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Silvia Rivera Cusicanqui: ein »compromiso vital« als Aktivismus und emanzipatorisches Denken

Silvia Rivera Cusicanqui Ch’ixinakax utxiwa Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung Herausgegeben von Sebastian Garbe, María Cárdenas, Andrea Sempértegui Vorwort der Herausgeber*innen zur deutschen Ausgabe Silvia Rivera Cusicanqui: ein »compromiso vital« als Aktivismus und emanzipatorisches Denken Obwohl sich mittlerweile auch im deutschen Sprachraum post- und dekoloniale Theorien und Perspektiven in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung etabliert haben und breit rezipiert sowie diskutiert werden, sind zahlreiche Grundlagentexte, vor allem aus Abya Yala1, für deutschsprachige Leser*innen nach wie vor nur schwer zugänglich. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Generierung von onto-epistemischen2 Impulsen aus den Anden für das Denken und Leben im Globalen Norden und zur Dekolonisierung des bislang weiterhin eurozentrischen Wissenskanons stellen die nun erstmalig ins Deutsche übersetzten und hier vorliegenden Texte von Silvia Rivera Cusicanqui3 dar. Es ist es schwer, das Werk von Rivera Cusicanqui, eine der bedeutendsten radikalen Denker*innen der lateinamerikanischen Gegenwart, bestimmten Kategorien zuzuordnen. Allerdings 1 2 3 Siehe Glossar ab Seite 137. Für die bessere Leserlichkeit und das komplexere Verständnis nichtdeutscher Begriffe haben wir, in Zusammenarbeit mit den Übersetzer*innen ein Glossar erstellt. Begriffe, die in den Texten von Silvia Rivera Cusicanqui von ihr selbst im Original als Fußnoten eingefügt wurden, haben wir beibehalten und im Glossar ergänzt. Siehe Glossar. Die bisher einzige Übersetzung ins Deutsche ist ein wenig beachtetes Werk von Rivera Cusicanqui: Rivera Cusicanqui, Silvia: Grundgesetz für die Landwirtschaft der Landarbeiter und Kleinbauern Boliviens. Kassel: Gesamthochschulbibliothek 1986. Alle im folgenden verwendeten Zitate sind im Original Spanisch (und bis auf wenige Ausnahmen Englisch). 7 kann ihr Schreiben und Tun gemäß der Idee eines ›verwurzelten Denkens‹, des pensamiento enraizado4, verstanden werden. Diese Verwurzelung zeigt sich darin, wie sich ihr akademisches und politisches Engagement gleichsam durch ihren Lebensweg zieht und von ihrer Herkunft beeinflusst ist. Die Verwobenheit zwischen persönlichen, politischen und akademischen Praktiken prägt auch die hier übersetzen Texte, die im Folgenden durch Rivera Cusicanquis prägendste Lebenserfahrungen, unermüdlichen Aktivismus und radikalpolitische akademische Arbeit eingeleitet werden. Eine politische Biografie in und für Bolivien Rivera Cusicanqui wurde 1949 in der bolivianischen Hauptstadt La Paz in eine relativ wohlhabende Familie der Mittelschicht hineingeboren. Als deutlich prägend für ihre Biografie beschreibt Rivera Cusicanqui den Einfluss ihrer engen Beziehung und emotionalen Bindung zu ihrer Aymara5 Hausangestellten und Kinderfrau Rosa. Die Autorin hielt Rosa bis zu ihrem Tod für ihre tatsächliche Mutter. Im Gegenzug versuchten ihre Eltern, über die Geringschätzung Rosas die emotionale Bindung zwischen ihr und der jungen Rivera Cusicanqui zu durchbrechen, um somit die rassistisch-klassizistische Gesellschaftsordnung in den eigenen vier Wänden wiederherzustellen. Diese für sie unverzeihliche, schmerzhafte Kindheitserinnerung bezeichnet Rivera Cusicanqui als Aguayo-Komplex6: eine Frau wie eine eigene Mutter zu lieben und von ihr großgezogen zu werden, über die ihr ihre eigene Fa4 5 6 8 Zu ›verwurzeltem Denken‹, siehe Glossar. Mit Aymara sowie Quechua/Qhichwa bezeichnen wir im Folgenden sowohl die Bevölkerungsgruppen als auch die Sprache (Anm. d. Übers.) Siehe Glossar. milie später beibringen wird, sie geringzuschätzen. Bei Rivera Cusicanqui jedoch verfehlte diese Strategie ihr Ziel: Die Autorin erklärt sich selbst zur ewigen Waise dieser Frau, von der sie als Kind getragen wurde und deren Reproduktions- und affektive Arbeit von der mestizischen7 Elite abgelehnt wurde. Sie distanzierte sich sowohl von den bürgerlichen Erwartungen ihrer Eltern als auch von deren Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung: »Mein Denken, meine Intuitionen, schulde ich dieser ersten dekolonisierenden Geste meiner inneren Indigenen, die auch gleichzeitig meine erste eigene Erinnerung dekolonisierte: die Unbequemlichkeit und den Schmerz der Erziehung innerhalb einer Familie, die wollte, dass ich eine señora werde.«8 Die Dekolonisierung des Selbst verhalf ihr letztendlich dazu, ihre Herkunft zu hinterfragen und – angetrieben von Nostalgie und Neugier – ihr spanisches, jüdisches, aber auch das Erbe der Aymara sowie den anarchistischen Aktivismus innerhalb ihrer Familiengeschichte zu entdecken. Es ging ihr jedoch weniger darum, vereinfachte Identifizierungen über genetisches Erbe festzumachen, sondern darum, die Erinnerung als etwas Prozesshaftes anzuerkennen. Cusicanqui zufolge ist die Identifizierung mit der Vergangenheit durch die Gegenwart bestimmt: »Mir ist das mit dem ›Blut‹ egal. Ich hasse dieses Reden über ›Blut‹. Denn ich denke, dass meine Identität durch das Leben in der Gegenwart bestimmt ist.«9 7 8 9 Zum Begriff Mestizaje, siehe Glossar. „Señora“ verweist hier auf die von den Eltern gewollte Abgrenzung nach unten, sowohl über Klasse als auch über raza. Gago, Verónica: Entrevista – Orgullosa de ser Mestiza. http://tintalimon.com.ar/libro/CHIXINAKAX-UTXIWA/Silvia-RiveraCusicanqui-en-Buenos-Aires (19.07.2018) Gago, Verónica: Silvia Rivera Cusicanqui: Contra el Colonialismo Interno. http://www.revistaanfibia.com/ensayo/contra-elcolonialismo-interno/ (19.07.2018) 9 Während der blutigen Militärdiktatur unter Hugo Banzer (Banzerato 1971–1978) schloss Rivera Cusicanqui ihr Soziologiestudium ab, wobei ihre Masterarbeit nach einer Razzia des Militärs verschollen blieb. Nachdem sie unter der Militärregierung politische Gefangene war, ging sie, schwanger mit ihrer ersten Tochter, ins Exil nach Buenos Aires, Argentinien. Ihre Anstrengungen, in der urbanen Peripherie Forschungsprojekte zu entwickeln, brach sie enttäuscht ab und wandte sich dem andinen, indigen geprägten Norden des Landes sowie ihrer Heimat zu. Anfang der 1980er Jahre gründete sie in Bolivien das Taller de Historia Oral – eine Forscher*innengruppe zur mündlich überlieferten Geschichte Boliviens, welche die Themen von Identität und sozialen, populären und indigenen Bewegungen in der Aymararegion behandelt. Dabei sollte die schriftlich fixierte und ausschließende hegemoniale Geschichtsschreibung durch dissidente Erinnerungen herausgefordert und ergänzt werden. Im gleichen Jahrzehnt unterstützte sie zudem aktiv CONAMAQ – eine politische und sozio-kulturelle Organisierung indigener Bewohner*innen (Aymara, Quechua und Uru) des bolivianischen Hochlandes. Rivera Cusicanquis erste intellektuelle Arbeiten wurden im Laufe dieser Zeit entwickelt – inspiriert von und verpflichtet gegenüber ihrer Zusammenarbeit mit kommunalen, indigenen und anarchistischen Organisationen und Gruppen, Frauengewerkschaften, Hausfrauen und -angestellten, Marktfrauen und Kunsthändler*innen, Köchinnen und Köchen sowie Cocabauern und -bäuerinnen. Seit Beginn dieses Jahrtausends engagiert sie sich zudem in kulturpolitischen, urbanen Kollektiven wie dem Colectivx Ch’ixi oder dem Colectivo 2, in deren Rahmen mehrere ihrer Bücher und Artikel veröffentlicht wurden. Sie unterrichtet in akademischen und außeruniversitären Kontexten und arbeitet mit 10 selbstorganisierten Gruppen von Kunsthandwerker*innen und Kleinhändler*innen in La Paz zu ökologischen, dekolonialen und feministischen Themen. In diesem Rahmen beteiligt sie sich auch an der Denunziation und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen, der Verteidigung indigener Rechte und an Solidaritätskampagnen mit indigenen Aktivist*innen. Nachdem im Jahr 2006 Evo Morales mit der Partei Movimiento al Socialismo (MAS) erster indigener Präsident Boliviens wurde, fungierte Rivera Cusicanqui zunächst als Regierungsberaterin in Fragen des Coca-Anbaus. Allerdings distanzierte sie sich in den darauffolgenden Jahren angesichts der neokolonialen Praktiken der Regierung vom MAS. Sie kritisierte den fehlenden Bruch mit der hegemonialen politischen Kultur des Landes, die zunehmende Zentralisierung und Stärkung des Staates, die Intensivierung von Modernisierungs- und Entwicklungstendenzen durch naturzerstörende Infrastrukturprojekte, die ethnische und folkloristische Maskierung eines korporativen Kapitalismus durch die Regierung sowie die Fortführung von patriarchalem Autoritarismus, vertikaler Unterwerfung und mangelnder Transparenz.10 Daher schloss sich Rivera Cusicanqui im Jahr 2011 einer erfolgreichen, heterogenen Protestbewegung aus indigenen Organisationen und Gemeinden, ökologischen, kulturpolitischen, feministischen sowie anarchistischen Gruppierungen an, die den Bau einer Verbindungsstraße durch das TIPNIS-Naturschutzgebiet, ein anerkanntes indigenes Territorium, verhinderten. 10 Rivera Cusicanqui, Silvia: Mito y desarrollo in Bolivia. El giro colonial del gobierno del MAS. La Paz. Piedra Rota / Plural editores 2014 11 »Eine Wissenschaft des Lebens« – Das akademische Werk von Silvia Rivera Cusicanqui In ihrer akademischen Laufbahn war Rivera Cusicanqui jahrzehntelang Professorin für Soziologie an der Universidad Mayor de San Andrés (UMSA) in La Paz, von der sie 1993 emeritiert wurde. Im Jahr 1989 erhielt sie das prestigeträchtige Guggenheim-Stipendium im Bereich der ibero- und lateinamerikanischen Geschichte. Sie war zudem Gastprofessorin der Columbia University in New York, der University of Texas in Austin, der Universidad de Huelva in Huelva, der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) in Jujuy sowie der Universidad Andina Simón Bolívar in Quito. Die Arbeiten und Texte von Rivera Cusicanqui werden häufig im Zuge der zunehmenden Popularisierung von post-, dekolonialer und feministischer Theorie aus Lateinamerika und im Zusammenhang der immer stärker gewordenen Kritik am androzentrischen Eurozentrismus in den Geistesund Sozialwissenschaften genannt. Jedoch verwehrt sie sich der einfachen und widerspruchslosen Einordnung innerhalb dieser Theorieperspektiven. Wenngleich ihre Arbeiten zwar sehr wohl die politischen Impulse dekolonialer und feministischer Ansprüche vertreten, so sind diese Bezeichnungen doch nicht ausreichend, um ihr Arbeiten zuzuordnen und zu verstehen. In Abgrenzung zu post- und dekolonialer Theorie und eurozentrischen Feminismen postuliert Rivera Cusicanqui die Notwendigkeit, kritische Denk- und Wissenspraktiken aus den heterogenen Kontexten der lateinamerikanischen und indigenen Gesellschaften selbst herauszuentwickeln. Vielmehr als eine alternative Gesellschaftswissenschaft, geht es ihrer Meinung nach darum, eine »Wissenschaft des Lebens« zu entwickeln, die über die oberflächliche und akademisierte Verbindung zwischen 12