Mord im Grand Hotel Matterhorn
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Über dieses E-Book
Gabriela Kasperski
Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Synchronisation, Figurenentwicklung und Kreatives Schreiben. Den Sommer verbringt sie seit vielen Jahren in der Bretagne. 2024 erhielt sie den »Zürcher Krimipreis« für ihren Roman »Zürcher Verstrickungen«. www.gabrielakasperski.com
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Rezensionen für Mord im Grand Hotel Matterhorn
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Buchvorschau
Mord im Grand Hotel Matterhorn - Gabriela Kasperski
Für meine Großmutter … Libby hätte ihr gefallen.
»Man reist ja nicht, um anzukommen …«
Johann Wolfgang von Goethe
Prolog
Ihre Finger rutschten ab, sie zappelte und hing in derLuft. Als sie wieder Halt fand, richtete sie sich auf. Einmal kurz durchatmen, das war knapp gewesen. Sie blickte auf die Armbanduhr, ein Geschenk von ihm. Zärtlich fuhr sie über das Glas. Es blieb ihr kaum mehr Zeit, wenn sie vor ihm auf dem Gipfel sein wollte. Durch ein Meer aus Tannen führte eine schmale Schneise zu einem Pfad, der sich im Zickzack hinaufwand, voller Kiesel und Geröll und schwierig zu gehen. Als Belohnung winkte die Berghütte, die Terrasse und weiter vorne die Endstation des Sessellifts. Und er natürlich. Bald würde er aussteigen, sich durch das dichte Haar fahren und grinsen wie ein Lausbub. Danach … war alles möglich.
Sie drehte sich um und fixierte das Gestein. Mit der rechten Hand hielt sie sich erneut an einer Wurzel fest, zog sich nach oben, stieg weiter, bis zu der kleinen Plattform, die Sicht auf die Felswand mit der kleinen Spalte bot. Zweimal im Jahr, rund um die Tag- und Nachtgleiche, konnte man von hier aus das Matterhorn sehen. Es hatte mit dem Winkel der Sonneneinstrahlung und der Erdkrümmung zu tun, ein Angestellter vom Grand Hotel hatte es ihr erklärt. Als ein Schatten ihre Sicht trübte, zwinkerte sie. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand stand breitbeinig auf den beiden Felsspitzen. Seine Silhouette zeichnete sich vor dem lichtblauen Himmel ab. Das leise Flattern der Jacke, die einzige Bewegung, lenkte ihren Blick auf einen Gegenstand in seiner Hand. Umdrehen, weglaufen, hinunter ins Hotel, schrie ihr Verstand, und doch blieb sie stehen. Denn es war kein Fremder. Er war es. Trittsicher und stumm kletterte er hinunter, bis er dicht vor ihr stand, so dicht, dass sie zurückweichen musste. Pling, pling, pling hörte sie das Geräusch eines Kiesels. Als sie zur Seite ausweichen wollte und eine Hand um die Wölbung ihres Bauches hielt, rutschte sie ab. »Das ist dein Kind!«, wollte sie sagen. Die Worte erreichten ihre Lippen nicht, sie erstarben in dem Maß, wie die Erkenntnis in ihr wuchs, dass sie sich getäuscht hatte.
Diesmal war da keine rettende Wurzel, da war nichts. Sie fiel. Und fiel. Und fiel.
1
Der Schnellzug bremste überraschend, obwohl bisGöschenen eigentlich kein Halt mehr angekündigt war. Während sich die Mitreisenden mehr oder weniger lautstark zu dieser erneuten »Rast« auf freier Strecke äußerten, genoss Libby Andersch die Aussicht auf die schroffen Hügel und Hänge um den Vierwaldstättersee. Nicht ein einziges Mal schaute sie dabei auf ihre unablässig klappernden Stricknadeln, Stricken ging überall und in jeder Lebenslage. Seit sie vom Institut für Chemie mit fünfundsiebzig in Rente geschickt worden war, unternahm sie immer montags einen Ausflug, es gab nichts Besseres, um die Woche zu beginnen. Da es Ende November im Flachland wie üblich ziemlich grau war, hatte sich Libby eine Panoramafahrt mit dem Glacier Express vorgenommen. Die einzige selbst gestellte Bedingung war, dass sie abends rechtzeitig zurück wäre für den Krimiklub. Als Anhängerin des gepflegten Hörspiels mochte sie die Radiosendung über wahre Verbrechen, nicht zuletzt wegen der Stimmen, die dann ihr Wohnzimmer erfüllten. Libby lebte allein.
Der Zug fuhr weiter, und eine Durchsage kündigte einige Minuten Verspätung an, Grund dafür seien Bauarbeiten. Libby fragte sich, ob damit ihr Zeitplan durcheinander geriete. Früher hätte sie das Kursbuch studiert, ein Fahrplan, den sie trotz der Größe immer mit sich geführt hatte. Leider wurde es wegen mangelnder Nachfrage seit diesem Jahr nicht mehr gedruckt. Darum lauschte sie sehr genau, als der Wanderer im Abteil schräg gegenüber dem Sitznachbarn von seinen Reiseplänen erzählte, die Libbys ähnelten.
»Mit dem Glacier Express, genau. Es soll da oben verdammt heftig schneien. Scheißwetter. Na ja, ich hole mir dann zum Trost in Göschenen einen Kaffee Träsch.«
Wenn der Wandersmann sich noch etwas zu trinken besorgen konnte, dürfte die Umsteigezeit auch für Libby reichen. Ihre Hüftbeschwerden hatten sich diesbezüglich zuweilen als Problem erwiesen.
In dem Moment eilte eine Dame, ausgestattet mit Sonnenbrille und Hut, so hastig den Gang entlang, dass sie den Wanderer, ohne es zu bemerken, mit dem einen Ende ihres Schals ins Auge traf. Er ließ daraufhin eine Kanonade los, die mit den Worten »Verwöhntes Divenpack!« endete.
Ziemlich ordinär, fand Libby. Wobei die Frau tatsächlich das Flair einer Diva an sich gehabt hatte und Libby außerdem seltsam vertraut erschienen war. Während sie darüber nachdachte, aus welchem Grund dies so war, schimpfte der Wanderer munter weiter.
»Nicht mal entschuldigt hat sie sich, diese Schnepfe.«
Libby reichte es, und sie beschloss, vor dem Umsteigen das stille Örtchen aufzusuchen. Beim Aufstehen knackte ihre Hüfte so laut, dass der Wanderer zu ihr hersah. Sie tat, als wäre nichts gewesen, strich den Rock glatt, rückte die Brosche auf der Bluse gerade, warf das Loden-Cape um und machte sich auf.
***
Das kleine Schild bei der Toilettentür stand auf Rot, und so stellte sich Libby etwas davon entfernt ans Fenster, während der Zug wieder anfuhr. Sie passierten das Kirchlein von Wassen. Wegen Arbeiten in der neuen Gotthardröhre musste der Zug die alte Strecke nehmen, dabei fuhr er Schleifen und kam dreimal an der kleinen Kirche vorbei. Gerade als Libby ein diskretes Anklopfen an der Toilettentür erwog, wurde sie angestupst. Vor ihr stand ein kleiner Junge, vielleicht neun Jahre alt. Er hatte Augen wie Quecksilber und eine lila Strähne im hellen Haar.
»Hallo, Frau Andersch, was machen Sie denn hier? Ich bin der Noah, ich wohne über Ihnen.«
»Was für ein Zufall.« Libby war nicht auf eine Unterhaltung eingestellt. Auf ihren Reisen beobachtete sie gerne und blieb für sich. Andererseits war sie dem Gebot der Höflichkeit verpflichtet. »Hast du keine Schule?«
»Lehrerfortbildung.« Er grinste. »Meine Mama hat einen Auftrag im Tessin. Wir übernachten in einem Hotel mit Hallenbad, es gibt ein Buffet mit Dessert, und wir schlafen in einer Süte mit Gamekonsole, zum Tessin-Ninjas abknallen. Hat auf TripAdvisor fünf Sterne.«
Was sprach der Bub denn für ein Kauderwelsch? »Meinst du eine Sternwarte?«
»Nö. Das sind so Bewertungen, von Gästen.«
»In einem Gästebuch also.«
»Auf dem Handy.«
»Damit kann ich nicht dienen.« Libby besaß keines. Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu den Geräten. Und zwingen ließ sie sich schon gar nicht.
»Meine Mama hat gesagt, ohne Handy haben Sie keinen Anschluss an die Neuzeit, aber Sie sind selbst schuld.«
Nahm kein Blatt vor den Mund, ihre Nachbarin, dachte Libby. Sie hieß Iris, war alleinerziehend, von Beruf Porzellanmanufakteurin und ziemlich parteiisch. Dass der Bub den Geräuschen nach zu urteilen täglich ganze Heerscharen von virtuellen Feinden besiegte, schien sie nicht zu kümmern, dass Libby kein Handy hatte, jedoch schon.
»Also dann, viel Spaß mit deiner Gamekonsole.« Libby hatte sich bemüht, das Wort perfekt auszusprechen. »Ich fahre zum Matterhorn und übernachte auf dem Gipfel.«
Gerade als der Bub überlegte, wie er das wohl übertrumpfen könnte, gab es einen Ruck, gefolgt von einem erneuten, diesmal sehr abrupten Halt.
»Eine Notbremsung!« Libby hatte sich am Fenstergriff festgehalten, ein Sturz würde ihre Hüfte nur schwerlich goutieren.
Noah hingegen war auf den Hosenboden gefallen, stand jedoch sofort wieder auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Libby.
Noah hielt den Daumen hoch. »Ich bin robust.«
In die entstandene Stille ertönte eine Stimme aus der immer noch verriegelten Toilette. Offenbar telefonierte die Person. Sie klang ziemlich aufgeregt, erwähnte ein perfides System, das sie entlarven wolle, und dass er, der Mensch am anderen Ende, dafür bezahlen müsse.
»Paula, was machst du?«, sprach die Stimme weiter.
Die Antwort kam von einer zweiten Person, mit wesentlich tieferer Stimme.
»Dich töten, Gregory.«
Noah war so verwundert wie Libby. Wobei er dem Inhalt der Worte weniger Bedeutung beimaß als der Tatsache, dass da zwei drin waren. »Sie, haben Sie das gehört?«, flüsterte er. »Das ist doch komisch. Zwei in einem Klo. Was machen die da?«
Libby fiel alles Mögliche ein, was zwei Leute in so einer Zugtoilette anstellen könnten. Nicht kindertauglich, die Antworten. »Noah, geh jetzt zurück an deinen Platz. Deine Mama wird sich Sorgen machen.«
Aber Noah blieb wie angewurzelt stehen. »Ich warte, bis die rauskommen!« Seine Phantasie war angeregt. »Dann verhaften wir sie und bringen sie der Polizei.«
»Was habe ich gesagt? Dalli, dalli, ab die Post.« Libby blickte streng, und der Bub rannte winkend davon.
Eine weitere Durchsage kündigte an, dass sich die Weiterfahrt erneut um einige Minuten verzögere, Grund dafür sei eine Notbremsung.
»Falls ein Arzt oder Sanitäter im Zug ist, begeben Sie sich bitte in Waggon 2.«
Libby überlegte. Dass sie den Anschluss an den Glacier Express noch schaffte, wurde immer unwahrscheinlicher. Dann trinke ich halt einen Kaffee im Bahnhofsbuffet, dachte sie. Von einer früheren Reise waren ihr die leckeren Kanapees mit Sardellenfilet in bester Erinnerung. Gerade als sie sich das Zitronensorbet zum Dessert vorstellte, öffnete sich die Toilettentür. Libby tat beschäftigt und beobachtete aus den Augenwinkeln, wer da herauskam. Zu ihrem großen Erstaunen war es die Dame von eben, in Hut und Mantel, nur dass sie eine Hand seltsam abgewinkelt in die Luft hielt und eine Art Dossier unter den Arm geklemmt hatte. Ohne Libby zu beachten, eilte sie davon. Und wo war die andere Person? Als auf Libbys Klopfen hin nichts geschah, entschied sie sich nachzusehen, einfach um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war.
Gleich nach dem Eintreten umfing sie der Duft nach Maiglöckchen. Dann bemerkte sie, dass die kleine Kabine leer und so blitzblank war, dass es geradezu unnatürlich wirkte und die Spritzer im Aluminiumwaschbecken besonders auffielen. Manche hatten ein tropfenförmiges Muster, manche waren schlierenartig, aber alle waren von einem tiefen, dunklen Rot. Paula, was machst du?, glaubte Libby die Stimme wieder zu hören. Sie war hoch gewesen und ohne Modulation, distanziert und grausam zugleich. Sehr eigenartig. War die Dame vielleicht eine Stimmenimitatorin? Wenn ihr nur einfallen würde, wo sie die Frau schon mal gesehen hatte! Und dann hatte sie eine Eingebung. Sie verriegelte die Tür, setzt sich auf die Klobrille und zog eine Zeitung aus ihrer Tasche. Einmal blättern, und schon war sie bei der Kulturseite, wo ein großer Johannisbeer-Konfitüre-Fleck, den ihr tropfendes Frühstücksbrötchen hinterlassen hatte, das Gesicht einer abgelichteten Person verzierte. Es handelte sich dabei um Pjotr Voss, einen Schweizer Schauspieler, der vor Urzeiten in Hollywood Karriere gemacht hatte und nun für Dreharbeiten ins Wallis kommen sollte. Dass sie den wieder ausgruben, hielt Libby für überflüssig, er war unerträglich eitel gewesen, und sie ging nicht davon aus, dass diese Marotte im Alter besser geworden war. Sie holte ihre Brille aus dem gestickten Etui und überflog den Artikel nochmals. Dort war zu lesen, dass Voss, der normalerweise in Berlin lebte, für Dreharbeiten im Wallis in der Schweiz weilte. Neben ihm stand eine um einiges jüngere Frau, die beiden hielten Händchen. Libby hatte sich bei der Lektüre gewundert und die Frau als Anhang eingeschätzt. Beim genaueren Hinsehen vermittelten ihre Haltung und ihr Blick ein gewisses Selbstbewusstsein. Auffällig war ihr breitkrempiger Hut, derselbe, den die Dame von eben getragen hatte. Ob sie es gewesen war?, wunderte sich Libby. Was will die mit diesem Voss?
In dem Moment wurde an die Tür getrommelt. »Können Sie rauskommen, bitte? Es handelt sich um einen Notfall.«
Erst die Notbremsung, nun ein Notfall. Libby wappnete sich und trat hinaus. Vor der Tür hatte sich eine ganze Gruppe von Menschen versammelt.
2
»Sind Sie die Nachbarin von Noah?«, fragte eine Sanitä-terin, erkennbar an der neongelben Weste und an blutigen Plastikhandschuhen. »Frau Anders?«
»Andersch«, korrigierte Libby, die es gewohnt war, dass die Leute ihren Namen falsch aussprachen.
»Es gab einen Unfall mit Noahs Mutter, nichts Schlimmes, aber sie muss ins Krankenhaus.« Die Sanitäterin deutete auf zwei weitere Rettungskräfte, die sich bemühten, eine Trage durch den engen Gang des Zugs in Richtung Ausstieg zu
