Tagung: Schluss mit Derrick! Deutschland im Spiegel der TV-Serie Universität Straßburg – Maison Interuniversitaire des Sciences de l’Homme Alsace (Frankreich) - 30. September - 1. Oktober 2021...
moreTagung: Schluss mit Derrick! Deutschland im Spiegel der TV-Serie
Universität Straßburg – Maison Interuniversitaire des Sciences de l’Homme Alsace (Frankreich) - 30. September - 1. Oktober 2021
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Die deutsche Netflix-Serie „Barbaren“ und die ARD-Familienserie „Lindenstraβe“ hätten nicht verschiedener sein können. „Barbaren“ spielt im Jahr 9 n. Ch., wird in mehreren Sprachen gesendet und erzählt von der sogenannten Varusschlacht – drei römische Legionen wurden im Teutoburger Wald in einen Hinterhalt gelockt und niedergemetzelt – einem Ereignis, das als ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte bezeichnet wird. Bei der Varusschlacht sei im Kampf gegen Rom die deutsche Nation geboren worden, wie später mythisch verklärt wurde. „Lindenstraβe“, die 2020 nach 35 Jahren eingestellt wurde, spielte in der Gegenwart, thematisierte die deutsche Alltagswelt und Problemfelder, die wegen ihrer gesellschaftlichen Relevanz in Deutschland in der öffentlichen Diskussion standen: Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, um nur einige Beispiele zu nennen.
In diesem Beitrag wird gezeigt, dass beide Serien als Fiktionen mit hohem Nachrichtenwert besonders geeignet dafür sind, identitätsstiftende Diskurse mit Deutschlandbezug zu konstruieren, in denen Medien ihre Wirkung entfalten. Somit wird die Serienforschung (Dellwing 2017) mit der Diskurstheorie (Karis 2010) und der Nachrichtenwert-Theorie (Kepplinger 1998) in Verbindung gebracht. In diesem Beitrag wird behauptet, dass die identitätsstiftende Funktion (Hicketier 2012) in der „Zwischenzeit“, in der Zeit zwischen den Diskontinuitäten, den Einzelkomponenten der Gesamtstruktur einer Serie, aus denen sich die Kontinuität der erzählten Geschichte ergibt, erfüllt wird. Dadurch, dass der Abschluss einer Serie in Schwebe gehalten wird, um die Möglichkeit von Fortsetzung zu garantieren, wird den Zuschauern Zeit für den Rezeptionsprozess verschafft: nicht nur wird gespannt auf die nächste Folge gewartet, sondern auch jede Folge nach einem bestimmten Rhythmus verarbeitet. Aus diesen Diskontinuitäten seriellen Erzählens entstehen thematische sich bis zur nächsten Folge erstreckende Aushandlungsräume, in denen kulturelle Identitätsstiftung betrieben wird. Es entsteht eine „Zwischenzeit“, in der eine Steigerung des Intensitätsgrades der seriellen Kontinuität dadurch bewerkstelligt wird, dass die Medien die Diskussion um die Problemfelder, die die fiktive Welt der Serien darstellt, in der Öffentlichkeit fortsetzen und vorantreiben. Der fragwürdige Nationalismus von „Barbaren“ wird in der deutschen Presse mit Bezug auf neonazistische Zuschauer thematisiert, wenn über das Thema der Serie berichtet wird. „Lindenstraβe“ sorgte dagegen für Tabubrüche im Vorabendprogramm, die in der Presse thematisiert wurden. 1990 wurde zum Beispiel zum ersten Mal der Kuss zwei schwuler Männer gezeigt. Auch Figuren wie Alt-Nazi Franz Wittich, Mutter Beimers Onkel Franz, sorgten für brisante Themen. Wittichs rechtsradikale Gesinnung äußerte sich durch Intrigen gegen die griechische Familie Sarikakis und deren Restaurant. Diese Beispiele zeigen, dass Fiktion in seriellem Erzählen durchaus Nachrichtenwert haben kann, nicht zuletzt weil sie das reflektierende Probehandeln im Rezeptionsprozess in die „Zwischenzeit“ verlagert. Durch das gedankliche Durchspielen werden kognitiv Handlungen vollzogen, die sich nicht unmittelbar auf das Leben, sondern auf die Wissensstrukturen der Zuschauer auswirken: Berichten die Medien darüber, dass im Vorabendprogramm der Kuss zwei schwuler Männer gezeigt wurde, so wird nicht nur darüber spekuliert, wie die Serie das Thema fortsetzen wird, sondern auch eine Debatte über homosexuelle Liebe in der Öffentlichkeit ausgelöst. Das fiktive Ereignis macht möglich, dass über die Realität eines Problemfeldes kollektiv nachgedacht wird. Dies trägt zur kulturellen Identitätsstiftung bei. Dieser Beitrag untersucht, wie durch den Nachrichtenwert von Fiktion die Konstruktion identitätsstiftender Diskurse mit Deutschlandbezug medial ausgehandelt wird.
Literaturangaben
Dellwing, Michael: Kult(ur)serien: Produktion, Inhalt und Publikum im looking-glass television, Wiesbaden, 2017.
Hicketier, Knut: Populäre Fernsehserien zwischen nationaler und globaler Identitätsstiftung. In: Frank Kelleter (Hrsg.), Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld, 2012, S. 321 – 338.
Karis, Tim: Foucault, Luhmann und die Macht der Massenmedien. In: Achim Landwehr (Hrsg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden, 2010, S. 237 – 251.
Kepplinger, Hans Mathias: Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren. In: Christina Holtz-Bacha, Helmut Scherer, Norbert Waldmann (Hrsg.), Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, Wiesbaden, 1998, S. 19 – 38.