LESEPROBE aus:
Marlis Gielen/ Joachim Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche. Neutestamentliche Orientierungsangebote, Münster: LIT 2014, 5-7.73-99
Vorwort
Die Bibelwissenschaft nimmt selten zu Papstäußerungen Stellung und wenn
einmal doch, dann meist in der Haltung beißender Kritik oder kalter Distanz.
Das darf nicht überraschen, denn unsere theologische Disziplin wurde ja von
den römischen Autoritäten lange regelrecht verfolgt, weil ihre Ergebnisse in das
restaurative Arbeitsprogramm der zentralen Kirchenleitung nicht passen wollten. Zudem hat die Distanz zwischen Exegese und Rom natürlich auch eine inhaltliche Seite, nämlich das konsequente Ignorieren exegetischer Erträge in der
römischen Lehre. Ähnelte das Verhältnis zwischen Exegese und Rom in den
letzten Jahrzehnten dem Kalten Krieg eines alten Paares (man schlägt sich nicht
mehr, weil man sich nicht mehr wahrnimmt), so scheint mit Papst Franziskus
ein Neuanfang möglich – vielleicht gerade deshalb, weil er sich im Unterschied
zu seinem glücklosen Vorgänger nicht für den besseren Exegeten hält. Franziskus formuliert in seiner programmatischen Enzyklika Evangelii Gaudium („Die
Freude der Frohbotschaft“) einige Perspektiven für die Neugestaltung der Kirche, die in Ansatz und Ausrichtung den exegetischen Ergebnissen deutlich mehr
entsprechen als alles, was man bisher aus Rom zu hören bekam.
Trotzdem ist dieses Buch keine Lobhudelei geworden. Wir meinen das Titelbild
durchaus ironisch, denn wir sehen Papst Franziskus gerade nicht als Supermann, sondern als einen Kirchenlehrer, der Vorschläge macht, Impulse gibt und
zum Dialog auffordert.
Wir nehmen diese Einladung an und präsentieren hier Beiträge, die zeigen, wie
die katholische Bibelwissenschaft – quasi in „vorauseilendem Gehorsam“ –
schon vor einiger Zeit die Anliegen des Papstes vorwegnahm und nun den
Papst in vielem unterstützen kann. Die neu geschriebenen Einleitungen machen
dabei jeweils deutlich, wo und wie wir uns auf das Programm des Papstes beziehen und stellen so einen deutlichen Zusammenhang zwischen seinen Anliegen und unseren Arbeiten her. Dabei wird deutlich, dass wir in vielem über die
Aussagen des Papstes hinausgehen. Da ist die Exegese immer noch eher in der
Rolle der drängelnden Wegbegleiterin, die dazu einlädt, die nächsten Schritte
zum gemeinsamen Ziel doch schneller zu gehen. Bei anderen Themen ist es
dann eher umgekehrt. Der Papst ist uns voraus und provoziert, vor allem beim
Thema Armut, eine radikale Neuorientierung der Bibelwissenschaft. Diese Provokation zu einer Option für die Armen sollte die Exegese mutig aufnehmen,
denn sie führt sie näher zur biblischen Botschaft hin und stellt gerade keinen
Eingriff in ihre wissenschaftliche Arbeit dar. Wissenschaft nämlich, die ihre Option offen legt und bearbeitet, ist wissenschaftlicher als eine, welche die Optionen, die sie faktisch hat, leugnet und dem Götzen scheinbarer Objektivität huldigt, während sie sich von den Optionen Karriere, Geld und Macht zur Hure
machen lässt.
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Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
Charakter und Stil der Beiträge sind unterschiedlich, aber wir sehen das nicht
als Nachteil an. Während Joachim Kügler es bevorzugt, kurz und knapp zu formulieren, und eher zu griffigen Thesen neigt, geht Marlis Gielen den Problemen
gerne auf den Grund und sichert ihre Aussagen durch die genaue Textanalyse
und die Diskussion von Gegenargumenten sorgfältig ab. Wir hoffen, dass die
Lesenden diese Unterschiedlichkeit als Bereicherung empfinden und erkennen
können, wie hier zwei unterschiedliche Temperamente zusammenspielen und
sich – getrennt marschierend und vereint schlagend – aufs trefflichste gegenseitig unterstützen. In Küglers Beiträgen wird manches auf den Punkt gebracht,
was bei Gielen einige Seiten einnimmt, und umgekehrt kann Gielen zeigen, an
welch dicken wissenschaftlichen Seilen das hängt, was bei Kügler eventuell aus
der Luft gegriffen scheint. Hier schlagen zwei recht unterschiedliche Beile in die
gleiche Kerbe. Und das ist kein Zufall, denn wir hätten problemlos zehn weitere
Kolleg_innen einladen können und die inhaltliche Ausrichtung hätte sich nicht
wesentlich geändert. Ohne die katholische Exegese in Sippenhaft für unsere
Aussagen nehmen zu wollen, kann man doch sagen, dass unsere Thesen weitgehend den Mainstream der neutestamentlichen Forschung wiedergeben.
So wünschen wir den Lesenden viel Vergnügen bei dieser Form des Dialogs mit
Papst Franziskus, und für den Pontifex selbst erbitten wir Gottes Segen für ein
zukunftsweisendes Wirken. Möge sich dieser Segen auch in der breiten Unterstützung von Klerus, Theologie und der breiten Mehrheit des Gottesvolkes zeigen. Denn der Papst ist kein Supermann. Ohne Gott und das Volk Gottes kann
nichts gelingen.
Salzburg/ Bamberg im September 2014
Marlis Gielen & Joachim Kügler
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Inhaltsverzeichnis
VORWORT .................................................................................................. 5
HINFÜHRUNG: DER PAPST, DIE URSPRÜNGE DER KIRCHE UND
IHRE ZUKUNFTSGESTALT ....................................................................... 9
DIE KIRCHE ALS GEMEINSCHAFT VON „GEISTLICHEN“............................... 21
Einleitung.................................................................................................... 21
Zur not-wendigen Wiederentdeckung der Charismen in ihrer
ekklesiologischen Funktion und pastoralen Bedeutung
am Beginn des 21. Jahrhunderts ........................................................... 31
DIE ROLLE DER GEMEINDE BEI DEN URCHRISTLICHEN MAHLFEIERN ......... 73
Einleitung.................................................................................................... 73
„Der Kelch des Segens, den wir segnen, … das Brot, das wir brechen …“
(1 Kor 10,16) ......................................................................................... 85
FRAUEN IN LEITENDER FUNKTION .......................................................... 101
Einleitung.................................................................................................. 101
Die Wahrnehmung gemeindlicher Leitungsfunktionen durch Frauen im
Spiegel der Paulusbriefe...................................................................... 109
Frauen als Diakone in paulinischen Gemeinden ....................................... 145
AM ANFANG UND IN ZUKUNFT: KIRCHE OHNE FRAUENFEINDLICHKEIT .. 179
Einleitung.................................................................................................. 179
Gal 3,26-28 und die vielen Geschlechter der Glaubenden ........................ 183
Junge „Witwen“ als Bräute Christi (1 Tim 5,11f.) ...................................... 203
DAS PROBLEM DES KLERIKALISMUS...................................................... 217
Einleitung.................................................................................................. 217
Wer braucht wozu einen Klerus? .............................................................. 219
Jesus, der Kult und die Priester der Kirche................................................ 233
DIE KIRCHE DER ZUKUNFT ALS KIRCHE DER ARMEN................................ 241
Einleitung.................................................................................................. 241
Menschen mit Zukunft.............................................................................. 243
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Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern
Einleitung
Marlis Gielen
Der Beitrag „Der Kelch des Segens …“ setzt an bei der deutlichen Aufwertung
der Rolle der Gemeinde in der Liturgie im allgemeinen und bei der Eucharistiefeier im besonderen, die das 2. Vatikanische Konzil in der Liturgiekonstitution
Sacrosanctum Concilium mit der Maßgabe der „tätigen Teilnahme“ (participatio
actuosa) der Gemeindemitglieder vorgenommen hat. Der Beitrag verfolgt dabei
die Intention, diese aktive Rolle durch einen Blick auf die neutestamentliche
und früh-außerneutestamentliche Überlieferung noch ein wenig zu präzisieren
und zu profilieren. In einem ersten Teil gilt die Aufmerksamkeit den neutestamentlichen Texten, die die Einsetzung der Eucharistie thematisieren (1Kor
11,23b-26 / Lk 22,18-20; Mk 14,22-25 / Mt 26,26-29). Dabei liegt das Hauptaugenmerk der traditionsgeschichtlichen Betrachtungsweise auf der Frage, welche Personen auf welcher Traditionsstufe als Teilnehmerkreis des Abschiedsmahls Jesu genannt (oder nicht genannt) sind. Bleibt auf der ersten Traditionsstufe, die den Einsetzungsbericht noch als selbständige, kultbegründende Tradition überliefert, der Teilnehmerkreis offen, so wird er auf der zweiten Traditionsstufe, die den Einsetzungsbericht in die Passionserzählung einfügt, mit den
Zwölf identifiziert. Insofern nun die Zwölf das eschatologische Gottesvolk in
seiner Gesamtheit symbolisieren, bedeutet diese Identifizierung gerade keine
Einschränkung gegenüber der vorausgehenden Traditionsstufe. Beide Traditionstufen bezeugen vielmehr, dass sich die Gemeinschaft der Christusgläubigen
als ganze in der Konkretion der jeweils vor Ort versammelten Gemeinde beauftragt weiß, das Herrenmahl zu feiern, und dass die feiernde Gemeinde selbst
Subjekt des liturgischen Vollzugs ist. Dieses Ergebnis kann im zweiten Teil noch
untermauert werden. Denn es zeigt sich, dass unter den sich früh schon ausbildenden Leitungsfunktionen, die im Übrigen ausnahmslos nicht priesterlich definiert waren, keine der Feier des eucharistischen Mahls zugeordnet werden
kann. Im Gegenteil verweist der Textbefund zu 1Kor 11,17-34; 10,14-22 sowie
Did 9,1-10,7 darauf, dass die eucharistischen Mahlgebete und -gesten von allen
am Mahl Teilnehmenden gemeinsam gesprochen und vollzogen wurden. Ein
kurzer Schlussabschnitt skizziert zunächst knapp die weitere Entwicklung: Die
wachsende Größe der Gemeinden in Verbindung mit fortschreitender Institutionalisierung führte folgerichtig zur Ausbildung einer obligatorischen Vorsitzfunktion bei der Eucharistiefeier, die am ehesten den Personen übertragen
wurde, die auch andere gemeindliche Leitungsaufgaben wahrnahmen. Erst im
weiteren Verlauf der Entwicklung wurden dann die kirchlichen Leitungsämter
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Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
kultisch-sacerdotal definiert. Allerdings veränderte diese Entwicklung bis zum
Frühmittelalter noch nicht das Bewusstsein, dass die Liturgie eine Aufgabe und
ein Handeln des ganzen Gottesvolkes bzw. der gesamten, konkret versammelten Gemeinde sei. Mit der Liturgiekonstitution wurde dieses Bewusstsein vom
Zweiten Vatikanischen Konzil neu geweckt. Allerdings steht eine gründliche Reflexion über die Konsequenzen, die sich daraus für ein auch erneuertes Verständnis des Amtes ergeben, noch aus.
Eine solch umfassende Reflexion kann und will hier nicht geleistet werden.
Doch soll versucht werden, erste Ansatzpunkte für ein erneuertes Amtsverständnis zu skizzieren, die sich auf der Basis des neutestamentlichen Zeugnisses
und in Würdigung einiger Wegmarken, die Papst Franziskus für die von ihm angestoßene neue Etappe der Evangelisierung gesetzt hat, abzeichnen.
Nahezu jeder Passus von EG weist aus, dass Papst Franziskus entschlossen ist,
dem Projekt der Evangelisierung, die sich an der in Jesus Christus geoffenbarten
Liebe und Barmherzigkeit als der Kernbotschaft des Evangeliums ausrichtet und
alle Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirche zu erreichen sucht, oberste
Priorität einzuräumen. Dieses Projekt ist daher der Maßstab, der darüber entscheidet, wo kirchlicher Reformbedarf gegeben ist. Sehr komprimiert kommt
dies etwa in EG 43 zum Ausdruck:
In ihrem bewährten Unterscheidungsvermögen kann die Kirche auch dazu gelangen,
eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der
Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben
Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend
wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch nicht denselben Dienst
im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen
Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische
Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass
die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, „ganz wenige“ sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass
die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind,
„um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen“ und unsere Religion in eine
Sklaverei zu verwandeln, während „die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei
sei“. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen
sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird,
die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.“ (kursiv: M.G.)
Blenden wir von hier aus zurück zum neutestamentlichen Befund: Unabhängig
davon, ob der Wiederholungsauftrag „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (1Kor
11,24f; Lk 22,19) historisch in der Situation des Abschiedsmahls Jesu zu verankern ist oder nicht, fest steht: Unter dem Eindruck des Osterereignisses haben
die Christusgläubigen gleichsam von der Stunde Null an miteinander das Herrenmahl gefeiert, haben ihre Feier auf die Brot- und Kelchhandlung Jesu bei
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GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Einleitung
seinem Abschiedsmahl zurückbezogen (kultätiologische Funktion des Einsetzungsberichts!) und haben sich dazu vom erhöhten Herrn beauftragt und ermächtigt gewusst. Damit bildet die Eucharistiefeier von Anfang an den unverzichtbaren, identitätsstiftenden „Markenkern“ der christlichen Gemeinschaft,
der auf Jesus Christus selbst zurückgeht. Wo Kirche aufhört, Eucharistie zu feiern, hört sie auf, Kirche zu sein! Damit gehört der Vollzug dieser Feier also zu
den Vorschriften, die auf Christus selbst zurückgehen und von denen es nach
Thomas von Aquin nur wenige gibt. Der Auftrag und die Ermächtigung „Tut dies
zu meinem Gedächtnis!“ wurde dabei – wie neutestamentlich bezeugt – ebenfalls von Beginn an als ermächtigender Auftrag an das gesamte eschatologische
Gottesvolk verstanden, den die jeweils vor Ort feiernde Gemeinde konkret erfüllt. Es ist daher nur konsequent, wenn in früher Zeit mit der Eucharistiefeier
eine besondere Leitungsfunktion keineswegs zwingend verbunden war. Sofern
aber eine Person den Vorsitz übernahm, stellte die Ausübung dieser Funktion
nicht das gemeinsame Handeln aller zum Mahl Versammelten in und als Gemeinde infrage.
Die wenigen Vorschriften, „die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln
gegeben wurden“, betreffen dagegen nicht – wie sich nach Stand der neutestamentlichen Forschung wohl konsensfähig zusammenfassen lässt – den
strukturellen Bereich, zu dem die konkrete Ausgestaltung kirchlicher Leitungsfunktionen und -ämter gehört. Allerdings lässt sich das Ausbleiben der Parusie,
deren Kehrseite der Beginn einer notwendigen Institutionalisierung war,
durchaus als impliziter göttlicher Auftrag zu strukturellen Entscheidungen verstehen, der freilich keine „Ausführungsbestimmungen“ vorgab.
Wenn also der Vorsitz bei der Eucharistiefeier in der frühen, formativen Phase
des Christentums erst allmählich als fester Bestandteil dem Aufgabenbereich
des Personenkreises zuwuchs, der in der Gemeinde auch andere Leitungsfunktionen ausübte, und wenn erst in einem weiteren Schritt die eucharistische
Vorsitzfunktion unter ein kultisch-sacerdotales Vorzeichen geriet, das sich dann
auch auf die anderen Leitungsfunktionen erstreckte, zeigt sich darin ein geschichtlicher Entwicklungsprozess.1 Dieser Entwicklungsprozess war in seiner
konkreten Gestalt nicht zwangsläufig vorgegeben, wohl aber war diese konkrete Gestalt religionssoziologisch und kulturell durchaus folgerichtig. Schon der
vorausgehende Beitrag hat angesprochen, dass die Weichenstellung in den Pas1
Dass sich die kirchlichen Ämter einem geschichtlichen Entwicklungsprozess verdanken,
war offenkundig auch den Konzilsvätern des 2. Vatikanums bewusst, wie aus LG 18-20
und den Erläuterungen der Konzilskommission dazu hervorgeht, vgl. P. Hünermann,
Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: P. Hünermann / J. Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum
Zweiten Vatikanischen Konzil Band 2 (Studienausgabe), Freiburg / Basel / Wien 2009,
408-413.
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Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
toralbriefen hin zur Gemeindeleitung durch den einen Episkopos sich der Angleichung der Gemeindestruktur an die gesellschaftlich konstitutive, patriarchal
strukturierte Sozialeinheit des antiken Hauses verdankt. Die einige Zeit später
sich durchsetzende kultisch-sacerdotale Definition kirchlicher Leitungsämter
war angesichts der Erfahrungswelt der frühen Kirche wohl unausweichlich.
Denn die Kirche sah sich umgeben von einer bunten Vielzahl heidnischer Kulte,
die den zahlreichen Göttern und Göttinnen, aber auch den römischen Herrschern gewidmet waren und die ausnahmslos von Priestern und Priesterinnen
vollzogen wurden. Andererseits war mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr
70 n.Chr. der jüdische Tempelkult zum Erliegen gekommen. Je mehr also theologisch die Substitutionstheorie an Boden gewann und die Kirche sich als legitime, heilsgeschichtliche Erbin Israels betrachtete, umso mehr drängte es sich
auf, die alttestamentlich-israelitische Konzeption des Jerusalemer Kultpersonals für die kirchlichen Leitungsämter zu rezipieren. Dieser Rezeption verdankt
sich damit nicht nur die Dreistufigkeit des kirchlichen Amtes (Bischof/ Episkopos – Priester/ Presbyteroi – Diakone/ Diakonoi)2 in Anlehnung an den Hohenpriester, die Priester und Leviten, sondern wohl auch seine kultisch-sacerdotale
Definition. Darüber hinaus dürfte in ebendieser Rezeption – nicht aber im Willen Jesu, der in den Zwölferkreis nur Männer berufen habe – auch der geschichtliche Grund zu finden sein für die endgültige Verdrängung der Frauen
aus den nun kultisch-sacerdotal definierten kirchlichen Leitungsämtern.3 Denn
im Unterschied zu den heidnischen Kulten war das israelitische Priesteramt
Männern vorbehalten.4 Stellt die christliche Rezeption der alttestamentlichisraelitischen Konzeption des Kultpersonals nun den Endpunkt im Prozess der
Verdrängung von Frauen aus den kirchlichen Leitungsämtern dar, so steht er
umgekehrt wohl am Anfang des priesterlichen Pflichtzölibats, der bekanntlich
erst im Mittelalter rechtlich verbindlich wurde. Denn aus Gründen der kulti-
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3
4
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Wenngleich diese Bezeichnungen schon in den neutestamentlichen Schriften zur Bezeichnung von Personen mit Leitungsfunktionen belegt sind, bildeten sie doch keine
abgestufte, hierarchische Trias, vgl. dazu auch meine Beiträge „Die Wahrnehmung gemeindlicher Leitungsfunktionen …“ sowie „Frauen als Diakone …“ weiter unten in diesem Band.
Eingeleitet wurde dieser Verdrängungsprozess bereits durch die Angleichung der Gemeindestruktur an das patriarchal strukturierte Haus. Allerdings ließ diese Korrelation
prinzipiell noch Ausnahmen zu, gab es doch auch (unverheiratete oder bereits verwitwete) Frauen, die ein Hauswesen leiteten. Dem Verfasser der Pastoralbriefe stand jedoch klar ein Mann und nur ein Mann als letztverantwortlicher Gemeindeleiter vor Augen (vgl. 1Tim 3,1-7).
Übernommen wurde im Rezeptionsprozess der frühen Kirche allerdings nicht das genealogische Prinzip, wonach die priesterlich-kultischen Ämter bestimmten Familien
vorbehalten und damit erblich waren. An seine Stelle trat die Weihe.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Einleitung
schen Reinheit war den selbstverständlich verheirateten5 Priestern in der Zeit,
in der sie für den Dienst am Tempel eingeteilt waren, nicht nur der eheliche
Verkehr mit ihren Frauen untersagt, sondern sie lebten währenddessen auch
abgesondert im Tempelbereich. Diesen Zustand der kultischen Reinheit permanent zu wahren, wurde den christlichen Priestern in den ersten Jahrhunderten
zunächst noch nahegelegt und schließlich verpflichtend auferlegt. Neutestamentlich gibt es für diesen permanenten Pflichtzölibat der Priester kein Fundament. Abgesehen davon, dass – wie erwähnt – im Neuen Testament keine
gemeindlichen Leitungsfunktionen priesterlich definiert sind, unterscheidet
etwa Paulus klar zwischen den Charismen, die zu einem leitenden Gemeindedienst qualifizieren (1Kor 12; vgl. Röm 12,3-8) und dem Charisma der Ehelosigkeit bzw. sexuellen Askese (1Kor 7). Das eine ist vom anderen unabhängig.
Entscheidend ist nun, dass die kultisch-sacerdotale Definition der Vorsitzfunktion, also die Rolle des Priesters, bei der Eucharistiefeier sich einem geschichtlichen Prozess verdankt. Impliziert das Moment der Geschichtlichkeit immer
auch die Möglichkeit eines geschichtlichen Wandels, so kommt noch hinzu: Im
Verhältnis zum Auftrag des Kyrios Jesus zur Feier der Eucharistie („Tut dies zu
meinem Gedächtnis!“), der an das eschatologische Gottesvolk in der je konkreten Gestalt der aktuell versammelten Gemeinde ergeht, nimmt die Vorsitzfunktion – ungeachtet ihrer institutionellen Notwendigkeit – einen sekundären
Rang ein. Was bedeutet dies nun für eine Neujustierung der Rolle des Priesters
heute, die zum einen dem auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu geweckten Bewusstsein korrespondiert, dass die Liturgie (besonders auch die liturgische Feier der Eucharistie) Aufgabe und Handeln der gesamten Gemeinde ist,
und die zum anderen auch neue Spielräume dafür eröffnet, dass genug Personen zu Verfügung stehen, die von der Kirche durch die Weihe beauftragt werden können, die Vorsitzfunktion zu übernehmen?
In der Liturgiekonstitution SC 33 wird auf zwei Aspekte hingewiesen, die im Zusammenhang mit der liturgischen Vorsitzfunktion des Priesters stehen: 1. Der
Priester versieht seine Vorsitzfunktion „in der Person Christi“ (in persona Christi) und 2. er spricht die an Gott gerichteten Gebete „im Namen des ganzen heiligen Volkes und aller Umstehenden“.6 Damit wird hier eine doppelte Repräsentanzfunktion des Priesters beschrieben: Er repräsentiert Christus vor der
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Selbstverständlich nicht nur deshalb, weil alttestamentlich-frühjüdisch Ehe und Nachkommenschaft im Licht von Gen 1 als Schöpfungsauftrag Gottes an die Menschen verstanden werden, sondern auch deshalb, weil sie die conditio sine qua non für die genealogische Verankerung der israelitischen Priesterkonzeption sind.
Diese Formulierung macht im Übrigen sehr schön deutlich, dass „das ganze heilige
Volk“ gleichsam in der konkret versammelten Gemeinde („alle[n] Umstehenden“) präsent ist.
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Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
Gemeinde und die Gemeinde vor Gott. SC 48 hält darüber hinausgehend im
Kontext des zweiten Kapitels über „Das Hochheilige Geheimnis der Eucharistie“
ausdrücklich fest, dass die Gläubigen „die makellose Opfergabe nicht nur durch
die Hände des Priesters, sondern auch zusammen mit ihm darbringen“ (kursiv:
MG). Noch deutlicher, aber auch differenzierter in der Zuordnung des priesterlichen und des gemeindlichen Handelns wird die Kirchenkonstitution LG 10,2:
„Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das amtliche bzw. hierarchische Priestertum sind, auch wenn sie sich dem Wesen und nicht bloß dem Grad nach
unterscheiden, dennoch einander zugeordnet; das eine wie das andere nämlich
nimmt auf seine besondere Weise am einen Priestertum Christi teil. Der
Amtspriester (…) vollzieht in der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es
im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen aber wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der Darbringung der Eucharistie mit (…).“ (kursiv: MG)
Mit SC 33 verbindet LG 10, dass jeweils eine doppelte Repräsentanzfunktion
des Priesters („in der Person Christi“ / „im Namen des ganzen Volkes“) bei der
Feier der Eucharistie genannt ist. Wie schon in SC 48 wird auch in LG 10 die
Darbringung der Eucharistie als Tun des Priesters bezeichnet, an dem die Gläubigen aber aktiv beteiligt sind. Über SC 48 hinausgehend wird dies aber begründet, und zwar mit der Teilhabe der Gläubigen am „königlichen Priestertum“. Die Zuordnung des Handelns von Priester und Gläubigen bei der Darbringung der Eucharistie entspringt also der Zuordnung vom „amtliche(n) bzw. hierarchische(n) Priestertum“ und „gemeinsame(n) Priestertum der Gläubigen“,
das auf je spezifische Art (suo peculiari modo) am Priestertum Christi teilhat.
Allerdings hält LG 10 auch ausdrücklich fest, dass zwischen amtlichhierarchischem und gemeinsamem Priestertum ein wesenhafter, nicht nur ein
gradueller Unterschied besteht. Diese einschränkende Differenzierung ist bereits auf der innertextlichen Ebene von LG 10,2 in ihrer Logik etwas schwierig
nachvollziehbar. Denn wie können aus dem einen Priestertum Christi (de uno
Christi sacerdotio)7 zwei ihrem Wesen (essentia) nach unterschiedliche Priestertümer hervorgehen? Aber auch sofern die kultisch-sacerdotale Definition
der Vorsitzfunktion bei der Eucharistiefeier als Ergebnis eines geschichtlichkontingenten Prozesses zu betrachten sein dürfte,8 ist Skepsis gegenüber der in
LG 10,2 vorgenommenen wesenhaften Differenzierung zwischen allgemeinem
und amtlichem Priestertum angebracht. Vor allem aber hält sie dem neutestamentlichen Befund nicht stand. Schon die wenigen und – soweit ich sehe – umfassend in LG 10,1 rezipierten neutestamentlichen Belege für die priesterliche
Würde aller Getauften bieten keinen Ansatzpunkt, um daraus ein wesenhaft
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Die Einheit (und Unteilbarkeit?) des Priestertums Christi ist also vom Text betont herausgestellt, indem er sich eben nicht damit begnügt von „Christi sacerdotium“ zu sprechen, sondern eigens hinzufügt: unum!
Vgl. o. S. 75-77.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Einleitung
unterschiedenes „Amtspriestertum“ abzuleiten. Gegen eine solche tiefgreifende, wesenhafte Differenzierung spricht insbesondere die fundamentale Egalität
der Getauften, die im Geistempfang aller bei der Taufe gründet.9 Die alte, von
Paulus in Gal 3,27f verarbeitete Tauftradition10 veranschaulicht diese Egalität
nicht nur – in Anspielung auf das Anlegen des Taufgewandes – durch die Metapher von Christus als allen Getauften gemeinsames Gewand (V.27). Sie interpretiert sie sogar als Gewinnen einer neuen Identität: „Alle nämlich seid ihr
Einer (εἷς, nicht ἕν [eins]!) in Christus Jesus“ (V.28b). Diese neue Identität, die
alle trennenden Identitäten – seien sie religiöser bzw. ethnischer, sozialer oder
geschlechtlicher Art – zwischen Menschen belanglos macht, ja aufhebt (V.28a),
ist die Identität Christi selbst.11 Es ist die Identität des Sohnes Gottes (vgl. V.26).
Damit werden also alle Getauften zu einem alter Christus. Diese gemeinsame,
sie untereinander verbindende Identität Christi qualifiziert dann aber auch die
Feier der Eucharistie.12 Aufgrund ihrer in der Taufe gewonnenen Identität
Christi feiern also ausnahmslos alle Versammelten die Eucharistie als „alter
Christus“ oder – anders formuliert – „in persona Christi“. Im Licht dieses neutestamentlichen Zeugnisses muss es aber wohl als geradezu widersinnig bezeichnet werden, sollen an genau dem Ort der Eucharistiefeier, wo die konkret
versammelte Gemeinde den für die Selbstversicherung ihrer Identität unverzichtbaren Auftrag Christi „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ erfüllt, neue,
trennende Identitäten errichtet werden. Genau dies geschieht aber durch die
Markierung des Unterschieds zwischen dem allgemeinen und dem amtlichen
Priestertum als einem wesenhaften!
Dagegen berührt eine nur graduelle, präziser: funktionale Unterscheidung zwischen dem Priestertum aller Getauften und der geweihten Amtsträger die sie
verbindende, entscheidende Identität Christi nicht. Eine solche Unterscheidung
trägt dem institutionalisierten Rahmen, in dem die Liturgie der Weltkirche
stattfinden muss, soll sie nicht zersplittern oder zerfasern, Rechnung und ist
zwanglos kompatibel mit dem neutestamentlichen Befund. Demnach nämlich
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Vgl. ausführlich dazu den obigen Abschnitt Die Kirche als Gemeinschaft von „Geistlichen“. Es ist im Übrigen interessant, dass LG 10,1 auch die Salbung der Getauften mit
dem Heiligen Geist erwähnt.
Vgl. ausführlich hierzu in diesem Band J. Kügler, Gal 3,26-28 und die vielen Geschlechter der Glaubenden (s. u.).
Ein solcher Identitätswechsel steht auch hinter 2Kor 5,21 und Gal 3,13f, hier freilich
unter dem Vorzeichen der kulttypologischen Deutung des Todes Jesu im Licht von Lev
4, vgl. dazu H. Merklein, Der Sühnegedanke in der Jesustradition und bei Paulus, in: A.
Gerhards/ K. Richer (Hg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt (QD
186), Freiburg/ Basel/ Wien 2000, 59-91, bes. 70-80.
Möglicherweise liegt genau hier auch ein entscheidender theologischer Impuls für den
Verzicht auf eine Vorsitzfunktion, die sich für die frühe Zeit in den paulinischen Gemeinden und im syrischen Bereich (Did) wahrscheinlich machen lässt.
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Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
bildeten sich schon früh – unbeschadet der grundlegenden Egalität aller Getauften – gemeindliche Leitungsfunktionen aus, die sich mit fortschreitender
Zeit und Institutionalisierung zu Leitungsämtern verfestigten.13 Ausschließlich
den geweihten Amtsträgern, die durch die Weihe die sacra potestas zur Spendung der Sakramente erhalten haben, kommt damit die für die gültige Feier der
Eucharistie unverzichtbare Vorsitzfunktion inklusive aller der mit dieser Rolle
verbundenen, nach den liturgischen Richtlinien der Kirche festgelegten Aufgaben14 zu.
Die schon wiederholt zitierte Liturgiekonstitution SC hebt nun in Ziffer 42 die
Bedeutung der Territorialpfarreien hervor und fordert eine Pflege des Gemeinschaftsbewusstseins der Pfarrangehörigen, wobei die sonntägliche Eucharistiefeier als bevorzugter Ort hierfür eigens erwähnt wird. Letzteres ist im Kontext
von SC 10 zu lesen, wo die Liturgie, konkret die Eucharistiefeier qualifiziert ist
als „Gipfelpunkt, zu dem das Tun der Kirche strebt, und zugleich die Quelle, aus
der all ihre Kraft strömt.“ Auch Papst Franziskus gibt in EG 28 seiner Hochschätzung der Territorialpfarrei Ausdruck und sieht in ihr eine für sein Evangelisierungsprojekt besonders geeignete Struktur:
Die Pfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territorium, ein Bereich des Hörens des
Wortes Gottes, des Wachstums des christlichen Lebens, des Dialogs, der Verkündigung, der großherzigen Nächstenliebe, der Anbetung und der liturgischen Feier.
Durch all ihre Aktivitäten ermutigt und formt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktiv Handelnde in der Evangelisierung sind. Sie ist eine Gemeinde der Gemeinschaft,
ein Heiligtum, wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ihren Weg fortzusetzen,
und ein Zentrum ständiger missionarischer Aussendung.
Diese Skizzierung der Facetten des pfarrlichen Lebens, das alle zur Evangelisierung tauglich machen soll und das sich auf vielen verschiedenen Ebenen abspielt, dürfte mit beeinflusst sein vom Motiv der Eucharistiefeier als Kraftquelle
der Kirche (SC 10), die auf der lokalen Ebene der Pfarrei besonders wirksam ist
(vgl. SC 42). Kaum zufällig steht am Ende der ersten Aufzählung als Schluss- und
Höhepunkt die liturgische Feier. Und die Beschreibung der Pfarrei als „ein Heiligtum, wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ihren Weg fortzusetzen“
zeigt in der Metaphernwahl deutliche Berührung mit der Metapher der Eucharistiefeier als Kraftquelle (SC 10). Nimmt man beides zusammen, so ist eben die
Pfarrei ein Heiligtum, innerhalb dessen mit der Eucharistiefeier eine Quelle
sprudelt, die den Durstigen neue Kraft verleiht, um weiterzugehen. Und das
heißt dann ganz konkret: die Evangelisierung in der Übernahme von Verant-
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14
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Vgl. dazu auch in diesem Band meine Beiträge Zur notwendigen Wiederentdeckung der
Charismen … (s. o.) und Frauen als Diakone in paulinischen Gemeinden (s. u.).
Vgl. hierzu auch SC 28.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Einleitung
wortung und Aufgaben unter den Gemeindemitgliedern, aber auch im Hinausgehen zu den Menschen außerhalb des Pfarrbereichs voranzutreiben.
Damit sich freilich die Pfarrei als nützliche Struktur für die Evangelisierung erweisen kann, nennt Franziskus als Voraussetzung,
… dass sie wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht und
nicht eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von
Auserwählten wird, die sich selbst betrachten. (EG 28, kursiv: MG)
Bereits in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires hatte Franziskus auf die
Notwendigkeit einer überschaubaren Größe von Pfarreien hingewiesen.15 Kleinere pfarrliche Territorien aber bedeuten – unabhängig davon, wie zahlreich
und intensiv Laien für die haupt- oder ehrenamtliche Gemeindearbeit aktiviert
werden können – einen erhöhten Bedarf an geweihten Amtsträgern. Nicht zuletzt deswegen ist in den letzten Jahren etwa in Deutschland oder Österreich
aufgrund des rasant zunehmenden Priestermangels der umgekehrte Trend zur
Zusammenlegung mehrerer Pfarrgemeinden und zur Bildung großflächiger pastoraler Strukturen zu beobachten. Das führt dazu, dass die Menschen sich in
solchen künstlich gebildeten, unübersichtlichen Pfarrstrukturen nicht mehr
heimisch fühlen, die soziale, emotionale und spirituelle Bindung an „ihre“ Gemeinde – und damit auch an die Kirche – verlieren, sich entsprechend mehr
und mehr aus dem gemeindlichen Leben einschließlich der Gottesdienste zurückziehen und sich nicht selten auf dem großen, multireligiösen Markt neu
orientieren. Zutreffend hat Franziskus daher bereits ebenfalls noch als Erzbischof der argentinischen Hauptstadt einen kirchlichen Mentalitätswechsel angemahnt:
„Wir können nicht in einem ‚Kundenschema‘ verharren, das passiv darauf wartet,
dass der ‚Kunde‘, der Gläubige, bei uns erscheint. Wir müssen vielmehr Strukturen
haben, die es erlauben, dass wir dorthin gehen, wo man uns braucht, wo die Menschen sind. Die Menschen kommen – bei aller Sehnsucht – nicht zu veralteten Strukturen und Formen, die weder ihren Erwartungen noch ihrer Sehnsucht entsprechen.
Wir müssen vielmehr mit großer Kreativität darauf achten, wie wir in den verschiedenen Räumen der Gesellschaft Präsenz zeigen können. Wir müssen erreichen, dass
die Pfarreien und Institutionen zu Instanzen werden, die uns solche Räume eröffnen.
Das bedeutet, die Kirche im Innern zu erneuern, um auf das gläubige Volk zugehen zu
können. Die pastorale Erneuerung erfordert, dass wir von einer Kirche, die ‚den
Glauben reguliert‘, zu einer Kirche werden, die ‚den Glauben weitergibt und erleichtert‘.“16
15
16
Vgl. Papst Franziskus, Mein Leben Mein Weg El Jesuita. Die Gespräche mit Jorge Mario
Bergoglio von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Vorwort Rabbi Abraham Skorka,
Freiburg / Basel / Wien 2013, 85.
Vgl. J. M. Bergoglio, Leben (s. Anm. 15), 87.
81
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
Wenn es also im Blick auf eine dringend notwendige neue Etappe der Evangelisierung, die „kundenorientiert“ ist, kleinere und damit flexiblere pastorale Einheiten, insbesondere Pfarren, braucht, dann besteht auch ein erheblich größerer Bedarf an Priestern. Zunächst einmal repräsentiert ein Priester in der
Wahrnehmung der Menschen – ob sie noch innen oder schon draußen stehen – die Kirche in besonderer Weise.17 Sodann ist der priesterliche Dienst unverzichtbar im Bereich der Sakramentenpastoral. Dies gilt in besonderer Weise
für seine Vorsitzfunktion bei der Eucharistiefeier. Denn die Eucharistie ist eben
die Kraftquelle und der Höhepunkt des gemeindlichen Lebens, weil die feiernde
Gemeinde sich genau hier ihrer Identität versichert, indem sie den Auftrag Jesu
„Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ erfüllt. Allerdings besteht nicht nur die Gefahr, sondern es ist vielerorts bereits traurige Realität, dass aufgrund des Priestermangels der priesterliche Dienst auf die Sakramentenpastoral reduziert
wird, statt dass diese eingebettet ist in eine ganzheitliche Pastoral. Eine solche
lässt Raum, gerade in alltäglichen Kontexten auf die Menschen zuzugehen, ihre
Fragen und Sorgen ernstzunehmen und sie zu begleiten. Und nicht zuletzt
müsste ein Priester auch eine starke theologische, pastorale und spirituelle Leitungskompetenz besitzen, einschließlich der Befähigung und Bereitschaft zu
Dialog, Moderation und Motivation, um möglichst viele Haupt- und Ehrenamtliche in der Gemeinde zu aktivieren. All dies setzt nicht nur eine solide Ausbildung, sondern auch eine gefestigte, reife Persönlichkeit voraus. Es wäre wohl
der falsche Ansatz zu zweifeln, dass es genügend Personen gibt, die diesem
„Anforderungsprofil“ gerecht werden könnten. Gott schenkt seiner Kirche die
Berufungen, die sie unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen auf ihrem Weg
durch die Geschichte braucht. Es ist vielmehr Aufgabe der Kirche, genauer der
Kirchenleitung, mutig alle Barrieren zu beseitigen, die den gottgeschenkten Berufungen zum priesterlichen Dienst hindernd im Wege stehen. Grundlegend
dafür ist – wie hier aufzuzeigen versucht wurde, eine Neujustierung der Rolle
des Priesters, die die neue Verhältnisbestimmung zwischen Priestern und (übrigen) Gläubigen, die das Zweite Vatikanische Konzil mit besonderem Augenmerk auf Letztere begann, nun konsequent mit Blick auf die Priester zu Ende
führt. In welche Richtung dabei die Beachtung exegetischer Erkenntnisse zum
neutestamentlichen Textbefund und die Beachtung geschichtlicher Entwicklungsstufen und -prozesse weist, wurde hier knapp skizziert. Gestützt darauf,
lässt sich ein Ausschluss von Frauen zum Weiheamt mit dem Argument, der
Priester handle „in persona Christi“, jedenfalls ebenso wenig rechtfertigen wie
sich der Pflichtzölibat argumentativ absichern lässt. Mit der Öffnung des Pries17
82
Eben dies dürfte auch der Grund sein, warum Skandale um Priester, etwa bei sexuellem Missbrauchs, aber auch bei allzu selbstherrlicher und verschwenderischer Amtsführung, die Menschen in besonderer Weise erschüttern und in der Folge hohe Kirchenaustrittszahlen nach sich ziehen.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Einleitung
teramts bzw. des kirchlichen Weiheamtes auch für die Frauen und für die
erdrückende Mehrheit von Männern, die sich ein Leben ohne Partnerschaft,
Ehe und Familie nicht vorstellen können, stünde der Kirche dann die Gesamtheit der Getauften und somit Teilhabenden am allgemeinen Priestertum potentiell für das amtliche Priestertum zur Verfügung. Damit könnten also alle tatsächlich von Gott zu diesem Dienst Berufenen der Kirche und ihrem Evangelisierungsauftrag zugute kommen. Eine Steigerung des Klerikalismus in der Kirche wäre davon kaum zu befürchten, vor allem dann nicht, wenn die gemeinsame Teilhabe von allgemeinem und amtlichem Priestertum an dem einen
Priestertum Christi entsprechend gewürdigt und die Differenz zwischen beiden
funktional bestimmt würde. Im Gegenteil schiene sogar eine äußerst wünschenswerte Abnahme des Klerikalismus viel wahrscheinlicher. Denn je kleiner
und „exklusiver“ die für die kirchlichen Lebensvollzüge unverzichtbare Gruppe
der geweihten Amtsträger ist, desto größer ist die Gefahr, dass die Mitglieder
dieser Gruppe sich umso stärker klerikalisieren und den ihnen aufgetragenen
Dienst als Herrschaft oder – schlimmer noch – als „Heilige“ Herrschaft missverstehen.
83
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
84
„Der Kelch des Segens, den wir segnen, …
das Brot, das wir brechen …“ (1 Kor 10,16)
Beobachtungen zur Rolle der Gemeinde und zur Frage des liturgischen
Vorsitzes bei den urchristlichen Mahlfeiern
Marlis Gielen
Die Liturgiekonstitution des 2. Vatikanischen Konzils, die die entscheidende
Weichenstellung für die nachkonziliare Liturgiereform vornahm, vollzog einen
entscheidenden Perspektivenwechsel, indem sie das Verhältnis zwischen Gemeinde und Priester bei der Feier der Liturgie neu bestimmte. War die vorkonziliare Liturgie ganz auf den Priester als Akteur des liturgischen Handelns zugeschnitten, so holt die Liturgiekonstitution die Gemeinde aus ihrer passiven Rolle als Zuschauerin heraus und nimmt sie stattdessen als aktive Trägerin des gottesdienstlichen Geschehens wahr.1 Dass sich diese „neue“ aktive Einbindung
des „Volkes“ in die Liturgie auf die Anfänge kirchlicher Tradition stützen kann,
möchte dieser Beitrag anhand einiger Beobachtungen zur Rolle der Gemeinde
und zur Frage des liturgischen Vorsitzes bei den urchristlichen Mahlfeiern skizzieren.
1. Die Gemeinde als Subjekt des liturgischen Handelns bei den urchristlichen
Mahlfeiern
1.1. Kultätiologie mit historischem Haftpunkt:
Die Überlieferung von der Einsetzung der Eucharistie
(1 Kor 11,23b-26/Lk 22,18-20; Mk 14,22-25/Mt 26,26-29)
Gleich vierfach findet sich der sog. Einsetzungsbericht in den ntl. Schriften. Die
drei synoptischen Belege sind eingebettet in die Passionserzählung des jeweiligen Evangeliums, der traditionsgeschichtlich älteste Beleg in 1 Kor 11,23b-26
begegnet im Kontext der pln Argumentation gegen Missstände, die sich bei den
Mahlfeiern der korinthischen Gemeinde eingeschlichen hatten. Allerdings ist
auch hier der Bezug zur Passion Jesu festgehalten, insofern die von Paulus zitierte Überlieferung die eucharistischen Handlungen Jesu gleich eingangs „in
1
Zuerst gedruckt in: U. Busse/ M. Reichardt/ M. Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus.
Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. FS für R. Hoppe zum 65. Geburtstag (BBB 166), Göttingen 2011, 469-482.
Vgl. T. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramententheologie,
Mainz 61992, 131-133. Zentrale Aussagen hierzu bietet die Liturgiekonstitution vor allem unter Ziffer 14 und 48.
85
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
der Nacht, in der er ausgeliefert wurde“ (11,23b:
) situiert. Recht einhellig ist das exegetische Urteil, dass der Einsetzungsbericht
nicht zum ältesten Bestand der Passionstradition gehört, sondern ursprünglich
eine eigenständige Überlieferung mit kultätiologischer Funktion bildete.2 Als
liturgischer Text wurde der Einsetzungsbericht bei den urchristlichen Mahlfeiern offenbar jedoch noch nicht rezitiert.3 Den frühesten Beleg für eine liturgische Rezitation bietet die Traditio Apostolica (4,4-13), eine Kirchenordnung aus
dem 3. Jh.4
Der Vergleich zwischen den vier Versionen des Einsetzungsberichtes lässt zwei
verschiedene Überlieferungsstränge (pln/lk sowie mk/mt) erkennen, die sich
nicht einfach harmonisieren lassen. Doch auch zwischen den Versionen desselben Überlieferungsstranges gibt es noch einmal Abweichungen.5 Entsprechend
schwierig gestaltet sich die Rekonstruktion einer überlieferungsgeschichtlichen
Ursprungsform,6 die als solche auch keinesfalls mit einem Protokoll über die
Handlungen und Worte Jesu bei seinem Abschiedsmahl zu verwechseln ist.7
Gleichwohl besteht ein breiter Forschungskonsens, dass die ntl. Einsetzungsberichte kein nachösterliches „Produkt“ sind, sondern Bezug nehmen auf ein Geschehen im unmittelbaren Vorfeld der Passion Jesu. Dieses Geschehen lässt
sich so skizzieren: Bei einem Abschiedsmahl nimmt Jesus die für das jüdische
Gemeinschaftsmahl konstitutiven und von Segensgebeten begleiteten Handlungen an Brot und Wein zum Anlass, um seinen Tischgenossen zu vermitteln,
dass er ungeachtet der ihm drohenden Hinrichtung seinen Tod nicht als Schei2
3
4
5
6
7
86
Vgl. u. a. H. Merklein, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 157-180, 157f. 168f; M. Theobald, Leib und Blut Christi. Erwägungen zu Herkunft, Funktion und Bedeutung des sog. „Einsetzungsberichts“, in: M. Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (QD 221), Freiburg i. Br. 2007, 121-165, 129-131; B.
Heininger, Das letzte Mahl Jesu. Rekonstruktion und Deutung, in: W. Haunerland (Hg.),
Theologische Kontexte der Eucharistie, Würzburg 2005, 10-49, 21f.
Vgl. J. Schröter, Die Funktion der Herrenmahlsüberlieferungen im 1. Korintherbrief.
Zugleich ein Beitrag zur Rolle der „Einsetzungsworte“ in frühchristlichen Mahltexten,
in: ZNW 100 (2009), 78-100, 80; C. Niemand, Jesus und sein Weg zum Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, Stuttgart 2007, 320, Anm. 222.
Vgl. J. Schröter, Funktion (s. Anm. 3) 79; ders., Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (SBS 210), Stuttgart 2006, 113-122.
Zu den Einzelheiten vgl. M. Gielen, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte, Stuttgart 2008, 74-77.
Vgl. etwa nur die in Einzelentscheidungen abweichenden Ergebnisse in zwei neueren
Beiträgen zum Thema von B. Heininger, Mahl (s. Anm. 2) 10-49 und C. Niemand, Jesu
Abendmahl. Versuche zur historischen Rekonstruktion und theologischen Deutung, in:
ders. (Hg.), Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs) (Linzer philosophisch-theologische Beiträge 7), Frankfurt a. M. 2002, 81-122.
Vgl. H. Merklein, Erwägungen (s. Anm. 2) 162.168f.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
tern seines Wirkens, sondern als letzte Konsequenz dieses Wirkens im Dienst
der Gottesherrschaft versteht, an deren endgültigen Durchbruch er unbeirrt
festhält.8
1.2. Die Repräsentanzfunktion des Zwölferkreises beim Abschiedsmahl Jesu
nach Darstellung der synoptischen Evangelien
Der ursprünglich selbstständig überlieferte Einsetzungsbericht konkretisiert
weder im pln/lk noch im mk/mt Traditionsstrang den Kreis der Mahlteilnehmer.
Durchweg kommen sie in Pronominalformen zur Sprache. Einzig Mt präzisiert
einmal in 26,26 die mk Vorlage, indem er das pronominale Dativobjekt „ihnen“
(
) aus Mk 14,22 ersetzt durch „den Jüngern“ (
).9 Dieser Befund unterstreicht die kultätiologische Funktion des Einsetzungsberichtes. Die
im Gedenken an Jesu Gesten und Worte bei seinem Abschiedsmahl nachösterlich Mahl haltende Gemeinde versteht sich jetzt selbst im Vollzug der Feier vom
erhöhten Herrn10 angesprochen und beauftragt, so zu handeln.
Allerdings wird nun von allen drei Synoptikern im Überleitungsvers von der
Vorbereitung zum Beginn des Mahles die Gruppe der Tischgenossen Jesu beim
Abschiedsmahl exklusiv auf den Zwölferkreis eingeschränkt (Mk 14,17 par. Mt
26,20: die Zwölf; Lk 22,14: die Apostel11). Darüber hinaus jedoch bekommen die
Zwölf in keiner synoptischen Passionserzählung eine prominente Rolle zuge8
9
10
11
Vgl. B. Heininger, Mahl (s. Anm. 2) 43f. Für diesen historischen Kern spricht auch, dass
das Abschiedsmahl Jesu unter dieser Voraussetzung in Kontinuität zu seiner Mahlpraxis während seines öffentlichen Wirkens steht, insofern die Mähler, die Jesus mit Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen gesellschaftlichen wie religiösen
Ansehens feierte, ganz im Zeichen des Anbruchs der von ihm verkündeten Gottesherrschaft standen, vgl. R. Hoppe, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996,
142f.; T. Söding, „Tut dies zu meinem Gedächtnis …!“ Das Abendmahl Jesu und die Eucharistie der Kirche nach dem Neuen Testament, in: S. Roos/H. Zaborowski (Hg.), „Essen und Trinken ist des Menschen Leben.“ Zugänge zu einem Grundphänomen, Freiburg i. Br. 2007, 88-115, 60-63.
Dies liegt auf der redaktionellen Linie des Mt, der in der Passionserzählung wiederholt
gegen Mk den Begriff „Jünger“ einfügt (14 mt und nur 6 mk Belege).
Kaum zufällig führt die von Paulus zitierte Abendmahlsüberlieferung in 1 Kor 11,23b
Jesus nicht nur mit seinem Eigennamen ein, sondern stellt die Kyrios-Prädikation voran. Kaum zufällig verwendet auch Paulus selbst im Kontext der Mahlfeier wiederholt
den Kyriostitel (vgl. 10,21f.; 11,21. 23a. 26. 27. 29. 32). Zur Verwendung des Kyriostitels als Bezeichnung des auferweckten Christus vgl. J. A. Fitzmyer, Art.
,
in: EWNT II (1981) 811-820, 816f.
Sachlich ist durch diese lk Variante kein Unterschied zu Mk und Mt gegeben, da Lk bekannterweise die Apostelbezeichnung für die Mitglieder des Zwölferkreises reserviert
(vgl. programmatisch Lk 6,13; Apg 1,15-26). Der Begriff Apostel begegnet in den synoptischen Passionserzählungen im Übrigen nur Lk 22,14!
87
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
wiesen.12 Stattdessen wird wiederholt der semantisch offenere Begriff „Jünger“
(
) verwendet.13 Dies führt traditionsgeschichtlich zu dem Schluss: Erst
als der Einsetzungsbericht in die Passionserzählung integriert wurde, wurde der
Kreis der Teilnehmer am Abschiedsmahl Jesu exklusiv auf die Zwölf eingegrenzt.
Der Grund dafür erschließt sich, sofern man das konsensfähige Ergebnis der
Jesusforschung zur Bedeutung des Zwölferkreises berücksichtigt.14 Demnach ist
die Konstituierung des Zwölferkreises durch Jesus untrennbar mit seiner Botschaft verbunden, dass in seinem Wirken die eschatologische Gottesherrschaft
bereits anbricht. Genuiner Adressat dieser jesuanischen Botschaft ist ganz Israel, das es angesichts des endzeitlichen Heilshandelns Gottes neu zu sammeln
gilt. Dieses Ziel seines Wirkens bringt Jesus mit der Einsetzung der Zwölf zeichenhaft zum Ausdruck, insofern diese für die zwölf Stämme Israels stehen und
somit das eschatologische Gottesvolk in seiner Gesamtheit repräsentieren.
Obwohl nun die Zwölf den engsten Zirkel der Anhänger Jesu bilden, erschöpft
sich seine Anhängerschaft keineswegs in diesem Kreis.15 Es sind auch nicht allein die Zwölf, die Jesus nach Jerusalem begleiten. Nach Mk 15,40f. gehörten zu
seinem „Begleittross“ sogar nicht nur Männer, sondern ebenso zahlreiche
Frauen, darunter auch einige, deren Namen in der Überlieferung bewahrt wurden. So ist historisch damit zu rechnen, dass Jesus sein Abschiedsmahl mit allen
Männern und Frauen, die ihn nach Jerusalem begleitet hatten, feierte.16 Dafür
spricht nicht zuletzt, dass ein solch größerer Teilnehmerkreis beim Abschiedsmahl der vorherigen Mahlpraxis Jesu entspricht. Denn auch bei diesen Mähler,
12
13
14
15
16
88
Mk 14,10 parr. Mt 26,14; Lk 22,3; Mk 14,20 sowie Mk 14,43 parr. Mt 26,47; Lk 22,47
wird jeweils Judas als Mitglied des Zwölferkreises ausgewiesen. Zudem wird im Rahmen der lk Tischgespräche, die sich an den lk Einsetzungsbericht anschließen, in 22,30
die eschatologische Richterfunktion der Mahlteilnehmer (= die [zwölf] Apostel, vgl.
22,14) über die zwölf Stämme Israels thematisiert.
Vgl. Mk 14,4. 12. 13. 14. 16. 32; Mt 26,1. 8. 17f. 19f. 26. 35f. 40. 45. 56; 27,64; Lk
22,11. 39. 45. Bisweilen finden sich auch Formulierungsvarianten wie „alle“ (
Mk
14,50) oder „die um ihn herum waren“ (
Lk 22,49).
Stellvertretend für viele seien genannt: R. Hoppe, Jesus (s. Anm. 8) 59; G. Theißen/A.
Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 200-201; C. Niemand, Jesus (s. Anm. 3) 53-55.
Entsprechend geht der Konstituierung des Zwölferkreises eine freie Wahl seiner Mitglieder aus einer größeren Jüngergruppe durch Jesus voraus, vgl. Mk 3,13f.: „Und er
ging hinauf auf den Berg und rief zu sich die, die er selbst wollte, und sie gingen weg zu
ihm. Und er setzte sie als Zwölf ein (wörtlich: und er machte Zwölf)“, vgl. auch R. Hoppe, Jesus (s. Anm. 8) 59.
Mit einer größeren Tischgemeinschaft als dem Zwölferkreis beim Abschiedsmahl Jesu
rechnen etwa auch W. Kirchschläger, Zur Frage der Gottesdienstgemeinschaft. Biblische Perspektiven, in: HID 49 (1995) 227-237, 231f.; M. Theobald, Das Herrenmahl im
Neuen Testament, in: ThQ 183 (2003) 257-280, 263, Anm. 28.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
die wie das Abschiedsmahl unter dem Vorzeichen der eschatologischen Gottesherrschaft stehen, genießen die Zwölf keine exklusive Teilnahmeberechtigung!
Die Ostererfahrung führte dann aber zur Einsicht, dass Jesu Handeln nicht allein
dem historischen Teilnehmerkreis an seinem Abschiedsmahl galt, sondern darüber hinaus allen, die sich nachösterlich zu ihm bekennen. Entsprechend verzichtet die alte, kultätiologisch orientierte Einsetzungsüberlieferung darauf,
den Personenkreis zu konkretisieren, an den sich Jesus mit seinen Gesten und
Worten wendet. Als diese Überlieferung jedoch in die Passionserzählung integriert wurde, musste diese bewusste Leerstelle narrativ gefüllt werden. Indem
dies durch Einfügung der Zwölf geschah, blieb die ursprüngliche Offenheit des
Adressatenkreises von Jesu Handeln erhalten. Denn insofern die synoptische
Tradition die von Jesus dem Zwölferkreis zugedachte Symbol- und Repräsentanzfunktion für das eschatologische Gottesvolk bezeugt, bewahrt die Entscheidung, genau diesen Kreis als Tischgenossen beim Abschiedsmahl Jesu zu
etablieren, die Einsicht, die der alten Einsetzungsüberlieferung zugrunde liegt.
Die Zwölf, die im narrativen Zusammenhang der synoptischen Passionserzählungen allein mit Jesus das Abschiedsmahl feiern, repräsentieren also die gesamte Gemeinschaft der Christusgläubigen, die sich als solche auch beauftragt
weiß, als vor Ort versammelte Gemeinde ihre Mahlfeiern im vergegenwärtigenden Gedenken an das Abschiedsmahl Jesu liturgisch zu vollziehen.17 In der
alten Einsetzungsüberlieferung ebenso wie durch die narrative Einbettung dieser Überlieferung in die synoptischen Passionserzählungen drückt sich also das
urchristliche Verständnis aus, dass die Gemeinde als solche Subjekt des liturgischen Vollzugs ist.
2. Die Frage nach einer liturgischen Leitungsfunktion bei den urchristlichen
Mahlfeiern
2.1. Die Frage nach dem liturgischen Vorsitz im Kontext sonstiger gemeindlicher
Leitungsfunktionen
Von Beginn an bildeten sich in den urchristlichen Gemeinden Leitungsfunktionen heraus. Dies belegen schon Mitte des 1. Jh. die authentischen Paulusbriefe
als älteste Zeugnisse.18 Die Bezeichnungen für solche Leitungsfunktionen sind
17
18
Vgl. T. Söding, Gedächtnis (s. Anm. 8) 79.
Vgl. dazu: M. Tiwald, Die vielfältigen Entwicklungslinien kirchlichen Amtes im Corpus
Paulinum und ihre Relevanz für die heutige Theologie, in: T. Schmeller/ M. Ebner/ R.
Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (QD 239), Freiburg i. Br.
2010, 101-128, 102-110; M. Gielen, Die Wahrnehmung gemeindlicher Leitungsfunktionen durch Frauen im Spiegel der Paulusbriefe, in: ebd. 129-165; D.-A. Koch, Die Ent-
89
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
noch flexibel, teilweise untereinander austauschbar und von einer festen
Amtsterminologie noch weit entfernt. Allerdings sucht man im NT vergeblich
nach kultisch-sacerdotalen Begriffen wie Priester (
) oder Priesteramt bzw.
19
-dienst (
) im Kontext von Gemeindeleitung. Die urchristlichen Gemeinden kannten also keinen priesterlich definierten Vorsitz bei ihren Mahlfeiern.20 Dies schließt allerdings nicht a priori aus, dass es eine nicht-priesterlich
definierte liturgische Vorsitzfunktion gegeben hat. Es ist also zu prüfen, ob es
Hinweise darauf gibt und welcher Personenkreis dafür in Frage kommt.
2.2. Die Frage nach dem liturgischen Vorsitz im Licht der Bedeutung christlicher
Hausvorstände für das Gemeindeleben
Die sozialgeschichtlich orientierten Forschungen der letzten Jahrzehnte haben
die große Bedeutung aufzeigen können, die private Hauswesen für die Entwicklung urchristlichen Gemeindelebens besaßen.21 Solche Hauswesen, die ihre Existenzgrundlage zumal im städtischen Umfeld zumeist handwerklicher Produktion und/oder Handel verdankten, bildeten eine komplexe und zugleich autarke
Sozial- und Wirtschaftseinheit. Nur solche Hauswesen verfügten über die personellen, räumlichen und finanziellen Voraussetzungen, um ein Gemeindeleben
überhaupt zu ermöglichen. Ob und inwieweit die vorhandenen Voraussetzungen tatsächlich für gemeindliche Zwecke genutzt werden konnten, hing entscheidend davon ab, ob sich der jeweilige Hausvorstand dem Evangelium öffnete. Paulus jedenfalls dürfte bei seiner Erstverkündigung in einer Stadt gezielt
die Gruppe der Hausvorstände angesprochen haben.22 Denn diese Personen-
19
20
21
22
90
wicklung der Ämter in frühchristlichen Gemeinden Kleinasiens, in: ebd. 166-206, 167177.
Vgl. J. Roloff, Art. Amt, Ämter, Amtsverständnis IV, in: TRE 2 (1978) 509-533; 509f.
Die fehlende kultisch-sakrale Begründung urchristlicher Leitungsfunktionen (vgl. M.
Tiwald, Entwicklungslinien [s. Anm. 18] 128) ist freilich angesichts der kultkritischen
Note im Wirken Jesu (vgl. M. Ebner, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge [SBS 196], Stuttgart 2003, 182-190; G. Theißen/A. Merz, Jesus [s. Anm.
14], 380f.) und deren nachösterlichen Rezeption besonders im hellenistischen Judenchristentum (vgl. H. Merklein, Der Sühnetod Jesu nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II [WUNT 105], Tübingen 1998, 31-59, 3942) kaum erstaunlich.
Vgl. etwa H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS
103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften – von Jesus bis Paulus (Bibelwissenschaftliche
Monographien 9), Tübingen 2000; K. Lehmeier, Oikos und Oikonomia. Antike Konzepte
der Haushaltsführung und der Bau der Gemeinde bei Paulus (MThSt 92), Marburg
2006.
Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Paulus in 1 Kor einerseits betont, dass nicht die Taufspendung, sondern die Verkündigung seine genuine Aufgabe sei (1,17), dass aber die
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
gruppe vor allem konnte aufgrund ihrer finanziellen und bildungsmäßigen Voraussetzungen organisatorische und kerygmatische Leitungsfunktionen übernehmen.23
Geradezu konstitutiv für das Gemeindeleben war es nun, dass christliche Hausvorstände im Rahmen ihres Beitrags für die Gemeindeorganisation ihre Häuser
für die Gemeindeversammlungen zur Verfügung stellten. Dankbar erwähnt
Paulus etwa in Röm 16,23, dass nicht nur er selbst bei Gaius Quartier gefunden
habe, sondern dass Gaius auch die ganze Gemeinde beherberge. Im Haus des
Gaius kamen also die korinthischen Christen und Christinnen als Gemeinde zusammen und feierten hier auch miteinander Mahl. Impliziert aber die Bereitstellung des Versammlungsraumes durch Gaius oder andere Hausvorstände
automatisch deren liturgische Vorsitzfunktion bei der Mahlfeier? Dies wird zumeist angenommen.24 Dabei lässt sich verweisen auf Anknüpfungspunkte in der
antiken Gesellschaft. Sie liegen zum einen im Bereich antiker Hauswesen, zu
denen stets ein Hauskult gehörte,25 und zum anderen im Bereich antiker Mahlkultur, die für das gesellschaftliche Leben konstitutiv war.26 Beim Vollzug der
Zeremonien innerhalb des Hauskultes lag die Leitung selbstverständlich beim
Hausvorstand.27 Ebenso selbstverständlich übte er auch bei privaten Gastmäh-
23
24
25
26
27
kleine Gruppe seiner Täuflinge, die er namentlich aufzählt (1,14: Krispus [vgl. Apg 18,8]
und Gaius [vgl. Röm 16,23]; 1,16: Stephanas [vgl. 1 Kor 16,15-17]), allesamt als Hausvorstände identifiziert werden können.
Am Beispiel der Phöbe aus Kenchreä konkretisiert: M. Gielen, Frauen als Diakone in
paulinischen Gemeinden, in: D. Winkler (Hg.), Diakonat der Frau. Befunde aus biblischer, patristischer, ostkirchlicher, liturgischer und systematisch-theologischer Perspektive (orientalia – patristica – oecumenica 2), Münster 2010, 11-40, 11-19.
Vgl. etwa J. Roloff, Herrenmahl und Amt im Neuen Testament, in: KuD 47 (2001), 6889, 73; W. Kirchschläger, Begründung und Formen des liturgischen Leitungsdienstes in
den Schriften des Neuen Testaments, in: M. Klöckener/ K. Richter (Hg.), Wie weit trägt
das gemeinsame Priestertum? Liturgischer Leitungsdienst zwischen Ordination und
Beauftragung (QD 171), Freiburg i. Br. 1998, 20-45, 28f. 32-34; vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde (s. Anm. 21) 43; A. Vögtle, Die Dynamik des Anfangs. Leben und Fragen der
jungen Kirche, Freiburg i. Br. 1988, 148; A. Weiser, Die Frau im Umkreis Jesu und in den
urchristlichen Gemeinden, in: ders., Studien zu Christsein und Kirche (SBA NT 9), Stuttgart 1990, 289-304, 301.
H.-J. Klauck, Hausgemeinde (s. Anm. 21) 83.
Der Einbettung urchristlicher Mahlfeiern in die antike Mahlkultur widmeten sich in
letzter Zeit verschiedene Forschungsbeiträge, vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum 1. Korintherbrief (NTA
NF 15), Münster 1982; B. Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (GTA 43), Göttingen 1990; M. Klinghardt, Gemeinschaftmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen 1996; H.
J. Stein, Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung (WUNT II 255), Tübingen 2008.
Vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde (s. Anm. 21) 85.
91
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
lern, zu denen er in sein Haus einlud, die Rolle des Gastgebers aus, wobei auch
solche privaten Gastmähler mit der Trankopferzeremonie zwischen Mahlzeit
und Symposion ein religiöses Element besaßen.28
In genereller Übereinstimmung mit der paganen Gesellschaft genoss auch im
zeitgenössischen Judentum das Haus als Ort religiöser Vollzüge wie gemeinschaftlicher Mähler einen hohen Stellenwert. Zwar wurde im jüdischen Haus
aufgrund der Kultzentralisation im Jerusalemer Tempel kein eigener Hauskult
mit Opferhandlungen gepflegt.29 Doch beging man die religiösen Jahresfeste im
häuslichen Rahmen mit Gebeten, Fastenzeiten und festlichen Mahlzeiten.30
Solche besonderen Festmähler, aber auch die wöchentlichen Sabbatmähler wie
sogar die Alltagsmähler wurden stets eröffnet wie beendet durch besondere
Mahlgebete, die vom Hausherrn gesprochen wurden.31 Auch ein Blick auf die
Liturgie des Passafestes als des ranghöchsten Jahresfestes bestätigt die führende Rolle, die dem Hausherrn bei religiösen Vollzügen zukam. Er leitete das Passamahl nicht nur mit den festspezifischen Besonderheiten ein. Er war zudem
auch zuständig für die Festanamnese (memoria), indem er auf die rituell festgelegten Fragen des Sohnes nach der Besonderheit von Passanacht und Passamahl die Überlieferung vom Auszug aus Ägypten als Erinnerung an das göttliche Heilshandeln an Israel zitierte.32
Angesichts der liturgischen Leitungsfunktion, die der heidnische wie der jüdische Hausvorstand bei religiösen Vollzügen (oft innerhalb eines Mahlkontextes)
im häuslichen Rahmen selbstverständlich ausübte, drängt sich daher der Analogieschluss auf: Auch bei den urchristlichen Mahlfeiern übernahm der jeweilige Hausvorstand, der sein Haus für die Gemeinde öffnete, als Gastgeber selbstverständlich auch den liturgischen Vorsitz. Diese Funktion dürfte sich dann aber
konkretisiert haben im Vollzug der Zeichenhandlungen an Brot (Brechen und
Austeilen) und Wein (Darreichung des Bechers) sowie im Sprechen der dazugehörigen Segensgebete.33
28
29
30
31
32
33
92
Die Trankopferzeremonie verbindet im Übrigen das private Gastmahl mit dem Hauskult, vgl. H. J. Stein, Mahlfeiern (s. Anm. 26) 39.
Vgl. H. J. Stein, Mahlfeiern (s. Anm. 26) 72.
Vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde (s. Anm. 21) 93.
Vgl. H. J. Stein, Mahlfeiern (s. Anm. 26) 72f.
Vgl. W. Kirchschläger, Begründung (s. Anm. 24) 28.
Vgl. J. Roloff, Herrenmahl (s. Anm. 24) 72f, der allerdings aufgrund von 1 Kor 10,15-17;
11,24 mit der Möglichkeit rechnet, dass die Mahlgebete von der ganzen Gemeinde gesprochen worden seien.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
2.3. Der liturgische Vorsitz – eine obligatorische Funktion bei den urchristlichen
Mahlfeiern?
Doch so einleuchtend vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Analogien aus
dem heidnischen und jüdischen Bereich die Rechnung Hausvorstand + gemeindliche Gastgeberrolle = liturgischer Vorsitz auch sein mag, es gibt Indizien
in ntl. wie frühkirchlichen Texten, die ahnen lassen, dass diese Rechnung zumindest nicht glatt aufgeht.34 Dies soll hier an zwei Textzeugen exemplarisch
aufgezeigt werden.
2.3.1. Der Befund im 1. Korintherbrief (1 Kor 11,17-34; 10,14-22)
Zwei Mal thematisiert Paulus in 1 Kor die gemeindliche Mahlfeier. In 10,14-22
legt er die Unvereinbarkeit zwischen der Teilnahme am Gemeindemahl und der
Teilnahme an einem Götzenopfermahl dar. In 11,17-34 kritisiert er einen Missstand, der sich in Korinth beim Vollzug der Mahlfeier eingeschlichen hat. Dieser
Missstand steht offenkundig im Zusammenhang mit dem Sättigungsmahl, das
in der Frühzeit stets mit dem sakramentalen Mahl verbunden war. Dabei ist es
für die Frage nach der liturgischen Vorsitzfunktion des Hausvorstandes am Versammlungsort kaum von Interesse, ob diese Sättigungsmahlzeit dem sakramentalen Mahl mit Brot- und Kelchhandlung vorausgeht oder in Übereinstimmung mit der von Paulus zitierten Abendmahlsüberlieferung von der Brot- und
der Kelchhandlung gerahmt wird.35 Aufmerksamkeit verdient aber, dass die
verschiedenen Gemeindemitglieder beim Sättigungsmahl unterschiedliche
Speisen und Getränke verzehren, die sie von zu Hause mitbringen und die je
nach Geldbeutel reichhaltig oder eher kärglich ausfallen (11,21f.). Der von Paulus beklagte Missstand liegt nun nicht darin, dass jedes Gemeindemitglied den
ihm möglichen Beitrag für das Sättigungsmahl leistet, sondern dass die Wohlhabenden offenbar ihre reichlich bemessenen und zudem besseren Speisen
34
35
Dazu gehört etwa der von J. Roloff, Herrenmahl (s. Anm. 24) 71 zutreffend als „auffällig“ bezeichnete Befund, „dass Paulus in seinem Brief nach Korinth nirgends explizit auf
die Frage zu sprechen kommt, wer berechtigt sei, beim eucharistischen Mahl den Vorsitz zu führen – und dies gegenüber einer Gemeinde, in der Gruppenrivalitäten eine
große Rolle spielten und verschiedene Personen mit ihren Führungsansprüchen die
Gemeinde zu spalten drohten.“ Roloff (ebd. 72) schließt daraus auf die Verantwortlichkeit der Gesamtgemeinde für den Vollzug der Herrenmahlfeier. Dies bestätigt sich
durch 1 Kor 11,17-34, wo Paulus angesichts der Missstände bei der korinthischen Herrenmahlfeier die Gesamtgemeinde und nicht eine einzelne Person in einer Leitungsbzw. Vorsitzfunktion kritisiert, vgl. A. Vögtle (s. Anm. 24) 141; H. J. Stein, Mahlfeiern (s.
Anm. 26) 133.
Zur Übersicht über die darüber geführte Diskussion vgl. H. Merklein/ M. Gielen, Der
erste Brief an die Korinther Kapitel 11,2-16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 79-83.
93
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
und Getränke nicht mit den Armen teilen.36 So kommt es, dass jeder beim Sättigungsmahl faktisch sein eigenes Mahl (V. 21:
) verzehrt statt die
praktische Konsequenz aus den sakramentalen Mahlhandlungen zu ziehen, die
das Sättigungsmahl aufgrund der Lebenshingabe des Kyrios Jesus für die feiernde Gemeinde als Herrenmahl (V. 20:
) qualifizieren. Eben
daran erinnert Paulus die korinthische Gemeinde durch das Zitat des Einsetzungsberichtes (VV. 23-25) und fordert schließlich in V. 33 die daraus erwachsende Konsequenz ein: „Nehmt einander gastlich auf (sc. indem ihr miteinander teilt)!“ bzw. „Wartet aufeinander (sc. so dass ihr miteinander teilen
könnt)!“ (
).
Damit ergeben sich erste Hinweise für die Frage nach einer liturgischen Vorsitzfunktion in der korinthischen Gemeinde. Zunächst: Der Hausvorstand, der den
Raum für die gemeindliche Mahlfeier bereitstellt, ist nicht der Gastgeber, der
seine Gäste mit Speisen und Getränken bewirtet.37 Somit ist er aber auch nicht
der „geborene Kandidat“ für den liturgischen Vorsitz. Sodann: Indem Paulus die
Mahlfeier als
nachdrücklich vom
abhebt
(11,20f.), erinnert er die Gemeindemitglieder vielmehr daran, dass der Kyrios
der Gastgeber ihrer Mahlfeier ist.38 Sein Brot essen sie und aus seinem Kelch
trinken sie (11,27; vgl. 10,21a) oder – anders formuliert – an seinem Tisch haben sie teil (10,21b). Der Kyrios ist also der Tischherr, die Gemeindemitglieder
aber sind allesamt seine Gäste. Als solche vollziehen sie gemeinsam die memoria, zu der sie sich vom erhöhten Kyrios beauftragt wissen: „Tut dies zu meinem
Gedächtnis!“ (11,24b.25c). Unter diesem Tun aber verstand man in Korinth die
Brot- und die Kelchhandlung, bestehend aus einem einleitenden Dank- bzw.
Lobgebet sowie dem Brechen des Brotes bzw. dem Herumreichen des Kelches
(einschließlich dem Verzehr der eucharistischen Gaben).
Dies geht unmissverständlich aus dem Einsetzungsbericht (11,23-25.26) hervor.
So bezieht sich die Aufforderung an die Gemeinde39 „dies tut … (
)
in 11,24 zurück auf das Dankgebet über das Brot (
) und den Gestus
des Brotbrechens (
, vgl. 10,16) (zum Verzehr des Brotes vgl. 11,26). In
11,25 bezieht sich der Anamnesisauftrag erneut – allerdings nur implizit angedeutet durch „ebenso (
) – auf das einleitende Gebet (vgl. 10,16) samt
36
37
38
39
94
Vgl. H. Merklein/ M. Gielen, 1 Kor III (s. Anm. 35) 87.
Ob der Hausvorstand Brot und Wein für die sakramentalen Handlungen besorgte und
ob er dies aus eigener Tasche oder aus einer Gemeindekasse bezahlte, lässt sich aufgrund der sporadischen und situativ zugespitzten Informationen nicht beantworten; zu
Analogien aus dem Bereich der antiken Vereinsmähler vgl. H. J. Stein, Mahlfeiern (s.
Anm. 26) 47-61.
H. Merklein/ M. Gielen, 1 Kor III (s. Anm. 35) 86.
Zur jeweils Mahl haltenden Gemeinde als Adressatin der eigenständigen Tradition des
Einsetzungsberichtes im Kontext ihrer kultbegründenden Funktion vgl. o. 1.2.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
dem Kelchgestus (Herumreichen des Kelches, analog zum Gestus des Brotbrechens) sowie – explizit - auf das Trinken aus dem Kelch (
; vgl. auch 11,26).
Erfolgte aber der gemeinsame Vollzug der memoria in Korinth nicht doch mit
verteilten Rollen? Trat nicht doch ein Gemeindemitglied aus der Rolle des Gastes am Tisch des Herrn heraus und übernahm – in Form des liturgischen Vorsitzes – die Rolle des Gastgebers, indem es „in persona Christi“ die Gebete über
Brot und Wein sprach, das Brot brach und verteilte sowie den Kelch herumreichte, so dass dann alle gemeinsam die eucharistischen Gaben verzehren
konnten? Dagegen spricht allerdings 1 Kor 10,16f. Paulus formuliert hier sehr
konsequent in der 1. Person Plural:
(16) „Der Kelch des Segens, den wir segnen (
), ist er nicht Teilhabe
am Blut Christi? Das Brot, das wir brechen (
), ist es nicht Teilhabe am
Leib Christi?
(17) Weil es ein einziges Brot ist, sind wir (
), die Vielen, ein einziger Leib,
denn wir alle haben Anteil (
) an dem einen Brot.“
Die logische Verbindung zwischen V. 16 und V. 17 stellt dabei sicher, dass es
sich bei der Wir-Gruppe in beiden Versen um denselben Personenkreis handelt.
Da diese Gruppe, in die sich Paulus explizit einschließt, V. 17 zufolge aber mit
der jeweils Mahl haltenden Gemeinde identisch sein muss,40 gilt dies auch für
V. 16.41 Demnach bestätigt Paulus durch 10,16f. ausdrücklich, was sich anhand
von 11,17-34 indirekt zu erkennen gibt: Die zur Mahlfeier versammelten Gemeindemitglieder vollziehen gemeinsam die Brot- und Kelchhandlung,42 indem
sie gemeinsam die dazugehörigen Gebete sprechen sowie den Brotfladen und
den Kelch einander weiterreichen, nachdem sie zuvor ein Stück davon abgebrochen bzw. aus dem Kelch getrunken haben. Da Paulus diese Praxis weder
40
41
42
Im Hintergrund der Argumentation von VV. 16f. steht der konkrete Vollzug der Mahlfeier, der immer nur in der Gemeinde vor Ort möglich ist.
Angesichts der logischen Struktur von 10,16f. ist schwerlich nachvollziehbar, dass W.
Kirchschläger, Begründung (s. Anm. 24) 31-34 ausgehend von der Wir-Form in diesen
Versen Paulus als Vorsteher der korinthischen Mahlfeier (bzw. in dessen Abwesenheit
den jeweiligen Hausvorstand des Versammlungsortes) identifizieren will. Zudem: Ebenso wenig, wie sich Paulus zum Taufspender berufen fühlte (vgl. 1 Kor 1,17), dürfte
er sich zum Vorsteher der Herrenmahlfeier berufen gefühlt haben (zur theologischen
Parallelität zwischen Taufe und Herrenmahl bei Paulus vgl. J. Roloff, Herrenmahl [s.
Anm. 24] 71f. mit Anm. 17).
Dabei steht in 10,16a das Gebet und in 10,16b der Gestus pars pro toto für die jeweils
aus Gebet und Gestus bestehende Kelch- und Brothandlung. Daher ist es m. E. inkonsequent, wenn J. Roloff, Herrenmahl (s. Anm. 24) 72f. von 10,16 nur auf ein gemeinsames Sprechen der Mahlgebete, nicht aber auf den gemeinsamen Vollzug der Mahlgesten durch die versammelte Gemeinde schließt.
95
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
kritisiert noch einfordert, sondern im Kontext von 10,14-22 sogar als Evidenzargument verwendet, war sie wohl für ihn wie für die korinthische Gemeinde
eine Selbstverständlichkeit. Dies aber lässt sich dann auch auf die übrigen paulinischen Gemeinden übertragen, sofern man nicht eine „Lex Corinthiensis“ für
die gemeindliche Mahlfeier annehmen will. Eine liturgische Vorsitzfunktion
kennt man also um die Mitte des 1. Jh.s. im paulinischen Missionsgebiet offenkundig noch nicht.
2.3.2. Der Befund in der Didache (9,1-10,7)
Werfen wir jetzt noch den Blick auf eine außerkanonische Schrift, die an der
Wende vom 1. zum 2. Jh. im syrischen Raum entstanden sein dürfte.43
Für die Frage nach einer liturgischen Vorsitzfunktion bei den urchristlichen
Mahlfeiern ist die Didache von besonderem Interesse. Denn als älteste erhaltene Kirchenordnung gewährt sie erstmals einen unmittelbaren Einblick in die
liturgische Ebene der gemeindlichen Mahlfeier mit den dazu gehörigen Gebeten (9,1-10,7).44 Dabei spricht die Didache nicht speziell gemeindliche Funktionsträger an,45 sondern wendet sich allgemein an die Mitglieder der Adressatengemeinde(n). Entsprechend richten sich auch die rubrizistischen Anweisungen in der 2. Pers. Plural, die die Didache den Mahlgebeten vorausschickt (9,1;
10,1), an alle, die an der gemeindlichen Mahlfeier teilnehmen. Die Mahlgebete
selbst sind in der 1. Pers. Plural gehalten. Rubriken (Ihr-Form) wie Gebete (WirForm) weisen also je für sich darauf hin, dass die Gebete gemeinsam gesprochen, nicht durch einen liturgischen Vorsteher vorgebetet werden.46 Gerade
ein solch gemeinsames Sprechen erfordert aber vorformulierte Gebete, wie sie
Did 9,1-10,6 präsentiert. Indirekt wird dies durch 10,7 bestätigt. Sind die Mahlgebete der Gemeinde nämlich obligatorisch, so können fakultativ Gebete von
Propheten, die an der Mahlfeier teilnehmen, hinzugefügt werden. Als charis43
44
45
46
96
Vgl. J. A. Draper, Die Didache, in: W. Pratscher (Hg.), Die Apostolischen Väter. Eine
Einleitung (UTB 3272), Göttingen 2009, 17-38, 19-21.
Vgl. M. Theobald, Leib (s. Anm. 2) 143.
Da, wo (inner- oder außer-)gemeindliche Funktionsträger (Apostel [11,3.4-6]; Propheten [10,7; 11,3.7-12; 13,1.3.6f.; 15,1f.]; Lehrer [11,1-2; 13,2; 15,1f.], Episkopen [15,1];
Diakone [15,1]) genannt werden, wird die Gemeinde zu einem bestimmten Verhalten
ihnen gegenüber aufgefordert. Aus 15,1 geht hervor, dass sich die Gemeinde ihre Episkopen und Diakone selbst wählt. Nach 10,7 ist die Gemeinde Propheten gegenüber
weisungsbefugt.
Dies gilt auch für Did 10,6. Da auch diese Passage noch unter die Anweisung von 10,1
für das gemeinsame Gebet fällt, erübrigt sich der Versuch, hier einen Dialog zwischen
liturgischem Vorsteher und Gemeinde rekonstruieren zu wollen, gegen M. Theobald,
Leib (s. Anm. 2) 146 und K. Wengst, Schriften des Urchristentums II, Darmstadt 1984,
46.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
matisch fundierte Gebete Einzelner kann deren Wortlaut selbstverständlich
nicht fixiert werden.
In 14,1-3 tritt noch einmal die gemeindliche Mahlfeier in den Blick, und zwar
unter der Perspektive der gebotenen ethischen Reinheit der Feiernden. Die für
die Fragestellung dieses Beitrags interessanten Aussagen begegnen in 14,1:
„An jedem Tag des Herrn versammelt euch [und dann] brecht das Brot (
) und sprecht das Dankgebet (
), nachdem ihr [zuvor]47 eure
Übertretungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei.“
Mit „das Brot brechen“ und „das Dankgebet sprechen“ hebt der Didachist offenkundig auf die für das sakramentale Mahl konstitutiven Bestandteile Gestus
und Wort ab.48 Wiederum formuliert er in der Ihr-Form. Er erwartet also, dass
nicht nur die Mahlgebete (9,1.2f.), sondern auch die Mahlgesten von allen zum
Mahl versammelten Gemeindemitgliedern vollzogen werden. So konvergieren
die Beobachtungen zur Didache mit dem Befund zu 1 Kor: Eine liturgische Vorsitzfunktion lässt sich hier so wenig wie dort erkennen.
3. Ergebnis und Ausblick
Als Ergebnis darf festgehalten werden: Die ntl. Überlieferung bezeugt klar das
urchristliche Bewusstsein, dass die jeweils vor Ort versammelte Gemeinde als
solche Subjekt des liturgischen Vollzugs ihrer eucharistischen Mähler ist, die sie
im vergegenwärtigenden Gedenken an das Abschiedsmahl Jesu feiert (1.). Unter den sich schon früh herausbildenden gemeindlichen Leitungsfunktionen
lässt sich keine unmittelbar der Liturgie der Mahlfeiern zuordnen. Zudem fehlt
jede kultisch-sacerdotal geprägte Begrifflichkeit. Eine priesterlich definierte
Vorsitzfunktion bei den urchristlichen Mahlfeiern lässt sich aus dem ntl. Textbefund somit nicht ableiten. (2.1.). Die These einer Wahrnehmung des liturgischen Vorsitzes durch den Vorstand des häuslichen Versammlungsortes kann
sich nur auf analoge Funktionen von Hausvorständen im heidnischen und jüdischen Bereich stützen (2.2.). Dagegen finden sich in 1 Kor sowie in der Didache
47
48
Das Partizip Aorist
bezeichnet eine vorzeitige Handlung (anders
die Übersetzung von K. Wengst, Schriften [s. Anm. 46] 87: „…und sagt Dank, indem ihr
dazu eure Übertretungen bekennt, …“, kursiv: M.G.). Denn das Schuldbekenntnis hat
einen sinnvollen Platz weder im Kontext der Mahlgebete (vgl. auch 9,1-10,6) noch im
Kontext der sakramentalen Mahlhandlungen insgesamt, sondern muss ihnen vorausgehen, und zwar „damit euer Opfer rein sei“.
Dass der Kelch bzw. der Wein hier unerwähnt bleibt (vgl. aber Did 9,2!), zeigt wohl nur,
dass die Formulierung „Brotbrechen“ bereits zum Terminus technicus für das sakramentale Mahl geworden ist, der die Kelchhandlung selbstverständlich einschließt (vgl.
Apg 2,42.46; 20,7.11; Ign, Eph 20,2).
97
Gielen/ Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche
textlich verifizierbare Indizien dafür, dass es Gemeinden gab, die ihre Mähler
ohne liturgischen Vorsitz feierten, gemeinsam die Mahlgebete sprachen und
gemeinsam die Mahlgesten an Brot und Wein vollzogen (2.3.).
Wenngleich diese Praxis keineswegs als Ausnahme zu werten ist,49 ist andererseits der Umkehrschluss unzulässig,50 dass keine Christengemeinde in den ersten Generationen eine liturgische Leitungsfunktion gekannt habe.51 Der gemeinsame Vollzug von Mahlgebeten und -gesten war indes die konsequenteste
Umsetzung des allgemeinen Bewusstseins, dass die Gemeinde Trägerin des liturgischen Vollzugs sei. Allerdings ließ sich diese Praxis mit zunehmender Größe der Gemeinden und fortschreitender Institutionalisierung auf Dauer nicht
erhalten. Die Zuständigkeiten bei den eucharistischen Mahlfeiern differenzierten sich aus. Dabei dürfte der liturgische Vorsitz am ehesten den Personen zugewachsen sein, die auch Leitungsaufgaben in anderen Bereichen (Organisation
und Verkündigung) wahrnahmen. Mitte des 2. Jh.s. bezeugt Justin jedenfalls die
Zuständigkeit des Vorstehers (
) für die Homilie nach den Schriftlesungen, für das Sprechen des Eucharistiegebetes über Brot und Wein, aber auch
für die Verteilung von Spenden an Bedürftige in der Gemeinde (vgl. 1 apol.
65.67).52
Ungeachtet der außer- und nach-ntl. einsetzenden kultisch-sacerdotalen Qualifizierung kirchlicher Leitungsämter, die aus der „Übertragung alttestamentlicher Priester- und Kultvorschriften auf die kirchlichen Amtsträger“53 erwuchs,
blieb in der frühen Kirche das Bewusstsein erhalten, dass die Liturgie ein Handeln des ganzen Volkes Gottes (konkret: der versammelten Gemeinde) sei.54 An
diese ur- und frühchristliche Tradition knüpfen das 2. Vatikanische Konzil mit
seiner Liturgiekonstitution und die nachfolgende Liturgiereform an. Knapp fünf
Jahrzehnte später steht allerdings die nachkonziliare Reflexion darüber noch
49
50
51
52
53
54
98
Mit 1 Kor und Did ist sie für verschiedene Zeiten und Gebiete bezeugt.
Dies schon allein deshalb, weil die vorhandenen ntl. und frühchristlichen Quellen über
innergemeindliche Strukturen nur sporadisch und lückenhaft informieren, vgl. D.-A.
Koch, Entwicklung (s. Anm. 18) 167.
Wenn mit einer „gewisse(n) Bandbreite in der Feiergestalt“ der urchristlichen Mähler
zu rechnen ist – so m. E. zutreffend C. Niemand, Jesus (s. Anm. 3) 319 – dürfte dies
auch für die Vorsitzfunktion gelten.
Vgl. M. Metzger, Modelle des liturgischen Leitungsdienstes in der Alten Kirche und ihre
Relevanz für die Gegenwart, in: M. Klöckener, K. Richter (Hg.), Wie weit trägt das gemeinsame Priestertum? Liturgischer Leitungsdienst zwischen Ordination und Beauftragung (QD 171), Freiburg i. Br. 1998, 46-64, hier: 48.
E. Dassmann, Die Bedeutung des Alten Testaments für das Verständnis des kirchlichen
Amtes in der frühpatristischen Theologie: BiLe 11 (1970), 198-214, 212.
Vgl. M. Metzger, Modelle (s. Anm. 52) 49-51.54. Dieses Bewusstsein weicht in der lateinischen Kirche im Frühmittelalter einer priesterzentrierten Liturgie, bei der die Eucharistiefeier als alleiniges Handeln des Priesters verstanden wird, vgl. M. Metzger,
ebd. 50.
GIELEN | Die Rolle der Gemeinde bei den urchristlichen Mahlfeiern | Beitrag
aus, welche Implikationen die Wiederentdeckung der Würde des Gottesvolkes
als Träger des liturgischen Vollzugs für ein an der Wurzel der Überlieferung orientiertes, erneuertes Verständnis des kirchlichen Amtes besitzt. Im Licht der
pln. Qualifizierung der Eucharistiefeier als Herrenmahl (1 Kor 11,20) betrachtet,
die daran erinnert, dass Jesus Christus selbst der im Geist gegenwärtige Gastgeber jeder Eucharistiefeier ist, gehört zu einem solch erneuertem Verständnis
nicht zuletzt anzuerkennen: Auch der Priester bleibt wie jedes andere mitfeiernde Gemeindemitglied, wenngleich in Erfüllung seiner spezifischen Rolle als
liturgischer Leiter, Gast am Tisch des Herrn.
99