Faculty of Cultural & Social Sciences

Drei Jahre nach den letzten Schreibversuchen am Romanfragment notiert Franz Kafka zum Verschollenen im Oktober 1917: „Meine Absicht war wie ich jetzt sehe einen Dickensroman zu schreiben, nur bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen und die mattern, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte.“ (Kafka 2002d, 841) Neben motivischen Ähnlichkeiten mit Charles Dickens’ Roman David Copperfield (1850) ist damit vor allem jener Bereich der Fiktion gemeint, den Kafka selbst retrospektiv als „Methode“ (Kafka 2002d, 841) des eigenen Romanfragments bezeichnete. Manfred Engel (2010, 178) hat diese Methode gegenüber späteren Texten und Schreibweisen als ein „ungewöhnlich großes Vertrauen“ in „standardisierte Plot-Elemente“ und ins „realistische Detail“ zu charakterisieren versucht. Mit Blick auf konstitutive Gattungselemente wurde Der Verschollene zwischen Entwicklungsbzw. Bildungsroman auf der einen und pikareskem Abenteuerroman auf der anderen Seite platziert. Letzteres vor allem auch wegen der Erzählstruktur, die den 17-jährigen Karl Roßmann nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten episodenhaft in je neue ‚amerikanische‘ Konstellationen versetzt. In Variationen wiederholen diese Episoden das Modell von Eintritt, Verstoß und Ausweisung bzw. Auswanderung (vgl. Heimböckel 2003, 142): von Karls Landung in New York als Advokat des Heizers, der Zusammenführung mit dem reichen Onkel Jakob in Amerika, dem Aufenthalt in Pollunders Landhaus, dem Verweis durch den Onkel, dem Marsch nach Ramses mit Delamarche und Robinson, der Anstellung als Liftjunge im „Hotel Occidental“ über Karls Tage auf dem Balkon der ehemaligen Opernsängerin Brunelda, den Transport Bruneldas in das „Unternehmen 25“ bis zu seiner Aufnahme in das „große Teater von Oklahama“. (Vgl. Ivanovic 2006) Zusätzlich zu den gattungsgeschichtlichen Tableaus des Bildungsund Abenteuerromans hat die Kafka-Forschung mehrere intertextuelle Referenzen des Ver-

ISBN 978-3-8253-4890-8 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.