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Junge Witwen und alte Jungfrauen ... Kleine Religionsgeschichte weiblicher Ehelosigkeit

2011, Junge "Witwen" als Bräute Christi (1 Tim 5,11f.)

Die patriarchale Ehe ist für Frauen, die ihre Leben selbst bestimmen wollen, nicht unbedingt attraktiv. Deshalb gibt es in der Kulturgeschichte Frauen, die auf die Ehe verzichten. Da weibliche Ehelosigkeit in patriarchalen Strukturen als Herrenlosigkeit der Frau einen schweren Mangel darstellt, können göttliche Ehemänner virtuell an die Stelle eines irdischen Herren treten. Von der Gottesgemahlin des Amun im alten Ägypten bis zur Braut Christi reichen die Beispiele, die allerdings auch deutlich machen, dass nicht jede Ehelosigkeit für die betreffenden Frauen eine emanzipatorische Wirkung hat.

1 Junge „Witwen“ als Bräute Christi (1 Tim 5,11f.) Der Gender-Impuls der Jesus-Tradition und seine Umsetzung in paulinischen Gemeinden vor dem religionsgeschichtlichen Hintergrund religiös motivierter Ehelosigkeit von Frauen1 Joachim Kügler, Weismain 1. Hinführung Jesus und seine „Option für die Frauen“ Dass man Jesus nicht zum Feministen machen darf, ist inzwischen allgemein bekannt. Er fühlte, dachte und sprach unter den Bedingungen einer patriarchalen Kultur. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass wir in der ältesten Jesus-Tradition eine Aufwertung von Frauen und ihrer Lebenswelt finden, die auffällig ist. Es ist zwar nicht so, dass Jesus traditionelle Rollenklischees auflöst, aber er zementiert sie auch nicht religiös, sondern setzt sie einfach als gesellschaftliche Realität voraus. Frauen sind vor allem für die Arbeit im Haus zuständig; sie bedienen die Männer, backen und kochen. Männer arbeiten außer Haus als Tagelöhner, Bauern, Hirten und Fischer. Was bei Jesus aber fehlt, ist eine hierarchisierende Bewertung dieser Rollenverteilung. Dinge sind nicht deshalb wichtiger, weil Männer sie tun, und nicht unwichtiger, weil Frauen sie tun. Die typisch weibliche Rolle ist nicht weniger wert als die typisch männliche Rolle. Vielmehr sind beide Gender gleichwertig. Deshalb sind Männer und Frauen in gleicher Weise von Jesus angesprochen und in das Reich Gottes berufen. Im Kontext einer patriarchalen Gesellschaft ist schon die Vermeidung einer Abwertung von Frauen ein prophetisches Zeichen. Insofern kann man bei Jesus durchaus von einer „Option für die Frauen“ sprechen, die z.B. auch im Verbot der Entlassung aus der Ehe deutlich wird.2 Der Gender-Impuls Jesu und seine Umsetzung in frühchristlicher Non-Gender-Ekklesiologie Dieser Gender-Impuls führt in urchristlichen Gemeinden – zusammen mit anderen, gesamtgesellschaftlichen Faktoren – zur Entwicklung einer Non-Gender-Ekklesiologie, die Männern und Frauen die gleichen Rechte bei der Wahrnehmung kirchlicher Dienste und Ämtern zugesteht.3 Dies wird im antiochenisch-paulinischen Bereich vor allem durch die GenderNeutralität der Zugangsbedingungen und aller Gemeindefunktionen erreicht: An die Stelle der exklusiv männlichen Beschneidung tritt die geschlechtsneutrale Taufe als zentraler Initiationsritus. Und auch alle gemeindlichen Funktionen werden gender-neutral konzipiert. Aufgrund dieser funktionalen Geschlechtsrollenindifferenz gibt es keine männlichen Privilegien und keine weiblichen Unterordnungspflichten mehr. Das heißt praktisch: Keine kirchliche Funktion (z. B. prophetisches Reden, Zungenreden, zum Mahl des Herrn einladen, Verkündigen, Fußwaschung, Tischdienst, Organisieren usw.) ist typisch männlich oder 1 2 3 Es handelt sich im Folgenden um die überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Bamberg vom 16. Juli 2009. Vgl. J. Kügler, Gottes Königsherrschaft als „Rahmenmythos“ der Pastoral Jesu, in: R. Bucher/R. Krockauer (Hrsg.), Gott. Eine pastoraltheologische Annäherung (Werkstatt Theologie 10), Münster 2007, 1138, 32. Vgl. J. Kügler, Gal 3,26-28 und die vielen Geschlechter der Glaubenden. Impuls für eine christliche Geschlechtsrollenpastoral jenseits von „Sex and Gender“, in: M. E. Aigner/J. Pock (Hrsg.), Geschlecht quer gedacht. Widerstandspotenziale und Gestaltungsmöglichkeiten in kirchlicher Praxis (Werkstatt Theologie 13), Münster 2009, 53-70, 61f. 2 typisch weiblich. Vielmehr sind alle Ämter und Funktionen in der Kirche gender-neutral und Männern und Frauen in gleicher Weise zugänglich. Deshalb gibt es weibliche Diakone4 wie Phöbe (Röm 16,1) und weibliche Apostel wie Junia (Röm 16,7). Dass die urchristliche NonGender-Ekklesiologie keinesfalls auf den paulinisch-antiochenischen Einflussbereich beschränkt war, zeigt die unabhängig von Paulus entstandene Gemeinde in Rom. Sie wurde offensichtlich von einem Frauenkollegium geleitet: Maria (Röm 16,6), Tryphäna, Tryphosa und Persis (Röm 16,12).5 Die gender-politische Restauration am Ende des ersten Jahrhunderts In den Texten, die gewöhnlich auf das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts datiert werden, findet sich oft eine restaurative Bewegung, die die innergemeindlichen Strukturen wieder stärker an die patriarchalen Normen anzupassen, welche außerhalb der Gemeinden galten, besonders an jene im konservativen Spektrum der Mehrheitsgesellschaften. So ist im Johannesevangelium zu beobachten, dass die wichtige Rolle der Maria Magdalena als Erstzeugin der Auferstehung und Apostola apostolorum depotenziert und durch die männlich besetzte Autorität des „Jüngers, den Jesus liebte“, ersetzt wird. Das lässt auf parallele Vorgänge in der Welt der Adressaten schließen, welche daran gewöhnt werden sollen, dass neben die gender-neutralen Autorität des Heiligen Geistes eine männlich besetzte, „historisch“ begründete Autoritätsquelle tritt. Die beiden Männer Petrus und der Geliebte Jünger verkörpern die intendierte Machtstruktur der Gemeinden: Männer leiten und lehren. Parallel dazu finden wir im Bereich der Gemeinden, die von paulinischen Traditionen bestimmt wurden, eine entschiedene Rückwendung zu konservativen Genderkonzepten der Umwelt. Die neutestamentliche Haustafelethik6, wie sie sich in deuteropaulinischen Texten findet,7 spricht hier eine deutliche Sprache. Der Text 1 Tim 5,11 f., um den es hier gehen soll, gehört mit seinem direkten Kontext in diese groß angelegte Anpassungsbewegung an die patriarchale Mehrheitsgesellschaft. Er ist ja Teil einer traditionellen Gemeinderegel, die den Andrang von jungen Frauen auf das Witwenamt dadurch eindämmen will, dass sie ein hohes Mindestalter für das Gemeindeamt festlegt. Der Pseudo-Paulus, der diese Gemeinderegel in seinen Text integriert hat, verstärkt diese Linie, indem er eine Fülle von weiteren Restriktionen einführt, die im Falle einer kompletten Realisierung dazu geeignet waren, das gemeindliche Witwenamt auszulöschen bzw. es auf einen rein sozialen Versorgungsanspruch zu reduzieren. 4 5 6 7 Vgl. M. Gielen, Frauen als Diakone in paulinischen Gemeinden, in: D. W. Winkler (Hrsg.), Diakonat der Frau. Befunde aus biblischer, patristischer, ostkirchlicher, liturgischer und systematisch-theologischer Perspektive, Wien 2010, 11-40. Vgl. S. Schreiber, Arbeit mit der Gemeinde (Röm 16,6.12). Zur versunkenen Möglichkeit der Gemeindeleitung durch Frauen, in: NTS 46 (2000) 204-226, der darauf hinweist, dass „sich um die Gemeinde mühen“ ein paulinischer Fachausdruck für Gemeindeleitung ist. Faszinierend ist zudem der Gedanke, dass diesem Kollegium auch (ehemalige) Sklavinnen angehörten. Die Idee in diesen Frauen so etwas wie die Urmütter des römischen Bischofsamtes und damit in gewisser Weise die Vorgängerinnen auch von Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zu sehen, wäre freilich ebenso ein Anachronismus wie Petrus zum ersten Papst zu stilisieren. Vgl. M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a. M. 1990. Als Haustafeln im engeren Sinn gelten Kol 3,18-4,1 und Eph 5,22-6,9. In die Großbewegung der Integration in das Konzept des Liebespatriarchats gehören aber z. B. auch 1 Petr 3,1-7, 1 Tim 2,9-15 und der deuteropaulinische, wohl mit den Pastoralbriefen zusammenhängende Zusatz in 1 Kor 14, 33b-36. Zu letzterem vgl. H. Merklein/M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2 – 16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 213-223. 3 2. Die traditionelle Witwenregel in ihrem Kontext Eine genaue Rekonstruktion der Gemeinderegel für den Witwenstand, den Pseudo-Paulus in seinen Text integriert hat, kann in diesem Rahmen nicht durchgeführt werden. Das ist aber auch nicht so schlimm, denn auch ohne literarkritische Detailanalyse ist deutlich, dass die hier betrachteten Verse 5,11 f. nicht vom Autor stammen können, sondern aus einer irgendwie normativen Tradition übernommen worden sein müssen. Das zeigt sich allein schon daran, dass für den Autor die Ehe das eigentliche Frauenideal darstellt, während hier die Eheschließung als Problem erscheint und als Treuebruch gegenüber Christus verurteilt wird. Nach der immer noch überzeugenden Analyse von Ulrike Wagener findet sich die gemeindliche Witwenregel, die dem Autor von 1 Tim als normative Tradition vorgegeben war, in den Versen 1 Tim 5,3.5.9.11-12 und lässt sich in etwa folgendermaßen rekonstruieren:8 (3) Witwen sollen honoriert werden, die wahren Witwen! (5) Die wahre Witwe und Alleinstehende hat ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und verharrt in Gebeten und Anrufungen bei Tag und Nacht. (9) Als Witwe soll keine zugelassen werden, bevor sie das Alter von 60 Jahren erreicht hat. (11) Junge (Frauen) sollen als Witwen abgewiesen werden! Wenn sie nämlich von ihrer Sinnlichkeit von Christus weggezogen werden, wollen sie heiraten (12) und unterliegen dem Urteil, dass sie die erste Treue gebrochen haben. Gerade in ihren restriktiven Absichten legt diese Witwenregel ein beredtes Zeugnis davon ab, welch wichtige Rolle Frauen in den angesprochenen Christusgemeinden spielten. Und sie zeigt auch, dass diese Rolle mit der Vorstellung, eine „Braut Christi“ zu sein, verbunden sein konnte. Der Text bietet eingangs eine lobende Beschreibung des Typus der asketisch lebenden Witwe, die sich von der Sexualität abwendet und eine besondere spirituelle Begabung hat. Die wahre Witwe wird gerade nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Angehörigen mehr hat, sondern dadurch, dass sie sich in ihrer Lebensform ganz Gott zur Verfügung stellt. Wir haben es hier also auch mit einem spiritualisierten Witwenbegriff zu tun, der eine erste Form des spezifisch geistlichen Lebens von christlichen Frauen umfasst. Eine solche Frau ist durch eine besonders intensive Gottesbeziehung gekennzeichnet, die sich in ständigem Gebet äußert. Das Lob gilt der geistbegabten Frau, die (nach dem Tod ihres Mannes) nicht (mehr) heiratet, sondern in sexueller Askese lebt. Ihr ständiges Beten ist Ausdruck ihrer pneumatischen Existenz, wobei „Tag und Nacht“ natürlich ein übertreibender Ausdruck ist und andere Aktivitäten keinesfalls ausschließt. Wir haben es also hier nicht mit einer Einschränkung der Witwen auf die reine Gebetsexistenz zu tun, sondern mit einer positiven religiös-spirituellen Qualifikation der Witwen. Dass Witwen sich als alleinstehend beschreiben, hat natürlich ursprünglich etwas mit der schutzlosen Existenz ohne Mann zu tun. Aber der Status der Alleinstehenden begründet auch den Anspruch auf besondere Fürsorge. Das gilt im gesellschaftlichen Bereich, wie die erhaltenen Petitionen von Witwen an Herrscher oder an die öffentliche Verwaltung zeigen. Die Charakterisierung der Witwe als schutzlos Alleinstehende formuliert dort einen klaren Anspruch auf besondere Fürsorge. Das gilt natürlich auch und erst recht in der Beziehung zur christlichen Gemeinde und zu Gott selbst. Die Gemeinde verpflichtet sich, den geistlichen Witwen beizustehen. Die „Ehre“, die ihnen die Witwenregel zuspricht, ist durchaus auch im Sinne von „Honorar“ zu verstehen und meint einen Versorgungsanspruch gegenüber der Gemeinde. Und auch Gott als Herrscher der Welt hat eine besondere Fürsorgepflicht für die Schwachen und Hilflosen. Die Hilflosigkeit der Witwe, die sich in der Betonung ihres Alleinseins ausdrückt, ist also als eindringlicher Appell an das helfende Eingreifen Gottes zu verstehen. Der Hinweis auf die 8 Vgl. U. Wagener, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT II.65), Tübingen1994, bes.165-169.221-223. 4 Schwäche der Witwe schließt das aktive Handeln der Frau nicht aus, sondern dient der Betonung, wie groß und mächtig Gott ist. Indem Gott sich in seinem geschichtlichen Handeln auf die Schwachen stützt, macht er die Schwachen stark. Die besondere Nähe zu Gott sichert den Anspruch auf Zuwendung, auf Ehrung und auf den Status als Vorbild, das nachzuahmen ist. Da sich nicht festlegen lässt, wann der Ehemann stirbt und so seine Frau zur Witwe macht, kann man für Witwen eigentlich kein Mindestalter bestimmen. Dass dies hier trotzdem geschieht, zeigt einmal mehr, dass es um ein gemeindliches Amt, bzw. einen gemeindlichen Status geht, der mit dem Tod des Ehemannes nicht viel zu tun hat. Das hohe Alter, das hier angegeben wird, kennzeichnet in antiken Auffassungen den Eintritt in das Greisenalter und so hat die Altersbeschränkung einen stark restriktiven Charakter. Das läst darauf schließen, dass der Andrang jüngerer Frauen auf den Witwenstatus hoch gewesen sein muss. Als Begründung für die Abweisung junger Frauen, wird allerdings nicht ihre hohe Zahl angeführt, sondern ihr sexuelles Begehren, was antiken Frauenklischees entspricht. Frauen gelten in vielen Texten als triebgesteuerte Wesen, deren sexueller Drang alle gesellschaftliche Ordnung zerstört, wenn er nicht von Männern kontrolliert und beherrscht wird. Das weibliche Begehren führt hier dazu, dass die christliche Ordnung, die durch die Bindung an Christus gegeben ist, zerstört wird, und zwar konkret durch den Willen zur Heirat. Für Frauen, die den Witwenstand gewählt haben, stellt die Heirat nach dem Verständnis der Witwenregel einen Abfall von Christus dar. Die Eheschließung ist hier also nicht eine Vorsichtsmaßnahme gegen sexuelle Verfehlungen, sondern ist selbst eine Verfehlung, die zu verurteilen ist. Darin wird ein asketisches Ideal erkennbar und gleichzeitig ein deutliches Misstrauen gegen junge Frauen formuliert: Weil sie (mehr als ältere Frauen) von ihrem sexuellen Begehren beherrscht werden, wird ihnen nicht zugetraut, dem asketischen Witwenideal zu entsprechen. Dass der Wunsch zu heiraten, einen Treuebruch darstellt, setzt voraus, dass die Frauen in einer Bindung zu Christus stehen, die einem Vertrag entspricht. Da es zudem um Treue geht, ist eine Art Verlobung oder Vermählung mit Christus vorausgesetzt. Es fällt auf, dass im Text nicht einfach davon die Rede ist, dass die Witwen, die heiraten, ihre Treuepflicht gegenüber Christus brechen, sondern vielmehr ist von der ersten Treue die Rede. Das zeigt, dass es in der Gemeindetradition, aus der diese Witwenregel stammt, möglich war, dass auch Jungfrauen in den Witwenstand aufgenommen wurden. Wenn dem Christus das erste Treueversprechen gilt, dann schließt das eigentlich ein vorausgehendes anderes Eheversprechen aus. Der Sache nach muss die erste Treue also eine Art Jungfräulichkeitsgelübde gewesen sein. Zwar will die Witwenregel hier gegensteuern, aber aus der Tatsache, dass man diese Erscheinung bekämpft, ist zwingend zu schließen, dass es sie gegeben hat. Es hat offensichtlich in den Gemeinden, an die sich die Pastoralbriefe richten, wenigstens zwischenzeitlich auch die Zulassung von unverheirateten Jungfrauen zum Witwenstand gegeben. Das bedeutet, dass der Witwenbegriff soweit spiritualisiert worden war, dass damit einfach eine geistliche Lebensform zölibatär lebender Frauen verstanden werden konnte. Auch junge Frauen konnten sich für eine solche Lebensform entscheiden, ohne dass sie jemals verheiratet gewesen wären. Wir müssen freilich festhalten, dass schon die traditionelle Witwenregel, dieser Entwicklung skeptisch gegenübersteht. Sie bejaht zwar das geistliche Ideal der Witwenschaft, versucht aber, durch die Einführung eines Mindestalters junge, unverheiratete Frauen vom Witwenstand fernzuhalten. Der Grund für diese restriktive Tendenz liegt in ihrer vermuteten oder tatsächlich gegebenen Unzuverlässigkeit. Auslöser für diese Regelung dürfte die Erfahrung gewesen sein, dass etliche junge Frauen ihr Witwenamt nach einer gewissen Zeit wieder aufgegeben haben und eine Ehe eingegangen sind. Dieser Umstand wird von der Gemeinderegel entsprechend antiken Denkmustern auf ihren jugendlich-ungestümen Sexualtrieb zurückgeführt. Ein Grund für diese Erscheinung könnte aber auch darin liegen, dass das 5 Witwenamt als anerkannter Weg der Ehevermeidung für junge christliche Frauen so attraktiv war, dass ihn auch Frauen wählten, die nicht unbedingt die geistliche Begabung für eine lebenslange Ehelosigkeit mitbrachten. Eine offene Frage ist allerdings, wie man darauf kam, die ehelose Lebensform der Gemeindewitwe im Bild einer Vermählung mit Christus zu fassen. Um diese Frage wenigstens ansatzweise zu klären, soll im Folgenden die biblische und außerbiblische Religionsgeschichte skizziert werden. 3. Der religionsgeschichtliche Kontext Zum alttestamentlichen Begriff der Witwe In der biblischen Tradition kommt der Begriff „Witwe“ (‫ )אלמנה‬in zwei typischen Bedeutungsdimensionen vor: einmal in einem sozialrechtlichen Sinn und zweitens im Kontext einer theologischen Symbolik, die natürlich auf der sozialen Kategorie der Witwe und den damit verbundenen Konnotationen aufbaut. Im sozialen Sinn ist die Witwe zusammen mit dem Waisenkind und den Fremden die typische Vertreterin der sozial Schwachen. In den patriarchalen Verhältnissen altorientalischer Gesellschaften das Schicksal der Witwe oft von Armut, Not, rechtlicher Hilflosigkeit und sozialer Verachtung geprägt. Deshalb gehört im Alten Testament das Eintreten zugunsten der Witwen zur sozialkritischen Tätigkeit der Propheten, wie zahlreiche Belege zeigen: Jes 1,17 Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen! Jes 1,23 Deine Fürsten sind Aufrührer und eine Bande von Dieben, alle lassen sich gerne bestechen und jagen Geschenken nach. Sie verschaffen den Waisen kein Recht, die Sache der Witwen gelangt nicht vor sie. Jer 22,3 So spricht der Herr: Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, und rettet den Ausgeplünderten aus der Hand des Gewalttäters! Fremde, Waisen und Witwen bedrängt und misshandelt nicht; vergießt kein unschuldiges Blut an diesem Ort! Sach 7,10 Unterdrückt nicht die Witwen und Waisen, die Fremden und Armen, und plant in eurem Herzen nichts Böses gegeneinander! Im Hintergrund solcher Parteinahmen für die Witwen steht die theologische Grundüberzeugung, dass Israels Gott selbst ein Freund der Armen, Schwachen und Unterdrückten ist. Da die Witwe ein besonders eindrücklicher Fall einer sozial marginalisierten Person ist, gilt ihr die göttliche Fürsorge in ganz besonderer Weise: Psalm 68,6: Ein Vater der Waisen und ein Richter/Retter der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung. Hier wird die Beziehung Gottes zu den Waisenkindern in der Familienmetaphorik ausgedrückt. Gott ersetzt den verlorenen Vater und fungiert selbst als Vater der Waisen. In Bezug auf die Witwe wird diese Metaphorik allerdings vermieden. Gott ersetzt zwar den verlorenen Ehemann in der Funktion des Richters/Retters, aber er wird nicht als Gatte der Witwe bezeichnet. 6 Aus der besonderen Beziehung Gottes zu den Witwen kann umgekehrt ein besonderes Verhältnis der Witwen zu Gotte erschlossen werden. Da sie sonst keine Hilfe haben, sind sie auf Gott in besonderer Weise angewiesen und setzen darum all ihre Hoffnung auf ihn. Deshalb kann die Witwe zum Typus des glaubenden Menschen werden. Geistbegabt und unabhängig: Judit als typisch hellenistische Witwe Eine deutliche Veränderung erfährt die Witwensymbolik in hellenistischer Zeit, was mit den umfassenden Geschlechtsrollenveränderungen in dieser Epoche zu tun hat. Diese Veränderung zeigt sich in der biblisch-jüdischen Literatur zum Beispiel im Buch Judit, das ja in hellenistischer Zeit, vermutlich wohl gegen Ende des 2. Jh. v. Chr., entstanden ist. In Entsprechung zur älteren Tradition des Witwenstatus sieht sich Judit in besonderer Weise auf Gott angewiesen. Sie beruft sich auf ihr Witwesein, um Gott zum Eingreifen zu bewegen. Im Unterschied zu älteren Texten wird sie aber nicht als Not leidend, arm und mittellos dargestellt. Sie verfügt über den reichen Besitz, den ihr Mann ihr hinterlassen hat. Hier wird das neue Bild einer erbberechtigten Frau gezeichnet, die ihr beträchtliches Vermögen ohne Einmischung eines Mannes selbständig verwaltet. Außerdem wird ihre Ehrbarkeit ausdrücklich betont. Von gesellschaftlicher Ächtung ist hier keine Spur zu finden. Wenn die Witwenschaft eine besondere Gottesbeziehung begründet, so beruht das hier nicht mehr auf der materiellen und sozialen Not. Wir haben es vielmehr mit einer spirituellen Aufladung der Witwenschaft zu tun. Die Besonderheit des Witwenstandes wird nicht mehr primär sozial definiert, sondern religiös. Deshalb werden die religiösen Qualitäten der Witwe Judit betont: ihre Frömmigkeit und Gottesfurcht, ihr ständiges Fasten und Gebet, sowie ihre prophetische Sehergabe. Judit enthauptet Holofernes, Caravaggio 1598 Ausgangspunkt ist auch hier das Alleinsein der Witwe. Das ist hier aber kein unfreiwilliges, noterfülltes Schicksal mehr, sondern eine bewusste Entscheidung zum Alleinbleiben, zum Leben ohne Mann. Dieses asketische Leben ohne Mann, d.h. ohne sexuelle Aktivität, bildet die Voraussetzung für eine besondere Gottesbeziehung. Witwenschaft wird hier zur 7 Umschreibung eines explizit religiösen Lebens von Frauen. Im Zuge größerer rechtlicher und wirtschaftlicher Selbständigkeit von Frauen in hellenistischer Zeit kann Witwenschaft jetzt auch das selbst gewählte Alleinbleiben von Frauen bedeuten. Wie 1 Tim zeigt, gilt das dann später auch von Frauen, die überhaupt niemals verheiratet waren. Der Witwenstatus wird also zum Begriff für eine spirituelle Lebensform für ehelose Frauen. Wie es dazu kam, kann hier nicht bis in jedes religionsgeschichtliche Detail beantwortet werden. Einige Hinweise sind aber durchaus möglich: Amun als Gatte der Witwen im Alten Ägypten Für das antike Denken scheint beim Witwenstatus eine Symbolik der Ehe mit einer männlichen Gottheit irgendwie nahe zu liegen. Zu erinnern wäre hier an einen altägyptischen Text, in dem Amun als Gatte der Witwen bezeichnet wird. In einem Hymnus aus dem Neuen Reich wird der Reichsgott Amun in besonderer, persönlicher Beziehung zu Witwen und Waisen gesehen. Er nimmt den Platz des verstorbenen Mannes als männlicher Beschützer und Versorger ein und wird als Gatte der Witwen bezeichnet: Lob dir, AMUN-RE, ATUM HARACHTE! |…| Du bist stark als Hirte, sie zu behüten für immer und ewig. |…| Sagen nicht die Witwen: „Unser Gatte bist du!“, die Kleinen: „Unser Vater und unsere Mutter!“? Die Reichen prahlen mit deiner Schönheit, die Gesichter der Armen sind auf dich gerichtet, der Gefangene wendet sich an dich, der Kranke ruft nach dir. (Hymnus auf Amun, Papyrus Chester Beatty IV, 113f.124f.138-143)9 Im Kontext der hellenistischen Spiritualisierung des Witwenbegriffs konnten solche Vorstellungen leicht weiterentwickelt werden. Offensichtlich wurden dabei heidnische Vorstellungselemente von ehelos lebenden Frauen als Gottesgemahlin in die Witwentradition integriert. Die „Gottesgemahlin des Amun“ in Theben Der griechische Schriftsteller Herodot schreibt im 5. Jh. v. Chr. in seinem Buch über Ägypten, dass sich im oberägyptischen Theben im Tempel des Amun, der griechisch mit Zeus identifiziert wird, eine Frau mit Zeus zu Bett legt (I,182). Da er betont, dass sie sich mit sterblichen Männern nicht einließ, kann er Tempelprostitution nicht meinen, zumal er diese für Ägypten ausdrücklich ausschließt (II,64). Es liegt deshalb nahe, dass sich Herodot auf die Institution der zölibatär lebenden „Gottesgemahlin des Amun“ bezieht, die im Kontext der Einrichtung eines Gottesstaates im Gebiet von Theben seit Beginn der 21. Dynastie (1070 v. Chr.) eine wichtige Rolle spielte.10 9 10 Deutscher Text: J. Assmann (Hg.), Ägyptische Hymnen und Gebete, 2., verb. u. erw. Aufl., Göttingen 1999, 432f. Zur Institution des Gottesgemahlin allgemein vgl. M. Gitton/J. Leclant, Art. Gottesgemahlin, in: Lexikon der Ägyptologie II (1977) 792-812; E. Graefe, Untersuchungen zur Verwaltung und Geschichte der Institution der Gottesgemahlin des Amun vom Beginn des Neuen Reiches bis zur Spätzeit, 2 Bde., Wiesbaden 1981. 8 Anch-nes-nefer-ib-re (595-525 v. Chr.), die letzte „Gottesgemahlin des Amun“, 26. Dynastie. Die Statue (im Nubischen Museum Assuan) zeigt königliche Würde (Sonnenscheibe des Re, Kuhgehörn der Hathor, Federn des Amun, Uräus-Kranz, Geißel-Zepter. 11 12 Es handelte sich dabei um in Theben amtierende Priesterinnen, die sich dem Dienst allein des Amun widmeten. Seit der 21. Dynastie lebten alle Trägerinnen dieses Titels ehelos.11 In der Regel wurde das Amt von unverheirateten weiblichen Mitgliedern des Königshauses übernommen, wobei über die Gründe für die Einführung der Ehelosigkeit nichts bekannt ist. Seit Osorkon III. (um 760/50 v.Chr.) wurde das Amt üblicherweise dadurch weitergegeben, dass der Herrscher eine seiner Töchter von der amtierenden Gottesgemahlin adoptieren ließ. Zusammen mit der kultischen Funktion spielten die Gottesgemahlinnen in der Thebaïs eine wichtige politische Rolle, die der des Königs durchaus vergleichbar war. Seit Psammetich I. führen die Amtsträgerinnen nicht nur Königstitel, „sondern nehmen auch Rechte wahr, die sonst nur einem König zustehen“.12 So feierten sie auch das königliche Machterneuerungsfest (Sedfest), vertraten den göttlichen König Amun auf Erden und werden demgemäß auch in königlicher Manier dargestellt (s. Abb.). Trotz dieser hohen Stellung bleibt fraglich, wie weit die politische Selbständigkeit dieser Frauen ging. Gewöhnlich wird nämlich das oberägyptische Reich, das diese Gottesgemahlinnen „regierten“, als eine Militärdiktatur des Hohenpriesters des Amun definiert. Das würde dann bedeuten, dass die Gottesgemahlinnen im Grunde nur die Marionetten der thebanischen Priester-Elite waren und selbst keinen großen politischen Spielraum hatten. Trifft dies zu, dann würde sich auch die ehelose Lebensweise, für die es in der ägyptischen Tradition eigentlich keine religiöse Basis gab, eher als Kontrollinstrument der thebanischen Priesterfürsten erklären. Einerseits konnte man mit der Einsetzung einer Prinzessin die Verbundenheit mit dem König im Norden garantieren, andererseits konnte man verhindern, dass eine neue, eigene Dynastie entstand, die der Priesterherrschaft hätte gefährlich werden können. Zur Geschichte der Gottesgemahlinnen ab der 21. Dynastie vgl. E. Graefe, Untersuchungen (s. Anm. 10), Bd. II, 106-118. E. Graefe, Untersuchungen (s. Anm. 10), Bd. II, 111 f. 9 Die römischen Vestalinnen Grundriss des Vesta-Atriums mit Legende Von Rabax63 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45361138 Kultische Jungfräulichkeit gibt es auch bei den römischen Vesta-Priesterinnen13, die für 30 Jahre zum keuschen Leben für die Göttin erwählt wurden. Die meisten von ihnen blieben allerdings lebenslänglich bei der kultischen Jungfräulichkeit. Als einzige Gottheit Roms hatte Vesta Priesterinnen, welche einen urtümlichen Kult mit Feuer, Wasser, Salz und Getreide verrichteten, der für das Wohlergehen des Staatswesens wesentlich war und in seiner Bedeutung nur noch mit dem des Jupiter verglichen werden kann. Zur Ehelosigkeit und kultischen Keuschheit verpflichtet, waren diese 6 Priesterinnen hoch geachtet und geehrt. Ob bei den virgines Vestales auch der Gedanke an eine göttliche Ehe gegeben war, ist schwer zu sagen, da der Kult weitgehend unbekannt ist und die Quellenlage nicht mehr viel hergibt. Was den emanzipatorischen Charakter der Ehelosigkeit der Vestalinnen angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass keine von ihnen freiwillig in den Dienst der Vesta trat. Eine Vestalin wurde als Mädchen von sechs bis zehn Jahren vom Pontifex Maximus „ergriffen“. Diese captatio ließ keinen Raum für persönliche Entscheidung. Der unfreiwillige Verzicht auf die Ehe wurde freilich mit einer außerordentlichen Rolle in der römischen Gesellschaft belohnt. Vestalinnen nahmen am öffentlichen Leben teil und hatten einen Ehrenrang, der in etwa dem der Senatoren entsprach. Sie standen auch nicht unter der Herrschaft eines Mannes. Einen Ehemann gab es nicht, und auch ihr Vater hatte nichts mehr zu sagen, da mit der „Ergreifung“ durch den Pontifex Maximus alle Verwandtschaftsbeziehungen aufgehoben wurden. Von einem selbst bestimmten Leben kann trotzdem kaum gesprochen werden, da die 13 Vgl. H. Cancik-Lindemaier, Art. Vestalin, in: Der Neue Pauly 12/2 (2003), 132f. 10 Rollenvorgaben sehr eng und die Sanktionen für abweichendes Verhalten drastisch waren. Eine Vestalin, welche die Keuschheitspflicht verletzte, wurde lebendig begraben. Halle mit sechs Räumen im Haus der Vestalinnen Von Rabax63 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45361132 Jungfrauen als Gattinnen der Weisheit bei Philo von Alexandrien Während bei den Vestalinnen der Gedanke an eine Ehe mit einer männlichen Gottheit nicht nachzuweisen ist, erwähnt der jüdische Theologe Philo von Alexandrien ganz deutlich unverheiratete Frauen, die in einer eheähnlichen Beziehung zu Gott stehen. An verschiedenen Stellen seines umfangreichen Werks preist Philo, der in etwa ein Zeitgenosse Jesu war, aber einer ganz anderen sozio-kulturellen Welt angehörte, das jungfräuliche Leben als die Vollform der menschlichen Existenz. Jungfräulichkeit ist für ihn ein sittlich-religiöses Ideal der Vollkommenheit. Der jungfräulich lebende Mensch ist von den irdischen Befleckungen der Triebe befreit und sein Nous herrscht in wahrhaft männlicher Weise über die als weiblich imaginierten Begierden. In seinem Buch „Über das kontemplative Leben“ beschreibt Philo die therapeutische Gemeinschaft als ideale jüdisch-weisheitliche Gemeinde und erwähnt dabei auch Frauen, die jeden sexuellen Kontakt vermeiden und sich ganz dem Dienst Gottes widmen. Diese nehmen auch am Gemeinschaftsmahl der therapeutischen Gemeinde teil: Philo, De Vita Contemplativa 68 Es essen nun auch Frauen mit, in der Mehrzahl alte Jungfrauen14, die ihre Reinheit nicht unter Zwang bewahrten, wie einige von den Priesterinnen bei den Griechen, als vielmehr durch freien Entschluss, aus eifrigem Streben und Sehnen nach Weisheit. Da sie mit ihr zusammen zu leben begehrten, kümmerten sie sich nicht um die Freuden des Körpers, weil sie nicht nach sterblicher, sondern nach unsterblicher Nachkommenschaft verlangten, welche allein die gottgeliebte Seele aus sich selbst hervorbringen kann, da der Vater Verstandesstrahlen als Samen in sie eingehen ließ, durch welche sie die Lehrsätze der Weisheit betrachten kann. 14 Bei Philo sind „Jungfrauen“ entweder Frauen vor der Regelblutung oder nach der Menopause. 11 Dass Philo diese Jungfrauen mit heidnischen Priesterinnen vergleicht, spricht dafür, dass er das Jungfräulichkeitsideal nicht aus der jüdischen Tradition kennt, sondern es aus dem hellenistischen Kulturbereich übernommen hat. Außerdem wird dadurch völlig klar, dass es sich um eine ebenso vorbildliche wie außergewöhnliche Lebensform handelt. Für unsere Fragestellung ist interessant, dass diese asketischen Frauen geistliche Nachkommenschaft von Gott empfangen. Ihre Gottesbeziehung wird also in einer symbolischen Analogie zur irdischen Ehe verstanden. Die geistliche Ehe mit Gott tritt an die Stelle der Ehe mit einem menschlichen Mann. Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf eine irdische Ehe, also das Leben in asketischer Enthaltsamkeit. Bei Philo ist dabei ausdrücklich die Jungfräulichkeit als Verzicht auf sexuelle Aktivität besonders wichtig, weil er Sexualität prinzipiell als etwas Negatives sieht. Nur wer sich von den niederen Trieben frei macht, kann Gott näherkommen. Diese Sexualitätsverachtung ist bei Philo auch noch mit einer deutlichen Frauenverachtung gekoppelt. Sexuell aktive und/oder blutende Frauen sind für Philo der Inbegriff der Verderbnis und der Versklavung durch die Sinnlichkeit. So schreibt er z.B. in Cher. 41, dass für ihn „das Weib in bildlichem Sinne die Sinnlichkeit bedeutet, die Erkenntnis aber in der Abwendung von der Sinnlichkeit und dem Körper besteht“. Die „Jungfrau“, also die Frau, die nicht sexuell aktiv ist und nicht blutet, sieht Philo dagegen als positiv. Sie gilt ihm als Un-Frau, die sich soweit vermännlicht hat, dass sie dem Manne nahezu ebenbürtig ist.15 Deshalb können „Jungfrauen“ in der therapeutischen Gemeinschaft eine fast gleichberechtigte Rolle spielen. Die Attraktivität der Ehelosigkeit als Vehikel weiblicher Selbstbestimmung Durch diese kleine religionsgeschichtliche Skizze ist wohl klar geworden, dass das Verständnis der Witwenschaft als Ehe oder Verlobung mit Christus zwar im christlichen Kontext zunächst überraschend erscheint, aber trotzdem nicht sehr fern lag, wenn erst einmal asketische Ideale in die Vorstellung von der geistlichen Witwenschaft integriert waren. Heute mag es vielleicht nicht mehr recht nachzuvollziehen sein, dass für viele antike Frauen das ehelose Leben so attraktiv war. Einige kurze Überlegungen mögen helfen: Hier gilt es zum einen daran zu erinnern, dass den Frauen der sexuelle Verzicht umso leichter gefallen sein mag, als der eheliche Beischlaf in der Regel nicht an den erotischen Bedürfnissen der Frau orientiert war. Was etwa die symbolische Bedeutung des Koitus angeht, so ist auf die Verbindung von Sexualität und Macht zu verweisen, die im antiken Denken gängig war. Carola Reinsberg sagt zu Recht, dass „der männliche Sexualakt, die Penetration, als Aggression verstanden wurde und entsprechend als Chiffre für Unterwerfung und Erniedrigung fungieren konnte“.16 Man wird zwar nicht davon ausgehen dürfen, dass allein solche Unterwerfungssexualität den ehelichen Alltag bestimmte, aber es war jedenfalls die gängige Konzeption männlicher Sexualität. Eventuell mag es da Frauen, die an Unterwerfung kein Interesse hatten, leichtgefallen sein, auf eine solche Sexualität zu verzichten, falls denn der Status als Gemeindewitwe überhaupt eine radikale sexuelle Abstinenz erforderte. Außerdem ist daran zu erinnern, welche massiven rechtlichen Einschränkungen mit der Ehe verbunden waren. Für die Frauen bedeutete die Eheschließung in der Regel den Übergang von der Beherrschung durch den Vater in die Beherrschung durch den Ehemann. In einem solchen Umfeld war die ehelose Lebensform für Frauen, die nach mehr Selbstbestimmung strebten, sehr attraktiv. In der Ehelosigkeit konnten Frauen damals offensichtlich mehr Freiheit finden als in der Ehe. Darüber hinaus fanden sie in einer religiösen Deutung der 15 16 Vgl. zu diesem Fragenkomplex die grundlegende Studie von D. I. Sly, Philo's Perception of Women (BJSt 209), Atlanta 1990. C. Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989, 177 (mit Abb. 98). 12 Ehelosigkeit auch einen Weg religiöser Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung. Freiheit, Selbstbestimmung, religiöse und soziale Bestätigung, das dürfte auch den Reiz des christlichen Witwenamtes ausgemacht haben. Eine negative Sicht der patriarchalen Ehe einerseits und ein vergleichsweise unabhängiges Leben auf der anderen Seite, das noch dazu mit hohem religiösen Wert versehen und von der christlichen Gemeinde nicht nur ideell sondern auch materiell (V. 3!) honoriert wurde, das sind vermutlich die wesentlichen Faktoren, die es für junge Frauen attraktiv machten, keine irdische Ehe einzugehen, sondern sich dem himmlischen Bräutigam Christus zu versprechen, dessen Joch offensichtlich viel leichter war.17 Die Attraktivität dieses Witwenstandes scheint für junge Frauen so hoch gewesen sein, dass man gegensteuern musste. Das tut schon die Gemeinderegel mit der Festlegung eines hohen Zulassungsalters, aber vermutlich ohne viel Erfolg, so dass der Autor des Ersten Timotheusbriefs weitere Restriktionen einführen muss. Wie wichtig der Witwenstatus in den Gemeinden, an die sich die Pastoralbriefe richteten, waren, wird sehr schön erkennbar an der Polemik des Pseudo-Paulus: 1 Tim 5,13 Zugleich aber lernen sie auch faul zu sein, umhergehend in den Häusern, aber nicht nur faul, sondern auch geschwätzig und übergeschäftig, Unnötiges redend. 14 Ich will also, dass Jüngere heiraten, Kinder gebären, Hausfrauen sind, keinen Anlass geben dem Gegner zu Beschimpfung … Dreht man diese Polemik des Autors um, so dürfte als Realität der Gemeinde erkennbar werden, dass die jungen „Witwen“ ihre finanzielle und ideelle Unabhängigkeit genutzt haben, um aktiv Seelsorge zu betreiben: Sie gehen von Haus zu Haus, lehren und verkündigen. Wenn nicht alles täuscht, dann werden in den jungen „Witwen“, die der Erste Timotheusbrief bekämpft, die ersten hauptamtlichen Seelsorgerinnen der Kirchengeschichte greifbar. Bekanntlich ist diese Amtstradition ebenso verloren gegangen wie andere Beteiligungen von Frauen in der Kirche.18 Durchgesetzt haben sich überwiegend frauenfeindliche Konzepte. Und wie man am Verbot der Diskussion um die Ordination von Frauen sieht, wirkt diese „Tradition“19 bis heute. 17 18 19 Die Annahme, die jungen „Witwen“ hätten eine asketisch orientierte Häresie vertreten, halte ich nicht für notwendig. Die Irrlehrerpolemik des Pseudo-Paulus darf nicht einfach mit der gemeindlichen Realität identifiziert werden. Gegen M. Tsuji, Zwischen Ideal und Realität. Zu den Witwen in 1 Tim 5,313, NTS 47 (2001) 92-104, 102-104. Vgl. H. Merklein, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer) (BZNW 89), Berlin 1997, 231-259. Die Anführungszeichen sollen verdeutlichen, dass ein Fehler, der in der Kirche gemacht wird, niemals eine Tradition im dogmatischen Sinne werden kann, selbst wenn er sehr, sehr lange gemacht wird.