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Widerwasser: Kriminalroman
Widerwasser: Kriminalroman
Widerwasser: Kriminalroman
eBook429 Seiten4 Stunden

Widerwasser: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

«Schwierigkeiten begleiten Mauro Matter seit seiner Kindheit. Nicht immer trifft ihn das Pech unverschuldet. Kurz vor der Facharztprüfung gerät er beruflich und privat in eine Sackgasse. Da fällt ihm die Chance für einen Neuanfang buchstäblich vor die Füsse.Limacher lässt sich in wichtigen Fragen von seiner Nase leiten. Entsprechend oft hat er eins draufgekriegt und ist nun etwas angeschlagen. Trotz beruflicher Neuorientierung droht dem Fahnder der Kantonspolizei die Midlife-Crisis. Anstatt Umzugskisten auszupacken, sitzt er lieber im Nullpunkt, seinem Stammlokal.Gut hingegen läuft es für Vincenzo Lo Russo. Der Erfolg macht den Camorra-Boss, genannt die Katze, schier unantastbar.Die Lebenslinien dieser drei Männer werden durch einen spontanen Entscheid Matters unabsichtlich miteinander verstrickt. Jeder der drei gerät in ein unheilvolles Spiel mit dem Tod: Matter, der ihn gesucht hat, findet ihn nicht, Limacher kommt ihm gefährlich nahe, und Lo Russo lässt ihn für sich arbeiten.»
SpracheDeutsch
HerausgeberLOKWORT
Erscheinungsdatum1. Dez. 2012
ISBN9783905961096
Widerwasser: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Widerwasser - Paul Wittwer

    1. Auflage 2011

    Alle Rechte vorbehalten

    © by Nydegg Verlag Bern, 2011

    Lektorat: Urs Heiniger

    Umschlaggestaltung: Renata Hubschmied

    Grafische Gestaltung: SGD, Bern

    Umschlagbild: Barbara Hirt

    Autorenfoto: Roland Spring, Oberburg

    E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    E-Book-ISBN: 978-3-905961-09-6

    Nydegg Verlag, CH-3015 Bern

    www.nydegg-verlag.ch

    Die einzige Reise, die uns wirklich weiterbringt, ist die Reise zu uns selber.

    Fernando Pessoa

    Inhalt

    1. Teil

    Im Widerwasser

    2. Teil

    Im Strudel

    3. Teil

    Im Fluss

    1. Teil

    Im Widerwasser

    1

    Solange er fuhr, fühlte er sich sicher.

    Steile Bergwege, enge Gassen, schneebedeckte Strassen, Hochgeschwindigkeit auf der Autobahn, all das machte ihm nichts aus. Aber sobald der Tacho auf null stand, wurde er nervös, sah sich bedroht – war hilflos, wie ein Fisch, der in seichtes Wasser gelangt. Stillstand gleich Gefahr. Das war ihm eingetrichtert worden. Wenn Domenico in seinem Job etwas fürchtete, dann Verkehrshindernisse, Staus und Unfälle.

    Und jetzt das.

    Vor ihnen lag ein umgekipptes Fuhrwerk. Während die Bäuerin dem Esel gut zuredete, begann ihr Mann, die Holzscheite, welche offenbar vom Karren gefallen waren, an den Strassenrand zu räumen. Die Strasse, hier keine drei Meter breit, war vollständig blockiert.

    Domenico zog die Karte zu sich und ortete ihren ungefähren Standort. Sie mussten sich nur wenige hundert Meter vor der Einmündung in die Staatsstrasse befinden.

    Er sah auf die Uhr. Sie waren mit ihrem Fahrplan deutlich in Verzug. Für die letzten dreissig Kilometer hatten sie fast eine Stunde benötigt. Die kurvenreiche Strecke über den Pass und durch das enge Tal hatte ihm von Anfang an nicht behagt. Es fehlte nicht nur die Möglichkeit, aus dem Tal auszuscheren. Die Strasse war schmal und an vielen Stellen gerade mal breit genug für ihr Fahrzeug. Auf der einen Seite wurde sie durch ein tiefes Bachbett begrenzt, auf der andern Seite stieg das Gelände steil an.

    Jemand schrie etwas, und Domenico blickte aus dem Fenster. Die Bäuerin war mit dem Esel um die nächste Kurve verschwunden.

    «Da kommt Hilfe», sagte Salvatore und deutete auf den Carabiniere, der sich ihrem Wagen näherte.

    «Oder jemand, der auf unsere Mitarbeit hofft.» Domenico umklammerte nervös das Lenkrad.

    «Vielleicht sollten wir mit Hand anlegen?», schlug Salvatore vor.

    «Unter gar keinen Umständen!», zischte Domenico. Er schloss den Schieber zum Laderaum und drückte einen Knopf in der Tür.

    Mit einem leisen Surren glitt die dunkel getönte Seitenscheibe nach unten. Es war ihr nicht anzusehen, dass sie, wie alle andern Scheiben, aus Panzerglas bestand. Nicht nur sie bot Schutz gegen Geschosse aller üblichen Schusswaffen, die Spezialausführung des Kleintransporters umfasste neben extrahartem Stahlblech für die Karosserie auch Vollgummireifen und ein spezielles Fahrwerk. Der Allradantrieb und der knapp vierhundert PS starke Motor erlaubten ein rasches und sicheres Vorwärtskommen in jedem Gelände. Die kriegstaugliche Ausrüstung des Kleintransporters war geschickt getarnt worden. Expresskühltransporte – Fleisch und Frischwaren stand auf den Seitenwänden des Laderaums, der in Tat und Wahrheit eine Hochsicherheitszelle verbarg.

    «Wir haben es eilig», murrte er nach der knappen Begrüssung und tippte auf die Beschriftung. Genau genommen hatten sie ja tatsächlich Fleisch geladen.

    «Alle haben es eilig», sagte der Beamte und warf einen neugierigen Blick in den Wagen.

    Wenn er die Ladung sehen wollte, mussten sie sich ausweisen. Aber wirklich nur im äussersten Fall, hatte Testa ihm eingeschärft.

    Er beobachtete im Rückspiegel, wie sich ihnen von hinten ein Geländewagen, ebenfalls mit getönten Scheiben, näherte. Auch das gefiel ihm nicht.

    «Etwas viel Betrieb für einen gewöhnlichen Mittwochmorgen», meinte Salvatore, der den Wagen jetzt ebenfalls bemerkt hatte.

    «Finde ich auch», sagte der Carabiniere. «Darf ich mal die Papiere sehen?»

    «Ich zeig ihm alles», raunte Salvatore und langte ins Handschuhfach.

    Domenico nickte ihm zu und bemerkte im selben Moment aus dem Augenwinkel, wie der Arm des Carabiniere emporschnellte. Noch bevor er selbst seine geladene und entsicherte Waffe erreichen konnte, hatte der Polizist gefeuert. Blutspritzer an der Frontscheibe, das war das letzte Bild, das Domenicos Augen sahen. Dann zerbarst sein Hirn.

    *

    «Drei tote Elitesoldaten und ein freier Vincenzo Lo Russo!» Der Staatsanwalt war ausser sich. «Wie kann so etwas passieren? Sagen Sie es mir!»

    «Wir wissen es nicht», sagte Testa zerknirscht, «wenn wir es wüssten, wäre es nicht geschehen, nicht wahr?», und dabei blickte er Hilfe suchend auf seinen Mitarbeiterstab.

    Die Männer nickten stumm und beflissen.

    «Einfach unmöglich!», wiederholte der Staatsanwalt und knallte die Akte Lo Russo auf das Pult, mehr verzweifelt als wütend.

    Vincenzo Lo Russo, genannt il Gatto, kontrollierte mit seinem Clan den Drogenhandel in den Hafenanlagen Neapels. Er und seine Gefolgsleute verteidigten mit aller Brutalität ihr lukratives Geschäft, sei es innerhalb der Camorra oder im Kampf mit der Justiz. Seit Wochen waren ihm Testa und seine Leute auf den Fersen gewesen. Irgendwie war es der Katze jedoch immer wieder gelungen, sich der Polizei zu entziehen.

    Aber vorgestern nicht.

    In einer Blitzaktion wurde Lo Russo während des Besuchs beim Friseur überrascht und zusammen mit zwei seiner Gefolgsleuten festgenommen. Unverzüglich verbrachte man ihn an einen geheimen Ort ausserhalb Neapels. Um jedem Befreiungsversuch zuvorzukommen, plante man generalstabsmässig seine ständige Verlegung. Innert weniger Tage sollte ihm der Prozess gemacht werden. Belastendes Material gab es mehr als genug, die Anklage las sich wie das Pflichtenheft eines Mafioso: Handel mit Drogen, Waffen und Menschen, Erpressung, Anstiftung zum Mord und Beihilfe zum Mord. Bereits dreimal war Lo Russo in Abwesenheit zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden. Man wollte buchstäblich kurzen Prozess machen.

    «Die Verlegung in das kleine Hochsicherheitsgefängnis in den Abruzzen war als Option bekannt, wurde aber nie kommuniziert», Testa schüttelte, während er sprach, immer wieder ungläubig den Kopf. «Sie haben gezielt den richtigen Transport angegriffen. Der Scheinkonvoi, der eine halbe Stunde früher losgefahren war, blieb unbehelligt. Die Befreier müssen orientiert worden sein.»

    «Wir haben einen Maulwurf», nickte der Staatsanwalt. «Wer wusste alles von der heutigen Verlegung?»

    «Die Route des echten Transports war – im Gegensatz zur Route des Scheinkonvois – nicht im Voraus besprochen worden. Zwar haben verschiedene Leute bei der Vorbereitung geholfen, aber nur die drei getöteten Männer und ich wussten, dass il Gatto in diesem Spezialwagen unterwegs war.»

    «Sonst niemand?»

    «Sonst niemand. Die Männer sind sauber – waren sauber, meine ich», versicherte Testa. «Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass unser Funkverkehr abgehört wurde.»

    «Wanzen?»

    «Bisher keine gefunden.»

    «Wer wusste vom Spezialwagen?»

    «Nur der Fahrer. Der Transporter war kurzfristig umgerüstet worden und kam zum ersten Mal zum Einsatz. Die Leute, die den Umbau ausführten, hatten keine Informationen zu Auftraggeber und Verwendungszweck des Fahrzeugs.»

    «Und der Unfallort?, » fragte der Staatsanwalt. «Gibt es in dieser Gegend Beziehungsnetze zur Familie Lo Russo?»

    «Soweit wir wissen: nein. Vincenzo stammt aus Santa Caterina. Das liegt so ziemlich in der entgegengesetzten Richtung. Das befahrene Gebiet ist praktisch unbewohnt und liegt abseits der gängigen Routen. Umso erstaunlicher ist es, dass seine Leute in der Gegend waren und offenbar genügend Zeit fanden, den Überfall vorzubereiten.»

    «Sie denken, der Transport wurde erwartet?»

    «Eigentlich unmöglich», sagte Testa ratlos. «Ziel und Route waren erst unmittelbar vor der Abfahrt festgelegt worden.»

    «Jemand im Konvoi müsste den Standort durchgegeben haben», folgerte der Staatsanwalt.

    «Theoretisch haben Sie recht. Nur: Ich wüsste nicht, wer von den Dreien mit Lo Russo zusammengearbeitet haben könnte. Die Männer waren sauber», wiederholte Testa und fügte bitter an: «Dass alle drei tot sind, spricht doch deutlich gegen eine Kollaboration.»

    «Wäre nicht das erste Mal, dass die Camorra über ihre eigenen Leichen geht.»

    Testa schwieg.

    «Wann wissen wir mehr?», fragte der Staatsanwalt.

    Testa sah ihn gross an: «Unsere Männer sind tot, Zeugen gibt es keine. Von wem erwarten Sie weitere Erkenntnisse?»

    «Ich fordere eine Erklärung!»

    «Es ist ein Rätsel», sagte Testa leise.

    «Nein, ein Skandal!», schimpfte der Staatsanwalt.

    2

    Er sass im Nullpunkt, seiner Lieblingsbar, wo dem Namen zum Trotz der beste Espresso Berns ausgeschenkt wurde. Er hielt sein gut ausgebildetes Riechorgan über die Tasse, schloss die Augen und schnupperte konzentriert.

    Limacher hatte sich schon oft gefragt, ob ihm der Espresso hier bloss deshalb so genial vorkam, weil er sein erster bewusster Sinneseindruck des Tages war. Er stellte sich vor, dass sich zwischen Nase und Hirn ein Sieb befand, welches die Aromen, die er einsog, auffing und bewertete. Am Morgen war dieser Filter rein und unverbraucht, jedes Duftmolekül zeichnete sich einzeln ab. Gegen Abend hingegen war er verschmutzt und verstopft. Was durchdrang, schien nur noch Dreck.

    Egal – was seine Nase jetzt einfing, war intensiv, aber nicht aufdringlich, der Kaffeeduft fruchtig, mit einem Hauch von Schokolade und Erde.

    In solchen Momenten war Limacher zufrieden. Nicht nur mit dem Barista, sondern auch mit sich selber. Nach einem kleinen Schluck stellte er die Tasse auf den Teller zurück und wischte sich den Schaum von der Spitze seiner Nase. Wegen deren Grösse war er in seiner Jugendzeit oft gehänselt worden. Damals hatte er sie verflucht, aber inzwischen hatte er sich mit ihr mehr als versöhnt. Sie ermöglichte ihm nicht nur manchen stillen Genuss, er war überzeugt, dass sie ihm auch bei seiner Arbeit gute Dienste leistete. Er nippte nochmals an der Tasse, mehr riechend als trinkend.

    Dann blätterte er in der Zeitung, als ob ein ganz gewöhnlicher Samstagmorgen wäre.

    War es ja eigentlich auch – abgesehen davon, dass er an diesem Vormittag eine ein Vierteljahrhundert alte Baustelle zu räumen gedachte.

    Er warf einen Blick auf die Uhr über der Theke. In weniger als zehn Minuten sollten seine Kollegen aufkreuzen. Sie würden ihm behilflich sein, ein paar wenige Möbelstücke und eine Unmenge Kartonschachteln aus seiner Wohnung in den geräumigen Mannschaftswagen des Bereitschaftsdienstes zu verladen.

    «Du kannst deinen Kram selber wegschaffen», hatte ihm Gisela vorgestern eröffnet. «Eines sage ich dir aber klipp und klar: Ich werde dir kein einziges Stück Papier nachsenden. Wenn ich am Montag zurückkomme, wandert alles, was ich nicht gebrauchen kann, in den Müll.»

    Und dann war sie weg gewesen.

    Limacher hatte keine Ahnung, wohin sie verreist war, aber er zweifelte nicht daran, dass sie es ernst meinte. Er konnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Die Trennung war überfällig, im Grunde schon lange gelebt und jetzt endlich, und eigentlich viel zu spät, vollzogen worden. Nun zog er aus, lediglich ein paar Häuserblocks weiter, keine dreihundert Meter von der alten Wohnung weg. Aber der Schritt schien ihm gewaltig, grösser noch als der Stellenwechsel im Frühjahr.

    Er bemerkte, dass er schon wieder ein Zeitungsblatt gewendet hatte, ohne den Text gelesen zu haben. Noch immer in Gedanken blätterte er zurück, als sein Mobiltelefon klingelte. Das Display zeigte einen unbekannten Teilnehmer an. Während er die Taste drückte, um das Gespräch anzunehmen, fragte er sich, welcher seiner Kollegen einen Rückzieher zu melden wagte.

    «Ja?»

    «Limacher?», fragte der anonyme Anrufer.

    «Am Apparat», bestätigte Limacher.

    «Wir kennen uns», sagte der andere. «Ich habe etwas abzugeben. Verderbliche Ware aus Italien, absolut frisch …» Limacher stutzte. «Verderbliche Ware», so hatte bei der Bundespolizei jeweils das Codewort für inoffizielle Informationen gelautet.

    «Es geht um die Vorkommnisse in Neapel, Sie wissen schon, Lo Russo …», fuhr der Anrufer vorsichtig fort, als Limacher nicht gleich reagierte. «Wie gesagt: Die Ware ist frisch, verderblich und teuer …»

    «Ich arbeite nicht mehr da», unterbrach Limacher.

    «Was heisst das?», fragte der andere.

    «Genau, was ich gesagt habe. Ich habe die Stelle gewechselt. Seit …»

    Der Anrufer hatte aufgelegt.

    Limacher nahm den Auslandteil der Zeitung zur Hand und fand nach kurzem Suchen den knappen Artikel zu Vincenzo Lo Russos Befreiung. Er hatte ihn offensichtlich überflogen, ohne wirklich etwas aufzunehmen. Seine Unaufmerksamkeit störte ihn nur bedingt. Erstens war das organisierte Verbrechen nicht mehr sein Gebiet, und zweitens hatte er im Moment wirklich andere Probleme.

    Trotzdem las er nun den Abschnitt aufmerksamer durch. Er entdeckte darin nichts Aussergewöhnliches. Mehr als die Hälfte aller inhaftierten Mafiosi gelangte nach einer Festnahme wieder auf freien Fuss, sei es mittels mehr oder weniger spektakulärer Befreiungsaktionen oder mittels korrupter Anwälte.

    Er legte die Zeitung beiseite und blickte aus dem Fenster. Wie der Anrufer «Limacher» ausgesprochen hatte, war ihm bekannt vorgekommen. Noch bevor er aber der Stimme ein Gesicht geben konnte, tauchte der erste Zügelhelfer auf.

    3

    «Ersaufen ist hässlich.»

    «Ertrinken ist kein schlechter Tod.»

    «Du hast überhaupt keine Ahnung! Ich habe es selber beobachtet. Studiert sozusagen.» Der Penner, der sich als Pascal vorgestellt hatte, grinste selbstgefällig.

    Mauro erwiderte nichts.

    «In der Küche, ich meine, als ich noch meine eigene Bude hatte, da nisteten sich Ratten in meiner Küche ein. Richtige Ratten, nicht irgendwelche Kuscheltiere. Eklige, unverschämte Schmarotzer!» Pascal trank einen Schluck aus der Dose und suchte nach dem Faden. «Ratten. Ich fing sie ein, und dann ertränkte ich sie gleich in der Falle. Das war so ein kleiner Käfig. Die Mistviecher scharrten unter Wasser wie verrückt um ihr Leben – bestimmt zehn Minuten lang. Wirklich grausig. Das ganze Bad vibrierte.»

    Er spülte die Erinnerung mit einem grossen Schluck Bier hinunter.

    «Ertrinken ist nicht so schlimm, wie man es sich vorstellt», entgegnete Mauro. «Die Stimmritzen verschliessen sich unter Wasser durch einen Krampf. Wenn sie sich wieder öffnen und sich die Lungen mit Wasser füllen, bist du durch den Sauerstoffmangel schon halb tot. Du spürst das gar nicht mehr.»

    «Woher willst du das wissen?»

    Mauro spürte den neugierigen Blick seines Begleiters und konnte sich vorstellen, wie dieser im fahlen Licht der Stadtnacht sein Gesicht ergründete. «Ich – ich weiss es einfach …» Er hatte absolut keine Lust, mit einem Penner übers Ertrinken zu streiten. Kam dazu, dass er auf einmal selber unsicher geworden war. Hatte er das vom raschen Tod in der Fachliteratur gelesen oder einfach irgendwo aufgeschnappt? Er rückte unwillkürlich etwas ab. Pascal stank wie ein gebrauchter Putzlappen, mit dem man zuletzt eine Bierlache aufgeputzt hatte.

    Sie schwiegen und lauschten in die Nacht hinaus. Nur selten übertönten andere Geräusche das Rauschen der Aare. Wenn ein Wagen die Brücke über ihnen befuhr, war für einen kurzen Moment ein dumpfes Rollen zu vernehmen. Dann blickten sie automatisch nach oben, ohne aber etwas sehen zu können. Von der anderen Seite des Flusses war das Gejohle von ein paar heimwärts strebenden Nachtschwärmern zu hören.

    Aber ansonsten schien die Stadt zur Ruhe zu kommen. Eine bedeutungslose Novembernacht nimmt ihren ereignislosen Lauf, dachte Mauro und raffte fröstelnd die Jacke zusammen. Wahrscheinlich ging die Temperatur gegen null Grad.

    «Ich wüsste ein wärmeres Plätzchen», meinte der Bierlappen und warf einen sehnsüchtigen Blick auf Mauros Grappaflasche. «Drüben in der Matte gibt es ein paar Schlupflöcher. Hinter der Mattenenge liegt der Zugang zum alten Fluchtstollen der Burg. Still wie ein Grab und recht warm …»

    Mauro sagte nichts. Die Gegenwart des Penners begann ihn zu nerven. Er liess ihn weiter schwatzen und nippte am Grappa. Die Flasche hatte er dem Barkeeper im Schwellenmätteli abgekauft, mitsamt dem Glas notabene.

    Während er den Schnaps in kleinen Schlucken die Kehle hinunterrinnen liess, betrachtete er das dunkel strömende Wasser.

    «Ich könnte mich nicht umbringen», meinte der Penner.

    Mauro versuchte seinen klebrigen Blick abzuschütteln. «Ich schon», entgegnete er, ohne aufzublicken.

    «He, mach keinen Scheiss!» Die Ermahnung tönte wie eine Bitte. Der Penner spielte nervös mit seiner leeren Bierdose und fixierte die Grappaflasche.

    «Auch einen Schluck?», liess sich Mauro erweichen.

    Pascal langte sofort zu und wollte gleich die Flasche ansetzen.

    «Nur aus dem Glas!»

    «Was spielt das für eine Rolle?» Der Penner schaute ihn verständnislos an.

    «Auch untergehen kann man in Würde», sagte Mauro, «und der Geschmack kommt im Glas viel besser zur Geltung.»

    Pascal füllte das Glas randvoll, trank es in einem Zug leer und schwieg tatsächlich einen Moment, bevor er fragte: «Was ist das für ein Zeug?»

    «Ein Stück Heimat.»

    Der Penner grinste schräg: «Das sag ich auch immer.»

    «Grappa – aus dem Land meiner Vorfahren.» Mauro sagte es gereizter als beabsichtigt.

    «Grappa! Hab ich gleich gedacht», staunte der andere und schenkte nach.

    Mauro streckte die Hand aus.

    Der Alki leerte das Glas in einem Zug und gab Flasche und Glas widerwillig zurück. Mit seinem rechten Fuss kickte er eine leere Bierdose in die Aare.

    «Das solltest du nicht tun», tadelte Mauro mechanisch und ärgerte sich gleich über seine Bemerkung. Auch das konnte ihm scheissegal sein.

    Die Bierdose, als sei sie ihres Weges unsicher, trieb einen Moment an Ort und drehte sich um ihre eigene Achse. Dann schwamm sie direkt auf Mauro zu, und tänzelte – als versuchte sie sich der mächtigen Strömung des Flusses zu widersetzen – im Widerwasser des Ufers ein kurzes Stück flussaufwärts, bis sie schliesslich in den Strom zurückfand und in der Dunkelheit entschwand.

    Mauro goss den Rest des Grappas ins Glas. «Weisst du, ob um diese Zeit noch irgendwo Nachschub erhältlich ist?», fragte er und suchte nach seiner Brieftasche.

    «Sicher!» Der Penner kam erstaunlich rasch auf die Beine, «wenn dir gewöhnlicher Eigenbrand reicht …»

    «Hauptsache, es wärmt», meinte Mauro.

    «Kommst du mit?», fragte Pascal.

    «Nein.» Mauro reichte ihm einen Hunderter. «Keinen Fusel, bitte.»

    «Bin gleich wieder da», versicherte Pascal «Mach inzwischen bloss keinen Scheiss!»

    Aber die Mahnung klang nicht wirklich besorgt.

    Er machte ein paar Schritte der Aare entlang. Das kalte Laub raschelte unter seinen Stiefeln. Während des Geschwafels des Penners hatte er sich nach Ruhe gesehnt. Und jetzt, wo er alleine war, beunruhigte ihn die Monotonie der Nacht.

    In den letzten Stunden hatte er sich immer wieder gefragt, warum er nicht glücklich war. Seit zwei Tagen war er ein freier Mann, ohne Verpflichtungen und ohne Bindungen. Aber anstelle eines Gefühls der Freiheit war da ein Gefühl der völligen Haltlosigkeit. Er befand sich im leeren Raum – um nicht zu sagen: im freien Fall.

    Er trat ans Wasser und erinnerte sich, dass er schon früher einmal mit ähnlich dunklen Gedanken an der Aare gestanden hatte. Als seine Mutter ihm gesagt hatte, Vater komme nie mehr zurück, war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Das Gefühl der Zerstörung und des Zerbrechens, das er beim Verschwinden seines Vaters empfunden hatte, begleitete ihn bis heute.

    Damals war er keine zehn Jahre alt gewesen. Für den tiefen Schmerz hatte er seine Eltern verantwortlich gemacht. Und er erinnerte sich, wie er sich an ihnen hatte rächen, wie er ihnen hatte einen Schmerz zufügen wollen, der noch grösser war als sein eigener. Das war vor knapp zwanzig Jahren gewesen.

    Und heute? Wem würde sein Abgang schon wehtun?

    Etwa Ferrari, dem Schwein? Im Gegenteil, dem würde das ganz gut passen.

    Daniela? Auch sie würde ihm kaum nachweinen.

    Vielleicht Nina?

    Für einen kurzen Moment hatte er ihr Gesicht vor Augen. Aber der Grappa vernebelte ihm die Sinne und das Bild seiner Tochter verschwamm im trüben Schimmer der Tränen.

    «Es tut verdammt weh», sprach er zur Aare und streckte die Hand ins Wasser. Wie kalt mochte es sein? Zwölf, dreizehn Grad? Oder weniger?

    Er wankte gefährlich. Wenn er sich jetzt einfach fallen liesse, würde es wie ein Unfall aussehen. Ein Betrunkener, der in die Aare stürzte. Das kam immer wieder vor. Wäre ein Sturz im Suff ein würdiger Abgang?

    Musste er überhaupt in Würde abtreten?

    Nein, musste er nicht. Er konnte ebenso gut Amok laufen. Er könnte die Klinik stürmen, Ferrari und ein paar andere fertigmachen, Danielas Neuen umlegen – und, falls er vorher zum Islam konvertiert wäre, hätte er wenigstens Aussicht auf zweiundsiebzig Jungfrauen.

    «Ich werde noch etwas trinken, dann lösen sich entweder die Probleme oder die Hemmungen», vertröstete er den Fluss.

    Er versuchte auszurechnen, wie viel Alkohol er schon intus hatte. Es mussten über zwei Promille sein. Warum funktionierte das verdammte Hirn eigentlich noch? Und wo blieb der Schnapslappen?

    Ein leises Surren unterbrach seine stummen Selbstgespräche. Mechanisch zog er das Telefon aus der Tasche. Die SMS kam von Simon. Sein Kollege aus der Prüfungsgruppe schob irgendwo Nachtdienst und hatte wahrscheinlich nichts zu tun. «Mensch, Mauro, wo steckst du? Lass bloss nicht auch noch den Prüfungstermin sausen …»

    Das Gerät zeigte eine weitere Nachricht an. Sie stammte von Aldo. «Morgen, wie immer?», fragte sein Tennispartner. Mauro dachte nach. Den letzten Termin hatte er noch abgesagt, diesmal liess er es bleiben.

    Seit der Entlassung hatte sich über ein Dutzend unbeantworteter Mitteilungen angesammelt. Hauptsächlich von seinen Kollegen, aber auch von seiner Mutter – und natürlich vom Anwalt seiner Frau.

    Der Dreckskerl!

    Er schleuderte das Handy in den Fluss und war beinahe überrascht, als das Gerät mit einem dumpfen Platschen im Wasser verschwand. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn es an der Wasseroberfläche abgeprallt wäre. In der Dunkelheit wirkte der Fluss ruhig und kompakt, wie eine feste Masse

    Mauro setzte sich an die Böschung und versuchte an gar nichts zu denken. Es wollte ihm nicht gelingen. Sein Blick fiel auf seine Stiefel. Schöne, handgefertigte Lederstiefel aus Mailand. Sie waren das Wertvollste an seiner Kleidung. Schuhe hatten ihm immer viel bedeutet, und besonders diese Stiefel. Die würde er ausziehen. Alles andere war ihm egal, aber die Stiefel nicht.

    Über ihm gab es kurz einen Lärm. Bremsen quietschten, Stimmen ertönten. Mauro blickte nach oben, konnte indes nichts als die komplizierte Konstruktion der Kirchenfeldbrücke erkennen. Die Anordnung der Eisenstäbe schien im fahlen Licht der Stadtbeleuchtung ohne jede Logik.

    Er hatte sich schon wieder seinen Stiefeln zugewandt, als keine drei Meter neben ihm mit einem dumpfen Plopp etwas auf der Uferböschung aufschlug. Er fuhr zusammen. Ein leiser Luftzug folgte dem Aufprall.

    Mauro blickte gebannt auf das massige Bündel, das schräg vor ihm lag. Er schaute auf die leere Grappaflasche, und dann wieder auf das regungslose Bündel.

    Nein, kein Zweifel – im Schein der nahen Strassenlampe war es deutlich zu erkennen: Es war ein Mensch, der da vom Himmel gefallen war.

    *

    Einen Moment war er perplex, dann erwachten seine ärztlichen Instinkte und er näherte sich dem Unglücklichen. Der Körper fühlte sich warm an, fast heiss unter seinen klammen Händen. Mechanisch, aber erfolglos suchte er nach dem Puls oder andern Lebenszeichen. Am Hinterkopf klaffte eine Wunde, in der sich Knochen, Hirnmasse und Blut zu einem Mus vermischten.

    Er drehte den Mann vorsichtig von der Seite auf den Rücken. Der leblose Körper glitt auf der steilen Böschung in Richtung Wasser. Mauro hielt ihn zurück.

    Wahrscheinlich blickte er in das Gesicht eines Toten. Die Pupillen schienen erstarrt. Auf die Berührung der Hornhaut, der empfindlichsten Stelle am ganzen Körper, folgte keinerlei Reaktion.

    Für diesen Menschen kam jede Hilfe zu spät. Ein Wiederbelebungsversuch war zwecklos, nicht nur der Kopfverletzung wegen. In dieser Schräglage und ohne weitere Helfer war eine Reanimation von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Auch um Hilfe schreien machte keinen Sinn. Da war niemand in der Nähe, und schon gar nicht in Rufweite. Und sein Handy hatte er eben in die Aare geschmissen.

    Er richtete sich auf, um zu sehen, ob der Penner in Sichtweite war. Aber kaum liess er den Toten los, rutschte dieser weiter ab. Mauro versuchte ihn vom Wasser wegzuzerren. Alleine schaffte er es nicht. Nicht nur, dass er in der feuchtkalten Böschung keinen Halt fand; der Arm, an dem er den Toten hochzerren wollte, fühlte sich unnatürlich beweglich an. Wahrscheinlich war er unter der Wucht des Aufpralls mehrfach gebrochen.

    Ob der Mann in der Dunkelheit die Uferböschung bereits für Wasser gehalten hatte? Den Fluss hatte er zwar knapp verfehlt, aber sein Ziel hatte er trotzdem erreicht: Er war tot.

    «Du hast Glück gehabt», sagte Mauro zu ihm. Sich von dieser Brücke zu stürzen, war keine todsichere Angelegenheit. Jeder Dritte überlebte den Sturz – in der Regel mit einer bleibenden Behinderung, im besten Fall mit einer schlecht verheilenden offenen Fraktur, im schlimmeren Fall mit einer Querschnittslähmung oder einem Hirnschaden.

    Mauro verharrte Hand in Hand mit dem Toten. Er betrachtete den Mann genauer. Die starren Augen waren auf die Brücke gerichtet. Unwillkürlich folgte er dem leblosen Blick. Er konnte die Brüstung erkennen, über die der Mann geklettert sein musste. Aber sonst war nichts zu sehen.

    Ganz im Gegensatz zum Hinterkopf war das Gesicht des Toten erstaunlich unversehrt geblieben. Er sah irgendwie krank aus. Trotz dunklem Teint wirkte er blass, und um seine Augen zeichneten sich finstere Ringe ab. Ob ihn eine vernichtende Diagnose in den Tod getrieben hatte? Anzeichen existenzieller Nöte konnte Mauro jedenfalls nicht feststellen. Der Kaschmirmantel war von Armani und das Schuhwerk von Bally. Ein gescheiterter Banker?

    Wie dem auch war, ob Börsencrash, Krankheit, Liebeskummer oder Depression, der Mann hatte sein Leben als derart wertlos

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