Natasha Gordinsky
Lea Goldberg (1911–1970): Essay,
Übersetzung und Sonett als Formen
literaturwissenschaftlicher Reflexion
Das Werk der 1911 in Königsberg geborenen und in Litauen aufgewachsenen Lea
Goldberg verbindet dichterische Praxis, literaturwissenschaftliche Reflexion und
literarische Übersetzungen mit publizistischen Interventionen im öffentlichen
Raum des Jischuv und Israels. In diesem vielfältigen Œuvre nahm die Form des
Essays eine zentrale Rolle ein.1 Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: Der Essay verband in seiner Ausgestaltung durch die spätere Leiterin der Abteilung für Allgemeine Literaturwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem nicht
nur wissenschaftliche Erkenntnissuche und sprachlich-künstlerische Gestalt,
sondern vergegenständlichte auch ihr Bemühen, die humanistische Tradition Europas mit der hebräischen Sprache zu verschmelzen. Denn seit Michel de Montaigne seine Reflexionen mit dem Titel Essais (1580), dem französischen Wort für
„Versuch“ ausgestattet hat, gilt diese Form nicht nur als Verbindung wissenschaftlichen und künstlerischen Schreibens, sondern auch als Ausdruck eines
humanistischen Geschichtsdenkens.
Lea Goldberg war sich dieser Formgeschichte genau bewusst, als sie am
30. April 1945 im Jischuv einen hebräischsprachigen Essay mit dem Titel „Euer
Europa“ veröffentlichte. Die dort enthaltene Antwort auf die Frage, was für
„uns“ – und von diesem kollektiven Textsubjekt wird im Folgenden noch die
Rede sein – Europa gewesen sei, lautete: „Dante, Giotto und Michelangelo. Goethe und Flaubert und Mozart und Stendal, und Verlaine, Rilke und Rodin, Cézanne und Strawinsky, und James Joyce“ (Goldberg 1945). Europa besteht in
der Logik dieses Essays aus der Kultur des Humanismus, der Aufklärung und
der Moderne. Diese Bilanz ist angesichts des Zivilisationsbruchs, der am Erscheinungsdatum des Essays der Welt vor Augen stand, alles andere als Zufall,
bedarf jedoch der Kommentierung.
Die Sprachen und Kulturen Europas nahmen in der intellektuellen Biographie Lea Goldbergs schon früh eine zentrale Rolle ein. Die Autorin hatte das
Die Hinweise zu Leben und Werk im ersten Teil dieses Aufsatzes stützen sich auf meine bisherigen Veröffentlichungen zum Werk Lea Goldbergs, insbesondere auf meine in der Schriftenreihe des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur erschienene Studie
„Ein elend-schönes Land“: Gattung und Gedächtnis in Lea Goldbergs hebräischer Literatur, die
von Rainer Wenzel aus dem Hebräischen übersetzt wurde und 2019 in Göttingen erschien.
Open Access. © 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizenziert
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https://doi.org/10.1515/9783110708110-004
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Hebräische Gymnasium in Kaunas besucht, wo sie neben Deutsch und Französisch auch Latein und Litauisch gelernt hatte. Seit sie neun Jahre alte war,
lernte und schrieb sie auch auf Hebräisch. Nach dem Schlussabschluss begann
Goldberg ein Studium an der Universität Kaunas, das sie erst in Berlin und
dann an der Universität Bonn am Orientalischen Seminar fortsetzte, wo sie im
Jahre 1933 mit einer Arbeit über die Tora-Übersetzung der Samaritaner promoviert wurde.2
Der genannte Essay „Euer Europa“ erschien, wie bereits erwähnt, am 30.
April 1945. Der Text bündelt indes Überlegungen der Dichterin, die bereits ab
der Mitte der 1930er Jahre und während des Zweiten Weltkriegs dokumentiert
sind. Goldbergs Theorie und Praxis des Essays als Form ist eng verbunden mit
ihrem Nachdenken über Friedrich Schillers ästhetische Erziehung. Sie hat diese
Reflexion in ihrer kulturellen Praxis umzusetzen gesucht. Dies geht sowohl aus
ihren ästhetischen wie politischen Schriften hervor. Eine zentrale Rolle nimmt
dabei Goldbergs Übersetzung der Briefe von Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis ein. Vor diesem Horizont werden die Stationen in Goldbergs intellektueller
Biographie in der Nachkriegszeit erkennbar.
1 Versuche
Lea Goldbergs Karriere als Literaturwissenschaftlerin etablierte sich institutionell ab Mitte der 1950er Jahre. 1945 hatte sie zunächst eine befristete Stelle an
der Abteilung für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem erhalten, wo bis zu diesem Zeitpunkt ihr enger Freund Ludwig
Strauss tätig gewesen war. Der Essay als literaturwissenschaftliche Form war
zu diesem Zeitpunkt bereits fester Bestandteil der Schreibpraxis der Autorin.
Goldbergs erste literaturwissenschaftliche Essays entstehen zwanzig Jahre
bevor sie Dozentin wird. Erst sehr viel später sollte sie zur Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem
ernannt werden.
Ein Klärungsversuch, warum in ihrem Schreiben der Essay so zentral wurde,
kann sich auf Adornos programmatischen Nachkriegs-Aufsatz „Der Essay als
Form“ stützen. Für Adorno war im nicht-systematischen Denken des Essays so-
Die Angaben zur intellektuellen Biographie stützen sich auf die Studie Lea Goldberg: Lehrjahre in Deutschland 1931–1933 von Yfaat Weiss (2011), die als erste diese transformativen
Jahre in Goldbergs Vita untersucht hat.
Lea Goldberg (1911–1970)
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wohl die Abwehr gegen das Fetischisieren der Begriffe enthalten, wie auch die
Reflexion über die Rolle des Subjekts in der sprachlichen Darstellung:
Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und
ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durch
diese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß
entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins.
(Adorno 2003 [1958], 12)
Theorie und Begriffe können im Essay in einer anderen Weise erkundet werden
als in sonstigen Formen. Diese epistemische Kontur des Essays war für Goldberg
ausschlaggebend für ihre Versuche, ihre Gegenstände zu begreifen. In ihrer
Deutung des berühmten Textes von Adorno hat die Germanistin Katja Garloff
darauf verwiesen, dass die metaphorische Sprache, die Adorno nutzt, um das
Vorgehen des Essays zu beschreiben, mit seiner eigenen Exilerfahrung als
deutsch-jüdischer Denker tief verbunden ist. Dabei argumentiert sie wie folgt:
„This link between the uprooted Jew and the essay indicates that Adorno transposes his philosophical valorization of diaspora onto the very form of the essay“
(Garloff 2002, 82). Man könnte im Anschluss formulieren, dass der Essay für
Adorno eine diasporische Gattung ist. Vor diesem Horizont berühren sich die Reflexion von Adorno und Goldbergs essayistischer Praxis. Der Essay als Form ermöglichte auch Goldberg die Konstituierung eines essayistischen Selbst, in dem
ihre Geschichtserfahrung aufgehoben war. Die ausgehend von Garloff beschreibbare diasporische Dimension des Essays ist in Adornos Reflexionen explizit zu
finden:
Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten vergleichbar dem Verhalten
von einem, der in fremdem Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt
schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen. Hat
er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang, dreißigmal erblickt, so hat er
seines Sinnes besser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und
zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen
Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtum exportiert bleibt, so auch der Essay als
Form; für seine Affinität zur offenen geistigen Erfahrung hat er mit dem Mangel an jener
Sicherheit zu zahlen, welchen die Norm des etablierten Denkens wie den Tod fürchtet.
(Adorno [1958], 21)
Das essayistische Schreiben von Goldberg auf Hebräisch, in einer für sie fremden Sprache, ist als ihr diasporischer Raum zu verstehen, in dem sie das essayistische Textsubjekt in einer Vielfalt von Kulturerfahrungen situieren konnte.
Diese Subjektkonstitution erlaubte zugleich eine Suche nach dem damit ver-
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bundenen kulturellen Gedächtnis, die sich im Prozess des Schreibens vollzieht.
Das Textsubjekt in Goldbergs Essay emergiert aus dem Verhandeln der eigenen
Erfahrung als Dichterin und deren Deutung in Sprache.
Im September 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, veröffentlichte Goldberg in einer hebräischsprachigen Zeitung einen Essay mit dem Titel „Zum selben Thema“, der viel Aufmerksamkeit auf sich zog, da sie hier zum ersten Mal
ihre Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Krieg offenlegte. In diesem Essay
argumentiert Goldberg gegen Kriegsdarstellungen in der Dichtung. Da der Krieg
keinerlei Legitimation habe, dürfe er auch nicht zum ästhetischen Objekt werden: „In Schreckenszeiten haben Dichter nicht nur das Recht, über Natur, über
blühende Bäume und lachende Kinder zu schreiben. Es ist vielmehr ihre Pflicht“
(Goldberg 1939). Dieser explizite Widerspruch zu Bertolt Brechts Gedicht „An die
Nachgeborenen“, das am 15. Juni 1939 in der Pariser Zeitschrift Die neue Weltbühne veröffentlicht wurde (Verse 6–8 von Brechts Gedicht lauten „Was sind
das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es
ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ [Brecht 1939]), ist indes kein
ästhetischer Eskapismus, sondern vehementer Ausdruck von Goldbergs Überzeugung, dass Dichtung der Bewahrung universeller humanistischer Werte zu dienen habe.
Hinzu kommt Goldbergs tiefe Überzeugung, dass Dichtung für die ästhetische Erziehung wesentlich sei. Der Essay ist auch als ein Versuch zu lesen,
Schillers Programmatik in die entstehende säkulare hebräische Kultur zu integrieren. Goldberg war erst dreizehn Jahre alt, als sie die Abhandlung „Über die
ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 zum ersten Mal las. In ihren
Briefen an eine Freundin berichtet sie davon, wie sehr sie der Text begeistert
habe (Weiss und Ticotsky 2009, 24). Seit dem 19. Jahrhundert hatte Schiller
einen besonderen Platz in der jüdischen Kultur des östlichen Europas. Seine
Schriften waren zentraler Bestandteil der jüdischen kulturellen Agenda, wie
Andreas Kilcher gezeigt hat (Kilcher 2007). Für viele europäische Jüdinnen und
Juden war der deutsche Dichter Symbol einer humanistischen Moderne, die das
Versprechen enthielt, dass das Judentum einen gleichberechtigten Ort in der
europäischen Kultur haben werde.
Seit dem Ende der 1930er Jahre waren Schillers Überlegungen zur Autonomie
der Kunst wesentlich für Goldberg. Sie sah in der Bewahrung künstlerischer Unabhängigkeit eine der wichtigsten Aufgaben ihrer Zeit. Ihre publizistische Tätigkeit hatte kein geringeres Ziel, als diese universellen Werte der Kunst für die
hebräische Literatur zu präzisieren und an ihre Leserinnen und Leser weiterzugeben. Eine Woche nach den Novemberpogromen bekräftigte sie ihre Überzeugung
mit den folgenden Worten: „Die letzten Felder der geistigen Welt, wir werden
euch nicht verlassen, wir werden euch nicht verraten“ (Goldberg 1938).
Lea Goldberg (1911–1970)
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Bis auf eine Ausnahme sollte Goldberg bei ihrem Entschluss bleiben, keine
Kriegsgedichte zu verfassen. Doch je weiter sich der Krieg nach Osten ausbreitete, umso schwerer fiel es ihr, überhaupt Gedichte zu verfassen. Angesichts
der sich mehrenden Nachrichten über die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, die ab November 1943 den Jischuv erreichten, hatte Goldberg
nur einzelne Gedichte geschrieben, fast alle davon bezogen sich stark auf die
liturgische Tradition der Kina, des Klagelieds. Goldberg bemühte sich dennoch,
ihrem Glauben an die Maxime der ästhetischen Erziehung treu zu bleiben. Ihre
ab dieser Zeit vermehrte Übersetzungsarbeit literarischer Werke, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder, ist vor diesem Horizont zu verstehen.
2 Briefe aus dem Gefängnis
1942 übersetzte Lea Goldberg Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis aus
dem Deutschen ins Hebräische. Auf den ersten Blick erscheint die Beziehung
zwischen der hebräischsprachigen Dichterin und der polnischen Revolutionärin jüdischer Herkunft überraschend. Doch beim Lesen der Briefe, die Rosa Luxemburg an ihre enge Freundin Sophie Liebknecht von 1916 bis 1918 schrieb,
und angesichts von Lea Goldbergs Überzeugung einer ethischen Aufgabe der
Literatur während des Zweiten Weltkriegs, wird offenbar, dass diese Entscheidung ganz bewusst getroffen wurde. Die Übersetzung der Briefe aus dem Gefängnis hatte für Lea Goldberg eine doppelte Funktion: Zunächst wollte sie
ihren hebräischsprachigen Lesern eine andere Seite Rosa Luxemburgs zeigen
als die der politischen Kämpferin und Denkerin. Darüber hinaus sollten die
Briefe Goldbergs eigene Position stärken, als gleichsam historischer Beleg dafür,
dass ihre Entscheidung, keine Kriegsgedichte zu schreiben, sich auf andere Fürsprecherinnen stützen konnte.
Nahezu dreißig Jahre trennen Rosa Luxemburg und Lea Goldberg. Ihre Biographien nahmen völlig unterschiedliche Wege. Doch die beiden Frauen teilten
eine Bildungsgeschichte, wie sie auch viele andere gebildete jüdische Frauen im
östlichen Europa erlebt hatten. Sowohl Goldberg als auch Luxemburg stammten
aus säkularen Familien; sie besuchten das Gymnasium, eigneten sich bereits
in jungem Alter mehrere Fremdsprachen an und absolvierten ihr Doktorat im
Ausland. Beide fanden ihr geistiges Zuhause in der russischen Literatur, entwickelten jedoch auch eine besondere Sensibilität für die deutsche Kultur und
Sprache. Sie verließen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, im Alter von
27 (Luxemburg) bzw. 24 Jahren (Goldberg) ihr Heimatland und verfassten ihre
Schriften nicht in ihrer Muttersprache. Mehr als alles andere verband sie der
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Glaube an universale, humanistische Werte. Diese Überzeugung war in einem
Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung begründet, welches sie veranlasste,
sich – jede auf ihre Weise – dafür einzusetzen, die Notwendigkeit dieser Werte
anerkannt und realisiert zu sehen. So dürften Luxemburgs intellektueller Hintergrund und ihre humanistische Einstellung bei Goldberg den Eindruck geweckt haben, eine Schicksalsgefährtin gefunden zu haben.
Ariel Hirschfeld hat Goldbergs Naturdarstellung mit Schillers Kategorien
der naiven und sentimentalischen Dichtung gedeutet und dabei gezeigt, wie
konsequent die naive Dichtung in Goldbergs Werk bewahrt wurde (Hirschfeld
2000, 136). Zwei Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat sie in
ihrem Tagebuch festgehalten: „Ich brauche Gärten, Wälder, Flüsse. All das,
was es hier nicht gibt. Und absolute Ruhe. All das, was es hier nicht geben wird.“3
Dies erinnert an das Gärtchen, das sich Rosa Luxemburg im Gefängnis in Wronke
anlegen konnte, und mit dessen Beschreibung sie einen ihrer berühmtesten und
schönsten Briefe eröffnet. Luxemburg schrieb den Brief Ende Mai 1917:
Ich sitze nun versteckt zwischen grünen Sträuchern. Rechts von mir die gelbe Zierjohannisbeere, die nach Gewürznelken duftet, links ein Ligusterstrauch, über mir reichen ein
Spitzahorn und ein junger, schlanker Kastanienbaum einander ihre breiten, grünen
Hände, und vor mir rauscht langsam mit ihren weißen Blättern die große, ernste und
milde Silberpappel.4
Die Dichterin hat diese Zeilen ins Hebräische übersetzt. Das Feingefühl Rosa Luxemburgs für die Tier- und Pflanzenwelt muss ihr wie eine Bestätigung ihrer eigenen Sehnsucht nach einem Rückzug in die Natur erschienen sein. Goldberg
hat Luxemburgs Briefe wie Naturgedichte gelesen und war bestrebt, diese Eigenart ins Hebräische zu übertragen, um den Bestand an Metaphern und Bildern aus
der „Sprache der Natur“ in der hebräischen Kultur zu erweitern. Hinzu kommt,
dass Luxemburgs Texte nicht für eine Veröffentlichung bestimmt waren, sondern
in einem viel intimeren Rahmen entstanden sind. Das Schreiben der Briefe war
für Luxemburg ästhetischer Modus der Selbstversicherung in existentiell bedrohlichen Zeiten.
Lea Goldberg muss Ende 1941 mit der Übersetzung der Briefe von Rosa Luxemburg begonnen haben. Dies lässt vermuten, dass Goldberg in den Briefen
von Luxemburg Dokument und Beleg ihrer eigenen Überzeugung gefunden hat,
dass die Dichtung gerade in Zeiten tiefer Krisen nur sich selbst, nicht der Außenwelt, verpflichtet war. Ein Tagebucheintrag von ihr aus dem Sommer 1942 erin-
Tagebucheintrag vom 27. Juli 1939 (Goldberg 2005, 261).
Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht (Luxemburg 1986, Bd. V, 249) (hier auf den 3. Juni
1917, in den Briefen aus dem Gefängnis auf Ende Mai datiert).
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nert an einen Aufenthalt im „Haus Alisa“ auf dem Carmel-Berg in der Nähe von
Haifa:
Hier – ein grüner Berg, Piniengeruch. [...] Kleine Vögel auf den Bäumen, friedliche Stille. Nur
wenn ich mich abends schlafen lege, kommt der Alptraum des Krieges hoch. Gestern Nachmittag saß ich im Sessel auf der Terrasse, hinter mir das dunkle Grün des Johannisbrotbaums
und ein tiefblaues Meer. Zwischen Johannisbrotbaum und Pinie, über der weißen Geraniumblüte, hing ein silberner Streifen, den ich stundenlang betrachten konnte. Ich nickte
ein. Immer wenn ich meine Augen öffnete, flogen Vögel vorbei... Wahrscheinlich Bülbüls.
N i e z u v o r h a b e i c h N a t u r, d i e l e b t u n d b l ü h t, s o e m p f u n d e n.5
3 Die humanistische Tradition Europas
und die hebräische Literatur
Nach dem Ende des Krieges begann Lea Goldberg wieder vermehrt lyrische
Texte zu schreiben. Die während der Kriegsjahre intensivierte Reflexion des humanistischen Erbes Europas beschäftige sie jedoch weiterhin. Ende März des
Jahres 1948, also weniger als zwei Monate vor der Gründung des Staates Israel,
veröffentlichte Goldberg einen Essay, der drei deutschsprachige Romane: Thomas Manns Dr. Faustus, Hermann Hesses Das Glasperlenspiel und Hermann
Brochs Der Tod des Vergil in den Blick nimmt. In keinem anderen Essay Goldbergs aus der Nachkriegszeit findet sich ein vergleichbarer Versuch einer Zwischenbilanz deutscher Literatur. Die Entscheidung, sich in diesem historischen
Moment, kurz vor der Staatsgründung Israels, der deutschen Literatur in hebräischer Sprache zuzuwenden, war alles andere als selbstverständlich. Im
Zentrum des Essays „Sefarim ahronim“ („Die letzten Bücher“) steht die für
Goldberg existenzielle Frage nach der politischen und ethischen Verantwortung in der Literatur und der Kunst allgemein nach dem Zivilisationsbruch.
Doch für die innere Logik von Goldbergs intellektuellen Interessen ist ihre Entscheidung, in diesem historischen Moment ausgerechnet deutschsprachige Romane zu diskutieren, durchaus konsequent. Wie sie gleich am Anfang ihres
Essays vertritt, ist es vor allem den Schriftstellern im Exil zu verdanken, Zeugnis von der Zerstörung der deutschen Kultur abgelegt zu haben. So ist der
Essay eben jenen gewidmet, „deren Volk und Kultur sie aus ihrem Land vertrieben und entwurzelt haben“ (Goldberg 1977, 291). In diesem Sinne bezeichnet
Goldberg die Romane Brochs, Hesses und Manns als Werke, die jene im letzten
Augenblick, „an der Grenze zum Leben“, als eine Art Bekenntnis geschrieben
Tagebucheintrag vom 11. September 1942 (Goldberg 2005, 279 [meine Hervorhebung, N.G.]).
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haben, um die „Wand der Zeit“ zu durchbrechen und „durch den Riss einen
Blick in die Zukunft zu werfen“ (Goldberg 1977, 291).
Die drei Schriftsteller waren gezwungen, aus der Ferne auf die europäische
Kultur zu blicken. Es sei also kein Zufall, so Goldberg, dass in diesen drei sehr
unterschiedlichen Romanen der Protagonist ein Künstler sei, da die Reflexion
der ethischen Aufgabe der Kunst zu dessen zentralen Aufgaben gehöre. Für Goldberg sollte sich Brochs Tod des Vergil als die wichtigste literarische Entdeckung
Ende der 1940er Jahre erweisen. Insbesondere die im Roman enthaltenen philosophischen Überlegungen zum Zusammenbruch der Europäischen Kultur – die
Goldberg mit den Worten Alexander Blocks als „Zerstörung des Humanismus“
(Goldberg 1977, 298) bezeichnete – waren ihr so wichtig, dass anzunehmen ist,
dass die Lektüre von Brochs Roman ein wichtiger Impuls für Goldbergs Hinwendung zu den klassischen Texten des europäischen Humanismus gewesen ist.
Einige Jahre später, im Alter von 40 Jahren, hatte Lea Goldberg begonnen
Italienisch zu lernen, um Petrarca und Dante im Original lesen zu können. Mit
Beginn ihrer Lehrtätigkeit an der Hebräischen Universität Jerusalem im Jahr
1954 hatte Goldberg eine Vorlesungsreihe und Seminare über Dantes La Divina
Commedia und das Werk Petrarcas konzipiert, die sie zu dieser Zeit schon flüssig auf Italienisch lesen konnte. Ihre ehemaligen Studierenden berichten von
hunderten Besucherinnen und Besuchern dieser Vorlesungen und Seminare.
Im gleichen Jahr erschien ihre philologische Einführung zu Petrarca, in der sich
folgende Formulierung finden lässt:
Das Geheimnis des Verhältnisses zur römischen Antike war nicht bloß formal oder ästhetisch, sondern bestand in der Suche nach einem neuen Lebensweg, nach der Erschaffung
einer neuen säkularen Gesellschaft, und nach neuen Zusammenhängen zwischen dem Individuum und der Nation. Im Gegensatz zur scholastischen Wissenschaft des Mittelalters,
entdeckten die Menschen der Renaissance in der lateinischen Kultur eine Quelle ihrer
neuen Ethik, für das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft. Sie haben einen
neuen Gegenstand gefunden und dies waren die Studii Humaniora, die Wissenschaften
vom Menschen, ein Begriff, aus dem sich später das Konzept des Humanismus entfalten
sollte.
(Goldberg 1977, 298)
Zur gleichen Zeit übersetzte Goldberg eine Reihe von Petrarcas Sonetten – dies
sind die ersten Übersetzungen des Autors ins Hebräische. Der israelische Literaturkritiker und Übersetzer Shimon Sandbank hat herausgearbeitet, wie markant Goldbergs Petrarca-Übersetzungen ihre eigene Dichtung beeinflusst haben
(Sandbank 1975). Dies manifestierte sich auch in der Übernahme der Form des
petrarkischen Sonetts in ihre eigene Dichtung. Goldberg war die erste Dichterin, welche die Form des Sonetts in der modernen hebräischen Lyrik kultiviert
und sogar eine eigene Variation des Sonetts entwickelt hat. Insgesamt verfasste
sie mehr als hundert Sonette, davon zirka vierzig petrarkische Sonette. Ihr in
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diesem Zusammenhang entstandener Gedichtzyklus Teresa de Meun über eine
fiktive historische Protagonistin war für Goldberg von zentraler Bedeutung.
Im Kontext des Bandes sind die biographischen Daten der Hauptfigur wie
folgt benannt:
Teresa de Meun war eine Frau aus dem französischen Adel, die Ende des 16. Jahrhunderts
in der Umgebung von Avignon, in der Provence ansässig war. Im Alter von etwa 40 Jahren verliebte sie sich in einen jungen Italiener, den Hauslehrer ihrer Söhne, und widmete
ihm 41 Sonette. Nachdem der junge Italiener ihr Haus verlassen hatte, verbrannte sie all
ihre Gedichte und zog sich in ein Kloster zurück. Ihre Gedichte blieben nur wie eine Legende im Gedächtnis ihrer Generation erhalten.
(Goldberg 2001, 156)
Eines der Sonette lautet:
Oh nein, nein blind hat sie mich nicht,
die Liebe. Bei Verstand die Augen offen,
taghell, mit nichts als Klarsicht angetroffen
so gleißt jetzt alles hier von mir im Licht.
Aus einem unfruchtbaren Truggesicht
weists täglich mich wenn ich erwache
Enttäuscht zum Morgen, hoffnungslos zum Bache
Zum Borne des Wissens, der nur Bitteres spricht.
Die Sehkraft des Verstands wird nie besiegt,
auf wüstem Land kein Halm, der sich schwer biegt,
vor Erntesegen, ich weiß ja!
Ha, du alles Lebens Mutter sei bekriegt,
der Lebensbaum uns macht eins verliebt,
und deine Wissensfrucht war Gift, Chawa!6
Während sich bei Petrarca ein männliches lyrisches Ich an ein weibliches Du
wendet, findet sich in Goldbergs Sonett ein weibliches lyrisches Ich, das sich an
ein männliches lyrisches Du wendet. Die fiktive historische Figur steht zum
einen für die Übertragung vom Italienischen ins Hebräische und zum anderen
für den Wandel vom weiblichen Objekt in Petrarcas Lyrik zum Subjekt bei
Goldberg. Zugleich veranschaulicht das hier zitierte Sonett, wie dieser Zyklus
zwei literarische Traditionen verbindet, wenn biblische und Bilder der Renaissancedichtung zusammengeführt werden. Im Zentrum dieses Gedichts steht
eine Reflexion über die Entstehung des Liebesdiskurses. Das lyrische Ich stellt
seine eigene Liebegeschichte als Kampf zwischen Verstand und Gefühlen dar,
Übersetzt von Gundula Schiffer. Die Übersetzung ist nicht publiziert, Gundula Schiffer hat
es mir genehmigt, sie zu benutzen.
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in dem ersterer nie besiegt werden kann. Die Fähigkeit zu lieben war das Geschenk des Lebensbaums Eden an die Menschheit, dem Chawa zu verdanken
sei. Dieses Gedicht aus dem Zyklus um Theresa De Meun deutet so auch eine der
wichtigsten Stellen in „Sefer Bereshit“. Chawa (= Eva) ist Trägerin von Wissen und
Vernunft. Chawa wird ausdrücklich nicht als Sünderin im biblischen Sinne dargestellt, sondern sie erscheint als intellektuelle Figur, der die Konstituierung des
Liebesdiskurses Wissen überhaupt erst ermöglicht.
Erst nach einer langen Phase der Beschäftigung mit der Epoche der Renaissance begannen Goldbergs slawistische Forschungen. Zu diesem Zeitpunkt war
die Wissenschaftlerin bereits Anfang fünfzig. Auch wenn Goldbergs Muttersprache Russisch war, war sie keine ausgebildete Slawistin. Sie hatte zwar einige Semester die Geschichte der russischen Literatur an der Universität Kaunas studiert,
doch sie musste sich den russischen Kanon aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erst erschließen. Die slawistischen Arbeiten sind entsprechend nicht als
Ausdruck eines sentimentalen Rückblicks auf die Welt ihrer Kindheit zu verstehen. Lea Goldberg schrieb vielmehr aus komparatistischer Perspektive über die
russische Literatur in hebräischer Sprache, aus der Sicht einer anderen Kultur.
Nur aus dieser Perspektive vermochte Goldberg überhaupt sich mit der russischen
Literatur zu beschäftigen. Dies erinnert an einen Hinweis der Komparatistin Svetlana Boym:
Some things could be only written in a foreign language; they are not lost in translation,
but conceived by it. Foreign verbs of motion could be the only ways of transporting the
ashes of familiar memory. After all, a foreign language it is like art – an alternative reality, a potential world.
(Boym 1998, 260)
Um sich der russischen Kultur- und Literaturgeschichte zuwenden zu können,
war die hebräische Sprache wesentlich für Goldberg, im Sinne einer Erweiterung ihres literarischen Horizonts, aber auch als Etablierung eines neuen Gedächtnisraums. In den 1960er Jahren wuchs im neu gegründeten Staat Israel
eine Generation auf, die Hebräisch als erste Sprache lernte und die nicht mehr
Russisch im Original lesen konnte. Es war ihr ein Anliegen, dieser Generation
die russische Literatur als Teil der Weltliteratur zu vermitteln.
Seit dem Ende der dreißiger Jahre hatte Goldberg in ihrem publizistischen
Werk kontinuierlich Texte der russischen Literatur besprochen, neben Werken
der deutschen, französischen und amerikanischen Literatur. Doch nur wenige
Aufsätze in den unterschiedlichen hebräischsprachigen Zeitungen waren der
russischen Poesie gewidmet. Angesichts des Umstands, dass Goldberg der
Dichtung in ihrer Muttersprache besonders nah stand, scheint dies kein bloßer
Zufall zu sein. Als sie im Jahr 1954 die Prosa von Marina Zwetajewa gelesen
hatte, findet sich in ihrem Tagebuch die folgende Anmerkung:
Lea Goldberg (1911–1970)
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Ich habe mir Zwetajewas Prosa gekauft. Ich lese sie mit dem größten Vergnügen. Überall
wo es etwas über die russische Literatur in der Zeit des Symbolismus gibt, bin ich wie in
einer Falle, ich bin gespannt, ich kann es nicht weglegen. Trotz allem scheinen dies die
Zeit und die Sprache und die Protagonisten für mich zu sein, entgegen meinem eigenen
Willen, das ist meine geistige Heimat. Nur durch Zufall bin ich da nicht gewesen, dort
nicht geboren und habe ihre Luft nicht geatmet.7
An kaum einer anderen Stelle in Goldbergs Schriften findet sich solch eine tief
bewegte Aussage über ihre innere Verbindung zum russischen Modernismus. Die
Passage erinnert an den berühmten Satz ihres Lieblingsdichters Rainer Maria
Rilke, der in einem Brief an Lou Andreas-Salomé festgehalten hatte: „[...] dass
Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe.“8
Doch im Gegensatz zu Rilke, der ohne jene Ambivalenz von seiner ‚Wahlheimat‘ sprechen konnte, erscheint Goldbergs Aussage fast wie ein Bekenntnis,
weil sie implizit auch eine gewisse Distanz zur hebräischen Kultur zum Ausdruck bringt, der sie zu diesem Zeitpunkt mehr als die Hälfte ihres Lebenswerks
gewidmet hatte. Zugleich ermöglicht Goldbergs Selbstreflexion aber auch einen
Einblick in ihre ambivalente Sicht auf die russische Kultur, in den Prozess der
Verfremdung als Erkenntnisstrategie.
Erst sechs Jahre später, im Jahr 1960, begann Lea Goldberg eine Reihe von
Essays über die Dichtung von Alexander Blok, Sergey Yesenin, Anna Achmatowa und Boris Pasternak zu schreiben, also über die Hauptprotagonisten des
russischen Modernismus. Warum schrieb sie nicht über Osip Mandelstam und
Marina Zwetajewa? Die Antwort auf diese Frage ist eng mit der Deutung von
Goldbergs später Hinwendung zur russischen Lyrik verbunden. Die Gedichtbände von Marina Zwetajewa, aber vor allem von Osip Mandelstam, waren in
der Sowjetunion der früheren post-stalinistischen Zeit nicht zu erhalten, zu diametral stand ihr Schreiben zur sowjetischen Kulturpolitik. Erst Ende der 1950er
Jahre, nach Stalins Tod, hatte man Boris Pasternak erlaubt, eine kleine Auswahl von Zwetajewas Lyrik zu veröffentlichen. Diese dennoch nur anteilige Rehabilitierung von Zwetajewa, aber auch von Isaak Babel und Ivan Bunin war
kein Zufall, sondern Ergebnis jenes Prozesses der Entstalinisierung, deren Beginn die Geheimrede Chruschtschows 1956 über den Personenkult markierte
und deren Name dem 1950 erschienen Roman Ilya Ehrenburgs, Tauwetter, zu
verdanken ist. Goldbergs Entscheidung, sich dem russischen Modernismus zu
widmen, ist als eine Zeitdiagnose zu verstehen. Lea Goldbergs Forschungen
Tagebucheintrag vom 25.5.1954 (Goldberg 2005, 338).
Brief von Rilke an Lou Andreas-Salomé vom 15. August 1903 (Rilke und Andreas-Salomé
1989, 116).
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Natasha Gordinsky
über die russische Literatur sind eine Reaktion auf die politische Wende im sowjetischen Regime. Goldberg prüfte, was von der russischen Kultur nach Stalin
überhaupt noch übriggeblieben war und unter welchen Voraussetzungen – falls
überhaupt – sich Reste künstlerischer Freiheit hatten erhalten können.
Goldbergs Essayreihe über die russische Literatur wurde mit einem Essay
über Pasternak eröffnet, den Goldberg kurz nach dessen Tod im Mai 1960 verfasste. Der Essay beginnt mit der Feststellung, dass im Israel der 1960er Jahre
Pasternak nur für russischsprechende Leser zugänglich sei. Allen anderen sei der
Autor unbekannt, obgleich manche den Namen mit der Doktor Schiwago-Affäre
verbinden konnten. Pasternaks berühmter Roman Doktor Schiwago war vom Herausgeber des wichtigen Literarturmagazins Novy Mir abgelehnt worden. Doch es
gelang Pasternak, das Manuskript 1956 nach Italien zu schmuggeln, wo der
Roman auch im gleichen Jahr publiziert wurde. Es war Albert Camus, der Pasternak für den Nobelpreis nominierte. Pasternaks Auszeichnung mit dem Nobelpreis „für seine bedeutende Leistung sowohl in der zeitgenössischen Lyrik als
auch auf dem Gebiet der großen russischen Erzähltradition“ (Österling 1958)
sollte sich zwei Jahre später für den Autor als eine große persönliche wie berufliche Bedrohung erweisen. Die sowjetische Regierung sowie die verschiedenen
kulturellen Institutionen begannen mit einer landesweiten Hetzjagdkampagne
gegen Pasternak, verbunden mit der Aufforderung, dem Autor die sowjetische
Staatsangehörigkeit zu entziehen, da er ein „anti-sowjetisches Propagandabuch“
geschrieben habe. In der Folge dieser Kampagne wurde Pasternak einstimmig
aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Schließlich wurde der Dichter gezwungen, den Nobelpreis abzulehnen. In ihrem Essay vertritt Goldberg die Ansicht, dass es nur diesem politischen Skandal zu verdanken sei, dass Pasternaks
Name im Westen bekannt geworden ist:
Damals haben mich viele gefragt, hast Du schon mal vorher von diesem Dichter, nu, wie
heißt er, Pasternak was gehört? Für uns, die in der russischen Dichtung groß geworden
waren, klang diese Frage so überraschend, dass es anfänglich schwer zu verstehen war,
ob die Frage ernst gemeint war. Es war so als ob ein Mensch, der in der deutschen Poesie
zuhause ist, gefragt würde, ob er den Namen von Hofmannsthal schon einmal gehört
habe, oder im französischen Kontext, ob ihm der Name Paul Eluard was sage.
(Goldberg 1977, 278)
Es mag wie eine bloße Anekdote klingen, allerdings dokumentiert diese Passage
aus Goldbergs Essay eine zentrale Entwicklung in der israelischen Kultur, und
zwar den Übergang von einer Kultur der Mehrsprachigkeit in einen monolingualen literarischen Raum. Zugleich legt diese Aussage Goldbergs komparatistisches
Denken offen – sie war in allen europäischen Literaturen ‚zuhause‘. So erweist
sich sowohl dieser Essay im Einzelnen als auch die gesamte Reihe der Essays
Lea Goldberg (1911–1970)
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über die russische Dichtung als Beleg für das komparatistische Vorhaben von
Goldberg, die russische Poesie aus dem nationalen Kontext zu lösen und als Teil
der Weltliteratur zu betrachten. Goldberg hält fest: „Die fremde Sprache, der
Mangel an Möglichkeiten die Dichtung ordentlich zu übersetzen, könnten der
Grund dafür sein, dass die russische Poesie keinen Platz im intellektuellen Gepäck eines Europäers hat“ (Goldberg 1977, 278). Denn schließlich sei die russische Poesie nicht nur in der hebräischsprachigen Leserschaft kaum bekannt.
Umso wichtiger war es für Goldberg, die russische modernistische Lyrik aus der
Perspektive einer anderen Sprache zu vermitteln und zu analysieren.
In ihrem Essay vertritt Goldberg zwei Thesen, die sich auf den historischpoetischen Kontext von Pasternaks Lyrik beziehen und zugleich zentrale poetologische Aspekte von Pasternaks Werk in Augenschein nehmen. Zunächst
argumentiert sie, dass in dessen Dichtung im Gegensatz zur hebräischen Poesie
die poetische Innovation immer auf das Engste mit Metrik und Rhythmus verbunden sei. Für Pasternak bedeutete Avantgarde keineswegs Abkehr von der Metrik, sondern die Erfindung einer eigenen philosophischen Sprache in metrischer
Lyrik. Zugleich entfaltet der Essay eine literarische Genealogie von Alexander
Puschkin über Alexander Blok bis hin zu Boris Pasternak. Um Pasternak im russischen Kanon zu situieren, nutzt Goldberg eine Metapher von Alexander Blok, die
jener in seiner berühmten Rede zu Puschkins Todestag verwendet hatte, nämlich
„die verborgene Freiheit“. Goldberg versteht diese Metapher als Verweis auf den
schöpferischen Prozess in Zeiten politischer Unruhen. Für Puschkin war es das
zaristische Russland, für Blok die Oktoberrevolution, und für Pasternak Stalins
Russland gewesen, die die Luft zum Atmen genommen, die Freiheit zu Schreiben
in Frage gestellt haben. So deutet Goldberg „die verborgene Freiheit“ als Essenz
von Dichtung. In Zeiten des stalinistischen Terrors habe Pasternak diese Freiheit
in seiner Naturlyrik ausgeübt, die deshalb auf verborgene Weise politisch gewesen sei.
So begann mit der Reihe von Essays über die russische Dichtung für Goldberg eine imaginierte Reise in die russische Kultur. Es war nicht die Sehnsucht
nach einer Rückkehr in die Kultur der Kindheit, sondern ein komparatistisches
Erkenntnisinteresse, das diese Essayreihe angestoßen hat. Die Form des Essays
war Modus dieser Reflexion. Im Anschluss an die Essays zur russischen Literatur, im Sommer 1960, beschloss Goldberg, sich mit Dostojewskis Werk und seiner Wiederentdeckung der Romantik zu beschäftigen.
Diese Studie war eng mit der Reise in eine europäische Stadt verbunden,
die für Goldberg eine Art Heterotopie werden sollte. Sie reiste nach Kopenhagen, wo sich eine der größten slawistischen Bibliothekssammlungen befand.
Dort entstanden zentrale Kapitel ihres letzten Buches, das sie leider nicht ab-
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Natasha Gordinsky
schließen konnte. Lea Goldbergs Buch mit dem Titel Ha-drama sheltoda’a (Das
Drama des Bewusstseins) konnte nur noch posthum im Jahr 1974 erscheinen.
Lea Goldberg hat ihre Arbeitsprozesse in ihrem Briefwechsel mit dem hebräisch- und deutschsprachigen Dichter Tuvia Rübner festgehalten. Tuvia Rübner war 1924 in Bratislava geboren und starb 2019 in Israel. Rübner hatte die
Freundschaft mit der älteren Dichterin ermutigt, auf Hebräisch zu dichten. In
dieser Korrespondenz findet sich ein Brief, in dem Goldberg ihm auf der Reise
einen kurzen Bericht über die Anfänge ihrer Arbeit gibt. Doch es geht dabei
nicht um einen Arbeitsbericht im engeren Sinne, sondern vielmehr um die poetische Darstellung einer Arbeitsatmosphäre, die sie als Dichterin einem ihr nahstehenden Menschen mitteilt:
Meine Reise ist sehr erfolgreich. Ich war fünf Tage in Holland und habe so viele schöne
Sachen gesehen, dass ich danach, als ich hierherkam, nichts mehr sehen wollte außer den
Bäumen im Herbstanfang, und den Enten auf dem Wasser und außer den Straßen in einer
schönen Stadt. Ich habe niemandem von meinen Bekannten bis jetzt hier kontaktiert und
ich bin in der Tat ganz allein mit meiner Arbeit, die meiner Meinung nach, nicht schlecht
vorankommt. Die Stunden in der Bibliothek sind schön. Sie steht in einem wunderbaren
Garten und der Lesesaal ist so bequem, und die Bibliothekare so freundlich, dass man alles
in absoluter Ruhe machen kann. Mein Zimmer ist so klein wie eine Mönchskammer, aber
angenehm genug. Jetzt in den Fenstern des Hauses gegenüber widerspiegeln sich die Wolken deren Ränder in der untergehenden Sonne beleuchtet sind. Ich betrachte das und
weiß, dass ich eigentlich etwas ganz Schönes bekommen habe.
(Goldberg und Rübner 2016, 111)
Diese poetische Beschreibung wird nicht nur als Horizont ihrer eigenen Dostojewski-Studien inszeniert, sondern sie reflektiert Goldbergs Art des Schreibens –
ihr Arbeitsethos, ihre kontinuierliche Aufmerksamkeit für das kleinste Detail
sowie ihre tiefe Überzeugung, dass die Ästhetik einen starken ethischen Impuls
in sich tragen kann. Bereits zu Beginn ihrer literarischen Tätigkeit verkörperte
der Essay für die Dichterin und die Literaturwissenschaftlerin Goldberg den
Versuch, die Ideenwelt mit der Dichtung zu versöhnen. Diesem Versuch ist sie
stets treu geblieben. Denn auch als Literaturwissenschaftlerin sollte ihr die Gattung des Essays ermöglichen, ihr philologisches Wissen über die europäische
Literatur in einer präzisen und zugleich poetischen Sprache zu entfalten.
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