CYBERRAT: Kriminalroman
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Über dieses E-Book
Der junge Cyberforensiker Thiess Riedel soll beim Aufbau einer Spezialeinheit helfen, die sich dem Kampf gegen Cyberkriminalität widmet. Kaum zurück in seiner Heimat Hamburg wird er Zeuge, wie hinter seinem Boot eine Leiche aus dem Hafenbecken gezogen wird. Damit ist er bereits mittendrin in einem Fall internationaler Bedrohungen. Welche Rolle spielt sein alter Schulfreund Lasse, ein erfolgreicher Computerhacker, der seit einem Unfall schwer verunstaltet ist? Hat er den Mord begangen, für den er sich bei der Polizei gestellt hat? Thiess beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und wird in einen Fall hineingezogen, der nicht nur seine ganz persönliche Vergangenheit ans Tageslicht bringt, sondern auch deutlich macht, dass es noch mehr Menschen in seiner Familie gibt, die ein dunkles Geheimnis haben …
Matthias Asteroth
Matthias Asteroth, geboren 1969 in Hamburg, studierte zunächst Physik und Astronomie. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung zum IT-Kaufmann und begann während seiner Tätigkeit in diesem Bereich ein Fernstudium der Informatik, das er 2014 abschloss. Durch seinen Beruf als IT-Berater bei einem großen Hamburger Logistikunternehmen hat er täglich mit dem Thema IT-Sicherheit und Cyberkriminalität zu tun. Seit frühester Jugend widmet er sich in seiner Freizeit dem Schreiben. Mit der Veröffentlichung einiger Kurzgeschichten im Rahmen der Halstenbeker Textschmiede machte er sich einen Namen. Neben der Literatur ist das Reisen seine große Leidenschaft, das ihm immer wieder Inspirationen für neue Geschichten gibt.
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Buchvorschau
CYBERRAT - Matthias Asteroth
Prolog
Montag, 18. September 1950
Eine leicht wabernde Nebelwand lag über dem Wittmoor und hielt die Kälte fest am Boden. Oberhalb des Nebels herrschte klare Sicht auf den funkelnden Sternenhimmel und den Mond, der hell herableuchtete. Das Moor war im Osten durch dichten Mischwald begrenzt und stach aus der herbstlichen Landschaft heraus wie eine verdorrte Oase.
Ein heiser geschnurrtes, gedehntes „Chrüüüh" ließ den schmächtigen Mann am Waldrand kurz zusammenzucken.
„Chrüüüh" kam es ein zweites Mal aus der Finsternis hinter ihm. Es war lange her, dass er dieses Geräusch gehört hatte. Eine Schleiereule. Aus dem nebelverhangenen Moor kam der gleiche Ruf wie eine Antwort auf den ersten.
Der Mann stand unter den Bäumen und rauchte mit zitternden Fingern seine Eckstein zu Ende. Er war froh, dass es keinen Krieg mehr gab und er die Zigarette allein zu Ende rauchen konnte. Das Teilen seiner Lieblingsmarke mit den Kameraden war schlimm für ihn gewesen. Dass er diese jüdische Marke so liebte, hatte sein Bruder nie verstanden. Hastig nahm der Mann einen letzten Zug. Dann warf er die Zigarette auf den Boden, wo sie im nassen Morast mit einem leisen Zischen erlosch.
Nervös schaute er sich um. Seine müden Augen suchten den Rand des Moores ab, dort wo der Nebel flüchtig war. Die Kälte krabbelte wie winzige Ameisen an der Innenseite seiner dünnen Hose empor. Seine Handflächen rieben schnell aneinander, aber die Finger blieben klamm und steif.
In seiner Nase kribbelte es und der stechende, beißende Geruch überquellender Latrinen war wieder präsent. Der Blick wurde schummrig und verschwommen, allmählich teilte sich das Moor vor seinem geistigen Auge und ein karger, sandiger Platz erschien. Die Häftlinge liefen zum Morgenappell herbei. Er hörte die gellenden Schreie der Kapos und sah die nur aus Haut und Knochen bestehenden Geschöpfe sich im Gleichschritt auf den Appellplatz zwischen den Baracken zubewegen. Tausende Menschen kamen wankend aus den steinernen Gefangenenunterkünften hervor. Sie waren noch nicht tot. Mit vor Angst verzerrten Gesichtern versammelten sie sich auf dem großen freien Platz inmitten der Unterkünfte. Unter dem Gebrüll der Kapos bemühten sie sich, still zu stehen. Der elektrische Zaun war nicht weit entfernt. Sehnsuchtsvolle Blicke. Dahinter lag die Freiheit. Nur ein kleiner Sprung.
Der Mann am Waldrand vertrieb die Erinnerung mit einem heftigen Kopfschütteln und schlug den löchrigen Kragen des Mantels hoch. Die Hände wanderten tief in die Taschen. Mit Unbehagen sah er auf die sich nur schwer auflösenden Nebelschwaden und fragte sich, wie spät es inzwischen war. Mitternacht musste schon vorbei sein, schätzte er, denn die Uhr seines Vaters hatte er bei einem Handgemenge im Lager verloren.
Die Feuchtigkeit der vermodernden Pflanzen war durch die dünnen Schuhe längst an seine Füße gelangt und hatte sich wie ein nasser Wischlappen auf die abgemagerten Zehen gelegt. Der faulige Geruch kroch unangenehm in seine Nase. Seine linke Hand holte ein rostiges Zigarettenetui aus der Manteltasche und öffnete es. Es war leer. Stumm ließ er es wieder in den Mantel gleiten. Der Kopf rutschte in den Mantelkragen hinein, die Schultern fielen nach vorne und der Blick suchte den Nebel ab.
Die Schleiereule schrie erneut ihr heiseres „Chrüüüh". Aus den Tiefen des Waldes antwortete ein anderes Geschöpf der Nacht mit einem kraftvollen Jaulen.
Ein Wolf? Seit mehr als 150 Jahren hatte es keine Wolfssichtung in dieser Gegend gegeben. Sein Großvater hatte ihm berichtet, dass er als Kind einmal auf eine Wolfsfährte gestoßen war.
Die feuchte Moorlandschaft lag vor ihm wie ein verlassener Friedhof. Er hatte viele Orte kennengelernt, an denen man Menschen begraben hatte. Bilder von Skeletten tauchten vor seinem Auge auf. Zerlumpte Menschen hockten zwischen den Toten und streckten ihm die Hände entgegen. Sie waren zu schwach zum Sprechen, zu ausgemergelt zum Essen und doch zu lebendig, um zu sterben.
Seine Finger zitterten unkontrolliert in den ausgebeulten Taschen des Armeemantels, der sein persönliches Andenken an den Krieg war. Er drehte sich zu dem verrosteten rosa Damenfahrrad, das neben ihm an einer Fichte lehnte. Ein sanfter Windhauch kam durch den Nebel herüber und kitzelte seine Nase. Eine Hand umklammerte den Lenker des Rades. Kurz darauf hörte er das schmatzende Geräusch von Stiefeln, die sich durch den Schlamm wühlten und mit jedem Schritt etwas tiefer einsanken. Die Tiere verstummten.
Er starrte auf die sich oberhalb der Baumwipfel verflüchtigende Nebelwand und ließ den Blick dann zu Boden gleiten. Unscharfe Figuren erschienen hinter dem Nebel, sie schwebten über dem Boden und kamen langsam auf den Mann mit dem Damenrad zu. Allmählich lösten sich die feinen Umrisse aus der Dunkelheit und traten durch den wabernden Vorhang. Sie wurden zu menschlichen Silhouetten.
Der Mann am Waldrand stieß einen leichten Seufzer aus und spannte die Schultern an. Er blieb an seinem Platz und wartete, die zitternden Hände um den Lenker des Fahrrads geklammert.
Schwarze Schatten kamen langsam durch das Moor näher, ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Aber er erkannte die Waffen, die über ihren Schultern hingen, Sturmgewehre der Wehrmacht vom Typ 44.
Seine Kehle war ausgetrocknet und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Soldaten kamen näher. Vier von ihnen hatten eine Hand auf dem Gewehr. Der Fünfte trug keine sichtbare Waffe. Er war der Anführer der Gruppe und ging geradewegs auf den Mann unter den Birken zu.
Mit einem kurzen Blick über die Schulter wies er seine vier Gefolgsleute an, stehen zu bleiben und zu warten. Mit festen Schritten näherte er sich dem Waldrand und blieb vor dem Mann mit dem Fahrrad stehen. Er zog die Handschuhe aus und steckte sie hinter die silberne Gürtelschnalle. Ein Totenkopf leuchtete im Licht des Mondes auf.
„Hallo, Heinrich. Du siehst krank aus."
Er streckte ihm die Hand entgegen. Heinrichs Finger hatten sich fest um den Lenker geschlungen. Er starrte den Mann in der dunklen Militäruniform an. Seit dem Lager war viel Zeit vergangen. Das einst schwarze Haar lugte weiß unter der Uniformmütze hervor.
„Hallo, Hermann", flüsterte Heinrich mit sterbender Stimme und ergriff zitternd die ausgestreckte Hand.
Ein kurzer, kräftiger Händedruck, dann fuhr der Oberkörper von Hermann herum und er gab seinen vier Begleitern ein Zeichen. Sie verließen die Nebelgrenze vollständig und traten an ihnen vorbei in den dunklen Wald.
„Du bist damit hergekommen, Bruder?", fragte Hermann und zeigte auf das klapprige Fahrrad.
Heinrich nickte stumm. Hermann musterte ihn. Er legte seinen rechten Arm um die Schulter seines Bruders, doch der war irritiert über die vertrauliche Geste und zog sich zurück.
„Wir nehmen es mit."
Hermann steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen kurzen Pfiff ertönen. Einer der Soldaten kam zurück, packte das Fahrrad mit einer Hand und trug es über der Schulter in den Wald.
Schweigend folgten sie den vier Wehrmachtssoldaten in den bewaldeten Teil des Wittmoors. Sie wanderten immer tiefer in den Wald hinein. Das Mondlicht war keine Hilfe mehr. Einer der Gefolgsleute hatte eine Taschenlampe und eine Karte in den Händen. Er beleuchtete den Weg. Ein zweiter Soldat hielt einen kleinen Kompass direkt vor sich. Ab und zu gab er dem Kameraden mit der Lampe Anweisungen zur Korrektur der Richtung.
Vom Boden stieg die Feuchtigkeit zwischen den Baumstämmen empor und schlang sich um Heinrichs Körper wie ein nasser Lappen. Die Füße waren fast taub. Seinem Bruder schien die Kälte nichts auszumachen. Er bewegte sich frisch und kraftvoll durch den Wald.
Nach einem Marsch von etwa einer halben Stunde kamen sie auf eine Lichtung, an deren nördlichem Ende sich ein großer Hügel erhob. Darauf schoben sich meterhohe Birken in den Himmel. Zwei der Soldaten rissen mit den Händen Blätter und Äste herab.
Die beiden ungleichen Brüder standen stumm nebeneinander und beobachteten die Arbeit. Hermann griff in die Seitentasche seines sauberen schwarzen Mantels und holte ein glänzendes Etui hervor. Er öffnete es. Es war gefüllt mit Filterzigaretten. Er hielt es Heinrich entgegen, doch der schüttelte den Kopf. Hermann nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und ließ das schimmernde Etui wieder in die Manteltasche gleiten.
Unterdessen kamen die Männer schnell voran. Eine von Efeu, Moos und dunkler Patina überwucherte Stahltür markierte den Eingang ins Innere des Hügels. Heinrich erkannte, was es war. Ein Bunker. Der Soldat, der den Kompass getragen hatte, nestelte kurz an seinem Hemdkragen und streifte ein Band mit einem dicken Schlüssel über den Kopf. Er fingerte an dem Schloss der massiven Tür herum.
„Was machen wir hier?", fragte Heinrich mit dünner Stimme und sah seinen Bruder an. Hermann warf die eben frisch entzündete Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem vom Moor matschigen Stiefel aus. Er legte ihm erneut den Arm um die Schulter und zog ihn etwas fester an sich. Heinrich versuchte, sich zu entziehen, doch Hermann war kräftiger. Die Augen des älteren der beiden Riedel-Brüder strahlten im Dunkeln voller Vorfreude.
Es quietschte und Heinrich sah, wie die Soldaten gemeinsam und unter großer Kraftanstrengung die verwitterte Stahltür aufzogen.
„Warte ab, du wirst es gleich sehen!", verkündete Hermann mit leuchtenden Augen und gab seinen Leuten ein Zeichen, die Lichtung zu sichern. Zwei Kameraden postierten sich vor dem Zugang, einer sicherte den Weg ins Moor ab, der vierte platzierte sich am südlichen Waldrand. Hermann marschierte geradewegs auf das dunkle Loch unter den Birken zu und bedeutete Heinrich, ihm zu folgen. Mit hängenden Schultern kam Heinrich hinterher.
Sie traten in den dunklen Gang hinein. Hermann drehte an einem Schalter neben der Tür und die alten Relais der Lampen klackerten und krächzten. Mit einem Knall, der Heinrich auf das Heftigste zusammenzucken ließ, leuchtete die Decke des unterirdischen Bunkers im Wald hell. Das Licht wies den Weg in ein schwarzes Loch. Der Boden war übersät mit kleinen Ästen, Erde und Grasbüscheln.
Heinrich stand hinter Hermann und bestaunte die Stahltreppe, die in die Dunkelheit führte.
„Ein Bunker?", flüsterte Heinrich. Im Krieg hatte er viele Bunker gesehen, aber dieser war anders. Die Lampen in ihrem explosionsgeschützten Stahlgehäuse strahlten hell und frisch, als wären sie erst gestern eingebaut worden.
Hermann drehte sich um, schaute seinen Bruder mit strengem Blick an und stieg dann die Treppe hinab. Sie führte tief in den Hügel hinein. Heinrich folgte ihm langsam, der Druck auf seiner Brust wurde mit jedem Schritt stärker. Ein unsichtbarer Schraubstock legte sich um seine Rippen und presste den Sauerstoff aus den Lungenflügeln heraus. Die kalte, modrige Luft aus der Tiefe des Hügels setzte sich in seiner Nase fest und erzeugte einen hartnäckigen Würgereiz. Magensäure stieg auf und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
Heinrich schnaufte lauter und in immer kürzeren Abständen, das Blut pumpte hektisch durch seine Venen. Er drehte sich seitwärts und umklammerte den Handlauf der Treppe mit beiden Händen und ließ sich langsam die Stufen hinabrutschen, einen Fuß nach dem anderen.
Seine Hände krallten sich um den glatten Stahl. Er schwankte zur Seite, rutschte an die nackte Wand und sein Kopf zuckte vorwärts. Die bleichen Augenlider fest zusammengepresst, kämpfte er gegen die Bilder aus seiner Erinnerung. Ein plötzlicher Würgereiz erschütterte ihn.
Der Druck wurde unerträglich. Heinrich wurde fast wahnsinnig. Das Hämmern in den Schläfen war kaum auszuhalten. Mit jedem Schritt hinab donnerte es gegen den Stirnlappen. Ein Reflex, der sich nicht abstellen ließ. Er hatte gehofft, dass mit der Zeit die Erinnerung verblasste.
Ein saurer Geruch stieg langsam die Speiseröhre empor und drang in seine Nase, der dicke Kloß wanderte aus dem Magen allmählich höher und drängte darauf, sich zu ergießen. Doch auf halben Weg verschwand der Druck. Er schnaubte ein paarmal kräftig, stieß literweise Luft aus den Lungen und presste sich gegen die Wand.
„Reiß ... dich ... zusammen!, flüsterte er in die Dunkelheit. „Reiß dich einmal zusammen!
Seine Beine, die eben wie festgewachsen waren, setzten sich langsam wieder in Bewegung. Eine Hand umklammerte erneut fest den glänzenden Handlauf. Er folgte seinem Bruder tiefer hinab.
Hermann war schon längst in der Dunkelheit am Ende der Treppe verschwunden. Die dumpfen Schritte hallten aus der Finsternis empor. Heinrich bemühte sich, ihm zu folgen. Das war in den abgetragenen und zerfledderten Schuhen nicht einfach. Der Schweiß hatte sich inzwischen wie eine schmierige Schicht auf seine Stirn gelegt. Die Hände waren nass und sein rasselnder Atem kam jetzt regelmäßiger. Er kämpfte gegen den immer wieder aufkeimenden Würgereiz an und stolperte Stufe um Stufe hinab. In seiner Nase kribbelte es. Er kannte diesen Geruch.
Toter Wald und verwesende Kleintiere, verbranntes Fleisch. Es roch nach brennendem Menschenfleisch.
Tränen flossen über sein Gesicht und die Hand krampfte sich um das kalte Metall. Heinrich wandte sich zur Umkehr. Jetzt fortlaufen und nie mehr zurückkommen. Er würde weit weglaufen und keinen Gedanken an seinen Bruder verschwenden. Was kümmerte es ihn, dass er seinem Bruder sein Leben zu verdanken hatte? Er hatte Hermann damals seine Seele verkauft.
Er blieb stehen, schwankte auf der Treppe, doch die Beine waren wie festgeschraubt. Sein Oberkörper drehte sich herum und die Augen suchten sehnsuchtsvoll den Ausgang.
„Heinrich!", schallte es aus der Dunkelheit empor, kraftvoll und verärgert. Die unsichtbaren Fesseln um seine Beine lösten sich und seine Füße setzten sich in Bewegung.
Heinrich war der Hölle entkommen, doch er hatte das Gefühl, dass er dabei war, den Vorhof einer neuen zu betreten.
Kapitel 1
Donnerstag, 1. August 2019, 5 Uhr 40
„... schnell ... weg ...", sagte die Stimme in seinem Kopf.
Woher kam sie? Er hörte ein Knistern, dann zersplitterte Glas. Seine Lider ließen sich nicht anheben, sie waren wie zugeklebt. Ihm wurde warm und das Knistern wurde zu einem Schaben und Kratzen. Was war das?
Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Seine Finger tasteten auf dem Boden umher und glitten über die weichen Fasern des Teppichs. Sie bewegten sich vorsichtig weiter und stoppten abrupt. Ein harter Gegenstand, glatt poliert mit einigen Riefen. Daumen und Zeigefinger umschlossen das unbekannte Objekt und erkannten die markante Form. Es war ein Holzbein, genauer das Standbein eines roten Sofas mit quietschenden Federn. Das Sofa, das immer bei seinem Großvater im Wohnzimmer gestanden hatte. Auf dem groben Stoff hatte er schon als fünfjähriger Knirps herumgetobt.
Langsam stützte sich Thiess Riedel auf die Hände und schob den Oberkörper hoch, bis er an der Rückseite des Sofas lehnte. Er keuchte und das Atmen fiel ihm schwer. Seine Muskeln waren kraftlos und lahm. In seinem Kopf drehte sich alles und die Hitze im Gesicht war so gewaltig, dass er die Wärmequelle direkt vor sich vermutete.
Der beißende Geruch verbrennender Farbe stach ihm in der Nase und der Schweiß lief an der Nasenwurzel herab und auf die Lippen. Mit dem Salz vermischt schmeckte er sein eigenes Blut.
Wo kam die Wärme her? Die Augen blieben zu. Warum?
In Zeitlupe drehte sich sein Oberkörper und er versuchte, sich am Sofa hochzuziehen. Oberhalb der Rückenlehne schlug ihm ein heißer Luftwirbel entgegen und warf ihn zurück auf den Boden. Was zum Teufel war hier los? Sein Puls beschleunigte sich, die Gedanken stoben durch seinen Kopf. So langsam fügten sich die Teile zusammen. Er war im Wohnzimmer seines Großvaters Heinrich. Aber die Geräusche, die Wärme ... das war Feuer!
Dann war alles anders. Die Augen ließen sich öffnen. Die Zimmertür ging auf und ein kleiner Junge mit kahlem Schädel und großen schwarzen Glupschaugen stand dort, die Hand an der Klinke. Er grinste hämisch in seine Richtung und fing an zu lachen, laut und glucksend.
Thiess versuchte aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Irgendetwas hielt ihn am Boden gefangen. Er schaute an sich herab. Eine dicke Kette war um die Füße geschlungen. Das Lachen des Jungen wurde lauter, die Augen traten langsam aus den Höhlen und sein Klopfen auf die Oberschenkel klang wie ein Hammer, der auf einen Amboss niederging.
Im Raum wurde es heißer und lauter. Thiess riss den Kopf hoch und sah verzweifelt zur Tür. Der Junge stand dort, aber jetzt lachte er nicht mehr. Sein Mund hatte sich zu einer grimmigen Fratze verzerrt. Die Augen waren inzwischen tiefschwarz. Er hob eine Hand und winkte ihm lachend zu, zog die Tür ins Schloss und Thiess hörte, wie der Schlüssel auf der anderen Seite umgedreht wurde.
Er riss an seinen Fußfesseln, doch er kam nicht los. Dann sah er unter dem kleinen Esstisch seines Großvaters ein Paar menschliche Beine liegen. Er versuchte, dorthin zu robben. Die Länge der Kette ließ ihn aber nicht nah genug herankommen. Er erkannte nicht, wer dort lag.
Dichter tiefgrauer Rauch kroch unter der Tür hindurch in das Zimmer und füllte seine Lungen. Hustend zerrte Thiess an seinen Fesseln und streckte sich, um die Beine zu erreichen. Da erhob sich der am Boden liegende Körper und eine Fratze starrte ihn an. Die Haut hing in verkohlten Fetzen von seinem Gesicht. Lasse öffnete den Mund. Er wollte etwas sagen.
Schweißgebadet erwachte Thiess. Senkrecht saß er im Bett und fuhr sich hektisch über das Gesicht. Er sah auf die eigene Hand. Es war kein Blut daran, nur kalter Schweiß. Sein Herz pumpte schnell und das T-Shirt klebte an seiner Brust. Sein Puls raste. Er versuchte, im dunklen Raum etwas zu erkennen, doch die Augen waren verklebt. Nur das leise Plätschern des Wassers gegen den Rumpf des Bootes war zu hören.
Thiess griff nach der Brille, die in dem kleinen Ablagefach links neben der Matratze lag, und krabbelte den Kopf voraus aus dem Bett. Er tapste mittschiffs und knipste die Lampe in der Küchenzeile an. Hektisch hielt er seine Handgelenke unter das helle Licht. Nichts zu sehen. Die Narben sahen aus wie immer. Längst verwachsen mit seiner eigenen Haut.
„Das war nicht real!"
Nacheinander fuhren seine Finger über die vernarbten Hautpartien. Die Temperatur des Gewebes war normal. Was hatte er erwartet? Lodernde Flammen, die ihm entgegenschlugen? Feuer, das aus seinen Armen entsprang?
Er nahm sich ein Glas aus dem Schrank, hielt es unter den Hahn im Spülbecken und stürzte das Wasser hinunter.
Der Traum suchte ihn immer öfter heim und wurde mit jedem Mal realistischer. Sogar die Gerüche waren echt. Bildete er sich das ein, oder roch selbst sein Schweiß nach Ruß und kalter Asche? Angefangen hatte es, kurz bevor Karla ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen hatte.
Thiess beugte den Kopf über die Spüle und atmete tief ein und aus. Langsam beruhigten sich Puls und Magen wieder, die Übelkeit verschwand. Ein paar Spritzer eiskaltes Wasser ins Gesicht belebten ihn. Er setzte Kaffee auf und schaute hinaus auf den verschlafenen kleinen Sportboothafen an der Dove-Elbe.
Flüchtige Nebelschwaden hingen träge auf der glatten Wasseroberfläche. Die Sonne war schon aufgegangen. Seine Augen glitten zur Wanduhr über der Küchenzeile. 5 Uhr 47.
Der angenehme Geruch frisch gebrühten Kaffees vertrieb die dunklen Gedanken und er goss sich seinen großen Becher voll, dann schwang er sich auf den Sitz vor dem Steuerstand und träumte mit offenen Augen. Sosehr er sich auch dagegen sträubte, die Gedanken glitten immer öfter zu dem Traum, der ihn seit dem Rausschmiss heimsuchte. Wieso jetzt? Das war vor über 15 Jahren passiert.
Thiess führte den Becher mit dem heißen Kaffee zum Mund. Doch bevor er den ersten beruhigenden Schluck nehmen konnte, hörte er das Knarren auf dem Bootssteg direkt neben seinem Boot. Schritte kamen näher.
„Sie muss schnell hier weg! Wann kommt endlich die Wasserschutzpolizei? Ich steh schon ’ne Stunde hier. Die Kinder dürfen so was nicht sehen."
Das Quietschen von Gummistiefeln war zu hören, die hastig neben dem Boot hin und her stampften.
„Ich weiß nicht, wie lange sie schon da liegt, aber sie kann da nicht liegen bleiben. Sie muss weg, und zwar schnell! Ich dreh hier noch durch! So was Ekliges hab ich noch nicht gesehen."
Thiess schwang sich vom Steuerstand herab und stellte den Kaffeebecher in die Spüle. Mit nackten Füßen stieg er die enge Holztreppe hinauf. Seine müden Finger hatten Schwierigkeiten, den Zipper zu finden und die Persenning zu öffnen. Er steckte seinen ungekämmten dunkelblonden Schopf durch die schmale Öffnung und versuchte, einen Blick auf den Steg zu erhaschen. Es war nichts zu erkennen. Er sah den Drahtzaun des Kindergartens, der vis-à-vis der Anlegestelle errichtet worden war. Doch selbst das Backsteingebäude hinter dem kleinen Bolzplatz war nicht zu sehen. Ungeduldig zerrte er an dem Reißverschluss und riss ihn mit einem kräftigen Ruck auf. Er stolperte auf das nasse Oberdeck. Das Gewitter der letzten Nacht hatte an Deck alles unter Wasser gesetzt und er tapste auf dem Weg an die Reling durch einige Pfützen. Auf dem Steg wanderte ein kräftiger junger Mann umher. Er trug eine Jacke mit dem Logo des THW auf dem Rücken und hielt ein Mobiltelefon ans Ohr. Thiess winkte ihm zu.
„Ich bin gleich weg. Nur noch ein paar Minuten."
Der Mann am Telefon beachtete ihn gar nicht. Thiess fuhr sich durch die zerzausten Haare.
„Ey Digga, da ist ’ne Leiche im Wasser!"
Thiess drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein paar Meter den Steg hinunter an der Brücke stand ein junger Mann mit rasiertem Schädel. Er hielt einen Zigarettenstummel in der rechten komplett tätowierten Hand. Schmutzige Bartstoppel umrahmten sein Gesicht. Er trug eine schwarze Weste mit prägnanten Nieten und er sah genauso übermüdet aus wie Thiess. Auf dem linken Oberarm prangten deutlich sichtbar die Worte Fuck Nazis. Er war fünf Meter entfernt, aber Thiess roch den Alkohol bis zu seinem Anlegeplatz.
„Digga, unter der Brücke ... hinter dem roten Brücke .... da is was gefunden worden. Liegt wohl schon ’ne Weile da im Wasser rum ..."
Thiess setzte zu einer Erwiderung an, doch da hörte er das Knattern eines Zweitakter-Außenbordmotors. Ein kleines schwarzes Schlauchboot kam unter der Schleusenbrücke herangefahren und hielt direkt hinter der Ronja. Auf dem Rand des wendigen Einsatzbootes stand in großen weißen Buchstaben Polizei.
Thiess setzte zum Reden an, stoppte aber sofort wieder, als er den vollbärtigen Polizisten sah, der das Boot am Poller hinter der Ronja festmachte und auf den Steg sprang. Ein zweiter Mann von etwas schmächtigerer Statur kam hinterher. Beide verschwendeten keinen Blick an Thiess, sondern liefen direkt zu dem THW-Mitarbeiter mit dem Telefon am Ohr. Sie ließen sich den Fundort der Leiche zeigen.
„Ob das wohl ’ne Belohnung gibt, Digga?"
Thiess drehte sich wieder herum und schaute den kahlköpfigen jungen Mann an. Er war sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. Er brauchte unbedingt einen zweiten Kaffee, um wach zu werden.
Der tätowierte Obdachlose führte den Zigarettenstummel hastig zum Mund, nahm einen letzten süchtigen Zug und warf die Kippe achtlos auf den Boden. Er trat unter dem Baum an der Ecke des Restaurants hervor, das direkt an das Gelände des Kindergartens angeschlossen war, und steckte beide Hände in die Hosentaschen.
„Irgendjemand wird sie doch b’stimmt vermissen. Gibt doch b’stimmt ’nen Finderlohn."
Thiess schüttelte den Kopf und wünschte sich, das Gefühl von Wasser im linken Ohr würde endlich verschwinden. Manchmal hörte er das Rauschen nicht mehr, aber an Tagen wie diesem war es wieder deutlich und übertönte alles andere. Er drückte mit dem Zeigefinger der linken Hand hinter der Ohrmuschel herum und fühlte, wie sich der Fingernagel in das Fleisch grub, aber das taube Gefühl im Ohr verschwand nicht. Wenn es nach der Meinung seines Arztes ging, würde es nie wieder zurückgehen. Thiess hatte sich intensiv mit dem Thema Tinnitus befasst und war ebenfalls zu der Einsicht gelangt, dass er mit dem Geräusch würde leben müssen.
Sein Kopf fing an zu schmerzen. Der zweite Gin Tonic am Abend war überflüssig gewesen. Er brauchte einen weiteren Kaffee, und zwar schnell.
„Alter, hast du mal ’ne Kippe?"
„Eher nicht, entgegnete Thiess mürrisch. „Ich bin Nichtraucher.
Er schaute wieder in Richtung der drei Offiziellen. Während der THW-Mitarbeiter weiter am Telefon hing und gestikulierte, sicherten die beiden Männer der Wasserschutzpolizei den Fundort der Leiche mit einem roten Absperrband.
Von der Straße oberhalb der Schleusenbrücke kamen drei weitere Personen die Treppenstufen herab, ein kräftiger junger Mann in schwarzer Lederjacke und zwei Frauen. Die Ältere der beiden war zierlich und einen ganzen Kopf kleiner als ihre Begleiter. Sie trug einen eleganten grauen Hosenanzug und blieb am Ende der Steintreppe stehen, streifte die hochhackigen Schuhe von den Füßen und ließ sie neben den Stufen zurück. Die junge rothaarige Frau hinter ihr warf dem Mann in der schwarzen Lederjacke einen bewundernden Blick zu und zuckte mit den Schultern. Eilig passierten die drei das Restaurant und schritten an Thiess’ Boot vorbei zu den Kollegen der Wasserschutzpolizei. Sie ließen sich die Leiche zeigen, die immer noch im Wasser lag.
Die Rothaarige hatte einen Fotoapparat dabei und fing sofort an, Fotos von der Leiche zu schießen. Der junge Mann in der schwarzen Lederjacke zog ein Paar Handschuhe aus der Jackentasche und sichtete erste Spuren.
Kurze Zeit später hielt oberhalb der Brücke ein weiterer Wagen, Türen wurden geöffnet und zwei Männer in weißer Schutzkleidung sprangen heraus und eilten mit schnellen Schritten zu ihren Kollegen. Sie zogen die Leiche mit einem Spießhaken aus dem Wasser. Für einen kurzen Moment sah Thiess eine lila gefärbte Weste aufblitzen. Doch bevor er mehr erkannte, standen eine Handvoll Polizisten und Feuerwehrleute vor der Leiche und versperrten die Sicht. Die Menschen waren aus dem Nichts aufgetaucht. Niemand kümmerte sich um den glatzköpfigen Flaschensammler, der sich mittlerweile schon wieder unter den Baum an der Häuserecke zurückgezogen hatte und seine Flaschen in dem Einkaufswagen sortierte.
Das Rauschen in Thiess’ linkem Ohr wurde stärker und sein Magen meldete sich zu Wort. Er hatte Hunger. Richtigen Kohldampf. Die Sicherung der Spuren würde noch eine Weile dauern. Es sprach nichts dagegen, unter Deck zu verschwinden und sich Frühstück zuzubereiten.
Thiess ließ die Persenning offen, um zu hören, was draußen besprochen wurde. Aber die Polizisten waren extrem vorsichtig. Während er den Tisch auf dem Oberdeck deckte und immer wieder einen verstohlenen Blick hinüberwarf, arbeitete die Spurensicherung konzentriert und abgeschirmt durch die Präsenz der Wasserschutzpolizei und des THW.
Thiess lebte seit ein paar Wochen auf dem Segelboot seiner verstorbenen Tante Annemarie, einer 14-Meter-Jacht, die auf den Namen Ronja getauft war. Nach Annemaries Tod im letzten Jahr hatte der schnittige Segler ein paar Monate unbewohnt im kleinen Hafen an der Dove-Elbe gelegen. Nachdem Thiess von seiner Ex aus der gemeinsamen Wohnung in Hamburg rausgeschmissen worden war, zog er auf das Boot, das seine Tante ihm vererbt hatte. Zunächst war er skeptisch gewesen und hatte sich innerlich dagegen gesträubt, das kostbare Erbe anzunehmen. Aber es gab sonst keinen mehr in seiner Familie, und als dann die Sache mit der E-Mail passierte und Karla ihn aus der gemeinsamen Wohnung warf, war eine neue Unterkunft nötig.
Thiess beugte sich zum Kühlschrank hinunter und öffnete ihn. Gähnende Leere. Nur ein geöffneter Becher Sojajoghurt stand darin. Er hob den Deckel an und roch prüfend an der weißen Masse. Angewidert verzog er das Gesicht und warf den Joghurt in den Müll. Frühstück würde ausfallen. Er stellte den Kaffeebecher mit der Aufschrift 42 neben die Kaffeemaschine, tauschte den vollen Filter gegen einen frischen aus und füllte Kaffeepulver hinein. Das Wasser goss er aus dem Wasserfilter in die Maschine und stellte sie an. Während der Kaffee aufgebrüht wurde, schaute Thiess durch das Bugfenster nach draußen. Er sah nur ein Gewusel von weißen Schutzanzügen. Undeutliche Stimmen drangen zu ihm herüber, aber es war nicht zu verstehen, was gesprochen wurde.
Nach sieben Minuten war der Kaffee fertig und Thiess füllte das belebende Getränk in seinen Becher und stieg die schmale Treppe hinauf. Er trat zur Reling und versuchte zu erkennen, was dort hinten unter der Brücke vor sich ging. Der Menschenauflauf nahm keine Notiz von ihm, alle waren sie mit ihrer Arbeit beschäftigt. Die rothaarige Polizistin knipste Fotos von der Umgebung des Leichenfundorts.
Das Schlauchboot der Polizei war mittlerweile nicht mehr am Steg befestigt. Es kreiste auf der Dove-Elbe an der 1940 errichteten, denkmalgeschützten Holzbrücke, die die Stadtteile Reitbrook und Allermöhe miteinander verband. Es fuhr den Kanal hinter dem Hafengelände entlang und folgte der Flussbiegung unter der Brücke hindurch in Richtung Curslack.
Nach einer Stunde kamen die ersten Spaziergänger vorbei. Sie wurden von den Polizisten zurückgewiesen. Ein älterer Jogger flutschte unter dem Absperrband durch, bevor die rothaarige Polizistin ihn aufhalten konnte. Wenige Sekunden später kam er wieder, begleitet von dem Mann in der schwarzen Lederjacke, der seinen Oberarm fest gepackt hatte. Er wurde zurück hinter die rot-weiße Flatterleine geschickt.
Den Logenplatz hatte Thiess auf der Ronja. Er wunderte sich, dass ihn bisher keiner befragt hatte. Niemand hatte sich erkundigt, ob er etwas gesehen oder gehört hatte. Die Leiche hatte nicht weit von seinem Liegeplatz entfernt im Wasser gelegen.
Er hatte am Abend zuvor zunächst auf dem Deck unter der Persenning gesessen und die dunklen Wolken beobachtet, die sich von Süden langsam westwärts über das Land gezogen hatten. Einige Zeit hatte es so ausgesehen, als würde das Gewitter den kleinen Ort an der Biegung der Dove-Elbe verschonen. Gewaltiges Donnergrollen und ekstatisch zuckende Blitze durchbrachen die entspannte Abendstimmung und innerhalb von Sekunden öffneten sich die himmlischen Schleusentore. Dicke Tropfen prasselten auf die Planken des Segelschiffes und fluteten das gesamte Oberdeck. Nicht einmal die nah vorbeiführende Autobahn A25 war zu hören. Unter dem durchsichtigen Schutz der Kuchenbude hatte er sich die hereinbrechende Apokalypse angeschaut. Zum ersten Mal seit langer Zeit war das Geräusch in seinen
