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Wolfsfährte: Niederbayern-Krimi
Wolfsfährte: Niederbayern-Krimi
Wolfsfährte: Niederbayern-Krimi
eBook925 Seiten11 Stunden

Wolfsfährte: Niederbayern-Krimi

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Über dieses E-Book

Gregor Cornelius reist voller Vorfreude nach Niederbayern, um die Chronik der mittelalterlichen Stadt Altenberg zu überarbeiten. Kurz vor seinem Ziel entgeht er nur knapp einem Unfall, der offenbar durch illegale Autorennen auf den nächtlichen Straßen verursacht wurde. Währenddessen sorgt die Anwesenheit eines Wolfes im nahegelegenen Forst für Unruhe und steigende Forderungen nach einem Abschuss. Bürgermeisterin Christina Bogner, die sich als Politneuling behaupten muss, wird zunehmend mit Hass, Hetze und Drohungen
konfrontiert – insbesondere wegen ihres starken Einsatzes für den Umwelt- und Artenschutz. Eines Morgens wird sie tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Landshuter Mordkommission stößt auf ein Netz aus Intrigen, Lügen und Geheimnissen, während
Cornelius allmählich einen furchtbaren Verdacht hegt, der ihn nicht mehr loslässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberAllitera Verlag
Erscheinungsdatum4. Sept. 2025
ISBN9783962335076
Wolfsfährte: Niederbayern-Krimi

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    Buchvorschau

    Wolfsfährte - Karoline Eisenschenk

    Prolog

    Mit pochendem Herzen, den Blick starr auf den Steinfußboden gerichtet, ging sie neben der Frau den schier endlosen Flur entlang. Ihre Füße, die in roten Lackschuhen steckten, hatten Mühe, mit den schnellen Schritten mitzuhalten. Auf halbem Weg bog die Frau erneut nach rechts ab und eilte eine Holztreppe in das nächste Stockwerk hinauf. Hatte sie anfangs noch versucht, sich jede Abzweigung und jeden einzelnen Gang zu merken, so hatte sie mittlerweile längst die Orientierung verloren. Wie sollte sie sich in diesem verwinkelten Gebäude jemals allein zurechtfinden? Morgen, schon morgen, würde sie es ohne Hilfe schaffen müssen, dabei wusste sie jetzt nicht einmal mehr, wo sie sich eine Minute zuvor befunden hatte.

    Am Treppenabsatz angekommen, musste die Frau notgedrungen auf sie warten, was ihr ein ungeduldiges Seufzen entlockte. Kaum hatte sie die letzte Stufe erklommen, eilte ihre Begleitung schon einen weiteren Flur entlang, bis sie vor einer weiß lackierten Holztür stehen blieb, anklopfte und den linken Türflügel mit einem energischen Ruck öffnete.

    Ihr Herzschlag dröhnte jetzt geradezu in den Ohren, und alles in ihr wehrte sich, hinter der Frau den Raum zu betreten. Den neugierigen Blicken jedes Einzelnen ausgesetzt zu sein und sie wie Nadelstiche auf der Haut zu spüren. Dutzende Augenpaare, die sie wie ein kurioses Ausstellungsstück musterten, würden auf sie gerichtet sein. Ihr blieb keine andere Wahl. Und so trat sie ein und griff kraftlos nach der Hand, die ihr sogleich zur Begrüßung gereicht wurde. Ihr Gegenüber sagte etwas, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen etwas Nettes, das jedoch wie ein undeutliches Echo und ohne dass die Worte tatsächlich in ihr Bewusstsein drangen, an ihr vorbeizog. Eine sachte Berührung an der rechten Schulter ließ sie zusammenzucken, und es dauerte einige Sekunden, bis sie verstand. Mit gesenktem Kopf ging sie über den Holzboden, begleitet von aufgeregtem Getuschel und leisem Gelächter. Schließlich wagte sie aufzublicken – direkt in zwei grüne Augen, die wie Smaragde funkelten und sie mit unverhohlener Neugier musterten. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das direkt ihr Herz berührte. Und da wusste sie, dass alles gut werden würde.

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    Noch nie hatte sie so furchtbare Schmerzen verspürt. Ihr ganzer Körper schien sich regelrecht aufzulösen. Warum konnte sie nicht einfach ohnmächtig werden? Loslassen, von einem schwarzen Schleier umgeben, in ein Nichts hinabgleiten. Doch anstatt von unendlicher Leichtigkeit umgeben zu sein, wurde sie von einer neuen Woge hinweggerissen, noch quälender, noch peinigender als Peitschenhiebe und Messerstiche auf einmal. Musste sie jetzt für ihre Sünde büßen? Kam jetzt alles zurück, von dem sie dachte, es hinter sich lassen und aufgeben zu können? War das die Strafe für ihren unheilvollen Entschluss? Es loszulassen, das Band zu durchschneiden, mit dem sie eigentlich für alle Zeiten untrennbar miteinander verbunden waren? Ein Schrei entrang sich ihrer ausgedörrten Kehle. Ihre Finger tasteten panisch nach dem geliebten Gegenstand und umschlossen ihn. Er war noch da und würde sie auch jetzt begleiten, so wie all die Jahre ihres Lebens. Die vertrauten Umrisse in ihrer schweißnassen Hand ließen sie etwas ruhiger werden. Aber nur kurz, dann waren die Hiebe und Stiche wieder da. Und wieder hatten sie an Intensität gewonnen. Sie würde sterben, sie würde hier und jetzt sterben, dachte sie, als sich die nächste unheilvolle Welle ihres Körpers bemächtigte.

    Eine Stimme drang von der Ferne in ihr Bewusstsein, verwaschen und konturlos wie eine Nebelbank. Doch plötzlich ertönte ein Laut, klar und deutlich … und wunderschön. Und mit ihm die Gewissheit, dass sie dieses Geschenk niemals würde loslassen können. Niemals!

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    Wachsam, die Nackenhaare aufgestellt, streifte er durch den nächtlichen Wald. Für heute war es genug, sein Hunger gestillt. Der Rest der Beute lag verscharrt an einer sicheren Stelle. Trotzdem hatte er auf seiner Wanderung eine neue Witterung aufgenommen. Schwach, ganz schwach war der Geruch in seine Nasenhöhle gedrungen, und doch war er unverkennbar da. Vertraut und fremd zugleich. Lautlos trabte er an Bäumen und Büschen vorbei, übersprang am Boden liegende Zweige und Äste, wie von einem unsichtbaren Seil gezogen immer der Spur hinterher. Manchmal war sie nur ein Hauch, jetzt, nachdem der Wind aufgefrischt hatte, wurde sie stärker. Aber es war keine gewöhnliche Beute. Kein Tier …

    Abrupt blieb er stehen. Da war noch etwas anderes. Etwas Bedrohliches. Er gab ein dunkles Grollen von sich. Seine Geruchsrezeptoren liefen auf Hochtouren, die Muskeln spannten sich an, jederzeit bereit, zum Sprung anzusetzen. Es war da, eindeutig. Doch es war kein Artgenosse, kein möglicher Fang, auch kein Aas. Die Spur, die er zuerst verfolgt hatte, war jetzt nur noch ein flüchtiger Gedanke, überlagert von dem unbekannten Neuen. Seine schräg angesetzten Augen scannten die Umgebung ab. Nirgendwo konnte er eine Bewegung erkennen. Auch die stets aufrechten Ohren vermochten keinen Laut zu vernehmen. Und doch spürte er in jeder Faser seines Körpers die Gefahr. Eine Gefahr, die direkt aus der Tiefe des Waldes kam. Er duckte sich und wich einige Schritte zurück, bevor er eins wurde mit der Finsternis und im Unterholz verschwand.

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    Kapitel 1

    Vater unser im Himmel

    Die Uhr im Wageninneren zeigte bereits kurz vor halb zehn, als Gregor Cornelius in die Bundesstraße Richtung Norden einbog.

    Ein Lkw-Unfall auf der Autobahn hatte einen Stau verursacht, sodass er später als geplant sein Ziel Neukirchen ansteuerte. Doch Cornelius bereute es nicht, erst am Nachmittag in Österreich losgefahren zu sein, wo er mit seiner Frau Ramona drei entspannte Urlaubswochen verbracht hatte. Die gemeinsame Auszeit hatte ihnen nach turbulenten Zeiten und einer schlimmen Ehekrise gutgetan und sie noch enger zusammenrücken lassen. Zerstritten, gekränkt, missverstanden, uneinsichtig … sie hatten einander nichts geschenkt, sich regelrecht bekriegt, und in den bittersten Momenten war er sich nicht sicher, ob sie jemals wieder zueinanderfinden würden. Wie viel Zeit sie doch mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, Kränkungen und schließlich eisernem Schweigen vergeudet hatten. Jede Minute an Ramonas Seite war für ihn seitdem ein kostbares Geschenk, dessen Wert er beinahe für immer verloren hätte.

    In den Jahren zuvor waren sie oft getrennt verreist – er nach Niederbayern ins beschauliche Neukirchen, das er, wenngleich im Herzen eine Großstadtpflanze, sehr liebgewonnen hatte. Ramona hingegen hatte dem Dorf unweit von Landshut stets mondänere Reiseziele oder Unternehmungen vorgezogen. Diesen war Cornelius nur allzu gerne entkommen, was vor allem am illustren Freundeskreis seiner Frau gelegen hatte. Obwohl sie als jüngstes Urlaubsdomizil Kitzbühel gewählt hat-ten – seines Zeichens nicht unbedingt ein Synonym für Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit –, war in diesen drei Wochen doch alles anders gewesen. Und das lag nicht nur daran, dass sie endlich einmal wieder gemeinsam unterwegs waren.

    Ramonas Freundin Caroline von Greifenberg, die nach dem Tod ihres Ehemannes eine neue Heimat in Kitzbühel gefunden hatte, hatte sich als wunderbare Gastgeberin und begeisterte Fremdenführerin entpuppt. Nichts war mehr übrig von der einst so glamourösen Freifrau, die Neukirchen mit einem arroganten Lächeln bedacht und Ramona den dortigen Urlaub mit Cornelius gerne ausgeredet hatte. Ein furchtbares Ereignis im Vorjahr hatte nicht nur die Krise in seiner eigenen Ehe ausgelöst, sondern Caroline als tief trauernde Witwe zurückgelassen und ihre bis dahin abgehobene Weltsicht, um nicht zu sagen ihr ganzes bisheriges Leben, zum Einsturz gebracht. Cornelius’ Beitrag zur Verhaftung des Täters hatte schließlich die letzten Barrieren zwischen ihnen eingerissen, sodass er und Caroline mittlerweile einen liebevollen Umgang pflegten. Wäre ihm das vor zwölf Monaten prophezeit worden, hätte er nur ungläubig den Kopf geschüttelt, so undenkbar war ihm eine ehrliche Freundschaft all die Jahre hinweg erschienen.

    Die nächsten beiden Wochen würden Cornelius und Ramona allerdings getrennt voneinander verbringen, ein Umstand, der ihm trotz aller Vorfreude auf Neukirchen nicht sonderlich behagte. Ramona war bei Caroline in Kitzbühel geblieben, um ihr bei einem Tierschutzprojekt unter die Arme zu greifen, wohingegen er seinem Steckenpferd, der Arbeit mit historischen Dokumenten, nachgehen würde. Der Anruf aus dem Altenberger Rathaus, ob er an einer Überarbeitung und Weiterführung der Stadtchronik Interesse hätte, hatte mitten in sein für Geschichte schlagendes Herz getroffen. Dr. Christina Bogner, seit einigen Monaten Stadtoberhaupt von Altenberg, hatte am Telefon nicht nur überaus sympathisch geklungen. Sie wollte ihm auch jedwede Freiheit bei seinen Recherchen und der Ausarbeitung der Chronik lassen. Nachdem er sich Ramonas Zustimmung sicher sein konnte, hatten Cornelius und die Bürgermeisterin einen ersten Termin vereinbart. Dieser würde morgen Nachmittag im Altenberger Rathaus stattfinden.

    Nun allmählich doch etwas geschafft von einem langen Tag und den Stunden am Steuer, fuhr Cornelius über die Bundesstraße. Bis zur Abzweigung nach Neukirchen war es nicht mehr weit, und es herrschte zum Glück nur wenig Verkehr. Jetzt, Ende Juli, merkte man bereits die kürzer werdenden Tage. Noch war es zwar nicht dunkel, aber die Dämmerung tauchte Wiesen, Felder und Wälder in ein diffuses Licht. Die Getreideernte in diesem heißen und trockenen Sommer war schon vorüber, wie er an den zahlreichen Strohballen auf den Stoppelfeldern erkennen konnte. Lächelnd musste er dabei an seine eigene Mähdrescherfahrt vor einigen Jahren denken. Der junge Mann am Steuer hatte das gewaltige Gefährt so zielsicher und achtsam gelenkt, als säße er in einem Kleinwagen. Besagten Sommer würde Cornelius ohnehin nie vergessen – waren am Ende doch zwei Mordfälle aufgeklärt und eine Bande von Drogenschmugglern dingfest gemacht worden.

    Robert Thorwald, dem Leiter der Landshuter Mordkommission, ging es wohl ähnlich, wenngleich aus anderen Gründen. Er hatte Cornelius’ Beteiligung alles andere als gern gesehen – immerhin war er den Beamten mit seiner Anwesenheit nicht zum ersten Mal ins Gehege gekommen. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, hatten ihn die dramatischen Ereignisse im Vorjahr doch erneut in den schlimmsten Abgrund der menschlichen Seele blicken lassen. Noch heute machten ihn die Kälte, der Hass und die Brutalität des Täters fassungslos und ließen ihn nachts oft wach liegen. Wie es wohl Bernadette Ziegler und ihrer Familie ergangen war? Am Tag seiner Aussage im Strafprozess hatte er niemanden aus Elenas Familie bei Gericht gesehen. Ihr Schicksal hatte ihn tief bewegt und nie ganz losgelassen. Er würde hoffentlich bald Gelegenheit haben, mit Bernadette zu sprechen.

    Je näher er Neukirchen kam, umso mehr wuchs auch jetzt seine Vorfreude. Auf die stattlichen Bauernhöfe entlang der Hauptstraße, Roswitha Försters Gemischtwarenladen (von bösen Zungen auch Hauptquartier des Dorfsheriffs genannt), auf St. Ulrich, die wunderbare Dorfkirche mit ihren charakteristischen Treppengiebeln, und auf Anna Leitner, die Wirtin des Gasthauses und eine über die Jahre sehr liebgewonnene Freundin. Nicht zu vergessen die Überarbeitung und Neufassung der Altenberger Stadtchronik, dem eigentlichen Grund seiner Reise nach Niederbayern. Dass die Bürgermeisterin ihn als Außenstehenden mit dieser Aufgabe betraut hatte, erfüllte ihn, wenn er ehrlich war, ein kleines bisschen mit Stolz.

    Während er noch über sein Telefonat mit Christina Bogner nachdachte, bemerkte Cornelius in der Ferne Scheinwerfer, die rasch näherkamen. Er brauchte eine Sekunde, bis er realisierte, dass sich vier Lichtkegel nebeneinander befanden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, und sofort war der Beinaheunfall aus dem Spätherbst wieder präsent. Damals war es die Tat eines verzweifelten Menschen gewesen, die ihn und seine Beifahrerin Anna Leitner um ein Haar in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt hätte. Jetzt konnte es sich nur um ein leichtsinniges Überholmanöver handeln. Nichtsdestotrotz rasten die beiden Scheinwerfer geradewegs auf ihn zu. Sein Herzschlag beschleunigte. Hektisch blendete Cornelius mehrmals auf. Der Fahrer musste ihn doch bemerkt haben. Er bremste scharf ab und lenkte den Wagen so weit wie möglich nach rechts. Notfalls musste er in das angrenzende Maisfeld ausweichen, auch wenn er nicht wusste, wo und wie er dort unter all den Stängeln schließlich zum Stehen kommen sollte. Vom rechten vorderen Kotflügel ertönte ein dumpfer Schlag, doch Cornelius’ ganze Aufmerksamkeit galt den Scheinwerfern auf seiner Straßenseite, die wie Kometen auf ihn zuschossen. Als sie noch etwa zweihundert Meter voneinander entfernt waren, hatte es das eine

    Auto endlich geschafft, das andere zu überholen. Mit einem waghalsigen Manöver und ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, zog der Fahrer den Wagen im allerletzten Moment zurück auf die rechte Spur. Den Bruchteil einer Sekunde später stoben beide Fahrzeuge an Cornelius vorbei. Das Ganze war so blitzschnell über die Bühne gegangen, dass er weder die Insassen noch eines der Kennzeichen hatte erkennen können. Zwei dunkle Autos, tiefergelegt, mit Heckspoilern und röhrenden Motoren. Er brauchte ein paar Minuten, bis er den ersten Schreck verdaut hatte und wieder klar denken konnte. Erst jetzt bemerkte er, dass er den Motor abgewürgt hatte. Mit zittrigen Fingern betätigte er den Zündknopf und gab Gas, aber schon nach wenigen Metern gehorchte ihm das Lenkrad nicht mehr. Cornelius bremste erneut ab und brachte den Wagen am Straßenrand schließlich zum Stehen. Nachdem er das Warnblinklicht eingeschaltet hatte, stieg er aus, um das Schlamassel zu begutachten. Und tatsächlich – sein rechter Vorderreifen hatte durch den Ausflug in das Bankett einen Platten davongetragen.

    Leise vor sich hin schimpfend holte er sein Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer des Abschleppdienstes. Am anderen Ende der Leitung wurde ihm freundlich, aber bestimmt mitgeteilt, dass er aufgrund eines hohen Aufkommens mindestens zwei Stunden auf Hilfe warten müsse. Cornelius lehnte dankend ab und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

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    Nervös ging Benedikt Rehberg im Wohnzimmer auf und ab. Wo Anna nur so lange blieb? Dabei hatte sie schon vor über einer halben Stunde zu Hause sein wollen. Beim Geräusch eines heranfahrenden Wagens verharrte er im Türrahmen. Es war allerdings nur einer der Nachbarn, wie er nach einigen Sekunden feststellen musste. Er widerstand der Versuchung, Anna anzurufen, wusste er doch, dass sie mit einem Brautpaar die geplante Hochzeitsfeier im neuen Saal des Gasthauses Leitner besprach. Er wollte nicht den Eindruck eines pedantischen Kontrollfreaks erwecken, der ihr hinterhertelefonierte, sobald sie nicht auf die Minute pünktlich war. Normalerweise hätte es ihm auch nichts ausgemacht, aber dieser Abend fiel definitiv nicht unter die Kategorie »normal«.

    Doch erneut würde das Wirtshaus ihre privaten Pläne durchkreuzen. Wie so oft, dachte er und warf einen prüfenden Blick auf den Couchtisch mit den zwei langstieligen Gläsern, dem Eiskühler samt Champagnerflasche, einem Strauß roter Rosen und – dem wichtigsten Utensil von allen – einer kleinen Samtschachtel mit einem Brillantring. Dass einer ihrer Ringe als Größenvergleich für den Juwelier in Altenberg hatte herhalten müssen, hatte Anna zum Glück nicht bemerkt. Aber das war angesichts des Trubels, der seit dem jüngsten Ausbau ihres Wirtshauses herrschte, nicht weiter verwunderlich. Kurz nach Annas Scheidung war es bereits um eine Pension mit Gästezimmern erweitert worden, nun war noch ein Veranstaltungssaal im ersten Stock des Hauses dazugekommen, wo sich bis vor einigen Monaten Annas private Wohnung befunden hatte.

    Die Entscheidung für den Einzug bei ihm in der Neukirchner Siedlung war ihr alles andere als leichtgefallen. Anfangs hätte sie es wesentlich lieber gesehen, wenn er die Villa im Stil eines Toskana-Hauses verkauft und sein Quartier bei ihr im Gasthaus aufgeschlagen hätte. Doch Benedikt hatte seine Gründe, warum er an seinem Haus festhalten wollte, weshalb sie sich das eine oder andere Mal ganz schön in den Haaren gelegen hatten. Erst ein dramatischer Zwischenfall hatte ihnen die Absurdität ihrer Streitereien schonungslos aufgezeigt. Nicht lange danach war Anna bei ihm eingezogen. So sehr Benedikt sich über ihr gemeinsames Leben freute, so sehr verfluchte er mittlerweile den Wirtshausumbau. Anna hatte mit der Gaststätte und der Pension schon immer viel um die Ohren gehabt, aber seit es auch noch den Veranstaltungssaal gab, nahm die Arbeit praktisch kein Ende mehr. Eine Hochzeitsfeier jagte die nächste, und wurde ausnahmsweise nicht das Ja-Wort eines Paares gefeiert, stand bestimmt die Jahreshauptversammlung eines Vereins, ein großes Familienfest oder eine Theateraufführung auf dem Programm. Denn natürlich machte Anna keine halben Sachen, sondern hatte im Zuge des Umbaus gleich noch eine Bühne installieren lassen.

    Jetzt war sie schon fast eine Dreiviertelstunde zu spät. Dabei hatte sie ihm am Telefon versichert, spätestens um neun Uhr zu Hause zu sein, da ihre Aushilfen in der Gaststube alles im Griff hätten. Nur das Gespräch mit dem Brautpaar hatte da noch ausgestanden. Benedikt überprüfte sein Spiegelbild im Fensterglas der Terrassentür. Eine schwarze Anzughose und ein blaues Hemd erschienen ihm angemessen, eine Krawatte war ihm dann aber doch zu steif und förmlich vorgekommen. Schließlich handelte es sich nicht um einen Termin bei der Bank, sondern um einen Heiratsantrag. Sollte er stehen bleiben oder, ganz klassisch, vor Anna auf die Knie gehen? Aber das hielt sie bestimmt für völlig überzogen. Immerhin hatten sie beide bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich. Oder würde sie es am Ende romantisch finden, wenn er alle Register zog? Warum hatte er sich darüber nicht früher den Kopf zerbrochen? Zeit zum Nachdenken hätte er jedenfalls zur Genüge gehabt. Aber jetzt war es dafür zu spät, denn in diesem Moment hörte er ein Auto in die Einfahrt rollen, gefolgt von Annas eiligen Schritten und dem Geräusch des Schlüssels an der Eingangstür. Benedikt straffte die Schultern und ging entschlossen Richtung Diele.

    »Kein Problem, Herr Professor. Wir sind gleich da und holen Sie ab«, rief Anna beim Eintreten in ihr Mobiltelefon.

    Benedikt schwante nichts Gutes. Professor. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten: Gregor Cornelius befand sich auf dem Weg nach Neukirchen. Auch wenn sie nach einem sehr holprigen Start mittlerweile passabel miteinander auskamen, wollte Benedikt jetzt durch nichts und niemanden bei seinem Vorhaben gestört werden und den Münchner Geschichtsprofessor auch nicht spätabends irgendwo abholen müssen. Dieser Mann besaß wirklich ein Händchen dafür, immer im falschen Moment am falschen Ort aufzutauchen.

    »Bis gleich, Herr Professor!«

    »Was ist denn passiert?«, fragte Benedikt, nachdem Anna das Gespräch beendet hatte und keine Anstalten machte, die Haustür zu schließen.

    »Stell dir vor, der Professor Cornelius steht mit einem Reifenschaden auf der Bundesstraße. Ich hab ihm gesagt, dass wir ihn und das Auto abholen.«

    »Kann das denn nicht der Abschleppdienst erledigen? Und er soll sich halt ein Taxi rufen«, erwiderte Benedikt ungehalten.

    »Der braucht mindestens zwei Stunden, haben sie am Telefon gemeint. So lange kann der arme Mann doch nicht da draußen in der Dunkelheit warten.« Anna hielt kurz inne. »Am besten ruf ich gleich den Eichinger an, damit er das Auto mit seinem Traktor abschleppt. Am Ende fährt noch einer hinein.«

    Bevor Benedikt etwas entgegnen konnte, hatte sie sich schon wieder ihrem Telefon gewidmet, um den Neukirchner Landwirt anzurufen. Seine Anna, die sich immer für jeden verantwortlich fühlte, nie nein sagte und erst dann Ruhe gab, wenn es nichts, aber auch wirklich nichts mehr zu erledigen gab, war ganz in ihrem Element.

    »Er wird es ja nicht mitten auf der Straße abgestellt haben!«

    Doch Anna hatte schon wieder kehrtgemacht und war durch die Haustür verschwunden.

    »Nein, natürlich nicht«, hörte er sie rufen. »Aber du weißt doch, wie sie auf der Bundesstraße immer rasen. Jetzt komm!«

    Wenn das Ganze schon so anfing, konnte er seinen abendlichen Plan vergessen. Nach einer ausgiebigen Begrüßung würde Anna darauf bestehen, den Professor persönlich im Gasthaus zu bewirten und sich um sein Wohlergehen zu kümmern. Dabei hatte Gregor Cornelius mittlerweile eine Ferienwohnung in Neukirchen angemietet, weshalb in Benedikts Augen keine Rundumbetreuung mehr vonnöten war. Leider sah Anna das anders. Der Professor hatte seit seinem ersten Aufenthalt im Dorf einen Stein bei ihr im Brett. Vor Mitternacht würden sie deshalb bestimmt nicht zu Hause sein. Rasch räumte er die Gläser zurück in den Wohnzimmerschrank, packte die Champagnerflasche und die Schmuckschachtel und eilte in die Küche.

    »Benedikt, wo bleibst du denn?«, ertönte Annas Stimme vom Flur.

    Hastig riss er die Kühlschranktür auf und ließ die Flasche verschwinden. Keine Sekunde zu früh …

    »Sind die etwa für mich?«, fragte Anna und deutete auf den Rosenstrauß, der als einziges noch auf dem Glastisch stand.

    »Äh … ja, ich wollte dir eine kleine Freude machen.« Unauffällig bugsierte er das Kästchen mit dem Verlobungsring neben die Joghurtbecher in das Seitenfach des Kühlschranks. Nicht auszudenken, wenn Anna es entdeckt hätte. Das war schließlich nicht irgendein x-beliebiger Moment, der zwischen Tür und Angel abgehandelt wurde. Dann eben an einem anderen Tag und ohne die Intervention eines gewissen Münchner Geschichtsprofessors.

    »Na los, lass uns den alten Knaben abholen«, seufzte er, nachdem sich Anna mit einem innigen Kuss bei ihm bedankt hatte.

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    Christina Bogner hatte die Website der Altenberger Nachrichten aufgerufen und klickte sich durch die neuesten Artikel. »Bürgermeister nach Beschluss zur Umgehungsstraße mit Morddrohungen konfrontiert.« Die Schlagzeile, gefolgt von einem Bericht über die Situation in einem der Nachbarlandkreise, sprang ihr förmlich entgegen.

    »Willkommen im Club«, murmelte Christina. Sie verzichtete darauf, den Artikel zu Ende zu lesen, enthielt er doch nichts, was sie sich zu so später Stunde noch zu Gemüte führen wollte. Eigentlich wollte sie von Beleidigungen, Bedrohungen und Verleumdungen überhaupt nichts mehr hören und sehen, aber diesen Wunsch würde nicht einmal Valentinas Feenstaub in Erfüllung gehen lassen – ein kleines Glas mit glitzerndem Pulver und einer winzigen Papierrolle, auf der man seine Wünsche notieren konnte, wie sie ihr am Vortag beim gemeinsamen Eisessen erklärt hatte. Hoffentlich konnte Valentina sich noch lange an diesen Dingen erfreuen, dachte Christina und holte das Fläschchen, das sie ihr zum Abschied geschenkt hatte, aus ihrer Umhängetasche.

    Die Verrohung, die Aggressionen und die blinde Wut mancher Leute würden auch Tonnen an Feenstaub nicht wegzaubern. Christina spürte, wie Müdigkeit und Erschöpfung sich ihren Weg bahnten. Ihr Tag war lang und anstrengend gewesen, doch sie wusste, es kam nicht nur davon. Sie war schon immer ein Arbeitstier gewesen, auch 80-Stunden-Wochen hatte sie fast mühelos weggesteckt. Der tägliche Kampf, die vielen Hindernisse, die Feindseligkeiten, das war es, was sie aufzufressen drohte und sie ihre Landshuter Praxis vermissen ließ. Nadja, die Arzthelferinnen, die Patientinnen – wie um alles in der Welt hatte sie das nur aufgeben können? War es purer Größenwahn, der sie hatte glauben lassen, im Haifischbecken Kommunalpolitik bestehen zu können?

    Natürlich schaffst du das! Wenn nicht du, wer dann? Zeig denen, was es heißt, richtig anzupacken und Probleme zu lösen. Nadjas Worte, als sie wegen der Kandidatur mit sich gerungen hatte, hallten geradezu in ihren Ohren. Die Praxis und ich werden immer für dich da sein, ganz egal, was passiert und wie du dich entscheidest. Hier bist du immer willkommen.

    Entschlossen steckte Christina das Fläschchen zurück in ihre Tasche. Nadja hatte recht. So schnell würde sie nicht aufgeben. Sie war schließ-lich nicht angetreten, um nach wenigen Monaten das Handtuch zu werfen, sondern um sich durchzubeißen. Politik war kein Kinderspiel, aber das waren ihr Medizinstudium, die gefährliche Zeit im Senegal, die Praxisanfänge, ja ihr ganzes bisheriges Leben mit seinen Schicksalsschlägen auch nicht gewesen. Und ihr neuer Beruf hatte durchaus schöne Seiten. Der Rathausbesuch zweier Grundschulklassen in der vergangenen Woche gehörte dazu. Wie aufmerksam die Schülerinnen und Schüler doch gewesen waren, als sie über Natur- und Artenschutz sprach, und wie engagiert sie bei ihrer kleinen Aufgabe, einem Kinderparlament, mitgemacht hatten.

    Da in Neukirchen nur ein leeres Haus auf sie wartete und sie ohnehin nach wenigen Minuten am Schreibtisch sitzen würde, beschloss sie, in ihrem Dienstzimmer zu bleiben und die Ruhe des menschenleeren Rathauses zum Arbeiten zu nutzen. Sie schloss den Internetbrowser und holte sich noch einmal die Tagesordnungspunkte für die kommende Stadtratssitzung auf den Bildschirm. Am meisten Bauchschmerzen bereitete ihr gleich der erste Punkt auf der Agenda: das Windrad, das auf einem der bewaldeten Hügel hinter Ebersbach aufgestellt werden sollte. Der administrative Weg dorthin würde steinig und lang werden. Unzählige Vorschriften mussten beachtet, die betroffenen Anrainer ins Boot geholt sowie besorgte und ablehnende Bürgerstimmen und -initiativen gehört werden. Das alles war anstrengend und erschöpfend, mitunter auch zermürbend, aber es gehörte zur Politik dazu. Diskutieren, argumentieren, Für und Wider abwägen, zivilisiert streiten – das hatte Christina noch nie abgeschreckt oder gar Angst gemacht. Endlich saß sie an einer Stelle, an der sie etwas bewirken und Dinge in Gang setzen konnte. Vor TOP Nummer eins graute ihr vor allem deshalb, weil es sich ein Mitglied im Altenberger Stadtrat zum erklärten Ziel gesetzt hatte, das Projekt mit allen lauteren und unlauteren Mitteln zu bekämpfen. Dabei hatte das Windrad von Anfang an nur als Mittel zum Zweck gedient, denn das wahre Ziel – das war Christina bereits am Abend ihres Wahlsieges klar geworden – war niemand anderes als sie selbst. Seit Karl Hofreiter gegen sie verloren hatte, kannte der Mann nur eine Agenda: sie als Bürgermeisterin zu piesacken und zu torpedieren, wo es nur ging. Im Idealfall so lange, bis sie entnervt das Handtuch warf und zurücktrat. Sein neuester Schachzug war daher die Beantragung einer alternativen Machbarkeitsstudie, da er bei der aktuellen Ausfertigung einen Gefälligkeitsdienst und Vetternwirtschaft vermutete.

    Wütend pfefferte Christina ihren Kugelschreiber über den Eichentisch. Eigentlich hatte sie das klobige Ding gleich zu Beginn ihrer Amtszeit hinausbefördern wollen, musste sich aber prompt anhören, dass daran schon jahrzehntelang die Altenberger Bürgermeister gearbeitet hätten und es somit einem Frevel gleichkäme, das Mobiliar gegen etwas Zeitgemäßes zu tauschen. Die Angestellte in ihrem Vorzimmer hatte sich nicht einmal bemüht, ihre Missbilligung zu verbergen. Ihre ablehnende Haltung betraf in den Wochen danach so gut wie alles, was Christina beschloss oder neu einführte. Stets hatte ihr Vorgänger anscheinend bessere Lösungen und Arbeitsabläufe etabliert, an denen es kein Rütteln gab. So kam es für alle Beteiligten einer Erlösung gleich, als die gute Frau sich auf einen freien Posten in der Kasse bewarb. Das Glück blieb Christina tatsächlich hold, denn bereits wenige Tage später trafen die ersten vielversprechenden Bewerbungen ein. Mittlerweile bildeten sie, eine Vollzeit- und eine Teilzeitkraft in ihrem Vorzimmer, ein gutes und eingespieltes Team.

    Eine Baustelle weniger, von denen es innerhalb der Stadtverwaltung so einige gab, allen voran Mitarbeiter, die dem Klischee des berüchtigten Amtsschimmels mehr als gerecht wurden, ganz nach dem Motto: »Das haben wir schon immer so gemacht, das machen wir auch in Zukunft so. Und zwar in gemächlichem Tempo und ohne sich über Gebühr anzustrengen«. Mitunter musste Christina sich sehr zusammenreißen und immer wieder in Erinnerung rufen, was Nadja ihr zum Amtsantritt gepredigt hatte. Eine Kommunalverwaltung war nicht mit dem hektischen Ablauf einer Arztpraxis zu vergleichen. Zudem würde es noch einige Zeit dauern, bis der unsägliche Geist ihres Vorgängers endgültig nicht mehr durch die Gänge des Altenberger Rathauses waberte. Sie als politische Quereinsteigerin musste sich hier einfach in Geduld üben und die Brechstange, die sie ab und an gerne hervorgeholt hätte, notgedrungen in der Tasche lassen.

    Nicht nur auf diesem Gebiet hatte ihr Karl Hofreiter einiges voraus. Als langjähriges Stadtratsmitglied und Fraktionsvorsitzender seiner Partei war er, ein alter Politprofi, ausgezeichnet vernetzt, sein Sieg im Grunde reine Formsache gewesen. Doch dann hatte es von den Altenberger Wählern einen herben Denkzettel gegeben. Der Wunsch nach einem Neustart setzte sich durch und man schenkte ihr, dem Neuling, mehrheitlich das Vertrauen. Insgeheim hatte sie gehofft, Hofreiter würde sich nach der Schlappe endgültig aus der Politik zurückziehen, doch den Gefallen tat er ihr nicht und ließ sich vom Stadtrat sogar zum zweiten Bürgermeister wählen. Dass er sie seit seiner Niederlage attackierte, wo es nur ging, und ihr ständig Knüppel zwischen die Beine warf, hatte Christina mittlerweile akzeptiert. Seine aktuelle Rochade passte perfekt ins Bild. Eine weitere Machbarkeitsstudie war, ganz unabhängig vom Ergebnis, mit neuen, nicht unerheblichen Ausgaben verbunden und würde natürlich auch einen enormen Zeitverzug bedeuten. Sie musste daher die absurden Vorwürfe auf alle Fälle entkräften und den Stadtrat von der Integrität des aktuellen Gutachters überzeugen. Und das würde ihr auch gelingen! Nicht ohne Stolz konnte sie behaupten, Hofreiter vom ersten Moment an Paroli geboten und sich als Gegnerin auf Augenhöhe erwiesen zu haben, obgleich die Streitereien mehr an ihren Kräften zehrten, als ihr lieb war, und auch belastender waren, als sie es sich im Vorfeld der Wahl jemals ausgemalt hatte. Aber all das konnte und würde sie aushalten.

    Es war der Vorfall vor eineinhalb Wochen, der für sie einen Wendepunkt bedeutete und sie Karl Hofreiter zum ersten Mal hatte fürchten lassen. Mit einem zynischen Lächeln im Gesicht hatte er sie spätabends auf dem Rathausparkplatz an ihrem Auto abgepasst und sie prompt am Einsteigen gehindert. Es war offensichtlich, dass er getrunken hatte, aber das machte ihn nicht weniger berechenbar, ganz im Gegenteil.

    »Wenn Frau Doktor tatsächlich meint, auf Bürgermeister machen zu können, hat sie sich gewaltig getäuscht.« Dann hatte er sich ganz nahe zu ihr gebeugt und ihr seinen Alkoholatem ins Gesicht geblasen, dass ihr jetzt noch ganz schlecht davon wurde. »Du wirst den Tag noch verfluchen, an dem du dich auf meinem Stuhl breitgemacht hast. Ich mach dich fertig, du Schlampe. Das verspreche ich dir.«

    Zitternd vor Angst und unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, war sie danach minutenlang auf dem Parkplatz gestanden. Bisher hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Was hätte sie gegen ihn schon in der Hand gehabt? Für seine Drohungen gab es keinen Zeugen, sodass er sie im Nu der üblen Nachrede und der falschen Verdächtigung bezichtigt hätte. Im Landkreis wäre sie innerhalb kürzester Zeit als die Politikerin verschrien, die unliebsame Gegner mit unlauteren Methoden in die Schranken wies, weil sie ihnen fachlich nicht das Wasser reichen konnte. Und ihr persönliches Umfeld hätte einen Grund mehr, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Dabei wollte sie vor allem die Menschen, die ihr lieb und teuer waren, nicht mit diesem unsäglichen Schmutz belasten.

    Entsetzt hatte Christina die Hasstiraden auf der Internetseite der Stadt und in den Drohbriefen lesen müssen, die nach ihrem ersten Interview als neu gewählte Bürgermeisterin nicht lange auf sich warten ließen. Ihr war klar, dass nicht jeder ihre Meinung zum Thema Natur- und Artenschutz vertrat und Kritik aufkommen würde, aber mit dieser Verrohung und diesem ungezügelten Hass hatte sie nicht gerechnet. Der eine oder andere widerwärtige Kommentar ließ sie immer noch erschaudern, und jeder Gang zum Briefkasten kostete sie seitdem enorme Überwindung. Hinzu kamen krudeste Theorien, deren Verfasser der festen Überzeugung waren, die Wiederansiedlung des Wolfes diene der Einschüchterung der Bevölkerung und der Kontrolle durch die Staatsmacht. Von ominösen Viren war da die Rede, die Wölfe verbreiten würden, um die Menschen krank und willenlos zu machen. Sie hatte damals einige Tage gebraucht, um sich davon zu erholen und mit sich und ihrer Entscheidung, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren, schwer gehadert. Aber Anfeindungen Kommunalpolitikern gegenüber und Verschwörungstheorien waren schließlich nichts Neues. Wie hatte sie in ihrer Blauäugigkeit nur glauben können, da eine Ausnahme zu bilden? Die Verfasser vertraten unter anderem die Meinung, dass man neben dem Wolf auch die Bürgermeisterin erschießen oder sie am besten am Windrad, so es denn käme, aufhängen solle. Obwohl die Wortwahl zu Hofreiters miesem Charakter passte, würde er sich niemals zu einer derartigen Entgleisung hinreißen lassen. Nein, er drohte ihr nur dann, wenn er absolut sicher sein konnte, keine Spuren zu hinterlassen und keine Zeugen fürchten zu müssen.

    Am liebsten hätte sie sich mit diesem Schmutz, befeuert von der Anonymität des Internets, überhaupt nicht beschäftigt, aber eine Anzeige bei der Polizei war unausweichlich gewesen. Das war ihr spätestens nach der ersten Bürgermeistertagung klar geworden, als sie die Erfahrungsberichte der leidgeprüften Kollegen hörte. Morddrohungen, Einschüchterungen und Beleidigungen gehörten bei fast allen zur Tagesordnung. Mittlerweile zeigte sie jeden Hasskommentar und jeden Drohbrief ohne Wenn und Aber an. Das schuldete sie nicht nur Altenberg, den Rathausmitarbeitern und ihrem persönlichen Umfeld, sondern vor allem auch sich selbst. Und dennoch graute ihr jedes Mal davor, denn das Internet bot allen polizeilichen Bemühungen zum Trotz genügend Schlupflöcher. Zudem wusste niemand, was als Nächstes kam. Was passierte, wenn jemandem Beleidigungen nicht mehr ausreichten oder ihre Anzeige der Anlass dafür war, ihr oder ihren Herzensmenschen Gewalt anzutun? Wenn alle, die ihr etwas bedeuteten, nicht mehr sicher waren? Christina wurde ganz schlecht bei dem Gedanken.

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    Kapitel 2

    Geheiligt werde dein Name

    Für einen Anfänger wie dich war das heute gar nicht schlecht«, sagte Sebi Buchholz mit einem Grinsen im Gesicht.

    Michael Graf zog das Garagentor nach unten und ließ es so leise wie möglich einrasten. »Ja, ja, mach dich nur lustig. Ich will dich auf einer Baustelle erleben.« Er schloss ab und sah auf seine Armbanduhr. »Gehen wir noch auf ein Bier ins Overtime. Schließlich schulde ich dir etwas.« Seine Hände deuteten eine Lenkbewegung an.

    »Stimmt. Jetzt, wo du es sagst.« Sebis Grinsen verstärkte sich. »War hinten raus ganz schön knapp.«

    »Ja, das war es. Deshalb wird das Freibier auch eine Ausnahme bleiben. Gewöhn dich also erst gar nicht daran. Revanche morgen nach dem Training?«

    Die beiden gingen durch den Garten zur Rückseite des Hauses, wo sie einige Stunden zuvor ihre Fahrräder abgestellt hatten. Hinter einem der Erdgeschossfenster brannte Licht. Sebi sah den Hausbewohner an einem Bücherregal stehen und beschleunigte automatisch seine Schritte. Michael hatte mit ihm vereinbart, dass sie die Garage jederzeit betreten konnten, weshalb er ihnen kurzerhand einen Schlüssel ausgehändigt hatte und sich nicht weiter um sie kümmerte. Sebi war das ganz recht. Er hasste nichts mehr als neugierige Fragen und nervtötenden Smalltalk. Über eine kleine Seitentür im Gartenzaun gelangten sie mit ihren Rädern direkt auf die Straße. Rasch zog er sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf.

    »Jetzt will es aber jemand wissen. Von mir aus gern. Aber was sagst du Tanja, wenn du zweimal hintereinander spätabends heimkommst?«

    Eigentlich hatten sie schon vor einer Stunde aufhören wollen, doch dann war die Zeit, wie so oft, einfach davongeflogen. Michael schwang sich auf sein Fahrrad. »Die ist bis übermorgen auf einer Fortbildung in München. Wir sind also safe

    Sebi deutete auf die Garage. »Zuerst machen wir morgen aber hier weiter. Ist ohnehin nicht mehr viel. Dann kommt das Vergnügen.« Auch er imitierte eine Lenkbewegung.

    Michael bremste ab. »Es bleibt dabei: zu keinem ein Wort. Am Ende verquasselt sich irgendein Schwachkopf noch.«

    »Ja, klar! Wofür hältst du mich?« Sebi wies mit dem Kopf zum Wohnhaus. »Solange der da drinnen dichthält.«

    Das Gebäude an sich war ideal, da es keine direkten Nachbarn hatte, die ständig am Gartenzaun hingen oder bei der kleinsten Bewegung zum Fenster hinausschauten, um ja nichts zu verpassen. Sebi traute nur dem Hausbewohner nicht recht über den Weg und war daher von der Wahl ihres Verstecks ganz und gar nicht begeistert gewesen. Um diesen Menschenschlag hatte er Zeit seines Lebens einen großen Bogen gemacht. Michael war sich dagegen sicher, den perfekten Mitwisser gefunden zu haben.

    »Keine Angst, der sagt bestimmt nix. Also, auf ins Overtime«, erwiderte er entspannt.

    Anstatt durch Neukirchen zu radeln, fuhren sie auf der wenig befahrenen Nebenstraße. Den Umweg bis Altenberg nahmen sie gerne in Kauf. Im Dorf blieb auch zu später Stunde nichts unbemerkt, und ehe man sich versah, war man am Stammtisch und im Dorfladen Thema Nummer eins. Michael hatte das in der Vergangenheit bereits am eigenen Leib erfahren, und es war das Letzte, das sie beide gebrauchen konnten. Vor allem Roswitha Förster, die Dorfladenbesitzerin, schien dafür einen sechsten Sinn entwickelt zu haben. Nicht umsonst kam sie regelmäßig zu ihren Fußballspielen auf den Sportplatz, konnte man dort doch am besten ein Gerücht aufschnappen und direkt weiterverbreiten.

    »Irgendwann verziehe ich einen Schuss«, hatte Sebi gemurmelt, als sie beim letzten Heimspiel nicht weit von der Eckfahne entfernt auf der Zuschauertribüne gesessen hatte und ihre durchdringende Stimme bis nach unten auf den Rasen zu hören war.

    Ein Klingeln ertönte aus der Tasche seines Kapuzenpullis. »Warte mal.« Nach einem kurzen Zögern drückte er auf »Ablehnen«, stopfte das Telefon zurück in die Seitentasche und zog den Reißverschluss nach oben.

    »Alles klar?« Abwartend sah Michael ihn an.

    »Ja, ja, alles klar. Lass uns weiterfahren.«

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    Zufrieden las sich Christina Bogner noch einmal ihre Aufzeichnungen zu Karl Hofreiters abstrusen Vorwürfen, der eingesetzte Gutachter hätte nicht sauber und objektiv gearbeitet, durch. Sie hatte seine Einwände nicht nur zerlegt, sondern regelrecht filetiert und jeden einzelnen Punkt bis ins kleinste Detail widerlegt.

    »Du kannst mir drohen und auflauern, so viel du willst. Du wirst es weder schaffen, mich kleinzukriegen noch das Windrad aufzuhalten!«

    Ihr Mobiltelefon zeigte die Ankunft einer Textnachricht an. Sofort machte Christinas Herz einen gewaltigen Satz, und ihr wurde eines ganz klar: Sie musste vor allem diesen Menschen, dieses wunderbare Geschenk, unter allen Umständen beschützen. Niemand durfte von ihnen erfahren, so sehr es sie auch quälte, ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Ihre Liebe wäre die perfekte Steilvorlage für eine Hetzjagd. Vielleicht irgendwann, wenn sie ein dickeres Fell hatte und fester im Sattel saß, aber nicht jetzt. Hab Geduld, mein Herz, schickte sie in Gedanken hinterher, bevor sie den Chatverlauf löschte. Sie hasste sich selbst für diese Paranoia, aber die tief sitzende Angst, jemand könnte die Nachrichten lesen, obsiegte auch jetzt. Die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen und ein paar Stunden ungestörte Zweisamkeit verscheuchte das beklemmende Gefühl, und Christina beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Sie packte einige Unterlagen und den Laptop in ihre schwarze Umhängetasche und ging durch den Flur in Richtung Hinterausgang. Noch einmal meldete sich ihr Telefon. Eine unterdrückte Nummer rief an. Obwohl sie ein gewisses Unbehagen verspürte, meldete sie sich mit fester Stimme. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, nur tiefe Atemzüge waren zu hören.

    »Hallo? Mit wem spreche ich?«, fragte Christina energisch.

    Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, die laut durch das nächtliche Treppenhaus hallten. »Wer ist dran?«

    Wieder waren nur Atemzüge zu vernehmen. Christina versuchte, sich die aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. »Karl, bist du das?«

    Wenn Hofreiter meinte, sie mit anonymen Anrufen einschüchtern zu können, hatte er sich geschnitten. Unvermittelt erlosch das Licht und sie stand im Dunkeln. Ein Schrei entglitt ihr. Warum funktionierte der Bewegungsmelder nicht? War er manipuliert worden? Womöglich von jemandem, der sich irgendwo im Gebäude versteckt und nur darauf gewartet hatte, bis sie aus dem Büro kam? Die Alarmanlage hätte doch angeschlagen, wenn man sich zu so später Stunde unerlaubt Zutritt verschafft hätte. Oder war sie auch deaktiviert worden? Von einem Mitarbeiter? Saß ihr Feind womöglich im Rathaus? Christinas Gedanken überschlugen sich. Sie verharrte auf der Treppe, das Telefon immer noch am Ohr. »Jetzt sagen Sie doch etwas!« Doch statt einer Antwort wurde aufgelegt.

    Um sie herum nichts als Schwärze und vollkommene Stille. Ihr Herzschlag toste in ihren Ohren. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Christina hätte vor Angst am liebsten laut aufgeschrien. Mit zittrigen Händen schaltete sie die Taschenlampe des Telefons ein und folgte dem Lichtkegel. Immer weiter, nicht stehen bleiben, nicht umdrehen. Vorsichtig hangelte sie sich mit ihren hohen Schuhen die verbleibenden Stufen hinunter, vorbei an den historischen Bildern von Altenberg, die nur schemenhaft an der Wand zu erkennen waren. Weiter, immer weiter. Zweimal wäre sie beinahe gestolpert, bis sie endlich den Hinterausgang erreichte, wo sie sich mit voller Wucht gegen die Tür warf und in die Nacht hinausstürmte. Ihr Auto stand als einziges noch auf dem schwach beleuchteten Parkplatz. War dort am Stromverteilerkasten nicht ein Schatten zu erkennen? Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Der Schatten bewegte sich nicht. Sie musste vor ihm an ihrem Wagen sein, koste es, was es wolle. Christina zog ihre Absatzschuhe aus und rannte los. Kleine, spitze Steinchen bohrten sich in ihre Fußsohlen, aber sie ignorierte den Schmerz. Im Laufen entriegelte sie den Wagen. Dort angekommen, riss sie die Fahrertür auf, warf ihre Umhängetasche und ihre Schuhe auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Steuer. Ohne sich anzuschnallen, zog sie die Tür zu und gab Gas, sodass der Wagen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz schoss. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ein verlassenes Areal, von einem anderen Menschen weit und breit nichts zu sehen.

    Die Tränen mühsam unterdrückend, fuhr sie Richtung Innenstadt, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Sie schaffte es kaum, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ihre Füße brannten und schmerzten, ihre Hände zitterten. Vor einer Kneipe hielt sie schließlich an. Hier waren, anders als im dunklen Rathaus, noch immer Nachtschwärmer unterwegs. Hier war sie sicher. Ihr Herz raste und sie hatte Mühe, die Gurtschnalle einrasten zu lassen. Jetzt bahnten sich die Tränen ungehindert ihren Weg. Würde das jemals aufhören? Reiß dich, verdammt noch mal, zusammen! Was war schon passiert außer einem anonymen Anrufer, der zu feige war, sich zu erkennen zu geben? Ein defekter Bewegungsmelder und ein eingebildeter Schatten. Sie musste aufpassen, dass sie nicht allmählich paranoid wurde. Christina atmete tief ein und aus. Im Senegal hatte sie täglich unter Lebensgefahr gearbeitet. Christina Löwenherz, wie die Kollegen sie genannt hatten, konnte doch nicht einfach verschwunden sein. Wo waren ihr Mut und ihre Kampfkraft? Die Angst, die Panik – das war doch nicht sie! Dass sie zu einem jämmerlichen Nervenbündel mutierte, war doch genau das, was Karl Hofreiter wollte. Und diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun!

    Allmählich beruhigte sie sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und drückte auf den Anlasser. Es wurde höchste Zeit, nach Hause zu fahren und diesen Tag hinter sich zu lassen. Morgen würde alles besser werden.

    In diesem Augenblick sah sie ihn. Alles in ihr verkrampfte sich. Was hatte ausgerechnet er hier zu suchen?

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    Bernadette Ziegler streckte ihren schmerzenden Rücken durch und konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Obwohl sie ausnahmsweise früher Schluss machen wollte, hatte sie über der Liquiditätsplanung für das vierte Quartal komplett die Zeit vergessen. Jetzt war es schon wieder fast elf Uhr und sie saß immer noch in ihrem Büro im ersten Stock des Hotels Drei Lilien. Langsam stand sie auf und ging die paar Schritte zum geöffneten Fenster. Der Nachthimmel war sternenklar und die Luft immer noch sehr mild.

    Bernadette setzte sich mit einem Bein auf das Fensterbrett und betrachtete den Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch, den ein Bote am Nachmittag vorbeigebracht hatte. Obwohl ihre Lieblingsblumen nicht dabei waren, war er wunderschön, wenngleich viel zu opulent. Sie würde ihn später nicht mit nach Hause nehmen, sondern im Büro lassen, da sie hier definitiv mehr Zeit verbrachte als in ihren eigenen vier Wänden, wo er nur ungesehen vor sich hinwelken würde. Wenn sie ganz ehrlich war, überforderte er sie auch. Sie wollte ihn nicht in ihr kleines Refugium mitnehmen, wo momentan kein Platz für einen Eindringling war.

    Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Am Vortag war sie erst spätabends von der Tourismusmesse in München zurückgekommen, heute hatte sie fast durchgehend im Büro gesessen, und auch der morgige Arbeitstag würde lang und anstrengend werden. Beim Blick in den Sternenhimmel verspürte sie eine tiefe Traurigkeit. Sie war zu einer steten Begleiterin geworden, in einer Ecke ihres Herzens immer präsent. Nie entkam sie ihrem Griff, aber in stillen Momenten wie diesen drängte sie sich geradezu schmerzhaft in Bernadettes Bewusstsein. Trotzdem wandte sie sich nicht ab. Je länger sie nach oben schaute, umso zahlreicher wurden die glitzernden Punkte. Die meisten Sterne existierten nicht mehr. Sie waren längst verglüht, nur die weite Entfernung zur Erde ließ ihr Licht jetzt erst sichtbar werden. Der Nachhall eines Himmelskörpers, den es nicht mehr gab.

    Das Display ihres Mobiltelefons leuchtete und zeigte eine neue Nachricht an. Bernadette sah noch einmal in den Nachthimmel hinauf und ging dann zum Schreibtisch. Ihre Eltern, die gerade in der Toskana Urlaub machten, wünschten ihr »Gute Nacht«. Sie schrieb einen Gruß zurück, vorsorglich ohne zu erwähnen, dass sie nicht gemütlich zu Hause auf der Couch, sondern in ihrem Büro saß. Wenn es nach ihnen, Ferdinand Gruber, Lucy und noch einigen anderen Menschen ging, verbrachte sie ohnehin viel zu viel Zeit mit Arbeiten. Laut Lucy würde es höchste Zeit, dass Bernadette endlich einmal unter Leute kam. Dabei war sie im Hotel tagtäglich von Dutzenden Menschen umgeben – Übernachtungsgästen, Mitarbeitern, Lieferanten, Tagungsteilnehmern. Sie liebte ihren Beruf als Hotelfachfrau, dem sie wunderbare Jahre im Ausland und eine steile Karriere zu verdanken hatte. Überstunden und Arbeitseinsätze am Wochenende und an Feiertagen hatten ihr noch nie etwas ausgemacht. Seit ihrem ersten Tag als Auszubildende in einem Schweizer Luxushotel hatte sie sich mit Feuereifer ins Geschehen gestürzt und jedem noch so übellaunigen Küchenchef und exzentrischen Gast getrotzt, sich von keiner gestrengen Hausdame herunterputzen lassen.

    Doch die Arbeit bedeutete für sie mehr, als die Karriereleiter hinaufzuklettern und schwierige Gäste zufriedenzustellen. Das Drei Lilien war von jeher ein Ort, an dem sie sich wohlfühlte. Schon als Jugendliche hegte sie den Traum, eines Tages im Fünf-Sterne-Hotel der Familie Gruber zu arbeiten. Ein Traum, der schließlich in Erfüllung gegangen war. Aber ihre Position als Direktionsassistentin und die Hotelanteile, die Ferdinand Gruber ihr im vergangenen Herbst überschrieben hatte, waren nicht der einzige Grund für ihren Tatendrang. Manchmal wusste sie schlicht und einfach nicht, wie sie die letzten Wochen und Monate ohne ihre Arbeit überstanden hätte. Wie sie es seit jenem Tag im Oktober, an dem ihr einer der liebsten Menschen für immer genommen wurde, schaffte, jeden Morgen aufzustehen und ihr Leben zu bewältigen, ohne an ihrem Verlust zu verzweifeln. Die Arbeit im Hotel war ein Rettungsanker, der ihr täglich dabei half, im Strudel ihrer Trauer nicht unterzugehen.

    Sachte strich sie über den Rahmen der Schwarzweißfotografie auf ihrem Schreibtisch. Elena war so unsagbar schön, dass es Bernadette jedes Mal durch Mark und Bein fuhr, wenn sie das Bild betrachtete. Die Aufnahme war beim Patenbitten für die Fahnenweihe des Schützenvereins auf der Eingangstreppe zum Gasthaus Leitner entstanden. Ihre letzte Begegnung, ihr letztes Aufeinandertreffen. Vierundzwanzig Stunden später wurde Elena tot im Mühlbach gefunden. Noch immer hatte Bernadette die Wucht der Endgültigkeit nicht verstanden, obwohl sie seit Monaten mit dieser Lücke, diesem unendlich schwarzen Loch leben musste. Am schlimmsten war, dass sie Elena noch so viel hätte sagen wollen. So vieles von damals kam ihr nichtig vor. Ihre kindischen Eifersüchteleien wegen des Amts der Fahnenbraut und der überbordenden Liebe ihrer Eltern, vor allem ihres Vaters, der »seiner Kleinen« jeden Wunsch von den Augen ablas, während sie selbst, Bernadette, nebenherlief und ihr Pflichtbewusstsein und Fleiß selbstverständlich waren. Was würde sie nur darum geben, ihre Schwester noch einmal zu sehen. Der Schmerz, sich nicht mit Elena aussprechen zu können, war manchmal uferlos. Sie waren nicht im Streit auseinandergegangen, aber diese Spannungen hatten unausgesprochen zwischen ihnen gelegen, hatten sich wie ein langsam wirkendes Gift in ihnen festgesetzt, keine bereit, einen Schritt auf die andere zuzugehen.

    Nein, dachte Bernadette. Nicht Elena hätte die Situation klären müssen. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, ihren Stolz zur Seite zu schieben und sich für Elena zu freuen. Stattdessen war sie wochenlang beleidigt durch die Gegend gelaufen, weil man ihr das Amt nicht angeboten hatte. Ein Amt, das sie mit ihren Pflichten im Hotel niemals hätte vereinbaren können. Tief in ihrem Inneren hatte sie das auch gewusst, aber ihre gekränkte Eitelkeit und das Gefühl, bei ihren Eltern nur die zweite Geige zu spielen, hatten alles andere in ihr erstickt. Dass die Fahnenweihe in diesem Frühsommer nicht stattgefunden hatte, lag nicht nur an Elenas Tod, sondern an einer wahren Lawine an Ereignissen, die dem Schützenverein beinahe seine Existenz gekostet hätten. Dieser war mittlerweile in ruhigerem Fahrwasser angekommen, mit einem neuen Vorsitzenden und der Aussicht auf eine Fahnenweihe, die erst in einigen Jahren zum hundertjährigen Vereinsjubiläum gefeiert werden würde. Bernadette würde auch dann keine tragende Rolle übernehmen. Seit Elenas Tod war sie keine aktive Schützin mehr und aus dem Verein ausgetreten. Obwohl sie das Training mit den Mannschaftskollegen und die Spannung rund um einen Wettkampf ab und an vermisste, hatte sie sich in all den Monaten nicht dazu durchringen können, zu ihrem Luftgewehr zu greifen. Elena wäre in jedem einzelnen Augenblick so präsent, dass es ihr schlicht die Luft zum Atmen nehmen würde. Deshalb lag die Gewehrtasche ganz oben auf ihrem Kleiderschrank und würde dort auch bleiben. Das Sportheim zu betreten, in dem sie so viele gemeinsame Trainings- und Wettkampfstunden verbracht hatten, erschien Bernadette genauso unvorstellbar, wie abends auszugehen und sich fröhlich plaudernd unter Leute zu mischen. Da mochte sich Stefan Kleinert noch so sehr anstrengen und noch so viele Sträuße ins Hotel schicken, auch wenn sie zugeben musste, dass ihr Herz beim Anblick der Blumen etwas schneller geschlagen hatte.

    Wie immer wollte Bernadette alles, vor allem alles, was mit ihrer beruflichen Karriere zu tun hatte, allein schaffen und ohne ihre Eltern um Hilfe zu bitten. Und sie hatte es geschafft, dachte sie mit einem kleinen Anflug von Stolz. Als sie wegen eines Darlehens für den Erwerb der Hotelanteile in der Bank gewesen war, hatte Stefan sich als ihr neuer Berater vorgestellt. Dass er nicht nur etwas von Finanzwirtschaft verstand, sondern sich auch gehörig ins Zeug legte, um sich abseits aller Bankgeschäfte mit ihr zu verabreden, hatte sie jedoch komplett überfordert. Stefan behauptete zwar, sie nicht drängen zu wollen und auf sie zu warten, aber Bernadette spürte, wie ihre ablehnende Haltung ihn kränkte. Trotzdem konnte sie nicht aus ihrer Haut. In ihrem Herzen gab es nach Elenas Tod einfach keinen Platz für so etwas Schönes wie eine neue Liebe. Außerdem würde sie sich nach dem Desaster des Vorjahres so schnell auf keinen Mann mehr einlassen. Ihre Naivität und Gutgläubigkeit ließen Bernadette noch heute erschaudern. Der bloße Gedanke an die unsägliche Affäre verursachte ihr Übelkeit und Scham. Zum Glück hatte sie weder in Altenberg noch in Neukirchen die Runde gemacht, was an sich schon an ein Wunder grenzte.

    Momentan wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben und arbeiten. Als Frau Ziegler unbehelligt vor sich hin werkeln und nicht als Bernadette wahrgenommen werden. Bernadette, deren Schwester nicht mehr lebte, Bernadette, die nach vorne schauen und dringend unter Leute gehen musste. Gar nichts musste sie. Und wer das nicht verstand, dem war auch nicht zu helfen. Sie rief ihren Kalender auf und besah sich noch einmal die Wochenplanung. Der morgige Tag war durch die Monatsbesprechungen mit den einzelnen Abteilungen so gut wie belegt. Zudem hatte ihr Ferdinand Gruber ab sechzehn Uhr einen Termin mit einem etwas kryptischen Betreff eingestellt, den sie nicht ganz deuten konnte. Am Tag danach fanden mehrere Vorstellungsgespräche statt, bevor der Abteilungsleiter und der Trainer des FC Neukirchen mit einigen Spielern zu einem Pressetermin im Hotel aufschlagen würden, da das Drei Lilien als neuer Hauptsponsor des Kreisligavereins fungierte. Die Marketingidee kam von Bernadette höchstselbst, weshalb sie bei diesem Termin dabei sein musste, auch wenn sie von Fußball in etwa so viel Ahnung hatte wie von Quantenphysik. Aber schließlich ging es in erster Linie darum, dass der Name Drei Lilien auf den Trikots der Spieler zu sehen war, und nicht das Fuhrunternehmen Hofreiter. Ferdinand Gruber hatte sich als äußerst spendabel erwiesen und den Kontrahenten, sehr zum Missfallen von Karl Hofreiter, erfolgreich ausgestochen. Bernadette kannte bisher noch nicht einmal die Namen der Spieler, was sie schnellstmöglich nachholen sollte, um beim Termin nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Sie tippte den Vereinsnamen in die Suchmaschine, als ihr Mobiltelefon erneut eine Nachricht vermeldete. Sie war von Stefan, der sie nach dem Pressetermin ins neue Eiscafé in der Altenberger Innenstadt einladen wollte. Die Bayernbank hatte die elektronische Anzeigentafel auf dem Sportgelände spendiert, weshalb er als Vertreter der Bank ebenfalls im Hotel dabei sein würde. Warum eigentlich nicht? Vielleicht hatte Lucy doch recht. Sie musste mehr aus ihrem Schneckenhaus herauskommen. Ein Eiskaffee war schließlich kein Heiratsantrag.

    Ein energisches Klopfen unterbrach Bernadettes Gedankenspiele. »Ja, bitte!«

    Marion Leiß, die Schichtleiterin vom Empfang, öffnete und trat einige Schritte ins Büro. Ihr perfektes Make-up und die tadellos sitzende Uniform konnten nicht über ihre Aufregung hinwegtäuschen.

    »Wie gut, dass Sie noch da sind«, stieß sie atemlos hervor. Offenbar war sie in den ersten Stock gelaufen.

    »Natürlich bin ich noch da. Warum rufen Sie mich denn nicht an?« Bernadette wies auf den Telefonapparat auf ihrem Schreibtisch.

    Marion Leiß’ Wangen überzog eine leichte Röte. »Ihr Bürotelefon ist auf die Zentrale umgeleitet. Und bei der Übergabe sagten Sie, Sie seien abends nicht im Haus, weshalb ich Sie nicht auf Ihrem Handy stören wollte. Aber dann habe ich draußen auf dem Parkplatz Ihr Auto gesehen und dachte, ich komme …«

    »Schon gut«, stoppte Bernadette den Redefluss. »Was ist denn passiert?«

    »Herr von Westphal aus der Fürstensuite hat angerufen und sich beschwert.«

    »Was ist jetzt schon wieder?« Bernadette konnte sich nicht daran erinnern, dass der langjährige Stammgast nicht einmal über etwas klagte, meistens über belanglose Kleinigkeiten, die sich, sobald ihm eine Kompensation angeboten wurde, ebenso schnell wieder erledigt hatten.

    »Direkt unter seinem Zimmerfenster spielen zwei Männer mit einer Getränkedose Fußball. Ich habe draußen nachgesehen. Er hat recht.«

    »Was denn für zwei Männer?«, fragte Bernadette.

    »D-das weiß ich nicht. Ich habe mich nicht getraut, sie anzusprechen.«

    Bernadette stand vom Schreibtisch auf und ging zum offenen Fensterflügel. Ihr Büro befand sich an der Vorderseite des Hotels, die Fürstensuite dagegen auf der ruhigeren Rückfront. Doch Ruhe war offenbar genau das, was den Gästen dort momentan nicht vergönnt war. Sie lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts hören. Entschlossen verriegelte sie das Fenster.

    »Ich kümmere mich darum. Rufen Sie Herrn von Westphal an und offerieren Sie ihm für morgen ein kostenloses Sektfrühstück. Und sollten sich weitere Gäste beschweren, sagen Sie denen dasselbe.« Bernadette angelte nach ihrem schwarzen Blazer über der Stuhllehne. Ihr Spiegelbild im Aufzug versicherte ihr, dass sie auch nach diesem langen Arbeitstag noch sehr repräsentabel aussah – genug jedenfalls, um es mit zwei Störenfrieden aufzunehmen.

    »Sollen wir nicht besser die Polizei rufen?«, fragte Marion Leiß, als sie im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl traten.

    Die Lobby war, von drei Neuankömmlingen abgesehen, menschenleer, und auch in der Hotelbar, die durch einige Palmengewächse vom Rest der Eingangshalle abgetrennt war, saßen an diesem Abend nur vereinzelt Gäste. Bernadette straffte ihre Schultern, schenkte der Gruppe am Empfangstresen ein Lächeln und drehte sich dann noch einmal zu Marion Leiß um.

    »So ein Aufheben ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Ich versuche es erst einmal ohne Polizei. Schicken Sie mir bitte einen der Barkeeper raus. Zu zweit sollten wir diese Unruhestifter schon in den Griff bekommen«, flüsterte sie.

    Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, schäumte Bernadette mittlerweile vor Wut. In Altenberg gab es wahrlich genügend Ecken, wo man sich abends austoben konnte. Musste das ausgerechnet auf dem Gelände eines Fünf-Sterne-Hotels sein? Aber denen würde sie jetzt ordentlich den Marsch blasen.

    »Seien Sie bloß vorsichtig, Frau Ziegler!«, sagte Marion Leiß eindringlich.

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    Kapitel 3

    Dein Reich komme

    Katrin Abel saß unbeweglich auf dem Badewannenrand und starrte auf den zweiten roten Streifen im Kontrollfenster des Schwangerschaftstests. Sicherheitshalber hatte sie sich im Drogeriemarkt Tests verschiedener Marken gekauft, aber auch Nummer drei bestätigte nur, was die beiden Vorgänger bereits verlauten ließen: schwanger! Das durfte einfach nicht wahr sein. Nein, das konnte nicht wahr sein.

    Katrin stand auf und riss das Badezimmerschränkchen auf. Sie hatte doch nicht vergessen, die Pille zu nehmen. Hektisch holte sie die Tablettenverpackung hervor und besah sich die Angabe auf der Rückseite. Es stimmte auf den Tag genau. Sie hatte alle Tabletten eingenommen. Und auch im Vormonat hatte sie bestimmt keine vergessen. Das wäre ihr doch aufgefallen. Selbst im Urlaub hatte sie immer daran gedacht. Katrins Gedanken fuhren Achterbahn. Im Urlaub …

    Sie erinnerte sich daran, dass sie an einem Abend die kleine Tablette bereits herausgedrückt hatte, als im Nebenzimmer eine Frau um Hilfe schrie, weil ihr Mann ohnmächtig zusammengebrochen war. Katrin und Toni waren nach nebenan gelaufen, hatten Erste Hilfe geleistet, gewartet, bis der Rettungsdienst kam, die Frau beruhigt … Katrin war sich auf einmal ganz sicher, die Pille an dem Abend nicht mehr genommen zu haben. Wahrscheinlich war sie ins Waschbecken gerollt und im Ausguss verschwunden. Und die Nacht darauf hatte sie sich mehrmals übergeben, weil sie beim Schwimmen zu viel Sonne abbekommen hatte.

    Die mahnenden Worte ihrer Frauenärztin dröhnten geradezu in Katrins Ohren. »Mikropillen mit einer geringen Hormondosis müssen sehr diszipliniert eingenommen werden, Frau Abel. Am besten immer zur gleichen Uhrzeit und auf keinen Fall dürfen Sie eine Einnahme verges-sen. Denken Sie bei Magen-Darm-Verstimmungen und bei der Einnahme von anderen Medikamenten unbedingt daran, dass die Wirkung beeinträchtigt sein kann.«

    Nein, nein, nein! Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können?

    Selbst als ihre Tage ausgeblieben waren, hatte sie anfangs keine Sekunde daran gedacht, schwanger zu sein, sondern hatte es vielmehr auf den Stress in der Arbeit geschoben. Sie war schließlich kein Roboter. Doch nachdem sie sich seit einigen Tagen unerklärlich schlapp fühlte, ihr jeden Morgen flau im Magen war und sie sich am Nachmittag tatsächlich bei einer Obduktion hatte übergeben müssen, hatte das Unwahrscheinliche auf einmal Gestalt angenommen. Zum Glück hatte sie es noch auf die Toilette geschafft. Nicht einmal als Polizeianwärterin war ihr etwas Vergleichbares passiert.

    Dennoch hatte sie die Tests eigentlich nur gemacht, um den unguten Verdacht ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Schließlich war es ein schwül-heißer Sommer, die Arbeit verlangte ihr viel ab und es gab angenehmere Dinge, als einem Rechtsmediziner dabei zuzusehen, einen gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen zu obduzieren.

    Die Bilder der Autopsie, der durchdringende Geruch des Formaldehyds, all das drängte sich auf einmal mit aller Macht in Katrins Bewusstsein zurück. Würgend und hustend beugte sie sich über die Toilette, bis sie das Gefühl hatte, keinen Tropfen Flüssigkeit mehr in sich zu haben. Erschöpft blieb sie danach auf dem Badezimmerboden sitzen und lehnte den Kopf an die kühlen Fliesen. Ihr Körper gab ihr klar zu verstehen, dass es kein Davonlaufen und keine Ausreden mehr gab. Sie war schwanger. Punkt. Toni und sie erwarteten ein Baby. Der Satz allein klang so gewaltig, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

    Sie wollte eigene Kinder … irgendwann einmal. Mit Anfang dreißig hatte sie schließlich noch genügend Zeit dafür. Aber nicht hier und nicht jetzt. Jetzt wollte sie einfach nur arbeiten und mit Toni zusammen sein. Ihre Jobs bei der Polizei strapazierten ihr Privatleben auch ohne Kind bisweilen über alle Maßen. Unzählige Überstunden, bei Toni vermehrt Schichtdienste, die mitten in der Nacht anfingen, all das sorgte dafür, dass sie schon genug damit zu tun hatten, einander nicht zu verlieren. Wie sollten sie da Eltern für ein Kind

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