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Eiger, Mord & Jungfrau: Kriminalroman
Eiger, Mord & Jungfrau: Kriminalroman
Eiger, Mord & Jungfrau: Kriminalroman
eBook416 Seiten4 Stunden

Eiger, Mord & Jungfrau: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Im azurblauen Wasser vor Nizza schwimmt eine Wasserleiche. Kurze Zeit später stirbt an der Côte d’Azur ein Assistenzarzt der renommierten Berner Parkklinik Eiger. Alles deutet auf einen Segelunfall hin.
Frau Knecht, die Mutter des verstorbenen Arztes, glaubt nicht an einen Unfall. Sie vermutet einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen. Sie bittet den ehemaligen Studienfreund ihres Sohnes, Dr. Franco Weber, um Rat und Unterstützung. Anfänglich nimmt Franco Weber die Zweifel der Frau nicht ernst. Er befürchtet vielmehr, für die trauernde Mutter die Rolle des Ersatzsohnes spielen zu müssen. Dem vielversprechenden und ehrgeizigen Herzchirurgen des Berner Inselspitals bleibt kaum Zeit für sein Privatleben, geschweige denn für die Sorgen einer verwirrten Trauernden.
Gemeinsam mit einem Freund stellt Franco Weber Frau Knecht zuliebe ein paar halbherzige Nachforschungen an.
Statt klare Antworten auf einfache Fragen zu bekommen, stossen die beiden auf komplizierte Widersprüche und dunkle Flecken – auch auf
SpracheDeutsch
HerausgeberLOKWORT
Erscheinungsdatum1. Dez. 2012
ISBN9783905961072
Eiger, Mord & Jungfrau: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Eiger, Mord & Jungfrau - Paul Wittwer

    Erster Teil

    1

    Es war kurz nach zehn Uhr vormittags. Max Knecht stand zufrieden mit sich und der Welt auf dem Balkon des Zimmers 305 im Hôtel des Terrasses in Nizza und genoss in der angenehmen Wärme der aufgehenden Maisonne den freien Blick auf Strand und Meer. Der Zimmerservice hatte soeben das Frühstück gebracht und durch die offene Balkontür strömte der feine Duft von Kaffee und Croissants.

    Max warf einen Blick zurück. Jeanne lag noch schlafend im Bett. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. In angenehmer Erinnerung an die vergangene Nacht betrachtete er ihre blosse Schulter und das braune Haar, welches sich ungebändigt auf dem Kissen ausbreitete. Ein unbestimmter, aber bekannter Schauer durchlief Maxens Lendengegend und er fühlte sich in diesem Moment stärker als der Stier, welcher ihm vom Reklameplakat auf der gegenüberliegenden Strassenseite die Stirne bot.

    Er atmete tief durch und begutachtete seinen Körper. Am Bauch hatte er zwei, drei Kilo zu viel. Aber wenn er sich etwas reckte, machte er im spiegelnden Glas der halb geöffneten Verandatür keine schlechte Figur. Trotzdem würde er gleich nach dem Frühstück eine halbe Stunde schwimmen gehen. Er schob seine Sonnenbrille zurück. Die Beine behielten auch ohne die Tönung der Brille ihre braune Farbe. Er fläzte sich in einen der Liegestühle und schloss die Augen.

    Er genoss dieses Nichtstun mit besonderer Genugtuung, weil er fand, dass er sich diese Ferien ganz speziell verdient hatte. Vor etwas mehr als einem Monat – am 30. März, um genau zu sein – hatte er die Bescheinigung erhalten, dass seine Dissertation über «Die Funktion der Schilddrüse nach der subtotalen Kropfoperation» endlich akzeptiert worden und er fortan berechtigt war, den Titel eines Doktors der Medizin zu tragen. Diese Arbeit hatte ihn in den letzten Jahren eine Menge Freizeit gekostet, und er war fest entschlossen, das Verpasste nachzuholen.

    Deshalb hatte er dieses Mal die Gelegenheit genutzt und sich vom Beiboot der «Vergine» in Nizza absetzen lassen, anstatt – wie nach seinen früheren Arbeitseinsätzen auf dem Schiff – direkt nach Bern zurückzufliegen.

    Zu seiner grossen Freude war es ihm gelungen, Jeanne zu überzeugen, ein paar Tage mit ihm zu verbringen. Jeanne stammte aus Marseille und arbeitete als Pflegerin auf der Krankenstation des Schiffes. Sie waren sich schon bei früheren Einsätzen näher gekommen, es war im Grunde nichts anderes als eine zufällige, flüchtige Bekanntschaft, und trotzdem fühlte sich Max Jeanne auf besondere Weise verbunden.

    Er betrat leise das Zimmer und betrachtete sie eine Weile nachdenklich. Nein, es lag nicht nur daran, dass er sie aufregend attraktiv fand. Er erfuhr in ihrer Gegenwart eine unerzwungene Übereinstimmung wie mit noch keiner anderen Frau (und er hatte mit Frauen einige Erfahrung), sie harmonierten in Geschmack für Ästhetik und Stil, in Humor und Ärger, in Vergnügen und Ernst – und sie litten beide an der ungewissen Angst vor einer festen Bindung.

    Wegen all dieser Gemeinsamkeiten war zwischen ihnen eine grössere Nähe entstanden, als er sie gesucht hatte. Vielleicht würde aus dieser Bekanntschaft etwas mehr als eine der üblichen flüchtigen Beziehungen. Aber Max war noch nicht sicher, ob er sich das wünschte.

    Sein Appetit auf Croissants und Kaffee wurde stärker und so ergriff er das Tablett mit dem Frühstück und ging zurück auf den Balkon. Er füllte eine Tasse, nahm sich ein Croissant und sank erneut in den Liegestuhl.

    Das war Urlaub: sich auf dem Balkon eines stilvollen Hotels in der Morgensonne aufzuwärmen wie das Reptil auf einem Felsen, mit trägem Blick der Grenzenlosigkeit des Meeres zu folgen, sich mit einem Schluck den Duft des Kaffees zu verinnerlichen und im Hinterkopf die angenehme Erinnerung an eine sinnliche Nacht. Das Leben war schön.

    Er angelte sich die Zeitung vom Tablett. Nicht, dass ihn besonders interessierte, was in der Welt lief, aber er hatte jede Menge Zeit und der «Méditerranée» wurde mit dem Frühstück aufs Zimmer geliefert.

    Gleich auf der Titelseite berichtete das Blatt ausführlich über einen mysteriösen Leichenfund am Strand von Cap d’Antibes. Die Leiche war vor drei Tagen ans Ufer geschwemmt und von Kindern entdeckt worden. Das kam hier zwar ab und zu vor (gemäss der Anmerkung der Redaktion war es in diesem Jahr die zweite Wasserleiche im Département Alpes-Maritimes), in diesem Fall jedoch gab es einige Besonderheiten.

    Erstens war die Identität des Toten völlig unklar: Gemäss den Erkenntnissen des Polizeiarztes handelte es sich um einen jungen Mann, aller Wahrscheinlichkeit nach indischer Abstammung. Zweitens deutete Verschiedenes darauf hin, dass sich der Verstorbene kurz vor seinem Tod einer Operation hatte unterziehen müssen; aus den Spitälern der Küste lag allerdings bis zur Stunde keine entsprechende Vermisstmeldung vor. Da die Polizei vor einem Rätsel stand, bat sie die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise und um Beachtung der Abbildung auf der nächsten Seite.

    Max nahm einen tüchtigen Schluck Kaffee. Das Foto zeigte das aufgedunsene Gesicht eines jungen Mannes, eine Aufnahme, die wohl kaum zur Klärung des Falles beitragen würde.

    Aber da stutzte er.

    Trotz der entstellenden Veränderungen durch das Wasser war bei genauerer Betrachtung in der linken Augenbraue ein stufenartiger Unterbruch erkennbar. Bei einem der Patienten, die Max vor wenigen Tagen auf der Vergine untersucht hatte, war ihm exakt diese Besonderheit aufgefallen. Er erinnerte sich genau, denn erstens handelte sich um eine ziemlich hässliche Narbe und zweitens bilden sich solche Narben nur dann, wenn Platzwunden nicht korrekt genäht werden.

    «Bei uns würde so etwas nicht Vorkommen», hatte er zu Dr. Dupont, dem medizinischen Leiter der Vergine, gesagt.

    Max dachte angestrengt nach. Ali hiess der Junge mit Vornamen, der Familienname war ihm entfallen. Die Patienten auf La Vergine trugen alle so komplizierte Namen, die zu merken er sich gar nicht erst die Mühe nahm. Er sah ihn wieder vor sich: etwa siebzehn Jahre jung, nicht sehr gross gewachsen und eher schüchtern, wie die meisten Patienten des Spitalschiffs.

    Zusammen mit Dr. Dupont hatte er bei den Neuankömmlingen die Eintrittsuntersuchung vorgenommen. Ali schien ihm eigentlich recht gesund, jedenfalls stellte er in der körperlichen Untersuchung keine schwere Krankheit fest. Leider hatte er nach der Eintrittsuntersuchung wie üblich keine weitere Einsicht in die Resultate der Blut- und Röntgenuntersuchungen erhalten. Dr. Dupont informierte ihn jeweils lediglich bruchstückhaft, wer an welcher Krankheit litt, wer operiert werden musste und wer zu weiteren Abklärungen aufs Festland verlegt werden sollte.

    Max ärgerte sich darüber, er besass auf dem Schiff im Grunde kaum mehr Kompetenzen als ein Praktikant. Dr. Dupont behandelte ihn beinahe feindselig, vielleicht weil ihm bei entsprechender Eignung die Stelle des Chefarztes in Aussicht gestellt worden war. Andererseits hatte er keine Ahnung, ob dieser Umstand Dupont überhaupt bekannt war, und er hatte bisher keine Gelegenheit gefunden, mit ihm darüber zu sprechen.

    Dr. Dupont erschien nur auf Deck, wenn er etwas zu erledigen hatte. Er war gross und schlank, um nicht zu sagen: mager und in seinem Verhalten erinnerte er Max an ein verängstigtes Pferd: Er bewegte sich scheu und ruckartig, und wenn er stillstand, schien doch jeder seiner Muskeln gespannt. Das feine Zittern seiner Hände verstärkte diesen Eindruck der Unrast und Angst. Er verschwand des Öfteren ohne ersichtlichen Grund in seine Kabine, um kurze Zeit später deutlich ruhiger und gelassener wieder zu erscheinen. Max vermutete, dass sein Kollege trank und dass man ihn möglicherweise deswegen zu ersetzen plante.

    Doch das tat jetzt nichts zur Sache.

    Er las den Zeitungsartikel noch einmal sorgfältig durch. Es schien ihm durchaus denkbar, dass Ali erst nach seiner Abreise nach Nizza operiert worden war. Und Lungenembolie, Herzversagen, unstillbare Blutungen und andere Zwischenfälle liessen sich letztlich nie mit Sicherheit ausschliessen.

    Je länger er darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien ihm aber die Theorie, wonach Ali auf dem Schiff gestorben und in einem Seemannsbegräbnis auf offener See beigesetzt worden war. Die Patienten der Vergine stammten meist aus Waisenhäusern, und da machte die Rückführung der Leiche in die Heimat wenig Sinn.

    Unwillkürlich trat Max an die Brüstung. Seine Urlaubsstimmung war auf einmal verflogen. Er blickte aufs Meer hinaus, nicht mehr als genussvoller Betrachter, sondern als Suchender. Die Antwort auf seine Fragen schwamm irgendwo da draussen.

    Er musste sich bei der Polizei melden, da gab es keinen Zweifel. Aber zuerst wollte er sichergehen, dass er sich nicht irrte. Er beschloss, sich auf der Vergine nach Ali zu erkundigen, und besorgte sich aus seinem Koffer das Adressbüchlein. Er hatte vor seiner Abreise die Telefonnummer der Vergine für seine Mutter herausgesucht. Sie machte sich noch immer grosse Sorgen, wenn er verreiste, und als bestes Beruhigungsmittel wirkte eine Adresse oder eine Telefonnummer.

    Ja richtig – seine Mutter sollte er heute unbedingt auch noch anrufen. Er wusste, wie wichtig ihr ein Lebenszeichen von ihm war, und Telefonieren lag ihm besser als Kartenschreiben.

    Um Jeanne nicht zu wecken, nahm er das Telefon zu sich auf die Terrasse.

    «Oui», meldete sich Bruno Hartmann, mit seinem unverwechselbaren Akzent, der ihn schon mit diesem einen Wort als Deutschen verriet.

    Bruno war das Mädchen für alles auf der Vergine. Er war nicht nur Telefonist und Empfangsdame, er war es auch, der bestimmte, wer wo schlief, wer wie lange Ausgang hatte und wer wann arbeitete. Er kümmerte sich um die Küche und den Operationssaal mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er die ankommende Post sortierte und – wie es wahrscheinlich zu Recht hiess – ausspionierte. Er war verantwortlich für die Sicherheit an Bord. Er kontrollierte die Papiere, die Kabinen und gelegentlich auch die Taschen der Matrosen.

    Für Maxens Geschmack war Bruno im Umgang mit den Patienten und dem Personal zu grob und zu indiskret, aber wahrscheinlich galten auf einem Schiff andere Umgangsformen als im Spital.

    Bruno war gross, breit, leicht übergewichtig und autoritär. Sein Führungsstil erinnerte Max stark an seine Militärzeit: jovial-oberflächlich im alltäglichen Umgang, aber wenn es drauf ankam, kompromisslos und knallhart. Dieser militärische Eindruck wurde noch verstärkt durch die uniformartige Kleidung: schwere Schuhe, dunkle Lederjacke und Hosen mit aufgesetzten Seitentaschen – auch bei dreissig Grad im Schatten. Bruno war die ideale rechte Hand des Chefs, und er wusste es. Keiner suchte Streit mit ihm.

    «Max Knecht. Bruno, du kannst dein Sprechorgan auf Deutsch schalten», sagte Max.

    «Hallo Max», erwiderte Bruno, «hast du Sehnsucht nach uns?»

    Max dachte: «Das am allerwenigsten»; er sagte: «Natürlich, Bruno, warum sollte ich sonst anrufen?»

    Als Bruno nicht gleich antwortete, fuhr er fort: «Hast du schon die Zeitung gelesen, ich meine den Méditerranée von heute Morgen?»

    «Nein, warum sollte ich auch. Was in der Welt draussen passiert, berührt uns hier wenig. Oder steht etwas über mich drin – eh?» Bruno lachte.

    Max erzählte ihm, was in der Zeitung stand. Bruno lachte nicht mehr, er sagte auch nichts mehr, bis Max fertig berichtet hatte. Dann fragte er mit ungewohnt klangloser Stimme: «Bist du dir sicher? Wir vermissen niemanden, die Patienten sind alle abgereist. Und soweit ich unterrichtet bin, wurde niemand operiert.»

    «Natürlich bin ich nicht hundert Prozent sicher», erwiderte Max vorsichtig. «Aber auch wenn du mir sagst, dass Ali nicht mehr auf dem Schiff ist, so spricht das nicht dagegen, dass er trotzdem der Tote sein könnte. Vielleicht ist er später auf dem Festland operiert worden.»

    Bruno zögerte, bevor er mit wieder gewohnt fester Stimme sagte: «Ich denke, ich sollte noch mit den andern sprechen. Ich ruf dich gleich zurück.»

    Max machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst, aber Bruno meldete sich nach wenigen Minuten. «Hör mal Max», seine Stimme klang jetzt gespannt, «wir kommen rüber. Bevor du dich mit irgend jemandem in Verbindung setzt, sollten wir uns unbedingt vergewissern, ob es sich wirklich um einen unserer Patienten handelt. Sonst kriegen wir hier an Bord eine Menge Aufregung für nichts, und das wollen wir unter allen Umständen vermeiden. Das verstehst du doch? Wer schlägt sich schon gern mit der Polizei herum? Sag mir: Wo befindest du dich jetzt?»

    Max zögerte. Eigentlich hatte er keine Lust auf ein Treffen mit den Leuten der Vergine. Er blickte zu Jeanne, die sich im Halbschlaf räkelte. Schliesslich gab er die Hoteladresse an.

    Bruno sagte: «Mit dem Schnellboot können wir in knapp zwei Stunden am Hafen sein. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns um dreizehn Uhr im Restaurant ‹Chez Pierre› an der grossen Hafenmole.»

    «Einverstanden», erwiderte Max widerwillig.

    Bruno fügte bei: «Der Chef wünscht, dass du mit niemandem über die Sache sprichst, bis wir unsere Abklärungen gemacht haben. Ist das klar, Max?»

    «Das tönt ja wie eine Warnung, Bruno.»

    «Sagen wir mal, es ist etwas mehr als ein ausdrücklicher Wunsch, Max», antwortete Bruno mit nicht ganz echter Heiterkeit und sie verabschiedeten sich.

    Max blieb grübelnd sitzen. An die Umtriebe hatte er nicht gedacht. Er würde sich zuerst mit den Leuten der Vergine besprechen, dann zur Polizei gehen, ein Protokoll aufnehmen und zu guter Letzt womöglich noch zur Leichenschau nach Marseille oder wer weiss wohin fahren müssen.

    Er bereute es auf einmal, überhaupt die Zeitung gelesen zu haben. Plötzlich hoffte er, dass er sich getäuscht hatte, dass die Leute auf der Vergine den Ali finden und er mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben würde.

    Er blickte gestresst auf seine Designeruhr. Normalerweise würde er jetzt, am Donnerstagmorgen, in Bern im Operationssaal stehen und Professor Leuenberger bei der Implantation eines künstlichen Hüftgelenkes assistieren. Wenn alles nach Plan lief, hätten sie um diese Zeit bereits den zweiten Patienten unter dem Messer. Vielleicht würde ihm der Professor anbieten, einige der Operationsschritte unter seiner Aufsicht selbständig durchzuführen.

    Vielleicht jedoch – und das war in der «Parkklinik Eiger» leider recht häufig der Fall – handelte es sich beim Patienten um irgendeine bedeutende Persönlichkeit und der Professor würde ihm schon beim Händewaschen erklären, warum er in diesem Fall den Eingriff persönlich vornehmen musste: «Sehen Sie, lieber Kollega Knecht, wenn Sie nach Madrid reisen, um Placido Domingo singen zu hören, und man würde Ihnen kurz vor Beginn der Vorstellung mitteilen, Herr Domingo sei zwar anwesend, aber er werde nicht auftreten, was würden Sie da sagen?»

    Professor Leuenberger würde ihn bei dieser Frage kurz anblicken – nicht direkt, sondern via den Spiegel über dem Waschtrog. Dann würde er seine Hände besonders bedächtig mit der Bürste reinigen und, bevor Max Zeit hätte, etwas zu erwidern, gleich selber mit triumphierender Stimme antworten: «Sie kämen sich betrogen vor, stimmts? Und sehen Sie: Herr Berrides aus Cordoba ist extra hierher geflogen, um sich von mir persönlich operieren zu lassen. Ich kann Ihnen deshalb heute keine Gelegenheit geben, das Skalpell zu führen.»

    Die Leute liessen es sich eine Stange Geld kosten, um von Professor Leuenberger operiert zu werden – man sprach von bis zu dreissigtausend Franken pro Eingriff –, aber immerhin bot er für das Honorar eine persönliche Leistung. Es gab genügend andere Beispiele, wo der Chirurg nur bis zum Wirken der Narkotika am Operationstisch stand, danach den Eingriff seinem Oberarzt oder Assistenten überliess und erst wieder auf der Rechnung als Operateur erschien.

    An dieser Stelle unterbrach Max seine Grübelei. Es ärgerte ihn, dass er im Urlaub seiner Arbeit nachsann. In der Badehose auf dem Balkon zu sitzen, behagte ihm bedeutend besser, als schwitzend und mit müden Beinen stundenlang im Operationssaal zu stehen, und das Problem um Ali würde sich bestimmt auch rasch klären lassen.

    Er blickte mit Wehmut zu Jeanne, seufzte unglücklich und beschloss, als Nächstes seine Mutter anzurufen.

    *

    La Vergine kreuzte mit gedrosselten Motoren ausserhalb der Zwölfmeilenzone vor der Küste Südfrankreichs. Die Vergine war ein Schiff, das, wo immer es auftauchte, Aufsehen erregte. Beim Bau der Schiffshülle waren bekannte Designer am Werk gewesen. Trotz seiner Grösse – die Länge über alles mass über fünfzig Meter und es gab vier Decks über und zwei Decks unter Wasser – lag es flach und leicht auf dem Wasser. Die schnittige Form der Aufbauten und die getönten Scheiben der Fenster verstärkten den sportlichen Eindruck.

    Die Innenausstattung war vor allem in den beiden obersten Decks – reserviert für den Besitzer, seine Mitarbeiter und persönlichen Gäste – exklusiv: Messing, Teak und Chromstahl, wo man hinsah, perfekt verarbeitet und mit Sicherheit nicht ab Stange geliefert.

    Die Kabinen für weitere Gäste, die Gemeinschaftsräume und die Krankenstation lagen im Mittelteil, wo jeweils auch die Patienten und ihre Betreuer untergebracht wurden. Die Mannschaftsräume schliesslich lagen in den unteren Decks und die meisten Besatzungsmitglieder waren noch nie auf der Brücke, geschweige denn in den Luxuskabinen des Besitzers gewesen. Gangways und Treppen waren so konzipiert, dass dieser Bereich des Schiffes nur über wenige, abschliessbare Verbindungsgänge zu erreichen war.

    An diesem Tag genoss die Mannschaft die angenehmen Seiten des Seemannsdaseins. Die Patienten waren abgereist und die damit verbundenen Arbeiten längstens erledigt. Die Männer sonnten sich auf den Taurollen im Bug des Schiffes, spielten Karten und feilschten in gutmütigem Streit um ihre Einsätze.

    Keiner von ihnen bemerkte etwas von der nervösen Hektik, die auf dem obersten Deck des Schiffes ausgebrochen war.

    Bruno Hartmann sass mit Karl Frentzen und dem Kapitän im Funkraum. Sie diskutierten heftig. Bruno hatte den Chef informiert und sie erwarteten gespannt dessen Rückruf.

    «Ich denke, es ist nun an dir, die Sache wieder in Ordnung zu bringen», wandte sich Bruno gehässig an Karl Frentzen.

    Karl erwiderte nicht minder aggressiv: «Ich verstehe das nicht. Schliesslich ist es nicht das erste Mal …»

    «Sieh nur zu, dass keine weiteren Leichen an der Küste auftauchen», zischte Bruno. «Als ob wir nicht schon genug andere Probleme hätten …»

    Hier verstummte Bruno, denn Dr. Dupont betrat den Raum. Sein schlacksiger Körper wankte gefährlich, als er über die Schwelle trat. Er hielt die eine Hand leicht nach vorne gestreckt, und es entstand der Eindruck, als ob er sich ständig um sein Gleichgewicht bemühte. In seiner linken Hand trug er ein dünnes Bündel Papiere.

    Er blickte in die Runde und meinte: «Was ist denn das für eine traurige Gesellschaft? Ihr macht den Eindruck von Rekruten, denen der Ausgang gestrichen wurde.»

    Er war unrasiert und das dünne halblange Haar schien an seiner Kopfhaut zu kleben. Er war sich nicht bewusst, dass er selber in dieser Gesellschaft den traurigsten Anblick bot.

    Karl antwortete: «Das wäre nur halb so schlimm, wenn …»

    Bruno unterbrach ihn scharf: «Das ist kein Problem, um das sich unser Doktor kümmern muss. Wir wollen ihn nicht unnötig belasten. Er hat schon genug um die Ohren.»

    Dr. Dupont ging nicht weiter darauf ein und fragte, indem er seine Papiere auf den Tisch legte: «Seit wann interessiert ihr euch für meine Krankengeschichten?»

    In diesem Moment klingelte das Telefon. Bruno ergriff den Hörer und sagte nur: «Oui.»

    Dann hörte er schweigend zu. Zwischendurch gab er eine knappe Antwort wie «Ja» und «Sicher nicht». Schliesslich sagte er: «O.k., Chef, ich habe verstanden. Wir bringen das in Ordnung.» Er legte auf und blickte entschlossen in die Runde.

    «Nun, was hat er gesagt», fragte Karl nervös.

    «Wir sollen Klartext mit ihm sprechen», sagte Bruno vage.

    «Wovon sprecht ihr eigentlich?», fragte Dr. Dupont etwas interessierter.

    «Das lass unsere Sorge sein», erwiderte Bruno, «sieh einfach zu, dass mit den Papieren des Ali Shayahan alles in Ordnung kommt. Von ihm benötigen wir eine einwandfreie Spur zurück nach Indien.»

    «Warum lassen wir nicht einfach die Krankengeschichte verschwinden?», warf Karl ein.

    «Weil wir im Moment noch immer damit rechnen müssen, dass die Polizei nachfragen könnte», antwortete Bruno. «Es darf jetzt nicht die geringste Unklarheit geben. Wir haben die Operation gemeldet und die Flugbewilligung für den Transport erhalten. Das ist alles offiziell und protokolliert.» Er fügte mit scheinheiligem Lächeln an: «Wir können jetzt nicht einfach einen Patienten verschwinden lassen. Schliesslich haben wir ja nichts zu verbergen.»

    Dann wandte sich Hartmann wieder an Dr. Dupont: «Du sollst Verbindung mit unserem Büro in Delhi aufnehmen. Die Leute dort sind informiert. Sie benötigen lediglich Angaben zur Operation und zur Nachbehandlung. Karl und ich fahren mit dem Schnellboot zum Festland. Wir werden erst gegen Abend zurückkehren.»

    Der sichtlich verwirrte Kapitän verstand nicht genau, worum es ging, und er war erleichtert, als ihm Bruno auftrug, die genaue Position des Schiffes sowie den Kurs nach Nizza zu berechnen. Sie liessen Dr. Dupont im Funkraum zurück und bereiteten die Abfahrt vor.

    Karl machte das Schnellboot startklar. Es war am Heck des Schiffes mit einem schwenkbaren Hebekran befestigt. Innert weniger Minuten konnte es zu Wasser gelassen werden.

    Bruno stieg ein Deck tiefer und wandte sich nach achtern. Nach wenigen Schritten öffnete er eine Tür in der Seitenwand der Gangway und betrat eine Besenkammer mit allerlei Putzzeug. Er verriegelte die Tür sorgfältig von innen. Dann betätigte er einen Schalter an der Rückwand des Raumes. Mit einem leisen Ruck öffnete sich die rechte Wand und gab den Weg frei zu einer geheimen Treppe in der Aussenwand des Schiffes, die den direkten Abstieg vom dritten Deck bis in die Tiefe des Rumpfes erlaubte.

    Bruno stieg hastig hinab bis zu einer Luke, die durch ein elektronisches Schloss gesichert war. Er tippte den sechsstelligen Code ein, und die Tür öffnete sich mit leisem Surren. Er befand sich nun direkt unter dem Maschinenraum, das Stampfen der Motoren dröhnte unangenehm laut. Rasch schritt er zu einer weiteren Tür, welche mit dem gleichen Code zu öffnen war.

    Er musste sich ducken, um in den nächsten Raum zu gelangen. Die Tür schloss sich hinter ihm automatisch. Es wurde still. Der Maschinenlärm war nur noch wie aus weiter Ferne zu vernehmen, eher ein Vibrieren als ein Geräusch.

    Der Raum lag im Halbdunkel und wurde spärlich erhellt durch den flimmernden Schein von drei Monitoren, welche in einem Schaltpult eingelassen waren. Bruno befand sich in der geheimen Sicherheitszentrale der Vergine. Von hier aus liessen sich die wichtigsten Punkte des Schiffes mit Kameras und Mikrofonen überwachen.

    Ohne die Bildschirme zu beachten, schritt Bruno zum Wandschrank. Im oberen Fach lag ein Stapel Papiere, im unteren Fach einige Waffen mit passender Munition. Er überlegte kurz, bevor er sich einen Pass, welcher ihn als Gustav Matisse auswies, und eine kleine Pistole mit Magazin in die Jackentasche schob.

    Er trat zum Schaltpult und drückte ein paar Knöpfe. Die Bilder auf den Monitoren wechselten. Auf dem ersten Monitor war nun der Kommandoraum ersichtlich. Deutlich erkannte er den massigen Rücken des Kapitäns. Bruno drückte eine weitere Taste und die Geräusche aus dem Kommandoraum wurden hörbar. Er schaltete Gerät A auf Aufnahme.

    Dann stellte er den nächsten Monitor ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Gang mit mehreren Türen. Bruno wusste, dass die erste Türe in die Kabine des Chefarztes führte. Er schaltete auch hier Bild und Ton auf Aufnahme. Man konnte nicht vorsichtig genug sein; Dr. Dupont schien in den letzten Monaten nervöser als sonst. Nach einem kontrollierenden Blick über die übrigen Geräte verliess er den Raum.

    Karl erwartete ihn schon im Schnellboot, welches nun seitlich an der Vergine bereitlag. Das Boot tänzelte auf den Wellen und das schnaubende Brummen der Motoren verstärkte den Eindruck der Nervosität.

    Kaum war Bruno an Bord, brausten sie mit der vollen Kraft von dreihundert PS in Richtung Festland.

    *

    Max sass in einem der bequemen Sessel im Chez Pierre und nippte an einem Pastis. Seine schlechte Laune war verflogen. Aus seinem Vorsatz, schwimmen zu gehen, war zwar nichts geworden, dafür hatte er aufs Angenehmste mit Jeanne gefrühstückt und danach war ihnen genügend Zeit übrig geblieben, noch einmal ins Bett zu schlüpfen, gemeinsam zu duschen und Pläne für die folgenden Tage zu schmieden.

    Er hatte Jeanne beiläufig das Bild im Méditerranée gezeigt und vom Treffen mit den Leuten der Vergine gesprochen, aber sie zeigte kein Interesse. Max hoffte plötzlich stark, dass er sich täuschte. Die Fotografie war alles andere als eindeutig, und es gab eine Menge dunkelhäutiger Immigranten in Frankreich. Schliesslich stammte auch Jeanne aus Nordafrika und im Chez Pierre wurde er von einem Marokkaner bedient.

    Er blickte sich um. Die meisten Restaurants am Quai waren um diese Jahreszeit noch halb leer oder geschlossen, aber im Chez Pierre herrschte emsiges Treiben. Das Lokal war eine bekannte Adresse und beliebt bei allen Leuten, die gerne sehen und gesehen werden. Die Stühle und Tische waren so ausgerichtet, dass jeder Platz freie Sicht auf die vorgelagerte Mole bot. Die teuersten Bootsliegeplätze lagen unmittelbar gegenüber. Etwas seitlich davon gab es einige öffentliche Anlegeplätze. Hier machte Halt, wer Grossauftritte mochte.

    Max liebte Grossauftritte. Der Gedanke, vor all den Leuten ins schnittige Beiboot der Vergine einzusteigen, gefiel ihm.

    Er war deshalb ziemlich enttäuscht, als er plötzlich Brunos Stimme hinter sich hörte.

    «Hallo, Max, gehen wir!»

    Max drehte sich um und lachte. Er hätte Bruno fast nicht wieder erkannt. Er trug bunte, kurze Hosen, Strandschuhe, T-Shirt, Baseballmütze und eine dunkle Sonnenbrille.

    «Hallo, Bruno, bist du übers Wasser gelaufen oder willst du mit dieser Kleidung die Glaubwürdigkeit bei der Polizei steigern?», neckte Max.

    Bruno schien nervös. Er ging nicht weiter auf den Scherz ein und meinte trocken: «Wir sollten uns beeilen. Karl ist irgendwo da draussen mit einem Segelboot unterwegs, und als Erstes müssen wir ihn finden.»

    Da Bruno keinerlei Anstalten machte, sich zu ihm zu setzen, erhob sich Max.

    «Was hat denn Karl mit der Sache zu tun?», fragte er. Karl Frentzens Funktion auf dem Schiff war ihm nie ganz klar gewesen. Ganz offensichtlich fällte Bruno die Entscheide und Karl nickte bloss Zustimmung.

    «Er hat deinen Inder an Land gebracht, darum», antwortete Bruno kurz angebunden und marschierte in Richtung Parkplätze und Taxistände.

    Max folgte ihm widerstrebend.

    «Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Wenn der Ali – wie hiess er doch gleich – Bruno?»

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