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Birgit Abels: Hörgemeinschaften
Birgit Abels (Göttingen)
Hörgemeinschaften.
Eine musikwissenschaftliche Annäherung an die
Atmosphärenforschung
Das kollektive Imaginäre ist ebenso sehr eine Sache des kollektiven Sonoren.
(Peter Sloterdijk)1
Dieser Text fand seinen Ausgangspunkt in einer klassischen „Repulsion und Attraktion“Beziehung, die ich im Verlauf der letzten Jahre nolens volens gegenüber der kulturwissenschaftlichen Atmosphärenforschung entwickelt habe und die mich zu einer so stetigen wie
skeptischen Auseinandersetzung mit ihr geführt hat.2 Auf der einen Seite standen die analytischen Möglichkeiten, die das Konzept „Atmosphäre“ zu erlauben schien; auf der anderen
Seite die für das musikwissenschaftliche Arbeiten völlig ungeeignete Unschärfe des Begriffs.
In diesem Text versuche ich mich an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit diesem
Gefälle. Das Folgende beinhaltet dementsprechend theoretische Überlegungen sowie den
praktisch-explorativen Versuch, die Ergebnisse dieser Überlegungen auf das Beispiel einer
konkreten musikalischen Praktik anzuwenden und so ihr erkenntnisleitendes Potenzial zu
überprüfen. Die theoretischen Überlegungen werden in diesem Text nicht beendet, im Gegenteil: Bestenfalls öffnen sie einen Raum für weitere ihrer Art.3 Die praktische Anwendung
hingegen mag dennoch, so meine Hoffnung, gerade im Rahmen dieser Überlegungen zum
besseren Verständnis der in Rede stehenden Musik beitragen; sie ist nicht nur Prüfstein,
sondern überhaupt Ausgangspunkt und Ziel der hier angestellten theoretischen Überlegungen. Diese betreffen 1) den potenziellen Nutzen der Atmosphärenforschung für die Musikwissenschaft und 2) den potenziellen Nutzen der Musikwissenschaft für die Atmosphärenforschung. Bei der musikalischen Praktik, die in diesem Text als knappes Fallbeispiel
herangezogen wird, handelt es sich um Gong-Musik der Sama Dilaut, einer seenomadischen
Gruppe in der südostasiatischen Inselwelt. Eine Beschäftigung mit dieser Musik und ihren
vielfältigen Bedeutungsebenen setzt eine systematische Auseinandersetzung mit Vorstellun-
1
2
3
Peter Sloterdijk, Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche, Stuttgart 21984, S. 85.
Dieser Beitrag beruht auf einem Kurzvortrag, den ich im Rahmen der Podiumsdiskussion „Atmosphären – Von Raum, Kultur und Emotion“ am Zentrum für Theorie und Methodik der Kulturwissenschaften (ZTMK) der Georg-August-Universität Göttingen am 6.12.2012 gehalten habe. Ich
danke meinen Mit-Diskutanten Julian Aulke, Christoph Dittrich und Rebekka Habermas; außerdem
Andreas Waczkat, Eva-Maria van Straaten und Friedlind Riedel für Diskussionen und Kommentare
zu früheren Entwürfen dieses Texts.
Eine der wenigen Annäherungen eines Musikwissenschaftlers bzw. -pädagogen an den Atmosphärenbegriff ist Friedhelm Brusniaks Text „Seltsam, im Nebel zu wandern“, in: Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annährungen an einen unscharfen Begriff, hrsg. von Rainer Goetz und Stefan Graupner, München
2007, S. 193–200. Brusniak verfolgt hier jedoch einen künstlerisch-kompositorischen Ansatz und
sucht damit einen gänzlich anderen Zugriff auf den Atmosphärenbegriff als ich das im hier vorliegenden Text tue.
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gen der Sama Dilaut von Raum voraus;4 gerade deswegen bietet sich dieses Material als
Fallbeispiel für den vorliegenden Kontext an, und gerade deswegen scheint auch die Anwendung der Atmosphärentheorie hier vielversprechend. Denn die vergleichsweise junge –
und erfreulich heterogene – Atmosphärenforschung ist angesiedelt an der Schnittstelle von
Raumtheorie, Emotionsforschung und anderen Disziplinen und scheint gerade hierdurch
einiges an unmittelbarem Potenzial für die musikwissenschaftliche und auch musikalische
Analyse zu bieten. Ben Anderson beschreibt dieses Potenzial – wenn auch mit Blick auf affektive Wahrnehmung – wie folgt:
„[It] is the very ambiguity of affective atmospheres – between presence and absence,
between subject and object/subject and between the definite and the indefinite – that
enables us to reflect on affective experience as occurring beyond, around, and alongside
formations of subjectivity. [… T]he concept of atmosphere is good to think with because
it holds a series of opposites – presence and absence, materiality and ideality, definite and
indefinite, singularity and generality – in a relation of tension.“5
Die Fokussierung dieses Spannungsverhältnisses – nicht: dieser Dichotomien – eröffnet lohnenswerte und vielleicht sogar überfällige Perspektiven auf Bedeutungsmöglichkeiten von
Musik.6
Bei all den Türen, die der Atmosphärenbegriff möglicherweise zu öffnen vermag, ist er in seiner theoretischen Offenheit aber auch stark problembehaftet, und eine Annäherung gleicht
nicht selten dem sprichwörtlichen Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln7. Deswegen soll es in diesem Text indirekt auch um die Frage gehen, ob bzw. wie Musik und
4
5
6
7
Siehe Birgit Abels, „On Maritime Communities in the Southeast Asian Island World, Music, Dance
and Research. An Introduction“, in: Oceans of Sound. Mama Dilaut Performing Arts, hrsg. von Birgit
Abels, Hanafi Hussin und Matthew Santamaria, Hildesheim 2012, S. 13–18; und dies., „For the Love
of Soundscapes. Sama Dilaut Cultural Identity, the Sensory Experience of Travelling at Sea, and the
Acoustic Claiming of Space“, ebd., S. 97–108.
Ben Anderson, „Affective Atmospheres“, in: Emotion, Space and Society 2 (2009), S. 77–81, S. 77ff.
Dies betrifft die vermeintlich „unsagbaren“ Qualitäten von Musik, die häufig als sich der traditionellen musikwissenschaftlichen Analyse entziehend betrachtet werden, aber doch gerade konstitutiv sind
für musikalische Bedeutung. Georgina Born beschreibt diese Vorstellung zu Beginn der 1990er Jahre
mit Blick auf die Popularmusikforschung: „It must also be said that the neglect of the „music itself“
until recently in popular music studies was due not only to the sociological origins of the field, and
the lack of musically trained scholars, but to the aesthetic character of urban popular musics. This
aesthetic, as with many non-western musics, centres on those elusive qualities that have so far proven
resistant to music analysis in general, even in relation to art music. I am thinking of timbral inflection
(often exaggerated in popular music), micro-tonal slides, minutely subtle shifts of rhythm within a
highly structured but repetitive basic metre, and all of these employed in quasi-improvisational ways.
[…] The neglect of the „music itself“ in popular music studies, then, is due not so much to sociological
reductionism but, at least in part, to the lack of appropriate tools of music analysis per se.“ Georgina
Born, „Understanding music as culture: Contributions from popular music studies to a social semiotics of music“, in Tendenze e Metodi nella Ricerca Musicologica, hrsg. von Raffaele Pozzi, Florenz 1993,
S. 211–228, hier S. 214f. Siehe auch Lydia Goehr, „Music has no Meaning to Speak of: On the Politics of Musical Interpretation,“ in: The Interpretation of Music: Philosophical Essays, hrsg. von Michael
Krausz, Oxford 1993, S. 177–190.
Zuerst offenbar bei Max Kaase, „Sinn oder Unsinn des Konzepts ,Politische Kultur‘ für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln“, in: Wahlen
und politisches System, Opladen 1983, hrsg. von Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann, S. 144–
171.
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Musikwissenschaft in der Lage dazu sein können, der Atmosphärentheorie ein wenig Bodenhaftung zu geben, indem sie nämlich zu unserem bislang dürftigen ontologischen Grundwissen zu Atmosphären beitragen – ohne allerdings auf die in der phänomenologischen
Literatur häufig anzutreffenden reduktionistischen Tendenzen zurückzufallen, emotionale Erfahrungshorizonte unkritisch auf die Wirkungsmacht vermeintlich „quasi-objektiver
Gefühle“8 zurückzuführen. Eine solche musikwissenschaftliche Auslotung des Atmosphärenbegriffs könnte schlussendlich sogar deswegen zu neuen Perspektiven auf Prozesse der
Bedeutungszuschreibung an Musik führen, weil es doch gerade das interpretative Moment
und Andersons oben zitierte vermeintliche Gegensatzpaare sind, die im Zusammenhang mit
Bedeutungszuschreibung an Musik interessieren und gleichzeitig von zentraler Bedeutung
für die Atmosphärentheorie sind. Denn der Atmosphärenbegriff suggeriert eine wahrnehmungsphilosophische Fokusverschiebung vom Determinierten zum affektiv-leiblich Anmutenden, ohne das Determinierte zu ignorieren – und damit zur Fokussierung eines Moments
musikalischer Wahrnehmung, das auch in der Geschichte der Musikwissenschaft historisch
allenfalls sekundäre Beachtung gefunden hat:
„We have a habit of giving priority to the determination of something as a particular
something in our perception at the cost of other aspects. This is exactly challenged by
introducing the concept of atmosphere […] By atmosphere the determination of an
object is not the primary moment of the perceptions, it is the presence of something.
This presence is, in our daily practice, soon to become the identification of an object,
but before this identification we are in a state of presence to which we respond, sensorial
and bodily, to what is present […] Atmosphere is about including this presence into
our understanding of something and recognizing how the elements, usually considered
unessential and secondary, may be of importance.“9
„Die Rede von den ‚Gefühlen als Atmosphären‘“ sei provokativ, merken Kerstin Andermann und Undine Eberlein an.10 Dem pflichte ich bei. Aus musikwissenschaftlicher Sicht
wäre es jedoch vorschnell, wenn nicht sogar dumm, wegen dieses provokativen Moments
unkritisch und vor der Zeit mit dem Atmosphärenbegriff abzuschließen, mag doch gerade
die Musikwissenschaft geeignete Methoden zur Verfügung zu stellen wissen, ihn erst zu
erschließen und damit urbar – und nützlich – zu machen für die Kulturanalyse. Der vorliegende Text versteht sich also als explorative Voruntersuchung zu einem solchen möglichen
Erschließungsvorhaben, wobei ich mich hier primär auf die deutschsprachige Atmosphärenforschung beziehe, die sich vornehmlich um die Arbeiten von Hermann Schmitz und Gernot Böhme herum entwickelt hat; stellenweise rekurriere ich außerdem auf Peter Sloterdijks
Konzept der „Sonosphäre“11. Eine synoptische Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Atmosphärenforschung und der primär anglo- und frankophon orientierten ambience/
ambiance theory, deren Terminologien sowie deren jeweiligen (trans)disziplinären Genesen scheint insbesondere wegen der historisch gewachsenen Nähe letzterer zu den Sound
8
9
10
11
Z.B. Gernot Böhme, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Stuttgart 1998, S. 48.
Carsten Friberg, „Hermeneutics of Ambiance“, in: Ambiances in action. Proceedings of the 2nd International Congress on Ambiances / Ambiances en acte(s). Actes du 2nd Congrès International sur les Ambiances, hrsg. von Jean-Paul Thibaud und Daniel Siret, Montreal 2012, S. 671–676, hier S. 673.
Kerstin Andermann / Undine Eberlein, „Einleitung. Gefühle als Atmosphären? Die Provokation der
Neuen Phänomenologie“, in: Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, hrsg. von Kerstin Andermann und Undine Eberlein, Berlin 2011, S. 7–17, hier S. 7.
Vgl. unten Anm. 40.
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Studies vielversprechend, kann jedoch im Rahmen dieses Texts nicht geleistet werden.12
Der Einführung und kritischen Kontextualisierung des Konzepts Atmosphäre werde ich die
knappe Anwendung von korrespondierender Theoriebildung im Rahmen der beispielhaften
Beschäftigung mit einer konkreten Praktik der Gongmusik der Sama Dilaut folgen lassen.
In einer abschließenden Betrachtung wird es mir um eine erste Einschätzung gehen, ob
eine systematische musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Atmosphärentheorie
fachrelevant sein könnte. Meine Antwort hierauf wird „ja“ sein.
Atmosphären
„Mit ihm [d.i. dem Begriff der Atmosphäre] verhält es sich […] ebenso wie mit dem
Innewerden des Wetters. Das Wetter eines naßkalten Regentags oder lauen Frühlingsabends begegnet uns keineswegs als Regung des eigenen Leibes, sondern als unbestimmt
weit ergossene Atmosphäre, in die dieser eingebettet ist; aber wir spüren es am eigenen
Leibe, indem es diesen frösteln läßt oder ihm den Atem verschlägt oder ihn wie mit lauen Fluten umschmeichelt. Ebenso richtet Hoffnung uns auf, während sich Sorgen und
Kummer zentnerschwer auf die Brust legen, aber nicht als körperliche Massen, sondern
so, wie sich nach dem Zeugnis unmittelbaren, unbefangenen Spürens auch schwüles und
drückendes Klima schwer auf die Brust legen kann.“13
So, mit der Wirkungsmacht seiner Sprache spielend, der Leibphänomenologe Hermann
Schmitz, dessen Arbeiten von zentraler Wichtigkeit für die deutschsprachige Atmosphärentheorie14 sind. Die Leiblichkeit emotionalen Erfahrens und das eigenleibliche Spüren
sind Schlüsselkonzepte bei Schmitz. Sie stehen in seiner „Neuen Phänomenologie“ an der
Schnittstelle zwischen individuellem Gefühl und der Atmosphäre eines Raums; sie meditieren letztere. Ohne den Körper, so impliziert Schmitz, lässt sich Atmosphäre nicht wahrnehmen:
„Gefühle sind räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären, vergleichbar
dem Wetter und der reißenden Schwere, wenn man ausgeglitten ist und entweder schon
stürzt oder sich gerade noch fängt: also solchen in den spürbaren Leib eingreifenden
Mächten, die nicht selbst leibliche Regungen sind, aber nur am eigenen Leib, wenn
auch manchmal als Widersacher, gespürt werden. Ebenso werden Gefühle nur im eigen-
12
13
14
Für eine historische Einordnung cum Begriffsgeschichte des Konzepts ambiance siehe Jean-Paul
Thibaud, „Petite Archeologie de la notion d’ambiance“, in: „Les bruits de la ville“, Communications 90,
2012.
Hermann Schmitz, Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn
21992, S. 141.
Obschon die Atmosphärenforschung erst einige Jahrzehnte alt ist, wurzelt sie in älteren Konzepten
der Ästhetik und Phänomenologie bzw. verweist auf sie, so zum Beispiel auch auf den Benjaminschen
Aura-Begriff. Der Aura-Begriff wird jedoch in der gegenwärtigen Literatur zu Atmosphären selten
direkt rezipiert. Siehe auch Andreas Rauh, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, S. 74.
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leiblichen Spüren als ergreifende Mächte wirksam, aber allerdings [sic] kann man sie als
Atmosphären darüber hinaus oft auch in der Umgebung wahrnehmen.“15
In einer radikalen Geste wendet sich Schmitz also von Grundannahmen der klassischen
Phänomenologie ab und stellt die scheinbar unhinterfragte Gegenüberstellung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit und die stets klare Trennung von Objekt und Subjekt zugunsten
einer intensivierten Analyse von Erleben und Welterfahren infrage. Gefühle sind dementsprechend nicht primär seelische oder psychische Zustände eines Individuums und damit
innerlich; vielmehr sind manche Gefühle Atmosphären. Das eigentlich provozierende Moment dieses Standpunkts liegt darin, dass diesen Gefühlen als Atmosphären ein Halbdingcharakter zukommen soll. Atmosphären werden als „emotional getönte Räume“16 und als
„im Raum spürbare randlos ergossene Gefühle“17 gedacht. In dem Moment, in dem sich
Gefühle nicht auf das Erfahren eines Individuums beschränken, sondern sich ohne definierbare Grenze im Raum erstrecken, sind sie nach dieser Definition atmosphärischer Natur. Für
solche Phänomene bzw. „Halbdinge“, die anders als die „Dinge“ in Schmitz‘ Denksystem
nicht „raumzeitlich lokalisierbar auf konstante Weise in der Außenwelt anzutreffen sind,
gelten Unterbrechbarkeit, d.h. nicht-konstante Dauer, und zweigliedrige Kausalität, womit
Schmitz das Zusammenfallen von Ursache und Einwirkung meint.“18 Zu Schmitz‘ „Halbdingen“ zählen beispielsweise die menschliche Stimme, das Wetter und eben die Atmosphären.19 Zur Ausdifferenzierung letzterer unterscheidet Schmitz zwischen überpersönlichen
Atmosphären und personengebundenen Gefühlen. Erstere sind räumlichen Charakters;
Menschen geraten in sie hinein und werden von ihnen erfasst, wie zum Beispiel das Wetter
und die Stimmung auf einer Vernissage; letztere sind Gefühle, die über den individuellen
Körper hinausgehen: „In der Freude springt und hüpft der Mensch, aber nicht unbedingt,
weil er gesteigerte Spannkraft austoben müsste; man kann sich in die Freude ja auch fallen
lassen. Vielmehr hat sich ihm die räumliche Atmosphäre, in der er aufgeht, zur leiblich
hebenden Freude verwandelt“20. Sowohl bei überpersönlichen Atmosphären als auch bei
personengebundenen Gefühlen handelt es sich nach Schmitz um Atmosphären, was teilweise auf entschiedene Kritik gestoßen ist,21 was ich jedoch aufgrund meines im vorliegenden
Rahmen verfolgten Erkenntnisinteresses hier nicht weiter verfolgt werde. Stattdessen werden zunächst Schmitz‘ „überpersönliche Atmosphären“ Hauptgegenstand meines Interesses
sein, die aus musikwissenschaftlicher Sicht zumindest zunächst einmal wenig analytisches
Potenzial und viel methodologische Fragwürdigkeit zu suggerieren vermögen.
Vielfach wird in atmosphärentheoretischer Literatur dennoch auf Musik Bezug genom15
16
17
18
19
20
21
Hermann Schmitz, „Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie“, in: Emotionalität.
Zur Geschichte der Gefühle, hrsg. von Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten, Köln 2000,
S. 42–59.
Gernot Böhme, „Das Wetter und die Gefühle“, in: Gefühle als Atmosphären, S. 151–166, hier S. 156.
Gernot Böhme, „Dämmerung“, in: ders., KörperDenken. Aufgaben der Historischen Anthroplogie, Berlin 1996, S. 36–44, hier S. 39.
Christoph Demmerling, „Gefühle, Sprache und Intersubjektivität“, in: Gefühle als Atmosphären,
S. 43–55, hier S. 45. Hervorhebung einzelner Wörter durch Kursivsetzung entsprechend dem Originaltext.
Vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 104.
Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 146.
Siehe auch Demmerling, Gefühle, Sprache und Intersubjektivität, 2011, der diese Passage von Schmitz
ebenfalls zitiert und kontextualisiert.
Siehe z.B. Demmerling, „Gefühle, Sprache und Intersubjektivität“.
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men. So formuliert Gernot Böhme, der im Laufe der Entwicklung seines Atmosphärenkonzepts Schmitz‘ Arbeiten kritisch rezipiert hat, die folgende, weitreichende Grundannahme:
„Meine Grundthese ist, dass Atmosphären zu erzeugen ein Grundzug von Musik überhaupt
ist, ja die Wirklichkeit von Musik im wesentlichen bestimmt.“22 Eine derart reduktionistische und vor allem gefährlich universalistische Aussage entbehrt jeder Grundlage. Und doch
bietet das Durchdenken des in Beziehung Stehens musikalischer Ereignisse und Praktiken
zu Atmosphären möglicherweise gerade wegen der vermeintlichen Vagheit des Atmosphärenbegriffs einen neuartigen Zugriff auf Prozesse musikalischer Bedeutungszuschreibung,
erlaubte doch das Konzept Atmosphäre möglicherweise 1) einen prozessorientierten Zugriff
auf Bedeutungsgenese, der subjektive Handlungsmacht dezentriert, ohne sie außer Acht zu
lassen; und 2) einen diskursanalytischen Zugriff auf konkrete Dimensionen der Historizität
konkreter Bedeutungszuschreibungen. Eine a priori-Annahme eines solchen Zugriffs muss
jedoch sein, dass Atmosphären multi-sensorial sind und damit nicht durch die Beschäftigung
mit nur einer Sinneswahrnehmung wie zum Beispiel dem Hörsinn analytisch durchdrungen
werden können. Doch an genau diesen Punkt, nämlich der Notwendigkeit einer sehr viel
intensiveren Berücksichtigung der Körperlichkeit23 des Hörens, scheinen jüngere Entwicklungen die Musikwissenschaft gerade geführt zu haben: Aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommend, treffen sich aktuelle Erkenntnisinteressen von Atmosphärenforschung
und Musikwissenschaft an der Schnittstelle von Raumtheorie und Emotionsforschung.
Soundscape | Klangräume | Immersion und affektive Mobilisierung
Murray Schafers Arbeiten zu Soundscapes, Klangschaften, vor allem jene, die ab den späten
1970er Jahren entstanden sind,24 haben nach wie vor eine große Strahlkraft in der Musikwissenschaft. Sie haben über die Jahrzehnte eine Anzahl von Ansätzen inspiriert, anhand
derer in der Analyse kultureller Praktiken unser Aural-in-der-Welt-sein25 anders und vor
allem intensiver gedacht und berücksichtigt wird. In den letzten etwa zehn Jahren wird
Klang jedoch immer öfter nicht mehr nur als Klangschaft gedacht, sondern auch als einer
der Räume, innerhalb dessen wir uns in der Welt orientieren: nicht als ein Objekt unserer
Wahrnehmung, sondern als ein Medium unserer Wahrnehmung. „Sound, in my view, is
neither mental nor material, but a phenomenon of experience – that is, of our immersion
in, and commingling with, the world in which we find ourselves. […] For sound, I argue,
is not the object but the medium of our perception. It is what we hear in. Similarly, we
do not see light but we see in it.“26 Hierbei handelt es sich um eine weitreichende Folgen
22
23
24
25
26
Gernot Böhme, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998, S. 73.
Die körperliche Dimension des Hörens erfährt im Zuge der gesteigerten Beachtung der Sensory
Studies und Emotionsforschung in den letzten Jahren mehr und mehr musikwissenschaftliche bzw.
musikbezogene Beachtung. Neben vielen anderen Publikationen siehe z.B. Tomie Hahn, Sensational
Knowledge. Embodying Culture through Japanese Dance, Ann Arbor 2007, Trevor Pinch / Karin Bijsterveld (Hrsg.), The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford 2012 und Shelley Trower, Senses of
Vibration: A History of the Pleasure and Pain of Sound, London 2012.
Siehe vor allem R. Murray Schafer, The Tuning of the World, New York 1977; ders., The Soundscape:
Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester 1993.
Im Sinne Martin Heideggers „In-der-Welt-sein“. Siehe Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen
111967, S. 52–59.
Tim Ingold, „Against Soundscape“, in: Autumn Leaves: Sound and the Environment in Artistic Practice,
hrsg. von Angus Carlyle, Paris 2007, S. 10–13.
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zeitigende Akzentverschiebung. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, so hören
wir nicht Klang oder Musik. Vielmehr sind wir körperlich von Klang umgeben und erfüllt
(„ensounded“), und erst durch das bewusste oder auch unbewusste Eintauchen in diese
Klangumgebung erfahren wir spezifische Klangereignisse.
In atmosphärentheoretischer Literatur wird mitunter unterschieden zwischen Atmosphären im Allgemeinen und gestalteten Atmosphären („designten“ Atmosphären also).27
Atmosphären und gestaltete Atmosphären müssen, um analytisch brauchbar zu sein, als Extrema eines Kontinuums gedacht werden, nicht als Dichotomie. Atmosphären machen ein
doppeltes Wahrnehmungsangebot, so die Arbeitshypothese: Sie stellen frei, ob wir, bewusst
oder unbewusst, den Moment des Eintauchens in eine Atmosphäre fokussieren oder aber die
Pendelbewegung zwischen Ein- und Auftauchen in und aus der Atmosphäre.28 Durch die
Immersion findet affektive Mobilisierung statt, die mit dem Prozess des sich Einlassens auf
die gestaltete bzw. ungestaltete Atmosphäre zu tun hat, der diese Pendelbewegung unweigerlich begleitet. Die Momente des Ein- und Auftauchens sind jene Momente, in denen etwas
passiert, in denen Atmosphäre also anfängt „anzumuten“, um Gernot Böhmes Wortwahl zu
übernehmen. Damit stellen diese Kippmomente29 einen denkbar geeigneten Gegenstand
für die musikanalytische Annäherung an Atmosphären dar, ist doch die Immersion, das Eintauchen, ein in der Musikwissenschaft theoretisch gut erfasstes Konzept und gleichzeitig ein
für die Atmosphärenforschung zentrales Moment. Wenn es gelingt, herauszuarbeiten, wie
Musik beim Eintauchen in eine gestaltete Atmosphäre affektiv mobilisiert, wissen wir mehr
über die Wirkungsmacht von Atmosphären im Allgemeinen und über den konkreten Zusammenhang von Schmitz‘ „eigenleiblichem Spüren“, Emotion und Raumwahrnehmung
im Besonderen. Wie mobilisiert Musik beim Eintauchen in Atmosphären affektiv? Wie wird
in diesem Kippmoment aus ihrem „semantischen Potenzial“30 Emotion, womöglich sogar
ein zentraler Beitrag zur Produktion von Schmitz‘ „überpersönlicher Atmosphäre“? Diese
Frage ist nicht systematisch zu beantworten. Im Einklang mit der experimentellen Chuzpe
dieses Texts sei jedoch nach einer kleinen Vorbemerkung im Folgenden versucht, anhand einer konkreten Gong-Musik-Aufführung der Sama Dilaut zunächst einem dieser vielfältigen
Prozesse etwas näher zu kommen.
Räumliche De-komposition
Der französische Soziologe Jean-Paul Thibaud hat sich in einem Aufsatz mit der Frage auseinandergesetzt, was eigentlich passiert, wenn Menschen morgens aus dem Haus gehen,
einen Kopfhörer aufsetzen und mit Musik im Ohr zur Arbeit fahren:
„Using a Walkman in public places is part of an urban tactic that consists of decomposing the territorial structure of the city and recomposing it through spatio-phonic
behaviours. […] We mustn’t be mistaken – the Walkman listener is not entirely cut off
27
28
29
30
Solche gestalteten Atmosphären können z.B. Lounges oder Bars sein. Siehe Laura Bieger, „Ästhetik der
Immersion: Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben“, in: Raum und Gefühl. Der
Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, hrsg. von Gertrud Lehnert, Bielefeld 2011, S. 75–95.
Bieger, „Ästhetik der Immersion“. Bieger bezieht dies auf gestaltete Atmosphären.
Ebd.
Siehe Nicholas Cook, „Theorizing Musical Meaning“, in: Music Theory Spectrum 23/2 (2001), S. 170–
195.
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from the urban environment. His being rooted in the urban space leans more towards
an instability of perceived forms. The precarious balance it creates between what he hears
and what he travels through, between what he sees and what he listens to, between what
he perceives and what he expresses, reveals a delinquent practice consisting of ‘living not
in the margins but rather in the thresholds of social codes that are foiled and displaced’
(De Certeau 1984).“31
Er kommt unter anderem zu dem impliziten Schluss, dass wir damit bewusst unsere fünf
sensorischen Wahrnehmungsebenen in ihrem Verhältnis zueinander manipulieren, um auf
diese Weise unsere Umgebung „de-komponieren“ und dann neu zusammensetzen zu können.32 Das passiert dadurch, dass wir u.a. visuelle Reize wahrnehmen, zu denen in unserer
Erfahrung andere auditive Reize gehören als die, denen wir uns mit dem Einsatz eines portablen Musikgeräts zielgerichtet aussetzen. Denn hierdurch verschiebt sich unsere Orientierung in der physischen Welt, die darauf beruht, dass unsere Sinne zusammenarbeiten.
Wird diese intuitive sensorische Strukturierung von Welt auf diese Art verändert, fängt unser sensorisch-in-der-Welt-orientiert-Sein an zu beben – letztlich eine Erfahrung, die wir
bewusst suchen, weil sie uns die Handlungsmacht gibt, unsere Lebenswelt – und unser Verhältnis zu ihr – zu manipulieren.33 Das Spiel mit und das Brechen von Hörerwartungen, die
Walkman und iPod ermöglichen, sind, mit Schmitz gesprochen, eine eigenleibliche Erfahrung. De Certeaus „thresholds“ entsprechen dem oben angeführten Kippmoment zwischen
Eintauchen in und Auftauchen aus der gestalteten Atmosphäre; der Einsatz von portablen
Musikgeräten ermöglicht also neben vielem anderen die Ausdehnung ebendiesen Moments.
Musik kann zudem durch ihre strukturelle Anlage zu ebendiesem Ein- und Auftauchen,
zur Immersion, verführen.34 Die Wahl des Worts Verführung suggeriert die grundsätzliche
Bereitschaft des Hörers, sich verführen zu lassen; diese scheint in der Tat zunächst Vorbedingung für Immersion zu sei. Indem Musik dieses doppelte Wahrnehmungsangebot macht,
ermöglicht sie ein Sich-Einlassen auf ein Verschieben der Wahrnehmungsebenen zueinander
und trägt auf diese Art zur Atmosphärenbildung bei. Im Falle der Gong-Musik der Sama
Dilaut, wie sie anlässlich von Feiern wie der Regatta Lepa aufgeführt wird, wird ein solches
Angebot gemacht.
31
32
33
34
Jean-Paul Thibaud, „The Sonic Composition of the City“, in: The Auditory Culture Reader, hrsg. von
Michael Bull und Les Back, Oxford / New York 2003, S. 329–341, hier S. 329f. Das Zitat von De
Certeau entstammt dessen Buch The Practice of Everyday Life, Berkeley 1984 (ursprünglich veröffentlicht als L‘invention du quotidien. vol. 1, Arts de faire, Paris 1980.
Steven Feld geht so weit, musikalische Praktiken bei den Kaluli in Papua Neu-Guinea als „poetische
Kartographie“ zu bezeichnen. Denn „Hearing and producing sound are thus embodied competencies
that situate actors and their agency in particular historical worlds. These competencies contribute to
their distinct and shared ways of being human“. Steven Feld, „Sound Worlds“, in: Sound, hrsg. von
Patricia Kruth und Henry Stobart, Cambridge 2000, S. 173–200.
„Not listening in the city makes spaces smaller, tamer, more predictable. The pretense that you do not
hear – a common conspiracy of silence – in this way is a response, passing as a lack of response, to the
modern city as a place of strangers.“ Fran Tonkiss, „Aural Postcards. Sound, Memory and the City“,
in: The Auditory Culture Reader, S. 303–309, hier S. 305.
Hierbei handelt es sich um eine der vielen Arten, auf die Musik zur Atmosphärenbildung beiträgt; sie
wurde meiner Kenntnis in der Literatur noch nicht berücksichtigt, in der vornehmlich – und leider
meist beiläufig – auf Easy Listening und musique d‘ameublement eingegangen wird, wenn Musik denn
zur Sprache kommt. Siehe z.B. Gernot Böhmes Kapitel „Musik und Atmosphäre“ in seinem Buch
Anmutungen, S. 71–84; außerdem Bieger, „Ästhetik der Immersion“, S. 84f.
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Sama Dilaut
Die Sama Dilaut („Meer-Sama“, im malayischen Sprachraum auch als Bajau Laut bezeichnet) leben in der südostasiatischen Inselwelt. Die austronesische Sprachen sprechenden maritimen Sama-Gruppierungen, zu denen die Sama Dilaut gehören, stellen eine der geographisch am weitesten verbreiteten Gruppierungen innerhalb Südostasiens dar. Doch während
Sama-Gruppierungen sich in der Regel durchaus mit Küstensiedlungen auf den Philippinen,
in Malaysia oder Indonesien identifizieren, lokalisieren die seenomadischen Sama Dilaut
ihre Heimat in einem Gebiet, das für sie über heilige Orte, Verwandtschaftsnetzwerke und
historische Stätten definiert ist. Diese Lebensumgebung erstreckt sich von den südlichen
Philippinen (Sulu-Archipel) bis nach Ost-Borneo (einige Kleingruppen leben weiter östlich
und westlich dieses Gebiets). Innerhalb dieses maritimen Raums stellt ihre Namensgeberin,
das Meer, ihre wichtigste Hauptidentifikation dar. Der weiteren Strukturierung ihres Lebensraums und Lokalisierung der eigenen kulturellen Identität dienen weniger geographische Koordinaten oder Staatsgrenzen als vielmehr die Mobilität der Sama Dilaut zwischen
wirtschaftlichen und sozialen Netzwerken. So sind z.B. die Sama Dilaut-Gemeinschaften
rund um Sitangkei (Tawi-Tawi, Südphilippinen) und Semporna (Borneo, Malaysia) trotz
ihrer physischen Distanz und den zwischen ihnen verlaufenden Landesgrenzen der Philippinen und Malaysias eng miteinander verwandt. Sama Dilaut ordnen ihre Lebensumgebung nicht mithilfe von Landkarten, Historiographie und Status Quo, sondern anhand
von Reiserouten, Verwandtschaftsnetzwerken und Ereignisketten. Geographische Position
ist hierbei nicht irrelevant, aber sie ist sekundär, weil die Affiliation mit einem bestimmten
Ort in einem Kontingenzverhältnis zu Mobilität steht – zur ständigen Möglichkeit, diesen
bestimmten Ort jederzeit zu verlassen.
Traditionell leben die Sama Dilaut auf Hausbooten, auf denen sie ständig den natürlichen Routen der Fischzüge folgen, die ihre Ressource darstellen. Hierdurch lässt sich ihr
hauptsächlicher Lebensraum auf die Sulu- und Celebes-Meere begrenzen, – heute eine stark
umkämpfte und in der Sulu-Region von Bürgerkrieg gebeutelte Region, in der das politisches Geschehen formal von den Gesetzen der Nationalstaaten bestimmt wird, die ihre
Grenzen durch just dieses Gebiet ziehen, in dem die Sama Dilaut sich traditionell bewegen.
Die Beziehung der Sama Dilaut zu küstenbasierten Gruppierungen, von denen sie wirtschaftlich abhängig sind, ist historisch schwierig: Den Sama Dilaut wird von Seiten ihrer
sesshaften Nachbarn offene Diskriminierung entgegengebracht, was weiter dazu beiträgt,
dass die Sama Dilaut ihre Mobilität auch als eine Möglichkeit betrachten, vor gegen sie
gerichteter Gewalt zu fliehen.
Gemeinschaftliches tagunggu, Musizieren in Gong-Ensembles, dient u.a. dazu, innerhalb der bestehenden Lebensumgebung temporäre Lebenswelten zu schaffen; Lebenswelten,
die zwischen einem kartographierbaren „Hier“ oder „Dort“ liegen. Das Boot als intimster
Lebensraum der Sama Dilaut versinnbildlicht diese Zwischenräumlichkeit.35 So versammeln sich z.B. im Rahmen des alljährlichen, drei Tage dauernden Regatta Lepa Festivals in
Semporna eine Vielzahl lepas (traditionelle Hausboote) am Pier der kleinen Fischerstadt. Auf
jedem Boot befindet sich ein Gong-Ensemble, bestehend aus agung (großem Gong), kulingtangan (Reihengong) und tambul (Trommel) sowie ein bis zwei Tänzerinnen. Auf diesem
engen Raum spielt jedes dieser Ensembles beständig und unabhängig von den benachbarten
35
Siehe auch Michel Foucaults grundsätzliche Überlegungen zum Boot als Heterotopie. Michel
Foucault, Dits et écrits (1984), Bd. IV, Des espaces autres, n° 360, S. 752–762, Paris 1994, hier vor allem S. 759–762.
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Ensembles; das Ergebnis ist eine sehr komplexe, vielstimmige Klangschaft in Schafers Sinne.
Die lepas sind angetäut, jedoch befinden sich sowohl andere Boote als auch die sich an Land
aufhaltenden Zuhörer in ständiger Bewegung, wodurch sich die Positionen dieser Hörer
kontinuierlich durch den komplexen Klangraum bewegen. Dieser Klangraum durchdringt
die sich in ihm befindlichen Körper im Sinne des oben genannten Ensounding. Steven Feld
beschreibt die Körperlichkeit von Hören hinsichtlich ihrer Bedeutung für aurale Orientierung in Raum und Zeit wie folgt: „[Sound] tunes bodies to places and times through their
sounding potential. Hearing and producing sound are thus embodied competencies that
situate actors and their agency in particular historical worlds; these competencies contribute
to their distinct and shared ways of being human; they contribute to possibilities for and
realizations of authority, understanding, reflexivity, compassion, and identity.“36 Dem gängigen Begriff der Weltsicht lässt sich damit der des Welthörens gegenüberstellen,37 mit dem
u.a. Sama Dilaut in dem kontinuierlichen Prozess der Selbstverortung, in dem sie sich befinden, ihren Lebensraum – ihr aural in der Welt Sein – zugleich produzieren und erfassen. Lebenswelten werden aus der orientierungsstiftenden Ordnung heraus, die sie selbst abbilden,
konstruiert und verhandelt; in diesem gleichen Prozess werden letzterer neue Bedeutungen
zugeschrieben. Beide Vorgänge stehen in Wechselwirkung mit Weltsicht und Welthören.
Welthören meint also eine (welt)ordnende und gleichzeitig eine einer Weltordnung entsprechende musikalische Wahrnehmung der Umwelt und eine simultan ablaufende Selbstverortung in dieser Weltordnung. Die temporären kulturellen Räumen, die während der
Regatta Lepa produziert und als spezifisch sama dilaut wahrgenommen werden, können als
Schmitzsche überpersönliche Atmosphären verstanden werden; die Klangräume, die u.a. im
Rahmen der Regatta Lepa durch tagunggu geschaffen werden, sind konstitutiver Teil dieser
überpersönlichen Atmosphären und ermöglichen ein zielgerichtetes Eintauchen in sie. Doch
wie wird diese spezifisch sama dilautsche Atmosphäre musikalisch-klanglich produziert?
Die Regatta Lepa ist nicht vorstellbar ohne das ganztägige tagunggu. Anders als ein klassischer musikanalytischer Zugriff auf diesen Klangraum kann ein atmosphärentheoretisch orientierter Zugriff nicht zuerst bei einer formal-strukturellen Untersuchung des Klangereignisses und seiner Einzelelemente – also nicht mit einem Fokus auf das Determinier- und
Isolierbare – beginnen, sondern muss bei der Interpretation „sama dilaut“ des affektiven
Potenzials des Klangereignisses sowie der musikalischen Verfasstheit der in diesem Klangereignis vorhandenen Möglichkeit zur Immersion ansetzen, denn die Analyse der Summe
der musikalischen Einzelelemente entspricht nicht notwendig dem musikalischen Ganzen,
dem das hier interessierende Verführungspotenzial zur Immersion zukommt. Dass Immersion in den Klangraum Regatta Lepa als spezifisch sama dilautscher Raum überhaupt stattfindet, spiegelt sich in zahlreichen Äußerungen von Teilnehmern, in denen sogar häufig die
in der Sama Dilaut-Sprache beliebten Perlentaucher-Metaphern verwendet werden. Eine
mehrfach gemachte Aussage beschreibt den Eindruck, der gesamte Ort, also Semporna,
werde für die Dauer des Musizierens und damit des Festivals sama dilaut und man könne
in dieses sama dilaut-Sein des Ortes eintauchen.38 Mit der Immersion verändert sich also
36
37
38
Steven Feld, „A Rainforest Acoustemology“, in: The Auditory Culture Reader, S. 223–239, hier S. 226.
Der Begriff des „Welthörens“ ist mir das erste Mal bei Menezes Bastos begegnet, der den Begriff jedoch anders definiert als er im hier vorliegenden Text benutzt wird. Für Details siehe Menezes Bastos,
„Apùap World Hearing: On the Kamayurá Phono-Auditory System and the Anthropological Concept
of Culture“, in: the world of music 41:1, S. 85–93.
Feldforschungsdaten, beruhend auf Interviews mit Regatta Lepa-Besuchern und -Musikern aus den
Jahren 2008 und 2009.
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die Wahrnehmung des Raums, dem interpretativ das Attribut „sama dilaut“ zugeschrieben
wird – ein fundamental körperliches Erlebnis, oder mit Schmitz gesagt: ein Erleben, das nur
durch eigenleibliches Spüren erfahrbar wird.
Mehrere musikalische Charakteristika bedingen im Falle der Regatta Lepa diese Möglichkeit eigenleiblichen Spürens – und damit auch die Möglichkeit, in Thibauds Sinne den
eigenen Raum in Relation zum eigenen Körper zu de-komponieren. Dadurch, dass eine große Zahl in sich eigenständiger Ensembles, die sich auf verschiedenen, teilweise in Bewegung
begriffenen Booten befinden, zum Regatta Lepa-Klangraum beitragen, lassen sich zahlreiche
verschiedene Ebenen des musikalischen Geschehens identifizieren, die immer in Bewegung
begriffen sind: einzelne Melodielinien, Ensemblezusammenspiel, zwischen einzelnen Instrumenten verschiedener Ensembles entstehende musikalische Ereignisse, zwischen mehreren
Ensembles entstehende musikalische Ereignisse, etc. Der Hörer an Land, der in der Regel
am Pier entlang flaniert, bewegt sich zwischen diesen Ebenen, aber auch über diese Ebenen
hinweg. Denn seine Hörposition befindet sich in steter Veränderung gegenüber den zahlreichen Klangquellen und -ebenen; seine aurale Fokalisierung39 mag sich zudem ebenso zwischen den einzelnen Klangebenen bewegen. Dieses ständige in Bewegung Sein des Hörers
bedingt in dessen Wahrnehmung eine fortdauernde Verschiebung der musikalischen Ebenen
zueinander sowie der eigenen Position hierzu; gleichzeitig ermöglicht ein gleichbleibender
binärer Grundrhythmus, dem alle Ensembles entsprechen – wenn auch in unterschiedlichen
Tempi und gegeneinander verschoben – eine grundständige musikalische Orientierung, gegen die die ständige Verschiebung überhaupt erst als solche wahrnehmbar wird. Das Ergebnis ist ein kontinuierliches Erfüllen und Brechen von Hörerwartungen, – ein Prozess, der
eine kontinuierliche musikalisch-räumliche Neuorientierung des Hörers einfordert. Hinzu
kommen Umweltgeräusche (etwa aufjaulende Bootsmotoren und Gesprächsfetzen vorbeilaufender Passanten) und im Laufe der sich verändernden auralen Fokalisierung auch die
Wahrnehmung melodischer Bruchstücke von mit für die sama dilaut oral history und aktuelle Lebenswelt relevanten Orten assoziiertem, weitläufig bekanntem Repertoire; hierdurch
wird in dem lokalen Klangraum am Pier Sempornas zur Produktion eines übergeordneten
kulturellen, geographisch fassbaren sama dilaut Raums beigetragen. Zur Immersion des
Einzelnen verführen hier also einerseits das fortwährende Suchen und temporäre Finden
(jeweils auch: -Müssen) musikalischer Orientierung, das ständiges De-Komponieren von
Raum möglich, aber auch nötig macht; andererseits die geographische Referenzialität einzelner musikalischer Klangereignisse, durch die performative raumzeitliche Verortung des
Jetzt und Hier geschieht. Beides fordert ein kontinuierliches sich neu In-Beziehung-Setzen
des Einzelnen zum musikalischen Geschehen ein und ermöglicht auf diese Weise das Entstehen dessen, was Sloterdijk Sonosphäre40 nennt – ein Konzept, das, im Lichte von Schmitz‘
überpersönlichen Atmosphären betrachtet, für die Analyse von Prozessen musikalischer Vergemeinschaftung nützlich ist: „Es ist die konstitutive Hörgemeinschaft, die Menschen in
die ungegenständlichen Ringe gegenseitiger Erreichbarkeit füreinander einschließt. Im Ohr
39
40
Im Sinne von Gérard Genette, Discours du récit, Paris 1972.
„Die Sonosphäre bezeichnet den Wahrnehmungsraum, der – wie eine bewegliche Hülle (etwa in der
Form einer Blase oder akustischen Glocke) – das Schallereignis und dessen Rezipienten umgibt. Als
Teil der atmosphärischen Wahrnehmung, in der jeder Sinn zugleich involviert ist, fokussiert der Begriff der Sonosphäre die Rezeption akustischer Phänomene.“ Vito Pinto, „Mediale Sphären. Zur Einführung in das Kapitel“, in: Stimm-Welten: Philosophische, Medientheoretische und ästhetische Perspektiven, hrsg. von Doris Kolesch, Vito Pinto und Jenny Schrödl, Bielefeld 2009, S. 87. Siehe auch Peter
Sloterdijk, Sphären. Band 1: Blasen, Frankfurt 1999, vor allem S. 487–531.
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besitzen Intimität und Öffentlichkeit ihr verbindendes Organ. Was auch immer sich als
soziales Leben präsentieren mag, es bildet sich zunächst nur in der spezifischen Weise einer
akustischen Glocke über der Gruppe“.41 Das, was aus dem Fischerort Semporna alljährlich
einen temporären sama dilaut Raum macht, ist ein solcher „ungegenständlicher Ring gegenseitiger Erreichbarkeit“, dessen gemeinschafts- und identitätsstiftendes sowie affektives
Potenzial musikalisch verfasst ist. Er dient der Affirmation kollektiver Identität: „Durch die
Sonosphäre überzeugt sich die alte Gesellschaft von ihrer eigenen Botschaft: Daß sie diese
Gesellschaft ist und daß sie nicht aufhören wird, diese Gesellschaft zu sein, solange sie sich
selbst auf sich einstimmen kann.“42
Ausblick
Gernot Böhme spricht in beinahe thetischem Gestus von Atmosphären als quasi-objektiven
Gefühlen, die Menschen anmuteten – eine, wie oben erwähnt, auf mehreren Ebenen anfechtbare Annahme, der es an theoretischer Stringenz, vor allem aber an Potenzial für die
konkrete Analyse spezifischer Atmosphären gebricht. Trägt Musik zur Produktion von Atmosphären bei, so sind einige jener Prozesse, deren Ergebnisse Böhme vage unter „Anmutungen“ zu fassen versucht, sehr viel besser greifbar, als es das Konzept der quasi-objektiven
Gefühle nahelegt. In obigem Beispiel, das hier nur eine von unzähligen Arten der musikalischen Produktion von Atmosphären zugänglich machen sollte, verführt eine konkrete
Atmosphäre zur Neu-Ordnung des Raums selbst in dem Moment, in dem Hörer sich entscheiden, in sie einzutauchen. Mehr noch, sie erzwingt eine solche Neu-Ordnung und wird
deswegen erst als Atmosphäre überhaupt wahrgenommen. Dieses Neu-Ordnen wiederum
geht in Wechselwirkung mit der körperlichen Dimension dieser Erfahrung immer mit affektiver Mobilisierung einher. Die Verfasstheit und Wirkungsmacht von Atmosphären ließen
sich also anhand von Musik teilweise beschreiben – nie erschöpfend freilich und nur unter
Einbeziehung des übrigen menschlichen Sensoriums. Das Zusammentreffen von Verführung, Hörerentscheidung zur Immersion und Zwang zur Neu-Ordnung von Raum könnte
dementsprechend bei all seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit den Ausgangspunkt einer
möglichen umfassenderen und systematischen Auslotung des Atmosphärenkonzepts für
musikwissenschaftliche Zwecke darstellen.
Andersherum mag das Atmosphärenkonzept die Fassbarmachung von Prozessen der Bedeutungszuschreibung an Musik erleichtern insofern als jene einen kollektiven Affekt betreffen – „something that hesitates at the edge of the unsayable.“43 Es birgt damit erhebliches
Potenzial für die Analyse des Vergemeinschaftungsvermögens von Musik und musikalischen
Praktiken. Denn „[t]o attend to affective atmospheres is to learn to be affected by the ambiguities of affect/emotion, by that which is determinate and indeterminate, present and absent, singular and vague.“44 Und tritt die Musikwissenschaft hier nicht bereits seit geraumer
Zeit auf der Stelle?
41
42
43
44
Sloterdijk, Sphären. Band 1: Blasen, S. 530.
Sloterdijk, Medien-Zeit, S. 75f.
Anderson, „Affective Atmospheres“, S. 78.
Ebd., S. 80.
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