bevölkerten. Die Bedeutung des Wortes erweiterte sich in alAndalus im Laufe des 10. Jahrhunderts jedoch, sodass nicht mehr nur Ostmittel- und Osteuropäer, sondern häuig generell nicht-muslimische Europäer, die keine Byzantiner oder
griechischen Christen waren (für welche sich die Bezeichnung ar-Rūm, »die Römer«, etabliert hatte), mit diesem Begrif bezeichnet wurden.35 Zuweilen scheinen jedoch dezidiert
Bewohner des östlichen Europa gemeint gewesen zu sein, werden mitunter doch »slawische«
Sklavinnen und Sklaven von solchen unterschieden, die aus West- oder Südeuropa auf die
Iberische Halbinsel gekommen waren. Nicht wenige von ihnen wurden in die muslimischen
Herrschaftsgebiete Nordafrikas und des Nahen Ostens weiterverhandelt, vor allem ins Kalifat der Fatimiden.36
Die schriftlichen Erwähnungen »slawischer« Sklaven auf der Iberischen Halbinsel und in
Nordafrika und das fast völlige Fehlen dort geprägter Silbermünzen in den Schatzfunden
des östlichen Europa unterstreichen, dass die Dirhamhorte keinen brauchbaren Indikator
für die Wege des mittelalterlichen Sklavenhandels abgeben.37 Letztlich bleibt nicht auszuschließen, dass während des 10. Jahrhunderts vereinzelt Ostmittel- und Osteuropäer nach
Zentralasien verschleppt wurden. Für einen Menschenhandel enormen Ausmaßes gibt es
indes keine Anhaltspunkte.
Baustein 2:
Jüdische Kaufleute als Hauptträger des Sklavenhandels
Die von Charles Verlinden etablierte hese, im mittelalterlichen Sklavenhandelsgeschäft
hätten sich in erster Linie Juden betätigt, ja, jüdische Kauleute hätten ein nahezu weltumspannendes Netzwerk des Menschenhandels unterhalten,38 ist bisher nur von wenigen HistorikerInnen in Frage gestellt worden. Vor allem Michael Toch hat sich um die Dekonstruktion dieser hese verdient gemacht und aufgezeigt, dass Verlinden häuig Quellen miteinander verknüpfte, die gar nicht über dieselbe Sache sprachen. Toch kam zu dem Schluss, dass
die erhaltenen Quellen keineswegs von einem Sklavenhandelsmonopol jüdischer Kauleute
sprechen, und er bezweifelte sogar, dass Juden während des Mittelalters überhaupt in diesem
Wirtschaftszweig tätig waren.39 Seine Untersuchungen kombinierten die Relektüre bekann-
35 Peter B. Golden/Cliford E. Bosworth/Pierre Guichard/Mohamed Meouak, Art. al-Sak āliba, in:
˙ ˙
EI2, Bd. 8, Leiden 1995, S. 872–881.
36 Ibn Hurdādbih, S. 92; Ibn al-Faqīh, S. 83 f.; Ibn Hawqal, S. 69 f., 75; al-Maqdisī, S. 242. – Gui˘
¯
chard/Meouak,
Art. al-Sak āliba, S. 879–881; Ivan˙ Hrbek, Die Slawen im Dienste der Fatimiden,
˙
in: Archiv Orientální 21˙ (1953),
S. 543–581; Adam Gaiser, Slaves and Silver Across the Strait of
Gibraltar. Politics and Trade Between Umayyad Iberia and Khārijite North Africa, in: Medieval
Encounters 19 (2013), S. 41–70.
37 Dies war Georg Jacob schon 1891 aufgefallen (Welche Handelsartikel bezogen die Araber des
Mittelalters aus den nordisch-baltischen Ländern?, Berlin 2. Aul. 1891, S. 6; insgesamt zum
Sklavenhandel ebd., S. 6–17). Brather, Dirham-Schatzfunde, S. 80–85; Hårdh, Silber.
38 Verlinden, L’esclavage, Bd. 2: Italie – Colonies italiennes du Levant – Levant latin – Empire
byzantine, S. 121–131; ders., Großhandel mit Sklaven, S. 6–17.
39 Michael Toch, he Economic History of European Jews. Late Antiquity and Early Middle Ages,
Leiden 2012, S. 177–193; ders., Was here a Jewish Slave Trade (or Commercial Monopoly) in
the Early Middle Ages?, in: Schiel/Hanß (Hg.), Mediterranean Slavery Revisited, S. 421–444;
ders., Wirtschaft und Verfolgung. Die Bedeutung der Ökonomie für die Kreuzzugspogrome des
thema
ter lateinischer Quellen mit einer Analyse der kaum beachteten hebräischen Überlieferung.
Die hier untersuchten, vor allem arabischen Schriftzeugnisse zum östlichen Europa bestätigen Tochs Befund: Juden waren nach Ausweis dieser Quellen keineswegs die einzige und
sicherlich nicht die dominierende Gruppe im mittelalterlichen europäischen Sklavenhandel.
Allerdings belegen die Quellen auch, dass Kauleute jüdischen Glaubens tatsächlich mitunter Menschen verhandelten. Die im 9. Jahrhundert von Ibn Hurdādbih niedergeschriebene
˘
¯
Passage über die Radaniten (ar-Rādāniyya) ist schon oft in diesem Zusammenhang
bespro¯
chen worden: es ist darin von einer Gruppe jüdischer Kauleute die Rede, deren Handelsrouten von der Iberischen Halbinsel bis nach China reichten und die aus Westeuropa über
al-Andalus auch Sklavinnen und Sklaven in die islamische geprägte Welt brachten.40 Da
keine andere Quelle diese global agierende Gruppe jüdischer Kauleute zu kennen scheint,
bleibt die Glaubwürdigkeit von Ibn Hurdādbihs Darstellung allerdings fragwürdig.41 Ein
˘
¯
Jahrhundert später notierte al-Maqdisī, slawische
Sklaven würden in einer Stadt bei Pechina
(bei der Hafenstadt Almería in al-Andalus gelegen) von jüdischen Einwohnern kastriert.42
Davon, dass der Handel mit nach Spanien verschleppten Saqāliba generell in den Händen
˙
jüdischer Kauleute gelegen hätte, sprach er nicht.
Jüdische Sklavenhändler, die im östlichen Europa selbst aktiv waren, erwähnte Ibrāhīm
ibn Ya‘qūb in seinem Reisebericht. Der jüdische Andalusier war um 965 oder 973 unter anderem durch Ostmitteleuropa gereist. Er beschrieb Prag als Handelszentrum, in das Türken,
Muslime und Juden aus den »Ländern der Türken« (bilād al-Atrāk) (möglicherweise dem
Karpatenbecken43) kämen. Sie brächten, so Ibrāhīm, Handelswaren mit und führten im
Gegenzug Sklaven (raqīq), Zinn und Pelze aus.44 Auch in lateinischen Quellen des 10. Jahrhunderts irmiert Prag als Ort, an dem Juden menschliche Ware – Christen ebenso wie
Gentilreligiöse – verkauften.45 Ibrāhīms Augenzeugenbericht legt jedoch nahe, dass neben
jüdischen Händlern auch muslimische und gentilreligiöse Kauleute in diesem Geschäft
tätig waren.
In den arabischen und persischen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts ist mir kein weiteres Zeugnis für das Engagement von Juden im Sklavenhandel Ostmittel- und Osteuropas
untergekommen. Zu erwähnen bleibt jedoch die älteste Vita Naums (gest. 910), eines Gefährten der Slawenmissionare Konstantin-Kyrill (gest. 869) und Method (gest. 885), aus der
40
41
42
43
44
45
11. und 12. Jahrhunderts, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge, Sigmaringen 1999, S. 253–285, hier S. 271–285.
Ibn Hurdādbih, S. 153–155. Vgl. Eliyahu Ashtor, Aperçus sur les Radhanites, in: Schweizerische
˘
Zeitschrift ¯für Geschichte 27 (1977), S. 245–275; Charles Pellat, Art. al-Rādhāniyya, in: EI2,
Bd. 8, Leiden 1995, S. 363–367.
Vgl. dazu Pellat, Art. al-Rādhāniyya. – Siehe auch den ähnlich lautenden Bericht bei Ibn alFaqīhs (S. 270 f.) vom Beginn des 10. Jahrhunderts, in dem Sklaven nicht als Handelsware erwähnt werden.
Al-Maqdisī, S. 242. Etwas Ähnliches schrieb auch Ibn Hawqal, S. 75, in dieser Zeit auf. Bei ihm
˙
ist von jüdischen Händlern die Rede, die Slawen in al-Andalus
kastrierten.
Vgl. András Róna-Tas, Hungarians and Europe in the Early Middle Ages. An Introduction to
Early Hungarian History, übers. v. Nicholas Bodoczky, Budapest 1999 (ung. 1996), S. 289–294.
Ibrāhīm b. Ya‘qūb, S. 3; Dmitrij Mishin, Ibrahim ibn-Ya’qub at-Turtushi’s Account of the Slavs
from the Middle of the Tenth Century, in: Annual of Medieval Studies at CEU (1994–1995),
S. 184–199, hier S. 186.
Vgl., wenn auch in vielerlei Hinsicht hochgradig spekulativ, Třeštík, Große Stadt, außerdem
Martin Ježek, A Mass for the Slaves: from Early Medieval Prague, in: Jiří Macháček/Šimon
Ungerman (Hg.), Frühgeschichtliche Zentralorte in Mitteleuropa, Bonn 2011, S. 623–642.
39
40
ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Sie erzählt von Priestern und Diakonen, die im mährischen Reich von Widersachern gefangengesetzt und an Juden verkauft wurden, welche sie
nach Venedig verschleppten und dort weiterverkauften.46 In der Zollordnung von Rafelstetten aus dem beginnenden 10. Jahrhundert schließlich erscheinen jüdische Kauleute an
der Seite christlicher Baiern und Gentilreligiöser aus dem östlichen Europa als Händler, die
an der Donau, auf einem Abschnitt etwa zwischen Passau und Wien, einen Ost-West-Handel mit mancipia betrieben.47
Im Zentrum der Ausführungen arabischsprachiger Autoren, die sich mit dem östlichen
Europa befassen, stehen jedoch nicht jüdische Sklavenhändler, sondern Rus’ (ar-Rūs) und
Ungarn (al-Maǧġariyya). Beide Gruppen werden als notorische Menschenräuber und
-händler porträtiert.48 Al-Mas‘ūdī beispielsweise erzählt von Raubzügen der Rus’ an den
Küsten des Kaspischen Meeres in den 910er Jahren, bei denen die Piraten aus dem Norden
Beute in Form von Frauen und kleinen Kindern machten.49 Auch Ibn Rustas geographisches Werk und Ibn Fadlāns autobiographischer Reisebericht erzählen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ˙von Razzien der Rus’ unter der slawischen Bevölkerung des östlichen Europa und davon, dass die Rus’ ihre menschliche Beute auf Schifen zu den Märkten des khazarischen und wolgabulgarischen Reiches gebracht und dort gegen Gold- und
Silbermünzen eingetauscht hätten.50 Byzantinischen Autoren waren die anfangs vor allem
aus Skandinaviern, bald aber auch aus Osteuropäern bestehenden Gruppen von Rus’ im
10. Jahrhundert ebenfalls als Kauleute, Piraten, Krieger und Tributeintreiber bekannt,
die das östliche Europa unsicher machten, Menschen aus der Waldzone verschleppten, sie
per Schif den Dnjepr, den »Weg von den Warägern zu den Griechen«51, hinunterbrachten
46 Methodie Kussef, St. Nahum, in: Slavonic and East European Review 29 (1950), S. 139–152,
hier, S. 143 f.
47 Inquisitio de theloneis Rafelstettensis, in: Capitularia regum Francorum II, ed. Alfred Boretius/
Viktor Krause (Monumenta Germaniae Historica [nachfolgend: MGH] Capit. 2), Hannover
1897, Nr. 253, S. 249–252, hier S. 250–252, Abs. 1, 4, 6, 9. – Siehe Aleksandr V. Nazarenko, Die
frühesten bayerisch-russischen Kontakte in historischer und sprachwissenschaftlicher Sicht, in:
Hermann Beyer-homa (Hg.), Bayern und Osteuropa. Aus der Geschichte der Beziehungen
Bayerns, Frankens und Schwabens mit Rußland, der Ukraine und Weißrußland, Wiesbaden
2000, S. 25–56.
48 Golden, Art. al-Sak āliba, S. 877; Nazmi, Relations, S. 186–191.
49 Al-Mas‘ūdī, Bd. ˙2,˙S. 18–24.
50 Ibn Rusta, S. 145; Ibn Fadlān, S. 35, 37 f., § 77, 83, 85. – Die Rafelstetter Zollordnung spricht
darüber hinaus mglw. von˙ altrussischen Sklavenhändlern an der mittleren Donau: Inquisitio de
theloneis Rafelstettensis, S. 251, Abs. 6; vgl. Nazarenko, Kontakte.
51 So ein Zitat aus der altrussischen Povest’ vremennych let [nachfolgend: PVL], der »Erzählung der
vergangenen Jahre« (Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch
des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’vestr aus dem Jahr 1116, übers.
v. Ludolf Müller, München 2001, S. 7). Zu den Rus’, die seit dem 8. Jahrhundert zwischen Ostsee, Schwarzem und Kaspischem Meer unterwegs waren und bald auch verschiedene Herrschaftsbildungen in Osteuropa etablieren konnten, siehe Carsten Goehrke, unter Mitwirkung von Ursel
Kälin, Frühzeit des Ostslaventums, Darmstadt 1992.
thema
und in Byzanz verkauften.52 Ähnliches erzählen die Quellen über die Ungarn53, aber auch
über Petschenegen54 und Wolgabulgaren55. Als Abnehmer der menschlichen Ware inden
häuig Byzantiner Erwähnung.56 In der Gesamtschau vermitteln die Quellen den Eindruck, dass potentiell alle Gemeinschaften, die im 9. und 10. Jahrhundert das östliche
Europa bevölkerten, ihre Nachbarn versklavten, sobald sich nur die Gelegenheit dazu bot
und man mithilfe von Schifen oder Pferden ausreichend mobil war.57
Abgesehen von jüdischen und gentilreligiösen Sklavenhändlern berichten die Quellen
auch von Christen und Muslimen, die aus den angrenzenden Reichen ins östliche Europa
und seine Grenzregionen kamen, um in Razzien oder durch Handel Sklaven zu akquirieren. Namentlich erwähnt werden Byzantiner58, Venezianer59, Baiern60, Khorezmier61 und
Khorasaner62. Die Opfer dieser Versklaver und Sklavenhändler waren häuig Menschen,
die nicht einer der drei abrahamitischen Religionen anhingen. Jefrey Fynn-Paul hat 2009
den Begrif der »no-slaving zone« gebraucht, um die islamischen und christlichen Imperien
des Mittelalters als Räume zu beschreiben, in denen die Versklavung freier Glaubensbrüder
und -schwestern aus religiösen Gründen zunehmend tabuisiert und rechtlich untersagt
worden sei. Diese Reiche seien zu Territorien geworden, wo weder Menschenraub, Verwandten- oder Selbstverkauf noch Schuld- und Strafsklaverei in nennenswertem Maße
mehr vorgekommen seien, und hätten daher »the world’s irst ›perfect‹ no-slaving zones«
gebildet. Jenseits ihrer Grenzen hingegen seien neue Verschleppungszonen entstanden, die
nun den Sklavenbedarf der monotheistischen Imperien decken sollten. Eine der bedeutendsten slaving zones des 9. und 10. Jahrhunderts sei das östliche Europa gewesen, da die
52 Die Byzantiner und ihre Nachbarn. Die De administrando imperio genannte Lehrschrift des
Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos für seinen Sohn Romanos, übers. v. Klaus Belke/Peter
Soustal, Wien 1995 (nachfolgend: DAI), S. 78–85. – Erwähnungen inden von den Rus’ verschleppte und verkaufte Menschen auch in den Handelsverträgen, die die byzantinischen Kaiser
in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts mit Großen und Kauleuten der Rus’ schlossen, die im
Namen der Fürsten Oleg (gest. 912/913) und Igor (reg. 912/913–945/946) und ihrer Gefolgsleute verhandelten. Die Verträge sind in der später kompilierten PVL überliefert (Manfred Hellmann, Die Handelsverträge des 10. Jahrhunderts zwischen Kiev und Byzanz, in: UHV 4,
S. 643–666; Übersetzung ebd., S. 659 f., § 9, 11 f.; S. 663 f., § 2 f., 6 f., 9). Sie mahnen zum Freikauf oder Austausch christlicher Sklaven in den Händen der Rus’, während Nicht-Christen in
der Rus’ als legitime Sklaven gelten sollten.
53 Ibn Rusta, S. 142 f.; Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, ed. Friedrich
Kurze (MGH Scriptores rerum Germanicarum), Hannover 1891, zum Jahr 894, S. 125.
54 Al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 58–64; DAI, S. 74.
55 Ibn Rusta, S. 141.
56 Ebd., S. 142 f.; al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 58–64; DAI, S. 74.
57 Siehe allgemein die von Hansgerd Göckenjan und István Zimonyi übersetzten und kommentierten Quellen: Orientalische Berichte, S. 95–190, 221–265.
58 Al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 58–64; Ibn Rusta, S. 142 f.; DAI, S. 78–85; Taxiarchis G. Kolias, Kriegsgefangene, Sklavenhandel und die Privilegien der Soldaten. Die Aussage der Novelle von Ioannes
Tzimiskes, in: Byzantinoslavica 56 (1995), S. 129–135, hier S. 129 f.
59 Verlinden, L’esclavage, Bd. 2, S. 115–118, 131–133.
60 Inquisitio de theloneis Rafelstettensis, S. 251, Abs. 4.
61 Ibn Hawqal, S. 281.
62 Ebd.,˙ S. 75.
41
42
Menschen dort noch kaum christianisiert und die Herrschaftsbildungen erst wenig zentralisiert waren.63
Im lateinischen Westen des christlichen Europa ist seit dem 9. Jahrhundert vonseiten
der Kirche wie auch der Herrschenden verstärkt versucht worden, den Handel mit und den
Besitz von christlichen Sklavinnen und Sklaven einzuschränken,64 und in Gebieten unter
muslimischer Herrschaft dienten zuvorderst Nicht-Muslime als Sklaven, während die Versklavung freier Muslime rechtlich verboten war.65 Anders stellte sich die Situation jedoch
im byzantinischen Reich dar, in dem es das gesamte Mittelalter hindurch auch einheimische Christen gegeben hat, die aufgrund ihrer Geburt, wegen Verschuldung oder Strafälligkeit, durch Selbstverkauf oder den Verkauf durch Verwandte Sklavinnen und Sklaven
geworden waren,66 obwohl auch dort der Zugrif auf Unfreie christlicher Konfession sukzessive rechtlich begrenzt wurde.67 Fynn-Pauls Konzept scheint mir daher zu absolut gedacht; die von ihm als »monotheistische Blöcke«68 bezeichneten mittelalterlichen Reiche
waren keine religiös homogenen Räume, und das gut untersuchte Beispiel Venedigs demonstriert, dass Christen im christlichen Europa Christen als Sklaven verkauften.69 Der
Osten Europas fügt sich erst gar nicht in Fynn-Pauls Entwurf ein, wie im Folgenden, so
hofe ich, deutlich werden wird.
Dass Gentilreligiöse aus dem östlichen Europa so regen Absatz auf jenen Märkten fanden,
die in den Grenzgebieten zur christlich und islamisch regierten Welt lagen, hatte vielleicht
auch weniger religiöse als militärische und praktische Gründe: Sie waren, wenn sie in den
im 9. und 10. Jahrhundert noch zahlreich existierenden herrschaftsfernen Räumen lebten,70
leichte Beute für Räuber und Händler.
63 Jefrey Fynn-Paul, Empire, Monotheism and Slavery in the Greater Mediterranean Region from
Antiquity to the Early Modern Era, in: Past & Present 205 (2009), S. 3–40, Zitat S. 5. – Ähnlich
auch Juliane Schiel, Sklaven, in: Michael Borgolte (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin 2014 (engl. 2013), S. 251–265.
64 Hartmut Hofmann, Kirche und Sklaverei im frühen Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 42 (1986), S. 1–24.
65 Brunschvig, Art. ‘Abd, S. 25–31.
66 Rotman, Byzantine Slavery, bes. S. 25–27, 172–176; Helga Köpstein, Die byzantinische Sklaverei in der Historiographie der letzten 125 Jahre, in: Klio 43 (1965), S. 560–576; Günter Prinzing,
On Slaves and Slavery, in: Paul Stephenson (Hg.), he Byzantine World, London/New York 2010,
S. 92–102.
67 Rotman, Byzantine Slavery, S. 166–172.
68 Fynn-Paul, Empire, S. 4.
69 Zum Sklavenhandel der Lagunenstadt, der auch Gentilreligiöse aus dem östlichen Europa betraf,
vgl. McCormick, Origins, S. 733–777; Verlinden, L’esclavage, Bd. 2, S. 115–133; Johannes Hofmann, Die östliche Adriaküste als Hauptnachschubbasis für den venezianischen Sklavenhandel
bis zum Ausgang des elften Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 165–181.
70 Christian Lübke, Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten
Gesellschaften (9.–11. Jahrhundert), Köln/ Weimar/ Wien 2001.
thema
Baustein 3:
Sklavenexport in die islamische Welt statt Sklaverei im östlichen Europa
In Jefrey Fynn-Pauls Modell kommt das östliche Europa nur als Sklavenreservoir für die
islamische Welt vor.71 Fynn-Paul liegt damit ganz auf der Linie der bisherigen Forschung,
die sich auf den mittelalterlichen Fernhandel und die Verschleppung von Menschen in Gebiete unter islamischer Herrschaft konzentrierte. Für Sklaverei in den Gesellschaften Ostmittel- und Osteuropas interessierte sich kaum jemand.
Wie erwähnt, nennen die aus dem 9. und 10. Jahrhundert überlieferten Quellen tatsächlich die Iberische Halbinsel, Nordafrika oder den Nahen Osten als Ziele des Handels mit
Menschen aus dem östlichen Europa. Abgesehen von diesen Gebieten, die unter muslimischer Herrschaft standen, bezeichnen sie aber auch das karolingische Reich72 und vor allem
Byzanz als Zielregionen des Handels mit Sklavinnen und Sklaven aus Ostmittel- und Osteuropa.73 Neben Verschleppungen und Menschenhandel thematisieren die Quellen jedoch
ebenso jene Formen von Sklaverei, die im östlichen Europa selbst existierten. Im Folgenden
werde ich kurz die verstreuten Bemerkungen arabischer und persischer Autoren zu diesem
hema besprechen und mich dann auf das Fallbeispiel des donaubulgarischen Reiches im
9. und 10. Jahrhundert konzentrieren. In einem Ausblick auf spätere Zeiten, der die Frage
berühren wird, ob Sklavenhandel und Sklaverei im östlichen Europa bald nach dem Jahr
1000 zum Erliegen kamen, werde ich mich schließlich einer bisher wenig beachteten Quelle
aus dem 12. Jahrhundert zuwenden.
Arabische und persische Werke des 9. und 10. Jahrhunderts sprechen von Sklaverei unter
den Rus’,74 Slawen,75 Wolgabulgaren76 und Khazaren,77 und auch im Kaukasus scheint
Sklaverei verbreitet gewesen zu sein.78 Die Quellen machen deutlich, dass Sklavinnen und
Sklaven in diesen Gesellschaften als Besitz der Sklavenhalter galten und einen anderen Status hatten als Freie79. Die Sklavenhalter zählten, was kaum überrascht, häuig zu den politischen und wirtschaftlichen Eliten; in den arabischen Quellen inden dabei dezidiert nur
Männer Erwähnung.80 Die Versklavten waren oft Frauen oder Kinder.81 Besondere Aufmerksamkeit schenkten muslimische Autoren dem Brauch der Rus’, Sklavinnen mit ihren
verstorbenen Herren zu verbrennen,82 womöglich, weil er ihnen besonders kurios oder bar71 Fynn-Paul, Empire, S. 20–25.
72 Inquisitio de theloneis Rafelstettensis. Siehe auch noch Peter Johanek, Der fränkische Handel
der Karolingerzeit im Spiegel der Schriftquellen, in: UHV 4, S. 7–68, hier S. 21, 37–40.
73 Siehe Anm. 58; Hellmann, Handelsverträge, S. 659–664.
74 Ibn Rusta, S. 145 f.; al-Ist ahrī, S. 226; Ibn Fadlān, S. 34 f., 37–42, § 76, 83 f., 86–93. Daneben
˙˙ ˘
˙
noch Hellmann, Handelsverträge, S. 659–664.
75 Ibn Rusta, S. 145.
76 Ibn Fadlān, S. 34 f., § 76.
77 Ebd., S.˙ 44 f., § 96 f., 100 f.; al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 12.
78 Hudūd al-‘ālam, S. 158, 164, § 35 f.
˙ Fadlān erzählt bspw., dass die Sklaven (hier, Sg., mamlūk) der Rus’ nicht bestattet würden,
79 Ibn
˙ infolge einer Krankheit starben (S. 38, § 86). Auch noch ebd., S. 34 f., § 76.
wenn sie
80 Ibn Fadlān spricht von Großen (ru’asā’) des wolgabulgarischen Reiches, die sich Sklavinnen und
Sklaven˙ hielten (ebd., S. 34 f., § 76). Ein ähnliches Bild ergibt seine Darstellung der Sklaverei bei
den Rus’. Siehe noch ebd., S. 44, § 96 zum khazarischen Reich; Ibn Rusta, S. 145; al-Ist ahrī,
˙˙ ˘
S. 226. – Zu Frauen als Besitzerinnen von Sklaven und Sklavinnen siehe unten den Abschnitt
zum arpadischen Ungarn.
81 Al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 58–64; Ibn Fadlān, S. 45, § 100; DAI, S. 74.
˙
82 Al-Ist ahrī, S. 226.
˙˙ ˘
43
44
barisch erschien. Ibn Fadlān hat diese Tradition im Bericht von seiner Reise ins wolgabul˙ beschrieben; seine Darstellung ofenbart jedoch, dass sich zuweigarische Reich ausführlich
len auch männliche Sklaven mehr oder weniger freiwillig opferten, um zusammen mit ihren
verstorbenen Besitzern verbrannt zu werden.83 Ibn Fadlān war 921–922 im Namen des ab˙
basidischen Kalifen al-Muqtadir (908–932) mit einer Gesandtschaft
von Bagdad ins Reich
der Bulgaren an der Wolga gereist.84 Dort war er auch Zeuge der Opferung einer Sklavin
anlässlich der Bestattung eines wohlhabenden Rus’ geworden. Zu Lebzeiten, so berichtet Ibn
Fadlān, arbeiteten die Sklavinnen der Rus’ im Haushalt ihres Herren und unterstützen ihn
bei˙den Dingen des täglichen Lebens, etwa bei der Körperplege.85 Darüber hinaus mussten
die Frauen und Mädchen ihrem Besitzer häuig auch sexuell zu Diensten sein;86 nach Aussage von Ibn Fadlāns Reisebericht beschliefen Rus’-Kauleute sogar jene Sklavinnen, die sie
˙ Händler weiterzuverkaufen gedachten.87
als Ware an andere
Über die Lebensumstände der Betrofenen wissen wir wenig. Ibn Rusta schrieb von Sklavinnen (Sg. ǧāriya), die sich im Besitz slawischer Männer befänden, selbst aber, ebenso wie
die Ehefrauen (Sg. imra’a) der Männer, über Gewänder verfügten, die vom »König der Slawen« als Abgaben eingezogen werden konnten.88 Ob die Kleider auf den umfangreichen
eigenen Besitz dieser Frauen oder doch eher auf ihre Funktion als Prestigeobjekte hinweisen,
ist kaum zu sagen. Auch über die Arbeiten, die Sklavinnen und Sklaven im östlichen Europa leisten mussten, spricht kaum eine der arabischen Quellen. Gelegentlich inden ġilmān
Erwähnung, die an den Höfen der wolgabulgarischen und khazarischen Herrscher als Krieger Dienst taten.89 Ob diese Männer Sklaven im Sinne der oben vorgeschlagenen Deinition
waren oder doch eher militärische Gefolgsleute, die sich als Teil eines comitatus oder einer
družina freiwillig dem Herrscher angeschlossen hatten, lässt sich aufgrund der doppelten
Bedeutung des arabischen Terminus nicht entscheiden. Al-Mas‘ūdī, der in der ersten Hälfte
des 10. Jahrhunderts an den südlichen Grenzen des Khazarenreiches im Kaukasus unterwegs
war, erwähnt dezidiert Rus’ und Slawen, die den khazarischen Herrschern als Soldaten
(ǧund) und Sklaven (‘abīd) dienten,90 was sowohl Militärsklaverei als auch sonstige Formen
der Sklaverei am Herrscherhof bedeuten kann.91
83 Ibn Fadlān, S. 38–42, § 87–92. Zu Opfersklaverei bei den Khazaren ebd., S. 44, § 96.
˙ ist nicht der ursprüngliche Reisebericht, sondern nur gekürzte Versionen aus dem
84 Erhalten
11. und 13. Jahrhundert, siehe Marius Canard, Art. Ibn Fadlān, in: EI2, Bd. 3, Leiden 1971,
˙ neben Ibn Fadlān auch Sklaven
S. 759. – Zum Personal der Bagdader Gesandtschaft gehörten
˙
(ġilmān) und Freigelassene, die zum Islam konvertiert waren. Unter ihnen waren
ein türkischstämmiger Mann, ein »Slawe« und ein Mann, der vermutlich aus dem Kaukasus stammte (Ibn
Fadlān, S. 1, 16).
85 Ibn˙ Fadlān, S. 37, 43, § 84, 93.
86 Ebd., S.˙ 37, § 83 f.
87 Ebd., § 83.
88 Ibn Rusta, S. 145: »Wa-yaǧī’uhum malikuhum fī kull sana. In kāna li-raǧul minhum ibna ahada
˘ ¯
min tiyābihā hil‘a fī s-sana marratan. Wa-in kāna lahū ibn ahada min tiyābihī hil‘a fī s-sana
¯
˘
˘
¯
˘
¯
marratan uhrā. Wa-in lam yakun lahū ibn wa-lā ibna ahāda min tiyāb imra’atihī aw ǧāriyatihī
˘
˘ ¯
¯
hil‘a.«
˘ Fadlān, S. 23, 44 f., § 48, 97, 101.
89 Ibn
˙
90 Al-Mas‘ūdī,
Bd. 2, S. 12: »Wa-r-Rūs wa-s-Saqāliba alladīna dakarnā annahum ǧāhiliyya hum
˙˙
¯
¯
ǧund al-malik wa-‘abīduhū.«
91 Siehe auch noch die Übersetzung des Briefwechsels zwischen dem khazarischen Beg Joseph und
dem Andalusier Hasdāy ibn Šaprūt aus der Mitte des 10. Jahrhunderts bei Swetlana A. Pletnjowa,
˙
˙ an Don und Wolga, Leipzig 1978, S. 155, 157, 160 f.
Die Chasaren. Mittelalterliches
Reich
thema
In die Sklaverei gerieten die Menschen durch Raub- oder Kriegszüge. Al-Ist ahrī notierte
˙˙ ˘
im 10. Jahrhundert ferner, dass die im khazarischen Reich lebenden Gentilreligiösen
(hier:
ahl al-awtān, »Götzendiener«) ihre Kinder verkauften und sich gegenseitig in die Sklaverei
brächten,¯ während der Verkauf von Glaubensbrüdern und -schwestern und Verwandten
unter den Muslimen, Juden und Christen des Landes nicht vorkäme.92
Abgesehen von diesen nicht eben erschöpfenden Darstellungen in arabischen und persischen Werken haben sich einige slawische und lateinische Quellen aus dem ausgehenden
9. und dem 10. Jahrhundert erhalten, die Schlaglichter auf Formen der Sklaverei im Bulgarenreich an der unteren Donau werfen.93 Die Quellen entstammen einer Zeit großer Dynamik und heftiger politischer Auseinandersetzungen infolge der Konversion Khan Boris’
(852–889) und einiger Großer zum griechischen Christentum im Jahr 864 oder 865, wohl auf
Druck des byzantinischen Kaiserhofes.94 Überliefert sind zum einen Gesetzestexte, die unter
anderem den Bereich der Sklaverei betrefen – dass es in dem nun von Christen beherrschten,
von Byzanz beeinlussten Reich Sklavinnen und Sklaven geben musste, steht in ihnen außer
Frage. Die Vorlagen, auf denen die bulgarischen Gesetze beruhten, stammten denn auch aus
dem byzantinischen Reich, wo Sklaverei das gesamte Mittelalter hindurch existierte.95
Erhalten hat sich etwa die slawische Übersetzung eines byzantinischen Gesetzes, das
Konliktfälle im ländlichen Raum regeln sollte. Der Text wurde um das Jahr 900 angefertigt
und erwähnt Sklaven, die Tätigkeiten in der Landwirtschaft ausübten; auf ihre Vergehen
standen härtere Strafen als auf die Verfehlungen Freier.96 Im Falle dieses Gesetzes wurden
lediglich byzantinische Vorlagen wortgetreu übersetzt.97 Ein anderer slawischer Rechtscodex, der höchstwahrscheinlich aus dem Bulgarenreich stammt und in derselben Zeit verfasst
wurde, geht ebenso auf eine byzantinische Vorlage zurück, passt diese aber an die Situation
vor Ort an.98 Der Zakon sudnyj ljudem (»Gesetz zum Richten der Leute«) weicht in jenen
Bereichen vom griechischen Original ab, die nach der Konversion eines Teils der Elite zum
Christentum dem stärksten Wandel unterlagen. So dokumentiert die Gesetzessammlung den
Versuch, die Bestimmungen des Kirchenrechts in Bezug auf den hemenkreis Lebensgemeinschaft, Ehe und Sexualität durchzusetzen: Sie untersagte verheirateten Männern den
sexuellen Verkehr mit ihren Sklavinnen und sah in solchen Fällen den Verkauf der Sklavin
92 Al-Ist ahrī, S. 223.
˙˙ ˘die slawischen Quellen nicht lesen kann, benutze ich die englische Übersetzung zahlrei93 Da ich
cher Texte aus dem donaubulgarischen Reich, die Kiril Petkov vorgelegt hat (he Voices of
Medieval Bulgaria, Seventh–Fifteenth Century. he Records of a Bygone Culture, Leiden/Boston
2008).
94 Daniel Ziemann, Vom Wandervolk zur Großmacht. Die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter (7.–9. Jh.), Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 345–412.
95 Rotman, Byzantine Slavery; Köpstein, Byzantinische Sklaverei.
96 Voices of Medieval Bulgaria, Nr. 30, S. 19–21, § 44–46, 71 f.
97 Siehe die englische Übersetzung einer byzantinischen Vorlage bei Walter Ashburner, he Farmer’s
Law. II, in: Journal of Hellenic Studies 32 (1912), S. 68–95, hier S. 91, 94.
98 Haralampi Oroschakof, Ein Denkmal des bulgarischen Rechtes. Zakon Sudni Ljudem, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 33 (1916), S. 141–282 mit deutscher Übersetzung
des Zakon auf S. 201–250. – Andere Entstehungsorte im östlichen Europa wie das mährische
Reich oder Slawonien sind ebenfalls in Erwähnung gezogen worden, siehe bspw. Josef Vašica,
Origine cyrillo-methodienne de plus ancien code slave dit Zakon sudnyj ljudem, in: Byzantinoslavica 12 (1951), S. 154–174. Die Gesetzessammlung hat sich nur in Abschriften aus der Kiewer
Rus’ erhalten.
45
46
durch den »Fürsten« (knenz), den Herrscher und höchsten Richter des Reiches, in die Fremde vor.99 Auch der sexuelle Umgang mit der Sklavin eines anderen Herren wurde unter
Strafe verboten. Die Vergewaltigung einer Jungfrau sollte unter Umständen mit der Versklavung des Täters bestraft werden, der Erlös aus dem Verkauf seines Besitzes dem geschädigten
Mädchen zugutekommen.100
Dort, wo der griechische Text Körperstrafen angedroht hatte, indet sich in der slawischen
Übertragung als Strafe zumeist die Versklavung des Delinquenten – damit wurde im bulgarischen Reich eine Entwicklung umgekehrt, die im byzantinischen Recht im 6. Jahrhundert unter dem Eindruck des Christentums stattgefunden hatte.101 Dies mag darauf hindeuten, dass Strafsklaverei im bulgarischen Reich bereits vor der Konversion der politischen
Eliten zum Christentum und der Einführung byzantinisch inspirierter Gesetze üblich gewesen war. Versklavt werden sollten nach den Bestimmungen des Zakon Krieger, die türmten und sich vom christlichen Glauben abwandten, Diebe, die Kirchengut entwendeten,
Grabräuber, Viehdiebe (nach Wiederholungstaten), in Kriegszeiten auch Pferdediebe.102
Auch für jene, die sich in »heidnischen« Ritualen ergingen, sah das Gesetz die Versklavung
und die Veräußerung des Besitzes vor.103 Die Betrofenen konnten verkauft oder einem
Geschädigten oder der Kirche übergeben werden. Der Verkauf, der meist zugunsten der
Kirche und der Armen geschah, zielte wohl häuig auf Abnehmer im bulgarischen Reich
selbst, da nur in dem oben angeführten Fall dezidiert von einem Verkauf der für schuldig
Befundenen in die Fremde gesprochen wird.104 Das Gesetz hält auch Strafen für jene bereit,
die Sklaven stahlen oder Freie widerrechtlich in die Sklaverei führten, um sie für sich selbst
arbeiten zu lassen oder sie zu verkaufen.105 Es bespricht darüber hinaus den Fall von Kriegsgefangenen, die von »Fremden« im donaubulgarischen Reich gekauft worden waren, und
regelt Möglichkeiten für die Betrofenen, sich freizukaufen.106
Der Zakon legt Zeugnis ab über die Bemühungen weltlicher und geistlicher Funktionsträger, in den Jahrzehnten nach Boris’ Konversion christlichen Normen in dem vorwiegend
von Nicht-Christen bewohnten bulgarischen Reich Geltung zu verschafen und die Christianisierung der Bevölkerung voranzutreiben. Das Konkubinat, das christlichen Ehevorstellungen widersprach, sollte ebenso verboten werden wie überhaupt die sexuelle Indienstnahme von Sklavinnen durch ihre Besitzer oder andere Männer. Die Wege, die in die Sklaverei
führten, sollten rechtlich reguliert werden, ebenso die Einschränkungen, denen Sklavinnen
und Sklaven unterlagen, sowie die Modi ihrer Freilassung. Welche gesellschaftliche Reichweite den hier besprochenen Gesetzen beschieden war, lässt sich kaum greifen. Sicherlich
deckte sich auch im bulgarischen Reich die soziale Praxis nicht mit der Norm der überlieferten Gesetze. Die Existenz der Texte deutet aber darauf hin, dass das Halten von Sklavinnen und Sklaven, ihr Einsatz in der Landwirtschaft und das Versklaven von Straftätern dort
99 Voices of Medieval Bulgaria, Nr. 73, S. 50, Art. 4. – Vgl. Oroschakof, Denkmal, S. 161.
100 Voices of Medieval Bulgaria, S. 50 f., Art. 4 f., 9; vgl. Vašica, Origine, S. 162. – Zur Umsetzung
der Normen des Kirchenrechts vgl. allgemein Eve Levin, Sex and Society in the World of the
Orthodox Slavs, 900–1700, Ithaca, NY 1989.
101 Vgl. zur Entwicklung des Rechts in Byzanz Rotman, Byzantine Slavery, S. 172–176.
102 Voices of Medieval Bulgaria, S. 52 f., Art. 21, 24, 26–28.
103 Ebd., S. 48, Art. 1. Weitere Sklavinnen und Sklaven werden in den Art. 18 und 25, S. 52 f. erwähnt.
104 Oroschakof, Denkmal, S. 172.
105 Voices of Medieval Bulgaria, S. 53, Art. 29 f.
106 Ebd., S. 52, Art. 19. Vgl. dazu auch Rotman, Byzantine Slavery, S. 45 f.
thema
keine unbekannten Phänomene waren, sondern verbreitete Praktiken, die nach Meinung
einiger Funktionsträger des Reiches der rechtlichen Regulierung bedurften.
Bereits kurz nach ihrem Übertritt zum griechischen Glauben hatten Boris und einige
seiner Gefolgsleute im Wunsch nach größerer kirchlicher und politischer Unabhängigkeit
von Byzanz ein Schreiben an Papst Nikolaus I. (858–867) in Rom gesandt, um die Besonderheiten der lateinischen Konfession und ihrer Praktizierung im täglichen Leben zu erfragen
und die Chancen auf eine eigene bulgarische Kirchenorganisation auszuloten. Der Brief hat
sich nicht erhalten, es existiert lediglich eine Abschrift des auf 866 datierten Antwortschreibens Nikolaus’, die aus dem 10. oder 11. Jahrhundert stammt. Dieser Brief, die so genannte
Responsa ad consulta Bulgarorum, geht auf die Fragen ein, die Boris und die mit ihm verbündeten Großen an den Papst gerichtet hatten, und legt die christlichen Moralvorstellungen
und Normen nach römischer Lesart dar.107 In sechs der insgesamt 106 Kapitel des Schreibens
inden auch Sklaven (servi) Erwähnung, deren Existenz für den päpstlichen Hof genauso
selbstverständlich gewesen zu sein scheint wie für die Eliten des Bulgarenreiches an der
Donau. Besprochen werden theoretische Fälle von Menschenraub108 und liehenden Sklaven109. Auch von Eunuchen (eunuchi) ist in einem Kapitel die Rede, das sich um die Frage
dreht, ob das Fleisch von Tieren, die von Kastraten geschlachtet wurden, gegessen werden
dürfe oder ob es sich dabei um eine Sünde handele, wie die byzantinischen Christen (Graeci) den Bulgaren erzählt hätten.110 Der Papst rät dabei stets zur Gnade gegenüber Sklaven
und mitunter zu ihrer Freilassung aus Mildtätigkeit, die Gott vergelten werde111 – ein Echo
des lateinisch-christlichen, aber auch des byzantinischen Diskurses um Sklaverei in dieser
Zeit.112
Dass es im donaubulgarischen Reich Sklaverei gab, bezeugen auch die eisernen Fesseln,
die bei Grabungen in der ehemaligen Hauptstadt Preslav (bei Schumen/Bulgarien) und einer
Siedlung nahe dem spätantiken Kastell Iatrus (auf dem Gebiet des heutigen bulgarischen
Dorfes Krivina) zum Vorschein kamen. Die Funde datieren ins 10. Jahrhundert und sind
von Joachim Henning als Halsfesseln versklavter Menschen interpretiert worden. Weitere
Eisenfesseln des 9. und 10. Jahrhunderts, die Menschen wohl um den Hals oder an Handund Fußgelenken tragen mussten, sind im Einlussbereich der Rus’ und in Mähren gefunden
107 Zur Quelle Ivan Dujčev, Die Responsa Nicolai I. Papae ad consulta Bulgarorum als Quelle für
die bulgarische Geschichte, in: Leo Santifaller (Hg.), Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Wien 1949, S. 349–362; Lothar Heiser, Die
Responsa ad consulta Bulgarorum des Papstes Nikolaus I. (858–867). Ein Zeugnis päpstlicher
Hirtensorge und ein Dokument unterschiedlicher Entwicklungen in den Kirchen von Rom und
Konstantinopel, Trier 1979.
108 Nicolai I. papae epistolae, ed. Ernst Perels, in: Epistolae Karolini aevi IV (MGH Epp., Bd. 6),
Berlin 1925, S. 257–690, Nr. 99 (S. 568–600), hier S. 580, Kap. 32.
109 Ebd., S. 579, Kap. 21, 25.
110 Ebd., S. 588, Kap. 57. Ein weiterer Rechtstext, der ins ausgehende 9. oder beginnende 10. Jahrhundert datiert, spricht davon, dass im bulgarischen Reich Kastrationen vorgenommen würden
(Voices of Medieval Bulgaria, Nr. 33, S. 31).
111 Nicolai I. papae epistolae, S. 579, 581, 597, Kap. 21, 35, 97.
112 Hofmann, Kirche und Sklaverei; Prinzing, On Slaves and Slavery, S. 94. – Ein arabisches Werk
aus dem 10. Jahrhundert, das sowohl al-Mas‘ūdī als auch Ibrāhīm b. Wasīf zugeschrieben worden
ist, erzählt ebenfalls von Sklaverei bei den Donaubulgaren (Burǧān). Es˙ ist darin unter anderem
von Opfersklaverei die Rede und von slawischen Kindern, die von den Bulgaren anlässlich von
Friedensschlüssen als Verhandlungsmasse an die Byzantiner gegeben würden (siehe die deutsche
Übersetzung Göckenjans/Zimonyis, Orientalische Berichte, S. 235–237).
47
worden. Henning brachte diese Funde mit dem Export von Sklaven aus dem östlichen Europa nach Byzanz und in die islamisch regierte Welt in Verbindung, nicht aber mit Sklaverei
und kleinräumigem Sklavenhandel in der Region selbst.113 Zwar sind die Fesseln vor allem
in Burgwällen, die in der Forschung mitunter als Stapelplätze des Sklavenhandels angesprochen worden sind,114 zum Vorschein gekommen; allerdings handelte es sich meist um Hortfunde, sodass die Provenienz der Fesseln unklar bleibt. Andere Funde wurden in ehemaligen
Siedlungen gemacht, was meines Erachtens weniger auf einen Fernhandel mit verschleppten
Menschen hindeutet als vielmehr bestätigt, dass es Sklaverei im östlichen Europa selbst gegeben hat, und zwar auch jenseits der Zentren.115
48
Baustein 4:
Das Ende von Sklavenhandel und Sklaverei im 11. Jahrhundert
Zuletzt möchte ich auf eine Quelle eingehen, die in diesem Zusammenhang bisher nur
wenig Beachtung gefunden hat, da sie nicht den Sklavenhandel des Frühmittelalters, sondern
Verhältnisse des 12. Jahrhunderts beschreibt. Es ist oft behauptet worden, dass die Versklavung von Bewohnern des östlichen Europa im Laufe des 11. Jahrhunderts ein Ende gefunden
habe, da die Eliten der neuen Reiche der Piasten, Přemysliden, Arpaden und Rus’ sich bei
der Ausübung ihrer Herrschaft zunehmend auf die Ressource Land gestützt hätten und
weniger, wie zuvor, auf das Edelmetall Silber. Zudem habe die fortschreitende Christianisierung Ostmittel- und Osteuropas den Pool an gentilreligiösen Sklavinnen und Sklaven, die
in der islamischen Welt so begehrt gewesen seien, stark schrumpfen lassen.
In der Tat inden sich in arabischen und persischen Quellen seit dem 11. Jahrhundert
kaum noch Hinweise auf Sklaverei und Sklavenhandel im östlichen Europa. Aus dem
12. Jahrhundert ist allerdings das Fragment eines geo- und ethnographischen Kompendiums
überliefert, das den Titel Al-mu‘rib ‘an ba‘ d ‘aǧā’ ib al-maġrib (»Die Darstellung einiger Wun˙
113 Joachim Henning, Gefangenenfesseln im slawischen Siedlungsraum und der europäische Sklavenhandel im 6. bis 12. Jahrhundert. Archäologisches zum Bedeutungswandel von »sklābossakāliba-sclavus«, in: Germania 70 (1992), S. 403–426; ders., Archäologische Funde von Eisenfesseln aus den bulgarischen Siedlungsgebieten zwischen Wolga und Donau, in: Problemi na
prabălgarskata istorija i kultura, Bd. 2, Soia 1991, S. 52–61; ders., Strong Rulers – Weak Economy? Rome, the Carolingians and the Archaeology of Slavery in the First Millenium AD, in:
Jennifer R. Davis/Michael McCormick (Hg.), he Long Morning of Medieval Europe. New
Directions in Early Medieval Studies, Aldershot 2008, S. 33–53. – Funde eiserner Fesseln bieten
meines Erachtens bisher die einzige überzeugende Möglichkeit des archäologischen Nachweises
von Sklaverei und Sklavenhandel in mittelalterlicher Zeit. Dass mit Hilfe von DNA-Analysen,
wie sie Błażej Stanisławski und Mateusz Bogucki in Kooperation mit dem Archäologischen Institut der Usbekischen Akademie der Wissenschaften durchzuführen planen (persönliche Mitteilung Mateusz Boguckis vom 17.9.2014), Migrationen im Rahmen des Fernhandels mit Sklavinnen und Sklaven nachgewiesen werden können, ist erst noch zu belegen. Auch dass siedlungsarchäologische Befunde die Entvölkerung ganzer Regionen durch Sklavenrazzien anzuzeigen
vermögen, wie Marek Jankowiak vor Kurzem argumentierte, erscheint mir fraglich (Dirhams for
Slaves. Investigating the Slavic Slave Trade in the Tenth Century, unveröf. Vortrag, gehalten
2012 im Rahmen des Medieval History Seminar der Universität Oxford, www.academia.
edu/1764468/Dirhams_for_slaves._Investigating_the_Slavic_slave_trade_in_the_tenth_century [letzter Zugrif 18.10.2014]).
114 McCormick, Origins, S. 743 f.
115 Siehe den Katalog der Funde von Eisenfesseln bei Henning, Gefangenenfesseln, S. 419–424.
thema
der des Westens«) trägt, sich eingehend mit der Region befasst und von dort praktizierten
Formen der Sklaverei erzählt. Der Autor, Abū Hāmid al-Ġarnāt ī (gest. 1169/70), war 1080
˙ Jahre in Saqsin,
˙ einem Zentrum an der
in Granada geboren worden, lebte später aber 20
unteren Wolga, und drei Jahre im Karpatenbecken. In seinem Werk, das viele autobiographische Passagen enthält, schrieb er über Ungarn (bilād Unqūriyya):116
»Eine schöne Sklavin (ǧāriya) kostet zehn Dinar117, und in Zeiten von Kriegszügen kauft
man eine gute Sklavin für drei Dinar und einen byzantinischen Sklaven (al-ġulām arRūmī)…118 Ich kaufte eine Sklavin, die unter Muslimen aufgewachsen, aber ursprünglich
anderer Herkunft war (muwallada), deren Vater, Mutter und Geschwister noch lebten.
Ich kaufte sie von ihrem Herren für zehn Dinar. Sie war 15 Jahre alt, schöner als der
Mond, das Haar und die Augen schwarz, ansonsten war sie weiß wie Kampfer119. Sie
kann kochen, nähen und schreiben [und zeigt Geschick in der Verarbeitung von Honig]. Ich kaufte eine weitere, byzantinische Sklavin, sie war acht Jahre alt und kostete
fünf Dinar. […] Sie gebar einen Jungen, der starb. Ich ließ sie frei und nannte sie Maryam. Ich hegte den Wunsch, dass sie mit mir nach Saqsin käme, fürchtete aber um sie
wegen der türkischen Kindsmütter120, die ich dort hatte.«121
Im 12. Jahrhundert, als al-Ġarnāt ī sein Werk verfasste, waren viele Bewohner des ungari˙ daneben auch Juden, Muslime und Gentilreligiöse dort
schen Reiches bereits Christen, wenn
siedelten.122 Dennoch erweckt die Schilderung des gebürtigen Andalusiers den Eindruck,
dass in Ungarn zu dieser Zeit kein Mangel an Sklaven herrschte. Al-Ġarnāt ī spricht jedoch
˙ oder auf die
nicht davon, dass versklavte Menschen in den Nahen Osten, nach Zentralasien
Iberische Halbinsel weggebracht worden wären, sondern erzählt, wie Sklavinnen und Sklaven in das von den christlichen Arpaden beherrschte Reich geholt wurden – aus Gebieten,
die unter griechisch- oder lateinisch-christlicher Herrschaft standen. In Zeiten militärischer
Auseinandersetzungen, wenn viele Kriegsgefangene gemacht wurden, bestand laut alĠarnāt ī ein reicheres Angebot an Sklavinnen und Sklaven als in Friedenszeiten, aber selbst
˙
dann konnten
SklavInnen mühelos erworben werden. In den 1150er Jahren, als der Autor im
Karpatenbecken lebte, regierte Géza II. (Kg. 1141–1162) und führte mehrere Kriegszüge gegen
Byzanz an der unteren Donau und auf der Balkanhalbinsel an.123 Im Rahmen dieser Feldzüge wurden wohl auch die byzantinischen Sklavinnen und Sklaven akquiriert, von denen
116 Al-Ġarnāt ī, S. 27, 32 f., § 27, 31. – Zum Autor Évariste Lévi-Provençal, Art. Abū Hāmid al˙
Gharnāt ī,˙in: EI2, Bd. 1, Leiden 1960, S. 122.
˙
117 Islamische Goldmünze.
118 Lücke in der einzigen erhaltenen Handschrift.
119 Eine weiße, wohlriechende Substanz, die aus verschiedenen Arten des in Ost- und Südostasien
beheimateten Kampferbaumes gewonnen wurde (Albert Dietrich, Art. Kāfūr, in: EI2, Bd. 4,
Leiden 1978, S. 417 f.).
120 Im islamischen Recht Sklavinnen, die ihrem Herren Kinder geboren haben und nicht mehr
verkauft werden dürfen. Die Sklavin wird nach dem Tod ihres Herren frei, die Kinder sind frei
ab ihrer Geburt.
121 Al-Ġarnāt ī, S. 30 f., § 29.
˙ At the Gate of Christendom. Jews, Muslims and »Pagans« in Medieval Hungary,
122 Nora Berend,
c. 1000–c. 1300, Cambridge, UK 2001.
123 Dies./Przemysław Urbańczyk/Przemysław Wiszewski, Central Europe in the High Middle Ages.
Bohemia, Hungary and Poland, c. 900–c. 1300, Cambridge, UK 2013, S. 129 f.
49
50
al-Ġarnāt ī erzählt. Außerdem, so ist bei ihm zu lesen, falle der ungarische König124 in die
˙ »Franken« (al-Afranǧ) ein und mache dort Gefangene.125 Viele, wenn nicht die
Länder der
meisten der ins Karpatenbecken verschleppten Menschen dürften Christen gewesen sein.
Al-Ġarnāt ī berichtet auch, wie er einigen der im arpadischen Reich lebenden Muslime die
˙ Genusses von Sklavinnen und vier Ehefrauen auseinandergesetzt habe (und
Vorzüge des
ihnen verboten habe, Wein zu trinken), woraufhin der König den Muslimen gegen das Veto
seiner geistlichen Berater gestattet habe, Konkubinen zu besitzen.126 Es gab im 12. Jahrhundert im Arpadenreich also Muslime, die Sklavinnen und Sklaven hielten – darunter womöglich auch Christen, obwohl dies unter den Königen Ladislaus I. (1077–1095) und Koloman
(1095–1116) verboten worden war.127
Erfahren bei al-Ġarnāt ī nur muslimische Sklavenhalter128 und importierte Sklavinnen
˙ Erwähnung, so ergab Cameron Sutts tiefgreifende Studie zur
und Sklaven ausdrückliche
Sklaverei im arpadischen Königreich, dass noch im 13. Jahrhundert auch christliche Laien
(sowohl Männer als auch Frauen), Geistliche sowie kirchliche Institutionen Sklavinnen und
Sklaven besaßen und christliche Bewohner des Arpadenreiches aus verschiedenen Gründen
in die Sklaverei geraten konnten. Sutt wertete vor allem normative Rechtsquellen und Überlieferungen zur Rechtspraxis aus. Die Sklavinnen und Sklaven, von denen in diesen Quellen
die Rede ist, waren das Eigentum ihrer HerrInnen, mussten in der Landwirtschaft arbeiten,
viele Frauen und einige Männer aber auch im Bereich von Haus und Hof. Sie wurden als
bewegliche Güter betrachtet, die verkauft, verschenkt, vererbt oder verpfändet werden konnten. Zuweilen wurden sie ihren Besitzern gestohlen, mitunter wurden sie freigelassen. In die
Sklaverei waren sie durch Geburt und Vererbung, durch Heirat, Verschuldung oder aufgrund
von Rechtsverstößen gekommen.129
Nun besaß Abū Hāmid al-Ġarnāt ī nicht nur byzantinische Sklavinnen in Ungarn, sondern auch türkische ˙Konkubinen in ˙Saqsin, einer Stadt, die seinerzeit unter wolgabulgarischer Herrschaft stand.130 Darüber hinaus berichtet er in seinem Werk von Sklaverei in den
slawischen Gemeinschaften des östlichen Europa, in deren Leben er auf seinen ausgedehnten
Reisen Einblicke erhalten hatte, wobei der Terminus Slawen bei ihm auch die Rus’
124 Al-Ġarnāt ī bezeichnete den ungarischen König als »König der Baschkiren« (malik Bāšġird) und
˙ werde K.zālī genannt – möglicherweise eine verschriebene Form für Ungarisch oder
notierte, er
Slawisch »König«. Vgl. zu den von al-Ġarnāt ī in Bezug auf das arpadische Reich benutzten Be˙
zeichnungen Róna-Tas, Hungarians and Europe,
S. 289–294; Tadeusz Lewicki, Les noms des
Hongrois et de la Hongrie chez les médiévaux géographes arabes et persans, in: Folia Orientalia
19 (1978), S. 35–55.
125 Al-Ġarnāt ī, S. 32, § 31.
126 Al-Ġarnāt˙ī, S. 32 f., § 31. – Zu muslimischen Gemeinschaften in Ungarn auch noch ebd., S. 27,
˙
§ 27.
127 Möglicherweise hat es noch im 13. Jahrhundert im Arpadenreich Muslime und Juden gegeben,
die über christliche Sklavinnen und Sklaven verfügten: Berend, Gate, S. 74 f., 110–112, 152–189,
201–213.
128 Al-Ġarnāt ī, S. 30–33, 38, § 29, 31, 36.
129 Cameron ˙M. Sutt, Slavery in Árpád-era Hungary in a Comparative Context, unveröf. Diss.,
University of Cambridge 2008. – Ich danke Cameron Sutt dafür, dass er mir seine unpublizierte Dissertationsschrift zur Verfügung gestellt hat. Seine Arbeit soll in Kürze in überarbeiteter
Form bei Brill in den Druck gehen. Vgl. solange Cameron Sutt, Uxores, ancillae and dominae.
Women in hirteenth-Century Hungary in the Register of Várad, in: Journal of Medieval History 36 (2010), S. 142–155.
130 Al-Ġarnāt ī, S. 6, 31, § 4, 29.
˙
thema
einschließt,131 deren Zentrum Kiew er besucht hatte. Bei den Slawen wurde al-Ġarnāt ī
˙
zufolge Strafsklaverei praktiziert: Wenn ein Mann das Recht gebrochen hatte und die als
Strafe geforderte Summe Geldes nicht aufbringen konnte, dann wurden seine Frau und
seine Kinder verkauft. Wenn er keine Kinder hatte, wurde er selbst verkauft und musste
einem Herren (sayyid) als Sklave dienen – bis an sein Lebensende oder bis er sich freikaufen
konnte. Außerdem war Schuldsklaverei laut al-Ġarnāt ī verbreitet, sodass ein Slawe, der mit
˙ Schuld nicht begleichen konnte, zur
einem muslimischen Kaufmann Handel trieb und seine
Tilgung der Schuld zusammen mit seinen Kindern in die Sklaverei verkauft wurde.132 Auch
vom Handel mit Sklavinnen und Sklaven in den Ländern der Slawen (bilād as-Saqāliba) ist
˙ ˙
in al-Ġarnāt īs Schrift die Rede.133
˙
Wie al-Ġarnāt īs Werk bezeugt (und Cameron Sutts Studie untermauert), kann keines˙
falls die Rede davon
sein, dass nach der Konsolidierung monarchischer Reiche und der
Christianisierung der politischen Eliten Sklavenhandel und Sklaverei im östlichen Europa zu ihrem Ende gekommen wären. Die hochmittelalterlichen Quellen erwecken vielmehr den Eindruck, dass nicht wenige Menschen in dieser Zeit als Sklavinnen und Sklaven in den Haushalten der Wohlhabenden arbeiten mussten oder auf Feldern, die der
Kirche gehörten. Viele dieser Unfreien waren Christen und damit Glaubensbrüder und
-schwestern ihrer Besitzerinnen und Besitzer. Manche wurden als Kriegsgefangene, geraubte Beute oder Handelsgut in fremde Herrschaftsbereiche verschleppt, andere wurden
aufgrund des herrschenden Rechts zu Sklaven und Sklavinnen in der Gesellschaft, in der
sie lebten.
Sklaverei und Sklavenhandel im östlichen Europa und
die These vom sklavenfreien Kontinent
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Sklaverei im östlichen Europa während des Frühund Hochmittelalters ein verbreitetes Phänomen darstellte. Die Betrofenen waren in die
Sklaverei geraten, weil sie nicht genügend Mittel hatten aufbringen können, um ihre Schulden zu begleichen, oder sie hatten gegen das herrschende Recht verstoßen und waren zur
Strafe versklavt worden. Manche wurden zu Sklavinnen oder Sklaven, weil ihre Eltern ihnen
diesen Status vererbt hatten, andere wiederum waren von ihren Angehörigen verkauft worden. Viele waren auch in Raub- und Kriegszügen von herrscherlichen Kriegern oder selbständigen Sklavenfängern verschleppt und anschließend verhandelt worden. Sklavinnen und
Sklaven wurden in der Landwirtschaft eingesetzt oder im Haushalt. Frauen und Mädchen
mussten ihren Besitzern zudem häuig sexuell zu Diensten sein und waren mitunter Konkubinen ihrer Herren.134 Auch Opfersklaverei war im östlichen Europa nicht unbekannt. Ver-
131 Golden, Art. al-Sak āliba, S. 876 f.
˙ §˙ 22. – Im 12. Jahrhundert notierte auch Benjamin von Tudela, der jedoch nie
132 Al-Ġarnāt ī, S. 24,
selbst im ˙östlichen Europa gewesen war, die Menschen dort verkauften ihre Kinder in andere
Länder (he Itinerary of Benjamin of Tudela, ed. und ins Englische übers. v. Marcus Nathan
Adler, London 1907, S. 80 f.).
133 Al-Ġarnāt ī, S. 24, § 21. – Siehe auch Verlinden, L’esclavage, Bd. 2, S. 552 f., 713–765; Hofmann,
˙
Östliche Adriaküste,
S. 180, zum Sklavenhandel im Balkanraum und an der östlichen Adria.
134 Zur ungleichen Situation weiblicher und männlicher Sklaven und der Frage, ob dies auf einen
unterschiedlichen rechtlichen Status oder auf die allgemeine soziale Marginalisierung von Frauen zurückzuführen sei, siehe Susan Mosher Stuard, Ancillary Evidence for the Decline of Medieval Slavery, in: Past & Present 149 (1995), S. 3–28; Jean-Pierre Devroey, Men and Women in
51
52
sklavt wurden Gentilreligiöse ebenso wie Christen und, so steht zu vermuten, auch Juden
und Muslime. Sklavinnen und Sklaven waren im ländlichen Raum zu inden und an den
Höfen der Herrschenden, wo sie unterschiedliche Funktionen ausfüllten, möglicherweise
auch jene der Militärsklaven, doch sind die Quellen in dieser Hinsicht uneindeutig. Die
herrschenden Eliten proitierten auch durch Zölle vom Sklavenhandel.135 Der Handel mit
Menschen ist vielfach belegt und war auch im 12. Jahrhundert noch nicht zum Erliegen
gekommen, wobei jüdische Kauleute darin keine herausragende Rolle spielten. Auch endeten bei Weitem nicht alle Menschen, die während des Früh- und Hochmittelalters im östlichen Europa geraubt, verkauft, verschleppt und versklavt wurden, in der islamisch beherrschten Welt. Viele blieben in der Region und für nicht wenige scheint das Dasein als
Sklavin oder Sklave nur eine vorübergehende Phase in ihrem Leben gewesen zu sein, die mit
der Freilassung oder der Tilgung der Schulden endete.136 Das östliche Europa war jedenfalls
keine Weltgegend, in der lange Karawanen verschleppter »Heiden« nur ein Ziel gekannt
hätten: die islamische Welt. Es war keine reine slaving zone des Islam.
Ebenso wenig aber wurde das östliche Europa im Laufe des Mittelalters durch den sukzessiven Übertritt der politischen Eliten zum lateinischen oder griechischen Christentum zu
einer monotheistischen no-slaving zone, in der keine Christen mehr von ihren Glaubensbrüdern oder -schwestern in die Sklaverei gebracht und nur noch Andersgläubige von außen als
Sklavinnen und Sklaven importiert worden wären.137 Die früh- und hochmittelalterlichen
Reiche des östlichen Europa waren keine monotheistischen Blöcke im Sinne Jefrey FynnPauls, sondern multireligiöse Herrschaftsbildungen, in denen verschiedene Gemeinschaften
mitunter recht autonom lebten.138 Zwar bezeugen Gesetzestexte wie jene, die aus dem donaubulgarischen Reich überliefert sind, dass geistliche und weltliche Funktionsträger und
Herrschende seit dem 9. Jahrhundert versuchten, christliche Normen auch in Bezug auf
Sklaverei und Sklavenhandel durchzusetzen und daher das Konkubinat verboten oder Muslimen und Juden den Besitz christlicher Sklavinnen und Sklaven untersagten. Bis zur Umsetzung dieser Normen in der sozialen Praxis war es aber bisweilen ein langer Weg, vor allem
wenn sie den rechtlichen Vorstellungen anderer Glaubensgemeinschaften widersprachen.
Angesichts der zahlreichen Belege für die Existenz von Sklaverei im östlichen Europa
zwischen 9. und 13. Jahrhundert stellt sich schließlich die Frage, welche Gültigkeit das Narrativ vom sklavenfreien mittelalterlichen Europa beanspruchen kann, wenn mit Ostmittelund Osteuropa, dem byzantinischen Reich und, spätestens im Spätmittelalter, den Mittel-
135
136
137
138
Early Medieval Serfdom. he Ninth-Century North Frankish Evidence, in: Past & Present 166
(2000), S. 3–30.
Inquisitio de theloneis Rafelstettensis; Ibn Fadlān, S. 35, § 77; al-Mas‘ūdī, Bd. 2, S. 22.
Zum Sklavenstatus als einem vorübergehenden˙ Zustand siehe Schiel, Sklaven, S. 262 f.
Auch die Unterscheidung (nach Orlando Patterson) von Gesellschaften in solche mit einer »extrusiven« und solche mit einer »intrusiven« Form der Sklaverei, wie sie zuletzt Juliane Schiel auf
das Mittelalter angewandt hat (Sklaven, S. 251 f., 255 f.), erscheint mir in Bezug auf das östliche
Europa wenig hilfreich. Dort ist während des Früh- und Hochmittelalters in der Regel beides
vorgekommen: die Versklavung von Angehörigen der eigenen Gruppe wie auch der Einsatz von
Sklavinnen und Sklaven, die aus anderen Gebieten stammten und einer translokalen Deportation
zum Opfer gefallen waren. Vgl. zu diesen Konzepten Zeuske, Handbuch, S. 99–128.
Berend, Gate, bes. S. 74–108; Lübke, Fremde; ders., Zur Erscheinungsweise mittelalterlicher
Städte in Ostmitteleuropa, in: Kurt-Ulrich Jäschke/Christhard Schrenk (Hg.), Was machte im
Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher
Städte, Heilbronn 2007, S. 125–150.
thema
meeranrainern139 der Großteil des Kontinents ausgenommen werden muss, weil sich dort
ein ganz anderes Bild bietet als im westlichen Europa, auf das die mediävistische Forschung
gewohnheitsgemäß als Erstes schaut. Wie auch das byzantinische Reich, in dem Sklaverei
im Mittelalter kontinuierlich fortbestand, stellte das östliche Europa mit seinen verschiedenen Formen der Sklaverei wohl keinen Sonderfall in einem ansonsten sklavenfreien Europa
dar, sondern repräsentiert den Regelfall. Als exzeptionell erscheinen in der Gesamtschau
hingegen das ländliche Westeuropa, der dortige Übergang von der Sklaverei zur Hörigkeit
(wenn man Letztere schon nicht als Sklaverei verstanden haben will, weil sie für die Betroffenen keine räumliche Verschleppung und soziale Entwurzelung bedeutete) und das vonseiten der weltlichen und vor allem der geistlichen Eliten forcierte gesetzliche Verbot des Verkaufs christlicher Untertanen. Die hier diskutierten hesen – dass Sklavenhändler meist
Juden gewesen seien, dass der Großteil der im östlichen Europa versklavten Menschen den
Kontinent verlassen habe und in der islamisch geprägten Welt geendet sei und dass die Etablierung christlicher Monarchien in Ostmittel- und Osteuropa das Ende von Sklavenhandel
und Versklavung bedeutet habe – scheinen mir letztlich allesamt von der aus der Kolonialzeit
stammenden Vorstellung beeinlusst, das christliche Europa sei keine Sklavenhaltergesellschaft wie die islamische Welt gewesen.140 Auch in Bezug auf Sklaverei im Mittelalter aber
taugt »der Islam« nicht als Gegenentwurf zur christlich-europäischen Zivilisation.141 Lenkt
man den Blick auf das mittelalterliche Ostmittel- und Osteuropa, wie ich es hier getan habe,
kann man die hese vom sklavenfreien Europa nur mehr verwerfen. Es hat im mittelalterlichen Europa Sklavinnen und Sklaven gegeben. Die Geschichten vieler Betrofener sind noch
nicht erzählt.
139 Zusammenfassend dazu zuletzt Schiel, Sklaven, S. 256.
140 Siehe Rebekka Habermas, Debates on Islam in Imperial Germany, in: David Motadel (Hg.),
Islam and the European Empires, Oxford 2014, S. 231–253.
141 Wie dies zuletzt Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, postuliert hat. Vgl. Edward W. Said, Orientalism, New York 1978.
53