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Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld: Kriminalroman
Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld: Kriminalroman
Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld: Kriminalroman
eBook396 Seiten4 Stunden

Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein vielschichtiger Kriminalroman über ein bisher nicht erzähltes Kapitel Nachkriegsgeschichte.

Stuttgart 1945. Der Polizeibeamte Paul Kramer muss mithelfen, im berüchtigten Hotel Silber die neue Kriminalpolizei aufzubauen – genau an jenem Ort, an dem er wenige Tage vor Kriegsende noch von der Gestapo gefoltert wurde. Doch Hass und Ideologie sind mit der Kapitulation nicht verschwunden. Als die ersten Verbrechen aufgeklärt werden müssen, zeigt sich schnell, wer auf welcher Seite steht – und Pauls Ermittlungen werden für ihn selbst zur Gefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum26. Sept. 2024
ISBN9783987071935
Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld: Kriminalroman
Autor

Kai Bliesener

Kai Bliesener, geboren 1971 in Waiblingen, war als Kommunikationsexperte, Mediendesigner und Pressesprecher für verschiedene Verbände und Unternehmen tätig. Er arbeitet als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Theaterhaus Stuttgart sowie als freiberuflicher Autor und Texter. Er lebt mit seiner Familie in Weinstadt.

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    Buchvorschau

    Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld - Kai Bliesener

    Cover.

    Kai Bliesener, geboren 1971 in Waiblingen, war als Kommunikationsexperte, Mediendesigner und Pressesprecher für verschiedene Verbände und Unternehmen tätig. Er arbeitet als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Theaterhaus Stuttgart sowie als freiberuflicher Autor und Texter. Er lebt mit seiner Familie in Weinstadt.

    Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist fiktiv, auch wenn teilweise Bezug auf reale Fälle und Ereignisse genommen wird. Es treten historische Persönlichkeiten auf, deren Handeln, Reden und Denken ist jedoch so frei erfunden wie das der anderen Figuren in diesem Roman.

    © 2024 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

    Lektorat: Lothar Strüh

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-98707-193-5

    Originalausgabe

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    Kostenlos bestellen unter

    www.emons-verlag.de

    Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

    Für Karin, Jannik und Annika

    Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn

    das deutsche Volk ergriffen habe und als ob

    ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße.

    Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.

    Anna Haag in ihrem Tagebuch

    am 24. Januar 1941

    PROLOG

    Stuttgart, Ende März 1945

    Nervös und frierend standen sie im Schutz der zerbombten Mauerreste des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Der Schatten des sechsundfünfzig Meter hohen Turms auf der Südseite des Kopfbahnhofs bot ihnen Schutz vor der feuchten Kälte des Morgens, während sie auf Heinz Koller warteten.

    Vera Wallner legte den Arm um die Schultern ihrer schlotternden Tochter. Margarete schaute aus großen Augen zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater Johann. Jeder hatte nur die Kleider am Leib und ein paar Habseligkeiten in einer Tasche oder einem Koffer dabei. Mehr war ihnen ohnehin nicht geblieben. Es musste reichen. Bald würden sie in Sicherheit sein.

    »Wo bleibt er denn?«, fragte Johann flüsternd in die Stille hinein und schlang sich die Arme um den Oberkörper. Ihm war kalt. Sie alle froren.

    Vera zuckte hilflos mit den Schultern. Sie hatte das Zittern in seiner Stimme gehört und hoffte, dass es wegen dieser verfluchten Kälte war. Ihr rechtes Bein schmerzte höllisch vom langen Laufen und Stehen, aber sie versuchte, keine Miene zu verziehen. Sie musste stark sein. Zumindest bis sie hinter der Grenze waren. Sie alle mussten jetzt alle verbliebene Kraft aufbringen, wenn sie überleben wollten.

    Vor drei Monaten hatte sie den Bescheid für die Deportation in den Osten bekommen. Oben in der linken Ecke prangte der mächtige Reichsadler, in seinen Krallen das im Land allgegenwärtige Hakenkreuz. Darunter in feinstem Amtsdeutsch und kurzen Sätzen ihr Todesurteil.

    Dabei ist dieser verdammte Krieg doch schon verloren, war der erste verzweifelte Gedanke, der ihr gekommen war. Sahen die das nicht? Aber es gab noch einen Funken Hoffnung, gerettet zu werden. Auch wenn er noch so klein war, er brannte jeden Tag. Und falls alles nach Plan verlaufen würde, wären sie am Abend in Sicherheit. Alles, was sie benötigten, war etwas Zeit. Die Alliierten rückten an sämtlichen Fronten rasch voran, wie von überall hinter vorgehaltener Hand zu hören war. Man musste dennoch enorm vorsichtig sein. Wer von einer drohenden Niederlage Hitlers sprach und die Worte an jemand Falschen richtete, war automatisch in Lebensgefahr.

    Doch die Gegenwehr der Wehrmacht war gebrochen. So gebrochen wie Veras Bein. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Körper beim Gedanken daran. Aber Schmerzen waren ihr Ausweg gewesen, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Ein paar Tage nachdem sie den Bescheid bekommen hatte, war sie mit ihren Töchtern Margarete und Frida zu Gertrude Brandt in die Praxis gegangen. Natürlich erst, als die anderen Patienten die Räume verlassen hatten. Gertrude Brandt war Ärztin und Freundin zugleich. Sie wusste, dass sie kommen würden, und sie hatten ein Klopfzeichen vereinbart, nach dem sie die Praxistür öffnen würde. Gertrude hatte sie immer behandelt, obwohl sie wusste, dass man sie bestrafen würde, wenn es herauskam, und sie mit Repressalien zu rechnen hatte.

    »Ich bin Ärztin geworden, um Menschen zu helfen. Ich habe einen Eid geschworen. Und deshalb werde ich Juden nicht anders behandeln als alle anderen, die zu mir in die Praxis kommen und Hilfe brauchen«, hatte sie Vera einmal gesagt.

    Dann hatten sie an diesem kalten Januarabend im hinteren Behandlungszimmer der Praxis gesessen. Längst gab es kaum noch Verbandsmaterial und Medikamente, die gläsernen Schränke waren mehr oder weniger leer, sahen aus, als wären sie geplündert worden. Doch inzwischen gab es so gut wie keinen Nachschub mehr, und das spärliche Material wurde meist direkt an die Front geschickt, um die verwundeten Soldaten halbwegs zusammenflicken zu können, ehe man sie wieder in den Kugelhagel schickte.

    Gertrude hatte sie mit durchdringendem Blick gemustert, doch Veras Entschluss stand fest.

    Kurze Zeit später hielten die Töchter fest die Hände ihrer Mutter. Vera hatte einen dicken Holzstift zwischen den Zähnen, um zu verhindern, dass sie den Schmerz der Behandlung laut in die Nacht brüllte. Der Stift war Vera am Ende in zwei Teilen aus dem Mund gefallen, nachdem ihr Gertrude das rechte Bein gebrochen hatte. Vera hatte schwer geatmet, Schweiß war ihr über das Gesicht gelaufen, aber sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Töchter möglichst wenig von dem Schmerz sehen zu lassen, der durch ihren Körper pulsierte.

    Am nächsten Tag war sie ins Robert-Bosch-Krankenhaus eingewiesen und kurz darauf für transportunfähig erklärt worden. Damals hatte sie gehofft, dass es die Schmerzen wert waren, wenn es keine andere Möglichkeit gab, sich und ihre Familie vor der drohenden Deportation zu retten.

    »Da, da kommt er«, rief Frida leise und zeigte auf eine Gestalt, die sich aus dem Dunkel löste. Sie erkannte ihn trotz der Entfernung. Es war Heinz Koller. Er trug einen abgewetzten Mantel um den ausgemergelten Körper und eine Schiebermütze auf dem runden Kopf. Im Gesicht hatte er zahlreiche Narben. Die seien von seiner Zeit im KZ, hatte er Vera erzählt, als sie ihn im Krankenhaus kennengelernt hatte. Er hatte laut seiner angedeuteten Geschichten viel durchmachen und einige Gewalt ertragen müssen, wovon sein Aussehen Zeugnis ablegte. Vera hatte den Eindruck gewonnen, als sei er eine traurige, bemitleidenswerte Gestalt, aber eine, die ihr helfen konnte. Zusammen mit ihrer Tochter Frida hatte er sie in der Klinik besucht. Tage zuvor war Frida dem Mann bei einer Bekannten zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Sie war mit ihm ins Gespräch gekommen. Vorsichtig tastend, hatte sie sich anfangs zurückhaltend gegeben. Doch er wirkte vertrauenswürdig, hatte selbst im KZ gelitten und äußerte sich dezidiert kritisch über das Regime. Und er hatte Kontakte. Kontakte, die ihnen hoffentlich das Leben retten würden.

    Er trat zu der wartenden Familie in die dunkle Ecke neben einem Pfeiler, nickte den vier hoffnungsvoll dreinschauenden Augenpaaren zur Begrüßung kurz zu und versuchte sich an einem unsicher wirkenden Lächeln.

    »Haben Sie alles?«, wollte er wissen.

    »Ja«, sagten Johann und Vera Wallner im Chor und warfen sich ein leichtes Schmunzeln zu. Es fehlte in diesem Moment nur ein Hauch, und es wäre eine Last von ihr abgefallen. Doch Vera Wallner war bewusst: Sie waren längst nicht am Ziel, sondern erst am Anfang ihrer gefahrvollen Reise.

    Johann griff in seine Tasche, zog einen prall gefüllten Beutel heraus und warf ihn dem Mann zu. Der fing die metallisch klappernde Stofftasche mit einer geschickten Handbewegung auf. Koller öffnete die Schlaufe, die verhinderte, dass etwas herausfiel, warf einen raschen Blick hinein und zog den Beutel dann wieder zu. Er nickte zufrieden.

    »Sehr gut«, sagte er.

    »Unsere Pässe«, meinte Vera dann auffordernd. Plötzlich überkam sie ein ungutes Gefühl. Woher, konnte sie nicht bestimmen, doch sie mahnte sich deswegen zur Eile. »Wir müssen zum Zug.«

    Johann streckte erwartungsvoll die rechte Hand aus, um die Papiere in Empfang zu nehmen. Koller hatte versprochen, sie mit gültigen Pässen zu versorgen, die sie außer Landes bringen würden, trotz Ausreiseverbot. Da das Familienvermögen durch die sogenannte Judensteuer längst von den Nazis enteignet worden war, hatten sie ihm zur Bezahlung für seine Hilfe die letzten Reste des gut versteckten Familienschmucks angeboten.

    In diesem Moment tauchte wie aus dem Nichts eine Gruppe Männer auf, die sie umringten. Einige trugen die grauen Uniformen der SS, andere waren in Zivil. Gegen die Kälte waren fast alle in die ebenso grauen Mäntel gehüllt. Auf den Schirmmützen der Uniformierten prangte der Totenkopf, das Wappen der nationalsozialistischen Kampforganisation. Vera konnte nicht sehen, wie viele es waren. Ein halbes Dutzend oder mehr vielleicht. Und sie sahen nicht aus, als seien sie zufällig hier vorbeigekommen. Sie haben auf mich gewartet, schoss es ihr durch den Kopf. Sonst hätten wir sie doch kommen sehen.

    Veras Hand suchte tastend den Arm ihres Mannes, während sich die beiden Töchter dichter an sie drängten. Ihr Körper begann zu zittern. Doch diesmal war es nicht nur die Kälte. Es waren Angst und Panik, die sie jetzt schlottern ließen. Sie brauchte Halt und musste gleichzeitig stark bleiben. Sie wusste, dass ihr die Furcht ebenso anzusehen war wie Johann und den Mädchen, in deren Gesichter sie nacheinander blickte. Vera realisierte als Erste, dass ihre Flucht vorbei war, ehe sie begonnen hatte. Sie waren aufgeflogen, oder man hatte sie verraten. Aber wer? Koller? Er stand teilnahmslos bei ihnen, vermied es, jemandem in die Augen zu sehen, während ein Uniformierter seine behandschuhte Hand um Kollers Oberarm gelegt hatte. Und doch hatte er sich sichtbar abgesondert, stand etwas abseits der Familie, so als wolle er demonstrieren, dass er mit den vier Personen nichts zu schaffen hatte. Auf ihn können wir nicht zählen, er rettet seine Haut.

    Der Trupp hatte sie eingekreist. Es gab keine Chance zu entrinnen. Vera sah in die versteinerten Gesichter der uniformierten Männer und dann in die schreckensbleichen ihrer Kinder. Johann wirkte durch das Auftauchen der Soldaten wie gelähmt und apathisch.

    »Sie sind verhaftet. Mitkommen!«, bellte einer der Männer und packte Vera grob am Arm, zog sie unsanft mit sich, sodass sofort wieder ein fürchterliches Stechen durch ihr noch nicht ausgeheiltes Bein fuhr. Johann, Frida und Margarete erging es nicht besser. Auch sie wurden angetrieben wie widerspenstiges Vieh auf der Weide. Koller hatte Vera inzwischen aus dem Blick verloren, so sehr war sie damit beschäftigt, nach den kräftigen und unsanften Stößen des SS-Mannes in ihren Rücken nicht zu stürzen.

    Ihr Bein schmerzte mit jedem Schritt, den sie machte, mehr, während sie die Königstraße entlang über den Schlossplatz gestoßen wurden. Ein Fußmarsch, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam und sich wie ein nimmer enden wollendes Martyrium in die Länge zog. Die Menschen auf der Straße warfen ihnen hasserfüllte Blicke zu oder drehten sich weg. Einige spuckten demonstrativ auf den Boden. Andere blieben stehen, um sich das Spektakel näher anzuschauen. Manche johlten sogar vor Freude und jubelten. Nur Einzelne senkten den Blick und sahen betreten weg. Aber niemand machte Anstalten zu helfen. Sie waren Gefangene.

    Und dann ahnte sie, wohin sie mit gezielten Hieben und Tritten geführt wurden. Minuten später wurde daraus traurige Gewissheit. Sie erblickte das Gebäude. Der unbeschädigte Flügel des Hotel Silber ragte trotzig zwischen den Trümmerbergen auf.

    Dort würden sie sie hinbringen. Zur Endstation ihrer Reise.

    Einer der Männer neben ihr begann plötzlich zu brüllen. »Sofort stehen bleiben!«

    Sie war so auf ihre Schritte konzentriert und in Gedanken und Sorge um ihre Familie versunken gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass Koller sich abgesetzt hatte. Jetzt sah sie ihn in der Ferne rasch in den Trümmern des einstmals stolzen Neuen Schlosses verschwinden.

    Vera drehte den Kopf und sah, dass einer der SS-Männer seine Pistole aus dem Halfter an seiner Hüfte zog. Sie zuckte einen Moment zusammen, da der Lauf für einen Augenblick direkt in ihre Richtung gerichtet war. Dann schwenkte der Mann seine Waffe, und eine Kugel pfiff an ihr vorbei. Doch sie verfehlte ihr Ziel und schlug nicht in Kollers Rücken, sondern in die Reste der Steinmauern ein. Der SS-Mann schoss ihm noch zweimal hinterher. Veras Ohren schmerzten vom Lärm. Dann war der Flüchtende endgültig zwischen den Trümmern eines zerbombten Hauses verschwunden. Niemand setzte ihm nach. Er durfte ungehindert fliehen, während auch die letzten beiden Schüsse noch wirkungslos in der Luft verhallten.

    Spätestens jetzt wurde Vera schmerzhaft bewusst, dass sie einem Spitzel aufgesessen waren. Koller hatte sie verraten. Sie hatte mit ihrer Leichtgläubigkeit, mit ihrer Hoffnung nicht nur ihre ganze Familie in Gefahr gebracht, sondern sie womöglich alle dem Tode geweiht.

    Die Männer stießen sie weiter erbarmungslos und grob vor sich her, durch die Eingangshalle des altehrwürdigen Hotel Silber.

    Das eindrucksvolle Neorenaissancegebäude in unmittelbarer Nähe des Alten Waisenhauses lag in Sichtweite des Alten Schlosses und unweit des ausgebombten Neuen Schlosses und des komplett zerstörten Rathauses. Einen Hotelbetrieb gab es hier schon lange nicht mehr. Alle sechs Stockwerke hatte die Geheime Staatspolizei seit der Machtübernahme der Nazis für sich beansprucht. Hundertzwanzig Zimmer hatte das einstige Hotel den illustren Gästen aus aller Welt angeboten, hatte sie einmal in der Zeitung gelesen. Räume, in denen jetzt die Gestapo ihr Unwesen trieb.

    Dann wurde Vera von den Soldaten auf die Treppe Richtung Untergeschoss zugeschoben. Hinter sich hörte sie ihre Töchter weinen und ihren Mann keuchen. Aber sie konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Und sie gab sich die Schuld dafür, ihre Familie den Nazis ausgeliefert zu haben.

    Vier stählerne Zellentüren standen offen wie die Mäuler menschenfressender Fische. Jeder von ihnen wurde mit einem kräftigen Hieb durch eine davon gestoßen und dann verschluckt von einem kalten, nackten Raum, der auch den letzten Funken Hoffnung aufsaugte. Ein letzter Blick in die vor Angst aufgerissenen Augen, mehr Zeit war ihr nicht geblieben. Dann hatte sie mit ansehen müssen, wie die Körper ihres Mannes und ihrer Töchter verschwanden, die Türen krachend zugeschmissen und Schlüssel gedreht wurden. Die Tränen rannen ihr in Strömen über die Wangen, tropften lautlos auf ihre Kleider. Nun war sie an der Reihe.

    Vera landete in einer dunklen, kalten Verwahrzelle auf dem Boden, so grob hatte man sie hineingestoßen. Als sie sich aufrichtete, schmerzte ihr Knie, und als sie es mit der Hand betastete, spürte sie, dass sie sich die Haut aufgerissen hatte. Ihr gebrochenes Bein protestierte lautstark mit stechenden Schmerzen, die in Wellen durch ihren Körper fluteten.

    Das war sie also, die Endstation.

    Der Gedanke schmerzte noch mehr als alle Verletzungen, die ihr Körper davongetragen hatte. Aber so hatte sie sich wenigstens mit einem kurzen, tränenverschleierten Blick voller Liebe, Zuneigung, Schmerz und Trauer von ihrem Mann und ihren Töchtern verabschieden können. Woher die Gewissheit kam, konnte sie nicht sagen, aber sie wusste instinktiv, dass sie ihre Familie zum letzten Mal gesehen hatte. In der Ecke kauernd, schloss sie die Augen, sank an der rauen Wand zu Boden und heulte laut schluchzend.

    EINS

    Stuttgart, Mitte April 1945

    Wie eine Trutzburg ragte das herrschaftliche Anwesen an der Hasenbergsteige nahezu unversehrt in die Höhe. Starkes Mauerwerk mit Erkern und einem großen Balkon zum kiesbedeckten Hof mit seinen Bäumen und Sträuchern hin. Die Fenster waren noch weitgehend intakt, nur wenige bei den massiven Bombenangriffen zerborsten.

    Drum herum herrschte Verwüstung. Bomben der amerikanischen und britischen Luftwaffe hatten spätestens seit den großen Angriffen 1944 verheerende Krater in die noble Wohngegend gesprengt, teilweise ganze Häuser mit starken Mauern aus kräftigen Steinen waren in sich zusammengefallen, als wären sie aus Pappmaché. Wie fast überall in Stuttgart türmten sich die Trümmer inzwischen meterhoch.

    Es grenzt an ein Wunder, dass das Haus der Familie Jäger bisher verschont geblieben ist, dachte Paul Kramer, als er sich, geschützt durch die Schatten der Nacht, langsam und vorsichtig auf das einstmals prunkvolle Anwesen zubewegte. Er hielt sich in der Dunkelheit verborgen, achtete auf jede Bewegung, schob sich lautlos entlang der Mauern. Er durfte keinesfalls bemerkt werden. Wer durch die Nacht schlich, war automatisch verdächtig. Aber es war ein Gefühl, größer als die Angst, entdeckt zu werden, das ihn hierhergetrieben hatte: die Sehnsucht. Zu lange hatten sie sich nicht sehen können, seine Geliebte Hilde Jäger und er.

    Hilde und er waren schon länger ein Paar. Nur wusste es außer ihnen kaum jemand. Ihre Beziehung war geprägt von geheimen Treffen und der ständigen Angst, aufzufliegen und für die Liebe mit dem Leben bezahlen zu müssen. Zumindest für ihn war diese Gefahr ein latenter Begleiter.

    Paul kannte einen Weg durch den Zaun und das Gestrüpp und schlich lautlos zu der Stelle unterhalb Hildes Zimmer im ersten Stock. Es brannte kein Licht. Nachts mussten noch immer alle Fenster verdunkelt werden, um den Alliierten kein allzu bequemes Ziel zu liefern, wenn ihre Bomber von der Schwäbischen Alb oder dem Schwarzwald kommend über dem Talkessel der Stadt aufzogen, um ihre tödliche Fracht laut fauchend und heulend über der Stadt abzuwerfen. Paul sammelte eine Handvoll kleiner Kieselsteine, warf sie vorsichtig an die Scheibe, hinter der Hilde schlief, und hoffte inständig, dass sie allein war.

    In der Dunkelheit meinte er eine leichte Bewegung des Vorhangs wahrzunehmen. Aber es konnte genauso gut nur eine Spiegelung des Mondes gewesen sein. Paul wartete, unsicher, ob er sich vielleicht getäuscht hatte. Doch um diese Zeit war sie bestimmt noch wach und in eines ihrer vielen Bücher vertieft. Zwar durfte sie eigentlich nur solche von Autoren lesen, deren Werke nicht am 10. Mai 1933 verbrannt worden waren, darauf achtete ihr Vater mit Argusaugen. Aber sie hatte rechtzeitig auch im Deutschen Reich verbotene Literatur versteckt, in der sie heimlich schmökerte. Bei ihren inzwischen seltenen Treffen erzählte sie Paul davon. Daher wusste er auch, dass sie selbst schrieb. Kurze Geschichten in eleganter Prosa. Kleine, emotionale Miniaturen, die von Liebe in dunklen Zeiten erzählten, von Hoffnung auf etwas Licht am Ende eines langen, finsteren Tunnels. Ihre Gedanken in Worte zu fassen, gab ihr Kraft, die Tage zu überstehen, das spürte er immer, wenn sie ihm einen ihrer Texte vorlas oder ihn mit fein gewählten Worten skizzierte, wie ein Architekt ein Haus mit wenigen Strichen auf Papier erbauen konnte.

    »Und irgendwann, wenn dieser Wahnsinn einmal vorüber ist, werde ich etwas veröffentlichen. Vielleicht werde ich dann sogar Schriftstellerin. Oder zumindest Journalistin«, hatte sie ihm mit freudestrahlendem Gesicht einmal verkündet, als sie an einem lauen Abend durch den nahe gelegenen Wald gestreift waren. Er hatte nicht anders gekonnt, als ihren Optimismus zu bewundern. Aber wenn es jemand schaffte, dann sie, davon war er überzeugt.

    Der Weg dorthin würde allerdings lang, steinig und beschwerlich sein. Denn die Rolle der Frau war in den Köpfen der gesellschaftlichen Mehrheit eine andere. Sie sollte Kinder gebären und nach dem Haushalt schauen. Wer aus diesem Korsett ausbrechen wollte, war schon vor dem Krieg kritisch beäugt worden. Doch Paul wünschte ihr, dass sich dies nach dem Krieg endlich wenden und die Rolle der Frau nicht weiter auf das Heimchen am Herd reduziert werden würde.

    Es dauerte nicht lange, da sah er einen Schatten durch eine Seitentür im Souterrain schlüpfen. Hilde hatte nur einen dünnen Morgenmantel über ihr Nachthemd geworfen, und Paul sah im sanften Mondlicht die Konturen ihres schlanken Körpers durch den Stoff schimmern. Für einen kurzen Augenblick flammte Lust in ihm auf. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, dass sie allein gewesen waren. Er erinnerte sich an die leidenschaftlichen Küsse, die Wärme ihres Körpers, wie er mit seinen Fingern über ihre nackte Haut gestrichen hatte und die Welt um sie herum für einige kostbare Augenblicke vergessen gewesen war.

    Jetzt waren sie gezwungen, vorsichtig zu sein. Noch wachsamer als früher. Hildes Vater war ein unverbesserlicher Nazi, der wahrscheinlich noch immer unumstößlich an den vielfach proklamierten Endsieg der Deutschen glaubte. Und Paul war ein Deserteur. Wenn Hildes Vater sie zusammen entdecken würde …

    Doch die düsteren Gedanken verflogen für einen Moment, sobald Hilde ihre Arme um seine Hüfte schlang, ihm einen langen Kuss auf die Lippen drückte und dann ihren Kopf an seinen Hals legte. Die offenen dunkelblonden Haare kitzelten angenehm auf seiner Haut. Paul zog Hilde eng an sich und spürte, wie sie zitterte.

    »Dir ist kalt. Du musst wieder ins Haus, sonst wirst du noch krank«, flüsterte er ihr zu.

    Doch sie machte keinerlei Anstalten zu gehen. »Nein, ich möchte nur hier stehen. Mit dir. Dann wird mir ganz warm«, erwiderte sie leise nach einer Zeit, und ihre Worte fühlten sich mit einem Mal an wie ein knisterndes Feuer im Kamin.

    »Du weißt, das geht nicht. Jetzt nicht. Aber hoffentlich bald wieder, wenn dieser Irrsinn vorüber ist. Ich habe gehört, die Franzosen sind schon durch Freudenstadt und in Richtung Stuttgart unterwegs.«

    »Ja«, sagte sie zögernd, löste sich von ihm und nahm seine Hände in ihre. »Aber mein Vater behauptet, sie hätten die Stadt dem Erdboden gleichgemacht, die Männer erschossen und Frauen und Mädchen vergewaltigt. Und das würden sie auch mit uns tun, wenn sie erst in Stuttgart einfallen würden. Deshalb müssten alle Männer an die Waffen und für unsere Freiheit und den Sieg kämpfen, meint er und schimpft auf alle, die sich nicht für unser Vaterland und den Führer erheben, um den Feind aufzuhalten.«

    Paul Kramer sah sie fragend an. »Du weißt, dass das Quatsch ist. Nazi-Propaganda. Der Krieg ist längst verloren. Das weißt du. Wahrscheinlich war er es schon vor dem ersten Schuss.«

    »Ja, aber was, wenn er recht hat?«

    Paul hörte ein leichtes Beben in ihrer Stimme, das nach Angst klang. »Sag mir, was sie dann von uns unterscheidet? Nur, dass wir einmal ein zivilisiertes Volk aus Dichtern und Denkern waren. Es war Deutschland, das diesen grausamen Krieg begonnen, seine Nachbarn überfallen, Menschen verhaftet, gefoltert und in Lager gesteckt hat. Was ist mit den Juden passiert, die irgendwann einfach nicht mehr da waren? Mit den Kommunisten, Gewerkschaftern und Sozialdemokraten, mit allen, die sich für die fragile Demokratie der Weimarer Republik starkgemacht hatten, ein Teil dieser Ordnung waren, bevor Hitler die Macht an sich gerissen hat? Die haben sie alle längst ermordet, die Herren in ihren Uniformen mit den blitzenden Stiefeln.«

    Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, denn Paul war emotional und laut geworden. Lauter, als womöglich gut für sie war. Er ärgerte sich sofort über sich selbst und seinen Gefühlsausbruch.

    »Tut mir leid, aber ich kann manchmal nicht anders, wenn ich sehe, wie diese Bagage uns in den Abgrund gestürzt hat, mit ihrer Rassenideologie und dem Traum vom Endsieg und der Weltherrschaft …« Paul beendete seine Tirade mittendrin. Er sah ein, dass es der falsche Moment für politische Reden war. Zumal er Hildes Einstellung kannte. Sie hatte immer wieder Konflikte mit ihrem Vater ausgestanden, ihm die Stirn geboten, weil sie anders auf das Land und seine Menschen schaute, als es sein Weltbild erlaubte. Doch ihr Vater war einer der führenden Nazikader der Stadt, dagegen konnte sie wenig ausrichten.

    Manfred Jäger war als junger Bursche im Ersten Weltkrieg aus voller Überzeugung für den letzten deutschen Kaiser und sein Vaterland an die Front gezogen, wie er Paul schon beim ersten Aufeinandertreffen mit stolzgeschwellter Brust erklärt hatte. Und noch während Jäger geredet hatte, hatte er Paul und dessen Reaktion auf die Worte einem kritischen Blick unterzogen. Ganz so, als müsse Paul erst einen Gesinnungstest bestehen, ehe er mit Hilde ausgehen durfte.

    Bilder aus dieser Zeit, die Jäger als stolzen Soldaten in ordensgeschmückter Uniform zeigten, hingen denn auch an der Wand im Esszimmer. Dass der Sturz des Kaisers und dessen Flucht ins Exil nach vier Jahren Krieg den obrigkeitshörigen Untertanen in eine tiefe Krise getrieben hatten, hatte Jäger Paul gegenüber unerwähnt gelassen, doch Hilde hatte diese Information nachgereicht.

    Zwar hatte der württembergische König Wilhelm II. noch versucht, die Monarchie zu bewahren, den Lauf der Dinge jedoch nicht aufzuhalten vermocht. Seine Tage waren kurz darauf gezählt gewesen. Und für Männer wie Jäger war endgültig eine Welt zusammengebrochen, vermutete Paul. Nun musste er sich mit dem gemeinen Volk auseinandersetzen, zu dem in seinen Augen Menschen wie Paul Kramer gehörten, die sich in den von Jäger verhassten und seit 1933 verbotenen sozialdemokratischen Kreisen herumtrieben und überall nur Unruhe stifteten. Taugenichtse und Tagediebe, das waren sie in seinen Augen, wie Jäger immer wieder deutlich gemacht hatte.

    Die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik hatte Jäger von Anfang an abgelehnt. »Demokratie, das ist nichts für die Menschen. Die brauchen eine klare Führung, jemand, zu dem sie aufschauen können«, hatte er einmal gesagt. Aber mit geschickten Manövern und den richtigen Kontakten und Seilschaften war es ihm gelungen, die Irrungen und Wirrungen der Unruhen in den Jahren nach dem ersten großen Krieg für seinen raschen Aufstieg zu nutzen. Er bediente dabei die Emotionen, indem er hervorhob, worin er den Ursprung für das Leid sah. Schuld sei der Vertrag von Versailles, dessen Joch die Deutschen in seinen Augen nach dem ersten verlorenen Krieg von den Siegermächten gezwungen gewesen seien zu ertragen. Hunger, Arbeitslosigkeit und hohe Reparationszahlungen seien die Folgen gewesen.

    So saugte Manfred Jäger begierig das Gift auf und war bald zum laut krakeelenden Unterstützer der Bewegung des selbst ernannten Führers geworden.

    Hilde zitterte inzwischen heftiger. Sie zog Paul an der Hand Richtung der Tür, aus der sie gekommen war, und öffnete sie vorsichtig. Dahinter lag ein langer und dunkler Kellergang, der den typisch modrigen Geruch verströmte. Paul zog lautlos die Tür zu, und zusammen huschten sie so leise wie möglich nach oben. Anders, als er erwartet hatte, war die Familie Jäger heute noch nicht zu Bett gegangen. Meist schliefen sie um diese Zeit längst, weshalb Paul so lange gewartet hatte.

    Auf dem Treppenabsatz im Erdgeschoss hielt er kurz inne, verborgen hinter dem Geländer, und beobachtete den Hausherrn im Wohnzimmer. Manfred Jäger stand vor dem im Kamin lodernden Feuer, nahm immer wieder ein Buch aus dem Regal daneben und warf es mit

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