Inhalt
60
Good Luck wih the Future
Dani Pujalte &
Rita Puig-Serra
66
101
Digitale Kulturen zwischen
ewigem Update und
sta(tis)tischer Zukunft
PTV-G4-B18
Daniel Kuge
Irina Kaldrack
96
Transformationen von Sinn- und
Identitätskonstruktionen.
Oder: Gelungenes Misslingen
186
Jller (Iller)
Dana Giesecke
32
Die Austreibung der
Unsicherheit.
Business Gaming.
Julia von Mende
42
Felix Helmut Wagner
26
Die Zukunft beginnt jetzt?! Klimaund Gesellschaftswandel im
Spannungsverhältnis von
Kontingenz und Pfadabhängigkeit
»Kitchen Stories« – mögliche Transformationen
von Alltagsräumen am Beispiel der Ernährung
Der Unbekanntheitsraum
und die Ursprungskugeln
Benjamin Maus & Prokop
Bartoniček
114
Between File and Life
Michael Erlhoff
Bernd Sommer
The Metamorphosis of the
Designer – A Prerequisite to
Social Transformation by Design
Rolf Nohr
226
160
Alain Findeli
The Long Now
104
Neoarcheologia
Verena Friedrich
120
Transformation aus Sicht
der Postwachstumsökonomik
Alexandre
Bavard
22
Die Stadt als städtisch-theatrale
Versuchsanordnung: Wie wollen wir
in Zukunft leben und welche Stadt
brauchen wir dafür?
Isabel Finkenberger
Niko Paech
142
People Flags, Bridges –
Transformation through
Resistence
174
202
Fatma Korkut
Crusing/Queer/Afrofuturism.
Time for another kinship
86
Ulrike Bergermann
Heimatdesign: Über ungewisse
Gewissheiten bei der Gestaltung
von Heimat oder:
Wider die Schlapphäbigkeit
Franziska Holzner
Unplanning the City
(Polylemma)
Roshan Adhihetty
38
84
116
Collect Me
Marlene Bart
212
Das Glück in Daten:
Der Workshop Datenmaske
La Loma.info
Dialektik des Größenwahns:
Design als Change Agent –
Über das Verhältnis von Design
zu Politik und Wirtschaft
David Oswald
74
Nacktwanderer
co.learning for
tomorrow
180
The Positive Impact Factory:
Transition from Eco-Efficiency
to Eco-Effectiveness
238
144
Thomas Christian Malorny
Gabi Schillig
Markus Bader
Jesko Fezer
Klara Stumpf
Public Receptors &
</ghosts>
co.city lab
Parteiisches
Design
Wirklichkeitsperforationen –
Wege angewandter künstlerischer
Zukunftsforschung
222
188
162
Wirtschaftliche Transformationen
und die Gemeinwohl-Ökonomie
52
Christoph Herrmann
Kunst und Utopieproduktion:
Working Utopias
Anke Strauß
Legende
Artikel
Kommentar
214
Slow Mobility – Mobilität neu denken
Zur Transformation des Verkehrs
Kunst
Stefan Wolf
Workshop
UN/CERTAIN
FUTURES
Design | Band 38
Rollen des Designs in gesellschaftlichen
Transformationsprozessen
herausgegeben von:
Marius Förster, Saskia Hebert
Mona Hofmann, Wolfgang Jonas
Inhalt
Unfolding
Un/Certainties
006
Prolog
016
Neoarcheologia
Alexandre Bavard
022
Between File and Life
Michael Erlhoff
026
Die Zukunft beginnt jetzt?! Klima- und
Gesellschaftswandel im Spannungsverhältnis
von Kontingenz und Pfadabhängigkeit
Bernd Sommer
032
Nacktwanderer
Roshan Adhihetty
038
»Kitchen Stories« –
mögliche Transformationen von Alltagsräumen am Beispiel der Ernährung
Julia von Mende
042
Kunst und Utopieproduktion: Working Utopias
Anke Strauß
052
Good Luck with the Future
Dani Pujalte, Rita Puig-Serra
060
Transformationen von Sinn- und Identitätskonstruktionen. Oder: Gelungenes Misslingen
Dana Giesecke
066
Wirklichkeitsperforationen –
Wege angewandter künstlerischer
Zukunftsforschung
Thomas Christian Malorny
074
Collect me
Marlene Bart
084
Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung: Wie wollen wir in Zukunft
leben und welche Stadt brauchen wir dafür?
Isabel Finkenberger
086
Digitale Kulturen zwischen ewigem Update
und sta(tis)tischer Zukunft
Irina Kaldrack
096
PTV-G4-B18
Daniel Kuge
101
The Metamorphosis of the Designer: A Prerequisite to Social Transformation by Design
Alain Findeli
104
Der Unbekanntheitsraum und die
Ursprungskugeln
Felix Helmut Wagner
114
co.learning for tomorrow
co.city lab
116
Epilog
246
Werkverzeichnis
250
Autoren
256
Literatur- &
Bildverzeichnis
262
Impressum
268
Transformation aus Sicht der
Postwachstumsökonomik
Niko Paech
120
People, Flags, Bridges:
Transformation through Resistance
Fatma Korkut
142
Dialektik des Größenwahns: Design als
Change Agent – Über das Verhältnis von
Design zu Politik und Wirtschaft
David Oswald
144
The Long Now
Verena Friedrich
160
Parteiisches Design
Jesko Fezer
162
Wirtschaftliche Transformationen
und die Gemeinwohl-Ökonomie
Klara Stumpf
174
The Positive Impact Factory: Transition from
Eco-Efficiency to Eco-Effectiveness
Christoph Herrmann
180
Jller (Iller)
Benjamin Maus, Prokop Bartoníček
186
Heimatdesign: Über ungewisse
Gewissheiten bei der Gestaltung von Heimat
oder: Wider die Schlapphäbigkeit
Franziska Holzner
188
Hidden Kingdom
Stefan Bladh
194
Crusing/Queer/Afrofuturism:
Time for another Kinship
Ulrike Bergermann
202
Das Glück in Daten:
Der Workshop Datenmaske
LaLoma.info
212
Slow Mobility – Mobilität neu denken.
Zur Transformation des Verkehrs
Stefan Wolf
214
Public Receptors & </ghosts>
Gabi Schillig
222
Die Austreibung der Unsicherheit.
Business Gaming
Rolf Nohr
226
Unplanning the City (Polylemma)
Markus Bader
238
unfolding un/certainties
Ein Sprichwort sagt, die Zukunft sei auch nicht mehr das, was sie mal
war – und das Design, so möchte man hinzufügen, ist es auch nicht. Zukünfte,
Gestaltungsdisziplinen und ihre Schnittmengen unterliegen konstanten
Transformationsprozessen: Während (oder sogar weil) sich die Lebensbedingungen der meisten Menschen in den vergangenen Jahrzehnten eklatant
verbessert haben, sind Heilsversprechen und Erlösungsrhetoriken, die einen
Kredit auf noch-zu-kommende Zeiten, Räume oder Erfindungen aufnehmen,
sehr viel weniger glaubhaft als früher. Die Welt, da sind sich viele einig, wird
morgen nicht ›besser‹ dastehen als heute; und das nächste Produkt oder
die nächste Dienstleistung, die gestaltet wird, löst zwar möglicherweise
irgendwelche vorher festgestellten Probleme, bringt aber auf Grund
systemischer Verflechtungen wahrscheinlich eine Vielzahl neuer hervor.
Während sich digitale Revolutionäre daran machen, die neue Unübersichtlichkeit allumfassender Verdatung durch geeignete Algorithmen
wieder zu reduzieren, erschweren Rückkopplungen, Rebound-Effekte und
menschliches (Fehl)Verhalten eine saubere Prognostik – insofern ist
die Zukunft eigentlich doch genau das, was sie immer schon war, nämlich
nicht vorhersehbar.
Es ist daher nur logisch, nicht von »der Zukunft« zu sprechen, sondern von
»möglichen Zukünften« – mit allen Unsicherheiten, Unschärfen und Optionen, die ein solch pluralistischer Ausblick auf das Kommende mit sich bringt.
Zukünfte im Konditional bergen an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeiten (uncertain certainties) ebenso wie gewisse Unsicherheiten (certain
uncertainties) – zwei der Begriffe, die für das dieser Publikation zugrunde
liegende interdisziplinäre Symposium von Bedeutung waren. Doch bevor
wir gleich zu den Beiträgen kommen, die uns dieses spannende, besorgniserregende und zugleich gemeinschaftsstiftende Thema beschert hat, noch
ein Wort zur untertitelgebenden Gestaltung und ihrer Rolle in diesem Feld.
Design, begriffen nicht als das Hübschmachen unnützer Dinge sondern
als Gestaltung und Entwurf möglicher gesellschaftlicher Konstellationen, ist
unserer Ansicht nach heute eine ganz und gar unverzichtbare Disziplin.
Nicht nur können Gestalter*innen Dinge vor-stellen und aus-probieren, die
es (noch) gar nicht gibt, sondern sie können auch Informationen synthetisieren, Systeme erforschen und Prozesse erfinden. Sie ent-werfen, das heißt:
Sie werfen aus der Gegenwart einen Angelhaken in die Zukunft, und wenn
sie die Schnur einholen, hängt manchmal etwas Interessantes dran am
6
Haken. Noch besser funktioniert das, wenn man nicht alleine angelt: Ob das
Zukunftsding, was man da aus den verschiedenen Möglichkeiten herausgefischt hat, nämlich etwas taugt, das können andere manchmal besser
beurteilen – und auch Angel und Haken wollen gut konstruiert, die Bewegung des Ent-werfens sorgfältig einstudiert werden.
Das Nachdenken über un/sichere Zukünfte und die Rolle des Designs ist
kein Privatvergnügen, und auch wir haben das nicht alleine getan. Wir
danken daher in erster Linie all den vielen Personen (Vortragenden und
Zuhörenden), die zu unserem Symposium kamen. Fast alle Sprecher*innen
haben in der darauf folgenden und nun in der Vergangenheit liegenden Zeit
an der Verschriftlichung oder sogar an der vollständigen Überarbeitung
ihrer Beiträge mitgewirkt.
Allerdings gibt es, auch das können wir rückblickend versichern, noch
weitere Bedingungen und vor allem Personen, ohne die dieses Buch nicht
entstanden und/oder nicht open source verfügbar wäre. Letzteres wurde
durch eine großzügige Unterstützung seitens der HBK Forschungsförderung
und des Instituts für Designforschung ermöglicht, wofür wir unserer
Institution sowie den betreffenden Kolleg*innen an dieser Stelle ganz
herzlich danken möchten.
Die viele Arbeit, die darin steckt, das Material zu sichten, zu bearbeiten, zu
redigieren, zu kommunizieren und in eine ansprechende Form zu bringen,
haben wir in der Hoffnung auf Selbstorganisation zunächst als Gemeinschaftsaufgabe im Studiengang begonnen, später dann allerdings auf wenige
und dafür sehr breite Schultern verteilt. Zuallererst ist hier Marius Förster
für seinen unermüdlichen Einsatz zu danken: Hätte er dieses Gemeinschaftswerk nicht zu seinem Projekt gemacht, hätten Sie dieses Buch jetzt ganz
sicher nicht in den Händen oder auf dem Bildschirm. Mona Hofmann hat mit
Geduld und Beharrlichkeit ebenso zum Gelingen beigetragen wie Thomas
Kores, der die Bildrechte recherchierte. Jana Doell und Marlene Martins
Fernandes haben als Lektor*innen unschätzbare Dienste geleistet, und
Carolin Bierschenk vom transcript Verlag hat unseren autopoietischen
Prozess stets mit viel Geduld und guter Laune begleitet.
Saskia Hebert und Wolfgang Jonas haben den common ground für all das
bereitet: Vom Hervorscheinen der Idee im Frühjahr 2016 bis zur Drucklegung dieses Bandes, zwei Jahre später, haben sie dabei mitgeholfen, die
multiplen Perspektiven, die hier vertreten sind, zu versammeln, hörbar
beziehungsweise lesbar werden zu lassen und – großartig unterstützt auch
durch Rosan Chow – in eine fruchtbare Debatte zu überführen. Wir alle
7
hoffen, dass dieser Diskurs mit Hilfe dieses Buches auch außerhalb unseres
Elfenbeinturmes weitergehen kann und wird: im Dienste und im Sinne der
un/gewissen Zukünfte, deren Gestaltung uns allen am Herzen liegen sollte.
Noch ein Wort zur Gestaltung – nicht der Zukunft in diesem Fall, sondern
des Buches. In den Umschlagklappen befinden sich zwei Karten, die beim
Navigieren durch diesen Band helfen sollen. Sie stellen ein assoziatives
Inhaltsverzeichnis und ein klimatisches Stichwortverzeichnis dar und regen
dazu an, eigene Pfade zu finden, Brücken zu schlagen und Brüche zu suchen.
Gerahmt werden die Texte durch ein Vor- und ein Nachwort aus der
Perspektive des Studiengangs, dem wir das alles zu verdanken haben: dem
Transformation Design. Dazwischen befinden sich Positionen aus Theorie
und Praxis, Forschung und Anwendung sowie die Beschreibung zweier
Workshops, die zwischen den Vorträgen stattfanden. Die gewählte Ordnung der Beiträge erweist der Kontingenz des verhandelten Gegenstandes
ihre Referenz: Assoziativ erstellt und von Unsicherheiten durchwachsen
entstehen rhizomatische Verklebungen und offene Enden innerhalb und
zwischen den Beiträgen, die analog zur ursprünglich gewählten Vortragssprache in deutsch oder englisch abgedruckt werden.
Die Reise beginnt mit einem Beitrag von Michael Erlhoff. In Between File
and Life kritisiert er den Dualismus zwischen Gut & Böse und entlarvt
unseren Glauben an präzise Kategorien und linear-logische Strukturen als
Ideologien, die uns nur scheinbar ein Gefühl von Sicherheit vermitteln.
Er plädiert für das Sich-Einlassen auf Missverständnisse, Verwirrungen und
assoziative Logiken und unterstreicht den Wert, den Unsicherheiten und
Unschärfen für das Denken und das Entwerfen haben können.
Bernd Sommer nähert sich in Die Zukunft beginnt jetzt?! dem Thema
aus einer soziologischen Perspektive und kontrastiert diese mit dem naturwissenschaftlichen Blick der Klimaforschung. In dem so entstehenden
Spannungsverhältnis von Kontingenz und Pfadabhängigkeit skizziert er
Korridore der möglichen gesellschaftlichen Entwicklung.
In »Kitchen Stories« beschreibt Julia von Mende gesellschaftliche Veränderungen anhand einer historischen Untersuchung der Küche, die sich im Zuge
der Industrialisierung von einer produktiven zu einer konsumptiven
Einrichtung wandelte. Sie erforscht, inwiefern Alltagsräume und -handlungen
Spiegel und Labore gesellschaftlicher Vorstellungen sein können.
Vom Alltagsraum zum ›Nichtort‹ oder auch dem ›guten Ort‹ führt uns
Anke Strauß in ihrem Beitrag über Kunst und Utopieproduktion. Hier
diskutiert sie die (Un)Möglichkeit der Kunst, Orte der Utopieproduktion als
8
Gegenentwürfe zum neoliberalen Realismus zu gestalten. Mit Mitteln
der empirischen Sozialforschung untersucht sie die Produktionsbedingungen
verschiedener Künstler*innenorganisationen und deren Relation zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Blickt man zurück auf die großen Utopien des 20. Jahrhunderts, ist ein
offensichtlich wichtiger Begriff der des Scheiterns. So berichtet Dana
Giesecke in ihrem Beitrag über die Transformation von Sinn- und Identitätskonstruktionen vom Gelungenen Misslingen ›moderner Konvertiten‹.
In Wirklichkeitsperforation untersucht Thomas Malorny das Potential der
Kunst als Ungewissheitsgenerator. Ihn treibt die Frage an, wie ästhetische
Praxis durch »Energetisierung und Intensivierung der Wirklichkeit«
scheinbare Alternativlosigkeit aufbrechen kann. In Störungen, Ergebnisoffenheit, Partizipation und Autonomie erkennt er Prinzipien einer angewandten, künstlerischen Zukunftsforschung, der es so gelingen kann ihr
transformatives Potential gesellschaftlich relevant einzusetzen.
Isabel Finkenberger referiert in Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung darüber, wie der renovierungsbedingte Umzug des Schauspiel
Köln zur Chance wird, Veränderungen in Köln-Mühlheim in einem offenen
Prozess mitzugestalten. Anhand verschiedener Projekte illustriert sie
das Potential des Theaters durch die Verschränkung künstlerischer Praxis,
lokaler Bevölkerung und Stadtentwicklung Möglichkeiten des (zukünftigen) Zusammenlebens in der Stadt zu diskutieren.
In Digitale Kulturen zwischen ewigem Update und sta(tis)tischer Zukunft
beschreibt Irina Kaldrack die Gleichzeitigkeit konträrer Konditionen im
durch digitale Medien durchdrungenen Alltag: Einerseits leben wir als
Nutzer*innen smarter Endgeräte im dauernden Beta und unterliegen dem
allgegenwärtigen Update-Imperativ. Andererseits versprechen uns
Verfahren wie Predicitve Analytics, mithilfe eben jener Geräte mögliche
Zukünfte operabel zu machen. Was wären im Angesicht dessen, so fragt
sie, mögliche Einsatzpunkte des Transformation Designs?
Alain Findeli begegnet den gegebenen Unsicherheiten mit der Präsentation
einer Methode, die die ökonomischen, politischen, ökologischen und
spirituellen Phänomene nicht nur wissenschaftlich zu fassen weiß, sondern
auch transformative Kraft besitzt. Mit Bezug auf Goethes Phänomenologie beschreibt er in seinem Beitrag The Metamorphosis of the Desiger
Otto Scharmers Theorie U, die von Gestalter*innen eine innere Transformation verlangt.
9
Im Workshop co.learning for tomorrow des co.city lab (Laura Popplow &
Carolin Holzer) wurden Fragen zur zeitgemäßen Designlehre und Optionen
für zukünftige Bildungs-Landschaften mit Hilfe des Vision Mapping
bearbeitet. Im vorliegenden Text verschmelzen Kritik am Status Quo und
die Vorstellung der Workshop-Ergebnisse zu einem produktiven Ausblick.
Einen weitaus kritischeren Kommentar gibt Niko Paech in seinem Beitrag
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik. Auf Grundlage
einer ökonomie- und gesellschaftskritischen Gegenüberstellung der gängigen
Transformationsparadigmen von Green Growth und Degrowth entwirft
er ein eigenes Modell der Postwachstumsökonomie. Dieses setzt auf
Suffizienz, regionale Wertschöpfung und Prosument*innentum. In seiner
Keynote beschreibt er zudem Prinzipien, die eine nachhaltige Transformation ausgehend von Gegen- und Subkulturen möglich erscheinen lassen.
Fatma Korkut rekapituliert in People, Flags, Bridges die Ereignisse in der
Türkei seit den Gezi Park Protesten in 2013. Sie erkennt eine Transformative Kraft im Widerstand, die es ermöglicht das Potential gesellschaftlichpolitische Veränderungen besonders in Hinblick auf Macht zu hinterfragen.
David Oswald untersucht in Dialektik des Größenwahns das Verhältnis von
Design zu Politik und Wirtschaft. Er hinterfragt Rahmenbedingen, Sachzwänge und systemische Verstrickungen einer »verbesserungswürdigen
Welt« und die Rolle von Designer*innen im Kontext von Nachhaltigkeit
und sozialem Wandel. In Anbetracht der Gestaltungskraft wirtschaftlicher
und politischer Akteur*innen fordert er eine kritische Designpraxis, die
deren Wirkmacht nicht unterschätzt.
Aus einer anderen, von den Theorien Chantal Mouffes beeinflussten Perspektive blickt Jesko Fezer in Parteiisches Design auf die Verwicklung
von Design mit Dimensionen des Politischen. In der Annahme, dass Design
per se politisch sei, da es Veränderungswünsche an individuelle und
gesellschaftliche Lebensentwürfe knüpft, plädiert er für ein »parteiisches
Design,« das sich aktiv und ganz bewusst in hegemoniale Aushandlungsprozesse einmischt.
Zurück zur ökonomischen Dimension kommt Klara Stumpf mit ihrem Text
Wirtschaftliche Transformationen und die Gemeinwohl-Ökonomie. Auch
sie äußert eine klare Kritik am momentanen, soziale und ökologische
Unsicherheiten produzierenden Wirtschaftssystem, stellt diesem jedoch mit
ihrer Untersuchung der Gemeinwohl-Ökonomie ein alternatives, bereits
praktiziertes Modell gegenüber. Sie argumentiert anhand konkreter Beispiele,
10
dass bereits die Umstellung der Bilanzierung – weg von finanziellen und hin
zu gemeinwohlorientierten Gewinnen – zu signifikanten Veränderungen der
Wirtschaftsstruktur beitragen kann.
Christoph Herrmanns Beitrag zur Positive Impact Factory beleuchtet einen
speziellen, mehr als symbolischen Ort wirtschaftlichen Handelns: die Fabrik.
Aus einem historischen Überblick ökologischer und gesellschaftlicher
Auswirkungen der industriellen Fertigung leitet er Anforderungen an zukünftige Produktionsprozesse und -bedingungen ab, denen er gemeinsam mit
verschiedenen Kooperationspartnern in seinem Forschungsprojekt gerecht
zu werden versucht.
Scheinbar im Kontrast dazu schließt sich Franziska Holzners Artikel Heimatdesign an, der die Rolle von Gestalter*innen zwischen Allmachtsphantasien
und Ohnmachtsrealität fast poetisch beschreibt. Während ihres Promotionsvorhabens begleitete sie verschiedene Transformationsinitiativen und
untersuchte deren Umgang mit Ungewissheiten, »Schlapphäbigkeit« und den
Möglichkeiten für Transformationsdesign als Praxis im Sozialraum.
In Crusing/Queer/Afrofuturism entwickelt Ulrike Bergermann eine Figur
des Backcasting: Was wäre, wenn man die Zeit von der Zukunft her
denkt? Sie durchstreift in ihrem Beitrag Zeitkonzepte abseits hegemonialer
Zentren, vorgedacht von Theoretiker*innen und Künstler*innen des
Afrofuturismus und der Queer Theory. Zum einen geht es ihr dabei um die
Erfindung einer eigentlich unmöglichen Bewegung in der Zeit, die gleichzeitig futuristisch und nostalgisch ist und dabei Zukunft und Heimat
verknüpft (Black Futurology). Zum anderen beschreibt sie Queerness nach
Muñoz als »utopisches Performativ,« das im Begehren eines Möglichkeitshorizonts Realität produziert.
LaLoma.info (Julia Wolf & Daniel Paez Castillo) spielen in ihrem Workshop
Das Glück in Daten mit der Doppeldeutigkeit dieses Begriffs und transformieren das Prinzip der standardisierten Eingabeoberfläche zum kommunikativen Wearable. Grundlage ihrer Auseinandersetzung sind der Happy
Planet Report und die Frage nach dem Glück.
Stefan Wolf kritisiert in seinem Beitrag den ambitionierten, doch zu kurzsichtigen Transformationswillen der Automobilindustrie. Er versteht die
Zukunft der Mobilität als systemische und nutzerorientierte Dienstleistung
im Kontext der Stadtentwicklung und fordert von der Industrie einen Paradigmenwechsel hin zu einem reflexiven Mobilitätsverständis: Slow Mobility.
11
Rolf Nohr erläutert in Die Austreibung der Unsicherheit seine These, dass
die Wurzeln der heute omnipräsenten Gamification in den in der Mitte der
1950er Jahre in den USA entstehenden, teils rechnergestützten Unternehmensplanspielen (UPS) zu suchen sind, die wiederum einem militärischen
Zusammenhang entstammten. Innerhalb der damals verwendeten Modelle
und Simulationsumgebungen wurden wirtschaftliche und unternehmerische
Prozesse ›spielerisch‹ erprobt, erlernt, aber auch ökonomische Theorien
experimentell untersucht oder wirtschaftliche Entwicklungen prognostiziert.
Nohr wirft einen kritischen Blick auf die Euphorie der Planer*innen,
»der Zukunft die Kontingenz austreiben« zu können, und warnt davor, diese
gestalten zu wollen.
Vom Planspiel kommen wir im letzten Beitrag zur Planung und Realisierung
partizipativer Projekte im urbanen Raum. Markus Bader vom raumlabor
berlin spricht in Unplanning the City über die Stadt als Feld beziehungsreicher Situationen, in denen sich Raum, soziale Handlungen, gefühlte Lebenswirklichkeiten und politische Rahmensetzungen ineinander verschränken.
Anhand von drei Projekten skizziert er Ansätze für urbane Entwicklungsrhetoriken, die zu hilfreichen Werkzeugen für den Umgang mit komplexen
Situationen werden und auf diese Weise einen explorativ ergebnisoffenen
Zugang zur Arbeit an der Zukunft von Stadt ermöglichen können.
Zwischen den Texten befinden sich künstlerische Arbeiten von Alexandre
Bavard, Roshan Adhihetty, Dani Pujalte & Rita Puig Serra, Marlene Bart,
Daniel Kuge, Felix Helmut Wagner, Verena Friedrich, Benjamin Maus &
Prokop Bartoníček, Stefan Bladh und Gabi Schillig. Ihre figurativen, konzeptionellen, fotografischen oder performativen Werke fügen sich ein in die
Landschaft aus Unsicherheiten, vermeintlichen Gewissheiten und offenen
Fragehorizonten. Auch ihnen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich
gedankt: Sie tragen aus unserer Sicht ganz wesentlich dazu bei, den
produktiven Dialog zwischen Künsten und Wissenschaften an und jenseits
der Hochschule fortzuführen. Außerdem werden einige der Texte durch
Kommentare ergänzt, welche die Gedanken der Beiträge weiterführen, neue
Richtungen einschlagen oder Brücken zu verwandten Texten innerhalb des
Bandes bauen. Im Sinne von Hyperlinks erlauben sie Sprünge heraus aus
dem geschaffenen Kosmos. Ein Dank dafür gilt den Kommentator*innen
Till Wittwer, Peter Tränkle, Michael Erlhoff, Stefan Wolf, Teresa Ruhstaller,
Jacqueline Hen, Robert Preusse, Stefanie Rau und Peter Wagner. Doch
genug der Vorrede(n): Viel Spaß beim Navigieren durch die un/sicheren
Zukünfte und die Frage, welche Rollen Gestaltung darin spielen könnte.
Die Herausgeber*innen
Marius Förster, Saskia Hebert, Mona Hofmann, Wolfgang Jonas
12
unfolding un/certainties
There is a proverb stating that the future is not
what it used to be – and design, one might
add, isn’t either. Futures, design disciplines
and their interfaces undergo constant transformation processes: while (or because)
the living conditions of most people have significantly improved during the past decades,
welfare promises and redemption rhetoric that
raise mortgages on times, spaces or inventions
yet-to-come have much less credibility than
before. The world, most people would agree,
will not be better off tomorrow; and the next product or the next service that is designed might
well solve some problems that have been
asserted but might also produce a multitude of
new problems due to systemic intertwinements yet to discover.
While digital revolutionaries set out to reduce
the new confusion caused by omnipotent big
data collection by inventing appropriate
algorithms, feedback loops, rebound effects
and human (mis)behaviour prohibit clear
prognostics – so in fact, the future is exactly
what it always was: unpredictable. It is
therefore logical not to speak of »the future«
but of »possible futures« – with all the
uncertainties, blurred fields and options that
such a pluralistic approach might deliver.
Conditional futures contain both »uncertain
certainties« and »certain uncertainties« – two
of the terms that played an important role
during the symposium that built the basis of
this publication. But before we describe the
contributions that evolved from this exciting
and worrying subject, some words on the
»possible roles of design« in this field – and
the subtitle of the book.
First, we shared the work of revising, editing,
and communicating the existing material (and
to give it an attractive appearance) as a
common exercise with all our students, hoping
for self organization to sort it all out. Later,
we decided to distribute it on much less but
broader shoulders – first of all, we have to
thank Marius Förster for his relentless efforts.
Hadn’t he made this collective work his own
project, you would not hold this book in your
hands (or see it on the screen in front of you).
Mona Hofmann contributed lots of patience
and insistence, just as Thomas Kores who
secured the copyright for the images. Jana
Doell and Marlene Martins Fernandes
rendered invaluable services in copy-editing
and Carolin Bierschenk from transcript
publishing house supported our autopoietic
process with humour and high spirit.
Saskia Hebert and Wolfgang Jonas prepared
the »common ground« for all this: From the
germination of the idea in spring 2016 to
the printing of this volume two years later they
helped to gather the multiple perspectives
collected here and to make them audible,
readable and – supported by Rosan Chow – disputable. We all hope, that with the help of this
book, the discourse we started will continue
beyond the walls of our ivory tower – on behalf
and in the interest of the un/certain futures
whose »Gestalt« we should all care about.
Another word on Gestalt/design – not of the
future in this case, but of the book. Folded in
the book’s cover you will find two maps
that are supposed to help you navigating
through this volume. They delineate an
associative directory and a climatic glossary
and encourage you to find your own paths and
gateways, bridges and breaks between the
texts. These are framed by a prologue and
an epilogue from the perspective of the master
programme, from which all that emerged:
Transformation Design. In between, you will
find positions and perspectives from theory
and practice, research and implementation or
the description of two workshops that
took place between the presentations at the
symposium. The chosen order of the
contributions gives credit to the contingencies
of the discussed subject: associatively
combined and intertwined with uncertainties,
rhizomatic adhesions and open ends evolve
among and in between the texts.
Design, not taken as the beautification of
useless objects but as „Gestaltung» or design
of possible social constellations, is in our
opinion an indispensable discipline. Not only
can designers imagine and test things that
have not even been invented yet, they can also
synthesize information, explore systems and
develop processes. The German term for
»design« is »entwerfen«, literally something
like »dis-cast«; so designers throw something,
like a fishing hook, into the future, and
when they reel in the fishing line, sometimes
something interesting is hooked up. This
works even better if you don’t go fishing on
your own: sometimes others are better in
judging if the future thing that you have pulled
The journey starts with a text by Michael
out of a multitude of possible options is of any
Erlhoff. In Between File and Life, he criticizes
value to your cause. Also, both fishing line and
the dualism between good and evil exposing
hook have to be constructed with competence, the confidence in precise categories and
and the movement of throwing out or
linear-logical structures as an ideology that is
»de-signing« also has to be studied carefully.
falsely creating a sense of security. He pledges
for one's ability to embark on misunderstanThinking of un/certain futures and the role of
dings, confusions and associative logic
design is not a private exercise, and we also
and underlines the value of uncertainties and
did not do this on our own. So first of all we
blurriness for thinking and designing.
thank all the many persons (both lecturers and
audience) that came to our symposium.
In Future starts now?! Bernd Sommer takes a
Almost all of the speakers have taken part in
sociological perspective, contrasting it with
editing or even revising their original
the scientific approach of climatology. This
contributions since.
compilation creates a field of tension spanning
from contingency to path dependence. Within
Looking back we can also assert that there are these poles, he draws corridors of potential
other conditions and persons without whom
social developments.
this book would never have seen the light
of day and/or would not have been accessible
Looking at the kitchen changing since the indusopen source. The latter was made possible by
trialization from an institution of production to
a generous funding of the Braunschweig
one of consumption, Julia von Mende desUniversity of Art research grant and by our
cribes transformations in society. In »Kitchen
colleagues in the institute of design research
Stories« she is asking how routines and places
whom we would like to thank sincerely for
of the everyday life can be mirrors and
laboratories of different social conceptions?
their support.
13
In Art and Production of Utopia Anke Strauss
is navigating us from daily routines to
»non-places« or the »perfect place«.
She discusses art's (im)possibility of creating
places of utopia-production countering
the neoliberal realism. With tools of the empirical social sciences, she investigates several
artist organizations and their relation to
societal discourses.
Based on an economy- and socio-critical
juxtaposition of familiar paradigms of conversion, namely Green Growth and Degrowth,
he designs his own model of a post-growth
economy characterized by sufficiency, a local
creation of value and prosumers. In his text
he describes principles, making sustainable
transformation – starting from counter- and
subcultures – imaginable.
Looking back to the great utopian ideas of the
20th century what immediately comes to one's
mind is the reality of failure. Capturing that
thought, Dana Giesecke reports about her
study of people who appear to have suddenly
rejigged their lifestyle. This about-turn, she
describes as a Transformation from
Constructions of Identity and Meaning, or:
Successful Failure.
Fatma Korkut in People, Flags, Bridges –
Transformation through Resistance recaps
the events in Turkey since the Gezi Park
protests in 2013. She discerns a transformative power proceeding from the resistance,
allowing for questioning the potential of
socio-political changes especially regarding
the concept of power.
In Perforation of Reality Thomas Malorny
investigates the potential of art as a generator
of uncertainties. He is driven by the question
how an aesthetic practice, through »energizing and intensifying of reality«, can break
open notions of no alternatives (T.I.N.A).
Practice-based, artistic futurology with the
principles of disorder, open-endedness,
participation, and autonomy has the potential
to apply its transformative power at a scope of
societal relevance.
David Oswald examines in Dialectics of
Megalomania the relationship between design,
politics and economy. He scrutinizes framings,
factual constraints and systemic entanglements of a »world in need of improvement«
and the role of designers in the context
of sustainability and social change. Having the
agency of economic and political players in
mind, he claims a critical design practice
beware of its standing.
Looking from a different angle, influenced by
Isabel Finkenberger envisions The City as an
Chantal Mouffe's theories, Jesko Fezer asks in
Urban-theatrical Experimental Setup. The tempo- Biased Design about the entanglement of
rary relocation of the Schauspiel Cologne
design and dimensions of the political.
became a chance to co-design, open-process
Assuming the per se political stance of design
based, the massive changes affecting the
because it binds visions of change on indineighbourhood of Köln-Mühlheim. A variety of
vidual and societal life plans, he pleads for a
biased design that actively and deliberately interprojects, which entangle artistic practice, the
venes in hegemonic negotiation processes.
local community and city development,
illustrate the theatre's potential to discuss
Back to the economic dimension, Klara
possibilities of urban communal life.
Stumpf's text is looking at Transformations of
In Digital Cultures between Infinite Update and the Economy for the Common Good. She too
a Sta(tis)tic(al) Future Irina Kaldrack describes criticizes the contemporary economic system
producing social and ecological uncertainties.
the simultaneity of contradicting conditions
However, with her study, she presents an alreadyof every-day-life drenched with digital media:
in-use alternative. By concrete examples,
On the one hand we as users of smart devices
Stumpf argues that already reorganizing the
live in an endless beta governed by a
balancing – away from financial towards
ubiquitous update imperative. On the other
common good assets – can create significant
hand, processes like predictive analytics
promise to render possible futures as operable, changes of the economic structure.
precisely with the named devices. She is
Christoph Herrmann's contribution The Positive
raising the question of potential modes of
Impact Factory sheds light on a special, more
action, especially for Transformation Design,
than symbolic place of economics: the factory.
with those cards on the table?
Starting from a historical overview of industrial production and its ecological and societal
Alain Findeli faces the given uncertainties by
presenting a method that not only scientifically implications, he deduces demands of future
conditions and processes of production. His
frames economic, political, ecological and
research project in cooperation with different
spiritual phenomena but even inheres a transformative power. Regarding Goethe's Phenome- partners aims to cope with societal prospects.
nology, Findeli claims in The Metamorphosis
of the Designer the necessity of an inner trans- Seemingly contrary, Franziska Holzner's essay
Homeland Design follows, nearly poetically
formation of the designer. Otto Scharmer's
describing the role of the designer between
Theory U models this process and therefore
fantasies of omnipotence and realities of
reaching beyond conventional design models.
impuissance. During her doctoral studies, she
accompanied several transformative initiatives
The workshop Co.Learning for Tomorrow by
to survey their dealing with uncertainties
co.city lab (Laura Popplow & Carolin Holzer)
and to detect the possibilities of Transformafocused on thoughts about contemporary
tion Design as a practice within the social
design teaching and options for a future
environment.
ecology of education. Using »vision mapping«
participants from different fields were brought
In Cruising/Queer/Afrofuturism, Ulrike
together able to discuss controversial topics.
Bergermann creates a backcasting figure:
The lab's contribution is a productive outwhat if one is conceiving time from the future?
look that merges a critique on status quo with
She wanders conceptions of time besides
the presentation of vivid workshop results.
hegemonic centers premediated by theorists
and artists of Afrofuturism and queer theory.
An even more critical comment, written by
On the one hand, it is about a seemingly
Niko Paech, sheds light on Transformations
impossible movement throughout time,
from the Viewpoint of Post-Growth Economy.
14
appearing to be futuristic and nostalgic at
once and therefore merging future and home
(black futurology). On the other side, she
describes queerness referencing Muñoz as
»utopian performative« that is producing
reality by desiring for a horizon of possibilities.
LaLoma.info (Julia Wolf & Daniel Paez Castillo)
play with the double meaning of data mask in
their workshop named The Luck in Data, that
transforms the principle of standardized input
masks into communicating wearables. The
workshop is related to the happy planet report
and questions the notion of luck.
Stefan Wolf's article critiques the ambitious
but myopic willingness of the automobile
industry to transform. From his point of view,
the future of mobility is a systemic and
user-oriented service in the context of urban
development. He demands from industry a
paradigm shift towards a reflexive understanding of mobility: Slow Mobility.
The Expulsion of Uncertainty is Rolf Nohr's
thesis, claiming that today's omnipresent
gamification has its roots in US mid-1950s
computational business-gaming that can be
related to the military. The historical models
and simulation environments ›playfully‹
taught and enabled practice of economic and
entrepreneurial processes and furthermore
offered an experimental investigation of
economic theories or prognostics of economic
developments. Nohr takes up a critical position
towards planners´ euphoria of being able to
expel future's contingency and the design of it.
Between the lines you will find works of the
artists: Alexandre Bavard, Roshan Adhihetty,
Dani Pujalte & Rita Puig Serra, Marlene Bart,
Daniel Kuge, Felix Helmut Wagner, Verena
Friedrich, Benjamin Maus & Prokop Bartoníček,
Stefan Bladh and Gabi Schillig. Their figurative,
conceptual, photographic or performative
contributions blend into the landscape of unsafe, improbable knowledge and open
questions at the horizon. We thank them, too –
because they add so much to the productivity
of the dialogue between arts and sciences,
situated in and beyond our university. Furthermore, Till Wittwer, Peter Tränkle, Michael
Erlhoff, Stefan Wolf, Teresa Ruhstaller,
Jacqueline Hen, Robert Preusse, Stefanie Rau
and Peter Wagner added their views to
some of the texts. The comments continue the
authors´ thoughts, follow different paths or
build bridges to related articles within in the
book. But enough of the preface: Have fun
navigating through un/certain futures and the
question what roles design might play in them.
The editors
Marius Förster, Saskia Hebert, Mona Hofmann,
Wolfgang Jonas
15
Prolog
Wolfgang Jonas
Dies ist kein Tagungsband, auch wenn das un/certain futures Symposium,
welches am 1. und 2. Dezember 2016 an der Hochschule für Bildende Künste
Braunschweig stattfand, der ursprüngliche Anlass für die Produktion der
Texte war. Der Band ist vielmehr das Ergebnis von Reflektionen und Diskussionen der Initiator*innen und der Beitragenden im Anschluss an die
Konferenz.
Das Thema entwickelte sich aus Debatten im neuen Master-Programm
Transformation Design1, das seit 2015 erfolgreich läuft. Die zentrale
Problematik der Rolle des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen wirft Fragen auf: Können bessere Zukünfte überhaupt nachhaltig
gestaltet werden? Oder sind die Effekte von Design immer mehr oder
weniger zufällige Reaktionen auf gut gemeinte kreative Interventionen in
ansonsten unabhängig evolvierende autopoietische Systeme? Was ist denn
›das Bessere‹, das wir anstreben? Sollte das Konzept von Design möglicherweise komplett neu gedacht werden? Heinz von Foerster hat behauptet, dass die einzig legitimen Fragen diejenigen seien, welche unbeantwortbar blieben. Deshalb erwarten wir keine endgültigen Antworten auf diese
großen Fragen; wir sollten sogar skeptisch sein, wenn jemand behauptet
sie zu haben. Stattdessen erwarten wir eine Vielzahl von vorläufigen,
unausgegorenen und widersprüchlichen Antworten. Wir haben bescheidenere Erwartungen und Ziele und fragen, was wir mit der Konferenz und dem
Buch gerne erreicht haben würden:
− Wir wollen einige Konzepte im Begriffsfeld von Design, Nachhaltigkeit,
Transformation problematisieren und möglicherweise klären.
− Wir wollen den Ansatz des Transformation Design in einer breiten,
multi- und transdisziplinären Community zur Diskussion stellen.
− Wir wollen zur Konsolidierung des Transformation Design-Konzeptes
beitragen, ohne es jedoch starr zu fixieren und damit Gefahr zu laufen, in
unserer eigenen engen Blase gefangen zu bleiben.
− Wir wollen Transformation Design vielmehr zu dem weiteren sozialen
und akademischen Feld sozio-techno-kultureller Veränderungsprozesse
in Beziehung bringen und so ein kollaboratives Netzwerk entwickeln.
1 www.hbk-bs.de/studiengaenge/
transformation-design, siehe auch:
Jonas, Wolfgang/ Zerwas, Sarah/
von Anshelm, Kristof (2016):
Transformation Design: Perspectives
on a New Design Attitude. Basel:
Birkhäuser Verlag.
16
Transformation Design
Einleitend einige Gedanken zum Thema der Problematisierung/Klärung von
Konzepten: In gewisser Weise geht es vor allem um die De-Mystifizierung
des Mega-Projekts – jedenfalls erscheint es als solches – Transformation
Design. Unserer Ansicht nach geht es bei dem Projekt nicht um die
Einführung/Definition einer neuen Sub-Disziplin (wie Produkt-, Automobil-,
Web- oder Naildesign). Dies würde gewissermaßen die Absicht implizieren,
eine radikale neue Designbewegung zu kreieren; in diesem Falle verbunden
mit dem hochmoralischen Anspruch, besser zu wissen wie die Menschheit auf ihrem langen und riskanten Weg in eine nachhaltigere Zukunft zu
führen sei. Das Transition Design2 -Projekt an der Carnegie Mellon
University scheint in diese Richtung zu tendieren. Im Rückblick können wir
jedoch erkennen, dass die meisten dieser radikalen Bewegungen gescheitert
oder durch den nächsten großen Hype abgelöst worden sind. Deshalb ist
Transformation Design keine neue Disziplin, sondern bezeichnet vielmehr
eine Einstellung der umfassenden Bewusstheit der faktischen und ethischen
Implikationen des Lebens und des Entwerfens in einer dramatischen/
schnellen/beschleunigten Zeit des riskanten Wandels. Wir sollten andauernd und immer wieder neu bedenken was es bedeutet, gezielt in unsere
komplexen sozialen, kulturellen und natürlichen Umgebungen zu intervenieren. Es mag einige Leser*innen langweilen; dennoch, ich beziehe mich auf
eine der wenigen grundlegenden Beiträge zum Design, Herbert Simons'
›Sciences of the Artificial.‹3 Zwei Aspekte sind besonders wichtig:
− Das Interface Konzept, welches besagt dass Design die Schnittstellen
zwischen den Artefakten (dem inneren System) und den Kontexten (dem
äußeren System) schafft, in denen die Artefakte funktionieren/überleben müssen. Dies bedeutet, dass wir Methodologien brauchen, welche
den Umgang mit systemischer Komplexität und Fragen der Abgrenzung
von Systemen (boundary judgment) unterstützen. Oder, in anderen
Worten, welche den Umfang (scope) unserer Designaufgabe definieren.
− Die breite Definition dass Design bedeutet, Handlungsstrategien zu
entwickeln, die darauf abzielen, bestehende Situationen in bevorzugte zu
überführen. Das heißt wir konzipieren Zukünfte und wir fällen Werturteile über diese Zukünfte. Im epistemologischen Sinne bedeutet dies,
dass wir nicht länger als distanzierte Beobachtende agieren, sondern
vielmehr als situierte Teilnehmende. Wir designen und werden gleichzeitig designt und wir müssen unsere Rollen/Positionen in diesem
2
www.transitiondesign.net
3 Simon, Herbert (1996): The
Sciences of the Artificial. Cambridge:
MIT Press, engl. Originalausgabe 1969.
17
Entwurfssystem sorgfältig reflektieren. Unsere Haltung (stance) muss
explizit gemacht werden.
Kurz gesagt – dies ist eine Referenz zu Alain Findeli4 – wir müssen den
Umfang unseres Gegenstandes und die Haltung des entwerfenden/forschenden Systems in Betracht ziehen. Letzteres mag einst ein individueller
Autorendesigner oder ein körperloser cartesianischer Beobachter gewesen
sein, es ist heute eine hybride Mischung von individuellen und kollektiven
Wissensbeständen und Interessen und Machtpositionen. Aussagen über
objektive Wahrheiten werden im besten Falle ersetzt durch Aushandlungsprozesse in Situationen von demokratischer Wissensproduktion (epistemic
democracy), oder, wahrscheinlich der Normalfall, von Konflikt und heftigem
Kampf. Sowohl die Definitionsmacht bezüglich des Umfangs (scope)
wie auch die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Haltung (stance) sind
Fragen von Machtbeziehungen. Vor diesem Hintergrund müssen wir
bedenken und entscheiden, ob wir die weitest möglichen Problemgrenzen
als verhandelbar oder als fixiert betrachten. Wenn wir sie als verhandelbar
annehmen, dann bedeutet dies das Infragestellen des dominanten Regimes
der Marktgesellschaft
− mit ihrem Paradigma des andauernden Wachstums mittels Produktion
und Konsumtion, egal was produziert und konsumiert wird, sowie
− dem Paradigma des Einheitswelt-Modells (one-world world) der globalen
Entwicklung: Der globale Norden bestimmt die Spielregeln, der globale
Süden hat sie zu befolgen.
Das Infragestellen dieser Paradigmen mag als designerische Hybris erscheinen. Andererseits, wenn wir diese Randbedingungen als gegeben hinnehmen, dann sind wir mental in der trivialen, technokratischen Gemeinplatzrhetorik von Veränderung (change) gefangen, welche tatsächlich auf
nichts anderes als business as usual abzielt und auf diese Weise jede
Art von grundlegendem Wandel in unserem Nachdenken über globale
Zukünfte verhindert. Wenn wir uns bewusst sind, dass Design nicht aktiv
die Welt verändert (auch wenn einige Designer*innen sich als Aktivist*innen verstehen), sondern vielmehr Optionen, Bilder und Geschichten
entwirft und anbietet, welche mögliche/wünschenswerte Weltveränderungen beschreiben, dann sollten wir uns bemühen, jede Art von selbst
verordneter Denkbeschränkung zu vermeiden. Herbert Simon hat das
Design als eine Art von geistigem Schaufensterbummel (»mental window
4 Findeli, A./Bousbaki, R. (2005):
»L‘éclipse de l‘objet dans les theories
du projet en design«, in: The Design
Journal, Volume VIII, Number 3, 35–49.
5 Vgl. etwa Arturo Escobar: »Farewell
to Development,« www.greattransition.
org/publication/farewell-to-development vom 23.02.2018
6 Simon, Herbert (1996): The
Sciences of the Artificial. Cambridge:
MIT Press, engl. Originalausgabe 1969;
S. 141.
18
shopping«)6 bezeichnet: Man muss nichts kaufen, um davon zu profitieren. In
anderen Worten: Visionen sind unbegrenzt. Unsere Aufgabe besteht darin,
sie zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen, und nicht diese zu implementieren.
Zurück zur Ausgangsfrage: Soll Transformation Design als neue Sub-Disziplin
eingeführt werden? Nein, wir führen keine neue Disziplin ein, sondern wir
bedenken normales Design unter den herausfordernden Bedingungen
der Großen Transformation neu. Einige werden die Hypothese kennen, dass
es keinen Fortschritt im Design gibt (Jonas 2010).7 Dies bedeutet: Design,
als die oben beschriebene Schnittstellendisziplin, muss hart kämpfen, um mit
den dramatischen Veränderungen in unserer Umgebung Schritt halten zu
können. In diesem Sinne ist es Zeit, die Dinge vom Kopf auf die Füße zu
stellen und zu behaupten, dass Transformation Design das allgemeine/das umfassende/das grundlegende Konzept ist. Alle spezifischeren ›Geschmacksrichtungen‹ des Designs (die sich mit Produkten, Autos, Fingernägeln,
et cetera) befassen, sind die Sub-Disziplinen, begrenzt hinsichtlich Umfang
und Haltung, die aus dem Grundkonzept abgeleitet werden können. Deshalb
ist TRANSFORMATION DESIGN DAS NEUE NORMALE DESIGN. Aber
wie ist dies vereinbar mit Horst Rittels Forderung nach »einer gewissen
Bescheidenheit im Design« (a certain modesty in design)8 und mit Heinz
von Foersters Ermahnung, die Ethik im Design möglichst implizit zu halten?9
Hier scheint sich ein seltsames Paradox aufzutun. Wenn wir behaupten,
dass Transformation Design das neue normale Design ist, werden wir dann
nicht
umso anfälliger für die Hybris und mystifizieren das Design noch viel mehr?
Möglicherweise müssen wir eine ›bescheidene Hybris‹ kultivieren?
Nur unbeantwortbare Fragen sind legitime Fragen! In jedem Fall wirft die
Debatte um Transformation Design die Frage auf: WIE RADIKAL SOLLTE
DESIGN SEIN? Wir scheinen uns auf einer aufregenden Gratwanderung
zwischen Bescheidenheit und Anmaßung zu befinden…
7 Jonas, Wolfgang (2010):
»Designwissenschaft als Netz von
Theorien und Akteuren – 10
Anmerkungen«, in: Romero-Tejedor,
F./Jonas, W. (Hg.): Positionen zur
Designwissenschaft. Kassel: Kassel
University Press, S. 79-85.
9 Foerster, Heinz von (1995):
»Ethics and second-order
cybernetics«, Stanford Humanities
Review, volume 4, issue 2:
Constructions of the Mind.
8 Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang
(2013): Horst Rittel. Thinking
Design. Transdisziplinäre Konzepte
für Planer und Entwerfer. Basel:
Birkhäuser.
19
Prologue
Wolfgang Jonas
This is not a conference proceedings, even
though the un/certain futures symposium,
which took place on December 1st and 2nd
2016 at Braunschweig University of Art,
was the occasion for the initial production of
the texts. This volume is rather the outcome
of reflections and discussions among the
initiators and contributors in the wake of the
conference.
The topic of un/certain futures arose from the
debates conducted in the new master’s
program Transformation Design,1 which has
been running successfully since 2015. The
main issue is the role of design in social
transformation processes. Raising questions
such as: Can futures be designed for the better
in a sustainable manner at all? Will the effects
of design interventions always be random
reactions to well-intentioned creative acts to
otherwise independently evolving autopoietic
systems? What is actually »the better« we
are aspiring? Should the concept of design be
completely reconsidered? Heinz von Foerster
argued that the only legitimate questions
are those that cannot be answered. So, we do
not expect definite answers to these big
questions, we should even be skeptical if someone claims to be able to provide them. But we
expect lots of preliminary, half-baked and
contradictory answers. Here is are a few of our
expectations and aims of what we would like
to have achieved with the conference and with
this book:
– We want to problematize and possibly clarify
concepts related to design, sustainability,
and transformation.
– We want to introduce the transformation
design concept and discuss it in a broader,
multi- and transdisciplinary community.
– We want to contribute to the consolidation of
the transformation design concept, without
rigidly fixing it and without running the risk
of being caught in our own narrow bubble.
some readers, but I am referring to one of the
few foundational contributions in design,
Herbert Simon’s »Sciences of the Artificial.«3
Two aspects are of special importance:
– The interface concept, meaning that design
creates the interfaces between artefacts
(the inner system) and the contexts (the
outer system) in which they have to function/
survive. I.e. we need methodologies that help
us deal with systemic complexity and issues
of boundary judgment. In other words,
they are required for defining the scope of
our design task.
– The broad definition, that design means to
devise courses of action that aim at transferring existing situations into preferred ones.
For instance, we conceive futures and we
are making value judgments about these
futures. In epistemological terms this implies
that we do not act as distant observers any
more but as situated participants. We are at
the same time designing, are designed,
and have to carefully reflect upon our roles/
positions in the inquiring system. Our stance
must be made explicit.
Referencing Alain Findeli4 in short: We have to
consider the scope of our subject matter and
the stance of the designing/inquiring system,
which once might have been the individual
author designer or the Cartesian dis-embodied observer but is now a hybrid mix of
individual and collective knowledges and
interests and powers. Statements of objective
truths are (at best) replaced by negotiations in
a situation of epistemic democracy or
(typically) by conflict and fierce struggle. Both
the definition power regarding scope and the
freedom of decision regarding stance are
issues of power relationships. Against this
background we have to reflect/decide whether
we consider the widest possible boundaries
as negotiable or as fixed. Taking them as
negotiable implies questioning the dominant
regime of market society with:
– The paradigm of continuous growth by
means of production and consumption, no
matter what to produce and consume, and
– We rather want to relate it to a wider social
and academic field of socio-techno-cultural
change processes and develop a collaborative network.
– The paradigm of the one-world world model
of global development: The Global North
determines the rules;5 the Global South has
to adopt them.
Transformation Design
A few introductory thoughts about the issue of
problematizing/clarifying concepts: In a way,
first of all it is about de-mystifying the mega
project – in any case it appears as such – of
Transformation Design. In my view the project
is not about introducing/defining a new
sub-discipline (such as product-, automotive-,
web- or nail design). This would imply the
intention to create a new radical design
movement, one associated with highly moral
claims to know better how to guide mankind
on its long and risky way towards a more
sustainable future. The Transition Design2
project at Carnegie Mellon appears to be of
this kind. Looking back, we realize that most of
these radical movements have failed or have
been replaced by the next big hype. So,
Transformation Design is not a new discipline,
it rather describes an attitude of being fully
aware of the factual and ethical implications of
living and designing in an accelerated,
dramatically fast era of risky change. We
should permanently reconsider what it means
to actively intervene in our social, cultural and
natural environments. This might be boring for
Questioning these paradigms may appear as
designers’ hubris. On the other hand, if we take
these conditions for granted, we will be
mentally caught in the trivial, technocratic
commonplace rhetoric of change. Actually
aiming at nothing else but to keeping business
as usual, which prevents any fundamental
change in our ideas of global futures. If
we have in mind that design does not actively
change the world (even if some see themselves as design activists) but that it rather
creates and offers options and images
and narratives that present possible/desirable
changes of the world, then we should try hard
to avoid self-imposed thinking restrictions
of any kind. Herbert Simon characterized
design as a kind of mental window-shopping:6
purchases do not have to be made to draw
benefit from it. In other words, visions are unlimited. It is our task to propose and put them
to discussion, and not to implement them.
20
Coming back to the initial question: Are we
considering Transformation Design as a new
sub-discipline? No, we are not introducing a
new discipline, but we are re-considering
normal design under the challenging
conditions of the Great Transformation. Some
may know the hypothesis (Wolfgang Jonas)
that there is no progress in design.7 Meaning:
Design as the interface-building discipline has
to struggle hard in order to keep abreast with
the dramatic changes around us. On that note I
think it is time to turn things upside down
and argue that Transformation Design is the
most general/the overall/the basic concept. All
more specific ›tastes‹ of design (dealing with
products, cars, nails, et cetera) are sub-fields,
limited in scope and stance, which can be
derived from the basic concept. So:
TRANSFORMATION DESIGN IS THE NEW
NORMAL DESIGN. But how is this compatible
with Horst Rittel’s call for »a certain modesty in
design«8 and with Heinz von Foerster’s
reminder to keep ethics implicit in design?9 A
strange paradox seems to arise here. If we
claim that Transformation Design is the new
normal, could it be that we are even more
susceptible to the hubris and mystify
Transformation Design even more? Maybe a
»modest hubris« has to be cultivated? Only
unanswerable questions are legitimate! In any
case the debate around Transformation
Design raises the question: HOW RADICAL
SHOULD DESIGN BE? It seems we
are performing an exciting tightrope walk
between modesty and hubris…
1 www.hbk-bs.de/studiengaenge/
transformation-design, see also:
Jonas, Wolfgang/Zerwas, Sarah/
von Anshelm, Kristof (2016):
Transformation Design: Perspectives
on a New Design Attitude. Basel:
Birkhäuser Verlag.
2
www.transitiondesign.net
3 Simon, Herbert (1996): The
Sciences of the Artificial. Cambridge:
MIT Press, engl. Originalausgabe
1969.
4 Findeli, A./Bousbaki, R. (2005):
»L‘éclipse de l‘objet dans les
theories du projet en design«, in: The
Design Journal, Volume VIII, Number
3, 35–49.
5 Vgl. etwa Arturo Escobar:
»Farewell to Development,« www.
greattransition.org/publication/
farewell-to-development vom
23.02.2018
6 Simon, Herbert (1996): The
Sciences of the Artificial. Cambridge: MIT Press, engl. Originalausgabe 1969; S. 141.
7 Jonas, Wolfgang (2010):
»Designwissenschaft als Netz von
Theorien und Akteuren – 10
Anmerkungen«, in: Romero-Tejedor,
F./Jonas, W. (Hg.): Positionen zur
Designwissenschaft. Kassel: Kassel
University Press, S. 79-85.
8 Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang
(2013): Horst Rittel. Thinking
Design. Transdisziplinäre Konzepte
für Planer und Entwerfer. Basel:
Birkhäuser.
9 Foerster, Heinz von (1995):
»Ethics and second-order
cybernetics«, Stanford Humanities
Review, volume 4, issue 2:
Constructions of the Mind.
21
22
Neoarcheologia — Alexandre Bavard
23
24
25
Between File and Life
Michael Erlhoff
Philosophers and other freethinking spirits have always dreamed of equal
autonomy, while at the same time, never wanting to lose safety and security
of the state. In order to escape from mundane life, they have played ›games‹.
Instead of finding freedom, they only found absolute and strict rules. But
games, too, work by rigorous regulations. Longing for an open life mostly runs
into complex files. Evidently, human history has always been structured by
paradoxes, but people have never learned to cope with these contradictions.
Instead, people have frequently tried to establish or find easy solutions in
order to avoid complications. Consequently, humankind has developed religions, countless ideologies or new categories to explain the way of the world.
Meanwhile, design has become part of this, especially as a solution offering
concept. This is understandable because design can never escape society
as it is only legitimized by social activities. To understand the root of the
problem, taking a look at history is crucial. For example: it is easy to imagine
how confused people must have been when Nicolaus Copernicus (14731543) explained and proved that not the Earth, but the Sun, was the center
of the universe. Having to abandon the center was a radical change in the
26
belief system and a concept that intensified existential fear and the loss of
control. The conversion of man’s place in the universe also derails every concept of Anthropocentrism. Of course, at that moment, only religion could
have come to rescue the belief that there is a center called God. Or, what was
needed was a new philosophy offering a new idea of center. Although our
knowledge about our Solar System is up to date and we are more quickly to
adapt to changes, it is still nearly impossible to reconcile this insight with our
physical sensations. De facto, we cannot really imagine, that on the bottom
side of the Earth, the people of Australia are moving upside down while in Germany we are walking tall on the same plane ground.
It took some time and a great deal of discourse until such a new philosophy
was delivered. Finally, René Descartes (1596-1650) introduced the idea of
cogito, ergo sum, which he later extended into the safer and more tangible
concept of dubito, ergo cogito, ergo sum. With this, he had found a new
center, the I, or Ego. He seemed to be so convinced by this concept that he
ultimately denied any other material worlds, even rejecting the body as part
of the human being. By stating cogito, ergo sum, Descartes had found the
category most important in philosophy: the Subject. To this day it is the basis of any identity philosophy. Not only does it encourage our brains, but it
structures our everyday life. Later philosophies show the necessity of talking
about two opposing sides. Thus, the Object benefitted from finally getting
its counterpart. This is one of the fundamental parts in the discourse about
design. It is necessary to create an opposition, a contrast or a problem, something to struggle with. The complementary oppositions of Subject and
Object guarantee the consciousness or creation of a solution and thus of
design, and change.
Let’s have a change perspective: Later, the German philosopher Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646-1716) not only invented a mechanical calculator (because he was bad at simple mathematics) but he also formulated the system,
which has been governing any algorithm up to the present day: the strange
0 and the big 1. To look at the background of this new concept is quite inter-
27
esting, because it is deeply rooted in old dichotomous beliefs of Christianity.
The two numerals are based on the confrontation with God: God is 1 (one)
and the Devil is 0 (zero). Indeed, as in Christianity, Leibniz believed that the
world could be explained by these two entities and their dynamic interactions, which are not unlike the two categories of the Subject and the Object.
The following example consolidates all these aspects of attempts to escape
from paradoxical reality. Ada Lovelace (1815-1852), who initially
im-proved the system established by Leibniz, and Charles Babbage (17911871) develop algorithms and computers. The latter is well known by now,
contrary to the fact that Ada Lovelace was a very good friend of Mary Shelley
(1791-1851). The Romantic author of the Gothic horror novel Frankenstein:
or, The Modern Prometheus, published in 1818, tells a story where an artificial human being moves through and frightens the world. This horror, which
is also inherent in algorithms, could only be saved by a new ideology: by the
vision of robots or hubots. Nevertheless, any idea or concept for dissolving
the paradoxes has failed until today. One can easily observe this in the context of Descartes’ impressive announcement of the Subject. The latter was
undermined by Charles Darwin (1809-1882), who upset all traditional concepts of human uniqueness by means of his theory of evolution, and, once
more, subverted the image of an anthropocentric reality. How could the center
of something be represented, if that center was only a fleeting moment in a
continuous movement?
The next one to challenge any euphoric ideas of the Ego was Sigmund Freud
(1856-1936), who stated that the Ego was composed of several influences
that could not be controlled solely by the Subject. Factors influencing the
constitution of human self-image are self-esteem and the individual’s
actions. These aspects also include the experiences of using objects, signs,
services, media et cetera, in other words: every possible experience of design.
The ideas introduced by Actor-Network Theory (ANT) are in no way new;
they have been discussed for several centuries. Darwin and Freud could act
without the impetus of defining new categories and, by doing so, they just
offered new solutions to escape the paradoxes to be able to behave in linear
28
Between File and Life
logic. Undoubtedly, there was a constant risk because new categories were
short-lived, even if they seemed to work out. Immanuel Kant (1724-1804)
discussed and analyzed each category intensely to prove its seriousness or
its possible applications to explain something. The most exciting moment,
probably also for himself, happened in his third critique, the Critique of Judgement. After more than 250 pages of arguing with and about possible categories, he abandons his rational arguments and explains that he had to invent
a somehow bizarre new meta-category to understand what happens when
judging artefacts or even natural evidence. Suddenly, he comes up with the
Genius, an entity that no longer follows simple linear logical systems and categories. On the contrary: the Genius is an entity that acts by using associations, by intuition and by trusting non-categorical images.
Kant’s discovery should not only have changed academia fundamentally, but
the idea of the Genius should have revised universal structures, ways of
thinking and acting. Unfortunately, it was forgotten or suppressed until the
very end of the 19th century because it did not fit the conventions believed
at that time, just following the industrial division of work disciplines. Therefore, everything was categorized, from thinking and trying to understand to
doing something. The 19th century offered the standards of safety and security to establish a stable and strong bourgeois society. Still, that century also
saw the fantastic Romantic poets and philosophers who always questioned
the power and banality of a simple-minded concept of linear logic, disciplines
and categories – but they only ended up in melancholic or even depressive
statements lacking the power to destroy the academic and bourgeois ideologies. The avoidance of conflict and disregard necessary open discourse
even discounted any scientific explanations that did not fit the simple desire
for safety and security. A very interesting example is the discovery, which the
physiologist and physicist Hermann von Helmholtz (1821-1894) made in the
1850s: he proved, and was able to demonstrate, that the human eye cannot
see rectangular and parallel lines. This is doubtless the case, although nobody wants to believe it: our eyes cannot see these geometric facts. The problem, of course, is that we nonetheless believe to see them without problem.
Michael Erlhoff
29
We are absolutely sure that we are able to see rectangular and parallel lines.
That means, despite being physically unable to see them, we want to see
them and, whenever something seems to be similar to that geometry, we
simply construct it. We want to think we are able to see these lines is because we are afraid of anything we cannot immediately understand. The
known and the familiar give us assurance and a feeling of safety. It is the same
with linear logic, categories and with algorithms. Algorithms are the permanent production of something expected. They are exactly what humans
always long for: we do not want to run the risk of venturing into the unexpected. This is the sole reason for the present boom of the ›narrativity.‹ Humans
want to be entertained and told stories continuously. These are quasi-activities without an open end, offering predictable results, like religion or other
ideologies offer regulations. All of this is an example of what has been happening in design for several years. Companies and people in general are
dreaming of design as an all-time problem-solver, as a supermarket of endless solutions and as a symbol for linear logic: simple, easy, fast, evident and
devoid of paradox: a symbol for safety and security.
To conclude, I would like to show some alternatives which are easily described,
but probably difficult to understand and to follow. Because we could just declare the need of giving up any dreams of a safe empirical life – accepting that
there are, myriads of possibilities, which we need to understand in relation
to their specific qualities. We also have to understand mistakes and misunderstandings as the main sources of innovation – understanding them leads
to differentiating between helpful and bad mistakes. We all have to learn to
live with blur, with fundamental uncertainty, with the unclear and the vague.
Of course, this does not solve anything, but it does explain that we have to
live far beyond solutions and move within fantastic associations. No doubt,
design – if it is understood in this way – could be the foundation for those new
thoughts, activities and behaviors. Just shake, provoke and criticize it.
30
Between File and Life
Till Wittwer: Genius, Kant’s »bizarre new
meta-category«, as Michael Erlhoff puts it, is
an interesting starting point when looking to
devise a possible way of thinking beyond
binary logic. In order to find a point of entry to
approaching the world from a different
vantage point via Genius, I would propose to
situate the term in its original context, that is
the realm of the metaphysical and the occult:
In ancient Rome, »Genius« referred to an
invisible patron spirit that accompanied every
man. The Arab »Jinn« – a character that has
been vastly exoticized in the West – similarly
describes spiritual entities who populate the
earth alongside all other lifeforms. Both terms
seem to be rooted in the semitic »Jnn«,
which means invisible or hidden. »That which
is hidden from sight« in turn is the literal
translation of the Latin »occultus«.
Genii and Jinn are beings who live in
parallel to human beings but only occasionally
reveal themselves. They belong to the sphere
of the occult – essentially, they are ghosts.
And precisely this concept of the ghost, I
would argue, is the vehicle which has helped
us in Western culture to accomodate and
integrate paradoxes into our lives instead of
having to make them disappear – in other
words: Apparitions help us to leave things
unresolved and be okay with it. And, in spite of
its enormous power, linear logic, the ultimate
measure of what can be considered »real«
in our lives, has never quite managed to eradicate – dissolve, rather – the existence of
ghosts and the occult.
To see how science and the occult
intersect in our lived reality, let’s look at a
phenomenon that emerged in the 19th century
– a science and tech-crazed period in which
the Second Industrial Revolution radically unfolded its full effects and brought along
hitherto unparalleled breakthroughs in engineering, science and technology. As Erlhoff
points out, it is the century of Mary Shelley’s
technocrat horror-phantasy of Frankenstein
– but at the same time, it is a century of
the paranormal and the magical: With Bram
Stoker’s Dracula, a supernatural monster is
released into the world; Goethe publishes his
iteration of the folk tale of Doctor Faustus,
the apostate scientist who turns to the
metaphysical. A plethora of occult societies
sprout in parallel to technological breakthroughs – and these seemingly contradictory
notions all intersect.
Michael Erlhoff
Take photography: The scientifically objective
result of nature inscribing itself onto a photographic plate’s silver gelatin emulsion helps
ghosts transgress into the realm of the real.
How so? Shortly after photography – the documentation tool of the physical world – is invented and alters our relation to time, space
and history forever, the photography of ghosts
becomes almost as big a craze as the simple
family portrait – the haunted images fuse
the realm of the mundane with the realm of
spirits, or Genii.
That ghost photography was only an elaborate scam, a manipulation of the photographic
paper’s exposure to light, does not matter:
the paradox hunger for scientific proof of an
underworld, of parallel dimensions and a surfacing of the occult demonstrates how closely
binary thinking and non-binary thinking are in
fact related: scientific and magical thinking
are two sides of one and the same notion: the
desire to transgress the human shell and
senses, even in sight of the danger of being
lost and finding that which is larger than the
human mind – that is stumbling upon Genius.
The desire seems to be not as much to
know for certain what IS, but rather to know
for certain that the ghostly blur transcends us
and our ability to know; it is the desire to invite
the occult, the nebulous, the speculative to sit
with us in the family portraits of our species,
to let »that which is hidden from sight« appear
on the silver gelatine print as a Jinn and
demonstrate to us the limits of our knowledge.
It is the desire to make the impossible, the
paradox palpable and to accommodate it like a
long gone but not forgotten relative. And I
believe that the recent embracing of narrative
and the speculative in academia is not just
another strategy of streamlining the unknown
and a flimsy attempt to resolve that which
must remain forever unresolved, but instead it
might be an acknowledgement »that there
are, at best, only possibilities, which we have
to understand in relation to their specific
qualities«, to quote Erlhoff. It might be an
attempt in opening the door to the fantastic, to
the Genius, or Jinn to join us in our academic
ivory towers and broaden our perspective.
It might be an attempt to embrace and live with
the blur of fundamental uncertainty – unthinkable in an endeavor to strive for linear resolve.
31
Die Zukunft beginnt jetzt?!
Klima- und Gesellschaftswandel
im Spannungsverhältnis von
Kontingenz und Pfadabhängigkeit
Bernd Sommer
Soziolog*innen sind in der Regel zurückhaltend damit, Aussagen über die
Zukunft zu treffen, da sie von einer prinzipiellen Entwicklungsoffenheit von
Gesellschaften ausgehen. Insbesondere in modernen, komplexen Gesellschaften wird von einer hohen Kontingenz des menschlichen Zusammenlebens ausgegangen. Niklas Luhmann definierte Kontingenz als
»etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist
(war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes)
im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen« (Luhmann 2015: 152).
Gleichwohl finden sich in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien
Konzepte, die beim Nachdenken über gesellschaftliche Zukunft behilflich
Peter Tränkle: Dieser Beitrag von Bernd
Sommer ist eine spannende Gegenposition zur
pathetischen Design-Agitation und zum Transformationsoptimismus Franziska Holzners
(S. 188). Beide Beiträge sind auf eine spannende
Weise komplementär sowie stellvertretend
für ein ganzes Spektrum von Positionen –
dafür gilt den Autor*innen mein Dank.
32
Die Soziolog*innen sind zurückhaltend, weil
sie sich an derartigen Aussagen verbrannt
hatten, als sie in der zweiten Hälfte des 20sten
Jahrhunderts sich für Planungsabsichten
rationalistischen Regierens haben einspannen
lassen. Gegenwärtig überlassen sie damit das
Feld jenen Disziplinen, die einen ungebrochenen Gestaltungsoptimismus haben, eine recht
unterentwickelte Reflexionstradition ihrer
Handlungsfolgen besitzen und/oder selten
Lehren aus zurückliegenden Realexperimenten
sein können. So wird beispielsweise von einer gewissen Pfadabhängigkeit
von Gesellschaften (vgl. Pierson 2004; Beyer 2006) ausgegangen. Der Soziologe Norbert Elias hat herausgearbeitet, dass gesellschaftliche Entwicklungen immer gerichtet und in einer gewissen Stufenabfolge verlaufen, auch
wenn sie reversibel sind und gegenläufige Tendenzen sich parallel vollziehen
können. Dies bedeutet, dass soziale Prozesse trotz aller Kontingenz eine gewisse »Richtungsbeständigkeit« (Elias 1995: 248) aufweisen. Was Pfadabhängigkeit bedeutet lässt sich insbesondere für Infrastrukturen und Technologien veranschaulichen. Wenn man sich Verkehrsinfrastrukturen anschaut,
aber auch Siedlungsstrukturen in Deutschland (man denke etwa an Zersiedelungsphänomene und Einfamilienhaussiedlungen in suburbanen Räumen),
so wird unmittelbar klar, dass die Einführung nachhaltiger Mobilitätsformen,
welche die Abkehr von der Automobilität beinhalten, ohne Weiteres nicht möglich ist, beziehungsweise die Abhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr
vermutlich noch über Jahre – wenn nicht sogar Jahrzehnte – bestehen wird.
Nicht allein physische Infrastrukturen, sondern auch Institutionen können
die zukünftige Entwicklung von Gesellschaften mitbestimmen. Ein Beispiel
aus jüngerer Zeit ist die US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2016, bei
der fast drei Millionen Personen mehr Hillary Clinton als Donald Trump wählten (NYT 2017). Trump gewann die Wahl jedoch, weil in den USA das Electoral College, das sich aus Wahlmännern und -frauen der Bundesstaaten zusammensetzt, den Präsidenten wählt. Dort entschied sich die Mehrheit für
Trump. Diese Regelung stammt noch aus einer Zeit, als es organisatorisch
kaum zu bewerkstelligen war, den Präsidenten direkt zu wählen und es sich
somit als sinnvoll erwies, dass sich Vertreter*innen aus den einzelnen Staaten
– zumeist mit Pferd und Kutsche – auf den Weg begaben, um im fernen Washington sechs bis acht Wochen nach ihrer Wahl den Präsidenten zu wählen. Verankert ist dieser Mechanismus in der US-amerikanischen Verfassung, die
sich durch eine hohe Veränderungsresistenz auszeichnet. Sie ist heute die
älteste Verfassung der Welt. Eine fast 250 Jahre alte Regelung ist also maßgeblich dafür verantwortlich, dass die US-Amerikaner*innen von einem Präsidenten regiert werden, der nur von einer Minderheit gewählt wurde.
der Planung und Gestaltung komplexer
Systeme (sozialer beziehungsweise sozio-technischer, natürlicher und ihrer Mischformen)
gezogen haben, falls ihnen diese überhaupt
bekannt sind. Diese Disziplinen gestalten und
die Soziolog*innen analysieren ihrerseits die
Genese und Folgen des Gestalteten. Engaged
science? »Sei schlau, bleib im Überbau!«
– So beantwortete mal ein von mir ansonsten
geschätzer Techniksoziologe diese Frage.
Michael Erlhoff: Die mittlerweile schon sehr
lange geführte Diskussion über das Verhältnis
von »Kontinuität und Kontingenz« litt und leidet
stets unter dem Problem, heftig ins Konservative oder auch einfach Konservierende
abzurutschen – demgemäß bräuchte dieser
Diskurs dringend eine neue Dynamik und eine
Kritik am bloß Konservativen.
33
Institutionelle Pfadabhängigkeiten, die im Kontext von Themen wie Nachhaltigkeit oder Klimaschutz eine hohe Relevanz besitzen, sind beispielsweise
die Abhängigkeit der gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme oder der
öffentlichen Finanzen von fortwährendem exponentiellem Wachstum.1
Schließlich finden sich auch Pfadabhängigkeiten auf der Ebene der Mentalitäten, des Habitus, wie es in der Soziologie heißt. Harald Welzer spricht in
diesem Zusammenhang auch von »mentalen Infrastrukturen« (Welzer 2011).
Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel der Automobilität: Selbst wenn
es gelänge, Infrastrukturen radikal zu verändern, so dass auf den motorisierten Individualverkehr verzichtet werden könnte, gibt es bei einer beträchtlichen
Anzahl der Deutschen – insbesondere deutschen Männern – eine libidinöse
Bindung an das Automobil, davon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen Automagazine im Fernsehen und in den Zeitschriftenläden. Ein Auto ist für viele
nicht nur ein Transportmittel, sondern mitunter auch identitätsstiftend. Die
»Autobahn im Kopf« (Konzeptwerk Neue Ökonomie 2016) und die emotionalen
Bindungen und Präferenzen erschweren eine Mobilitätswende, den radikalen Pfadwechsel weg vom Automobil, zusätzlich.
Trotz der hier skizzierten Pfadabhängigkeiten beziehungsweise der materiell,
institutionell und habituell verankerten Dispositionen lassen sich gesellschaftliche Dynamiken auf Grund der eingangs erwähnten Kontingenz vermutlich
niemals so weit prognostizieren, dass sie mit hoher Genauigkeit und Sicherheit berechenbar werden. Dies ist beim Klimasystem der Erde anders: Es
beruht auf naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die zu einem guten
Teil bekannt und mathematisch darstellbar sind. Daher ist es Klimawissenschaftler*innen möglich, abhängig von verschiedenen Emissionspfaden und
abgestuft nach Wahrscheinlichkeiten Aussagen bezüglich globaler Temperaturtrends zu treffen. Solche Szenarien finden sich zum Beispiel in den
Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz
IPCC (vgl. IPCC 2014).
Durch die hohe Persistenz von Kohlendioxid akkumuliert sich das Treibhausgas in der Atmosphäre. Dies bedeutet, dass frühere und gegenwärtige
1 Vgl. dazu den Beitrag Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik in diesem Band.
34
Pfadabhängigkeit klingt dabei merkwürdig
nach Pfadfindern und bewegt sich in einer Art
Vorgeschichte der Reflexion.
ME
Die Zukunft beginnt jetzt?!
Emissionen das Klima der Erde für Jahrtausende beeinflussen werden. Dies
ist auch der Grund, wieso Klimawissenschaftler*innen beim Klimaschutz den
großen Zeitdruck und die Dringlichkeit betonen: Sind bestimmte Emissionen
erst freigesetzt, wird es faktisch unmöglich, ein Klimaschutzziel wie das der
Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad Celsius zu erreichen. Mit anderen Worten: Weder die klimatische noch die gesellschaftliche Zukunft sind
vollkommen entwicklungsoffen – kontingent –, sondern in einem erheblichen
Maße von Faktoren abhängig, die zum Teil bis weit in die Vergangenheit zurückreichen. Die Zusammenschau dieser Faktoren ermöglicht es, Korridore
der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung zu skizzieren.
Was bedeutet dies konkret? Auf Grund der hier benannten gesellschaftlichen
Pfadabhängigkeiten ist es beispielsweise nicht sehr wahrscheinlich, dass in
den kommenden Jahren Klimaschutzmaßnahmen in einem Ausmaß umgesetzt werden, die dazu geeignet sind, die Emissionen global radikal zu verringern. Dies bedeutet, dass nach den Szenarien des IPCC bis Ende dieses
Jahrhunderts im Vergleich zur Klimaperiode zwischen 1986 und 2005 die
globale Durchschnittstemperatur um bis zu 4,8 Grad Celsius steigen kann
(IPCC 2014: 60). Damit ist die Zukunft aber noch lange nicht vorhersehbar.
Es bleibt unbekannt, wie genau sich dieser Erwärmungstrend auf einzelne Regionen auswirkt, wie Gesellschaften darauf reagieren und selbstverständlich
auch, wann und wo genau mit Extremwetterereignissen oder anderen Klimafolgen zu rechnen wäre. Im Zuge des Klimawandels nimmt diesbezüglich
die Kontingenz sogar zu, denn Klimawandel bedeutet nicht, dass es überall
gleichmäßig wärmer wird. Auf eine solche Veränderung könnten sich die
Menschen vermutlich noch einstellen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im
Zuge der globalen Erwärmung erhöht sich auch die Klimavariabilität. Dies
bedeutet, dass Wetter unberechenbarer wird, es treten also vermehrt Wettersituationen auf, die wir so nicht kannten oder zumindest nicht in dieser
Häufung und Folge. Und gerade diese zunehmende Variabilität wird voraussichtlich die Anpassung an ein sich wandelndes Klima in der Zukunft zusätzlich erschweren.
»Wir suchen immer das Unbedingte und
finden nur Dinge.« (Novalis)
ME
Bernd Sommer
Man möchte nun mehr davon hören, wie
diese realistische Einsicht in die Trägheit
sozio-technischen Wandels ein Ausgangspunkt für weitere Überlegungen sein könnte
und sollte, dem Klimawandel und seinen Folgen
zu begegnen: zum Beispiel eine realistische und
eventell kontraintuitive Korrektur der aktuell
angedachten Maßnahmen, oder etwa Überlegungen zu dem Aufwand für ein entsprechend
informiertes und komplexes Vorgehen, das dem
komplexen Sachverhalt gerecht werden
PT
35
könnte. Was ist mit Kontextsteuerung, was mit
Weiterentwicklungen der Methodologien der
Planung und Steuerung komplexer heterogener Systeme, wie etwa bei privatwirtschaftlichen oder staatsnahen Thinktanks, wie
der berühmt-berüchtigten RAND Corporation
in den USA, dem International Institute
for Applied System Analysis (IIASA) in Wien
oder bei politik- beziehungsweise wirtschaftsnahen Stiftungen et cetera?
Das Problem mit Sachverhalten wie dem
Klimawandel ist jedoch, dass in globalen
Maßstäben gehandelt werden muss, möchte
man die Bestätigung der negativen Prognosen
nicht einfach abwarten, sondern ihnen begegnen.
Man hat es mit einer riesigen Blackbox
zu tun, die wir ›Gesellschaft‹ oder ›Menschheit‹ labeln, deren innere hyperkomplexe
Strukturen, Relationen und Dynamiken
quasi-organisch gewachsen sind, sich ebenso
quasi-organisch weiterentwickeln und deren
innere Zustände wir gänzlich nicht kennen
können. Für diese Blackbox ist jede vermeintliche Dysfunktion in unbekannter Weise
potentiell funktional und jede Änderung kann
potentiell Folgen haben, die nicht gewusst
werden können.
Diese Entscheidung markiert einen Scheideweg: Handeln, damit notwendigerweise
Unwissen, Fehler sowie unerwünschte Folgen
einplanen und dafür explizit Verantwortung
übernehmen oder nicht Handeln beziehungsweise sich den Gestaltungsprozessen entziehen
und damit implizit die Verantwortung übernehmen, dass kein Versuch unternommen wurde
die Entwicklung zu beeinflussen und den
vorhergesagten Folgen entgegen zu wirken.
Pfadabhängigkeit vor Kontingenz
Die Zukunft beginnt nicht jetzt, sondern zu
einem bedeutenden Ausmaß in der Vergangenheit.
36
Kontingenz vor Pfadabhängigkeit
Der Autor hat die Reichweite des Problems
aber tiefer erkannt, als er es formuliert, was
sich in der Manier systemtheoretischen
Nerdcores wie folgt ergänzen ließe: Kontingenz wird kontingent! Wir haben es mit
interdependenter Wechselwirkung zweier
höchstkomplexer Systeme zu tun, die meist
technisch-wissenschaftlich vermittelt sind.
Wenn die Änderung des Klimas selber anders
wird, wie der Autor bemerkt, also in ihrer
Form und ihrem Ausmaß et cetera von den
Prognosen abweicht, werden sich die Bedingungen von Pfadabhängigkeiten selber
durchaus derart ändern können, dass die
Reproduktion oder Kontinuierung hergebrachten Verhaltens sowie ihrer Strukturen sich im
Vergleich mit Alternativen nicht länger
rechtfertigt – Pfade lassen sich ändern, uminterpretieren oder können verlassen werden.
Was tut das zur Sache? Wie lässt sich mit
solchen Sprachspielchen und abstrakten
Spitzfindigkeiten die globale CO2-Emission
senken? Tja, direkt natürlich gar nicht. Ja noch
schlimmer, sie können noch nicht einmal ihren
eigenen CO2-Fußabdruck kompensieren
(Aufwand der Konferenz, Produktion der Publikation et cetera). Aber solche und weitere
abstrakte Spitzfindigkeiten sind nunmal das
einzige, was wir haben, um Szenarien des
Handelns mit dem Ziel jener Emissionskompensation zu entwickeln und zu besprechen. Ohne
eine Vorstellung davon zu haben und sich
darüber verständigen zu können, wie genau,
welche Zukunft in welchem Jetzt beginnt, wird
jede planerische respektive gestalterische
Absicht zu einem verantwortungslosen blinden
Aktionismus, der nichteinmal einschätzen
können wird, wie blind und verantwortungslos
er tatsächlich ist.
Die Zukunft beginnt jetzt?!
Bernd Sommer
37
38
Nacktwanderer — Roshan Adhihetty
39
40
41
Kitchen Stories1 – mögliche
Transformationen von
Alltagsräumen am Beispiel
der Ernährung
Julia von Mende
Unsicherheit herrscht nicht nur in Bezug auf mögliche Zukünfte und das,
was wir in Zukunft tun werden. Unsicherheit herrscht auch in Bezug auf
unser gegenwärtiges Alltagshandeln, auf das, was wir im Jetzt tun und was
wir damit in Gang setzen. Die kaskadenartigen Zusammenhänge von lokaler
und individueller Handlung und globaler Wirkung bleiben uns in der Regel
verborgen. Alltagshandeln ist ein eingeübtes Verhalten, welches unbewusst,
oder wie es umgangssprachlich heißt ›automatisch‹ vollzogen wird, ohne
Reflexion seiner Auswirkungen. Das kann man gut in jenem Bereich beobachten, der von einer grundlegenden Bedingtheit unserer Existenz geprägt
ist, nämlich der Nahrungsaufnahme. Im Basisprojekt Die AnthropozänKüche – Das Labor der Verknüpfung von Haus und Welt wurde die Küche als
»folgenreicher Ort des Energieaustausches« (Interdisziplinäres Labor Bild
Wissen Gestaltung 2018) thematisiert und der Frage nachgegangen, welchen Beitrag unsere Ernährung im Erdzeitalter des Anthropozän zur dringend notwendigen Umgestaltung des globalen Metabolismus leisten kann.2
1 Der Titel ist der gleichnamigen
deutschen Fassung des Films
Salmer fra kjøkkenet/Psalmer från
köket entliehen (Kitchen Stories
2004).
2 Die Inhalte dieser Einleitung sind
den Ausführungen zu den
Arbeitsinhalten des Basisprojekts
Die Anthropozän-Küche – Das Labor
der Verknüpfung von Haus und Welt
am Exzellenzcluster Bild Wissen
Gestaltung. Ein interdisziplinäres
Labor der Humboldt-Universität zu
Berlin, finanziert von der Deutschen
42
Forschungsgemeinschaft (DFG)
entnommen (vgl. u.a. Krausse et al.
2017; Oswalt et al. 2016). Die
Mitarbeit der Autorin im Teilprojekt
Stadt (Prof. Philipp Oswalt/
Associated Investigator, Stephan
Barthel, Julia von Mende, Anne
Schmidt) bildet den Hintergrund für
die folgenden Gedanken zur Frage
nach der Transformation von
Alltagsräumen. Zum Basisprojekt
gehörten zudem das Teilprojekt
Küche (Prof. Dr. Joachim Krausse/
Associated Investigator, Karl W.
Große) und das Teilprojekt Welt
(Prof. Dr. Reinhold Leinfelder/
Principal Investigator, Alexandra
Hamann, Jens Kirstein und Marc
Schleunitz).
Räumliche Phänomene veränderter Essenspraxis
Unmittelbar erfahrbar wird die Wechselwirkung von stofflichen und energetischen Prozessen rund um die Ernährung anhand ihrer baulich-räumlichen
Strukturen. Dazu gehören die Räume, die uns von früh bis spät umgeben: der
öffentliche Raum der Stadt, Wohn- und Arbeitsräume sowie nicht zuletzt die
Küche und der Essplatz. Wir gestalten diese Räume schon mit der Wahl des
Ortes der Nahrungseinnahme: Diese fällt immer öfter auf Lokalitäten jenseits
der eigenen vier Wände. Ein breit ausdifferenziertes Angebot an Möglichkeiten der Außer-Haus-Verkostung, insbesondere in Großstädten, spiegelt
diese veränderte Essenspraxis wider. Funktionsräume wie das Esszimmer,
die vorher in der Wohnung angesiedelt waren, verlagern sich in Form von
Gastronomieangeboten in die Erdgeschosszone der Stadt und in Gebäude,
die der Arbeit oder dem Konsum vorbehalten sind. Gleichzeitig wird mit
Take-Away, Lieferdiensten oder Fertigessen aus der Tiefkühltruhe des
Supermarktes außer Haus gegartes Essen in der Wohnung konsumiert. Der
Nahrungskonsum außer Haus stellt, zumindest in großen Städten und im
Zuge sich verändernder Essenspraktiken, einen wesentlichen Gegenpart zu
häuslicher Nahrungszubereitung und häuslichem Verzehr dar.
Ausdifferenzierung der Orte des Essens außer Haus
Im Zuge der Industrialisierung verschob sich das Verhältnis zwischen der
Küche, ihrer Anbindung an ein urbanes Versorgungsnetz, ihrem Bezug zur
Region und schließlich zur Welt. Funktionen, die zuvor in oder rund um den
Haushalt angesiedelt waren, wurden zunehmend aus dem privaten Haushalt ausgelagert. Die Küche wandelte sich von einem produktiven zu einem
konsumtiven Ort (Barthel et al. 2014: 103; Barthel et al. 2016: 24). Mit dem
Aufkommen der Lohnarbeit verlagerten sich nicht nur die Lebensmittelproduktion, sondern auch die Einnahme der Mahlzeiten wie Frühstück und
Mittagessen an Orte jenseits der eigenen vier Wände. So wuchs die Anzahl
gastronomischer Betriebe gegenüber den Bevölkerungszahlen im Deutschen Reich zwischen 1895 und 1907 überproportional an (Drummer
43
1997: 309-312). Die Bedingungen für die rasante Entwicklung des Gastronomiegewerbes sind nach Drummer nicht nur im Bevölkerungswachstum
und der damit einhergehenden steigenden Nachfrage zu sehen, sondern
hängen auch mit den sich wandelnden Lebensweisen zusammen. Dazu
gehören die mit der Lohnarbeit einhergehende Trennung von Wohnen und
Arbeiten, die sich wandelnde Rolle der Frau, veränderte Familienstrukturen,
zunehmende Mobilität, Wohlstand und das Streben nach sozialer Abgrenzung beziehungsweise Repräsentation (ebd.: 309 ff.). Mit der zunehmenden Nachfrage entstand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Großstädten
wie Berlin ein ausdifferenziertes Angebot externer Versorgungseinrichtungen, Dienstleister*innen und ganzer Industriezweige. Dazu gehörten auch
neuartige Formen des urbanen Außer-Haus-Verzehrs wie die Schnell- oder
Systemgastronomie. So versprachen die sich ab 1892 in Berlin verbreitenden Bierquellen der Gebrüder Aschinger schnelles Essen außer Haus, das
durch ein Filialsystem und eigene Produktionsstätten inklusive Brot- und
Wurstfabrik mit dem stets gleichen Qualitätsversprechen jederzeit und
überall verfügbar war. Neben den zugehörigen Architekturen einer zentralisierten Produktion entstanden in der Stadt auf diese Weise auch neue
Raumtypologien für den Konsum von Nahrung jenseits des Haushalts. Der
rasante Aufstieg des Unternehmens – bis 1901 waren in Berlin bereits 29
Filialen an wichtigen Verkehrsknotenpunkten entstanden – lässt sich auch
auf die damals neuartige und technische Ausstattung und die transparente
Gestaltung der Räumlichkeiten zurückführen. Der wesentliche räumliche
Unterschied zu herkömmlichen, meist im Souterrain untergebrachten Speiselokalen lag darin, dass die Speiseräume vom Straßenraum aus ebenerdig
zugänglich und durch großflächige Fenster einsehbar waren. Aber nicht nur
die Räume, auch die in Vitrinen angerichteten Speisen waren von außen
sichtbar (Glaser 2004: 40 ff.; Allen 2002: 95-99).
Gegenwärtige Orte und Räume der Essenspraxis im Wandel
Phänomene der sich wandelnden Essenspraxis im frühen 20. Jahrhundert
wie Schnellgastronomie oder auch das Automatenrestaurant, das sich
44
Kitchen Stories
Aschinger’s Aktiengesellschaft, Kartoffelschälkeller um 1930
damals noch nicht etablieren konnte, tauchen heute wieder auf – wenn auch
in anderer Form. Der Verlagerung der Essensorte jenseits des Haushalts und
der Ausdifferenzierung des entsprechenden Angebots liegen heute zum
Teil ähnliche, zum Teil aber auch neue Entwicklungen zugrunde. Dazu gehören unter anderem veränderte Familien- und Haushaltsstrukturen (Küster et
al. 2004: 114), demografischer Wandel, eine zunehmende Entstrukturierung
des Alltags und seine Flexibilisierung durch das Berufsleben, Migration und
Multikulturalisierung3, gestiegene Mobilität und das Wachstum der Tourismusbranche sowie, immer noch, der Wunsch nach gesellschaftlicher Repräsentation, Abgrenzung und Identität4. Räume des Außer-Haus-Konsums im
19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließen sich noch relativ
übersichtlich kategorisieren, etwa in Orte der Grundversorgung wie Volksküchen oder Imbisse und Orte sozialer Differenzierung wie Cafés und
3 Miriam Stock gibt in ihrer Arbeit
über arabische Imbisse in Berlin
einen Überblick über die Entwicklung der multikulturellen Imbisskultur Berlins (Stock 2013: 43 ff.).
4 Symptomatisch dafür ist zum
Beispiel die aufkommende
Popularität regionaler Spezialitäten
(Hirschfelder 2001: 257 ff.).
Julia von Mende
45
Restaurants. Im Gegensatz hierzu gestalten sich heutige Betriebstypen
vielfältiger und mehrdeutiger. Der Nahrungskonsum überlagert Räume, die
für andere Nutzungen wie Transport, Arbeiten, Einkaufen oder Lernen konzipiert sind. Es gibt nur noch wenige Orte, an denen nichts verzehrt wird.
Jedoch liegen die Orte des Garens der Nahrungsmittel und ihres Konsums
dabei nicht mehr unbedingt beieinander, im Gegenteil: Die Zubereitung
bleibt häufig unsichtbar. Parallel dazu werden Essen und Kochen öffentlich
inszeniert, auch jenseits des kommerziellen Kontextes.5 Auch das Kochen
zu Hause ist heute in das Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Davon zeugen
zum Beispiel die mediale Vermittlung in Kochshows oder -wettbewerben
und Angebote für vorkonfektionierte und angelieferte Zutatenpakete, die
das Kochen ganzer Menüs im Privathaushalt erleichtern sollen. Auch sprechen steigende Verkaufszahlen insbesondere im Bereich hochwertiger
Küchenausstattungen (vgl. GfK 2016) für eine neue Bedeutung der häuslichen Nahrungszubereitung. Gleichzeitig aber ist die Anzahl der zu Hause
eingenommenen Mahlzeiten rückläufig (Küster et al. 2004: 118 ff.). Zwei
Drittel der 20-49-Jährigen essen laut GfK unter der Woche mittags außer
Haus, insbesondere Erwerbstätige und deren Kinder nehmen immer seltener im eigenen Haushalt Frühstück oder Mittagessen zu sich (vgl. GfK 2015).
Täglich gekocht wird in weniger als der Hälfte der großstädtischen Haushalte (TK 2013: 13).
Küchenfrage reloaded
Der Widerspruch, dass zumindest in großen Städten einerseits immer weniger zu Hause gekocht und immer mehr außer Haus konsumiert wird oder
verzehrfertige, andernorts gegarte Speisen auf den heimischen Esstisch
kommen, andererseits aber dem Kochen selbst vermehrte Aufmerksamkeit
zuteil wird, sorgt für Verunsicherung, wenn es um die Gestaltung unsere
Alltagsräume geht. Wie werden unsere Küchen und Essräume genutzt und
wie sollen sie zukünftig aussehen? Welche Spuren hinterlassen der oben
beschriebene Wandel der Essenspraxis, die räumliche Verlagerung der
Tätigkeiten rund um die Nahrungszubereitung und deren Konsum in den
5 Vgl. zu Formen des kollektiven
Essens und Kochens in der Stadt
Reimers 2017.
46
Kitchen Stories
Küchen privater Haushalte, den im wahrsten Sinne des Wortes gewohnten
Orten innerhalb der Wohnungen? Der Markt hat auf diese Fragen derzeit
zahlreiche Antworten parat, welche die Ausdifferenzierung des Angebots
nach Preiskategorien und Stilrichtungen beinhalten. Mit der Küche steht ein
»neues Lebensgefühl« zum Verkauf (Dostert/Slavik 2017). Möblierungen,
die allerlei hybride Nutzungsvarianten versprechen, müssen sich jedoch im
Gebrauch erst beweisen. So gibt es Einrichtungsvorschläge wie zum Beispiel ein Hybrid aus Küche und Bibliothek als scheinbar visionärer Ausdruck
verschwimmender Grenzen zwischen Nahrungszubereitung und anderen
Tätigkeiten. Was solche Entwürfe allerdings nicht vermitteln ist die Geräuschkulisse eines Dunstabzugs, den solch ein Szenario bedingen würde.
Dies alles erzeugt Verunsicherung in der Frage, was in einer privaten
Küche überhaupt stattfinden kann und soll. Angesichts sich wandelnder
Lebensstile und des breiten Angebots der Nahrungseinnahme außer Haus
stellen Baraona Pohl, Puigjaner und Reyes Nájera die Küche im Privathaushalt in ihrer Betrachtung zum Kitchen-Work-Triangle in Frage:
»Tendencies related with mobility, work schedules, or even street food
culture can dramatically change the way we conceive the kitchen today;
and we can even go further, wondering if there is a need for such domestic spaces at all [...] at least in the way it was conceived in the middle of
last century.« (Baraona Pohl et al. 2012: 120-122)
Die Unsicherheit über die Zukunft der Küche regt dazu an, die Frage nach
ihrer Rolle im Privathaushalt neu zu stellen: Sie birgt Handlungsoptionen für
Gestalter*innen im Hinblick auf soziale, gesundheitliche und ökologische
Aspekte der zu gestaltenden Lebensumwelt.
Rationalisierung als Gegenstand der Küchen-Forschung
Im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen zur Küche im Privathauhalt
stand, wie Antonia Surmann ausführt (Surmann 2010: 1-4), mindestens bis
in die 1960er Jahre die Rationalisierung von Raum und Arbeitsabläufen im
Sinne einer tayloristischen Organisation – nicht zuletzt mit dem Ziel, den
Zeitverbrauch der Hausarbeit zu senken beziehungsweise durch einen
Julia von Mende
47
optimal gestalteten ›Arbeitsplatz‹ Erleichterungen für die ›Hausfrau‹ zu
schaffen. Die emanzipatorischen Bestrebungen, die hinter der Rationalisierung der Hausarbeit standen, fielen aber letztendlich hinter der Tatsache
zurück, dass die Arbeit der Hausfrau nicht entlohnt wurde. Hier sind die Pionierleistungen von Catherine E. Beecher ab 1841, Christine Frederick und
Lillian M. Gilbreth zu nennen, wie auch Erna Meyers' Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Hausarbeit.6 Zum Politikum wurde die rationelle Küche im
Zuge der staatlichen Wohnungsbauprogramme der 1920er Jahre. In dieser
Zeit beschäftigte jede größere Stadt ihre eigene Küchenplaner*in. Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky zum Beispiel übernahm diese Funktion
für die Stadt Frankfurt.
Gestaltungsziele lagen aber nicht nur in der Optimierung von Produktion und Arbeitsabläufen, sondern auch in der Kostenoptimierung für den
Wohnungsbau. Diese auf Rationalisierung ausgerichtete Küchenforschung
wurde in den USA zwischen 1946 und 1949 unter anderem an der University of Illinois im Small Homes Council-Building-Research mit der Entwicklung des Kitchen-Work-Triangle-Modells weitergeführt. Es handelt sich
um ein Design-Prinzip, das eine möglichst optimale Anordnung der einzelnen Tätigkeitsfelder der Küchenarbeit vorsah (Baraona Pohl et al. 2012:
120 ff.). Weitreichende soziologische Forschungen wurden außerdem ab
1942 in Schweden unternommen. Sie standen im Zusammenhang mit dem
damals neu aufgesetzten staatlichen Wohnungsbauprogramm. Die Studien des Hemmets forskningsinstitut umfassten auch die Beobachtung,
Messung und Analyse von Bewegungs- und Arbeitsabläufen in Küchenräumen, unter anderem anhand des menschlichen Energieaufwands bei
der Küchenarbeit.
Die Forschungen des Hemmens Forskningsinstitut beruhten auf der
Annahme, dass aus der Aufzeichnung menschlicher Alltagshandlungen
zukünftige Gestaltungsstandards abgeleitet werden könnten und dienten
als Grundlage politischer Entscheidungen, die für die Urbanisierung der
schwedischen Gesellschaft zentrale Bedeutung erlangten (Rosenberg 2012:
105 f.). Beispielsweise dienten Aufzeichnungen zurückgelegter Wegstrecken
in der Küche als eine Art Schablone für zukünftige Gestaltungsstandards, die
6 Siehe hierzu zum Beispiel
Beecher, Catharine E./Beecher
Stowe, Harriet (1869): The American
Woman's Home, New York: J.B. Ford
And Company/Boston: H.A. Brown &
Co. u. a.; Frederick, Christine (1921):
Die rationelle Haushaltführung:
betriebswirtschaftliche Studien,
Berlin: J. Springer; engl. Originalausgabe 1913; Gilbreth, Lillian M.
(1930): Heim und Arbeit: Die
Lebensaufgabe der modernen
Hausfrau, Stuttgart: K. Thienemann;
engl. Originalausgabe 1927; Meyer,
Erna (1926): Der neue Haushalt. Ein
48
Wegweiser zu wirtschaftlicher
Hausführung, Stuttgart:
Franckh‘sche Verlh.
Kitchen Stories
Studie des Hemmens forskningsinstitut, Schweden, 1944
großmaßstäbliche Auswirkungen hatten. Hier zeigen sich Interdependenzen
einer Forschung, ihrem Gegenstand und der Erzeugung von im Ergebnis der
baulich-räumlichen Umsetzung veränderter Lebensrealitäten, wie zum Beispiel das Leben in der Großwohnsiedlung.
Analyse der Küchen-Realität
Diese Beobachtungen führen zur Frage nach den möglichen Wechselwirkungen zwischen Handlung und räumlich-materieller Gestaltung, die eng
mit der Frage nach der Rolle des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen zusammenhängt. Wenn Design, wie Nicolas Beucker
schreibt, seine transformatorische Wirkung erst in dem Moment sinnvoll
entfalten kann, in dem Klarheit über die Bedürfnisse und Ansprüche derjenigen besteht, die es adressiert, dann geht der Frage selbstverständlich die
»gewissenhafte Analyse der Realität« voraus (Beucker 2016: 55). Wie aber
Julia von Mende
49
kann diese durchgeführt werden? Sind Methoden der Küchenforschung
überholt, die weitestgehend auf der Messbarkeit von Wegen, Zeiten und
Kosten beruhten?
Die Absurditäten, die mit der empirischen Erforschung der Küche als Teil
des privaten Wohnumfelds einhergehen, thematisiert der Film Kitchen Stories. Das Werk des norwegischen Regisseurs Bent Hamer aus dem Jahr
2003 ist inspiriert von den oben genannten schwedischen Untersuchungen.
Im Film sollen die Verhaltensweisen norwegischer Junggesellen erkundet
werden. Die Teilnehmenden werden von einer Person beobachtet, die von
einem Hochsitz aus Aufzeichnungen zum Nutzerverhalten durchführt. Um
die Forschungsergebnisse nicht zu verfälschen, ist dabei jeglicher persönlicher Kontakt mit den Küchennutzern verboten (vgl. Kitchen Stories 2004).
Joachim Calmeyer und Tomas Norström in Kitchen Stories
50
Kitchen Stories
Heute stellt sich die Frage nach der Küche unter anderen Vorzeichen als im
20. Jahrhundert. Es geht nicht mehr um die rationalisierte Haushaltsführung.
Im Anthropozän stehen Fragen des Energieverbrauchs und der Stoffflüsse
im Fokus7 – dabei spielt Optimierung nach wie vor eine wichtige Rolle. Andererseits geht es aber auch um die Analyse des räumlichen Kontexts und der
sozialen Konstellationen des Essens vor dem Hintergrund veränderter
Lebensbedingungen und der Absicht, die Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit zu transformieren. Bei der Frage nach der Rolle des Designs in
gesellschaftlichen Transformationsprozessen gilt es daher vor allem zu
begreifen, welchen Einfluss Alltagshandeln auf die bereits bestehende, gebaute und dingliche Umgebung hat – und umgekehrt. Und es geht darum, zu
verstehen, wie sich unsere Vorstellung von Gesellschaft in unseren Alltagsräumen widerspiegelt: um Kitchen Stories also, im Wortsinn um Erzählungen der Nutzer*innen, die Auskunft über Hintergründe ihres Handelns, ihre
Lebensbedingungen und -entwürfe geben. Diese müssen mit den tatsächlich vorgefundenen räumlichen Strukturen abgeglichen werden, um herauszufinden, ob wir an eingeübtem Wohnen und seiner materiellen Struktur
festhalten wollen, obwohl es den veränderten Lebensbedingungen und Alltagshandlungen womöglich entgegensteht. Sollte sich dabei herausstellen,
dass die Küche, wie von Baraona Pohl, Puigjaner und Reyes Nájera postuliert,
tatsächlich verzichtbar wäre, könnte daraus ein enormes räumliches Potential für Transformationen und Zukunftsgestaltung entstehen.
7 Vgl. zum Küchen-Metabolismus die
Forschungen im Basisprojekt Die
Anthropozän-Küche/Teilprojekt Küche
(Joachim Krausse, Karl W. Große).
Julia von Mende
51
Kunst und Utopieproduktion
Working Utopias
Anke Strauß
Heute scheint der Großteil unseres Tuns, selbst jenes, das zur Verbesserung unserer Verhältnisse beitragen soll, auf negativen Narrativen zu beruhen. Eines dieser Felder betrifft die Arbeit und ihre sich verändernden
Bedingungen. Während diese Negativität in der Kritik wichtig ist, um Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken, scheint es im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs doch eine seltsame Leerstelle zu geben, wenn es
um positive Formulierungen zukünftiger Arbeit geht. Gemeinsam mit der
Choreographin und Performerin Christina Ciupke habe ich mir daher die
Frage gestellt, ob aktuelle Formen kreativer Arbeit die Möglichkeit bergen,
eine positive Formulierung vorzunehmen – ein zukünftiges ArbeitsLeben1
zu beschreiben, das erstrebenswert erscheint. Unser zweijähriges Forschungsprojekt Working Utopias beschäftigt sich daher auf der einen Seite
mit Formen von Arbeit, die Künstler*innen für sich entwickelt haben, auf der
anderen Seite fragt es nach Utopie.2
1 Im Folgenden wird die
Formulierung ArbeitsLeben genutzt,
um Entwicklungen Rechnung zu
tragen, die zum einen zunehmend
die wie auch immer geartete Grenze
zwischen Erwerbs- und Privatleben
auflösen, und zum anderen
das Zusammendenken der beiden
Bereiche nötig machen.
2
52
Siehe www.working-utopias.com
Theoriehintergrund: Utopie
Utopie ist eine von Thomas Morus geschaffene Wortschöpfung, die paradoxerweise zwei Bedeutungen gleichzeitig erfasst. Die eine bedeutet guter
Ort, die andere Nichtort. Die Gleichzeitigkeit von Ideal und Unerreichbarem
ist hier wichtig, denn es ist diese Gleichzeitigkeit, die ein Sich-Sehnen produzieren kann, das das Potential in sich trägt, auch Handlungen im Jetzt zu
beeinflussen. Beide Bedeutungen einzeln sind jedoch Nährboden für Kritik,
die zusammen genommen Utopie in eine Abseitsposition gebracht haben.
Mit Hinweis auf den letzten großen Realisierungsversuch, das sozialistische
Projekt, wird der Utopie oft der Vorwurf des Totalitären gemacht – und das
ist gerechtfertigt, wenn man das Gute mit dem Perfekten gleichsetzt und
es als einen Standard benutzt, um daraus ein singuläres Narrativ zu stricken.
Dies hat dazu geführt, dass Utopie verdächtig und große Narrative zu Gunsten von lokalen Mikro-Narrativen verworfen wurden.3
Auf der anderen Seite wird Utopie mit dem Hinweis auf die Ernsthaftigkeit unserer Lage als Wolkenkuckucksheim abgetan, als Träumerei, die niemals real werden kann. Hier ist es die Unmöglichkeit des Realisierens, die ihr
zum Vorwurf gemacht wird. Gerade die neoliberale Agenda pocht auf Realismus als (einzige) Bedingung des Handelns.
Diese kontinuierliche doppelte Abwertung hat zu einer Situation geführt,
in der wir mittlerweile so unfähig sind, das Unmögliche zu denken, dass
wir selbst das Mögliche nicht mehr als Möglichkeit wahrnehmen können.
Der Brexit und die Wahl von Donald Trump sind nur zwei Beispiele für
diese Unfähigkeit.
Ein Ort, an dem Utopie noch oder wieder ernsthaft diskutiert wird, ist die
Kunst. Dabei geht es weniger um eine perfekte Gesellschaft als um die Erfahrung der Möglichkeit des Anderen. Kunst hat schon immer eine wichtige
Rolle in der Gestaltung von Gesellschaft gespielt, egal ob während der Industrialisierung oder der russischen Revolution. Dabei ist Utopie auch immer
eine Kritik am Bestehenden (Bloch 1988: 12). Diese erfolgt jedoch nicht,
indem sie die Unzulänglichkeiten des Hier und Jetzt expliziert, sondern indem sie zeigt, wie eine gute Welt aussehen könnte, die gewahr werden lässt,
3 Große Narrative existieren
weiterhin, jedoch nur in Form von
Negativbeschreibungen, wie etwa
Kapitalismus oder Neoliberalismus.
Diese sind, wie beispielsweise
Gibson-Graham argumentiert, nicht
weniger totalisierend (vgl. GibsonGraham 2006). Zum einen
homogenisieren sie eine Vielzahl
unterschiedlicher Phänomene, zum
anderen lassen sie nur eine ebenso
große (revolutionäre) Antwort als die
einzig mögliche erscheinen.
53
was jetzt alles fehlt. Das heißt, Utopie hat mit Affektproduktionen zu tun, die
eben nicht negativ sind – es ist nicht das Spektrum von Angst, Panik oder
Aggression, welches sie für ihr Handeln operationalisiert.
In der Kunst bestand Kritik sehr lange vor allem in der Forderung nach
Autonomie und nichtentfremdender Arbeit (vgl. Boltanski/Chiapello 2005).
Diese Kritik stieß in den 1970er Jahren auf offene Ohren – in einer Zeit tiefer
Instabilität des kapitalistischen Systems mit seiner Weltwirtschaftskrise,
die unter anderem massive Demonstrationen von damaligen und zukünftigen Arbeitnehmer*innen zur Folge hatte. Neue Formen von Arbeit – wie sie
beispielsweise in der Kreativwirtschaft vorkommen, sich aber auch auf
andere Bereiche ausweiten – zeichnen sich durch Selbstverantwortung aus.
Leidenschaft und Selbstverwirklichung stehen im Zentrum eines Diskurses,
der andererseits mit einem massiven Abbau von sozialstaatlichen Leistungen und Sicherheiten verbunden ist.
Diese Art der Kritik, so das Argument, wurde also eingehegt und somit
Kunst auch die Grundlage von Kritik entzogen. Aber, sagt Bloch, es gibt immer
ein Residuum, das nicht erfüllt sondern banalisiert wird durch die Realisierung einer Zukunftsvision (Bloch 1988: 2). Und in diesem Fall der Erfüllung
einer utopischen Idee von (selbstbestimmter) Arbeit ist es die Frage nach
Sozialität, nach Gemeinschaft, nach Solidarität und Sicherheit, die dieses
Residuum bildet. Es ist kein Zufall, dass gerade heute in der Kunst Formate
dominieren, die sich mit Fragen von Kollaboration, Partizipation, Gemeinschaft, Zusammenkunft, öffentlichen Orten aber auch mit den Produktionsbedingungen im heutigen kapitalistischen System beschäftigen.
Christina Ciupke und ich untersuchen in unserem Forschungsprojekt
Working Utopias die Produktionsformen, die künstlerische Arbeit heute
annimmt. Es geht uns dabei unter anderem darum, das Narrativ der Vereinzelung, das die derzeitige Kritik dominiert, zu hinterfragen, denn wir untersuchen die ArbeitsLeben von Künstler*innen im Hinblick auf ihre soziale
Dimension. Dafür beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen, von Künstler*innen ins Leben gerufenen und betriebenen Organisationen, um folgende Fragen zu stellen: 1. Wie organisieren sie ihr ArbeitsLeben? 2.
Welchen Einfluss hat ihre Kunstproduktion auf die Art und Weise, wie sie
54
Kunst und Utopieproduktion
dieses ArbeitsLeben gestalten – und umgekehrt? 3. Gibt es die Möglichkeit, eine neue Utopie zu formulieren, die auch unter den Bedingungen
hochindividualisierter Arbeit auf Solidarität beruht?
Praxisprojekte
Zur Zeit beschäftigen wir uns in unterschiedlicher Art und Weise mit vier Organisationen verschiedenen Alters (20, 15, 5 und 1 Jahr). KuLe und Ponderosa sind Mitte beziehungsweise Ende der 1990er im selben politischen
Milieu in und um Berlin entstanden. Beide sind Entwürfe zu Leben und zu
Arbeiten, die eng mit Kunst, Politik und dem Ausloten von möglichen und
unmöglichen Beziehungen verknüpft sind. Sie sind eingewebt in Narrative,
die sich um Freundschaft, Solidarität und Teilen entspinnen (für KuLe vgl.
Berzborn/Weismann 2016; für Ponderosa vgl. Maher 2015).
Unter sehr anderen Bedingungen hat sich Agora über zehn Jahre später
im Neuköllner Mittelweg4 entwickelt, während Critical Concrete in Porto
auch als Konsequenz jüngster Entwicklungen in Berlin gegründet wurde.
Ihre Narrative adressieren ähnliche Themen wie bei KuLe und Ponderosa,
finden aber in einem Umfeld statt, das von einer fortschreitenden Ökonomisierung unterschiedlicher Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Dies betrifft
sowohl die erhebliche Verknappung und damit Verteuerung von Raum in
urbanen Zusammenhängen als auch eine zunehmende ›Professionalisierung‹ von Künstler*innen, welche Karriereorientierung zu einer relevanten
Entscheidungsgröße macht.
Agora bezeichnet sich selbst als »Centre for Contemporary Practice«,
in dem Kunst Teil einer ganzen Bandbreite von Aktivitäten ist. Unter dem
Dach eines Fabrikgebäudes aus den 1920ern arbeiteten Menschen verschiedenster Disziplinen auf von Agora Mittelweg thematisch unterschiedenen Stockwerken: Essen, Arbeiten, Lernen und Kunst. Diese Themen
wurden zudem regelmäßig bei Community Dinners und gemeinsamen
Veranstaltungen in experimenteller Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Nichtkünstler*innen miteinander in Dialog gebracht. Ein Mitglied von Agora beschreibt es wie folgt:
4 Im Juli 2017 musste Agora
Mittelweg aufgrund einer massiven
Mieterhöhung schließen. Agoras
künstlerisches Programm existiert
jedoch weiterhin im Gebäude von
CIRCULAR, einem Zentrum für
nachhaltiges Wirtschaften in der
Rollbergbrauerei (Neukölln),
welches bei Agora seinen Anfang
nahm. Der alte Standort wird durch
den Zusatz Mittelweg von dem
neuen unterschieden.
Anke Strauß
55
»Es war ein Ort, der sehr offen war für Experimente ohne Kuration. Jemand
hat etwas vorgestellt – ›Ich möchte das machen, wir wissen nicht, was es
genau ist, keine Ahnung‹ und wir sagten: ›Komm her, beim nächsten Community-Dinner kannst du es austesten.‹ Es war ein bisschen anders als
das Kunstprogramm, was hier kuratiert ist.«
Neben den Stockwerken, in denen alle ihren spezifischen künstlerischen
oder nichtkünstlerischen Aktivitäten nachgingen, existierte so auch, was ein
anderes Mitglied als »leere Mitte« bezeichnete, ein experimenteller Ort, an
dem alles passieren konnte.
Critical Concrete hingegen positioniert sich im Sozial- und Bildungswesen. Sie nennen sich selbst »academic and social initiative«. Auffällig ist hier,
dass Kunst in ihrer Selbstbeschreibung nicht vorkommt. Auch gibt es kein
Residenzprogramm für Künstler*innen oder ähnliche Formate, die sich mit
Fragen des Sozialen künstlerisch auseinandersetzen. Stattdessen ist das
gesamte Programm eher auf etwas ausgerichtet, das man heute wahrscheinlich socially-engaged architecture nennt – ein Bereich, der durchaus Parallelen zu partizipativen Kunstformaten aufweist.
Darauf angesprochen erklärte Samuel Kalika, Gründer von Critical Concrete, dass er Kunst oder die Verwendung des Kunstbegriffs in seiner organisationalen Praxis erst einmal ganz ausspare:
»In der Kunst an die ich wirklich glaube, glaube ich auch an eine Ehrlichkeit in ihrer Praxis und ich werde ein wenig angespannt, wenn ich sehe
wie sich diese Praxis zu einer schieren Karriereperspektive entwickelt.
Das ist zwar nicht immer der Fall aber in meinen Augen produziert ein
Großteil der professionellen Künstler, vor allem diejenigen, die Vollzeit ihr
Geld mit partizipativen und sozial engagierten Formaten verdienen, am
Ende sehr schlechte Arbeiten, die auch sehr geringe Partizipation und
sozialen Einfluss aufweisen. Daher habe ich Kunst bei meinem Tun erst
einmal in den Hintergrund treten lassen.« (Übersetzung der Autorin)
Wahrscheinlich ist dies eine intelligente Herangehensweise – das Unterlassen der Verwendung des Begriffs Kunst, in einer Zeit, in der Kunst immer
mehr zur Komplizin in unterschiedlichen Verwertungszusammenhängen
56
Kunst und Utopieproduktion
gemacht wird. Das Unterbrechen der Produktion von Kunst befreit auch
Künstler*innen von dem Druck, bestimmten Formaten, Anforderungen, Diskursen zu genügen, die, wie es mir scheint, immer exklusiver werden, je
mehr Nichtexklusivität gefordert wird.
Alle Projekte verweben eine kreative Praxis mit politischen und sozialen
Fragen. Alle schaffen Raum, um unterschiedliche Formen des Miteinanders
auszuloten. In allen Beispielen eröffnet sich dieser Raum nicht innerhalb der
Kunstproduktion, sondern an ihren Rändern – dort, wo ein Kontakt mit anderen Praktiken, Sichtweisen oder Ideen entsteht, der nicht von vornherein
eingeordnet werden kann.
Dies schafft andere Beziehungen als die, die Gesa Ziemer mit dem Begriff
der Komplizenschaft als Kern von neuer Kollektivität bezeichnet (vgl. Ziemer
2013). Komplizenschaft ist immer temporär und zweckgerichtet. Einer der
Mitglieder von Agora Mittelweg hingegen beschreibt die Beziehungen, die
dort entstanden sind, folgendermaßen:
»Ein Netzwerk sind einfach Menschen, die voneinander profitieren, irgendwie. Aber das hier ist ein Haus für viele Leute, die etwas Neues wollen. […]
Die Anzahl von gesunden Verbindungen zwischen Menschen ist krass
hier gewesen und ist [es] immer noch; [es] hat sehr, sehr, sehr viele Menschen in einem positiven Sinne verbunden.«
Statt Kompliz*innen finden die Ideen, Narrative und Praxen aller Organisationen Verbündete. Verbündete sind Menschen, die sich oft in anderen
Arbeitszusammenhängen bewegen – wie beispielsweise in Bezirksämtern,
aber auch in Unternehmen oder anderen Institutionen. Verbündete sind Menschen in anderen Strukturen, die sich aber so affizieren und begeistern
lassen, dass sie das Projekt unterstützen – teilweise oder oft sogar gegen
die Logik der Struktur, in der sie sich bewegen.
Wenn man diese Menschen fragt, warum sie das tun, dann geht es nicht
immer in erster Linie darum, ob das, was sie zu Beginn reizte auch so ohne
Abweichungen umsetzbar, realistisch oder hundertprozentig verwertbar ist.
Es geht darum, dass sich in diesem Moment etwas öffnet, ein Möglichkeitenraum, der aufzeigt, was man auch machen könnte und wie man es auch
Anke Strauß
57
machen könnte. Diese Möglichkeitenräume schließen sich manchmal wieder – wie der Fall von Agora zeigt. Aber die Erfahrungen mit ihnen bleiben. Bloch sieht in solchen Erfahrungen ein Samenkorn für Utopie, wenn er
schreibt:
»Jedoch das vergangene Wollen, vergangene Erleben hört nicht auf zu
bestehen und nachzuwirken, auch wenn es nicht mehr gegenwärtig
bewusst ist. Im Traum vor allem kehrt das wachende untergegangene
Wollen wieder, bemächtigt sich, bewegt« (Bloch 1919: 356).
Bloch bezieht sich hier auf den Tagtraum, der das Jetzt öffnet, indem er alles
das, was fehlt gewahr werden lässt – ein Sehnen, das ein Nicht-mehr in ein
Noch-nicht verwandeln kann. Diese Erfahrungen können demnach als Utopien weiterarbeiten, obwohl oder gerade weil sie sich wieder ein Stück vom
Seienden entfernt haben. So sagte beispielsweise Caique Tizzi, einer der
Gründer von Agora Mittelweg und aktueller Leiter von Agoras künstlerischem Programm in der Rollbergbrauerei Ende 2017 in einem Interview:
»Die Idee, eine Gemeinschaft zu schaffen, neue Möglichkeiten des Zusammenlebens auszuloten – alles ist da, es muss nur in neue Form gebracht werden« (Hildebrandt 2017).
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Kunst und Utopieproduktion
Anke Strauß
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Good Luck with the Future — Dani Pujalte, Rita Puig-Serra
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Transformationen von Sinn- und
Identitätskonstruktionen.
Oder: Gelungenes Misslingen
Dana Giesecke
In jedem Curriculum Vitae wird der erfolgreiche berufliche Werdegang mit
all den bestandenen Abschlüssen und Karrierestufen wiedergegeben, und
so reiht sich auch in meinem eine Statuspassage logisch und nachvollziehbar an die nächste. Was dort jedoch nicht dargestellt wird und was ich zum
Teil selbst verdecke und verschweige ist, dass vieles nicht oder anders
geplant war, dass einiges abgebrochen wurde und dass auch mal etwas
endgültig scheiterte. So wollte ich eigentlich Primaballerina werden, zwischenzeitlich Kriminalinspektorin und 1989 natürlich Revolutionärin, um
die DDR in einen freiheitlichen und autonomen Staat zu verwandeln. Alles
geplatzte Seifenblasen, in sich zusammengefallene Luftschlösser. Last, but
not least wollte ich Mutter von mindestens vier Kindern werden – Fehlanzeige. All das bleibt natürlich unerwähnt; dass ich später ein BWL-Studium
anfing und schleunigst wieder abbrach, kehre ich peinlich berührt unter
den Teppich.
»Du musst dein Leben ändern!«
(Sloterdijk zitiert Reiner Maria Rilke,
Soboczynski 2009) Die Gedichtzeile bringt
unser tägliches Bemühen um Selbstoptimierung auf den Punkt. Inzwischen sind wir in
allen Lebenslagen ›im Training‹, um anders
und besser zu werden. Das hat Auswirkungen auf unsere Selbstbeschreibungen, auf die
Art und Weise, wie wir von uns erzählen.
Stefan Wolf:
66
Was ich auf den folgenden Seiten vorhabe, ist genauso ein No-Go. Niemand
stellt öffentlich eine wissenschaftliche Arbeit vor, die niemals zu Ende gebracht wurde. Eine Arbeit, die verschüttet wurde auf der Landkarte von
Academia, auf der das Scheitern allerdings immer möglich ist. In diesem
Territorium gibt es das Dreieck der höheren Mächte, das Eismeer der Arroganz, das Kap der verlorenen Hoffnung, dicht gelegen neben dem SchuldMassiv. Im Fall des Scheiterns meiner wissenschaftlichen Arbeit, von der
ich gleich berichten werde, geriet ich wohl in den Strudel der Überforderung. Paradoxerweise hängt dieses Misslingen mit dem Gelingen meiner
Arbeit bei der Stiftung FUTURZWEI zusammen.
Keine Hilfe durch eine Navigations-App: Die Landkarte des Scheiterns
67
Seit nunmehr fünf Jahren bin ich für die Stiftung FUTURZWEI tätig. Diese
hat es sich zur Aufgabe gemacht, positive Geschichten einer ökosozialen
Transformation zu erzählen. Positiv heißt, dass alle Geschichten gelungen
sind. Zumindest werden sie so erzählt. Auch hier wird manchmal etwas weggelassen, retuschiert, sozialutopisch ausgemalt, denn das Scheitern an sich
ist nicht motivierend. Scheitern macht schlechte, keine gute Laune. Es ist
eben nicht angenehm zu lesen, dass aktive und engagierte Menschen beispielsweise nicht genügend Unterstützer*innen fanden, dass Projekte vorzeitig ausliefen oder dass es interne Zwistigkeiten gab.
Doch: Auch wenn das Scheitern in diesen »Geschichten des Gelingens« absichtsvoll nicht erzählt wird, heißt es nicht, dass es nicht passiert. Wenn man
sich mit Transformationsprozessen in unsichere Zukünfte beschäftigt, weiß
man: Das Scheitern, das Abbrechen oder Unterbrechen gehört dazu, denn
auch das Nicht-Gelingen generiert Transformationswissen. Beobachter*innen und Expert*innen sprechen ja auch über »Experimentierräume« oder
»Reallabore«, weil an diesen Orten neue, andere Praktiken des Produzierens
und Konsumierens, des Zusammenlebens und Andersorganisiertseins ausprobiert werden. Ausloten, experimentieren, laborieren – all das sind Tätigkeiten, die ergebnisoffen sind, also auch ein Scheitern beinhalten können.
Meine begonnene, aber unvollendete wissenschaftliche Arbeit Moderne
Konvertiten. Transformation von Sinn- und Identitätskonstruktionen hat mit
diesen FUTURZWEI-Geschichten zu tun. In diesen Geschichten kommen
Protagonist*innen vor, die von heute auf morgen ihr Leben änderten, die
plötzlich aufhörten, das zu tun, was sie bis dahin tagein, tagaus getan hatten.
Ihr neues Leben wurde zur Gegenbehauptung ihres vorherigen, indem sie
sich für Mitmenschen einsetzten, ihr Vermögen spendeten oder sich gesellschaftlich engagierten. Meistens geschah dieser innere und äußere Wandel
ziemlich schlagartig und abrupt.
Mich erinnerte das an alte, meist religiöse Konversionserzählungen. Üblicherweise vollziehen sich in biografischen Prozessen die Veränderungen
68
Transformationen von Sinn- und Identitätskonstruktionen
eher langsam: Es ragt eine Lebensphase in eine andere hinein, oder die
Lebensphasen gehen sanft ineinander über. Mich aber interessierten abrupte biografische Brüche. Handelte es sich tatsächlich um gestern noch
blinde Saulusse, die morgen zu sehenden Paulussen werden? Ich wollte
wissen, ob es plötzliche Erweckungserlebnisse gab, die diese Menschen
bewogen hatten, ihr Leben zu ändern. Mich interessierte, wie das Misslingen zum Gelingen gemacht und für sich und andere uminterpretiert wird.
So suchte ich mir einerseits Personen, die am Ende ihres Lebens standen
und wohlhabend waren; andererseits aber auch Personen, deren Karrieren
wir in unserem gegenwärtigen Wertesystem als nicht extrem erfolgreich
bezeichnen würden, sondern eher als ziemlich durchschnittlich.
Die Interviews mit den betreffenden Personen dauerten meist stundenlang.
Wir gingen dabei spazieren, kochten oder aßen gemeinsam. Mir war wichtig,
dass ich auf jeden Fall mehr als die eingeübte, zigmal wiederholte Lebensstory zu hören bekam. Ich wollte Details, Nebensächlichkeiten, Reaktionen
und andere Perspektiven erfahren. Diese Tiefeninterviews ergänzte ich mit
anderen Methoden, zum Beispiel mit der moralischen Landkarte.
Die Unterscheidung von Gut und Böse:
die moralische Landkarte
(inspiriert von Hartmut Rosa)
Dana Giesecke
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Aus dieser Karte entwickelte ich ein Aufstellungsspiel, das bestimmte Aspekte zwischen dem Ich und meiner Welt visualisieren sollte. Die interviewten Personen formten sich dabei selbst aus Knetmasse und stellten ihr Ich
auf das Spielfeld. Um diese Figur herum sollten sie für ihr Leben wesentliche Werte, Institutionen und Personen platzieren. Während sie das taten,
interviewte ich weiter, bohrte nach und stellte immer wieder die Fragen
»War das schon immer so?« und »Hat sich an dieser Einstellung im Laufe
Ihres Lebens etwas verändert?«. Mit dieser Methode konnte ich das Vorher
und das Nachher innerhalb der persönlichen Transformation gegenüberstellen. Diese neue Fokussierung sollte die sonst eher lineare Erzählung der
eigenen Lebensgeschichte auf bestimmte Werte- und Weltanschauungsveränderungen verdichten.
a Himmelsstürmende und gebrochene Bahnen (Lifeline-Methode inspiriert von Lesley Bleakney und Harald Welzer)
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Transformationen von Sinn- und Identitätskonstruktionen
b Himmelsstürmende und gebrochene Bahnen
(Lifeline-Methode inspiriert von Lesley Bleakney und Harald Welzer)
Als nächstes ließ ich meine Interviewpartner*innen eine eigene Lifeline
zeichnen. Wie man an den beiden ausgewählten Lifelines sehen kann, lässt
sich nicht immer von einem starken Bruch sprechen. Für die eine Person ist es
ein ständiges Auf und Ab, die andere führte die Klee’sche Leiter weiter. Das
große Erweckungsereignis war überraschenderweise nirgends zu erkennen.
Mit diesen Methoden führte ich einige Interviews und kam zu ein paar Zwischenergebnissen (obschon ich nochmals auf den Charakter der Vorläufigkeit verweise, was die Untersuchungen betrifft):
1. Wann ändern Menschen ihr Leben? Meistens dann, wenn sie Sinnkrisen
durchlaufen, wenn Krankheiten auftreten oder andere wichtige, äußere
Ereignisse. In zwei Fällen hatten sogar ein Film oder ein Buch die Kraft,
den Anlass für einen Cut im Leben zu bilden. Ältere Menschen ändern ihr
Leben, wenn sie genug ökonomisches Kapital angehäuft haben, wenn es
keine Rolle mehr spielt, ob sie 200 oder 300 Millionen Euro besitzen. Diese
Menschen können sich einfach nichts mehr kaufen, was sie nicht schon
haben, und so streben sie häufig nach symbolischem Mehrwert: Anerkennung, Ruhm und Ehre zum Beispiel. Oft fließt so ein Teil ihres ökonomischen Kapitals in Stiftungen und verwandelt sich dort in symbolisches
Kapital. Oder sie ändern ihr Leben, wenn sie an dessen Ende stehen. Sie
Dana Giesecke
71
schauen dann häufiger in den Rückspiegel und stellen sich die Frage im
Futur II: »Wer möchte ich gewesen sein?«
2. Mich interessierte nicht nur das »Warum?«, sondern auch die Erzählform.
Wie teilen diese Menschen ihre eigene Geschichte mit, und wie verpacken sie krasse und abrupte Veränderungen in ein plausibles Narrativ?
Dabei wurde schnell deutlich, dass die meisten von ihnen es trainiert
hatten, ihre Geschichte für andere nachvollziehbar zu erzählen. Man könnte sogar sagen, dass es sich um moralisierende Lebensgeschichten
handelt: »Ich bin jetzt Vorbild. Denn auch du kannst dein Leben ändern!«
Ein eigentlich negativ besetzter Karriereabbruch kann in Zeiten notwendiger gesellschaftlicher Transformation positiv umgedeutet werden.
Was können uns solche Mikro-Transformationen zeigen, wenn es darum
gehen soll, Welt zu entwerfen und zu gestalten? Das Erste, was ich den
Weltentwerfer*innen und Transformationsforscher*innen mit auf den Weg
geben möchte, ist, dass für eine große Transformation ganz viele biografische Mikro-Transformationen notwendig sind, die ihre Aufmerksamkeit
verdienen. Es gibt vorerst kein neues Personal, das alte muss sein Leben auf
neue Gleise stellen, sich neu entwerfen und wieder Sinn finden. Das kann
gelingen oder scheitern. Das Zweite ist, auch reduktiv und disruptiv zu
denken – ein Anhalten oder Innehalten, ein Aufhören oder mal ein Liegenlassen, ein kurzes In-den-Himmel-Gucken oder ein Durchrütteln der Figuren und Verhältnisse einzubeziehen. Auch das sind Handlungsstrategien
der Zukunft, die mitgedacht und mitentworfen werden können.
Wir prüfen die eigenen Selbstbeschreibungen
auf Wirksamkeit. Das Bild, das wir erzeugen,
soll nicht nur uns, sondern auch andere überzeugen. Es ist aber ein schmaler Grat zwischen
Eigen- und Fremdwahrnehmung, ehrlichem
Selbstbewusstsein und unreflektierter Hybris.
Die Kultur der Selfies (Selfiritis) ist dafür nur
ein Beispiel. Wir zeigen uns vorteilhaft, setzen
uns immer und überall ins rechte Licht und
damit immer mehr unter Druck. Was passiert,
wenn die Transformation des Selbst nicht
gelingt oder zu Veränderungen führt, die wir
nicht beabsichtigt haben? »Schöner Scheitern« war Leitspruch einer 68er-Generation,
die mit großem Idealismus den Marsch durch
SW
72
die Institutionen antrat, um radikal gesellschaftlichen Wandel zu provozieren. Jetzt hat
das System gesiegt. Wir wollen nur noch uns,
aber nicht mehr die Verhältnisse ändern.
Damit kehrt sich die Frage »Wie wollen wir
leben?« nach innen und sorgt für Anspannung,
mit der wir lernen müssen umzugehen.
Mit den richtigen Motiven an der Gesellschaft
zu scheitern, kann ehrenhaft sein. An sich
selbst zu scheitern, ist es selten. Was macht es
mit uns, wenn wir einsehen, dass die eigenen
Transformationsideen im Konjunktiv bleiben
oder eine gut gemeinte Absichtserklärung auf
die nächste folgt? In der Heuristik des Selbst
(Foucault 2009) ist nämlich eine Paradoxie
Transformationen von Sinn- und Identitätskonstruktionen
unvermeidlich: Wann haben wir uns genug
verändert beziehungsweise sind wir bei uns
selbst angekommen? Schon in der Frage wird
deutlich, dass wir auf dem Weg zu uns ohne
Antwort bleiben – gleich Schwimmenden im
Wasser, die die Welle, die sie auslösen, nie
einholen. Ratlos suchen wir Trost und üben
uns – voll guter Absichten – in den ständigen
Wandel ein. Intransitives Tun (Barthes) kennt
auch das Transformationsdesign. Es gibt
schöpferische Prozesse, die bleiben auf sich
selbst bezogen: Verworfene Entwürfe könnte
eine Metapher sein, um sinnvoll vom eigenen
Leben zu sprechen. Gleich einer guten Idee,
die aufgegeben wurde, steckt noch ein
Dana Giesecke
Gedanke in ihr, der es wert ist weiter verfolgt
und mitgenommen zu werden. Jeder Bruch,
jedes Zurückgehen, aber auch jeder Umweg ist
Teil des Entwurfs, weil er – ohne diese Schritte
– nicht so geworden wäre, wie er jetzt ist.
Auch etwas bewusst zu verlernen (Knott 2011),
kann hoch produktiv sein. Diese Haltung
schützt nicht vor den Paradoxien eines sich
selbst konstituierenden Ichs, aber sie öffnet
den Blick auf ein anderes Gelingen, in dem wir
zwar auch scheitern, aber – ironisch gelassen
– lernen, immer besser zu scheitern (Beckett
2002) – oder wie Christa Wolf sagt: »Nur
unbegabte Menschen bringen alles zu
Ende …«(Wolf 2007).
73
Wirklichkeitsperforationen –
Wege angewandter
künstlerischer Zukunftsforschung
Thomas Christian Malorny
»Kunst ist nicht ein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein
Hammer, mit dem man sie gestaltet!« (Karl Marx)
Angesichts der ebenso notwendigen wie un-/möglichen großen Transformation unserer Welt stellt sich mir die folgende Frage: Könnte Kunst ein
wesentlicher Treiber dieser Veränderungen der Wirklichkeit sein und als Transformationskatalysator fungieren? In Anbetracht hochkomplexer, unendlich
verwobener und von Pfadabhängigkeiten eingeschlossener Wirklichkeiten
gilt es, den Blick in mögliche Zukünfte zu richten, die über die ›alternativlose
Wirklichkeit‹ hinausweisen. Wie aber können ästhetische Praktiken als Transformationskatalysatoren des Noch-nicht-Existierenden fungieren? Welche
Beschaffenheit müssen sie aufweisen, wenn es ihnen gelingen soll, Räume
des Möglichen, des Neuen und Unbekannten zu eröffnen? Ich sehe eine Potenzialität ästhetischer Praktiken in der Eröffnung von Möglichkeitsräumen
innerhalb der herrschenden sozialen Wirklichkeit, in denen sich alternative
Zukünfte entwickeln lassen.
Im Blick auf Marx’ Bild von der Kunst als Hammer der Wirklichkeitsgestaltung und trotz der offensichtlichen Beschränkung der Möglichkeiten der
Kunst als Weltverbesserungsgenerator treibt mich also nicht mehr die Frage
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um, ob sondern wie es Kunst und ästhetischen Praktiken gelingen kann, die
Welt zu verändern.1 Die von mir betrachteten ästhetischen Praktiken erzeugen, der Logik der Kunst folgend, aus ihrer Anlage heraus ein widerständiges
Potenzial gegenüber den zumeist hegemonialen, zweckrationalen Logiken
anderer Felder unserer Wirklichkeit. In diesen Praktiken lässt sich erahnen,
dass in der Kunst eine Kraft zur Veränderung liegt, eine Potenzialität, die anderen Feldern unserer Wirklichkeit möglicherweise verwehrt zu sein scheint.
Doch wie realisiert sich diese Potenzialität? Woher schöpft sie ihre Kraft zur
Innovation? Mit welchen Verfahren und Arbeitsprinzipien realisiert Kunst
ihre gesellschaftliche Relevanz aus der Widerständigkeit heraus?
Grundlegungen
In künstlerischen Prozessen wird nicht erst seit der Avantgarde eine Potenzialität zur Initialisierung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse vermutet.
Nicht zuletzt deswegen wird Kunst und insbesondere die direkt in gesellschaftliche Zusammenhänge eingreifende Interventionskunst zunehmend
auch im Rahmen von Transformationsprozessen wie Stadtplanung,2 Regionalentwicklung und anderem ›gebraucht‹. Diese Entwicklung gilt es in Bezug
auf den Gebrauch und die erhofften Potenziale von Kunst für gesellschaftliche Transformationsprozesse zu betrachten: Über das kritische Potenzial
von Interventionen hinaus – also vornehmlich die »Herstellung von Differenz
und Sichtbarkeit von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Verhaltensmodellen, Kommunikationsstrukturen« (Hartmann et al. 2012: 11) – soll es dabei
um die Auslotung des transformativen Potenzials ästhetischer Praktiken gehen.
Verwicklung
Der Schwerpunkt liegt hier auf performativen Arbeiten, da sie grundsätzlich
prozesshaft und kollektiv ausgerichtet sind. Sie sind stets ein Wechselspiel
aus Intendiertem und Emergierendem (Fischer-Lichte 2013: 17) und ermöglichen ungeplantes Zukünftiges; dabei überlassen sie nicht alles dem Zufall,
sondern sind immer gestaltete Praktiken. Performative Prozesse besitzen
1 Die Begriffe Kunst und
ästhetische Praxis verwende ich im
Weiteren synonym.
2 Siehe hierzu auch den Beitrag
Die Stadt als städtisch-theatrale
Versuchsanordnung: Wie wollen wir
in Zukunft leben und welche Stadt
brauchen wir dafür? in diesem Band.
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also per se einen kontingenten Charakter. Verwicklung steht für die Fokussierung der ästhetischen Praxis auf laufende Wirklichkeitsprozesse und die
Suche nach Möglichkeiten des perforierenden Andockens und Sich-Verwickelns mit ihnen. Anknüpfend an Wolfgang Welsch meint Verwicklung die
Ausrichtung des künstlerischen Schaffens auf Prozesse, die nicht auf die
Erstellung von Werken, sondern auf die Veränderungen von Wirklichkeitsprozessen ausgerichtet sind. Damit einher geht die Transformierung des Kunstcharakters vom Werk hin zu einer Energetisierung und Intensivierung der
Wirklichkeit, die durch die enge Verwicklung mit dieser transformierenden
Kunst neue Wege einschlägt. Kunst wird für Welsch derart zum »Transformationselement oder [...] Verbesserungsferment der Wirklichkeit« (Welsch 2014:
200), sie kehrt somit in die Wirklichkeit zurück. Welschs Gedanke deckt sich
mit dem Phänomen der Entgrenzung der Künste in andere Handlungsfelder,
die nicht originär dem Kunstfeld zugeordnet sind.
In der performativen Wende, dem Aufbrechen der Werkästhetik zu Gunsten einer prozesshaften Ereignisästhetik (vgl. Papenbrock 2012) ist eine erste
wesentliche Potenzialität der Verwicklung ästhetischer Praktiken mit anderen Wirklichkeitsprozessen zu vermuten. Wesentlich für die Verwicklung
erscheint dabei die Involvierung der Rezipient*innen als Grundlage der Arbeiten und notwendige Bedingung ihrer Existenz. Da wirklichkeitskonstituierende performative Prozesse immer Handlungsvollzüge darstellen, müssen
Verwicklungen ästhetischer Praktiken nicht zuletzt bei den Handelnden
ansetzen. Es ist also zu fragen, wie die Verwicklungsangebote und -möglichkeiten gestaltet sind, um ihre Potenziale zufälliger und systematischer
»Offenheit für Experimente mit Wahrnehmungen, Interpretationen und Affekten [zu] entwickeln« (Reckwitz 2015: 29f.).
Felderlogik
Landau und Mohr sprechen im Bezug auf Phänomene des künstlerischen Handelns in Entwicklungsprozessen urbaner Kontexte von einer »Verschwimmende[n] Felderlogik zwischen autonomer Kunstproduktion, sozialer Innovation
und partizipatorischer Zukunfts- und Stadtgestaltung« (Landau/Mohr 2015:
76
Wirklichkeitsperforationen — Wege angewandter künstlerischer Zukunftsforschung
178). Diese Entwicklung ist zweischneidig: Sie erhöht einerseits die Verwicklung des künstlerischen Handelns, andererseits gilt es die Potenziale des
Künstlerischen zu sichern. Die sich von anderen vermeintlich zweckrational
getriebenen Feldern der Wirklichkeit unterscheidende Logik der Kunst erzeugt überhaupt erst ihre besondere Qualität als Transformationskatalysator.
Sichern sich die künstlerischen Wirklichkeitsperforationen die Logik der Kunst
nicht ab, sondern lösen sich in den zweckrationalen Feldern auf, so verliert
sich ihre transformative Potenzialität.
Pfadperforation
Um das Konzept der Perforation sozialer Wirklichkeit zu verdeutlichen, sollen
hier nun mit Pfadabhängigkeit, Pfadbrechung und Pfademergenz Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Zukunfts- und Innovationsforschung in
Bezug auf den Perforationen-Gedanken eingeführt werden.
Die Gestaltungsmöglichkeiten zukünftiger Wirklichkeit erscheinen zunächst durch Pfadabhängigkeiten determiniert. Diese Pfadabhängigkeiten
sind unter anderem infrastruktureller, technischer, wie auch kultureller und
mentaler Gestalt. Sie bilden den Korridor der Alternativlosigkeit. Diese Pfade
erstellen den Raum, in dem sich Wirklichkeit realisiert und begrenzen alternative Entwicklungen. Umso relevanter erscheint die Auseinandersetzung
mit ästhetischen Praktiken, denen es gelingt, an diese Pfade anzudocken,
sich mit ihnen zu verwickeln und derart zu perforieren, dass sich Möglichkeitsfenster anderer Wirklichkeiten als »windows of opportunity« (Geels
2004: 915) eröffnen. Die Pfade der Wirklichkeit werden durch Perforationspfeile gestört, was zu Pfadbrechungen und im Verlauf zu neuen Pfadkonfigurationen führen kann. Dadurch werden in der herrschenden Wirklichkeit
Möglichkeitsräume geschaffen, in denen das scheinbar Sinnlose, nicht Zielführende sich entfaltet, Verunsicherung und Experiment Raum haben, um
die Entwicklung einer alternativen Wirklichkeit zu gestalten.
Thomas Christian Malorny
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In Anlehnung an F.W. Geels: Multi-level perspective on transitions (2002)
Möglichkeitsraum
neue Konfigurationen
setzen sich durch
Anpassungen finden
im ST-Regime statt
Industrie
Pfade der
Wirklichkeit
SozioTechnologie
technisches
Kultur
Regime
Richtlinien
Zeit
Wirklichkeitsperforation
Wege der Wirklichkeitsperforation
Wie sehen nun diese ästhetischen Praktiken aus, die Möglichkeitsräume anderer Zukünfte in unserer Wirklichkeit erzeugen? Ein Beispiel für jene Potenzialität ästhetischer Praxis zeigt sich in einem Projekt, das als politischer
Aktivismus auftritt und auf recht offensichtliche Weise einige der von mir vermuteten Wege der Wirklichkeitsperforation einschlägt: dem PARK(ing) Day.
Hierbei handelt es sich um einen Aktionstag mit dem Ziel, Pkw-Parkplätze
als temporäre Grünanlagen zur Re-Urbanisierung des öffentlichen Raumes
umzunutzen. Die aus San Francisco stammende Aktions-Idee wird aktuell
weltweit in zahlreichen Städten einmal jährlich am dritten Freitag im September durchgeführt. Die Initiative versteht sich als eintägiges globales Experiment, das die Absicht verfolgt, die »automobile Wirklichkeit« zu perforieren
(PARK(ing) Day Berlin 2017).
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Wirklichkeitsperforationen – Wege angewandter künstlerischer Zukunftsforschung
Störung
Im Kontrast zum Gebrauch des öffentlichen Raumes als Verkehrs- und PKWParkraum stellt dessen Umnutzung zur benutzbaren Parkanlage eine widerständige Handlung dar, die der hegemonialen Logik der autofreundlichen
Stadt widerspricht und gewohnte Abläufe stört.
Relevanz für gesellschaftliche Transformationen gewinnt die Störung als
Variation, wenn wir von einem evolutionären Transformationsprozess ausgehen. Dieser zeichnet sich durch Variation, Selektion und Restabilisierung
aus. Jede Variation ist zunächst eine Störung des stabilen Systems, das über
die Selektion entscheidet. Gelingt es der Variation, sich durchzusetzen, kann
sich das System in einem neuen Zustand restabilisieren. Dies geschah 2009
auf dem Times Square in New York, der infolge der temporären Umwandlung
in eine Fußgängerzone während des PARK(ing) Days3 nun in Teilen dauerhaft vom Autoverkehr befreit wurde (vgl. Reidl 2015).
Das Moment der Störung ist von entscheidender Bedeutung für jede Form
der Wirklichkeitsperforation, da von ihm abhängt, inwieweit die Perforation
überhaupt wahrgenommen, ausgeübt und erlebt werden kann. Zugleich gilt
es, das Spiel zwischen Störung und Affirmation gekonnt auszugestalten, um
nicht bereits in der ersten Wahrnehmung vom System abgestoßen zu werden,
sondern innovatives Potenzial aufzuweisen und evolutionär wirksam zu sein.
Ergebnisoffenheit – offene Prozesse
Prozesse, die mit den Beschränkungen der herrschenden Wirklichkeit so
spielen, dass sich andere Formen möglicher Zukünfte durchsetzen, sind
offen zu gestalten. Solche Prozesse implizieren, dass sich die Ergebnisse
erst im Prozess-Verlauf offenbaren oder gefunden werden. Ein offener Prozess ist insofern ein Erkenntnisprozess, der neue Schichten der Wirklichkeit
erschließt. Um ihre Funktionsweise als künstlerische, ästhetische Praktiken
zu erhalten, sind Ergebnisoffenheit und damit verbunden Verunsicherung
und ein hohes Maß an Ungewissheit entscheidende Kriterien. Dies bedeutet,
dass es kein fixes Ziel zu erarbeiten, sondern eine Suche zu betreiben gilt.
3 Park(ing) Day Berlin (2017):
www.parking-day-berlin.de
Thomas Christian Malorny
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Zwar verfolgt der PARK(ing) Day ein klares politisches Ziel: die Umwandlung
öffentlichen Raums vom Autoparkplatz hin zu einer alternativen Nutzung. Die
Gestalt dieser anderen Nutzung ist jedoch offen und realisiert sich innerhalb
eines Rahmens weitestgehend autonom (siehe auch Autonomie und Framing).
Spielerisches – Verunsicherung – Ungewissheit
Eng mit dem Prinzip der Ergebnisoffenheit verbunden ist das Moment der
Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Kunst ist das Gegenteil von Gewissheit. Sie muss zur Verstärkung von Ungewissheiten beitragen. Sie funktioniert aus ihrer ästhetischen Autonomie heraus als ein Ungewissheitsgenerator. Der Moment des Spielerischen und auch die Ungewissheit der inneren
Gestalt des Prozesses sind im hier vorgestellten Beispiel des PARK(ing) Day
von existenzieller Qualität. Der Grad der Verunsicherung scheint in Analogie
zur Störungsqualität nicht besonders hoch; zugleich ergibt sich aber durch
diesen eine niedrigschwellige Zugänglichkeit der Prozesse, womit wir zum
Punkt der Partizipation gelangen.
Partizipation – kollektives, künstlerisches Handeln
Ein entscheidender Punkt im Spiel mit ästhetischen Praktiken ist die Frage
der Partizipation. Wer führt die Wirklichkeitsperforationen durch? Damit
meine ich nicht die Teilhabe an dem Konzept einer Künstler*in durch beteiligte Wirklichkeitserstellende, sondern Prozesse ästhetischer Ermächtigung
derjenigen, die nicht Teil des etablierten Kunstsystems sind. Hier liegt eine
der wesentlichen widerständigen Potenzialitäten für gesellschaftliche Veränderung. Diese Prozesse ästhetischer Ermächtigung bringen als gegenhegemoniale Prozesse auch Felder ins Schlingern, die sich ansonsten auf Grund
ihrer Macht- und Pfadstrukturen der Gestaltung entziehen. Zudem, so meine
Annahme, führt Partizipation zu einer deutlich stärkeren Impulswirkung des
jeweiligen Prozesses durch enge Verwicklung mit dem jeweiligen Raum (Quartier, Institution, Region, Organisation) und seinen Ersteller*innen. Zukünftige
soziale Wirklichkeit ist Folge kollektiven Handelns. Kunst, die wirklichkeits-
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Wirklichkeitsperforationen – Wege angewandter künstlerischer Zukunftsforschung
perforierend wirken möchte, sollte ihren Charakter daraufhin auslegen.
Kollektive Kunstformen, die einen partizipativen Charakter aufweisen, haben
– auf Grund der Verwicklung mit dem Feld – eine höhere Potenzialität der
Wirklichkeitsperforation.
Autonomie
Ästhetische Autonomie ist Voraussetzung für Wirklichkeitsperforation und
sichert das widerständige Potenzial. Die historisch erarbeitete Autonomie
ist als Grundprinzip entscheidend für die abweichende Logik des Feldes der
Kunst und damit auch seines Potenzials zur Veränderung. Sie ist nicht zu
verwechseln mit der Forderung nach künstlerischer Autonomie, die Kunst ausschließlich im System der Kunst erlaubt und jegliche Form der verschwimmenden Felderlogik verneint. Diese Forderung dient vor allem denjenigen,
die sich mit ihrer Arbeit und damit auch Kritik immer innerhalb des Kunstbetriebes bewegen, der meines Erachtens Züge einer Abweichungsheterotopie
trägt, also eines die herrschende Wirklichkeit nicht attackierenden, sondern
durch seine Existenz stabilisierenden Gefüges. Die Isolation des institutionalisierten Kunstbetriebs ist das zweischneidige Schwert aus Freiheit und
gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Wie bereits im Abschnitt zum offenen
Prozess erwähnt, bleibt die Gestalt des jeweiligen temporären Parks innerhalb des gesteckten Rahmens autonom.
Framing/Rahmung
Ästhetische Prozesse sind immer auch gestaltete Prozesse, die sich häufig
innerhalb gegebener Rahmungen vollziehen. Diese erscheinen als notwendige Bedingung von Möglichkeitsräumen, die sich nicht in der Beliebigkeit
unendlicher Regelbrüche und anarchistischer Widerständigkeit verlieren
wollen. Die Sichtbarkeit des Regelbruches und der Widerständigkeit ist dabei
abhängig von seinem Verhältnis zum Kontext und zum Rahmen. Die Inszenierung und Konstruktion des Rahmens ist entscheidend für die Potenzialität des Möglichkeitsraumes, denn in ihm vollziehen sich die Wege der Wirk-
Thomas Christian Malorny
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lichkeitsperforation: Ergebnisoffenheit, Spiel und Autonomie. In ihm formt
sich die ästhetische Praxis, die sich gegenüber dem hegemonialen System
aufstellen kann.
Wirklichkeitsperforation als angewandte, künstlerische Zukunftsforschung
Wohin führen denn nun diese ästhetischen Wirklichkeitsperforationen mit
Blick auf gesellschaftliche Transformation? Ich begreife sie als Reallabore
und Experimentierräume anderer Wirklichkeiten. Sie können als eine Form
angewandter, künstlerischer Zukunftsforschung verstanden werden, denn
in den durch sie eröffneten Möglichkeitsräumen lassen sich Erkenntnisse
generieren, die Ausgangspunkt nachhaltig wirksamer Veränderungen sein
können. In Anlehnung an Andreas Reckwitz’ Begriff der »Zukunftsexplorationen« (Reckwitz 2016: 132) möchte ich Wirklichkeitsperforationen als eine
Praktik der Zukunftsgestaltung begreifen, die sich Zukunft als einem offenen
Möglichkeitsraum zeitlich vorgreifend annähert.
Als spielerische, ästhetische Praktiken können sie Räume gesellschaftlicher
Veränderungsprozesse schaffen, denn nur in der Überwindung des Gegebenen, wie es das Spielen ermöglicht, kann Wissen über die Bedürfnisse
und Lösungen für das Noch-nicht-Existierende und das in der gegebenen
Realität Noch-nicht-Gewusste in einer anderen Wirklichkeit erfahren werden.
Ob diese Praktiken ihr Wirkungspotenzial ausschöpfen können, liegt unter
anderem am Grad ihrer Verwicklung mit der Wirklichkeit.
Wie aber lässt sich nun mit Rollrasen die Welt verändern? Ist die transformative Wirksamkeit derartiger Praktiken nicht homöopathisch und harmlos angesichts der möglicherweise anstehenden Umwälzungen? Und was
hat das Ganze eigentlich noch mit Kunst zu tun?
Mit ästhetischer Praxis und künstlerischem Handeln allein ist sicher keine
große Transformation zu erreichen; gleichzeitig sollte aber das innovative
Potenzial dieser Möglichkeitsräume als künstlerischer Zukunftsforschung
nicht unterschätzt werden.
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Wirklichkeitsperforationen – Wege angewandter künstlerischer Zukunftsforschung
Ästhetische Praktiken, wie sie sich im PARK(ing) Day vollziehen, gehen viele
der aufgezeigten Wege, und dennoch fehlt es ihnen an Konzepten der Verstetigung und nachhaltigen Wirksamkeit. Ihr Impulscharakter mag potenziell
stark sein, doch fehlt es an einer Struktur, die die gewonnenen Erkenntnisse
verwertbar macht und angestoßene Wirklichkeitsprozesse nachhaltig am
Laufen hält. Wenn die erzeugte Durchlässigkeit der Wirklichkeit durch die Perforation sichtbar und erfahrbar wird, fehlt es, wie Paula Hildebrandt in ihrer
Dissertation Staubaufwirbeln. Oder die Kunst der Partizipation konstatiert,
vor allem auch an einem Instrumentarium zur »Aufzeichnung, Beschreibung,
Auswertung und Weiterverarbeitung« (Hildebrandt 2014: 228) der Erkenntnisse, die innerhalb einer derartigen Praxis erzeugt werden.
Weiterführend könnten sicherlich die Erfahrungen der Aktionsforschung
für die Verstetigung von Interesse sein. Insbesondere die Zusammenstellung
der Akteur*innen eines Realexperiments ist von entscheidender Bedeutung.
Das Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur in Stuttgart, in dem neben
Forschungseinrichtungen und Verwaltung auch zahlreiche Initiativen eingebunden sind, ist hier beispielhaft.4
Ob es sich bei diesen Arbeiten um Kunst, Sozialarbeit, Stadtraumentwicklung oder politischen Aktivismus handelt, ist nicht relevant, denn möglicherweise sind sie all das gleichzeitig und können nur so funktionieren. Entscheidender ist deren Potenzialität, einen Möglichkeitsraum anderer Zukünfte zu erzeugen, und die sich aus ihr ergebende gesellschaftliche Relevanz.
4
Siehe www.r-n-m.net
Thomas Christian Malorny
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84
Collect Me — Marlene Bart
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Die Stadt als städtisch-theatrale
Versuchsanordnung: Wie wollen
wir in Zukunft leben und welche
Stadt brauchen wir dafür?
Isabel Finkenberger
Das zweijährige Projekt Die Stadt von der anderen Seite sehen (Stadt sehen)
des Schauspiel Köln bewegte sich an der Schnittstelle von Theater, künstlerischer Praxis und Stadtentwicklung. Es war sowohl ein Pilotprojekt der
Nationalen Stadtentwicklungspolitik des Bundes als auch ein Kunstprojekt
– gefördert durch die Kunststiftung und das Land Nordrhein-Westfalen sowie
die Stadt Köln. Die Schnittstelle von Stadtentwicklung und Theater spiegelte
sich nicht nur in der Leitung wider, in der ich als Stadtplanerin mit der Theaterregisseurin Eva-Maria Baumeister zusammenarbeitete, sondern auch in
der Projektentstehung: Stadt sehen wurde vom Schauspiel Köln gemeinsam
mit der Sozialraumkoordination Mülheim-Nord und Keupstraße entwickelt.
Zusammengekommen waren wir durch den Auszug des Schauspiels aus
der Kölner Innenstadt. Das Opern- und Schauspielensemble am Offenbachplatz, in dem wir uns befanden, musste saniert werden. Da die Umbaumaßnahmen mindestens fünf Jahre dauern sollten, wurde nach einer Interimspielstätte gesucht, die wir auf der anderen Seite des Rheins im Stadtteil Mülheim
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fanden. Im Gegensatz zur shoppingdominierten Innenstadt gibt es an diesem Ort eine gelebte Nachbarschaft mit ihren entsprechenden Themen.
Der Stadtteil ist sehr heterogen, multikulturell und mit lokalen und translokalen Thematiken behaftet. Eine große Qualität des Stadtteils ist der Rhein;
Verkehr und Mobilität spielen eine wesentliche Rolle. Traurige Berühmtheit
erlangte Mülheim in seiner jüngeren Geschichte durch das NagelbombenAttentat des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) in der Keupstraße,
das nun über zehn Jahre zurückliegt aber dessen juristische Prozesse nach
wie vor andauern.
Einst eine selbstständige, protestantisch geprägte Stadt mit eigener Identität, ist Mülheim inzwischen ein Vorort von Köln, in dem sich Geschichte und
Sozialstruktur auch im Charakter der Bebauung ablesen lassen. Mit der aufkommenden Industrialisierung und dem damit einhergehenden Stadtwachstum wurde das Kölner Stadtgebiet in den 1920er Jahren so eng, dass eine
Reihe von Eingemeindungen notwendig wurde. Um die anderen Städte, aber
auch den neuen Stadtteil Mülheim und das dort rasant wachsende Kabelund Drahtwerk von Felten & Guilleaume – das Carlswerk – besser an die
Innenstadt von Köln anzubinden, wurde mit dem Eingemeindungsvertrag
der Bau der Mülheimer Brücke beschlossen, die durch ihre Gestalt und
Lage die historische Innenstadt von Mülheim am Rhein und damit einen
Großteil der Identität der Stadt noch vor dem Zweiten Weltkrieg zerstörte.
Heute, nach dem Niedergang der produzierenden Industrien und mit dem
Brachliegen großer Flächen in und um Mülheim bietet der Stadtteil ein
großes Transformationspotenzial und erlebt derzeit Entwicklungen, die ihn
künftig komplett verändern werden.
Die zentrale Frage unseres Projektes, die nicht nur uns, sondern viele Stadtakteur*innen und -bewohner*innen beschäftigt, war: Wie wollen wir in Zukunft leben und welche Stadt brauchen wir dafür? Wir erforschten, was ein
Stadttheater zu dieser Fragestellung beitragen kann. Wir starteten mit einer
offenen Struktur, deren Inhalte und Ergebnisse sich aus dem laufenden Prozess und gemeinsam mit den beteiligten Akteur*innen entwickelten. Das
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bedeutete zunächst, sich mit vielen Menschen zu unterhalten um herauszufinden, was für sie wichtige Themen sind. Wir gingen also bei Stadt sehen
nicht vom Theater aus, sondern vom Stadtteil und seinen Bewohner*innen.
In Planer*innen-Sprache formuliert arbeiteten wir mit bottom-up-Fragestellungen und -Themen. Dabei befanden wir uns in einem Spannungsfeld mit
der klassischen Stadtentwicklung, die ihre eigenen Methoden und gesamtstädtischen Ideen für den Stadtteil innerhalb der wachsenden Großstadt
Köln hat.
Nach einem halben Jahr Vorbereitung mit vielen Recherchen, Ortsbegehungen, Einzelgesprächen und thematischen Salons starteten wir im März
2016 mit einem großen Aufbruch in die Zukunft – unserer ersten Theatralen
Konferenz . In zehn unterschiedlichen Workshops mit Künstler*innen, Planer*innen, (lokalen) Expert*innen und vielen interessierten Teilnehmenden
machten wir uns vom Theater aus auf den Weg, Mülheim zu erkunden . Wir
schauten, welche Wünsche vor Ort bestehen und wie wir die Zukunft daraus
gestalten können. Die einzelnen Workshops suchten nach Mülheimer Identitäten, Zukunftsszenarien, nach Nachbarschaften, öffentlichen Räumen und
Teresa Ruhstaller: Oder in der Sprache der
Sozialen Arbeit: man geht von den Bedürfnissen der Bewohner*innen aus und erarbeitet das
Projekt partizipativ. Zum Beispiel im Sinne
der Soziokulturellen Animation (Schweiz), die
sich gesellschaftlicher Ungleichheit und
Ungerechtigkeit zuwendet und Menschen
beziehungsweise Gruppen bei der Einforderung
ihrer Bedürfnisse unterstützt und ermächtigt.
Mit dem Ziel, dass alle Menschen die Chance
auf ein gelingendes (Zusammen-)Leben haben,
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orientiert sie sich an den Prinzipien der
Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Die gesellschaftliche Aufgabe der
Soziokulturellen Animation ist die Förderung
des demokratischen, zwischenmenschlichen
Zusammenhalts.
Dazu existieren verschiedene Haltungen
und Methoden, besonders passend im Kontext
des Beitrages ist die Sozialraumorientierung
beziehungsweise die reflexive räumliche
Haltung (Kessl, Reutlinger 2010): Es geht um
Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung
Mülheimer Tönen, nach Ritualen, geheimen Orten und Geschichten. Nach
einem arbeitsreichen und sehr produktiven Tag kehrten alle ins Theater zurück, um sich die Ergebnisse der einzelnen Workshops gegenseitig zu präsentieren. Nicht nur das Engagement der Teilnehmenden an dem Tag, sondern auch die vielen Rückmeldungen hatten entscheidenden Einfluss auf die
weitere Projektstruktur. Insbesondere erarbeiteten wir ein neues Format der
»Komplizenschaften«1, in dem sich Künstler*innen mit lokalen Akteur*innen
und Bewohner*innen verbündeten, um über eineinhalb Jahre gemeinsam ein
künstlerisches Projekt zu entwickeln. Die Theatrale Konferenz zeigte uns
aber auch, dass wir eine direktere Präsenz im Stadtteil brauchten, um sichtbar zu sein und wirklich wirksam werden zu können. Dies realisierten wir in
Form einer Bauwagen-Dependance, die auf dem Festplatz unter der Mülheimer Brücke ihren ersten Standort fand und im Laufe des Projektes immer
1 In Anlehnung an Ziemer, Gesa
(2013): Komplizenschaft. Neue
Perspektiven auf Kollektivität,
Bielefeld: transcript.
die Notwendigkeit vorherrschende Machtverhältnisse zu reflektieren, sich zu positionieren
und die eigene (soziale) Arbeit zu kontextualisieren. Angestrebt wird die Kenntnis über
die Raumverständnisse aller Beteiligten sowie
die Aspekte, die dadurch ausgeblendet werden.
Isabel Finkenberger
Die anzuwendenden Methoden müssen je nach
Situation gewählt und angepasst werden. Ziel
ist die Eröffnung oder Erweiterung der
Handlungsoptionen für die Menschen vor Ort
und besonders jene, die ihnen bisher nicht zur
Verfügung gestanden haben.
Außerdem möchte ich an dieser Stelle auf
Maria Lüttringhaus’ Stufenmodell der Partizipation verweisen (Lüttringhaus 2000).
89
wieder umzog. Die Dependance selbst war Infopoint, Treffpunkt und Präsentationsort von Recherchen und Zwischenergebnissen der beteiligten
Künstler*innen.
Charakteristisch für unsere kuratorische Arbeitsweise und unser Interesse
waren Themen, die künstlerische und theatrale Praxis, Stadtentwicklungsfragen und die lokale Bevölkerung miteinander verbanden: Wir untersuchten
Mülheim auf ganz verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Maßstäben. Wir schauten uns sehr genau Orte an, an denen wir unterschiedliche,
großartige Situationen vorfanden. Wir beschäftigten uns mit dem öffentlichen Raum, mit Mobilität und mit der Frage, wer diesen öffentlichen Raum
wie nutzt. Wir recherchierten mit Hilfe künstlerischer Formate und setzten
uns mit den Geschichten der Menschen und mit Atmosphären auseinander.
Dabei waren wir grundsätzlich offen für Neues: neue Ideen, Themen, Beteiligte und Formate. Und genau das ist es, was Stadt sehen ausmachte.
Zusätzlich zu den von uns angesprochenen Künstler*innen und lokalen
Akteur*innen suchten wir zum Beispiel in einem Open Call nach kleinen
Projekten, die sich dezidiert mit dem Thema »Die andere Seite« auseinandersetzten. Ein Gewinnerprojekt war die Mülheimer Zukunftskiste von Dana
Kurz, Nikolaus Hillebrand, Kyne Uhlig und Ulrike Rhode. In diesem Projekt entstand ein Trick-film aus Images, die in mehreren partizipativen Workshops
mit unterschiedlichen Beteiligten und anhand des konkreten Kontextes mögliche Zukünfte entwarfen.
Die Komplizenschaft Vor-Ort des Theaterkollektivs subbotnik arbeitete wiederum ganz anders mit den vorgefundenen Situationen. In unserer zweiten
Theatralen Konferenz im Oktober 2016 probten sie ihre Bilder-Oper Die
Trompeten von Jericho mit einem eigens hierfür gegründeten Bürger*innenorchester öffentlich unter der Mülheimer Brücke und konfrontierten die
Zuschauer*innen mit ganz konkreten Fragestellungen und neuen, künstlerischen Realitäten . Neben unserem Publikum kamen hier Leute dazu, die
sonst gar nichts mit Theater zu tun haben, sondern zufällig vor Ort waren.
Und gerade dann wird es wirklich spannend: wenn das Theater seinen Ko-
90
Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung
kon verlässt und raus in die Stadt geht, sich zur Debatte stellt und Menschen
zusammenbringt, die sich sonst nie begegnet wären. Stadtentwicklung funktioniert also auch ohne konkret-räumliche Veränderungen: Im atmosphärischen Aufladen und im Erleben und Erinnern von Situationen erfährt der
Raum eine Neucodierung, die auch in Zukunft zu einer anderen Identifikation
mit dem konkreten Ort führt.
a,b
Nach Lefèbvre (Lefèbvre 1977) ist Raum
Raum als eine relationale (An)Ordnung von
kein unveränderbarer, starrer Behälter, indem Lebewesen und sozialen Gütern an einem Ort
sich das Leben abspielt, sondern neben seiner
(Löw, Steets, Stoetzer 2008).
physischen Beschaffenheit das Produkt
sozialer Praxis. Menschen besetzen Räume mit
eigenen Vorstellungen, Erinnerungen und
Fantasien. Raum ist somit ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse und jede Gesellschaft
produziert ihren spezifischen –sozialen– Raum
selbst. Die Soziologin Martina Löw führte
diese Überlegungen weiter und beschreibt
TR
Isabel Finkenberger
91
c
Fasst man den Prozess von Stadt sehen zusammen, liest sich das Projekt
wie folgt: Wir begannen mit dem Kennenlernen, schauten uns die Dinge
genau an, kristallisierten Themen heraus und machten uns auf den Weg. Im
Laufe dieses Prozesses wurden neue künstlerische Formate entwickelt, stießen viele Künstler*innen und (lokale) Expert*innen dazu, fanden unterschiedliche Veranstaltungen und Testphasen statt. Als Abschluss führten wir im
Juli 2017 ein mehrtägiges Festival durch, um Die Stadt der Zukunft zu bauen.
Ein klarer Vorteil des Theaters ist, dass es schnell handeln und Situationen
einfach behaupten kann. Es kann Ideen weiterdenken, die schon vorhanden
sind. Vor allem ist es aber in der Lage, sie dann direkt umzusetzen: Zum
Beispiel konnten wir eine viel diskutierte Rheinfähre für die Festivaltage
etablieren oder eine rechtsrheinische Stadtbahn bauen, die zahlreiche Menschen schon lange forderten. Wir nutzten Kochen und Essen als kommunikatives Instrument und bauten eine Agora mit unterschiedlichen räumlichen
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Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung
Situationen und Atmosphären. Die Agora ist ja von jeher ein zentrales Prinzip von Theater: ein Ort, an dem Themen gemeinsam verhandelt und an dem
Politik und Gesellschaft gemacht werden. Neben programmatischen und
räumlichen Setzungen konnten wir eben dieses Verhandeln im Rahmen von
Diskurs-Veranstaltungen generieren.
Die Stadt der Zukunft entstand unter der Mülheimer Brücke – einem äußerst
identitätsstiftenden und zentralen Ort für Mülheim, an dem gerade viel in
Bewegung ist. Die Brücke soll in Kürze saniert werden und in etwa fünf
Jahren fertig sein. Mit unserem Festival wollten wir aber schon vorher einen
Ausblick auf eine mögliche Nutzung der Brückeninnen- und Freiräume
geben und damit unser gesammeltes Wissen auch für den Planungsprozess während der Sanierung anbieten. Wir wollten vor Ort mit dem Stadtplanungsamt und vielen Aktiven in Köln in den Diskurs treten, um zu überlegen: Was bedeuten Orte eigentlich für uns? Wie können wir das, was wir
in Situ gelernt haben, in zukünftige Prozesse einbringen? Und was können
wir nach der Sanierung zu diesem Ort beitragen?
Wir sahen das als Teil unserer Aufgabe, da wir als städtische Institution
einen guten Zugang zu anderen Ämtern hatten und daher aus einer anderen Position und mit einer anderen Ernsthaftigkeit mit den Verantwortlichen
diskutieren konnten. Theater und Kunst können die Rolle der Spinne im
Netz übernehmen: Sie können inhaltlich arbeiten und Schnittstellen definieren, aber auch neue Netze zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Kunstschaffenden stricken. Sie setzen und kommunizieren Themen und Inhalte,
die auf dem aufbauen, was vom Stadtteil gelernt wurde. Sie sind in einer strategischen und taktischen Rolle, weil sie ganz konkret eingreifen und die
Möglichkeit haben, Dinge erlebbar zu machen. Theater und Kunst können
diese Dualität zwischen Institution und Angebundenheit an das große
Akteur*innennetzwerk gut ausspielen. Schön ist an dieser interdisziplinären
Arbeit, dass man sowohl zwischen unterschiedlichen Rollen switchen als
auch die jeweils eigene ›Sprache‹ sprechen kann und so je nach Situation
unterschiedliche Personen die Verantwortung übernehmen.
Mark Granovetter unterscheidet zwischen
starken und schwachen Bindungen. Starke
Bindungen entstehen durch große Zeitinvestition, Vertrauen in eine Beziehung oder durch
emotionale Intensität. Granovetter stellt dabei
eine Tendenz zur sozialen Schließung fest
und schlussfolgert, dass schwache Bindungen
mehr Informationen von außen zirkulieren
lassen, da sie als Brücken dienen können.
(Granovetter 1973) Ähnlich unterscheidet
Putnam zwischen brückenschlagendem und
TR
Isabel Finkenberger
bindendem Sozialkapital (bridging und bonding
capital). Das brückenschlagende Kapital
erleichtert den Zugang zu externen Ressourcen
und fördert die Identitätsbildung großer
Gruppen. Das bindende Sozialkapital verstärkt
die Kohäsion und die Identität kleiner Gruppen.
93
Theater kann Vehikel sein, aber auch Ermöglicher und lokalen Interessen
eine Stimme geben. Theater hat, im Gegensatz zu vielen anderen Stadtmachenden, einen interessenbefreiten Zugang zu lokalspezifischen Themen.
Künstlerische Praxis kann Menschen für Themen und Inhalte begeistern,
an denen sie erst einmal kein direktes Interesse haben. Vor allem aber kann
Theater Geschichten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen. Mit unserem Projekt Die Stadt von der anderen Seite sehen wollten
wir zu dem Menschen dazu bringen Dinge zu vermissen, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass diese überhaupt möglich sind. Das ist ein großes
und relevantes Ziel und birgt ein riesiges Potenzial: für die künstlerische und
theatrale Praxis und für den konkreten Ort Mülheim.
Anmerkung der Herausgeber*innen:
Der Vortrag fand vor Abschluss
des Projektes im Juli 2017 statt und
wurde in Abstimmung mit der
Autorin für die Publikation redaktionell überarbeitet.
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Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung
Isabel Finkenberger
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Digitale Kulturen zwischen
ewigem Update und
sta(tis)tischer Zukunft
Irina Kaldrack
Mein Beitrag betrachtet die Frage der un/gewissen Zukünfte aus der Perspektive der digitalen Kulturen und sucht nach daraus folgenden Einsatzpunkten des Transformation Designs. Der Begriff digitale Kulturen zielt auf
das Wechselverhältnis zwischen Technologien, Praktiken und Wissensformen ab. Die Technologien, die unsere Lebenswelt durchziehen, werden auf
Basis von bestimmtem Wissen in und durch Praktiken entwickelt. Sie werden
genutzt, umgenutzt und/oder modifiziert. In Praktiken des (alltäglichen)
Umgangs werden die Technologien erst in den Alltag eingebettet, was die
Praktiken wie auch die Technologien ändert. Gleichermaßen verändert sich,
wie wir selbst Wissen produzieren, wie wir es konsumieren und wie Wissen
überhaupt strukturiert ist. Beispielsweise lässt sich fragen, ob das, was
Wissen ist, durch Kausalität oder Korrelation bestimmt ist, oder inzwischen
durch die Bandbreite zwischen faktisch und postfaktisch, um einige der entscheidenden Schlagwörter in der Diskussion um Wissen zu nennen.
96
Meine Hauptthese ist, dass es in digitalen Kulturen zwei dominante und
sehr unterschiedliche Bezugnahmen auf un/gewisse Zukünfte gibt. Erstens:
Nutzer*innen von Endgeräten leben im dauernden Update oder auch im
ewigen Beta, die unmittelbare Zukunft ist schon ungewiss. Die Gegenperspektive ist zweitens: Die Verfahren der predictive analytics und damit der
Einzug der Prognose in unsere alltäglichen Umgebungen machen mögliche
Zukünfte operabel – und damit gewiss. Aus meiner Perspektive bedeutet
dies, dass Digitalisierung zwei gegensätzliche Formen des Umgangs mit
Zukunft erzeugt.
Gelebte unsichere Zukunft
Digitale Kulturen sind gelebte unsichere Zukunft. Die folgenden Aspekte
verdeutlichen dies. In einem mittleren und persönlichen Zeithorizont und
bezogen auf die Zukunft jeder einzelnen Person ist die Zukunftsplanung
auf Grund der gegenwärtig ablaufenden Automatisierungsvorgänge ausgesprochen unsicher. Die digitale Revolution automatisiert körperlich-handwerkliche und zunehmend auch kognitive Arbeiten. Das bedeutet, dass
einer heutigen Berufsausbildung schon morgen der Beruf abhanden gekommen sein kann. Weniger persönlich, aber noch im mittleren Zeithorizont
finden Veränderungen in der technisch-medialen Landschaft statt, denn die
Zukünfte von Medien sind gleichfalls recht ungewiss. Speichermedien wechseln und Geräte wandeln sich. In digitalen Kulturen ändert sich sehr schnell,
was überhaupt genutzt wird: Facebook, Twitter, Tinder, Snapchat – you name
it. Es geht um rasante Veränderungen in der technisch-medialen Landschaft
und in den Hypes, die darin aufkommen und abebben.
In einem kurzen Zeithorizont sind digitale Kulturen das ewige Beta und
ständige Update. Wie sieht mein Endgerät oder der von mir genutzte Dienst
nach der nächsten Aktualisierung aus? Wo verbirgt sich nun die Funktion
XY? Es gibt in digitalen Kulturen überhaupt keinen stabilen Zustand, sie sind
der ständige Wandel ins Ungewisse, dem man sich nicht entziehen kann.
Nutzer*innen müssen sich permanent neu orientieren und neue Routinen
des Umgangs finden.
97
Prognostizierte Gewissheit
In der Gegenperspektive erscheint die Zukunft gewiss, als Fortschreibung
der Gegenwart in der Prognose. Die Versprechen von Big Data und predictive
analytics sind Voraussagbarkeit und Kontingenz-Minimierung. Zugespitzt
lässt sich dieser Zugriff folgendermaßen charakterisieren: Die gesammelten
Daten, die sich auf Vergangenheit oder gerade vergangene Gegenwart
beziehen, werden mittels statistischer Verfahren ausgewertet. Es werden
Mittelwerte gebildet und nach Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Parametern gesucht, Muster identifiziert und Ähnliches. Dabei geht
es im Wesentlichen darum Regelmäßigkeiten und Besonderheiten – ergo
Normales und Außergewöhnliches – in den Daten zu identifizieren um Prognosen zu erstellen. Mit diesen Prognosen schreibt oder verlängert man die
gerade im Vergehen befindliche Gegenwart in die Zukunft hinein. Dabei
werden selbstlernende Verfahren zur Erkennung von Mustern durch die
erhobenen Daten trainiert und getestet. Solche prognostischen Verfahren
bilden die Basis, um in einem weiteren Schritt einerseits Worst Cases zu verhindern oder unwahrscheinlicher zu machen, andererseits gewünschte Ereignisse zu ermöglichen. Es werden Angebote gemacht, die das Verhalten
Einzelner in Richtung des Erwartbaren, Normalen und Gewünschten verstärken oder Maßnahmen ergriffen, die das Eintreffen eines unerwünschten
Ereignisses unwahrscheinlicher machen sollen.
Das Zusammendenken der verschiedenen Zukunftsbezüge ergibt ein
recht unerfreuliches Bild: Die Zukunft implodiert in eine Art rückgekoppelte
Gegenwart, in der Tendenzen verstärkt oder gedämpft werden. Sie wird
abgesichert und stillgestellt. Dies geschieht allerdings umgekehrt so, dass
die Gegenwart in ein ewiges Beta verflüssigt wird, in der das Update immer
schon lauert und sich mediengestützte Umgebungen und digitale Kulturen
dauernd und nicht vorhersehbar ändern. Entsprechend müssen Menschen
als Nutzer*innen ihr Verhalten in diesen instabilen digitalen Kulturen ständig wandeln und ihre Routinen ändern. Dies erzeugt wiederum neue Daten
und Muster, also eine größere Variabilität, durch die Vorhersagen differenzierter werden.
98
Digitale Kulturen zwischen ewigem Update und sta(tis)tischer Zukunft
Mit dieser Darstellung skizziere ich ein Szenario, in dem es wenig Spielraum
zwischen den beiden Bezugnahmen auf un/sichere Zukünfte gibt. Ich habe
die beiden Gegensätze – die prognostische Stabilisierung der Zukünfte und
die Instabilisierung der Gegenwart – miteinander verklebt. Damit beschreibe
ich die gegenwärtige Situation als eine Art behavioristisches InterventionsLabor der Zukunft. Der Mensch wird darin zu einer Wetware1-Blackbox: Man
kann nicht hineinschauen, aber ihr Verhalten erzeugt Daten. Interventionen
in die Umgebung destabilisieren ihr Verhalten, was neue Daten erzeugt und
die Zukunft gewisser macht, weil die Prognosen besser werden.
Einsatzpunkte des Transformation Designs
Folgt man meiner zugespitzten Diagnose, dann stellt sich für das Transformation Design die Frage, ob es möglich wäre, dieses ganze (Macht-)Gefüge
zu ändern, das durch die Verschränkung der zwei Zukunftsbezüge in Digitalen Kulturen entsteht.
Der Zusammenhang kann durch das Nicht-Vorhersagbare, aber Umwälzende zerschlagen werden, also durch Transruption und Zäsur – durch das
Desaster. Für uns wäre das jedoch eher Revolution als Transformation und
zudem schwierig zu gestalten. Wir können Transformation aber auch im
Sinne der Great Transformation nach Polanyi2 begreifen – also als eine umfassende Umwälzung, die aber durch die Summe von kleinen Veränderungen entsteht und vorab nicht vorhersehbar war. Mein Verdacht ist, dass
man das auf die skizzierte Situation in digitalen Kulturen schlecht übertragen kann. Die Prognosen oder auch Simulationen, die das gegenwärtige
Verhalten mittels ›Verdatung‹, statistischer Auswertung und Angeboten in
die Zukunft verlängern, versuchen ja genau, die unvorhersehbaren Änderungen einzuhegen und zu kapseln. Ob das gelingt, ist die Frage. Fraglich
ist aber auch, ob es in dieser Situation richtig ist, nur die Instrumente umzunutzen, also immer noch behavioristisch in Wetware-Blackbox-Umgebungen zu intervenieren und umzudefinieren, was gewünscht und was ungewünscht ist. Dies erschiene mir als eine große, unschöne kybernetische
Steuerungsphantasie.
1 Wetware bezieht sich auf die
Begriffe Hardware und Software und
bezeichnet biologische Lebensformen.
2 Siehe Karl Polanyi (1978): The
Great Transformation. Politische und
ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen,
Frankfurt am Main: Suhrkamp; engl.
Originalausgabe 1944.
Irina Kaldrack
99
Doch was ist, wenn wir Transformation noch mal anders verstehen, nämlich
als Verwandlung, also nicht als Revolution, sondern als Verzauberung?
Dann wären wir so etwas wie eine Zauberschule, aber ich fürchte, dass ich
nicht zaubern und das auch niemandem beibringen kann. Das ist leider
alles sehr frustrierend. Wir können jetzt einerseits sagen: Meine Diagnose
ist falsch, ich sitze quasi verschwörungstheoretisch einer Art Steuerungsparanoia auf. Oder aber es geht darum, die Frage anders oder eine andere
Frage zu stellen. Eine solche Frage könnte das ganze Verhältnis von Daten,
Verfahren, selbsttätigen Umgebungen und Verhalten umstülpen. Bedeutet
das am Ende also vielleicht doch in gewisser Weise zu zaubern? Ich habe
wie gesagt weder die Frage, noch die Antwort. Ich erhoffe mir jedoch, durch
die verschiedenen Beiträge in diesem Band Ansätze dafür zu finden.
100
Digitale Kulturen zwischen ewigem Update und sta(tis)tischer Zukunft
Irina Kaldrack
101
102
PTV-G4-B18 — Daniel Kuge
103
The Metamorphosis of
the Designer:
A Prerequisite to Social
Transformation by Design
Alain Findeli
The title of this presentation is drawn from an essay by German Studies
professor and Goethe expert Frederick Amrine titled The Metamorphosis
of the Scientist (Amrine 1998). His central argument is that if one carries
out a scientific inquiry with a Goethean phenomenological approach, a
metamorphosis takes place in the inner world of the researcher. For his
Theory U Claus Otto Scharmer transferred what Johann Wolfgang von
Goethe achieved for natural phenomena, namely physics and biology, to the
observation of human individual and collective phenomena and situations
(Scharmer 2008). Scharmer went a step further proposing a new scientific
approach to understand the economic, political, ecological, and spiritual
aspects of our world: he introduces a design method to transform existing
situations into preferred ones. This essay shows how the Theory U model
can be considered as a radically different design theory and methodology
from common approaches used and taught in design. Claus Otto Scharmer
and Katrin Käufer further state in their 2013 published book Leading from
104
the Emerging Future: From Ego-System to Eco-System Economies:
»The crisis of our time isn’t just a crisis of a single leader, organization,
country, or conflict. The crisis manifests across all countries in the form of
three divides: the ecological divide – that is, the disconnect between self
and nature – the social divide – that is, the disconnect between self and
other – and the spiritual divide – that is, the disconnect between self and
self. The crisis reveals that the old underlying social structure and way of
thinking, the old way of institutionalizing and enacting collective social
forms, are dying.«
From crisis to preferred situations
Strolling through any bookstore today, the visitor might come up with the
idea of setting up a specific section about crises. Indeed, today we witness
crises all over the world. The Braunschweig master’s program Transformation Design (since 2015) suggests the hypothesis that design might be a
promising approach in the face of a present time shattered by (a) crisis. Like
the curriculum in Braunschweig, the master’s program in Nîmes, called
Social Design or Social Innovation by Design (since 2011) also deals with
crisis issues of contemporary society from a design perspective. The question is: What can Design do about all these crises? Although we all expect
answers, I will not give any. Instead I will only make a few proposals based
upon the five-year experience with our program. Going back to Herbert
Simon’s famous definition that »design is about devising courses of action
for changing existing situations into preferred ones« (Simon 1996 quoted
by Jonas 2016), it is necessary to ask who defines what a preferred situation
is and how this definition is to be arrived at. Could designers be the soughtafter experts? Under which circumstances could they turn the world into a
more habitable place, if one accepts that habitability sets the designers’
task? They contribute to making the world more livable concerning all different human experiences, not only physical and biological, but also psychological, social, and spiritual. But we are not sure if designers are the solution. So,
who is going to decide what a preferred situation or a more livable world is?
Jacqueline Hen: Schlendern/Langeweile:
An unserem Verhältnis zur Langeweile lässt
sich die von Scharmer beschriebene Krise
unserer Zeit, besonders die der Spirituellen
Teilung in Zusammenhang mit den sozialen
und ökologischen Verwerfungen, ablesen.
Langeweile – nicht als Methode sondern
Verhältnis zur Zeit – besitzt eine transformative Kraft abseits effizienz-motivierter
Verwertungslogiken. In diesem Sinne laden die
folgenden Kommentare zum Abschweifen ein.
105
Lawrence Kohlberg, an American psychologist inspired by Jean Piaget’s
work on the stages of cognitive development, is best known for his moral
theory that defines six steps of moral development in dependence to age,
knowledge, individual reasoning and societal experiences (Kohlberg 1981).
He came to the conclusion that statistically only few individuals manage to
reach stages 5 and 6, which corresponds to an extremely high capacity in
empathy, altruism and devotion to their fellow citizens. His research seems
to be an appropriate approach to morality. Still, considering his model, I cannot see why designers would score better than others on that scale. It seems
clear that they are no more competent in making moral and value decisions
about preferred situations than anyone else. However, since designers
cannot ignore moral issues, a problem appears, which Scharmer’s model
tries to dissolve. His model, called Theory U (Scharmer 2008), is worth considering as a theory and methodology about how to make decisions towards
preferred situations. The following examples reflect my personal experience of using this model in design education to train social designers. My
aim is to elaborate on how Theory U differs from methodologies usually
taught and adopted in design schools.
From the Bremen Model to Theory U
The Bremen Model (Findeli/Bousbaci 2005), first presented in 2004 in
Bremen in a keynote lecture at the International Conference of the European Academy of Design, describes the historical development of design
theories and their change in focus over time. The research derived three
main periods respectively focusing on the actors of the design project, the
process of production, and the resulting object or product, corresponding
to indicating an ethical, a logical, and an aesthetic philosophical concern
stage (see ). In the conclusion, we asked what the next stage of design
theory could be. We came up with two hypotheses: Either we are heading
towards a »meta aesthetic«, or there will be what we then called »ontology«
on the upstream dimension (the generative or conception side) and »anthropology« (in its philosophical sense) on the downstream dimension (the expe-
106
The Metamorphosis of the Designer
riential or reception side). When some years later Otto Scharmer published
his Theory U, we found out that his model was, if somewhat superficially, a
more developed version of what our model described and our hypothesis
hinted at. What we named the next stage of the model is the key issue of
Scharmer’s model, what he calls »the blind spot«, which had finally given
sense to my own »Gulasch.« In what follows, I will focus on understanding
the specificity of his theory and on the way it will radically change the way
social designers think and act.
Theory U is structured around three key concepts, namely: the structure
of attention and intention (central to any design project), the social field, and
the blind spot. Briefly glancing at these concepts, Scharmer points out that
any project consists of the outcome of a project (the deliverable), the methodology used to carry out the project and the social field including the people
involved in the project (its stakeholders). Incidentally, one observes that this
corresponds precisely to the three stages exemplified by the upstream half
of the Bremen Model ( : object process actors). What remains hidden,
however, is the inner place from which the project holders operate. The
blind spot in the social field is the fundamental concept of Theory U. Scharmer argues that the success of an intervention depends on the inner condition of the people who carry out the project. In other words: The capacity to
appreciate the beauty of a natural landscape depends on the richness of a
person’s inner landscape. If the inner landscape is poor, one will be missing
the aesthetic capacity to appreciate the beauty outside of oneself. Furthermore, Scharmer points out that presently in the curriculum of future managers, leaders, and indeed of designers might we add – there is no place
where the inner landscape of the students is consciously and pedagogically
developed. As a consequence, they are not prepared to discover their blind
spot and work on it in order to improve their epistemological, methodological, and moral capacities to make aesthetic judgments when they take decisions about preferred situations in their professional domain and expertise.
I am firmly convinced that this issue, namely the relationship between the
outer world and the inner world, is of highest relevance for the future of
design education and design practice.
»Langeweile ist ein warmes graues Tuch,
das innen mit dem glühendsten, farbigsten
Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch
wickeln wir uns wenn wir träumen. Dann sind
wir in den Arabesken seines Futters zuhause.
(…)« (Benjamin 1982: 161)
JH
Alain Findeli
107
The eclipse of the object in design theories
(Bremen Modell, after Findeli & Bousbaci, 2005).
Actors
Process
Object
et
l og
deliberation upon
means (method)
c
ics
i
eth
Function
s
ic
deliberation upon
ends (values)
aesth
deliberation
upon forms
Experience
Modes of living
Theory U (Scharmer 2008).
DOWNLOADING
patterns of the past
SEEING
with fresh eyes
SENSING
from the field
PERFORMING
achieve results through
practices, infrastructures
access
your...
suspending
redirecting
embodying
open
mind
open
heart
enacting
PROTOTYPING
co-create strategic
microcosms
CRYSTALIZING
vision and intention
open
will
letting come
letting go
who is my self?
what is my work?
PRESENCING
connecting to source
co-sensing
108
co-presencing
co-creating
The Metamorphosis of the Designer
Designers, especially those trained in dealing with complex models, are
more familiar with what Scharmer calls the social field, that is the network of
connections through which the stakeholders of a given system relate, converse, think, and act together. It is just another way of talking about complex
systems, specifically social systems. The social complexity results from the
difference and divergence in the interests, cultures, mental models, and the
Weltanschauungen that the various stakeholders of a situation bring into
play. Scharmer calls social grammar the set of hidden rules, structures, and
inflection points that enable certain types of evolution and emergence to
happen in the system. Looking at the graphical representation of Theory U
the central column ( , open mind, open heart, open will) shows the three
different types of structure of attention and intention involved during a project.
To sum up: Currently there are more than eighty design methodology models
available to describe what they are or should be about. What first appeared to
be just another design thinking or design methodology model schematized in
an original U shape, turned out to bear and suggest some new qualities and
characteristics which I will outline in the following paragraphs.
Comparing Theory U with the Double Diamond
The Double Diamond or 4D design process model ( : discover, define, develop, deliver) is currently the most widely used in design education (Design
Council, 2005). Despite its deficiencies, it has a hands-on character and a
pedagogical virtue that makes it very suitable for bachelor students to begin
with design (thinking). If we superimpose the Double Diamond and Scharmer’s unfolded U model1, we observe approximately the same stages and
concepts in both models . However, there is a great difference: first, it happens to be somewhat ›flat‹ if we consider what is experienced by progressing through the different stages (the discover, define, develop, and deliver
steps are conceived as predominantly strictly cognitive abilities), whereas
the latter discloses a certain human depth by differentiating three anthropological/experiential dimensions corresponding to the three main faculties of the human psyche, respectively thinking (the cognitive), feeling (the
1 A first original feature of Theory
U is that it contains both a positive
and a negative counter-model,
the latter presenting why the world
does not function as it should. It
describes more accurately why we
are in a state of crisis. Reading
Scharmer's articles in the Huffington
Post (2018), where he comments
on some recent and burning political
decisions, one realizes that his
aim is to propose an alternative to
current capitalism.
Alain Findeli
Als Pendant zur Vita contemplativa (dem
beschaulichen, in Gedanken versunkenen
Leben) steht die Vita activa, (das tätige Leben)
(Arendt 2007; Han 2009:87ff). Beide Begriffe
sind aus dem christlichen Mönchstum
stammende Ideale, die in einem ausgewogenen
Gegenspiel zu einem ›Guten Leben‹ führen
sollen. Byung-Chul Han überführt diese Phänomene ins Profane und versucht mit ihnen
eine Lösung für unsere heutige Zeitkrise zu
formulieren. Mit der Absolutsetzung der ...
JH
109
affective), willing (the conative) . On the left-hand side of the U ( : downloading, seeing, sensing, presencing), designers are confronted with attitudes and perspectives requiring specific anthropological and experiential
competences, the same applies to the right-hand side of the U (also : presencing, crystallizing, prototyping, performing). This is precisely what constitutes the main difference between the two models since it requires that not
only the designers, but all stakeholders are invited, through a carefully controlled process, to immerse their selves into parts of their inner world, which
otherwise stay neglected or even unknown (thinking, feeling, willing). Taking
this seriously has indeed a direct impact on future design education, consequently on the required competences of design educators.
a Double Diamond Model
(after Design Council 2005).
general
problem
specific
problem
specific
solution
research
insight
ideation
prototype
discover
define
develop
deliver
b superimposition of the Double Diamond
model and the unfolded U model.
4
1
2
1
2
110
3
3
5
4
6
5
7
The Metamorphosis of the Designer
The anthropological significance of Theory U.
open
mind
1
open
heart
2
3
open
will
4
7
6
5
presencing
Goethe’s phenomenology
The second aspect of Scharmer’s epistemological stand was borrowed from
Goethe’s phenomenology (Goethe 1989, Steiner 1987). Scharmer used
Goethe’s methodology and epistemology, developed to describe and understand the mineral, vegetal, and biological worlds, to transfer them into the
social world and its complexity. The key concepts of Goethean phenomenology are: (1) delicate empiricism (zarte Empirie); (2) intuitive power of judgment (anschauende Urteilskraft); and (3) archetypal phenomenon (Ur-Phänomen). There is a great difference between Goethean epistemology and
what is considered ›standard‹ scientific methodology. The shape or configuration (Gestalt) of any phenomenon, for instance a social phenomenon, is
considered the consequence of two counter forces: (1) the forces of contextual nature, namely the social, economic and political forces; (2) the social
phenomena, which have inner forces, meaning they have an intentionality,
or in other words a project of their own. Since the task of designers is to deal
Vita activa ging auch die ausschließlich negadem Takt des Produktivitätsparadigmas fallen
tive Konnotation des Begriffes der Langeweile
und ihrer Eigenrhythmik folgen, affrontieren
und begleitender Phänomene der Prokrasden Ökonomismus. Gerade diese kontemplativen
tination, welche heute als Zeitverschwendung
Elemente aber sind essentiell für die menschliche Existenz, denn sie geben uns die Möglichgelten, einher. Wo früher das Verweilen
und eine lange Weile haben positiv behaftete
keit zur Eigen- und Weltreflexion. Die gänzliche
Handlungen und ein fester Bestandteil des
Verbannung »besinnlicher« (Ebd.: 107) Handlunalltäglichen Lebens waren, die ohne ein
gen aus unserem Leben und der Degradierung
schlechtes Gewissen ausgeübt wurden, ist heute der Dinge zu herstellbaren Objekten, führt nicht
nur zu einem Verlust der Zeitlichkeit, sondern
das Gegenteil der Fall. Handlungen wie das
lässt uns selbst zu geistlosen Dingen werden.
Trödeln, der Müßiggang et cetera, welche aus
Alain Findeli
111
with these two sets of forces, it is necessary to recognize and understand
them phenomenologically. A detached attitude is fruitless for this specific
kind of purpose. Instead, a personal engagement towards the phenomenon
is necessary, e.g. through ethnographic and empathic inquiries. According
to Goethe, »Every new object, well considered, opens up a new organ in us«
(Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns
auf) (Goethe 1989). Instead the standard, supposedly ›objective‹, approach
of scientific research requires the observer to be situated outside of the
phenomenon, using his or her cognitive abilities exclusively, if possible, with
the help of algebraic manipulation. In phenomenology the relationship between the observer and the phenomenon is a crucial factor. The idea is to
merge with the phenomenon to understand its core, meaning, its very
own systematic logic, completely excluding the observer’s personal logic.
The problem is that phenomena cannot communicate whether in spoken or
written form, so that the observer must so to speak ›lend‹ his or her consciousness to the phenomenon, enabling it to speak and report through them:
»This is what I actually am, this is where I want to go, these are my concerns,
this is my project.« Because the observer needs to mobilize, not only his or
her cognitive but also affective/emotional and conative/willing capacities
for the inquiry to be successful. Such phenomenological practices actually
transform the observer, »opening up a new organ« to perceive phenomena
as mentioned above. If such a transformation did not take place through
experience, it would not be phenomenological at all. The metamorphosis of
the scientist-phenomenologist, in our case the designer, is therefore an essential criterion. Assessing an observation is necessary to determine, whether it is faithful to the phenomenon or only a projection of the observer onto
the phenomenon. This is precisely the point where Scharmer’s and Goethe’s
approaches merge.
From Double Diamond to Theory U: the future of design practice
As mentioned above, although the two models differ graphically , the terminology describing the development of the design process along the U curve
112
The Metamorphosis of the Designer
of Scharmer’s seven steps model and along the Double Diamond’s four
steps are quite similar and familiar to designers; so similar indeed that if we
unfold the U curve, it almost superimposes with the Double Diamond (see ).
One could then justifiably think, that there is no difference, hence, there is
no point adopting a new model; a statement often expressed by students.
But there is a difference, and it rests on the metamorphosis mentioned above.
The initially apparent graphical similitude disappears if a three-dimensional
reading of the models is proposed, especially of its left half . Concretely:
Successively progressing down the left-hand side of the U (see : downloading, seeing, sensing, presencing) requires the designer to confront, not only
the two sets of antagonist forces mentioned previously, but also the images
and ideas, he or she is constructing of him- or herself. It requires the risk of
taking a journey to one’s inner space, where maybe one has never ventured
before. And this is true, not only for the designer, but also, if the challenge of
the phenomenological approach has been well understood, for all the stakeholders of the project. This is why the crucial task, for designers in such social
design projects, is to learn how to co-design a space, both physical and
social, where such risks may be safely taken and empathically welcomed by
all stakeholders, and why designers need to acquire new competencies if
they pretend to improve the habitability of the world for their fellow citizens.
Conclusion
As we have seen, the different stages of Scharmer’s method refer to distinct
dimensions of the human being and their experiences. His model can therefore only be understood by actual practicing, and not by mere intellectual
reasoning. My own approach is indeed in contradiction with such principles.
Ideally, I should have proposed a co-design workshop. »Don’t preach: practice!« Scharmer says in the MOOC (2015), he and his MIT team designed to
teach the model, inviting designers to use the model to change their worldview and, by undergoing the metamorphosis, to open up »the new organ« in
order to understand the complexity of the social world before proposing to
transform it.
JH
Kreatives Arbeiten erfordert reflexive
Momente und Eigenrhythmik. Wer maschinenhaft dem Takt des Produktionsparadigmas
folgt, hat weder die Chance die Komplexität
der eigenen Innenwelt noch das Außen zu
ergründen und verwirkt so die Möglichkeit, die
eigene Rolle zu reflektieren. Ausgehend
von diesen Überlegungen ergibt sich folgende
Frage: Wie können wir als Designer*innen
Erfahrungen gestalten, die sich für Rezi-
Alain Findeli
pient*innen nicht im Sinne eines ökonomischen Imperativs verwerten lassen und eine
bewusste Distanz zu sonstigen produktiven
Daseinsweisen schaffen?
113
Gedankenkonstruktion GK1
Ursprungsgedanke/ Ursprungs
Ursprungsgedanke/ Ursprungskugel
z
Gedankenkonstruktion GK1
GK1
Gedanke 1
Gedanke 2
x
114
GK2
Der Unbekanntheitsraum und die Ursprungskugeln — Felix Helmut Wagner
115
co.learning for
tomorrow
co.city lab
Wie können und wie wollen wir zusammen für morgen
lernen? Sind unsere Bildungssysteme noch zeitgemäß und
sind sie zukunftsfähig? Wie können wir lehren, wenn wir
gar nicht wissen, wie die nahe Zukunft aussieht? Wer
entscheidet darüber, was wichtig ist zu lernen? Wie können
wir Erfahrungen sammeln, die uns auf eine Welt im Wandel
vorbereiten?
Mit diesen Fragen und unter Versprechung einer instant
future production führten wir mit den Teilnehmenden des
Symposiums einen Workshop durch, um gemeinsam an
einer Zukunfts-Bildungs-Landschaft zu arbeiten und verschiedene un/sichere Um/Wege zu suchen, die hierfür
produktiv sein könnten. Das co.city lab war gebeten worden,
sich mit dem Thema Lernen für die Zukunft des Masterstudiengangs Transformation Design auseinanderzusetzen: So
konnten wir unser Format des Vision Mapping an diesem
eher abstrakten Thema testen. Dazu hatten wir ein
Materialset für jede Person vorbereitet: Eine kleine Legofigur mit Flagge, auf der sich jeder zunächst vorstellen sollte,
eine Insel, um gute Lernerfahrungen zu beschreiben oder zu
visualisieren, einen quadratischen Block, mit dem Lernen an
der (Hoch-)Schule dargestellt werden sollte und ein
Sechseck, das als Basis für Visionen zukünftigen Lernens
diente .
Zunächst waren alle eingeladen, diese Materialien einzeln zu
bearbeiten. Im zweiten Schritt tauschten sich die Teilnehmenden in Kleingruppen zu ihren Beschreibungen und
116
Visualisierungen aus, um dann aus den individuellen Bauteilen gemeinsame Bildungslandschaften zu erschaffen. In
einem gemeinsamen Rundgang wurden diese den anderen
Gruppen vorgestellt, per Post-it kommentiert und schließlich die Gruppen noch einmal neu durchmischt. Am Ende
der Workshop-Session hatten sich drei größere Landschaften gebildet, die im Plenum vorgestellt wurden.
Wir als co.city lab sind davon überzeugt, dass eine sozialökologische Transformation von einer gelungenen Kommunikation zwischen sehr unterschiedlichen Stakeholder-Gruppen
abhängt. Das heißt, dass nicht immer unbedingt ein Konsens
erreicht werden muss, sondern dass es wichtig ist, einen
wirklichen Austausch zu ermöglichen. Die Rolle der
Designer*innen sehen wir darin, diese Kommunikation in die
Wege zu leiten und zwischen verschiedenen Sprachen und
Denkweisen zu übersetzen und zu vermitteln. Das Angebot,
sich nicht nur verbal mitzuteilen, sondern auch durch
Zeichnungen und andere Materialien zwei- und dreidimensionale Kartierungen zu entwickeln, eröffnet neue Wege,
miteinander in Austausch zu treten. Im Visualisieren und
Darüber-Sprechen entstehen neue Bedeutungszuschreibungen; es findet eine gemeinsame Aushandlung darüber statt,
welche Materialien welchen Erfahrungen entsprechen. So
können zum Beispiel bunte Gummibänder zum Zeichen für
unterschiedliche Wissensbereiche werden, die in der Hochschule zusammengefasst und manchmal eben auch so eng
zusammengepackt werden, dass wenig Spielraum bleibt .
Die Trennung verschiedener Wissensbereiche im gegenwärtigen Bildungssystem kam wiederholt in den entstandenen Visualisierungen vor. Auf Abbildung wird sie durch
eine Trennung verschiedener Symbole auf dem zweiten
Block von links sichtbar. Gute Lernerfahrungen waren
häufig durch das Aufeinandertreffen mehrerer Charaktere
an Orten außerhalb des normalen Lehrbetriebs gekennzeichnet, wie hier die Insel mit Palmen, Figuren und Tieren.
Visionen zukünftigen Lernens im Vordergrund auf dem
Sechseck werden hier kommentiert mit »experimentellem«
Charakter, »interessengesteuert« und »nicht nach Fachrichtungen« verteilt.
In der Bildungslandschaft auf Abbildung werden auf den
Sechsecken Brücken geschlagen zwischen gelungenen
Lernerfahrungsinseln und Modellen zukünftigen Lernens. In
den Visionen geht es dabei immer wieder um den Austausch zwischen verschiedenen Expert*innen und Nicht-Expert*innen (siehe Sechsecke in der Mitte). Aber auch die
fixe, quadratische Struktur einer Hochschule und die
117
Reibung mit diesem System wurden hier thematisiert und
nicht alleine als negativ bewertet: Die Erfahrung eines
Schauspielers an der Schauspielschule mit ständiger sozialer
Überwachung und permanentem Feedback wurde hier zum
Horus-Auge, leicht erhöht hinten im Bild, das über das
gesamte Geschehen wacht, somit bestimmte Prozesse
beschleunigt und sie auf den Punkt bringt.
Reibung durch Austausch mit anderen, denen man ohne den
institutionellen Rahmen eventuell nicht begegnen würde,
war ein wichtiges Thema, das in den Visualisierungen an
verschiedenen Stellen auftauchte. Auch der notwendige
Kontrast zwischen gemeinsamem Lernen und damit, etwas
alleine durchzuprobieren, zwischen Fehlertoleranz und
notwendiger Überprüfung, zwischen Zwang und Wohlfühlorten wurde diskutiert.
Die Verhandlungen der ad hoc geschaffenen Visualisierungen erlaubten trotz sehr unterschiedlicher Lernbiografien
– der jüngste Teilnehmer war 17, der älteste etwa 60 Jahre
alt – schnell eine vertiefte Diskussion. Neue Aspekte,
verschiedene Lernerfahrungen und auch widersprüchliche
Ansichten wurden dadurch verhandelbar.
Das ideale Lern-Modell des jüngsten Workshopteilnehmers
auf Abbildung zeigt, was auch Designer*innen mitbringen
sollten, um einen Beitrag zu un/sicheren Zukünften zu
leisten: Neugier, den Mut zu korrigieren, kontroverses
Diskutieren auch entgegengesetzter Meinungen, Ausprobieren und Austesten von Dingen, um etwas zukünftig
Anwendbares zu gestalten.
118
119
Transformation aus Sicht der
Postwachstumsökonomik
Niko Paech
In meinen nun folgenden Ausführungen geht es darum, die Logik der Transformation mit dem Konzept der Postwachstumsökonomik in Verbindung zu
bringen. Zwei Thesen stelle ich an den Anfang:
Erstens: Diskurse zur Transformation in Richtung Nachhaltigkeit sind wirkungslos, solange keine Einigung über den Inhalt von Nachhaltigkeit besteht.
Eine Vorstellung von Nachhaltigkeit, die weiterhin am Wachstumsdogma
festhält, unterscheidet sich grundlegend von jener, deren Deutungsmuster
eine Wirtschaft ohne Wachstum darstellt.
Zweitens: Bisherige Transformationsversuche waren und sind zum Scheitern verurteilt, da sie sich an widersprüchlichen und inkonsistenten Zielgrößen orientieren.
Zunächst vergleiche ich zwei Nachhaltigkeitsparadigmen: Degrowth versus
Green Growth. Am Beispiel des Klimaschutzes werde ich anschließend verdeutlichen, dass eine Überwindung des Wachstumsparadigmas die Basis für
eine nachhaltigkeitsorientierte Transformation ist. Im dritten Schritt möchte
120
ich die Postwachstumsökonomie als rein reduktive Transformation vorstellen, die sowohl die Nachfrageseite als auch die Angebotsseite betrifft. Zum
Schluss benenne ich acht Transformationsprinzipien, die autonom und losgelöst von kollektiven und politischen Entscheidungsprozessen umgesetzt,
also in Form von sozialen Praktiken konkretisiert werden können.
Degrowth versus Green Growth
Die beiden Nachhaltigkeitsparadigmen, um die es hier geht, stehen einander unversöhnlich gegenüber. Das so genannte ›grüne Wachstum‹ basiert
auf der Idee, mittels technischen Fortschritts eine weitere Steigerung des
Bruttoinlandsproduktes von ökologischen Schäden entkoppeln zu können.
Diese politisch sehr opportune Vorstellung suggeriert, dass wir unseren
Lebenswandel, unsere Mobilitäts-, unsere Konsumstile und all das, was wir
an industriell hergestellter Bequemlichkeit angehäuft haben, erhalten können
– und dafür lediglich das Design der Objekte, der Technologien und Infrastrukturen ändern müssen. So wird der Nachhaltigkeitsbegriff verdinglicht:
Das betreffende Design umfasst zum einen die ökologische Effizienz, also
die Minimierung des Verbrauchs an ökologisch relevanten Inputfaktoren,
zum anderen die ökologische Konsistenz, also einen stofflichen Metabolismus, der auf geschlossenen technischen oder biologischen Kreisläufen und
zudem auf regenerativer Energie beruht und damit ein Null-Emissions-System darstellt. Der technische Fortschritt, der hier im Sinne einer Objektorientierung oder Verdinglichung die Transformation vorantreibt, suggeriert
dabei, allen gesellschaftlichen Interessen gerecht werden zu können: Das
Ökonomische, das Soziale und das Ökologische sollen in Einklang gebracht
werden. Dabei entsteht eine Art Schnittmengenmodel, das Triple Bottom
Line oder Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit genannt wird.
Das andere Paradigma, Degrowth, verinnerlicht wachstumskritische Ansätze innerhalb des Nachhaltigkeitsdiskurses und setzt auf einen kulturellen Wandel. Damit ist gemeint, die Frage nach einem verantwortbaren
Leben neu zu beantworten – also Handlungsmuster, soziale Praktiken und
Institutionen zu verändern. Das bedeutet nicht, dass wachstumskritische
121
Ansätze, die oft als Postwachstumsökonomik, Degrowth oder Décroissance
bezeichnet werden, technikfeindlich sein müssen. Technik ist aus dieser
Perspektive ein schwaches Mittel zum Zweck, ein stärkeres ist die Umsetzung reduktiver Strategien. Im Zentrum steht die Etablierung eines anderen
gesellschaftspolitischen Leitbildes basierend auf der Nichtvermehrbarkeit
menschlicher Optionen angesichts eines begrenzten Planeten. Das Soziale,
das Gesellschaftliche und das Ökonomische haben sich als Teilmengen
eines ökologischen Gesamtsystems an dessen Grenzen anzupassen.
Diese Gegenüberstellung möchte ich jetzt noch einmal aus einer anderen
Perspektive beleuchten. Grünes Wachstum, die Logik der technologisch
basierten Transformation, bezieht sich auf die Produktion klimafreundlicher
Objekte, daher der Terminus Verdinglichung. Der Nachhaltigkeitscharakter
einer einzelnen Handlung oder Sache, vermittelt durch ökologische Effizienz oder die Verwendung regenerativer Energien kann nur auf Dinge bezogen werden, nicht auf Menschen. Einen geschlossenen Kreislauf können
nur Produktions- oder Wertschöpfungsprozesse abbilden. Für Menschen
trifft auch das nicht zu. Die Vorstellung einer Person, die im Wirtshaus zu
einer anderen sagt: »Ich finde dich so effizient«, oder »Du bist ein wandelnder Kreislauf«, oder »Du bist ein Null-Emissions-System, du bist so regenerativ« ist nicht nur rein sprachlich absurd.
Die Postwachstumsökonomik beruht auf einer Subjektorientierung, betrachtet also klimafreundliche Lebensstile in Gänze. Anstatt vermeintlich
nachhaltige Objekte oder isolierte Einzelhandlungen mit dem Attribut ›nachhaltig‹ zu belegen, wird die Gesamtsumme aller von einer Person verursachten ökologischen Schäden als Zielvariable betrachtet. Suffizienz und
Subsistenz, zwei Prinzipien der Reduktion und Selbstversorgung, lassen
sich wiederum nicht auf Autos oder Dinge anwenden, sondern nur auf das
Leben von Individuen.
Postwachstumsökonomik
Die Postwachstumsökonomik bezeichnet eine wirtschaftswissenschaftliche, ökologisch orientierte Teildisziplin. Sie umfasst drei basale Forschungs-
122
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
interessen im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Wachstum und Nachhaltigkeit, die beleuchtet, analysiert und bearbeitet werden.
Zunächst geht es um die Analyse der Wachstumsgrenzen, denn das ist die
Achillesferse aktuell vorherrschender Formen des Wirtschaftens. Solange wir
keine Einigkeit darüber haben, dass wir vor unverrückbaren Wachstumsgrenzen stehen, werden wir auch nicht bereit sein, von der Logik der Ökonomie eines grenzenlosen Wachstums abzulassen. Es gibt tatsächlich eine
Vielzahl unterschiedlicher Wachstumsgrenzen, die wir inzwischen erreicht
haben. Auf zwei von ihnen möchte ich näher eingehen. Die eine ist die älteste
und bekannteste, die ökologische Wachstumsgrenze: Sie ist vom Club of
Rome bereits vor über 40 Jahren dargestellt worden und heute relevanter
denn je. Es sind aber nicht nur Systeme, die zusammenzubrechen drohen
– auch das Individuum läuft inzwischen Gefahr, unter dem Trommelfeuer der
Modernisierungszwänge regelrecht aus der Kurve zu fliegen. Deswegen halte
ich es für wichtig, ansatzweise auf die psychischen Wachstumsgrenzen hinzuweisen, die sich allein schon an Symptomen wie den folgenden deutlich
machen lassen: In Deutschland verdoppelten sich zwischen 2000 und 2010,
also innerhalb nur eines Jahrzehnts, die Anzahl der Antidepressiva-Verschreibungen (OECD 2013: 103). Das geschah just in dem Moment, in dem der alte
Menschheitstraum jeglicher Sozialpolitik und Ökonomiegestaltung erfüllt
wurde: der Traum vom ›Wohlstand für alle‹. Nie zuvor befanden sich so viele
Menschen in der Lage, jener materiellen Selbstverwirklichung zu frönen, die
vormals nur einer reichen und prosperierenden Oberschicht vorbehalten war.
Trotzdem – oder gerade deshalb? – werden immer mehr Menschen psychisch
instabil. Es existieren inzwischen Meta-Studien, die den Befund nähren, dass
in Europa jede dritte Person latent gefährdet ist, psychisch abzustürzen
– ganz gleich ob es sich um Depression, das Burnout-Syndrom, um Aufmerksamkeitsdefizit-Phänomene handelt oder das, was Manfred Spitzer in seinem
gleichnamigen Buch als »Digitale Demenz« (Spitzer 2012) bezeichnet.
Der zweite wichtige Aspekt der Postwachstumsökonomik betrifft die Analyse der Wachstumszwänge. Warum gelingt es uns nicht, ein modernes Produktionssystem zu stabilisieren, ohne dass das Bruttoinlandsprodukt pro
Jahr real mindestens um 1,5 % wächst? Darauf gehe ich hier nicht näher ein,
Niko Paech
123
möchte aber darauf hinweisen, dass es bei der Begründung einer möglichen
Wirtschaft ohne Wachstum unabdingbar ist, diese Wachstumszwänge zu
analysieren, um in die Lage zu kommen, sie zu mildern oder aus der Welt zu
schaffen.
Der dritte Forschungsbereich der Postwachstumsökonomik widmet sich
der Frage, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum aussehen kann – unter der
Restriktion, dass sie mit Freiheit, Demokratie und humanen Lebensbedingungen vereinbar ist. Denn es wäre nicht plausibel, der Ökologie etwas
Gutes zu tun, wenn der Mensch auf der Strecke bliebe und alle modernen
Fortschritte getilgt würden.
Die Techniküberschätzung
Bisherige Anstrengungen, eine technisch orientierte Transformation in
Richtung Nachhaltigkeit zum Erfolg zu führen, sind gescheitert: Eine Animation der NASA simuliert, wie die Temperaturanomalien, ausgelöst durch
menschliche Produktion, Konsum und Mobilität seit 1880 zugenommen
haben (vgl. NASA 2016).
Das Zwei-Grad-Ziel, für dessen Einhaltung ein bestimmtes globales CO2Budget nicht überschritten werden darf, ist der Kern des aktuellen Klimaschutzes. Diesem Ziel inhärent ist die Gestaltung sozialer und globaler
Gerechtigkeit innerhalb unverrückbarer ökologischer Grenzen.
Nimmt man das ernst, müssen die industrialisierten Länder ihre Emissionen reduzieren und den sogenannten ›Entwicklungsländern‹ ein gewisses
Wachstum zugestehen. Die Annäherung durch die Reduktion CO2-intensiver Lebensstile und eine positive Entwicklung von Armut geprägter Lebensstile – Konvergenz und Kontraktion – illustrieren einen Zielkorridor für den
Klimaschutz (vgl. Wuppertal Institut 2005).
Wenn wir das globale CO2-Budget, das nach den Zwei-Grad-Berechnungen bis 2050 zur Verfügung stünde, auf alle Menschen verteilen – also auf derzeit ca. 7,3 Milliarden –, steht jeder Person pro Jahr noch etwa ein Budget von
2,5 Tonnen CO2 zur Verfügung. In Deutschland liegen wir allerdings zurzeit
bei einem Schnitt von circa 11 Tonnen pro Person und Jahr (WBGU 2009: 3f.).
124
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Angesichts der Differenz zwischen 11 und 2,5 Tonnen CO2 wird deutlich:
Wer die Reduktion für zu anspruchsvoll hält, will entweder keinen Klimaschutz oder keine globale Gerechtigkeit – und sollte das dann auch sagen.
Dieser Zielkorridor, der ein globalisierungs- und damit gerechtigkeitsfähiges
Niveau der Inanspruchnahme ökologischer Kapazitäten darstellt, wirft die
ganz grundsätzliche Frage auf, wie wir eine Transformation umsetzen können,
die eine dauerhafte Entwicklung des Homo Sapiens sicherstellen würde.
Als Blueprint für eine technologisch orientierte Transformation, also die
Annahme, dass grünes Wachstum ein solches Ziel erreichbar machen
würde, gilt allgemein die deutsche Energiewende. Sie hat inzwischen eine
solche Strahlkraft entwickelt, dass überall auf dem Planeten gestaunt wird,
wenn deutsche Wissenschaftler*innen, Abgesandte oder Politiker*innen
über die Erfolge der deutschen Energiewende berichten. Das gilt ganz
besonders in Asien, aber auch in Amerika. Dabei ist die deutsche Energiewende meines Erachtens der schlimmste Budenzauber, den wir uns eingehandelt haben, seit überhaupt von Umweltpolitik oder von Nachhaltigkeit
die Rede ist: Diese Energiewende ist jetzt bereits so eklatant gescheitert,
dass es nur eine Frage weniger Jahre ist, bis die Politik in Berlin einen Alternativ-Vorschlag braucht.
Wenn eine Person, die vor 20 Jahren das letzte Mal Deutschland bereist
hat, jetzt zurückkehrt und durch manche Bundesländer fährt, ganz gleich
welches Verkehrsmittel sie benutzt, dann würde diese Person Deutschland
nicht wiedererkennen. Wir haben die letzten Landschaften im Namen des
Klimaschutzes materiell nachverdichtet und strengen uns weiterhin an,
diesen Prozess durch finanzielle Förderung voranzutreiben.
Doch was ist der Ertrag, der diesem verheerenden Preis gegenübersteht?
Die Windenergie kommt gerade auf einen Anteil von 2,1 % an der gesamten
Primärenergie-Verbrauchsmenge. Die Photovoltaik liegt bei 1 %, die Solarthermie bei 0,2 % (vgl. BMWi 2017). Wenn also im Hinblick auf den gesamten Primärenergieverbrauch von 13 % regenerativer Energie die Rede ist,
dann ist der Löwenanteil davon nicht Wind- oder Sonnen-, sondern Bioenergie, und die ist nicht klimaschonend. Das wissen wir inzwischen, denn
dazu liegen entsprechende CO2-Bilanzen vor.
Niko Paech
125
Also sind Wind- und Solarenergie die großen Hoffnungsträger. Doch abgesehen davon, dass wir die Kapazitäten und Möglichkeiten grob überschätzen, wurde vollständig ausgeblendet, dass bestimmte Infrastrukturen
erforderlich wären, um die regenerativ gewonnene Energie zu verteilen.
Keine noch so intelligent designte Windturbine funktioniert ohne Übertragungsnetz, und sie kann auch nicht besser sein als die Speichermöglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Darüber hinaus würde diese Art der
Energiewende implizieren, dass alle Prozesse der Energieumwandlung
elektrifiziert werden. Wir müssten dann Häuser mit Strom beheizen und die
gesamte Mobilität elektrifizieren; aus heutiger Sicht eine absurde Vorstellung. Zusätzlich geht diese Energiegewinnung mit einem Kampf um die
letzten Flächen einher: Initiativen, die sich schützend vor die wenigen verbliebenen Landschaften stellen, schießen derzeit wie Pilze aus dem Boden.1
Der Lehman-Brothers-Degrowth-Effekt
Wenn wir uns die Energiesituation, insbesondere die CO2-Emissionen in
Deutschland anschauen, ist ein Reduktionserfolg ausschließlich im Jahr
2009 erkennbar. Dieser ergibt sich allerdings nicht aus einer technologischen Veränderung, sondern dem Lehman-Brothers-Degrowth-Effekt, wie
ich ihn nenne. Wenn es einen deutschen Klimaschutzpreis gäbe, wären es
die Banker von Lehman Brothers, die ihn verdient hätten. Mit der durch sie
verursachten Weltwirtschaftskrise sank das reale Bruttoinlandsprodukt in
Deutschland vorübergehend, und sofort sanken die CO2-Emissionen. Kaum
dass diese realwirtschaftlichen Rückwirkungen verpufft waren, stiegen die
Emissionen wieder, obwohl währenddessen jedes Jahr neue Weltrekorde
im Aufbau von Windkraft-, Solar- und natürlich Bioenergiekapazitäten erzielt wurden.
Das ökologische Versteckspiel
Rückgreifend auf den bereits definierten Begriff der Objektorientierung
möchte ich nun die zweite Logik des Scheiterns einer auf Technik beruhen1 Siehe hierzu das Buch Geopferte
Landschaften. Wie die Energiewende
unsere Umwelt zerstört, das eine
Generalabrechnung mit dieser Art
der Energiewende enthält (Etscheit
2016).
126
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
den Transformation aufzeigen. Ich bezeichne sie als Syndrom der symbolischen Kompensation, oder ›ökologisches Versteckspiel‹. Die Logik der
technischen Transformationsstrategie im Nachhaltigkeitsdiskurs besteht
darin, einzelnen Objekten ein Nachhaltigkeitsattribut zuzuweisen.
Demnach ist eine Windkraftanlage ein Schritt in die richtige Richtung. Sie
ist eine Maschine, die irgendetwas für die nachhaltige Entwicklung tut
– vergleichbar zum Beispiel mit einem Passivhaus, einem Elektromobil, ökologischer Kleidung oder Green IT. Das Problem ist, dass die Nachhaltigkeitsdebatte – egal, in welcher Disziplin wir uns aufhalten – sich daran
orientiert, diese Symbole zu zählen, um vorzurechnen, dass es nachhaltig
sei, wenn mehr Elektromobile, mehr Passivhäuser, mehr Windkraftanlagen
oder mehr hessnatur-T-Shirts verkauft würden.
Aber jede kultursoziologische Rekonstruktion des Konsumverhaltens
ergibt, dass im Spätstadium unserer zeitgenössischen Konsumdemokratie
alle konsum- oder warenförmigen Handlungen ein Doppelleben führen. Sie
sind nicht nur Instrumente zur Befriedigung eines Bedürfnisses, zur Lösung
eines Problems oder zur Beseitigung einer objektiv messbaren Knappheit.
Sie sind immer auch eine Visitenkarte, eine Botschaft: Sie symbolisieren,
was unsere Identität ausmacht – oder ausmachen soll. Wie ich gekleidet bin,
welches digitale Gerät ich benutze, an welchen aufregenden Urlaubszielen
ich bereits war, über die ich dann berichten kann, bringt zum Ausdruck, wer
ich bin, wer ich sein will und zu wem in der mich umgebenden sozialen
Struktur ich gehören möchte. Aus diesem Grund haben Nachhaltigkeitssymbole gerade Konjunktur, denn ethische und politische Haltungen lassen
sich auf diese Weise hervorragend kommunizieren.
Dabei tritt die folgende Paradoxie zum Vorschein: Je gebildeter Menschen
sind, desto stärker ist die kognitive Dissonanz, die sie empfinden, wenn sie
sich nicht nachhaltig verhalten. Dies steigert den Bedarf an symbolischen
Kompensationshandlungen zwecks Gewissensberuhigung. Dazu bietet sich
additiver Konsum in Form ›grüner‹ Güter als Therapeutikum an, um so verzichtsfrei und effizient ein psychisches Gleichgewicht zu erlangen. An dieser
Therapie verdient eine Green (Washing) Industry. Sie verkauft symbolische
Kompensationsmittel, etwa Ökostrom, Elektromobile, Bio-Lebensmittel,
Niko Paech
127
Photovoltaikanlagen und fairen Kaffee, deren Verabreichung dazu dient,
auch dann ohne schlechtes Gewissen leben zu können, wenn Flugreisen,
SUVs, Elektronikkonsum oder eine allzu große Wohnfläche sich zu einer
individuellen CO2-Bilanz aufschaukeln, die schlicht als Öko-Vandalismus zu
kennzeichnen wäre.
Wir haben in der Schule als erstes die Strichrechnung gelernt, wir saldieren also. Sachverhalten zu differenzieren, zu bewerten, dabei unvergleichliche Dinge vergleichbar zu machen und zu verrechnen, zählt zu den
basalen Lebenspraktiken der Moderne. Dies erfolgt zum Beispiel mit Geld.
Es geht aber auch mit Symbolen, und genau das geschieht im verdinglichten Nachhaltigkeitsdiskurs. So ist es leicht möglich, dass ausgerechnet
jene, welche die meiste Bionade trinken und Grünstrom kaufen, zugleich
die ökologisch ruinösesten Lebenspraktiken vollziehen. Nur so erklärt sich
der merkwürdige Umstand, dass jedes Jahr überall auf diesem Planeten
neue Rekorde in Nachhaltigkeitsbekundungen erzielt werden, manifestiert
in nachhaltigkeitsorientierten Hochschulen, Studiengängen, Forschungsprogrammen, Publikationen, Netzwerken, Institutionen und natürlich Umsätzen grüner Güter, während gleichzeitig überall an denselben Orten die
Pro-Kopf-Inanspruchnahme der knappen ökologischen Kapazitäten ebenfalls neue Rekorde erzielt.
Wir bedienen uns offenbar einer ethischen Waage: Je mehr Bionade und
fair gehandelten Kaffee ich in die eine Waagschale legen kann, desto mehr
Fleisch, Wohnraum, Digitalisierung und Flugreisen kann ich in die andere
packen, ohne das psychische Gleichgewicht infolge zu großer Gewissensbisse zu verlieren. Das heißt, dass die verdinglichte, auf Symbolen und
natürlich auf technischem Wandel basierende Nachhaltigkeit nicht einfach
nur scheitert: Sie verschlimmert das Problem sogar. Je mehr Bionade ich
trinken und je mehr hessnatur-Textilien ich bei mir unterbringen kann, desto
größer kann dann das Auto sein, das ich fahre. Ich habe das ganze Jahr nur
fair gehandelten und ökologisch erzeugten Latte Macchiato getrunken?
Dann werde ich doch wenigstens meinen Urlaub in Mexiko verbringen
dürfen. Dieses Aufwiegen ökologisch schädlicher Praktiken mit Symbolen
blendet die materiellen Grenzen, vor denen wir stehen, komplett aus: Die
128
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Natur kennt keine Symbole, sie kennt nur Physik, Ökologie und Biologie. Ein
Rechenexempel: Wenn ein Mensch eine Lebenserwartung von 80 Jahren
hat, stehen ihm, wenn er Teil der Lösung sein und das Zwei-Grad-Klimaschutzziel erreichen will, 80 x 2,5 Tonnen zu Verfügung. Das sind 200
Tonnen CO2.
Wir haben heute eine besondere Qualität dieses ökologischen Versteckspiels erreicht, indem wir den Blick ständig auf Konsum richten, aber das
absehbare Hauptproblem, nämlich die Mobilität verdrängen. Wir strengen
uns an, das deutsche Energiesystem zu verändern und Konsumobjekte zu
optimieren, aber lassen komplett außer Acht, dass ein klimafreundliches
Leben mit Flugreisen nicht vereinbar ist.2
Eine Flugreise von Deutschland nach New York und zurück belastet
meine CO2-Bilanz mit ungefähr 4 Tonnen. Wie soll das möglich sein, wenn
ich nur 2,5 Tonnen jährlich zur Verfügung habe? Eine Reise nach Australien
entspricht 12,5 und nach Neuseeland etwa 14 Tonnen CO2. Das ist durch
nichts zu kompensieren: nicht durch fair gehandelten Latte Macchiato,
auch nicht dadurch, den Müll besser zu trennen oder durch zwei Elektromobile vor dem Passivhaus.
Folgende Studie stellt beispielhaft dar, wie symbolische Kompensation
funktioniert. Die Zeitschrift Der Spiegel hat eine Umfrage unter Wähler*innen
von vier Parteien in Auftrag gegeben und sie gebeten, zu folgenden Aussagen Stellung zu nehmen: »Es ist gut, dass es sich heute viele Menschen leisten können zu fliegen« und »Ich bin in den letzten zwölf Monaten geflogen«.
Während die erste Frage vor allem von CDU-, SPD und sogar von Wähler*innen der Linken positiv beantwortet wurde – nur die Grünen hatten da scheinbar Zweifel –, sind es eben jene Grünen, die mit Abstand die meisten Flüge
absolviert haben, nämlich immerhin 49 % der Befragten (vgl. Böcking 2014).
Daraus folgt: Ohne eine Subjektorientierung, ohne die Orientierung an der
individuellen Öko- oder mindestens CO2-Bilanz ist es nicht möglich, Aussagen über Transformationserfolge zu treffen – auch nicht über das, was im
Sinne einer Großen Transformation noch vor uns liegt, und sei es nur das
Zwei-Grad-Klimaschutzziel. Ökologische Brennpunkte wie Abfall, Biodiversität, Wasser und Phosphate sind ebenfalls mit derselben Logik zu verbinden.
2 Das Video zeigt Flugreisen im
Zeitraffer an einem einzigen Tag auf
dem Planeten Erde: www.youtube.
com/watch?v=FM_vRcCPmtA
Niko Paech
129
Reduktion
Es lässt sich also festhalten, dass nur eine Reduktionsstrategie helfen kann,
die im Übrigen nachfrageseitig und angebotsseitig umzusetzen wäre. Anhand einer zeitökonomischen Theorie der Suffizienz möchte ich verdeutlichen, dass Reduktion nichts mit Verzicht oder Unfreiheit zu tun hat.
In der mikroökonomischen Theorie wird das Konsumverhalten der Menschen als Nutzenfunktion abgebildet. Dabei wird das Wohlbefinden eines
Menschen in Relation zu seinen Konsummöglichkeiten gesetzt – logischerweise der Kompass jeglicher Wirtschaftspolitik.
Reduktion zwecks höherer Lebensqualität
Nutzen einer
Konsumhandlung
Zeitrestriktion
Fixe Konsumzeit
Zeitaufwand für die
Konsumhandlung
Zwei Restriktionen sind zu beachten, wenn ein Mensch versucht, durch
konsumförmige Handlungen Wohlbefinden, Glück oder Zufriedenheit zu
steigern. Das abgebildete Konsummodell stellt einen Zusammenhang zwischen der Verausgabung individueller Zeit, die in Form von Aufmerksamkeit
konsumförmigen Handlungen gewidmet wird, und dem Wohlbefinden eines
Individuums her. Diese simple Kurve bringt zum Ausdruck, dass es nicht
möglich ist, durch eine konsumförmige Handlung den eigenen Zustand zu
verbessern, ohne dieser Handlung Zeit zu opfern.
130
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Die banalsten Dinge kosten Zeit, und je weniger wir davon haben, desto
mehr geraten die Dinge, mit denen wir uns umgeben oder die Erlebnisse,
die wir uns gönnen können, in eine zeitbezogene Konkurrenz: Da der Tag
nur 24 Stunden hat – abzüglich essen, schlafen, Körperpflege, arbeiten et
cetera – geraten wir in eine Beschleunigungsfalle. Aus ökonomischer Sicht
ist Konsum keine passive, sondern eine aktive Prozedur. Er verlangt nach
einer virtuosen Nutzung individueller Zeit, die dann aber unwiederbringlich
verbraucht wird: Die Genießer*in benötigt Zeit bei der Einverleibung eines
guten Rotweins oder beim Betrachten eines Kunstwerks, und so haben wir
das Problem, dass wir unser Leben mit immer mehr zeitbeanspruchenden
Aktivitäten überfüllen, es regelrecht verstopfen. Dann bleibt pro Aktivität
oder pro Objekt so wenig Zeit übrig, dass wir rein rechnerisch zwar immer
reicher werden, rein statistisch aber innerlich ausbrennen, weil der Konsumstress mit seiner Schwester Zeitknappheit uns immer im Nacken sitzt.
Suffizienz
Mit dem Prinzip der Suffizienz wäre es jedoch möglich, dieses Dilemma zu
wenden. Suffizienz würde bedeuten, sich auf das Quantum an Objekten
oder Konsumhandlungen zu beschränken, die tatsächlich stressfrei verarbeitet werden können. Das bedeutet: Genießer*innen schaffen es durch
Selbstbegrenzung, ihr Leben zu verbessern und auf ein höheres Niveau des
Wohlbefindens zu gelangen. Das ist hervorzuheben, weil zumeist der Eindruck geschürt wird, eine reduktive Transformation in Bezug auf Konsum,
Mobilität, Digitalisierung oder sonstigen Abruf industriegemachten Komforts bedeute Unfreiheit oder einen Mangel an Genuss.
Es lassen sich zwei Suffizienzlogiken ausmachen. Die eine ist die unmittelbare Konsequenz daraus, dass die Technik versagt, wie ich das bereits
beschrieben habe. Diese Logik der Verantwortung besagt: Wenn andere
Mittel nicht wirken, ist es keine ethische, sondern eine mathematische Folgerung, dass nur die Reduktion unserer Ansprüche als Lösung existiert, um
ökologische Grenzen einzuhalten. Klar ist, dass mit zunehmendem Reichtum, mit zunehmender Güterausstattung wie Mobilität und Digitalisierung
Niko Paech
131
das Quantum dessen, was zu reduzieren wäre, weiter steigt. Diese Logik ist
erst relevant, wenn ein materielles Existenzminimum deutlich überschritten
ist – alles andere wäre zynisch. Wir können Menschen in anderen Weltgegenden und am Rande des Existenzminimums nicht zumuten, über Suffizienz nachzudenken, beziehungsweise nur dort, wo Ober- und Mittelschichten
längst ökologisch über ihre Verhältnisse leben.
Die zweite Logik speist sich aus der erwähnten zeitökonomischen Analyse. Beide Logiken vereinen sich in einem Schnittmengenbereich: Dies
sind Reduktionspotentiale, die ökologisch nötig sind und gleichzeitig dazu
dienen können, unser Leben zu verbessern, indem sie unser subjektives
Wohlbefinden und unsere psychische Stabilität erhöhen.
Der doppelte positive Sinne einer suffizienten Lebensführung
Nötige und mögliche
Reduktionspotentiale
Durchschnittliches Niveau
an materiellem Wohlstand
Existenzminimum
0
132
Logik 1:
Nötige Reduktion,
um ökologische
Grenzen einzuhalten
Logik 2:
Reduktion zwecks
psychischer Entlastung
Beide Logiken speisen sich aus
derselben Ursache, nämlich einem
zu hohen Wohlstand
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Reduktive Anpassung der Angebotsseite
Die Transformation zeitgenössischer Industriegesellschaften zielt darauf,
eine neue Balance zwischen drei Teilsystemen der Versorgung herzustellen.
Das erste entspricht der momentan omnipräsenten globalisierten Industrie.
Industrielle Fremdversorgung beruht darauf, dass Konsument*innen keine
materiellen Beiträge zur Befriedigung aktueller Bedürfnisse leisten, denn
jegliche physische Arbeit ist an Maschinen oder asiatische Arbeitsstätten
delegiert. Dieses Modell stößt jedoch an so viele Wachstumsgrenzen, dass
es naiv wäre, an seine Fortsetzbarkeit zu glauben. Das zweite Modell entspricht der Regionalökonomie, die prinzipiell immer noch darauf beruht,
dass Geld, Märkte, Technik, unternehmerische Kreativität und Arbeitsteilung die Basis für Entstehung und Nutzung von Gütern bilden, aber lokal
begrenzt. Das dritte Produktionsaggregat ist die Subsistenz, also die Selbstversorgung. Die neue Balance, die zwischen diesen drei Bereichen hergestellt werden müsste, bestünde zunächst einmal darin, das globalisierte,
technisch aufgerüstete und kapitalintensive Industriemodell stark zurückzubauen. Das kann nur sozialverträglich und schrittweise geschehen. Gleichzeitig müssen die Aggregate der Regionalökonomie und der Subsistenz aufgebaut werden. Eine Regionalökonomie kann vieles von dem übernehmen,
was vormals Gegenstand der Industrieproduktion war, vor allem im Bereich
der Nutzungsdauerverlängerung und Gemeinschaftsnutzung.
Stellen wir uns ein Netzwerk von Unternehmer*innen vor, zum Beispiel
rund um Braunschweig, 20 an der Zahl, die mit wissensintensiven und
handwerklichen Leistungen Möbel instand halten, reparieren, renovieren,
aufwerten und verändern, so dass die durchschnittliche Nutzungsdauer der
Möbel in Braunschweig und Umgebung verdoppelt wird. Das hieße, dass
der Industriebereich, der diese Möbel herstellt, mit der Hälfte der Produktion
auskäme. Stellen wir uns ein zweites Netzwerk vor, das vielleicht ebenfalls
in Braunschweig Rasenmäher, Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände technischer Art als Gemeinschaftsnutzungs-Objekte zur Verfügung
stellt. Wenn sich fünf Leute einen Rasenmäher teilen, um wie viel kann dann
die Rasenmäherproduktion gesenkt werden, ohne dass jemand auf dieses
moderne Artefakt verzichten müsste?
Niko Paech
133
Produktion in der Postwachstumsökonomie nach dem Rückbau
20 Stunden
„normale“
Erwerbsarbeit
PWÖ =
kommerzieller
Unternehmenssektor
Global
+
20 Stunden
„marktfreie“
Versorgungszeit
Entkommerzialisierter
Sektor
Regional
Lokal
Lange Produktionsketten
Mittlere Produktionsketten
Subsistenz
Industrielle Spezialisierung
Global Sourcing
Offshoring
Verschleißfestes Design
Modularität/Reperabilität
Ästhetische Beständigkeit
Effizienz/Konsistenz
Reperaturdienstleistungen
Wartung/Optimierung
Renovations/Konversion
Güterrezyklierung
Sharing-Services
Handwerk/Öko-Landbau
Regiogeld
Eigenproduktion
Nutzungsdauerverlängerung
Nutzungsintensivierung
Output
Arbeitsintensität
Kapitalintensität
Die lokale und subsistente Ökonomie würde den Bedarf an Industrieproduktion nochmals senken, indem Menschen damit beginnen, einen Teil ihrer
Bedürfnisse selbst zu befriedigen. Eine Konsequenz des Rückbaus der
Industrieproduktion erscheint zunächst bedrohlich, nämlich der Verlust
von Arbeitsplätzen. Bedrohlich wäre das aber nur, wenn wir an der 40-Stunden-Arbeitswoche festhielten. Wenn die nach einem solchen Reduktionsprozess verbliebene, monetär vergütete Arbeitszeit hinreichend solidarisch und
134
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
gerecht auf alle erwachsenen Menschen, die arbeiten wollen oder müssen,
verteilt würde, könnte sogar die derzeit existierende Arbeitslosigkeit verringert werden. Das Ergebnis wäre eine 20-Stunden-Woche.
Wenn nun diese drei ›Drainagen‹ einer reduktiven Anpassung genutzt
werden, also die Suffizienz, die Überführung eines Teils bisheriger Industrieproduktion in die Regionalökonomie und drittens ein auf Selbstversorgung
beruhendes Prosument*innentum, das ich gleich genauer erklären werde,
haben wir die Chance, einen Reduktionsprozess zu überstehen, ohne Frustration, Verarmung oder gewalttätige Konflikte zu riskieren.
Der dritte Bereich der Produktion, die reine urbane Subsistenz, speist sich
aus verschiedenen Ressourcen. Ein Mensch, der statt 40 nur noch 20 Stunden in der Woche arbeitet, kann die freigestellten 20 Stunden als Ressource
nutzen, um autonom oder mit anderen Personen Waren zu produzieren,
Waren gemeinschaftlich zu nutzen und Waren vor allem zu reparieren und
instand zu halten. Alvin Toffler hat derartige Zeitgenoss*innen in seiner
berühmt gewordenen Zukunftsstudie Die Zukunftschance als Prosument*innen bezeichnet (vgl. Toffler 1980). Das sind Individuen, die suffizient konsumieren, weshalb sie weniger Geld verdienen, also weniger kommerzielle
Arbeit verrichten müssen. Gleichzeitig nutzen sie freigewordene Zeit, um
den oben genannten Tätigkeiten nachzugehen.
Aber Zeit alleine genügt nicht. Benötigt wird ebenfalls ein völlig verändertes Bildungs- und Erziehungssystem, eines, das weniger akademisiert ist
und stattdessen künstlerische und handwerkliche Fähigkeiten aktiviert. Erforderlich sind zudem soziale Netze, die – gerade in der Subsistenz – Arbeitsteilung ermöglichen. Wäre ich zum Beispiel jemand, der als Prosument 20
Stunden arbeitet, dadurch ein kleineres Einkommen hat, dieses aber ergänzt um Prosument*innenleistungen, dann würde ich mich vielleicht darauf
spezialisieren, Brot zu backen, Fahrräder zu reparieren und eine Waschmaschine zu besitzen, die meine Nachbar*innen mitnutzen dürfen. Viel mehr
kann ich als Einzelperson gar nicht schaffen. Dafür kann eine von den Nachbar*innen, die meine Waschmaschine verwenden, mir vielleicht ab und zu
ihr Auto zur Verfügung stellen.
Niko Paech
135
Diese Formen des Tausches ohne Markt, Unternehmen oder Geld helfen uns,
mit weniger Produktion, Arbeitszeit und Einkommen auszukommen. Meine
Fähigkeiten, ganz bestimmte Güter zu reparieren oder in irgendeiner Form
zu verändern, kann ich auch für andere nutzbar machen, um dann wiederum
in den Genuss der Fähigkeiten dieser Prosument*innen zu gelangen. Deswegen sind soziale Netze wichtig, um das verfügbare Leistungsspektrum
der Subsistenz attraktiv zu gestalten. Der Output besteht nicht nur in eigener Produktion, Nutzungsdauerverlängerung oder Gemeinschaftsnutzung,
sondern in Stabilität, Selbstwirksamkeit, Erfolgserlebnissen und vermehrter
Einbettung des Ökonomischen in das Soziale. Dies bedeutet Autonomie,
also unabhängig zu sein von Industrie, Geld, Technik und sogar Politik.
Der Rückbau materieller Produktion setzt eine Selbstbegrenzung voraus,
die an niemanden delegiert werden kann, nicht an die Politik und nicht an
Maschinen. Erst wenn hinreichend häufig reduktive Lebensstile glaubwürdig praktiziert und eingeübt werden, könnte die Politik den Mut zu einer
Reduktionsstrategie fassen. Einzelne reduktive Maßnahmen können, müssen aber nicht notwendigerweise ein Schritt in die richtige Richtung sein.
Deswegen hatte ich das ökologische Versteckspiel thematisiert: Es nützt
nichts, an zwei Tagen durch den urbanen Gemeinschaftsgarten zu robben
und am nächsten Tag nach New York zu fliegen. Jede reduktive Gestaltung
muss sich immer an individuellen Öko- oder CO2-Bilanzen orientieren. Erst
unter Einbeziehung aller in einem Menschenleben erfolgten Handlungen
entsteht eine zielführende Orientierung.
Diffusion postwachstumstauglicher Lebensstile
Manche meiner Forschungsprojekte befassen sich mit sogenannter sozialer
Diffusion. Die hier angewandte wissenschaftliche Methode basiert auf der
Prämisse, dass ein Individuum nur dann bereit ist, eine neue Handlungsform
oder Praxis zu übernehmen, wenn es innerhalb seines sozialen Umfeldes
bereits andere Individuen beobachten kann, die die Neuerung ebenfalls übernehmen oder ihr zumindest eine positive Sinnzuweisung entgegenbringen.
136
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Jeder Wandel beginnt daher in den Nischen, wo die fragliche Innovation
initiiert, von Pionier*innen erprobt werden und sich entfalten kann. Auf diese
Weise können kleinere soziale Gefüge entstehen – ›soziale Rettungsboote‹ –,
Plattformen für Postwachstumstauglichkeit oder einfach Reallabore, in denen reduktive Lebenskunst kultiviert wird. Durch die Reproduktion und
Übung der neuen Praktiken stärken und bestätigen sich Menschen gegenseitig. Das größte Hemmnis in der Umsetzung postwachstumstauglicher
Lebensstile ist die Scham oder die Angst davor, kulturell oder sozial nicht
anschlussfähig zu sein. Das kann nur innerhalb einer Gruppe oder in einem
sozialen Prozess bewältigt werden. Es ist also nicht sinnvoll, von einzelnen
Individuen zu verlangen, sie mögen damit beginnen, mit der Anspruchsreduktion Ernst zu machen, wenn sie Teil einer Lösung sein wollen. Tatsächlich bedarf es stets eines Plurals, um gemeinsam reduktive Lebensstile
auszuprobieren und einzuüben.
Handlungsoptionen
Ich möchte einige Handlungsoptionen zur Diskussion stellen, die unterhalb
des Radars einer momentan handlungsunfähigen Politik praktiziert werden
können. Die Politik kann den Menschen keine Reduktionsleistungen aufoktroyieren, die von diesen nicht verstanden oder bewältigt werden können.
Der Weg in Richtung Postwachstumsökonomie ist als Übungs- oder Entzugsprogramm aufzufassen.
Dabei spielen Pionier*innen eine wichtige Rolle. Ein hinsichtlich seiner
ökologischen Wirkung geeignetes Transformationskonzept setzt Reduktionsleistungen voraus, die für die gesellschaftliche Mehrheit vorläufig noch
zu anspruchsvoll sind. Andererseits sind moderne Gesellschaften so heterogen und von kulturellen Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet, dass es
Menschen gibt, die bereits mit einer postwachstumstauglichen Lebensführung angefangen haben. In einem ersten Schritt wären also diejenigen zu
identifizieren und bekannt zu machen, die bereits damit begonnen haben,
Selbstbegrenzung in ihre Lebenspraxis einfließen zu lassen.
Niko Paech
137
Acht Transformationsprinzipien
Zunächst geht es erstens darum, Reduktion als modernes Gestaltungsprinzip anzuerkennen. Moderne Gesellschaften sind derart überakademisiert,
dass sie nicht mehr in der Lage sind, einfache Lösungen zu akzeptieren.
Reduktion ist so voraussetzungslos und direkt umsetzbar, dass sie das akademisierte Publikum schlicht unterfordert: Eine Lösung, die kein Geld und
keine Technik braucht, für die kein Gesetz, kein vorheriges Studium und
kein grundlegender Systemumsturz nötig ist, wird offenkundig gerade deshalb nicht ernst genommen: weil sie zu unkompliziert ist. Jeder Mensch
könnte morgen entscheiden, nicht mehr Auto zu fahren, kein Fleisch zu
essen oder nicht auf die Malediven zu fliegen. In modernen Demokratien
wird aus jedem Problem ein Imperativ des zusätzlichen technischen und
politischen Bewirkens, nur damit niemandem zugemutet werden muss,
materielle Ansprüche eigenverantwortlich zu begrenzen.
Das zweite Prinzip ist das der sozialen Diffusion. Jede reduktive Praktik
– selbst wenn sie unilateral erfolgt – bildet ein Kommunikationsinstrument.
Soziale Diffusion beruht darauf, dass Menschen in ein System der sozialen Interaktionen eingebettet sind. Das Vorleben neuer Praktiken ist nie
wirkungslos, weil niemand auf einer einsamen Insel lebt, sondern durch
konsequentes Handeln gemäß einer bestimmten Transformation andere
Menschen mit Alternativen konfrontiert.
Die Logik der Glaubwürdigkeit besagt drittens, dass wirksame Nachhaltigkeitskommunikation nur von Personen ausgehen kann, die genau den
Wandel leben, den sie propagieren: Ohne Überwindung des ökologischen
Versteckspiels und der symbolischen Kompensation ist keine Problemlösung möglich.
Das Resilienz-Prinzip zielt viertens darauf, die Sinnhaftigkeit nicht an
ihrem ökologischen Entlastungspotenzial zu bemessen, sondern daran, inwiefern sie die Daseinsmächtigkeit, Autonomie und Krisenstabilität jener
stärkt, die sich ihrer bedienen.
Als fünfte Vorkehrung benenne ich das Anti-Frustrations-Prinzip. Der
Erfolg reduktiver Daseins- und Versorgungsformen bemisst sich nicht am
138
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
aktuellen Zuspruch der politischen Mehrheiten oder an medialer Aufmerksamkeit, sondern daran, wie funktionsfähig diese Praktiken im Krisenfall
wären. Die nächste Finanzkrise ist nur eine Frage der Zeit. Die nächste Energiekrise ist erst recht nur eine Frage der Zeit. Das Fracking-Wunder der USA
ist in Wahrheit ein Budenzauber, und wenn die Fracking-Blase platzt, wird
der Rohölpreis viel dynamischer durch die Decke schießen, als dass je der
Fall hätte sein können, wenn das Fracking nie erfunden oder begonnen
worden wäre. Das Industrie-4.0-Paradigma wird so viele Arbeitsplätze kosten, dass eine soziale Krise ungeahnten Ausmaßes droht. Das bedeutet, dass
wir gerade den Vorabend verschiedener Eskalationen erleben, die unseren
auf Wachstum beruhenden Lebensstil sturmreif schießen. Wenn jetzt nur
Minderheiten affin für postwachstumstaugliche Daseinsformen sind, muss
das nicht frustrierend sein, weil es demnächst auf genau diese Nischen
ankommt: Sie halten das Erfahrungs- und Praxiswissen lebendig, auf das im
Krisenfall vom Rest der Gesellschaft zugegriffen werden kann. Lieber konsequent und ehrlich in kleinen und dezentralen Reallaboren neue Formen erproben, als angepasst und wirkungslos in der Masse untergehen.
Sechstens möchte ich das Übungsprinzip unterstreichen. Reduktion in
das Alltagshandeln oder andere soziale Praktiken zu überführen ist keine
Frage des Könnens, des Wollens oder des Wissens, sondern immer eine
Frage der Übung. Reduktion kann an niemanden delegiert werden. In Anlehnung an Nietzsche hat Peter Sloterdijk in seinem Buch Du musst dein Leben
ändern sehr schön dargelegt, dass der Mensch ein Träger von Übungsprogrammen ist (vgl. Sloterdijk 2009). Was eine Person nicht geübt hat, beherrscht sie nicht. Dazu zählen nicht nur Subsistenzfertigkeiten, sondern
auch Konfliktfähigkeit. Wer schafft es, am 23.12. den Kindern mitzuteilen:
»Übrigens wird morgen kein digitales Gerät unter dem Weihnachtsbaum
liegen«, oder zur Partner*in zu sagen: »Ich fliege nicht mehr in den Urlaub«?
Auf gewohnten Komfort zu verzichten schafft nur, wer es konsequent
schrittweise einübt.
Der Aufbau von Reallaboren bildet das siebte Prinzip. Die Verbreitung
von Projekten und Orten, an denen postwachstumstaugliche Daseinsformen umgesetzt werden, sind der politisch schärfste Stachel. Damit wird die
Niko Paech
139
auf Wachstum beruhende Politik der Alibi-Behauptung beraubt, es würde
nicht anders gehen. Vor allem sind Reallabore Orte, an denen sich Menschen
gegenseitig darin bestärken, reduktive Lebensführungen durchzuhalten.
Denn der Wandel zum Weniger ist nur als sozialer Prozess zu meistern.
Das achte und letzte Prinzip ist die schon genannte Subjektorientierung.
Nur individuelle Öko- oder CO2-Bilanzen können als konsistente Zielvariable für eine nachhaltige Entwicklung dienen.
Eine Transformation in Richtung Postwachstumsökonomie erfordert
Individuen, welche die notwendige Veränderung selbst umsetzen, andere
anstiften, ebenfalls Gegenkulturen zu entwickeln und gemeinschaftlich reduktive Praktiken einzuüben.
140
Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik
Niko Paech
141
People, Flags, Bridges:
Transformation through
Resistance
Fatma Korkut
The public sphere has never been as densely and diversely occupied as it has
been in Turkey’s recent history. The summer of 2013 was marked by Gezi Park
protests and the undeniable presence of alternative lifestyles (›apolitical‹
youth) as well as by police brutality with theirs tear gas and water cannons.
Three years later in the summer of 2016 the people of Turkey witnessed an
intervention of crowds to a military coup on the night of July 15th. Hundreds
of citizens were killed in clashes, the bombing of the Parliament, and the
›democracy watch‹ rallies for the following 25 nights in response to the President’s call.
Gezi Park protests started as a bottom-up citizen initiative against the
government’s plan to reconstruct the historic military barracks with a renewed commercial function in Taksim, Istanbul. The protests were sparked by
the violent intervention of the security forces against a small group of activists
occupying Gezi Park. This was rapidly transformed into nationwide anti-government protests backed by left-wing and Alevi groups as well as football
fan groups and marginal communities including LGBT and anti-capitalist
142
›revolutionary Muslims.‹ It is worth noting that the Gezi Park protests were
preceded by the commencement of the historic ›resolution process‹ by the
Turkish government and the Kurdish political leadership in early 2013. The
resolution process had been disapproved by the left-wing Alevi groups in
particular and interpreted as a threatening Sunni ›coalition.‹
On the other hand, July 15th 2016 evolved into a centrally mobilized nationwide resistance of predominantly pro-government conservatives and nationalists against a military coup announced in a Kemalist rhetoric appealing
to the anti-government sections of the society. The statement broadcasted,
in the name of »Peace at Home Council«, declared the purpose of the intervention as reestablishing the constitutional order and the secular democratic
state. A former ally of the government, the Gülen movement, both a religious
interest group with a global network of schools, businesses, banks and media
outlets, and a clandestine organization with a decade-long buildup of followers in the Turkish state apparatus was held responsible. Tens of thousands
were purged in the military, judiciary, security forces, bureaucracy, public
schools and academia.
Against this background, I conclude that what characterizes the public
sphere in Turkey today is transformation through resistance. Perhaps it is
time to ask questions rather than implementing well-known solutions:
- Is replacing one group with another, in state bureaucracy, a sustainable
solution to well-established practices of power abuse? As put ironically
by a commentator: Wouldn’t hiring civil servants through lottery have
resulted in a more impartial and diversified task force?
- Is development through top-down mega projects, coupled with superficial historicist revivalism, compatible with the emerging public demand
for local transformation through participation?
- Do we have an alternative to embrace the emerging of a hybrid public as
opposed to favoring a core one over another on the brink of a civil war?
143
Dialektik des Größenwahns:
Design als Change Agent.
Über das Verhältnis von Design
zu Politik und Wirtschaft
David Oswald
Die Welt befindet sich in einem verbesserungswürdigen Zustand. Auf dieser
Grundannahme basiert der folgende Text. Verbesserungswürdig meint
dabei zweierlei: erstens, dass die Welt zumindest teilweise in einem nicht
erwünschten Zustand ist, und zweitens, dass es möglich ist, diesen Zustand
zu verbessern. Lesende, die vor allem letztere Grundannahme nicht teilen,
werden an der Lektüre wenig Gefallen finden. Wer den Menschen als von
Natur aus schlecht betrachtet, und die Welt für nicht zu retten oder nicht für
rettenswert erachtet, kann diesen Beitrag gerne überblättern. Pessimist*innen jedoch, die trotzdem weiterlesen, werden mit einem Witz belohnt, der
ihnen aus der Seele sprechen wird:
Treffen sich zwei Planeten, sagt der eine zum anderen:
»Wie geht’s?«
»Nicht so gut. Ich hab’ Homo Sapiens.«
»Oh je. Aber keine Sorge, das geht von alleine wieder weg.«
144
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
Man kann diesen Witz lustig finden und man kann ihn darüber hinaus aus
guten Gründen für sachlich zutreffend halten. Das kollektive Verhalten der
Menschheit scheint sich tatsächlich nicht kategorisch von einer Pilzkultur
zu unterscheiden, die am Ende ihres exponentiellen Wachstums in den
eigenen Stoffwechselprodukten umkommt: Was der Hefe der Alkohol ist,
ist der Menschheit das CO2. Folgt man dieser defätistischen Einstellung, ist
ein Engagement für eine Verbesserung der Welt verlorene Liebesmüh. Eine
gleichermaßen zu Tatenlosigkeit führende Haltung ist das andere Extrem,
die unbekümmerte »Es ist noch immer gut gegangen«-Zuversicht. Zwischen diesen Extremen bewegt sich der problembewusste Optimismus
dieses Textes, der von der prinzipiellen Gestaltbarkeit der Welt ausgeht,
dabei aber einen realistisch-nüchternen Blick einfordert: auf gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, sowie technik- und ressourcenbezogene
Einflussfaktoren – stets in Bezug auf das Design. Es geht um Wirkmächtigkeit und Ohnmacht der Gestaltung, vor allem im Wettbewerb mit all den
anderen genannten Einflüssen. Und schließlich geht es um Machtverhältnisse, die in das Verschlimmbesserungs- und Problemlösungspotential des
Designs hineinwirken, und an denen sich entscheidet, ob das Design in
Bezug auf die zweite Prämisse – »Es ist möglich, den Zustand der Welt zu
verbessern« – zur Verbesserung oder zu deren Gegenteil beiträgt.
Aus der Psychologie wissen wir, dass sich Minderwertigkeitsgefühle und
Größenwahn gegenseitig bedingen und erzeugen: Um eine vermeintliche
Minderwertigkeit zu kompensieren, werden Auftreten, Behauptungen und
Vorhaben übergroß (Adler 1912: 22). Es soll im Folgenden kurz um die Wurzeln der gefühlten Minderwertigkeit des Designs gehen, um den daraus
resultierenden Hang der Designer*innen zur Überkompensation zu verstehen – beides als Grundierung der anschließenden Diskussion der eigentlichen Fragen dieses Beitrags: Wie gesellschaftlich wirkmächtig ist Design?
Wie wirkmächtig könnte es sein? Innerhalb welcher Grenzen verorten wir
Probleme, von denen wir glauben, dass sie mit gestalterischen Mitteln lösbar
seien? Wo begnügen wir uns in vorauseilendem Gehorsam mit einem eng
begrenzten Revier auf der Landkarte der Probleme? Und wo maßen wir uns
David Oswald
145
Kompetenzen an und behaupten lediglich Wirkmächtigkeit – sei es aus
Wunschdenken, Selbstüberschätzung oder Naivität?
Bei den Abgrenzungsversuchen von Kunst und Wissenschaft stand und
steht das Design am Ende oftmals als zweitklassig da. Da wurde das
Design – immer ex negativo – zu einer nicht-freien, durch Alltagsbezug verunreinigten und daher minderwertigen ›angewandten Kunst‹. In Bezug auf
die Wissenschaften führen das designtypische implizite Wissen und die
Unmöglichkeit, den Designprozess ›sauber‹ zu formalisieren dazu, dass
Designer*innen neidvoll und eingeschüchtert auf die Wissenschaften schielen, die mit ihrem ›rigorosen‹ Vorgehen vermeintlich gesichertes Wissen
produzieren. Die notwendige und berechtigte Gegenreaktion auf diese
Falschheiten führt leider oft zu partiellem Realitätsverlust. Dann können wir
nicht nur Design, sondern nahezu alles besser. In Folge beginnen die
Appelle mit »Wir Designer*innen müssen …« und enden mit »die besseren
Businessmodelle machen«, »in der Politik für Kreativität sorgen«, »Technologie bewerten« und »Wissenschaftler*innen das (laterale und unscharfe)
Denken beibringen« – am Designwesen soll die Welt genesen.
Von Carl Schmitt kennen wir die Unterscheidung zwischen »der Politik« und
»dem Politischen« (Schmitt 1927). »Die Politik« ist, was Politiker*innen tun.
Dagegen umfasst »das Politische« alles gesellschaftlich wirksame – bis hin
zur ultimativen Ausdehnung des Begriffes im Slogan der Frauenbewegung
der 1970er Jahre: »Das Private ist politisch.« Das von Nigel Cross geprägte
»designerly ways« geht in Richtung einer vergleichbaren begrifflichen Differenzierung im Design (Cross 1982). Jedoch ist eine Unterscheidung zwischen
dem Design und dem Designerischen weder verbreitet noch üblich. Dabei
fällt es nicht schwer, zwischen der professionellen Designpraxis und einem
allgemeinen gestalterischen Handeln und Wirken einen Unterschied zu
finden. Ob man es gutheißt oder nicht: Die Designpraxis kümmert sich vorrangig um die klassischen Bereiche Form, Farbe, Zeichen und Bedeutung,
bestenfalls angereichert mit innovativer Problemlösung und auf den Gebrauch orientiert oder mit dem Ziel der strategischen Verkaufsförderung.
146
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
Denn die Designpraxis ist Teil des real existierenden Wirtschaftssystems
und arbeitet überwiegend zu dessen Bedingungen. Dem gegenüber steht ein
stark erweiterter Designbegriff, wie man ihn bei Herbert Simon und Horst
Rittel findet. Sowohl Simon (Simon 1994: 129) als auch später Rittel (Rittel
1987: 1) begreifen zum Beispiel den Entwurf eines Gesetzes als Design-Tätigkeit. Für Simon ist bekanntlich jede Tätigkeit, die aus einer bestehenden
Situation eine erwünschte Situation macht, Design (Simon 1994: 129). Design
steht hier als anthropologische Konstante, die mit Feuer und Faustkeil
begann – und nicht erst durch die Arbeitsteilung im Zuge der industriellen
Revolution. Mit Letzterer beginnen dagegen die meisten Bücher über Designgeschichte. Wirft man einen Blick in diese, oder auch in Lehrbücher für
Design, findet man dort weder Gesetzesentwürfe noch andere Beispiele für
designerische Tätigkeit nach Simon oder Rittel: keine Arzneiverschreibungen,
keine Absatzpläne (ebd.), keine Schaltpläne oder Einkaufslisten (Rittel 1987: 1).
Dieser offensichtlich unterschiedlichen Konzepte und Realitäten des Designs sollte man sich bewusst sein, wenn man Design als Change Agent im
Kontext von Nachhaltigkeit, sozialem Wandel und Transformation diskutieren will. Ein genauer Blick tut hier Not, sowohl auf die Wirkmächtigkeit wie
auch auf die Grenzen des Designs. Denn wenn nicht alles Design ist, muss
Design logischerweise irgendwo aufhören, an einer Stelle, an der etwas
anderes beginnt – zum Beispiel Politik oder Recht – falls wir diese nicht als
›Gesetzesdesign‹ und ›Gesetzesauslegungsdesign‹ verstehen wollen. Diese
Übergangsstellen, auf deren Seiten jeweils Unterschiedliches verortet ist,
nennt man Grenzen – so unscharf und fließend sie auch sein mögen: Gestaltet ein*e Architekt*in ein Haus? Gestaltet ein*e Professor*in eine Vorlesung?
Gestalten Fußballer*innen ein Fußballspiel? Gestaltet ein*e Sportler*in
einen 100-Meter-Lauf? Gestaltet ein Kumpel eine Lore Steinkohle? In dieser
Reihe mag ein jeder an einer anderen Stelle rufen »Halt, das hat doch mit
Gestaltung nichts mehr zu tun«. Und gleichzeitig wird sich eine große Mehrheit dafür finden, die erste Frage zu bejahen und die letzte zu verneinen.
Was kann also Design? Was kann es nicht? Wo kuschen wir zu schnell auf
unser angestammtes Form-Farbe-und-was-Originelles-Plätzchen? Wo
David Oswald
147
beginnt der altbekannte Größenwahn, wie er schon aus Gropius’ erstem
Bauhaus-Manifest spricht? »De[r] neu[e] Bau der Zukunft, der aus Millionen
Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes
Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.« (Gropius 1919)
»The problem is not the problem. The problem is your attitude about the
problem.« (Captain Jack Sparrow)
Beim Versuch, ein Problem anzugehen, unterscheiden wir bereits zwischen
dem, was wir für möglich halten und dem, was wir nicht für möglich halten –
sei es bewusst oder unbewusst. Horst Rittel wies in seinem Aufsatz The
Reasoning of Designers auf diesen entscheidenden Schritt zu Beginn des
Designprozesses hin und benannte ihn als »die Einteilung von Phänomenen in Variable und Invarianten« (Rittel 1987: 6). Das eine kann man ändern,
also gestalten, das andere ist gegeben und entzieht sich dem Gestaltungswillen – die sogenannten Randbedingungen oder Sachzwänge. Diese Unterteilung nimmt Rittel nur vor, um sie den Designer*innen gleich wieder um
die Ohren zu hauen. Denn Randbedingungen, so Rittel, gebe es eigentlich
gar nicht. Invariante, der Gestaltung verschlossene Randbedingung nenne
man lediglich all das, was die Designer*in nicht ändern will (ebd.). Dabei hängt
es von der Weltanschauung der jeweiligen Designer*innen ab, was zu einem
Sachzwang deklariert wird und was nicht. Als Beispiel führt er die Bauvorschriften an. Diese kann man als Architekt*in einfach als unveränderlich
akzeptieren und befolgen. Oder aber man betrachtet sie als verhandelbar und
ersucht um eine Ausnahme (ebd.). Wolf Reuter, der Rittels Text ins Deutsche
übertrug, erweitert an dieser Stelle den Originaltext und politisiert: Man
könne auch eine »Gesetzesänderung anstreben«, schummelte Reuter bei der
Übersetzung sympathischerweise dazu (Rittel 2013: 131). Damit sind wir
an einem Knackpunkt in der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen des
Designs angelangt. Die Lesenden werden durch Reuter auf die Option hingewiesen, die Grenze zwischen dem Politischen (welches der Gestaltung
implizit ist) und expliziter institutioneller Politik zu übertreten. In Rittels Verständnis ist dies jedoch keine Grenze zwischen Design und etwas anderem
(hier: »der Politik«) – die Gestaltung eines Gesetzes versteht er als eine mög-
148
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
liche Art von vielen, in der designerisches Handeln auftreten kann.
Der Blick in die Design-Geschichtsschreibung offenbart, dass sich schon
die frühen Designbewegungen der gesellschaftlichen Dimension der Gestaltung bewusst waren (vgl. Selle 1973). Ob Arts and Crafts, De Stijl, das
Bauhaus, die HfG Ulm – alle verbanden die Gestaltung von Gebrauchs- und
Kommunikationsartefakten mit der Frage, wie wir leben wollen und in welcher Form von Gesellschaft. Ob Umweltverschmutzung und Verarmung
(Arts and Crafts), bezahlbarer Wohnraum (spätes Bauhaus) oder Demokratisierung (HfG Ulm) – die großen Vorbilder aus den Designgeschichtsbüchern hatten neben Stühlen und Briefpapier immer auch die jeweils drängenden Probleme ihrer Zeit im Blick.
Man muss leider feststellen, dass diese historischen Probleme nicht gelöst
und damit tatsächlich nicht historisch sind. Für die Bewohner*innen der
Städte des globalen Nordens ist die Luft zwar sauberer und der Wohnkomfort größer geworden, doch global betrachtet hat die Umweltzerstörung
stetig zugenommen. Slums neben brennenden Müllkippen, gefüllt mit Müll
aus dem Norden, sind alles andere als Vergangenheit: Die drängenden Probleme unserer Zeit sind die ungelösten Probleme von gestern – mittlerweile
jedoch auf einer globalen Eskalationsstufe und tief in Wirtschafts- und
Gesellschaftssysteme verstrickt. Sie sind hinreichend bekannt: Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Artensterben, Arm-Reich-Schere, Flucht und
Vertreibung – um nur die brisantesten zu nennen.
Die dazugehörigen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme werden dagegen selten benannt, zumindest im Designdiskurs. Möglicherweise, weil wir
uns mit ihnen als nicht zu ändernde Randbedingung abgefunden haben:
Wachstumswirtschaft, Kohle- und Mineralölwirtschaft, Finanzwirtschaft,
Kapitalismus oder wahlweise Neoliberalismus. Ein Beispiel: Sucht man im
Tagungsband der DRS 2016 (Lloyd/Bohemia 2016), einer der größten
designwissenschaftlichen Konferenzen veranstaltet durch die Design Research Society nach den oben genannten Begriffen, wird man lediglich in
David Oswald
149
0,4 bis 3 % der Beiträge fündig.1 Spitzenreiter sind immerhin die Begriffe
»carbon« und »capitalism«, die in jeweils acht Artikeln von insgesamt 262
vorkommen. Nur der Begriff »economic growth« taucht noch öfter auf, jedoch in elf von 17 Fällen nicht als zu hinterfragendes Prinzip, sondern als
angestrebtes Ziel – zur Erreichung dessen man die wirtschaftsfördernde
Power des Designs geflissentlich anpreist. Drei Autor*innen thematisieren
wenigstens nachhaltiges Wachstum oder Wachstum im Bereich niedriger
Einkommen. Als Problem wird das ewige Wachstumsprinzip lediglich in drei
Artikeln behandelt. Im Umkehrschluss heißt das: Über dreieinhalb tausend
Seiten des Tagungsbandes kommen gänzlich ohne diese Begriffe aus. Auch
wenn es etwas frech ist, auf Basis der Analyse eines einzigen Tagungsbandes zu verallgemeinern, liegt folgender Schluss nahe: Die Design Research
Community beschäftigt sich mehrheitlich nicht mit den oben genannten
drängenden Problemen der Gegenwart. Es dominieren affirmative und
selbstreferenzielle Ansätze – also Designansätze, die den real existierenden Neoliberalismus als Randbedingung entweder gutheißen, widerwillig
akzeptieren oder als alternativlos betrachten. Oder es existieren Fragestellungen, die relativ abgeschottet von der wirtschaftlichen Realität akademisch-theoretische Design-Selbstfindung und -Definition betreiben. Da
man Letzterem die Notwendigkeit weder gänzlich absprechen kann noch
will, ist dieser Befund auch nicht allzu überraschend. Größere Verwunderung,
wenn nicht Empörung, ist jedoch angebracht, wenn man das Gutachten
des WBGU2 zu einem »Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation«
(WBGU 2011) unter die Lupe nimmt. Das hochkarätige Expert*innenkonglomerat des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen
schafft es, auf 416 Seiten den Weg zu einer radikalen Energiewende und in
eine nachhaltige Wirtschaft der Zukunft zu beschreiben, ja sogar von einer
»Schaffung einer gerechten neuen Weltordnung« (ebd.: 336) zu sprechen
und dabei den Begriff »Kapitalismus« nur genau ein einziges Mal zu erwähnen: in einem kurzen geschichtlichen Exkurs über die Industrialisierung im
19. Jahrhundert (ebd.: 93) – als eine vergangene historische Episode, die wir
so weit hinter uns gelassen haben wie die rauchenden Schlote von London.
Zwar geben die Nachhaltigkeitsexpert*innen des WBGU zu, dass der Weg
1 Suchbegriffe: capitalism,
neoliberal, neoliberalism, finance,
carbon, oil, fossil fuel, (economic)
growth.
2 Der Wissenschaftliche Beirat der
Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (WBGU)
berät seit 1992 als wissenschaftliches Gremium die deutsche
Bundesregierung in den Bereichen
globaler Wandel, Umweltprobleme
und nachhaltige Entwicklung. Siehe
www.wbgu.de
150
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft kein leichter werden wird und dass
es dazu eines »gestaltenden Staates« bedarf (ebd.: 285). Ihre Strategie – man
muss wohl sagen, ihre naive Strategie – ist: Überzeugen und Verhandeln. Auf
politischer Ebene soll verhandelt werden (zum Beispiel auf Klimakonferenzen), gleichzeitig soll durch Aufklärung und Überzeugungsarbeit ›von unten‹
eine kritische Masse ökologisch-korrekt handelnder Menschen entstehen –
sodann kippt das Weltsystem und die Wende tritt ein! Dass die Belohnungssysteme der aktuellen Wirtschaftsform mit voller Kraft gegen sie arbeiten,
wird dabei weitgehend ausgeblendet. Das mag daran liegen, dass der WBGU
eben ein »Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung« ist, also von
Letzterer beauftragt und bezahlt wird – was, wenn auch unausgesprochen,
nicht anzurührende Invarianten und Alternativlosigkeiten impliziert. Eine
weniger angepasste, weniger naive und leider auch weniger optimistische
Sicht wäre hier anzuraten. Die Mehrheit der Menschheit wird ihre Prägungen und Gewohnheiten in Bezug auf Konsum, Eigentum, Status und Komfort kaum freiwillig abwerfen. Im globalen Norden trinkt man möglicherweise
vermehrt fair gehandelten Bio-Kaffee. Man verzichtet aber weiterhin ungern
auf Fleisch, Flugreise und Fußbodenheizung. Lieber leistet man sich einen
Zweitwagen mit Elektroantrieb, der momentan zwar noch auf Kohlestrom
fährt, aber zumindest gefühlt das mit dem letzten Thailand-Urlaub ausgestoßene CO2 wieder einsammelt. Im globalen Süden dagegen hat man ganz
andere Sorgen. Verständlicherweise ist es wichtiger, die Kinder durchzufüttern und wenigstens zur unteren Mittelklasse aufzuschließen, als über
seinen im Vergleich sowieso schon sehr bescheidenen ökologischen Fußabdruck nachzudenken (Monbiot 2009).
Das Stichwort Nord-Süd-Gefälle wirft eine weitere Frage auf: Wenn Design
Problemlösen bedeutet, von wessen Problemen reden wir da eigentlich?
Der größte Teil der weltweiten Designenergie dürfte auf first world problems
of first world users verwendet werden – nicht unbedingt aus Ignoranz oder
schierer Boshaftigkeit, sondern weil man als first world designer nur derart
seine first world Miete bezahlen und seine first world Kinder mit first world
food füttern kann. Womit wir wieder bei Sachzwängen angelangt wären,
David Oswald
151
wenn auch bei einem anderen Typus derselben. Es gibt Randbedingungen
in der Sache, dicht am Problem, welches es – möglicherweise für die Auftraggebenden – zu lösen gilt. Und es gibt, darüber hinaus, echte oder
gefühlte Sachzwänge außerhalb des zu lösenden Problems – weil man ein
Leben hat, und möglicherweise weitere Ansprüche stellende Stakeholder
neben den Auftraggebenden existieren: Lebenspartner*innen, Geschäftspartner*innen, Eltern, Kinder, Stromversorgungsunternehmen, Vermieter*innen, und so weiter. Sieht man genau hin, existieren zwar auch hier nur
wenige absolut invariante Sachzwänge. Die genannten Stakeholder könnte
man prinzipiell alle kündigen oder weggeben. Man tut es aber nicht, weil der
Bewertung von Sachzwängen ein Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegt.
Natürlich nerven die Kinder. Aber das ist weniger schlimm, als das zu erwartende schlechte Gewissen, wenn man sie ins Heim steckte. Im Fall der
dementen Eltern mag das Ergebnis einer solchen Abwägung anders ausfallen. Übertragen auf den Designprozess: Schon bei der Problemdefinition
nehme ich als Designer*in solche Wertungen und Abwägungen vor, sofern
ich nicht einfach die Wertungen der Auftraggebenden übernehme. Was
kann ich wirklich ändern? Wie viel Aufwand wäre es, dieses Problem auf
einer höheren systemischen Ebene anzugehen? Schaffe ich es, die Auftraggebenden davon zu überzeugen, dass ihre Problemdefinition lediglich
Symptome behandeln würde? Soll ich ihnen ein alternatives Businessmodell vorschlagen, sagen, dass das jetzige weder fair noch nachhaltig ist?
Soll ich Nutzer*innenerwartungen und -gewohnheiten einfach berücksichtigen? Oder traue ich mir zu, diese zu verändern oder neu zu prägen?
Lucius Burkhardt hat das Dilemma des systemischen Verstricktseins anhand eines einfachen Beispiels illustriert (Burckhardt 2012): Wenn ich einen
neuen Dosenöffner gestalte, akzeptiere ich die Beschaffenheit der gängigen Konservendose üblicherweise als Rahmenbedingung. Umgekehrt stellen auch für jeden Dosenhersteller die Abermillionen vorhandener Dosenöffner einen Sachzwang dar: So gut sie auch gestaltet sein mag, ist die neue
Dose, die sich nicht mit einem herkömmlichem Öffner öffnen lässt, zum
Scheitern verurteilt. Dose und Öffner bilden ein System, aus dem man nur
152
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
mit großem Aufwand ausbrechen kann. So könnte man natürlich mit jeder
neuartigen Dose einen entsprechend neuen Dosenöffner verschenken.
Oder aber ein Verfahren der Lebensmittelkonservierung entwickeln, das
ganz ohne Dose und Öffner auskommt. Oder gleich Services und Vertriebswege erarbeiten, die eine Konservierung überflüssig machen. Das klingt
nicht nur nach mehr Aufwand als einen Dosenöffner zu gestalten – es ist
mehr Aufwand. Und es ist auch schwieriger, diesen bezahlt zu bekommen.
Und klar, Konservendosen einfach zu verbieten wäre theoretisch auch möglich, aber Verbote sind meist nicht gut gelitten.
Statt eines Verbotes könnten die Konsument*innen sanfter in Richtung
nachhaltiges Verhalten geschubst werden. Zum Beispiel indem man ein
absurd hohes Konservendosen-Pfand erhebt. Doch von wegen: Leider ist
die Geschichte des sanften Steuerns eine Geschichte von »gut gemeint,
und alles noch schlimmer gemacht«. Das Einweg-Pfand ist das beste Beispiel: Zunächst als Dosenpfand für Aluminium-Getränkedosen eingeführt,
sorgt es bis heute dafür, dass so viele Einwegflaschen wie nie zuvor gekauft
werden (BMU 2011). Dass man Einwegflaschen irgendwann in den Gelben
Sack stecken durfte, hatte das schlechte Gewissen bereits ansatzweise
beruhigt. Seit man sie jedoch zurück in den Laden tragen kann, gibt es in
der Wahrnehmung der Konsument*innen keinen Unterschied mehr zwischen Ein- und Mehrwegflaschen und in Folge auch keinen wahrgenommenen ökologischen Unterschied. Horst Rittel nannte das einen »type
2-failure« (Rittel 1987: 2). Typ 1 bezeichnet übliche Fehler, also wenn etwas
nicht funktioniert wie es geplant wurde. Bei Typ 2 kann zunächst alles wie
geplant umgesetzt werden, dann treten aber Neben- und Nachwirkungen
auf, die weder beabsichtigt waren, noch erwünscht sind. Der Mensch hat
ein Talent darin, mögliche Typ 2-Fehler bei der Planung nicht zu bedenken
oder zu verdrängen. Und andere Menschen sind ganz gut darin, sich nicht
so zu verhalten, wie Planende und Gestaltende es gerne hätten. Ein Beispiel: Es kursiert die Geschichte, dass zu Zeiten einer großen Rattenplage
in Australien ein Kopfgeld auf jede an offizieller Stelle abgelieferte tote
Ratte ausgesetzt wurde. Nach kurzer Zeit bemerkten kreative Zeitgenoss-
David Oswald
153
*innen, dass man viel bequemer an dieses Kopfgeld kommt, indem man
Ratten auf dem heimischen Hof züchtet – anstatt mühsam Fallen aufzustellen. Es ist müßig darüber nachzudenken, ob zum Beispiel Airbnb von
Anfang an Venture Capital und Börsengang anstrebte, oder ob zu Beginn
tatsächlich eine idealistische Hippie-Idee vom Teilen und gegenseitigem
Helfen verfolgt wurde (Klawitter/Slee 2016). Ob nun bedauerlicher type
2-failure oder bewusst in Kauf genommener Kollateralschaden, heute hilft
Airbnb, die Mietpreise in den Metropolen nach oben zu treiben. Und wenn
wir schon bei Typ 2-Beispielen sind: Car Sharing ist gut für die Umwelt?
Leider legen neue Studien nahe, dass ein erheblicher Anteil von Car-Sharing-Fahrten zu Lasten des öffentlichen Personennahverkehrs geht (Civity
2015). Fahrten, die früher mit S- und U-Bahn oder mit dem Bus gemacht
wurden, werden heute aus Bequemlichkeit mit car2go oder DriveNow unternommen – wieso soll ich bis zur S-Bahn gehen, wenn auf halbem Weg zu
einem vergleichbaren Preis ein Smart oder Mini am Straßenrand steht?
So verständlich und sympathisch der Wunsch nach einer tiefgreifenden Umwälzung der Wirtschaft in Richtung sharing, commons und prosumer ist,
den von Jeremy Rifkin auf Buchcovern angekündigten »Rückzug des Kapitalismus« (Rifkin 2016) werden Sharing Economy und Maker Movement
nicht bewirken. Dies dennoch zu glauben ist ein Wunschdenken, gepaart
mit einer naiven Verkennung der real existierenden wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Die Digitalisierung hat die traditionelle produzierende Industrie
nicht ersetzt, im Gegenteil. Heute werden mehr physische Produkte produziert als je zuvor. Die Digitalisierung hat dies vor allem beschleunigt. Genau
so wenig wird nun die Verbreitung von 3D-Druckern dazu führen, dass die
Produktionsmittel – quasi als verteiltes Volkseigentum – in nennenswertem
Umfang in die Hände der Konsument*innen oder Prosument*innen fallen,
die damit ihre Schrankwand und ihr selbstfahrendes Auto ausdrucken. Dem
weltweiten Umsatz der 3D-Druckindustrie wird zwar ein beeindruckendes
Wachstum prognostiziert: von fünf Milliarden im Jahr 2016 auf über 20 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 (Statista 2018a). Setzt man diese Zahlen
jedoch ins Verhältnis zum gesamten weltweiten Wirtschaftsaufkommen,
154
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
schrumpft die angekündigte Entmachtung der klassischen Industriekonzerne auf 0,0006 Promille (!) des weltweiten Umsatzes (Statista 2018b).
Eher unwahrscheinlich, dass dem Thyssen-Krupp-Konzern angesichts der
3D-Druckerindustrie die Knie schlottern. Die bei Designer*innen anzutreffende politische Überhöhung der Maker-Kultur kann man leider nur mit
Wunschdenken, Selbstüberschätzung, Zahlenphobie und Dyskalkulie erklären. Wobei, Wissen über den Unterschied zwischen Milliarden und Billionen vorausgesetzt, etwas Prozentrechnen eigentlich für den Realitätsabgleich ausreichen würde.
Die geneigten Lesenden mögen sich fragen, wofür dieser ganze Text nun
ein Argument sei – falls diese Größenwahnvorwürfe, Wirkmächtigkeitsrelativierungen und Desillusionierungsversuche nicht einfach zu Defätismus
führen sollen. Genau das Gegenteil ist beabsichtigt. Nur wer zwischen Symptomen und Ursachen unterscheiden kann, kann langfristig wirken. Wer
seine Stärken und seine Grenzen kennt, kann seine Energie wirksam einsetzen. Wer wirklich etwas ändern will, darf keine Angst davor haben, die
Schwelle vom Politischen in die Politik und vom Wirtschaftlichen in die Wirtschaft zu übertreten. Selbstüberschätzung ist die eine Gefahr – die weitaus
größere für eine Desillusion im Transformation und Social Design dürfte jedoch die Unterschätzung der Gegenkräfte sein.
»It’s the economy, stupid!« (Bill Clinton)
Mit diesem Spruch warb Clinton im Wahlkampf 1992 für seine neoliberalen
Reformen, wie zum Beispiel die weitgehende Deregulierung des Finanzwesens – die in Folge mitursächlich für die weltweite Krise von 2008 wurde.
Dabei hätte dieses Zitat auch von Karl Marx sein können. Denn es beruht ja
lediglich auf der Einsicht, dass die Wirtschaft beziehungsweise die Form
der Wirtschaft prägend für eine Gesellschaft ist. Und darin sind sich alle
Theoretiker*innen der Politischen Ökonomie einig, und zwar quer durch das
Marx-Keynes-Hayek-Spektrum: Die Art und Weise des Wirtschaftens hat
eine dominante Wirkung auf unser Zusammenleben. Aus diesem Primat der
Wirtschaft folgt, was bei Marx (1971: 9) zu »das Sein bestimmt das Bewusst-
David Oswald
155
sein« wird. Ändere das Wirtschaftssystem und es wird sich alles andere in
Folge ändern. In Bezug auf Gestaltung bedeutet das: Natürlich verändert
Design die Gesellschaft. Aber in die entgegengesetzte Richtung weist eine
weitaus größere, dominante Gestaltungskraft: Die Wirtschaft bestimmt die
Form des Designs.
Dass sich viele Designer*innen und Designtheoretiker*innen nicht mit Wirtschaft beschäftigen wollen ist verständlich, aber fatal. Verständlich ist es,
weil die Wirtschaft im Designer*innenbewusstsein vorrangig als lästige Beengung wahrgenommen wird: »Es muss sich halt auch rechnen« und »Am
Ende müssen wir das auch verkaufen.« Die neoliberale Indoktrination der
letzten Jahrzehnte hat den radikal freien Markt erfolgreich als Naturgesetz
in den Köpfen verankert – alternativlos wie Naturgesetze nun mal sind. Ob
wir es jedoch »alternativlos«, »Randbedingung« oder »Sachzwang« nennen,
es bedeutet in Konsequenz, dass sich die Wirtschaft – sofern sie funktionieren soll – der Gestaltung entzieht, also genau so wenig gestaltbar ist wie die
Schwerkraft. Es ist demnach nur verständlich, dass Designer*innen – die nun
mal gestalten wollen – einen Bereich uninteressant, lästig oder gar abstoßend finden, in dem Gestaltung als nicht möglich dargestellt wird. Fatal ist,
wenn sie dies glauben, und das neoliberale Framework als gottgegeben
hinnehmen. Dadurch beschneiden sie in vorauseilendem Gehorsam ihren
gestalterischen Möglichkeitsraum. Wirtschaftssysteme sind natürlich weder
gottgegeben noch unveränderlich, im Gegenteil, sie kommen und sie gehen
wieder. Sie ändern sich über die Zeit. Die globale Wirtschaft funktioniert
heute anders als vor 20 Jahren. Und sie wird in 20 Jahren anders sein als
heute. Unter diesem Blickwinkel ist es zunächst erfreulich, dass sich
Designer*innen im Kontext der Start-Up-Kultur vermehrt auch um BusinessModelle kümmern, also den Bereich des Wirtschaftlichen als Gestaltungsrevier erobern. Jedoch geschieht dies mit unterschiedlichen Motivationen.
Eine dieser Motivationen für die Entwicklung neuer Business-Modelle ist es,
alternative, emanzipative und kollaborative Projekte zu etablieren, die mit
herkömmlichen gewinnorientierten Business-Modellen nicht umsetzbar
sind. Mit diesen wird versucht, das neoliberale Framework zu durchbrechen,
156
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
oder ein kleines wirtschaftliches Paralleluniversum zu etablieren. Dagegen
bewegt sich der weitaus größere Teil der neuen Business-Modelle der StartUp-Szene dezidiert innerhalb des neoliberalen Frameworks. Die als disruptive innovation verkauften Neuerungen führen im Erfolgsfall zu milliardenschweren Gründer*innen und einem neuen Prekariat von crowd workers.
Was disruptive Innovation genannt wird, ist meist lediglich in Bezug auf die
letzten Reste der sozialen Marktwirtschaft, den Arbeitnehmerrechten und
den Datenschutz disruptiv – das heißt destruktiv – und gänzlich affirmativ
in Bezug auf den digitalen Kapitalismus (vgl. Peters 2012; Huws 2014). Die
Arm-Reich-Schere wird damit kein bisschen kleiner. Die erwirtschafteten
Gewinne werden keineswegs breiter verteilt, sie fließen lediglich anderen zu:
statt älteren Herren in Anzügen nun eben meist jungen Männern in T-Shirts.
Solange also die Politik und die Wirtschaft als gegebene Randbedingungen
akzeptiert werden, ist das Design nicht Teil der Lösung, sondern Teil des
Problems. Angesichts der weit verbreiteten affirmativen Oberflächlichkeit
der Designpraxis scheinen die selbstgenügsamen Critical-Design-Nischen
und die akademischen Clubs vielen kritisch eingestellten Designer*innen
schöne Alternativen zu bieten. Dies ist jedoch wenig hilfreich und regelrecht
schädlich: Um den positiven Impact der Gestaltung zu erhöhen, müssen wir
uns die Finger dreckig machen, in der Politik und der realen Wirtschaft. Also
raus aus der kritischen Distanz, sei sie ironisch-künstlerisch oder analytischwissenschaftlich. Rein in eine kritische Praxis.
Dies wäre ein schöner Schlusssatz, würde sich nicht sofort die Frage stellen,
wie diese kritische Praxis denn aussieht, über die ex negativo-Beschreibung
hinaus: »Keine Flucht in selbstgenügsam-akademische und künstlerische
Nischen.« Aber was dann? Was bedeutet hier kritisch? Der übliche Blick auf
den griechischen Wortursprung hilft: Kritisch meint trennend, unterscheidend. Kritische Praxis bedeutet demnach zu bewerten und zu unterscheiden, zum Beispiel zwischen dem was ich tun will und dem was ich nicht tun
will. Durch das Feld der Möglichkeiten verlaufen dabei kritisch-trennende
Linien unterschiedlicher Kategorien. Ein erstes Linienpaar trennt das, was
ich für prinzipiell gestaltbar halte von dem, was ich für unveränderlich halte,
David Oswald
157
und das was ich für leistbar halte von dem, was ich für nicht leistbar halte.
Zwei weitere Linien trennen erstens das, was ich für mich persönlich als notwendig oder wünschenswert erachte von dem, was ich nicht akzeptieren
kann oder will, und zweitens was ich für wünschenswert und notwendig für
meine Umwelt halte von dem, was ihr schadet. Wer sich anhand eines konkreten Dilemmas – soll ich den gut dotierten Auftrag eines fragwürdigen
Auftraggebers annehmen? – die Mühe macht, seine vier Linienverläufe zu
kartografieren, wird feststellen, dass diese Linien leider selten einträchtig
an der selben Stelle verlaufen – zumindest nicht die Linien derjeniger, die
diesen Text noch nicht weggelegt haben. Die schwierigste Aufgabe ist in
Folge, aus diesen vier kreuz und quer verlaufenden und möglicherweise
unscharfen Linien eine scharfe rote Linie abzuleiten. Eine rote Linie die das,
was ich tue von dem trennt, was ich lasse. Das ist der Unterschied zur theoretisch-akademischen und künstlerischen Arbeit, es gibt in dieser Frage
keine analytisch-theoretische Distanz und auch keine ironische, spielerische oder diskursive Metaebene, auf die man sich retten kann. Die Praxis
erlaubt keine Unschärfe, sie gehorcht einem binären Code: machen oder
nicht machen.
Bleibt die Frage, anhand welcher wertenden Maßstäbe man sich für oder
gegen das Machen entscheidet. Spätestens hier hört die Verallgemeinerbarkeit auf und die individuelle Auseinandersetzung muss beginnen: Für
die einen ist die Deutsche Bank diesseits, für die anderen jenseits der
roten Linie. Die einen sehen in der SAP eine Innovationstreiberin, die anderen einen Teil des militärisch-industriellen Komplexes.3 Man kann es sich
einfach machen und diese Unter- und Entscheidungen der Einkommensmaximierung und der Gesetzgebung überlassen. Dann verlaufen die vier
Linien deckungsgleich und man muss nicht mehr grübeln. Man tut einfach
was erlaubt ist und gibt die persönliche Verantwortung am Garderobenhaken der Legislative ab. Aber, um auf Simon und Rittel zurückzukommen:
Gesetze sind gestaltet. Dass ich Gesetze nicht von vorneherein als unveränderbar hinnehme, ist ein Teil kritischer Praxis – an der Grenze zur Politik.
Der andere Teil führt zurück ins Kerngebiet der Gestaltung: In einer kriti3 SAP bietet seit 2004 ein
Lösungsportfolio für Defense &
Security an, neben SAP-Standards
wie Einkauf und Personal auch zur
Planung und Unterstützung von
Militäreinsätzen (SAP 2015: 239)
– ein gängiger Euphemismus für
Kriegsführung. Den Bereich leitet ein
ehemaliger Generalmajor der
US-Luftwaffe (SAP 2004).
158
Dialektik des Größenwahns: Design als Change Agent
schen Praxis werden Aufträge und Briefings routinemäßig dekonstruiert
und scheinbar festgeschriebene Problemdefinitionen hinterfragt. Nur so
lässt sich herausfinden, ob das Problem nicht auf einer zu niedrigen Dosenöffner-Ebene verhandelt wird. Und nur so kann man sich anschließend auf
die Suche nach Ursachen auf höheren systemischen Ebenen machen – die
zwar mehr Anstrengung, aber auch einen größeren Hebel und nachhaltigere Wirkung versprechen.
David Oswald
159
160
The Long Now — Verena Friedrich
161
Parteiisches Design1
Jesko Fezer
Bemerkenswert an der sich gegenwärtig ausbreitenden Lesart des Designs
als Werkzeug willentlicher gesellschaftlicher Veränderung ist in erster Linie
die Unstrittigkeit dieser Annahme. Zu Recht unwidersprochen bleibt die Vorstellung, dass Design die Welt verändern kann, beziehungsweise zwangsläufig Folgen hat. Damit ist das Potenzial, aber auch das Problem von Design
treffend beschrieben. Dennoch wurde Design bisher nicht verboten, auch
nicht vor Kurzem, als die Welt durch lauter fehlgestaltete Produkte, Systeme
und Lebensweisen mehr oder weniger vollständig zugrunde gerichtet wurde
und noch weiter verwüstet wird (vgl. Davis 2009). Im Gegenteil: Design soll
mit noch weitergehenderem Design in noch höherer Dosierung bekämpft
werden. Diese Perspektive vertritt auch das sogenannte Transformationsdesign, wenn es uns vor die vermeintliche Wahl zwischen einem Wandel »by
Design or by Disaster« stellt (Sommer/Welzer 2014: 27). Diese Tendenz zu
ausgeweiteter Gestaltung, die sich in der Entgrenzung des Begriffs (vgl.
Latour 2010) ebenso wie in den Überschreitungsfantasien transdisziplinärer Art bis hin zum Selbstdesign (vgl. Brock 1977; Groys 2008) äußert, prägt
unsere Zeit. Kreatives Handeln und ästhetisches Erleben bilden nicht mehr
die Ausnahme, sondern die Norm und Anforderung für gesellschaftliche
1 Parteiisches Design ist
entstanden auf Grundlage des
gleichnamigen Vortrages beim »UN/
CERTAIN FUTURES« Symposium an
der Hochschule für Bildende Künste
Braunschweig, einer Diskussionsveranstaltung bei Designexport
Hamburg im Rahmen der Ausstellung »BAD DESIGN/GOOD DESIGN«,
dem Diskursbeitrag »Parteiisches
Design. Speak Up!« in der
Zeitschrift Form (Nr. 272, Frankfurt
am Main 2017, S. 100-105), sowie
einem Beitrag im Rahmen der
Vortragsreihe »PUBLIC POSITIONS«
162
des Masterstudiengangs Public
Interest Design an der Bergischen
Universität Wuppertal. Dieser Text
wird auch in der Publikation
Gestaltung öffentlicher Interessen
von Christoph Rodatz, Pierre
Smolarski (Hrsg.) voraussichtlich
2018 im transcript Verlag erscheinen.
Teilhabe. Der kreative Imperativ mit dem Design als einer seiner Leitdisziplinen macht das Ästhetische, den innovationsbezogenen sinnlichen Affekt
gar zum Motor kapitalistischer Wertschöpfung (vgl. Reckwitz 2012; Böhme
2016). Es ist kaum mehr das Produkt oder die Dienstleistung, es ist die Gestaltung der Sinnlichkeit selbst, die sozialen und ökonomischen Mehrwert
verspricht. Insbesondere durch den Zwang zur Selbstgestaltung als praktische Form der Selbstoptimierung – oder besser: der Selbstausbeutung –
gerät Design als allgegenwärtige Aufforderung in die gesellschaftliche Welt.
Dieses Ändern, Umformen, Verwandeln und Umgestalten des Selbst, seines
materiellen Umfelds und vielleicht sogar der gesamten gesellschaftlichen
Ordnung ist das Drama des Designs. Und es macht Design auch ganz prinzipiell politisch. Denn diese Perspektive des Änderns bedeutet, dass Politik
möglich und notwendig ist. Die willentliche Veränderung des Zustands der
Welt kann überhaupt nicht anders als politisch beschrieben werden. Es impliziert nämlich, dass es Vorstellungen über erstrebenswerte Zukünfte und
damit über die Richtungen sinnvoller Veränderungen gäbe. Jede Idee davon,
was zu ändern sei – egal in welchem Maßstab – ist an eine Vorstellung vom
individuellen und gesellschaftlichen Leben gebunden. Das ganze Gefüge
subjektiver und kollektiver Wertvorstellungen, eingeübter sozialer Praxen,
gesellschaftlicher Verabredungen, Institutionen und Hierarchien bestimmt
das vorstellbare und wünschenswerte Zukünftige (auch Lösung genannt)
und damit auch die erkennbaren Mängel des Gegenwärtigen und seiner
Hochrechnungen (auch Probleme genannt). Es ist dabei davon auszugehen,
dass die Vorstellungen vom Wohl und Übel der Gegenwart und des Zukünftigen extrem unterschiedlich sind. Nicht nur die Werte, nach denen die
Zustände beurteilt werden, sondern auch die Verfahren sowie die in Kauf zu
nehmenden gesellschaftlichen Kosten jeder Umgestaltung sind höchst
umstritten und betreffen wiederum die Lebensformen (vgl. Jaeggi 2013). Es
steht also im Zuge von Transformationsprozessen – insbesondere intentional angestoßener – eine Auseinandersetzung mit den damit verbundenen heterogenen Zielvorstellungen an. Dieser Prozess der Aushandlung ist maßgeblich vom Ringen um Hegemonie geprägt und damit unvermeidbar politisch.
163
Man könnte diese Notwendigkeit des Politisch-Seins des Designs auch
aus dem Problem-Lösungs-Dilemma der Gestaltung herleiten, wie es der
Entwurfsmethodiker Horst Rittel in den 1970er Jahren tat, als er vorschlug,
Gestaltungsprobleme als bösartig (»wicked«) anzuerkennen (vgl. Rittel/
Webber 1973). Er betonte damit wie unwahrscheinlich es sei, überhaupt
brauchbare Lösungen für die komplexen Probleme der Wirklichkeit zu finden, da die gesellschaftliche Verstrickung bereits bei ihrer Benennung und
erst recht bei ihrer Behandlung und Beurteilung zu ganz prinzipiellen Unmöglichkeiten der Lösungsfindung führe. Rittel erkannte, dass das gestalterische Behandeln von Problemen – das Entwerfen – nicht ohne Politik im
Sinne gesellschaftlich hinterlegter und ausgehandelter Wertentscheidungen
zu haben ist. Aber so recht wollte er es damals nicht benennen. Es ist so nachvollziehbar wie bezeichnend, dass es für ihn als Mathematiker, Physiker und
als jemand, der sich in die »Denkweise von Designern« (Rittel 2012) versetzte, als bösartig im Sinn von unangenehm andersartig und sehr kompliziert wahrgenommen wurde, dass das Gesellschaftliche in die Gestaltung
dringt. Obwohl ihm etwas unwohl war mit dieser politischen Dimension des
Designs schlug er vor, sich damit von nun an argumentativ auseinanderzusetzen. Wobei es natürlich genau andersherum ist: Der Anlass, die Legitimation und die Notwendigkeit von Gestaltung gerinnen aus ihrer gesellschaftlichen Verortung, die politische Perspektive der Transformation ermöglicht
erst entwerferisches Handeln.
Allerdings war es vor Kurzem noch eher unüblich und fast anrüchig, wenn
Designer*innen politisch waren, sein wollten oder überhaupt eine engere
Verbindung zwischen Politik und Gestaltung zogen. Auch das scheint sich
geändert zu haben. Theoretische Beobachtungen, akademische Ansprüche
und professionelle Verlautbarungen haben sich zumindest eine politische
Anmutung zugelegt. Ermöglicht wurde diese neue Popularität aber vermutlich weniger durch die offensichtliche historische Erkenntnis, dass Politik
unvermeidbar ist, sondern durch eine wichtige theoretische Unterscheidung.
Nämlich der zwischen »der Politik« und »dem Politischen« (vgl. Marchart
2010b). Diese Trennung war in der Tat sehr hilfreich, um das Politische
Robert Preusse: »Leibniz [...] hatte das Schema
der ›besten aller möglichen Welten‹ vorgeschlagen, um die offensichtlichen Übel
in der Welt - die wir jetzt gerne als ›Notfälle‹
bezeichnen - mit der Vorstellung göttlicher
Vorsehung zu versöhnen. [...] In seiner säkularisierten Form […] begründet eine ähnliche
Struktur des Arguments die Sphäre der Moral
als eine Reihe von Berechnungen, die angestrebt werden um die optimale Proportionalität
zwischen gemeinsamen Gütern und notwen-
164
digen Übeln zu approximieren. Aber als sich die
allgemeine Sichtweise des Liberalismus von
Voltaires und in der Tat von Jeremy Benthams
Fokus vom ›öffentliche Wohl‹ und der
Verantwortung der Regierung, das Glück der
größten Anzahl von Menschen zu erhöhen,
zu den liberalen Enten der ›gerechten Kriege‹
verlagerte – und deren immer raffiniertere
Technologien zur Minimierung der Anzahl
der ›notwendigen‹ Leichen – begann die Suche
nach der ›besten aller möglichen Welten‹
Parteiisches Design
wieder denken zu können, es in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären zu erkennen und es nicht auf etwas in gesonderte Institutionen Abgewandertes zu reduzieren, das dort von gesonderten Personengruppen stellvertretend bearbeitet und verwaltet wird.
Der Begriff der Politik meint in erster Linie so etwas wie die institutionelle
Ordnung des Gemeinwesens. Die Politik ist ein recht eng gefasster Begriff,
der ein soziales Funktionssystem bezeichnet, das verbunden ist mit den
Institutionen der Macht, der Durchsetzung, der Regulation, der Steuerung
und der Kontrolle sowie mit den berufsmäßig politisch Engagierten – den
Politiker*innen, ihren Parteien, ihren Klientelen und ihren Strategien. Er ist
eng an den Staat gebunden und bildet eine spezifische Sphäre des Sozialen.
Diese Politik handelt meist von der Herstellung einer normativen Ordnung
und errichtet oder dekonstruiert dabei moralische Maßstäbe. Der Begriff
des Politischen hingegen, wie er in jüngerer Zeit von Theoretiker*innen wie
Claude Lefort, Jacques Rancière sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe
genutzt wird, ist mit dem der Politik nicht identisch. Er ist ihr vorrangig und
zielt weniger darauf ab, einen Verwaltungsraum für die Politik zu bestimmen,
als einen Möglichkeitsraum für das Politische zu eröffnen. Es geht um die
sozialen Praxen selbst, in denen Gesellschaftlichkeit ausgehandelt wird,
um den Streit darum, wie wir leben wollen, und damit zwingend auch darum,
wer zu diesem Wir dazugehört, was überhaupt leben bedeutet und was
Wege dahin sein könnten. Chantal Mouffe geht davon aus, dass das Politische
als Prozess der Erschütterung und Veränderung das Soziale gleichzeitig unterbricht und in Bewegung hält, aber auch strukturiert und bindet (Nonhoff
2010: 41). Diese Dynamik des Politischen wie auch seine Institutionalisierungskraft bezieht es aus dem gesellschaftlichen Dissens, der in einen
Agonismus überführt werden kann – eine Form der Gegnerschaft, die die
Legitimität der Opponent*innen anerkennt und dennoch um unvereinbare
hegemoniale Projekte und deren Durchsetzung kämpft. Der Rahmen ihrer
Überlegungen ist das Projekt einer radikalen Demokratie: Sie fordert, »den
Traum von einer versöhnten Welt, die Macht, Souveränität und Hegemonie
überwunden hätte, aufzugeben« (Mouffe 2007: 170), den Streit als legitime
Nährboden unserer neo-panglossianischen
Rechtfertigung des ›geringsten aller möglichen
Übel‹ zu werden.« (Weizman 2011: 3)
Jesko Fezer
165
Praxis des Politischen anzuerkennen und zu stärken. Mouffe analysiert, wie
zeitgenössische westliche Politikmodelle die Möglichkeit des Konflikts und
der Opposition negieren, indem sie auf einen moralisch konstruierten Konsens zielen. Sie blenden damit die Existenz sozialer Machstrukturen und
Widersprüche aus und verschließen das Feld des Politischen. Insbesondere
im Selbstverständnis des Neoliberalismus – es gäbe zur bestehenden Ordnung keine Alternative – liegt das Haupthindernis demokratischer und damit
auf Konflikt und Dissens basierender Politik (vgl. ebd.: 44). Die Konstruktion
und Behauptung von Sachzwängen und die Delegation von umstrittenen
Fragen an Expert*innenkommissionen sind zwei weitere Spielarten postpolitischer Politik, die nicht die Debatte um die Richtung möglicher Veränderungen eröffnen, sondern sie beenden.
Es war diese Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen, die
überhaupt erst ermöglichte, einen anschlussfähigen Politikbegriff zu denken,
der mit dem verengten Tagesschau-Politikverständnis wenig zu tun hat.
Dass mit dem Politischen ja gerade nicht (nur) die Tagespolitik, die Ämter,
die Parlamente, die Prozeduren und die Parteien sowie ihre Wähler*innenschaft gemeint sind, macht einen gehörigen Teil der Attraktivität des Politischen aus. Problematisch wird es aber, wenn damit auch die von der Politik
vertretenen gesellschaftlichen Positionen nicht mehr gemeint sind. Und obwohl das Politische nach Mouffe auf Auseinandersetzung und Widerspruch
baut, scheint gerade das an der Politik als abstoßend empfunden zu werden:
das zähe Gezerre um Gestaltungsmacht. Von »der Politik, als Machtkampf,
die man verachtet, und der Politik als ›transzendentale Sorge um das Ganze‹,
die man heiligt« spricht in diesem Zusammenhang der Soziologe Ulrich
Bröckling (Bröckling/Feustel 2010: 16). So entstand mit dem Auftauchen
des Politischen im Diskurs ein ästhetisch aufregender, vom schmuddeligen
Tagesgeschäft des Politikbetriebs bereinigter Begriff, der sich durch eine
wachsende Distanz zu den Konfliktfeldern, Problemlagen und Akteur*innen
der Politik auszeichnet. Es bildete sich ein zwar theoretisch fruchtbares und
vielseitig anschlussfähiges, aber gleichzeitig von seiner Virulenz entkleidetes
harmloses Prinzip des Politischen. Diese Abstrahierung war wohl auch die
166
Parteiisches Design
Bedingung dafür, im akademischen Feld gegen bestehende Vorbehalte Anziehungskraft zu erlangen. So scheint nun ein Denken und Sprechen über
das Politische vorstellbar, das völlig unpolitisch im Sinne einer gesellschaftlichen Positionsbestimmung ist.
Wenn wir aber auf die von Chantal Mouffe und anderen vertretene Auffassung
zurückgehen, dass der Konflikt Triebkraft des (demokratischen) Politischen
ist, dann stellt sich schon die Frage nach den Akteur*innen und Themen
dieser Konflikte – und danach, welche Haltungen und Unterscheidungen,
Ausgangspunkte und Verhandlungsgegenstände diese Konflikte darstellen.
Die notwendige Unabschließbarkeit einer demokratisch-politischen Debatte
und die konstitutive Kraft dieser Auseinandersetzung – die soziale Kohäsion
bildenden Konflikte (Marchart 2010a: 25) – werfen die Frage auf, welche politischen Subjekte überhaupt zugelassen werden und was legitime Gegenstände politischer Entscheidungsprozesse sind. Wie werden diese Differenzen in den Auseinandersetzungen organisiert und wie repräsentieren sie
sich? Das ist keine banale Frage. Die historischen Antworten darauf waren
mit gewisser Berechtigung parteiische Versammlungen und Interessensvertretungen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Lobbygruppen, Vereine,
Verbände, Institutionen und insbesondere die politischen Parteien.
Ich möchte aus dieser Perspektive das Parteiische als Möglichkeit und Notwendigkeit des Politischen hervorheben und für ein parteiisches Design
plädieren. Parteiisches Design wird dabei nicht verstanden als Gestaltung
der Arena möglicher Auseinandersetzung, nicht als Gestaltung von vermittelnden Strukturen und partizipativen Prozessen des Austauschs, des Kompromisses und des Einvernehmens. Parteiisches Design versteht Design
nicht als Tätigkeitsfeld distanzierter oder einfühlsamer Beobachter*innen
oder mutiger wie auch sensibler Interventionist*innen – und auch nicht als
letztlich übergeordnete Perspektive auf das gesellschaftliche Spiel der Differenzen. Parteiisches Design verortet das Entwerfen direkt in den Konflikten, in den dort verhandelten Dingen und Themen und bei den Akteur*innen
dieser Auseinandersetzungen und ihren Haltungen. Anders gesagt: Wenn
Jesko Fezer
167
Design politisch ist, dann gibt es – so wie es konservative und fortschrittliche,
soziale und neoliberale Politik gibt – auch rechtes und linkes Design. Demokratische Politik ist nicht ohne gesellschaftliche Positionierung und ohne
die Auseinandersetzung darum zu haben. Design auch nicht.
Wenn es nun aber um die gesellschaftliche Verortung von Design geht,
sollte ein wohlbekannter und unauflösbarer Widerspruch benannt werden:
das selbstbezügliche Interesse von Designer*innen an Problemen Anderer.
In der Geschichte des Designs als Trägerin aufklärerischer und universalistischer Ideale, war Design immer eine wohlwollend paternalistische Praxis,
die auf Andere und ihre vermeintlichen Probleme bezogen handelte. Diese
Anderen und ihre Probleme wurden fachmännisch identifiziert. Sie wurden
mithilfe der jeweils neuesten Instrumentarien wie der Statistik, Hygiene,
Ergonomie und Marktforschung bemessen und beschrieben. Der Wertehorizont, vor dem diese Probleme und damit auch die Strategien zu ihrer Lösung sichtbar wurden, war die ›Normalität‹ der bürgerlich-männlich-westlichweißen Gesellschaft. An den Diskussionen zur Lösung der Wohnungsfrage
Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Engels 1972) ebenso wie an der frühmodernen Kritik des Ornaments (vgl. Loos 2000) oder der späteren WerkbundInitiative zur Guten Form (vgl. Bill 1957) lässt sich das direkt ablesen. Das
Selbstverständnis der Designer*innen, Architekt*innen und Planer*innen kultivierte den Blick auf Andere, denen Gutes angetan wird. Weil die Anderen
aber eben schwer zu erfassen sind, bleibt dieser Fremdbezug des Designs
notwendigerweise immer auch ein Selbstbezug der Designer*innen, um
jenes Unverständnis zu kompensieren.
Auch engagierte Gestaltungsansätze wie Social oder Critical Design bleiben
diesem Dilemma verhaftet, denn es geht immer auch um Andere: um diejenigen, denen geholfen wird, denen Design zu Gute kommen soll oder jene,
die es betrachten, Erfahrungen machen und Erkenntnisse haben. Die Pflicht
der Gegenwart zum Selbstdesign löst diesen Widerspruch nur scheinbar
auf, ebenso wie die ihm vorausgegangene Popularisierung des Do-It-Yourself. Beide verlagern das Für-andere-Handeln in die Akteur*innen, die nun
168
Parteiisches Design
sich selbst paternalistisch wohlwollend gegenübertreten. Andere Ansätze
verfolgen eine Strategie der Zurückhaltung, entwickeln offene Systeme oder
zielen auf Partizipation und Co-Design – alle tun dies mit ihren spezifischen
Schwierigkeiten, dabei Hierarchien im Verhältnis zu anderen zu vermeiden
beziehungsweise zumindest ihre Wirkung zu mindern.
Für die jüngere Diskussion über politisches Design – in die sich auch dieser
Text einreiht – bilden all diese Praxen einen Referenzraum. Sie konstruieren
je unterschiedliche Verhältnisse von Gestaltung zum Politischen. Der Designforscher Carl DiSalvo legte mit seinem Buch Adversarial Design 2012 eine
interessante Arbeitsthese vor, die sich ähnlich wie die hier vertretene Argumentation auf ein agonistisches Modell des Politischen beruft. DiSalvo unterscheidet zwischen einem »Design for Politics« und dem »Political Design«
(DiSalvo 2012: 8). Während er ersteres als Unterstützung politischer Institutionen und Prozesse fasst und eher als affirmativ beschreibt, bindet er politisches Design an Konflikt, Dissens und Widerspruch – »adversarial« eben.
Anhand von Beispielen computergestützter Informationsdarstellung, Robotik und haushaltsbezogenen Informationstechnologien skizziert er die
Mög-lichkeit, Themen und Probleme zu politisieren, die diesen Fragen eingeschriebenen Hegemonien zu artikulieren und über die Bildung von herausfordernden Gegenpositionen Konflikte zu konzipieren und erlebbar zu
machen (ebd.: 54) Was sich jedoch in der Distanzierung vom »Design for
Politics« und der Engführung jener Politik auf Wahlen zur US-Regierung abzeichnet und über ebenso radikale und aufregende wie auch harmlose
technische Gerätschaften und Projekte der Dissonanzerfahrung weitergeführt wird, gerät gegen Ende des Buches in prinzipiellen Widerspruch zum
Agonismus-Modell Chantal Mouffes, das nur im Kontext eines radikalen
Demokratieverständnisses plausibel ist. Nicht nur die Übertragung gesellschaftlich antagonistischer Aushandlungsprozesse direkt auf das Design
(»Design can do the work of agonism«, ebd.: 115) ohne deren gesellschaftliche Positionierung auch nur anzusprechen schwächt die Argumentation.
DiSalvo stellt Adversarial Design explizit gegen ein Zerrbild romantisch
radikalen Designs und lehnt Links-und-rechts-Unterscheidungen sowie Pro-
Jesko Fezer
169
und-Kontra-Gegenüberstellungen zu Gunsten dynamischer Strukturen ab:
»Adversarial Design is a theme and set of tactics, and it is inherently pluralistic and can be applied across the political spectrum and issues.« (ebd.:
121) So richtig es ist, in der Dissensproduktion die Möglichkeit unterschiedlichster politischer Haltungen anzuerkennen, bringt die wohlfeile Ablehnung
klassischer politischer Positionierungen und die Betonung des pluralistischen Charakters eine realpolitische Beliebigkeit mit sich. Dies steht nicht
nur im offensichtlichen Widerspruch zu Mouffes Kritik an der neoliberalen
Relativierung und Einhegung politischer Positionskämpfe, sondern kann als
eine deutliche Warnung vor Parteiischem Design verstanden werden. Adversarial Design scheint mir trotz ähnlicher theoretischer Fundamentierung
wie das Parteiische Design eher eine Spielform des Critical Designs mit
seiner rhetorischen Ansprache eines interessierten Publikums zu sein –
oder, wie ebenfalls angedeutet, eher an der Rahmensetzung beziehungsweise der Konstruktion von Spielräumen für partizipative Involvierung zu
arbeiten. Es geht, etwas zugespitzt formuliert, um die Aufführung von produktivem Dissens mit Anregung und unter freundlicher Beobachtung durch
das Design.
Ein anderes, etwas forscheres Modell wäre dagegen die Parteinahme. Parteiisch sein? Das wäre für eine Schiedsrichterin nicht gut, für einen Reporter
unhöflich, für eine Trainerin hingegen sehr wichtig und für die Fans ist es der
Spaß an der Sache. Für einen Anwalt ist Parteinahme Berufspflicht, für die
Angehörigen der Täterin selbstverständlich, für Zeug*innen allerdings unratsam und bei einer Richterin ein Grund, das Verfahren neu aufzurollen. Es
geht also um gesellschaftliche Rollenverteilung: Will Design den Rahmen
wahren und beobachten? Will es tendenziell davon ausgehen, dass die
anderen das Spiel machen oder Verbrechen begehen, also die Auseinandersetzung um Hegemonie aushandeln?
Was könnte man also praktisch tun? Die naheliegendste Möglichkeit wäre
erst einmal ein Bekenntnis zur Parteilichkeit in Bezug auf die eigene politische
Haltung. Das muss nicht unbedingt bedeuten, Probleme und Akteur*innen
170
Parteiisches Design
lediglich im eigenen Milieu zu verorten. Es böte vielmehr die Möglichkeit die
gesellschaftlichen Fragen, die einen persönlich umtreiben, zu denen eine
Affinität besteht oder denen subjektiv Dringlichkeit zugemessen wird, als Ausgangspunkte parteiischer Positionierung in den Blick zu nehmen. Das hieße
zunächst, sich ein Bild davon zu verschaffen, auf wessen Seite man bereits
steht. Designer*innen besitzen üblicherweise ein eher linkes Selbstverständnis, oder sagen wir besser ein humanistisches Weltbild. Aber auch ein liberales, ein konservatives oder gar nationalistisches Weltbild wären legitimer
Ausgangspunkt parteiischen Handelns. Oft besteht dabei ein offensichtlicher Widerspruch zwischen individueller Weltanschauung und professionellem Handeln. Die Schwierigkeit, die beruflich-designerische und die
persönlich-alltagsweltliche Perspektive übereinander zu legen produziert
teilweise hohen individuellen Leidensdruck. Diese Belastung, die mit der
Lebensführung, professionellem Selbstverständnis und einer Grundschizophrenie im Berufsfeld zu tun hat, kann nicht prinzipiell überwunden
werden. Es ist daher sinnvoll den Unterschied zwischen Leben und Beruf
anzuerkennen, denn insbesondere die zunehmenden Verwechslungen
zwischen Freundschaft und Kollegialität, Konkurrenz oder Abhängigkeit sowie
die gravierenden Irritationen, die der Freizeit einen arbeitsdienlichen Zweck
und der Arbeit den Charakter von Vergnügen geben, sind geeignet, bestehende Parteilichkeit zu verdecken und nicht reduzierbare gesellschaftliche
Widersprüche zu individuell belastenden zu machen. Diese Verwicklungen
können aber auch aufregende Ausgangspunkte sein, sich bestehenden
Parteilichkeiten des eigenen Handelns (beispielweise in Bezug auf Auftraggeber*innen aus der Privatwirtschaft, den arbeitgebenden Hochschulen,
den anfragenden städtischen oder staatlichen Institutionen oder bestimmten
rahmensetzenden soziokulturellen Milieus) bewusst zu werden und über
eine selbstgewählte Parteinahme neu nachzudenken. Dies wäre dann
schon eine weitere Möglichkeit. Wie kann man jene Selbstbefragung auf die
individuelle wie auch professionelle gesellschaftliche Positionierung hin
verlassen? Nicht im Sinne einer Verleugnung dieser Dimension, sondern als
Öffnung für andere Möglichkeiten – als nicht-identitäre Form des Engagements. Der erwähnte Anwalt oder die Trainerin, Beratung oder Kollaboration
RP
»Es gibt viele Probleme mit Widerstand,
»Es ist einfacher sich das Ende der Welt
eines dieser ist, dass es dich in der Erscheinung vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.«
gefangen hält von der du wegkommen willst.
(Jameson 2003)
[…] Ich denke immer noch, dass wir in diesem
Sinne [gefangen] sind weil wir glauben die
Form des Spätkapitalismus sei die Erscheinung
einer innerlichen neurotischen Subjektivität,
welche niemals weiter verbreitet war als im
Zeitalter des Reality TV, wirklich – dass du dich
nicht wehren kannst, kein Außen finden kannst,
das darüber hinausgeht.« (Fisher 2017, S.112)
RP
Jesko Fezer
171
sind hierfür längst erprobte Modelle. Dies würde nicht bedeuten, die vermeintlichen und als relevant wahrgenommenen Probleme Anderer zum Ausgangspunkt professioneller Problemlösungsperspektiven zu machen, sondern sich selbst zur leidenschaftlichen Partner*in Anderer zu machen. Mit
den Anderen sind damit nicht Andere im Prinzip von andersartig und abgesondert gemeint, sondern zunächst ein multiples Nicht-Ich. Dennoch gibt
es in der Gestaltung klassische Andere, sogenannte Klient*innen, Kund*innen
oder Auftraggeber*innen. Designer*innen haben für jene Personengruppen
ein Repertoire an Verständnis- und Umgangsformen entwickelt. Es hat sich
in Bezug auf diese Anderen ein Rollenspiel der Abgrenzung und Bezüglichkeit etabliert, das als eingeübte Kultur der Anderen unhinterfragt das Außen
und den Anforderungshorizont des Entwerfens bildet. Hier andere Andere in
das Blickfeld zu bekommen, jene, die üblicherweise nicht Auftraggeber*innen
von Gestaltung sind in Betracht zu ziehen – möglicherweise mit der gleichen
professionellen Distanz wie auch Empathie – wäre in erster Linie eine Verschiebung in der Arbeitsbeziehung und würde erst im Folgenden zu einer
alternativen Herangehensweise und Designpraxis führen. Aber es wäre
eine Parteinahme.
Was fies klingt – parteiisch sein – und was auch wirklich gemein sein kann,
weil es den gerechten Wettkampf verzerrt und keine objektive und neutrale
Position darstellt, ist in der Praxis der Gestaltung erstens immer der Fall
– wenn auch oft uneingestanden – und zweitens nötig. Nötig für das, was
Mouffe als den demokratischen Konflikt beschreibt. Design sollte nun, da
es seine Politizität endlich (an)erkannt zu haben scheint, in diese Konflikte
eintreten, indem es parteiisch wird. Denn so wenig, wie Design ohne den
Anspruch der Transformation zu denken ist, und so wenig, wie Transformation außerhalb des Politischen vorstellbar wäre, so wenig ist Politik ohne
Parteinahme zu haben. Es geht im Parteiischen Design nicht mehr nur
darum, ein humanistisches Weltbild vorzuweisen, eigene Vorstellungen vom
guten Leben auf andere zu projizieren und redlich auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten zu sein. Dieses harmonische Bild muss durch
eines von unauflösbaren Konflikten gezeichnetes ersetzt werden. Gemein»[…] jede Identität wird durch eine Beziehung mit dem Anderen erweitert. [...] Das
heißt, in der binären Praxis (entweder/oder) ist
Ausschluss die Regel, während die Poetik den
Raum des Unterschieds anstrebt – nicht
Ausschluss, sondern vielmehr, wo Unterschied
im Darüber-Hinausgehen verwirklicht
wird.« (Glissant 1997)
RP
172
»Wie Deleuze glaube ich an die Welt und
möchte darin sein. Ich möchte bis zum
Ende dabei sein, weil ich an eine andere Welt
in der Welt glaube, und darin möchte ich
sein.« (Moten/Harney 2013, S.118)
RP
Parteiisches Design
sam mit den Akteur*innen und Themen dieser Konflikte könnte tatsächlich
die politische Ebene der Auseinandersetzung um Idee und Praxis des Zusammenseins als gelebte Form des Streitens erreicht werden.
Parteiisches Design-Welt-Beziehungen
D1 Heroisches Design mit großem D oder auch
Autorendesign weiß was zu tun ist.
D2 Die affirmative Wunscherfüllung oder das kundenfreundliche Design lässt sich sagen was zu tun ist.
D3 Über systematisch angelegte Marktforschung,
intuitiv sensibles Beobachten oder auch researchbasiertes Wissen bemüht sich Design um ein Verständnis der Wirklichkeit.
Jesko Fezer
D4 Critical Design oder auch Adversarial Design
möchte kritische Fragen stellen, zum Nachdenken
anregen und irritieren.
D5 Ansätze wie partizipatives Design und moderierenden Formen des Social Design gestalten die
Rahmenbedingungen zur Aushandlung von Konflikten.
D6
Parteiisches Design (siehe Text)
173
Wirtschaftliche
Transformationen und die
Gemeinwohl-Ökonomie
Klara Stumpf
Aus der spezifischen Perspektive unseres Forschungsprojekts Gemeinwohl-Ökonomie im Vergleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien
(GIVUN) beschäftigt sich dieser Beitrag mit der ökonomischen Dimension
des gesellschaftlichen Wandels.
Ein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das derzeitige kapitalistische
Wirtschaftssystem systematisch Unsicherheiten produziert und die eigenen Grundlagen gefährdet. Der freie Markt ist eine starke Utopie, wie der
Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi schreibt. Um zu funktionieren, ist das
Marktsystem auf einbettende Institutionen angewiesen (vgl. Polanyi 2015).
Feministische Ökonominnen wie Adelheid Biesecker und Sabine Hofmeister1
sprechen beispielsweise von der Reproduktivität, die in klassischen Ökonomiemodellen häufig unsichtbar bleibt. Gemeint sind damit unter anderem die abgewerteten sozialen und physischen Quellen der Wertschöpfung.
Polanyi spricht in diesem Zusammenhang von fiktiven Waren (Polanyi 2015:
108), also von Gütern, die nicht (rein) für den Verkauf hergestellt, aber bei
1 Siehe zum Beispiel Biesecker,
Adelheid/Hofmeister, Sabine (2006):
Die Neuerfindung des Ökonomischen: ein (re)produktionstheoretischer Beitrag zur sozial-ökologischen
Forschung, München: oekom.
174
ihrer Vermarktung so behandelt werden, wodurch ihre Reproduktion gefährdet wird. Nicht nur nach uns, sondern auch neben uns die Sintflut, um
mit Stephan Lessenich zu sprechen, der in seinem Text über die Externalisierungsgesellschaft beschreibt, wie einige über die Verhältnisse der anderen leben. Er bezieht dies auf prekäre Arbeitsverhältnisse innerhalb von
Gesellschaften, aber auch auf die Lebensstile und gesellschaftlichen Naturverhältnisse des globalen Nordens (vgl. Lessenich 2015). Diese führen
global und intergenerationell zur Externalisierung, also zur Auslagerung
von Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch – bis hin zum Überschreiten von planetaren Grenzen und dem Risiko, Kipppunkte in wichtigen
biophysikalischen Systemen wie dem Klima oder der Resilienz von Ökosystemen zu erreichen. So stellt sich die Frage, ob fortgesetztes wirtschaftliches Wachstum in diesen Gesellschaften des globalen Nordens überhaupt
möglich und wünschbar ist.
Weil das Marktsystem, um dauerhaft zu bestehen, auf einbettende Institutionen angewiesen ist, muss es nach Polanyi quasi notwendigerweise Gegenbewegungen des Schutzes der Gesellschaft geben (vgl. Polanyi 2015). Die
Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung (GWÖ), die wir in unserem Forschungsprojekt GIVUN untersuchen, will eine Alternative zum derzeitigen Wirtschaftssystem bieten und lässt sich als Gegenbewegung zu diesem beschreiben.
Zentrales Ziel der GWÖ-Bewegung ist es, das wirtschaftliche Handeln auf
das Gemeinwohl auszurichten. Monetärer Gewinn soll nicht länger Ziel des
unternehmerischen Handelns sein, sondern lediglich Mittel zum Zweck. Die
Bewegung arbeitet dafür auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Unternehmen,
die ein maßgeblicher Teil der Bewegung sind, und auf der politischen Ebene,
auf der Veränderungen in den Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen
der Wirtschaft angestrebt werden.
Auf der Unternehmensebene operiert die Bewegung mit der sogenannten
Gemeinwohl-Bilanz, die perspektivisch als neue unternehmerische Hauptbilanz dienen soll. Die Gemeinwohl-Bilanz in ihrer (zum Zeitpunkt des Symposiums) aktuellen Version 4.1 erfasst, wie die Werte Menschenwürde,
175
Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie
und Transparenz in der unternehmerischen Praxis Berücksichtigung finden
(vgl. GWÖ 2015). Konkret wird mithilfe von derzeit 17 Indikatoren und dazugehörigen Subindikatoren erhoben und mit Punkten bewertet, wie diese
Grundwerte gegenüber den zentralen Stakeholdern der Unternehmen
– beispielsweise Lieferant*innen, Mitarbeiter*innen, Kund*innen, aber auch
gegenüber anderen Unternehmen sowie dem gesellschaftlichen Umfeld –
Berücksichtigung finden. Zudem gibt es 17 Negativkriterien, für die Minuspunkte verteilt werden. Wer in der Gemeinwohl-Bilanz gut abschneidet, soll,
so der Vorschlag der GWÖ-Bewegung für die politische Ebene, rechtliche
Vorteile erlangen wie etwa Steuererleichterungen oder Vorteile bei öffentlichen Ausschreibungen. Auch andere Rahmenbedingungen sollen verändert werden, etwa durch die Gründung einer gemeinwohlorientierten Bank.
Weitere Forderungen umfassen auch die Einführung eines Solidaritätseinkommens, die radikale Begrenzung des Erbschafts- und Schenkungsrechts
und die Erweiterung des repräsentativen demokratischen Systems um direkte Elemente (vgl. Felber 2012). Kooperation soll gefördert, Konkurrenz
verringert werden. Alle politischen Forderungen sollen in sogenannten Konventen diskutiert und abgestimmt werden. Derzeit ist die Bewegung auf der
politischen Ebene sehr aktiv und versucht, die Gemeinwohl-Bilanzierung
etwa als Berichtsstandard im Rahmen der EU-Richtlinie zur sogenannten
nichtfinanziellen Berichterstattung zu verankern – also Berichterstattung
über Umwelt- und Sozialthemen, Anti-Korruptionsmaßnahmen et cetera.
Beispiele von Anforderungen der Gemeinwohl-Bilanz (vgl. GWÖ 2015):
- Eine Einkommensspreizung von maximal 1:4 gilt als vorbildlich (1:12 gilt
als »erste Schritte«).
- Die Regelarbeitszeit soll gesenkt, Arbeit gerecht verteilt werden.
- Geschäftsbeziehungen mit regionalen Unternehmen gelten als förderungswürdig.
- Ein ökologisch und sozial orientiertes Finanzmanagement soll implementiert werden.
- Durch Reparaturangebote oder Angebote der gemeinsamen Nutzung
an die Kund*innen soll ein suffizientes Konsumverhalten gefördert
werden.
- Eine absichtsvolle Lebenszeitverkürzung von Produkten (geplante
Obsoleszenz) wird negativ bewertet.
176
Wirtschaftliche Transformationen und die Gemeinwohl-Ökonomie
Insgesamt zielen die Indikatoren der Gemeinwohl-Bilanz damit neben Effizienz und Konsistenz auch auf die Nachhaltigkeits-Strategie der Suffizienz.
Viele streben eine Regulierung von Arbeit und Naturnutzung an und somit
einen Schutz dieser fiktiven Waren im Sinne von Polanyi.
Derzeit gibt es knapp 200 Unternehmen vorwiegend in Deutschland und
Österreich, die eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt haben. In unserem Forschungsprojekt führten wir Interviews mit Vertreter*innen einiger dieser
Unternehmen.2 In den Interviews finden wir eine Vielzahl von gemeinwohlorientierten Unternehmenspraktiken wie die Anwendung von erhöhten
Umwelt- und Sozialstandards. Zum Teil erfolgt auch eine stärkere Abgrenzung von dominanten Marktmechanismen, wie in den folgenden Beispielen.
So bezieht etwa ein Bio-Bäcker aus unserem Sample sein Getreide über
Runde Tische mit Bauernhöfen, mit denen man sich langfristig über Preise
und Mengen einigt, und begründet dieses Vorgehen wie folgt:
»Also wir sind komplett abgekoppelt dann vom Markt. Das wollen wir auch
so. Also mit den ganzen aktienbasierten, rohstoffbörsenbasierten Preisen,
da sind wir vor vielen Jahren schon ausgestiegen, weil es überhaupt keinen
Sinn machte, also weder für uns noch für die Bauern.«
Die Bäuer*innen und die Bäckerei machen sich somit unabhängig von den
Rohstoffbörsen, die durch starke Fluktuationen und damit Unsicherheiten
gekennzeichnet sind. Die gleiche Bäckerei versucht, sich auch in anderen
Bereichen vom Markt abzukoppeln. Beispielsweise bietet sie ihre Produkte
zu einem vergleichsweise günstigen Preis an – möglichst viele sollen sich Bio
leisten können –, senkt die Preise aber nicht weiter, weil sie der Branche in
der Stadt nicht das Geschäft verderben möchte. Stattdessen bietet sie ihre
Produkte günstiger in der Gemeinschaftsverpflegung an: für Krankenhäuser,
Kindergärten, Altenheime, Schulen. Die Bäckerei setzt sehr stark auf lokale
Wirtschaftskreisläufe, kauft bevorzugt bei regionalen Betrieben ein und
verkauft ihre Broterzeugnisse auch nur in einem begrenzten lokalen Umfeld.
Ein anderes Beispiel, bei dem sich ein GWÖ-Unternehmen gegen dominante Marktmechanismen richtet, ist ein Förder-Programm für kleinere
2 Die Fallauswahl im Rahmen des
vom BMBF geförderten Projekts
GIVUN umfasst elf GWÖ-Unternehmen aus dem deutschsprachigen
Raum aus allen Sektoren. In die
Studie sind Ein-Personen-Unternehmen ebenso eingeschlossen wie
international agierende mittelständische Unternehmen mit über 450
Beschäftigten. Alle hier verwendeten
Zitate stammen aus dem bisher
unveröffentlichten empirischen
Material der Studie.
Siehe www.uni-flensburg.de/nec/
forschung/givun/
Klara Stumpf
177
Händler, das ein Hersteller von Outdoor-Textilien aus unserem Sample im
Sinne der Gemeinwohl-Bilanz auf den Weg gebracht hat. Im Gegensatz zur
dominanten Logik, nach der große Händler wegen ihrer größeren Bestellmengen günstigere Preise bekommen, sollen hiermit kleine Händler unterstützt werden. Der Textil-Hersteller bietet auch ein Mobilitätskonzept für
die Mitarbeiter*innen mit Carsharing, Busshuttle und bevorzugten Parkplätzen für Fahrräder an. Das Unternehmen betreibt zudem eine Reparaturwerkstatt für seine Produkte, um deren Langlebigkeit zu erhöhen. Es ermöglicht somit einen suffizienteren Konsum.
Während manche der befragten Unternehmen mit ihrer gemeinwohlorientierten Unternehmenspraxis offenbar gut bestehen können, bekommen
andere durchaus die Konkurrenz auf dem Markt zu spüren, wie etwa ein
genossenschaftlicher, ausschließlich ökologisch produzierender Druckereibetrieb aus unserem Sample, der sich von einer Größe von 50 auf 15 Mitarbeiter*innen verkleinern musste. Die Repräsentantin dieses Unternehmens
diskutierte im Interview die Möglichkeit, gemeinwohlorientiertes Wirtschaften durch veränderte Rahmenbedingungen, etwa eine Einkaufsrichtlinie für
öffentliche Einrichtungen, zu fördern, und gibt ihrer Enttäuschung Ausdruck,
dass das bisher nicht geschieht. Weiter würde es dem Unternehmen helfen,
»dass man sagen kann, ein solches Unternehmen wird durch irgendeine
Art Umverteilungsausgleich gefördert, weil wir das gesellschaftlich, volkswirtschaftlich erhalten wollen. Dazu müsste es eben einen zumindest doch
mehrheitlichen Willen in so einer Richtung geben.«
Fragt man sie, wie ihr gemeinwohlorientiertes Wirtschaften unterstützt
werden könnte, nennen auch andere Unternehmensvertreter*innen unseres
Samples Aspekte wie staatliche Zuschüsse, Steuererleichterungen, Bevorzugung bei öffentlichen Aufträgen oder der Kreditvergabe, aber auch eine
realistischere Bewertung der volkswirtschaftlichen Kosten bestimmter umweltschädlicher Betriebspraktiken anderer Unternehmen, etwa in der konventionellen Landwirtschaft.
178
Wirtschaftliche Transformationen und die Gemeinwohl-Ökonomie
Zusammenfassend zeigen die befragten Unternehmen empirisch, dass es
schon unter den heutigen Bedingungen Unternehmen gibt, die Arbeit und
Natur vor dem unbeschränkten Zugriff von Marktmechanismen abschirmen,
oder jedenfalls versuchen, in diese Richtung zu wirken.
Um abschließend auf die Frage nach der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher
Transformationsprozesse zurückzukommen, so ist es vielleicht angemessen,
die GWÖ als einen möglichen Baustein für eine sozial-ökologische Transformation zu beschreiben. Gerade weil die GWÖ entwicklungsoffen und partizipativ ist und demokratisch weiterentwickelt werden soll, bleibt zu beobachten, ob das zu einer Schleifung des Projekts im Sinne eines Greenwashings führt, oder ob es einen tatsächlichen fundamentalen Wandel in den
Werten, Praktiken und Rahmenbedingungen des Wirtschaftssystems anstoßen kann. Ein wichtiger Beitrag der GWÖ liegt sicherlich im Sichtbarmachen
und Erproben von Alternativen auf Unternehmensebene und im Nachdenken über politische Rahmenbedingungen und Zielsetzungen. Der offene,
anpassungsfähige Prozess ermöglicht es, mit unerwarteten Wirkungen,
Nebenwirkungen, Widerständen und sich bietenden Möglichkeiten umzugehen. Das ist es, was wir in unserem Projekt auch weiterhin betrachten und
kritisch reflektieren werden.
Klara Stumpf
179
The Positive Impact Factory:
Transition from Eco-Efficiency
to Eco-Effectiveness
Strategies in Manufacturing
Christoph Herrmann
How do engineers, specialized in manufacturing, deal with sustainability? If
you investigate on sustainability and environmental impact, the main sources
of negative environmental impacts and pollution derive, besides from agriculture, from four areas. One source is accommodation, which is also part of
the reason for the second large source: cooling and heating systems. Mobility is yet another factor as transportation is significantly connected to environmental impact. Lastly, the fourth factor is the making of products. For the
latter issue, we as manufacturing engineers are directly involved, as you can
tell by the name of our institute, Institute of Machine Tools and Production
Technology. Since this is a challenging area, it is up to us to find solutions for
improvement. Naturally, technical and methodological solutions are something set in the future, so we are currently developing concepts for how factories of a more sustainable future should look like.
An advertisement for the city of Braunschweig aimed at citizens and companies says »Ten minutes to work, in five minutes at the lake.« It emphasizes
180
the importance of finding a work-life balance and the benefit of living close
to work. This is more difficult to manage if you live in Braunschweig and work
for example in the neighboring city of Wolfsburg. During rush hours commuting by car between Braunschweig and Wolfsburg takes about an hour
for each journey. If you want to have a brief business lunch in Braunschweig,
the time is far too short to talk reasonably and exchange ideas. Looking from
a larger perspective, if for instance you have friends in the megacity of Delhi,
the current commuting time is up to three hours for one way.1 Even if you are
able to sleep on the bus or train, this ultimately leaves you with roughly three
hours of personal or family time a day, which does not exactly render Delhi
attractive in this regard.
The common opinion of a factory is generally connoted negatively in contrast
to my own positive one. We still mainly use finite fossil resources instead of
renewable ones to generate energy, which leads factories to produce great
amounts of waste, emission, noise, and also traffic, because they are built
far off the city borders, occupying many acres of land. Thus, factories usually
stay in the background behind fences, only appearing in the news when
there is a major accident or some other negative event. Some jobs are monotonous and inflexible, and if not, employees can be substituted by robots,
ultimately replacing jobs. Engineering has always been focusing on finding
solutions for increasing efficiency, for example for a more efficient use of
energy resources or labor. Coming to recognize the troubles of earlier innovations, engineers have been trying to reduce the above-mentioned negative
impacts of factories for about three decades. However, as witnessed on
other developments, this approach results in a function that can be described
as an s-curve ( , S-curve). When aiming for efficiency, reducing factories´ negative impacts can be achieved with a reasonable effort in the beginning. At a
certain point though the required effort to reach an efficiency gain increases
gradually until a disproportionately high investment is necessary without
there being any noticeable progress. At this point, a limit of efficiency can be
observed. This limit is mainly defined by the available technology. Therefore,
an efficiency strategy for reducing the impacts of a factory can only result in
1
IBM Commuter Pain Index
181
impacts that are less bad than the original state. Since our goal is not only to
make things less bad, we have to find other strategies than only relying on
efficiency.
Technology S-Curve Concept according to Foster (1986)
Factory
Impact
positive
neutral
Potential
Effort
Potential
today
Limit of
effectivity
today
Limit of
efficiency
negative
The question we could ask ourselves is: Are there solutions that are not only
less negative but rather positive? Today, you can find examples of engineers
thinking about this challenge. It leads us to the vision of a Positive Impact
Factory – a factory that not only reduces its negative impacts but also actively seeks the exchange with its environment to find new ways of creating
a positive impact. And this is not only a vision with an altruistic goal for residents living next to a factory. At the same time, the strategy of aiming for
greater effectiveness enables new opportunities for producing companies
such as new business models. The Positive Impact Factory pursues a transition from eco-efficiency to eco-effectiveness strategies in manufacturing.
In the following section, we take a closer look at some examples and selected fields of action.
Let’s start with the topic of energy: In Germany, the Energiewende is frequently
in discussion. Pursuing a strategy of efficiency regarding energy demand
would mean to reduce the specific energy demand of a factory to lower the
negative impacts connected to this (for example emissions from combusting
182
The Positive Impact Factory
fossil fuels). A strategy of effectiveness on the other hand would mean to
look for new ways to satisfy the energy demand of the factory, for instance
with renewable energy sources and at the same time supplying the surrounding neighbors with energy generation on-site or waste heat as a positive
impact. Successfully operating factories that create more energy than they
consume already exist. A futuristic eco factory would emit filtered air, which
is cleaner than the air outside the factory. This is already happening (inadvertently) in some densely populated areas, where living conditions have
become extreme due to high population density and access to many private
vehicles. In most cases at the moment, the positive impact of the air-filtering factory is not caused by a purposeful design of the factory. It is simply
because the air outside is polluted that much. Nevertheless, this shows how
factories are able to offer eco-services to their surroundings.
One of the key questions of the future will be how robots and humans in the
context of automation will work together and how they could complement
each other efficiently and risk-free. Typically, humans have to adopt to the
factory. We commonly find shift work and defined tact times that are set by
the machines. To make manual work less stressful we make efforts on spending money in ergonomic design of workplaces. Would it be possible to
design a factory where workers could decide by themselves when to work,
and having the factory adapt to them? This would require a completely different organization of current production systems. Taking this approach one
step further, for example to a factory with fitness elements, the employees
would come to their workplaces in the morning and by the end of the day,
they would have completed a complete training session. Group meetings
would be great for making little exercises; keeping people fit at the workspace and creating bonds between colleagues. These factories would still
have human employees and be their workplaces, only designed differently
as we know them today.
Urban integration is another key field of action. If we bring factories back to
where people live, how can we organize the logistics and infrastructure
Christoph Herrmann
183
around it? There are many innovative concepts for private and public urban
mobility out there today that will be able to solve this challenge in the future.
For the transport of materials, one key concept is to integrate a factory into
the urban material flows in a symbiotic way. This means that the factory and
its production system are a part of these urban material flows, which can
enable factories, for instance to recycle waste created by the inhabitants
within the city to produce new products leading to local value creation. Urban integration also means considering the architecture of factory buildings
and their appearance. A typical image of a factory building is not very appealing to the observer. If factories are designed to be a very attractive place
also from the point of architecture, they can contribute to a higher quality of
living in cities.
It remains a vision and at the same time a challenge for us to create building
blocks for the Positive Impact Factory. The focus lies on two concepts: urban
integration and modular design. As this is a very interdisciplinary concept,
we have to learn to understand the languages of each other. In my experience,
when discussing a factory related challenge, architects, civil engineers and
mechanical engineers do not speak the same language. Moreover, when it
comes to participation of the urban society, there are even larger mismatches
in communication. This means that besides the technical competencies and
those related to the specific expert fields, further skills are required for communication. As a result, the Positive Impact Factory concept incorporates a
designated space for life-long, interactive learning.
184
The Positive Impact Factory
Christoph Herrmann
185
186
Jller (Iller) — Benjamin Maus, Prokop Bartoníček
187
Heimatdesign: Über ungewisse
Gewissheiten bei der
Gestaltung von Heimat, oder:
Wider die Schlapphäbigkeit!1
Franziska Holzner
»Ich habe viel geliebt. Ich habe gekämpft, und ich habe die Worte gefunden, die packen. […] [S]elbst […] Fremden will ich ins Gedächtnis zurückrufen, daß die Menschheit nicht dazu geschaffen ist, ihren Träumen zu
entsagen, die nur ungenügend bekannte Wirklichkeiten sind. Das Glück
ist wirklich da. […] Die Revolutionen kommen nicht immer wie gerufen;
darum heißt es, ihnen bis zu Ende nachgehen, und das mit aller Kraft«
(Mann 1964: 563)
Wenn wir gestalterisch in gesellschaftliche Transformationsprozesse verstrickt sind, so bewegen wir uns angesichts der Unsicherheit unserer Bemühungen zwischen Extremen: Ich nenne sie Allmachtsfantasie und Ohnmachtsrealität. Heinrich Mann lässt seinen Henri behaupten: »Das Glück ist
wirklich da« (Mann 1964: 563). Im Heimatdesign stellen wir uns Heimat als
einen Ort vor, den wir noch nicht kennen, als einen Ort, an dem das Glück
womöglich »wirklich da ist«. Dieser Blick auf Heimat dreht den traditionellen
Heimatbegriff um. Er macht Heimat zur konkreten Utopie der Hin-Gehörig1 Schlapphäbig ist eine Worterfindung Moshe Kahns in seiner Übersetzung des Horcynus Orca von
Stefano D’Arrigo (D‘Arrigo 2015: 32).
188
keit und verlässt den Bereich geografischer oder milieugenerierter Her-Kunft.
Heimat ist dann nicht mehr sicher und biografisch eingetütet, sondern perspektivisch offen. Bezugnehmend auf Ernst Bloch zielt die Gestaltung von
Heimat als konkrete Utopie ab auf die Ent-Deckung der menschlichen Würde
als Bedingung der Möglichkeit von Glück, auf Solidarität, Naturallianz und
nicht zuletzt auf eine Definition von Lebensqualität, die nicht auf Ausbeutung
und Vernichtung basiert (vgl. Bloch 1959; Bloch 1975).
Rem Koolhaas bemerkte 2014 in einem Interview zu der von ihm kuratierten Architektur-Biennale, dass wir uns gestalterisch derzeit auf lediglich drei
Werte konzentrierten: Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Diese hätten
den Platz von »liberté, égalité, fraternité« eingenommen: Koolhaas bezweifelt,
dass das eine Verbesserung sei (Wainwright/Levene 2014). Im Heimatdesign verlassen wir die Komfort-Zone der Gewissheit und wagen uns an
Ungewisses: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Der gestalterischen Allmachtsfantasie steht ein potenter Gegner gegenüber – das wirkliche Leben – oder:
die Ohnmachtsrealität. Bei der Gestaltung von Heimat mit un-gewissem
Ausgang bewegen wir uns von vorneherein auf völlig unsicherem Terrain.
Heimat – allein der Begriff ist schon ein einziges Minenfeld mit all seinen Implikationen von ›Blut und Boden‹, seinem braunen Anstrich und dem Besitzanspruch, den er zu generieren vermag. Doch als Designer*innen sind wir
stets auch Poet*innen und können mit Siegfried Lenz argumentieren:
»Heimat, das ist für mich nicht allein der Ort, an dem die Toten liegen; […]
es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja,
selbst im Schweigen aufgehoben, und es ist der Flecken, an dem man
wiedererkannt wird; und das möchte doch wohl jeder eines Tages: wiedererkannt, und das heißt: aufgenommen werden …« (Lenz 1978: 120).
Heimat, das ist nicht nur vermintes Gelände, sondern auch Feld der Möglichkeiten. »Nichts ist sicher, warum das böse Ende?« (Mann 1964: 230). Die
realen Gegebenheiten tatsächlich und umfassend auf ein nicht böses Ende
hin umgestalten zu können ist eine Allmachtsfantasie. Die leitenden Fantasien dreier Transformationsprojekte seien im Folgenden kurz umrissen. Sie
Peter Tränkle: »Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit« umreißen nicht nur einen vermeintlich sicheren Ort in unsicheren Zeiten,
sondern sind ebenfalls Bestandteile eines
landläufigen Heimatverständnisses. In der Koolhaas’schen Kritik ist natürlich ihre Pervertierung zum Selbstzweck gemeint. Dabei gilt
für beide Begriffstrias, die kritisierte wie
die befürwortete (liberté, égalité, fraternité):
problematisch wird ihre Überhöhung zum
Zweck! Als Modi der Handlungsorientierung
müssen sie nicht kollidieren. Als Zwecke
werden sie jedoch zu wechselseitig-exklusiven
Ideologien: eines hedonistischen Konservatismus beziehungsweise eines nivellierenden
Kollektivismus. Koolhaas’ Kritik ist hier
verkürzt-einseitig, naiv-romantisierend und
gerät damit selbst unter Ideologieverdacht.
189
verbindet das gestalterische Element der Ungewissheit: Der Forstfeldgarten
(Kassel, seit 2010) – ein Nachbarschaftsgarten für und mit Familien mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹; das Geburtshaus Kassel (seit 1997, Umzug
2014) – die räumliche Erweiterung und damit Existenzsicherung einer Gemeinschaft von außerklinisch tätigen Hebammen; sowie die Bewirtschaftung
von Milchvieh-Sömmerungsbetrieben in den Schweizer Alpen (Forschungsprogramm AlpFUTUR, Lauber et al. 2014: 202).
Trotz der inhaltlichen Verschiedenheit der Projekte ähneln sich die Fantasien der Initiator*innen des Gartens, der Hebammen und der Hirt*innen: Sie
realisieren lokal verdichtet, was wir im Heimatdesign Heimat nennen und
woran Rem Koolhaas als gestaltungsleitende Werte erinnerte: friedliches Miteinander, Partizipation, freier Zugang zu frischer Nahrung, regionalisierte
Formen des Wirtschaftens, Erhalt von Gemeingut und Pflege einer Kulturlandschaft. Auf dem Feld der Ungewissheit entstehen in der Praxis kleine erfahrungsbasierte Gewissheiten: Ein Stück neue Heimat für Menschen, die ihr
Zuhause verlassen mussten, Wahlfreiheit für Frauen, wo und wie sie ihr Kind
gebären wollen, Gesundheitsvor- und -fürsorge jenseits ökonomischer Verwertungslogik, gedeihliches Miteinander von Mensch und Tier. Am Horizont
erscheint die Möglichkeit, Lebensqualität anders zu definieren als nur durch
materiellen Wohlstand. Diese Allmachtsfantasie-basierten Konkretionen der
Utopie Heimat waren und sind permanent konfrontiert mit Ohnmachtsrealitäten: Hindernisse institutioneller oder persönlicher Natur, Versicherungen,
Gesetze, Besitzverhältnisse, Missmut, Angst, Krankheit, Tod. Theoretisch
können wir diesen Ohnmachtsrealitäten nicht viel anhaben, praktisch können
wir ihnen aber Gewissheiten abringen – durch Design.
Das partielle Gelingen wie auch das partielle Scheitern in gesellschaftlichen
Transformationsprojekten verdeutlicht, dass in der Ungewissheit Menschliches schlechthin verborgen liegt: die Freiheit. Die Freiheit, die sich aufspannt
zwischen Allmachtsfantasie und Ohnmachtsrealität, und die über Schlapphäbigkeit zu stolpern geneigt ist. Am Anfang dieser Überlegungen wider die
Schlapphäbigkeit standen Träume, die nur »ungenügend bekannte WirklichEs ist nicht nötig zu wissen, was »Menschliches schlechthin« ist, um über die Rolle von
Ungewissheit in der Gestaltung von Transformationsprozessen zu sprechen. Das implizite
Menschenbild solch einer gestalterischen
Absicht ist sicherlich wichtig zu kennen. Aber
derart prinzipiell angegangen ist es ein Thema
für sich und würde mehr Aufwand als bloß
einen klärenden Exkurs notwendig machen.
Da es um die Absicht geht, indirekt (durch die
Gestaltung materieller Umwelt) oder direkt
PT
190
(durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen sozialer Strukturen beziehungsweise
kollektiven Einstellungen et cetera) auf das
Leben von Gruppen von Menschen einzuwirken, woraus auch Unerwünschtes und
Unbekanntes folgen wird, muss die Verantwortung dafür explizit ein zentraler Bestandteil
jener Handlungsabsicht sein. In der Art
würden sich gestalterische Absichten weniger
danach befragen, welche Parole oder welcher
Mythos nun angemessen sei, um in ihrem oder
Heimatdesign: Über ungewisse Gewissheiten bei der Gestaltung von Heimat
keiten« sind (Mann 1964: 563). Was ist nun die spezifische Rolle von Design
in derlei Transformationsprozessen? Ungenügend bekannte Wirklichkeiten
zu träumen? Oder unbekannte Wirklichkeiten qua Visualisierungskompetenz
bekannt zu machen? Designer*innen kommt wohl die Aufgabe einer spezifischen Transformation zu, nämlich der Wandlung von vermeintlicher Gewissheit in offene Ungewissheit: Ohnmachtsrealitäten sind oft nur scheinbar
real. Im konkreten Fall des Geburtshauses Kassel hieß dies beispielsweise,
über die gesundheitspolitischen Hindernisse hinaus die Möglichkeit eines
autonomen und kreativen Umgangs mit Schwangerschaft und Geburt zu
entwerfen, diesen Entwurf als einen in seiner Realisierung elementaren Baustein der physischen und psychischen Gesundheit von Frauen und Kindern
unermüdlich zu kommunizieren und bis zur ausstehenden Änderung der
Rahmenbedingungen Wege zu suchen, wie es eben trotzdem geht.
Ein Irgendwie-trotzdem reicht jedoch noch nicht zum Umbau der Welt in
Heimat. Auf ZEIT ONLINE ärgert sich Ulrich Schnabel im Dezember 2016
über die Stummheit der Wissenschaft angesichts des postfaktischen Zeitalters. Er fordert die universitäre Welt auf, der Stimmung des Hasses etwas
entgegenzusetzen und zitiert Egon Erwin Kisch: »Zu lernen ist, dass nicht die
bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene
Sache« (Schnabel 2016). Eine Aufgabe für Design? Ein alternatives Bild zu
entwickeln ist eine Designaufgabe. Dabei bewusst in die Nischen des gesicherten Wissens hineinzugrätschen und so vorzugehen, wie Umberto Eco
das für Sherlock Holmes einprägsam gezeigt hat: In den Lücken der Information gezielt raten (Eco 1995: 326 ff.). Durch gezieltes Raten wird das
Ungewisse in ein Kompatibilitätsverhältnis zum Gewissen gebracht. Das
macht einen Entwurf konsistent. Durch beharrliches gestalterisches Infragestellen erzeugen wir neue Ungewissheiten und machen Bedingungen
wieder gestaltbar. In der Gestaltung verfechten wir die Sache, nicht nur in
der Theorie. Wir erzeugen etwas, das Niko Paech als »Reallabor« bezeichnet, in dem gelebtes Erfahrungswissen entsteht.2 Was im Heimatdesign
potenziell emergiert, sind kleine Inseln der Gewissheit, Orte und Gelegenheiten, an denen Solidarität, Naturallianz und menschliche Würde keine ganz
seinem Namen euphorisch zu planen sowie zu
gestalten. Vielmehr würden die gestalterischen Absichten jenen Handlungsdrang eher
in die Reflexion ihrer eigenen Angemessenheit sowie ihrer kontextualisierten Selbstprüfung investieren – als ausdrücklicher Bestandteil des gestalterischen Handelns.
2 Vgl. dazu den Beitrag Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik in diesem Band.
Franziska Holzner
Es wird nur die Sichtweise der planenden
und gestaltenden Seite ausgeführt, werden nur
ihre Träume beleuchtet. Es geht um die
Aufklärung der Betroffenen hinsichtlich ihrer
gestaltungsblockierenden Gewissheiten.
Sollen die verändernden planerischen
Absichten jedoch nachhaltig positive Folgen
haben, müssen sie von den Betroffenen
ausgehend erarbeitet, begründet und angepasst
werden. Die Geschichte des Designs und seiner
Reflexion ist überaus reich an Diskursen ...
PT
191
leeren Versprechen mehr sind. Wenn Heimat laut und unverhohlen deutschtümelnd in kernige Sprüche gepackt wird, wenn »Menschen mit Fahnen und
Parolen […] zum Volk verklumpen«, wie David Hugendick treffend formuliert
(Hugendick 2016), so ist es an uns, dieser Verklumpungstendenz unerledigter Vergangenheit eine Lichtungskompetenz exakter Fantasie entgegenzusetzen. Denn »Träume(n) [sind] nur ungenügend bekannte Wirklichkeiten« und
»die Revolutionen kommen nicht immer wie gerufen« (Mann 1964: 563).
Die Ausgangsfrage der Herausgeber*innen lautete: »Können Zukünfte überhaupt nachhaltig zum Besseren gestaltet werden?« Anders gefragt: Kann ein
Umbau der Welt zur Heimat gelingen? Es ist nicht sicher, aber gewiss können
wir davon ausgehen. Die in der Kategorie der Ungewissheit versteckten Möglichkeiten für Design sind das relativ freie Agieren auf den Inseln der Allmachtsfantasie bei gleichzeitiger Anerkennung und Insichtnahme des umgebenden
Ozeans der Ohnmachtsrealitäten. Denn »wir sind hier unten [und] tun immer
nur das nächste« ...
»Auf einmal war Dunkelheit wie vorher, und man rieb sich die Augen. Ein
Feuerwerk […]. Indessen es aber abbrennt, steigen […] kühne Gedanken
auf und wären sonst am Grunde geblieben. Erheben sich zu seinem inneren Himmel, der davon wunderbar anzusehen ist. Henri erblickte das Feuerwerk in sich selbst, sein ganzer Himmel flammte. […] Jetzt sagte er, daß
er es vollbringen wollte und wollte stürzen das Reich der Finsternis. ›[…]
Meine Sache ist, daß die Völker leben sollen, und sollen nicht statt der lebendigen Vernunft an bösen Träumen leiden […]. Nichts ist sicher, warum das
böse Ende. […] Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen
weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. […]‹ […] [E]r geleitete seine teure Herrin in ihr gemeinsames Gemach […]. Er schüttelte den
Kopf, als säh er das Bett zum erstenmal. […] Seine Liebste bemerkte, daß
er zögerte. ›Geliebter Herr, Sie denken wie ich, daß wir alles verkaufen
müßten, um Ihre Kriegskasse zu füllen.‹
›Ich habe leider viel gewagtere Träume gehabt‹, antwortete Henri. ›Hielt sie
für den wahren Sinn der Dinge, solang das Feuerwerk abbrannte. Wahrhaftig gelangte ich währenddessen in ein hohes Gefilde – weiß nicht
und Forderungen zur Notwendigkeit von Ethik,
Partizipation, kritischer Praxis et cetera.
192
Heimatdesign: Über ungewisse Gewissheiten bei der Gestaltung von Heimat
mehr, wieso ich dorthin abirrte. Wir sind hier unten, tun immer nur das
nächste, dabei bleibt es, und das allernächste ist, daß ich dich liebe.‹ «
(Mann 1964: 230f.)
Dieser Beitrag von Franziska Holzner sollte
vor dem Hintergrund des Beitrags von Bernd
Sommer (S. 32) gelesen werden. Seine prognostizierte Umsetzungsproblematik von Klimazielen auf Grund von Pfadabhängigkeit ist eine
spannende Gegenposition zur pathetischen
Design-Agitation und zum Transformationsoptimismus ihres Beitrags. Beide Beiträge sind auf
eine spannende Weise komplementär sowie stellvertretend für ein ganzes Spektrum von Positionen – dafür gilt den Autor*innen mein Dank.
PT
Franziska Holzner
193
194
Hidden Kingdom — Stefan Bladh
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201
Cruising/Queer/Afrofuturism:
Time for Another Kinship
Ulrike Bergermann
What makes the future unclear is not only the fact that it is, per definition,
ahead of us, or the fact that, for example, nuclear missiles could eradicate
the world within hours, or the fact of global warming. The future is uncertain
because the notion of linear time, a time that is behind us and ahead of us,
might just be one of many conceptual modes of time. Certain strands of cultural theory, art and popular culture have been exploring different chronological conceptions, among them are those gathering under the label of
Afrofuturism, and the theories of queer temporality. Both queer people and
the black diaspora – descendants of kidnapped and enslaved African people –
are familiar with cultures of heritage, modes of kinship, history and futures,
that are all but mainstream regarding their alternative kin and networks.
Such a central topic like time provides an abundance of pictures and philosophies of »un/certain futures« from the perspective of those who have
been denied a place near the hegemonic center. Ten million men and women
were kidnapped from Africa and sold to the Americas. All those who survived the middle passage of the slave trade in the Black Atlantic were
robbed of their past, their histories, families and roots; they were forbidden
202
to speak their native languages, were given new Christian names, and had
no agency in making families of their own.1 Since the second half of the 20th
century, a diasporic community has conceived of an impossible movement
through time, which is at once futuristic and nostalgic, future and home,
retro and utopian, a black futurology.2 This occurred in writing, music, and
film, or in the arts3, as well as in comics, fashion and graffiti: a queer time4, a
queer temporality.5
Cruising Utopia by José Esteban Muñoz, from its publication in 2009 to
Muñoz’ untimely death in 2013 and afterwards, has been an inspiring
resource for many scholars, artists, and activists alike6, and it is like a manifesto pointing to a possible future.7 Quoting from Oscar Wilde, »A map of
the world that does not include utopia is not worth glancing at« Muñoz
starts off in annunciating:
»Queerness is not yet here. Queerness is an ideality. Put another way, we
are not yet queer. We may never touch queerness, but we can feel it as the
1 See, among many others: Ira
Berlin, Generations of Captivity: A
History of African American Slaves,
Harvard MA (Harvard University
Press) 2003; Paul Gilroy, The Black
Atlantic: Modernity and Double
Consciousness, London (Verso)
1993; Norbert Finzsch, James Oliver
Horton, Lois E. Horton, Von Benin
nach Baltimore. Die Geschichte
der African Americans, Hamburg
(Hamburger Edition) 1999.
writing in the wake of AIDS): »›Queer »straight time« in: Judith Halberstam,
time‹ is a term for those specific
The Anti-Social Turn in Queer
models of temporality that emerge
Studies, in: Graduate Journal of
within postmodernism once one
Social Science 5, Nr. 2, 2008,
leaves the temporal frames of bour140-156, here 4 et passim; notions
geois reproduction and family,
of chrononormativity, temporal drag
longevity, risk/safety, and inheriand queer asynchronies in:
tance.« Judith Halberstam: In a
Elisabeth Freeman, Time Binds:
queer time and place: transgender
Queer Temporalities, Queer
bodies, subcultural lives, New York,
Histories, Durham (Duke University
London (New York University Press)
Press) 2010; Heather Love, Feeling
2005, chap. 1: Queer Temporality
Backward. Loss and the Politics of
and Postmodern Geographies, 1-21,
Queer History, Harvard MA (Harvard
2 Rasheedah Philips (ed.), Black
here 2, 6. An insightful and extensive University Press) 2009; Beatrice
Quantum Futurism: Theory &
introduction into the field, including
Michaelis, Gabriele Dietze, Elahe
Practice [Volume One], http://
a critical discussion, provide Elahe
Haschemi Yekani, The Queerness
blackquantumfuturism.tumblr.com/
Haschemi Yekani, Eveline Kilian,
of Things Not Queer: Entgrenzungen
post/153451344575/black-quanand Beatrice Michaelis: Introducing
– Affekte und Materialitäten – Intertum-futurism-theory-practice-voQueer Futures, in: ibid., eds., Queer
ven-tionen. Einleitung, in: Feministilume Nov 20th, 2016, and http://
Futures. Reconsidering Ethics,
sche Studien, Heft 2, Nov. 2012,
blackquantumfuturism.tumblr.com,
Activism, and the Political, Farnham,
184-197. I thank Henriette Gunkel
last accessed July 22nd, 2017.
London (Ashgate) 2013, 1-15.
and Elahe Haschemi Yekani
for their inspiring work with these
3 Blackness and temporality are
5 Jose Muñoz spoke of a »utopian
concepts in international as well as
framed by what Adusei-Poku calles
performative«: queerness, in his
German speaking academia.
»heterotemporality«: »I argue that it
view, could never be fully achieved,
is the temporal, spatial, and cultubut it formed a perpetual horizon,
6 Muñoz, Cruising Utopia; see
ral synchronicity, which I call heteronever to be fulfilled or reached; but
Elahe Haschemi Yekani, Henriette
temporal, that most significantly
in desiring it and moving towards it,
Gunkel, Tribute to José Esteban
marks the conditions of being a
queerness would be produced...
Muñoz, in: Johanna Fernández,
black subject in the contemporary
While heteronormative concepts
Danae Gallo González, Veronika Zink
and is intrinsic to post-black art.«
might place queers out of a historical (eds.), W(h)ither Identity. Positioning
Nana Adusei-Poku, Post-Post Black?, idea of lineage, linear time and repro- the Self and Transforming the
in: Black Portraiture[s]. The Black
duction, with the child as a central
Social, Trier (WTV) 2015, 67-70.
Body in the West, ed. by Cheryl
icon for the future of a community,
Finley, Deborah Willis, a special issue queer scholars have pointed to
7 One might criticize his own reaof Nka, Journal of Contemporary
the fact that kinship does not need
dings, mainly his numerous refeAfrican Art, no. 38/39, Nov. 2016,
be just biological, but that the queer
rences to Ernst Blochs »Das Prinzip
80-89, here 82.
kinships of choice might be even
Hoffnung« with all its misogynist
more suitable and reliable in our
currents and Muñoz' weird apology
4 Judith Halberstam introduced
futures than the heteronormative
for that (2-5); one does not need
»queer time« in 2005 not only as a
models have proven to be. See José
to like this particular mode of
different use of time by queer people, Esteban Muñoz, Cruising Utopia.
writing, which might be suitable and
especially thinking about future not
The Then and There of Queer Futurity, inspiring for a manifesto and an
in terms of biological reproduction,
New York, London (New York Univer- essay, but not necessarily a book –
in opposition to the institutions
sity Press) 2009; »the future is
a manifesto, says Muñoz, is a perof family and heterosexuality, but of
kid stuff« in: Lee Edelman, No Future. formative text, »it does utopia...«(26);
other logics of location, movement,
Queer theory and the death drive,
but we do get a lot of his reasoning
and identification (refering to Leo
Durham (Duke University Press)
about potentiality and possibility,
Bersani 1996 and Lee Edelman 1998 2004; the notions of »queer time« vs. as well as performance.
203
warm illuminiation of a horizon imbued with potentiality. We have never
been queer, yet queerness exists for us as an ideality that can be distilled
from the past and used to imagine a future.«8
Muñoz insists on the potential of possibilities in every ›given‹ situation. To
do so, he looks for the not-yet-knowable – in any time, in the past or present,
and in many areas such as philosophy, popular culture, or art. His writing
is not linear, it follows associations, and at times his personal experiences,
which resemble the movement of cruising. Meaning in gay culture: strolling
through an area in search of sexual encounters. Desire drives us in nonlinear ways. In Western philosophy, the distinction between potentiality and
possibility is fundamental.9 »Unlike a possibility, a thing that simply might
happen, a potentiality is a certain mode of nonbeing that is eminent, a thing
that is present but not actually existing in the present tense,« Muñoz writes.10
But how, then, could we conceive of the potentiality of the not-yet-existing,
in its present but not actual mode of being? One way would be to look at the
negative, to the points, where the present is criticized (here with Paolo Virno,
Muñoz speaks of a »modality of the possible« in criticism.11). The present is
not enough (especially for minorities), but must be known in relation to alternative temporal and spatial maps, which may appear on the horizon: you can
see it, but can never reach the line (a messianistic figure). While going for it,
you produce what you desire. For this figure of thought, we can find many formulas, speaking about utopia, or about performativity:
- » ›utopia draws us like a magnet‹; »it is here if not now« « (Krishan Kumar)12
- performativity and utopia are kinds of a »doing in futurity;«13
- »a utopian performativity [...] is a manifestation of a ›doing‹ that is in the
horizon, a mode of possibility. Performance [...] is imbued with a sense
of possibility.«14
The performative speech act is the one that produces reality (I promise you,
I baptize you ...), it produces a jump in time. Afrofuturism, by queering linear
time in looking into the future but also by looking into the past, shakes the
whole idea of succession or chronology even more fundamentally. Wouldn’t
this ›future making‹ be relevant now, not only for queers but any person?
Yes, and no. Because the idea of the future, the concepts of time are in our
8
Muñoz, Cruising Utopia, 1.
9 Just like potentiality/actuality: a
»structuring binarism,« Muñoz,
Cruising Utopia, 9.
10 Ibid.
11 Muñoz, Cruising Utopia, 12.
12 Krishan Kumar, Utopianism,
Milton Keynes (Open University)
1991.
14 Muñoz, Cruising Utopia, 99, in
referring to Agamben: »Possibilities
exist, or more nearly they exist within
a logical real, the possible, which is
within the present and is linked to
presence. Potentialities are different
in that although they are present,
they do not exist in present things.
Thus, potentialities have a temporality that is not in the present but,
more nearly, in the horizon, which
we can understand as futurity. Potentiality is and is not presence [...].«
13 Muñoz, Cruising Utopia, 26.
204
Cruising/Queer/Afrofuturism: Time for Another Kinship
Kelly Doley, ›The End is Nigh‹, performance documentation,
ARTBAR – Curated by Hissy Fit at Museum of Contemporary
Art Australia, Sydney 2015.
culture intertwined with ideas of reproduction. Queer theorist Lee Edelman
argues in No Future15 that the whole idea of future in our society, of a »reproductive futurism« and its fantasy of continuance plays before the perpetual
horizon of the figure of the child. Jennifer Evans followed up, in order »to
question the linearity of time in favour of layering, to advance histories of
complexity instead of cohesiveness, and to chart third possible paths;«16
»queer theorists pointed to time’s heteronormativity, based on a model of
kinship that until very recently denied queer experience, organized as it was
15 Edelman, No Future. (Muñoz
contradicted Edelman, see Cruising
Utopia, 10).
16 »While Koselleck revealed the
layering of timescapes and their
distinct trajectories and tempos,
queer theorists pointed to time’s
heternormativity, based on a model
of kinship that until very recently
denied queer experience, organized
as it was to a great extent around
biological, that is, reproductive time:
birth, adolescence, marriage,
childrearing, death. Queer theory’s
Ulrike Bergermann
temporal turn, then, was not just a
critique of historicism, it was aimed
at the unconscious perpetuation
of historiographical truisms without
full consideration of how these
might actually foreclose our ability to
imagine alternative ways of being in
the first place... delinking our
historical project from the search for
transtemporal, collective cohesiveness in the name of progress and
identity.« Jennifer Evans, Introduction: Why Queer German History, in:
German History, vol. 34, issue 3,
June 2016, http://gh.oxfordjournals.
org/content/early/2016/06/28/
gerhis.ghw034.full?keytype=
ref&ijkey=mwfAiMoKeFHx2rC, last
accessed July 22nd, 2017.
205
to a great extent around biological, that is, reproductive time: birth, adolescence, marriage, childrearing, death.«17 Today, alternative ways to act on climate change and ecological disaster are being searched. Naomi Klein,
cultural critic and political author, wrote about her observations of a »kinship of the infertile« and a »trans-species empathy«: These
»might be the beginnings of a queering of social reproduction that would
allow a different kind of narration to enter into the massive extinctions
that we are currently witnessing, one that is less focused on individual
reproductive capacity and the love and care that may accompany that,
toward a love and care that extends outward, beyond one’s immediate
biological family.«18
Jasbir Puar even argued for an »anticipatory temporality« or »antecedent
temporality;« though being haunted by the ghosts of the past, we could
sniff the ghosts of the future: »the becoming-future is haunting us.«19 This
should be a »politics of the open end,« against the fetishization of innovation and progress, a »deviant chronopolitics«20, deconstructing the naturalization of time (its administrative units of measurements, et cetera). Something
is happening to time, not in time!21 Where the natural world is ever more intoxicated, Heather Davis continues, there are many forms of kinship, which
encompass the biological ones.
»[...] we must also learn to accept all kinds of strange life forms, human
and nonhuman, toward which we generate care, compassion, and commitment. We must learn from queer subjects to build worlds of familial
care that are not bound by biology. [...] The lessons of queer social structures [...] might be instructive in facing both our non-filial human progeny,
and a world filled with increasing uncertainty.«22
Davis’ use of ›queer people not having babies‹ as role models for coping
with survival on a toxic planet does not make too much sense in a time
where gay and lesbian couples do have kids, transgender men and women
are getting pregnant, and heterosexual families queer reproduction through
technologies, so that the use of the term queer cannot refer to homosexuals
exclusively. But it can be used to designate lines through space and time, in
the way philosopher Sara Ahmed proposes:
17 Ibid.
18 Klein, Naomi (2014): This
Changes Everything: Capitalism vs.
the Climate, New York (Simon &
Schuster) , quoted in: Davis, Heather
(2015): »Toxic Progeny: The
Plastisphere and Other Queer
Futures«, in: philoSOPHIA,
A Journal of Continental Feminism,
vol. 5.2, summer 2015, pp. 231-250,
here p. 239.
206
19 Puar, Jasbir K. (2007) : Terrorist
Assemblages. Homonationalism
in Queer Times, Durham/London:
Duke University Press, xx.
20 A notion taken from Elisabeth
Freeman. Puar: Terrorist Assemblages, xxi.
21 Refering to Derrida, Puar:
Terrorist Assemblages, xxii.
22 Davis, Toxic Progeny, 245-246,
writes about queer values: »[C]aring
not (just) about the individual,
the family, or one's descendants, but
about the Other species and persons
to whom one has no immediate
relations – may be the most effective
ecological value,« 232; »the lessons
of queer social structures, of families
not based on biology, and lives not
necessarily afforded protection from
the state or other institutions of
power, might be instructive in facing
both our non-filial human progeny,
and a world filled with increasing
uncertainty.« 246.
Cruising/Queer/Afrofuturism: Time for Another Kinship
- queer: off line, mixed orientation, out of line, sexual aberration,
odd, bent, twisted,
- make things queer: disturb the order of things,
- the sexual orientation ›queers‹ more than just sex, but also the
mechanisms for the reproduction of culture, families, and whiteness.23
Gay Pride Parade, NYC, June 24, 2012.
Genealogy, that is: the pictures we have, the stories we tell, and the knowledge that is produced about inheritance and descent or ancestry, they are
a kind of »straightening device.«24 Inheritance and race,25 sexual reproduction and species reproduction usually get conceptually blurred, although
the mentioned straight lines in reproduction are just some of many. Evolutionary trees or family trees depict coherent lines, genealogical grids, where
the familial and racial become aligned.26 Ahmed’s re-thinking of the genealogical time extends to the past, too: »Looking back is what keeps open the
possibility of going astray. This glance also means an openness to the future,
as the imperfect translation of what is behind us.«27 She might as well have
said this regarding to Afrofuturism.
23 Ahmed, Sara (2006): Queer
Phenomenology. Orientations,
Objects, Others, Durham/London:
Duke University Press, 161.
24 Ibid.
25 They do so in »reproducing
whiteness,« writes Ahmed, Queer
Phenomenology, 120.
Ulrike Bergermann
26 Ahmed, Queer Phenomenology,
122. Feminist scholars like Sarah
Franklin showed how these schemes
do not depict many other hidden
lines of kinship.
27 Ahmed, Queer Phenomenology,
178.
207
Afrofuturistic haunted time
Strategies of mixing science-fiction, iconographies of space travel and aliens,
mythology, technology, and Pan-African politics into speculative stories told
in film, music, literature, comics and in art: this is what makes Afrofuturism a
»magical realism.«28 In (white) mainstream sci-fi, the time-travel paradox –
in which changing something in the past might erase your very existence in
the present – trips up any attempt at changing history. This is not the case in
Afrofuturism, where linear time is not only bent and folded anew, but layered
and paralleled, interlacing time segments that are futuristic and those that
belong to other periods.29 Afrofuturism may criticize hegemonic beliefs in
technological progress, or technological fetishism, and appropriates these
technologies at the same time, as it can be seen in hip-hop: Sampling is an
alternative way of using new technologies, cherishing the heritage of Black
culture and music, and creating an own, unforeseen and never heard of
future in doing so. We might consider this as a new mode of critique (not
only in the social critique in the texts of rap music, but also in the modes of
production), a new production of knowledge about history, which brings
forth new techniques of its own, while analyzing the old, paying it tribute, using
Sun Ra in Space is the Place, movie still.
28 The term Afrofuturism was
coined by white American writer
Mark Dery in »Black to the Future« in
1994, which is a text and a sequel of
three interviews with Black Science
fiction author Samuel R. Delany,
Greg Tate (African-American writer,
musician, ›hip hop journalist‹ for
Village Voice etc.), and Tricia Rose
(professor of Africana Studies,
cultural critic). Mark Dery, Black to
the Future: Interviews with Samuel R.
Delany, Greg Tate, and Tricia Rose,
in: ibid. (ed.), flame wars. The
Discourse on Cyberculture, Durham,
London (Duke University Press)
1994, 179-221; see ibid., Black to the
208
Future: Afro-Futurismus 1.01.
Schwarze US-amerikanische
Science Fiction zwischen Literatur,
Film und Techno, in: springer|in,
3/98, Medien-Orte-Kontext,
translated by Dietmar Dath; ibid.,
Afrofuturism Reloaded: 15 Theses in
15 Minutes, 1.2.2016, www.
fabrikzeitung.ch/black-to-the-futureafrofuturism-3-0/, last accessed
July 22nd, 2017. See also Henriette
Gunkel, »We’ve been to the moon
and back.« Das afrofuturistische
Partikulare im universalisierten
Imaginären, in: Ulrike Bergermann,
Nanna Heidenreich (eds.), total.
Universalismus und Partikularismus
in post_kolonialer Medientheorie,
Bielefeld (transcript) 2015, 149-162;
ibid., Rückwärts in Richtung queerer
Zukunft, in: Dagmar Brunow, Simon
Dickel (eds.), Queer Cinema, Mainz
(Ventil) 2018, 68-81; ibid., kara lynch
(eds.), We Travel the Space Ways:
Black Imagination, Fragments and
Diffractions, Bielefeld (transcript)
2018; Gunkel, »We hold this myth to
be potential.« The Chronopolitical
Implications of an Africanist Science
Fictional Intervention (tbc), Bielefeld
(transcript) 2019.
29 Greg Tate in Dery, Black to the
Future, 208.
Cruising/Queer/Afrofuturism: Time for Another Kinship
it, destroying it, and bringing it to a new life. Samuel Delany pointed out, that
technologies and consumer culture are linked to money and capitalism. In
the entertainment industry a Black access oftentimes has been one of misuse,
of a »conscientious desecration of the artifacts of technology and the entertainment media.«30 That way, Greg Tate argues, »the condition of being alien
and alienated, speaks, in a sense, to the way in which being black in America
is a science fiction experience.«31 He justifies that
»[B]eing a black subject in American society parallels the kind of alienation that science fiction writers try to explore through various genre devices – transporting someone from the past into the future, thrusting someone into an alien culture, on another planet, where he has to confront alien
ways of being. All of these devices reiterate the condition of being black
in American culture. Black people live the estrangement that science fiction writers imagine.«32
At the very same time, this very real life takes place not in opposition to but
intertwined with Afrofuturist time. And the im/possibility to express this
time in our old linear notions is best addressed by an Afrofuturist thinker/
artist/activist. In trying to convince the Black youth to join him in going into
space, Sun Ra, in the famous Afrofuturist film SPACE IS THE PLACE, says:
»I’m not real. I’m just like you. You don’t exist in this society. If you did, your
people wouldn’t be seeking equal rights. You’re not real. If you were, you’d
have some status among the nations of the world. So we’re both myths. I
do not come to you as a reality. I come to you as the myth. Because that’s
what black people are, myths.«33
The question of being is a question of time, past and present. How can myths
be heard, here and now? It is the concept of hauntology, that offers an
explanation. I refer to Mark Fisher here, who wrote about »Afrofuturism and
Hauntology« in Dancecult: Journal of Electronic Music Culture (and it is no
coincidence, that the question of time and being enfolds itself in Black
music). The philosophical notion of ontology conceptualizes ons, the being,
in terms of its foundations and an order of things. But where the past haunts
the present, because it cannot pass, because the dead are undead, and
what will be cannot just follow today, the foundations and temporal logics
30 Tate in Dery, Black to the Future,
192.
31 Tate in Dery, Black to the Future,
208. Tate points to the TV series
Alien Nation, where the aliens were
former slaves who were brought
to Earth on a ship and dumped on
these shores.
32 Tate in Dery, Black to the Future,
212.
33 Sun Ra, born Herman Bount, was
a musician, an artist, and a scholar.
Ulrike Bergermann
In 1971, he taught a course at the
University of California in Berkeley
with the title »The Black Man in
the Cosmos.« He claimed that he
came from planet Saturn, and that
he had been abducted by aliens
once. And he wrote the script for the
film SPACE IS THE PLACE, filmed
on a very tiny budget on 16 mm,
where Ra and other aliens form outer
space try to convince the Black
people to come with them and settle
on a new planet. Their spaceship
is driven by energies taken from
music by Sun Ra and his Arkestra,
dressed in Egyptian style; Ra travels
back in time to Chicago in 1943,
meets his enemy The Overseer, they
enter a duel over the fate of the Black
people; the FBI tortures Ra with
Dixie music [...] in the end, Ra wins,
the spaceship takes off, and Earth is
destroyed. SPACE IS THE PLACE, dir.
John Coney, written by Sun Ra,
Joshua Smith, featuring Sun Ra and
the Arkestra, USA 1972/74, 85 min.
209
are out of joint: »There is no way in which a trauma on the scale of slavery [...]
can be incorporated into history. It must remain a series of gaps, lost names,
screen memories, a hauntology [...] a termination of family lineage, a destruction of narrativised time.« This is especially noticeable in music, maybe
not in rock music, where the cult of authenticity and presence is central. It is
audible, however, in the gaps, scratches, and breakbeats of sampling.
Recorded music has always had an intrinsically »hauntological« dimension.34
Electronic music bears the characteristics of future in its sound, and getting
back to it in the 1990s revives the old »signifier of future«, albeit in a paradoxical nostalgia.35 »In sonic hauntology, we hear that time is out of joint,«
Fisher writes. Sampling »unsettles the illusion of presence« through the
phonographic revenant and in highlighting the conditions of being of the
recording.36
»Afrofuturism unravels any linear model of the future, disrupting the idea
that the future will be a simple supersession of the past. Time in Afrofuturism is plastic, stretchable and prophetic – it is, in other words, a technologised time, in which past and future are subject to ceaseless de- and recomposition. Hip-hop depended on the turntable and the mixer, which
converted pre-recorded material from an inert museum into an infinite
archive, ripe for recombination.«37
Coming back to José Muñoz (as quoted above: »Unlike a possibility, a thing
that simply might happen, a potentiality is a certain mode of nonbeing that
is eminent, a thing that is present but not actually existing in the present
tense«38), we see that this potentiality queers time and it is present in Afrofuturist pictures, sound, and thought. They go from entelechy (the inherent
driving force, having its telos, its aim in itself) to »Funkentelechy« (Parliament, with George Clinton, Funkadelics, 70s, here: 1977). What happened
to the »un/certain futures?«
»We’re not interested in NGO-supplied African Futures [...] Or artworld-induced Afrofuturism. We’ve been rejecting this idea of the future as progress – a linear march through time – for some time. Our sense of time is
innately human: ›it is time‹ when everyone gets there.«39
34 Fisher, The Metaphysics of
Crackle, 43.
35 Fisher, The Metaphysics of
Crackle, 45.
36 Fisher, The Metaphysics of
Crackle, 48f.
37 Dery, Black to the Future, 212,
continues: »Jungle could only
happen when samplers allowed
breakbeats to be timestretched,
maintaining pitch but increasing
tempo and producing the vortical,
210
implosive whorls of sound that
prompted Kodwo Eshun to call it
›rhythmic psychedelia‹ (1999:
05[070]).« Take another example,
another aspect of sampling:
appropriation. Wondering why the
German band Kraftwerk had such a
great influence on Black music,
Tricia Rose quoted musician Africa
Bambaataa: »We have been robots
all the way.« »Adopting the robot«,
for him, was the response to the fact
that Black people had been the
labor force for capitalism. And even
while Kraftwerk was rather
affirmative towards technocapitalism, it is in the mode of appropriation, that Black music turns the
time. Ibid.
38 Muñoz, Cruising Utopia, 9.
39 Call for contributions to an
African SF comic collection of
Chimuranga Magazine, Facebook
posting, March 2nd, 2016.
Cruising/Queer/Afrofuturism: Time for Another Kinship
Stefanie Rau: To ask of the potentials of a
non-linear conception of time is to consider
disorientation as a mode of exploration and
escape of given constraints. In Sara Ahmed’s
words: »Sometimes, disorientation is an
ordinary feeling, or even a feeling that comes
and goes as we move around during the day.
I think we can learn from such ordinary moments. Say, for example, that you are concentrating. You focus. What is before you
becomes the world. The edges of that world
disappear as you zoom in. The object – say the
paper, and the thoughts that gather around
the paper by gathering as lines on the
paper– becomes what is given by losing its
contours. The paper becomes worldly, which
might even mean you lose sight of the table.
Then, behind you, someone calls out your
name. As if by force of habit, you look up, you
even turn around to face what is behind you.
But as your bodily gestures move up, as
you move around, you move out of the world,
without simply falling into a new one. Such
moments when you ›switch‹ dimensions can
be deeply disorientating. One moment does
not follow another, as a sequence of spatial
givens that unfolds as moments of time. They
are moments in which you lose one perspective,
Ulrike Bergermann
but the ›loss‹ itself is not empty or waiting; it
is an object, thick with presence. You
might even see black lines in front of your
eyes as lines that block what is in front of you
when you turn around. You experience the
moment as loss, as the making present of
something that is now absent (the presence of
an absence). You blink, but it takes time for
the world to acquire a new shape. You might
even feel angry from being dislodged from
the world you inhabited as a contourless world.
You might even say to the person who
addressed you with the frustrated reply of
›What is it?‹ What is ›it‹ that makes me lose
what is before me? Such moments of switching dimensions can be disorientating. […] The
point is not whether we experience disorientation (for we will, and we do), but how such
experiences can impact on the orientation of
bodies and spaces, which is after all about how
the things are ›directed‹ and how they are
shaped by the lines they follow. The point is
what we do with such moments of disorientation,
as well as what such moments can do whether
they can offer us the hope of new directions,
and whether new directions are reason enough
for hope.« (Ahmed 2006: 157p)
211
Das Glück in Daten:
Der Workshop
Datenmaske
LaLoma.info
In einem zweistündigen Workshop visualisierte das Kollektiv
LaLoma.info zusammen mit den Teilnehmenden Informationen und machte diese begreifbar, indem sie ihnen mit Papier,
Schere, Fäden, Klebeband et cetera Gestalt verliehen.
Was ist eine Datenmaske?
Für eine Informationsvisualisierung werden Daten mit dem
Ziel gefiltert, eine Position, eine Tendenz oder ein zu
lösendes Problem grafisch zu demonstrieren. Der angewandte Filter zeigt dann denjenigen Ausschnitt aus dem
zugrunde liegenden Datensatz, der die Aussage der Visualisierung am besten zum Ausdruck bringt. Diese Vorgehensweise kann als Maskierung der Daten bezeichnet werden
und ist Grundlage jeder grafischen oder modellhaften
Repräsentation von Informationen.
Eine solche Maske wird durch externe Faktoren beeinflusst:
zum Beispiel die Kompetenzen der visualisierenden Person,
die Interessen derer, die die Daten erhoben haben, die
Absicht, ein Ereignis zu rechtfertigen oder die Intention, eine
politische Aussage zu bestärken.
Nicht immer aber dient die Maske dazu, einen Teil der Daten
zu verbergen: Sie kann scheinbar unbekannte Datencluster
sichtbar machen, eine unerwartete Perspektive in der
Datenstruktur aufdecken oder die grafische Strategie
vollständig verändern.
Durch bestimmte Analysemethoden können aus geeigneten
Datensätzen auch Reaktionen, Wünsche und Bedürfnisse
von Menschen in den unterschiedlichsten Situationen
vorhergesagt werden, was besonders für die Konsum- und
Produktentwicklung von großem Interesse ist. So wird das
Verhältnis von Konsum, Demokratie, Politik und persönlichem
212
Wohlergehen durch die Datenerfassung und deren konstanten Fluss immer enger. Parallel dazu wachsen die Bedürfnisse ebenso schnell wie die Ansprüche auf ihre Befriedigung:
Die Jagd nach dem Glück ist scheinbar nur noch mit Hilfe
der Algorithmen zu gewinnen.
Was ist Glück?
Konträr zu der in der westlichen Welt vorherrschenden
Annahme, dass das Glück sich proportional zur Konsumkapazität verhalte, erprobt das Königreich Bhutan einen
alternativen Ansatz: Anstatt des Bruttonationaleinkommens wird hier das Bruttonationalglück berechnet.
Hier setzt das Experiment unseres Workshops Datenmaske
an, in dem es um das persönliche Glück ging. Die Teilnehmenden selbst generierten dabei die Datenbank, indem sie
zu sieben Fragen Antworten auf einer Skala von eins bis
zehn lieferten .
Die sieben Fragen basierten auf dem Katalog des World
Happiness Report 2016, der jährlich die glücklichsten Länder
der Welt auflistet (vgl. Helliwell et al. 2016). Bunt und ganz
individuell gestaltet, wurde die Visualisierung des eigenen
Glücksspiegels im Anschluss zu Masken verarbeitet und
nach außen getragen .
Eine weitere Studie, der Happy Planet Index (vgl. Happy
Planet Index 2016), schlägt fünf Aktionen vor, um das
persönliche Glücksgefühl zu steigern: sich verbinden, aktiv
sein, aufmerksam sein, stetig weiter lernen und geben. Für
keine dieser Aktionen benötigt man Geld, und keine folgt
dem Prinzip des ständigen Wachstums.
Mit diesem Denkanstoß entwickelten die Teilnehmenden in
drei Gruppen weitere Masken, die sowohl die Person, die die
Maske trägt, als auch die, die sie betrachtet Glück empfinden,
es weiter geben oder darüber nachdenken lassen: Sie laden
ein, sich anzuschließen, sich zu verbinden, etwas von sich zu
geben – oder sich von einer rosa Blase und anderen
spielerischen Materialien inspirieren zu lassen
.
213
Slow Mobility – Mobilität
neu denken. Zur Transformation
des Verkehrs
Stefan Wolf
The New C.A.S.E.
Die Zukunft der Mobilität scheint sich zwischen Connectivity (Vernetzung),
Autonomem Fahren, Sharing und E-Antrieb abzuspielen (C.A.S.E.). Als Smart
Service lässt sie sich darüber hinaus aber völlig neu denken: als systemische und nutzerorientierte Dienstleistung. Es gilt, den autogerechten Verkehr in eine stadtgerechte Mobilität zu transformieren.
Viele Anzeichen, auch die Messen 2017, sprechen dafür, dass die Automobilindustrie die Signale, sich zu verändern, verstanden hat. Hauseigene
Inkubatoren und Akzeleratoren schießen aus dem Boden, Start-Ups werden
gegründet oder gekauft, X-Labs ins Leben gerufen und alternative Organisationsmodelle implementiert, um ebenso agil wie der Wettbewerb zu sein:
Wer noch behauptet, dass sich nichts bewegt, schaut nicht richtig hin. So
viel Wandel war lange nicht, glaubt man den CEOs: E-Mobilität, autonomes
Fahren, digitale Dienste oder neue Nachhaltigkeit – die Transformation geht
tief und scheint den automobilen Stillstand zu widerlegen. Es ereignet sich
viel – und doch passiert zu wenig.
214
»Certain Uncertainties«1 bestehen dabei auf mehreren Ebenen. Sie betreffen das Transformationsdesign, dem ich rate, auf Wesentliches statt auf
Neues zu achten, ebenso wie Unternehmen, die auf Grund der Digitalisierung im Wandel begriffen sind, bis hin zur Gesellschaft, die sich angesichts
einer un/sicheren Zukunft ambivalent verhält. »Liquid modernity« (Bauman
2000) bezeichnet Lebensverhältnisse, die sich verflüssigen und Orientierung erschweren. Auch die Zukunftsbilder der Mobilität oszillieren zwischen
technologischen Innovationen und neuen sozio-ökonomischen Mustern.
Mein Beitrag dreht sich um die Transformation des Verkehrs und die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Im C.A.S.E.-Modus erscheint es zunächst richtig für die Autoindustrie,
alternative Antriebe zu entwickeln und Fahrzeuge zu automatisieren, um
Nutzer*innen Zeit und Geld zu sparen und zugleich die Umwelt zu schonen.
Gleiches gilt für neue Mobilitätsangebote, die, klug digitalisiert, vor allem in
urbanen Räumen zu einer spürbaren Entlastung des Verkehrs beitragen
können. Und schließlich ist es auch in Sachen Nachhaltigkeit – insbesondere nach dem Skandal um manipulierte Motoren – an der Zeit, Ernst zu
machen und wirklich weniger Schadstoffe zu emittieren. Genügend Themen,
in denen es um eine umfassende Transformation der motorisierten individuellen Mobilität geht. Doch diese findet nicht statt: Die Branche geht nicht
weit genug. Man bewegt sich, ohne sich nachhaltig zu wandeln: Es herrscht »rasender Stillstand« (siehe Paul Virilios gleichnamiges Buch zur postmodernen Gesellschaft: Virilio 1992).
Auf Sicht fahren macht auf Dauer blind
Aus gesellschaftlicher Sicht ist ein reiner Wechsel des Antriebskonzeptes
keine nachhaltige Lösung: Material- und Ressourcenverbrauch sind zu hoch,
der Platz in den Städten fehlt und die erforderliche Ladeinfrastruktur würde
– laut Hochrechnungen – zu Kapazitätsengpässen führen. Dennoch addieren die Strategieabteilungen die E-Mobile zu den konventionellen Fahrzeugen, deren Zahl kaum schrumpft, und weiter geht das bekannte Spiel weltweit wachsender Märkte.
1 So lautete der Teil des
Symposiums, innerhalb dessen mein
Vortrag stattfand. Er wurde für die
Publikation gründlich überarbeitet.
215
Auch automatisiertes Fahren wird mehr als Premiumprodukt für Vielfahrende denn als Einstieg in neue Formen der Mobilität gesehen, zum Beispiel
bei Level-4-Autos, die die Person am Lenkrad bei Bedarf entlasten. Erst
das fahrerlose Auto (Level-5) wäre ein kategorialer Sprung in eine andere
Zukunft der Mobilität, die alles neu organisiert, und nicht bloß ein nächster
Technologie-Schritt; Level-5 ist ein Game Changer, der die Mobilität im
schwellenlosen Verbund mit anderen Verkehrsträgern auf den Kopf stellt.
Momentan wird die Automatisierung noch als reiner Zusatz zum Individualverkehr verstanden, um in Stoßzeiten oder Ballungszentren Entlastung zu
schaffen. Das eigentliche Potential ist jedoch deutlich größer: In Verbindung
von Ride-Hailing-Dienstleistungen2 als Plattformökonomien und Flotten
autonomer Fahrzeuge könnte eine ganz neue Mobilität in Städten entstehen. Aber die Bereitschaft, dies bereits jetzt umfassend und strategisch
– als Teil des individuellen öffentlichen Nahverkehrs – anzugehen, bleibt in
den Konzernen gering. So entstehen Angebote, die den Service lediglich
›aufhübschen‹, um neue Geschäftsfelder nicht zu verpassen.
Als ambidextre Strategie3 mag das in Ordnung sein, es reicht aber nicht,
um Mobilität neu zu denken und Unternehmen wirklich zu transformieren.
Die größte Lücke zwischen unternehmerischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit klafft im Bereich der Nachhaltigkeit. So wird
wortreich legitimiert, was wir als Nutzende akzeptieren, denn wir sind selbst
Teil des Problems: Anders ist kaum zu erklären, wieso nur wenig öffentliches Interesse an der Aufklärung des Dieselskandals besteht oder warum
neue Prüfverfahren so lange brauchen, bis sie Anwendung finden. Werden
die echten Emissionen zugrunde gelegt, die ein Fahrzeug im Verkehr
erzeugt, wird es nicht nur teuer, sondern auch unbequem: Autofahren ist
nicht ökologisch. Wir Umweltheuchler*innen4 lassen uns daher bereitwillig
jedes Argument unter die Nase reiben, das uns hilft, unsere eigene Schadstoffbilanz zu frisieren und uns im eigenen ökologischen Fußabdruck
besser zu fühlen. Ehrlichkeit hierzu wäre dagegen die eigentliche Transformation, die ansteht.
2 Ride-Hailing bezieht sich sowohl
auf klassische Taxi-Dienste als auch
die verschiedenen Angebote von
Uber, in denen eine Person auf Abruf
an ihr gewünschtes Ziel gefahren
wird.
4 Siehe dazu »Wir Hochstapler« in
www.forum-fuer-politik-und-kultur.
de/prof-dr-stefan-wolf vom
27.03.2017, sowie den Abschnitt
zum »Ökologischen Versteckspiel«
bei Niko Paech in diesem Band.
3 Ambidextrie (Ambidextery)
meint Beidhändigkeit.
216
Slow Mobility – Mobilität neu denken
Von der Produkt-, über die Nutzungs-, zur Systeminnovation
Um mögliche Veränderungen der Mobilität zu veranschaulichen, möchte ich
im Bereich des Urbanen drei Schritte aufzeigen, die ich als Produkt-, Nutzungs- und Systeminnovationen bezeichne. Wer sich produktseitig mit Verkehr befasst, kommt relativ schnell auf die 3V: Vermeiden, Verändern,
Verbessern (Reduce, Reuse, Recycle). Das Produkt Auto wird innoviert,
indem Fahrten vermieden oder Fahrzeuge so optimiert werden, dass sie
weniger emittieren, bis dahin, dass der Verkehrsfluss verbessert und das
Auto im gesamten Stoffkreislauf wiederverwertet wird. Darin stecken
bereits erste Nutzungsinnovationen, die 4S: sicherer Verkehr, der sauber
und schnell, aber auch schwellenlos zugänglich ist und das Sharing (Teilen
und Nutzen statt Besitzen) einbezieht.
Hier geht es darum, intermodale Verkehre so miteinander zu vernetzen,
dass bequem und einfach unterschiedliche Verkehrsmittel genutzt werden,
um sich in der Stadt zu bewegen: Ich starte zu Hause zu Fuß/per E-Bike,
steige in die Bahn oder lege den Rest des Arbeitsweges mit einem Shuttleon-Demand (zum Beispiel MOIA)5 zurück – und natürlich koordiniere ich
alles über eine App, bis hin zum Bezahlen. Digitale Dienste können so die
Nutzungsdauer und -intensitität der Verkehrsträger steigern und ihre Effizienz erhöhen.
Systemisch wird die Betrachtung aber erst, wenn zum Beispiel auch städtebauliche Aspekte in die Überlegungen zur Mobilität mit einbezogen
werden: Kurze Wege, Vielfalt der Verkehrsträger – weg von der autogerechten Stadt –, dichtere Bebauung bei gleichzeitig höherer Anzahl von Grünanlagen und Wasserflächen. Zugang zu allen Bereichen einer Stadt zu
schaffen sowie die Anmutungsqualität öffentlicher Räume zu erhöhen,
gehört mit in diese ganzheitlichen Überlegungen. Die 6Ds der Stadtentwicklung – Dialog, Dichte, Distanz, Diversity, Disponibilität und Digitalisierung – unterstützen eine systemische Transformation der Mobilität, wenn
alle Aspekte der Bewegung ineinander greifen.
5 MOIA ist die neue Mobility-Provider-Marke im VW-Konzern, die
neben Ride Hailing auch Shuttle on
Demand anbietet. Start ist in
Hamburg im Herbst 2018 mit einer
eigenen E-Flotte.
Stefan Wolf
217
Ein neues Grundverständnis: alternative Mobilitätsformen
Ziel einer nachhaltigen Transformation wäre ein anderer Umgang mit Mobilität, der von der Erreichbarkeit von Einrichtungen ausgeht sowie den
Austausch zwischen Menschen und von Gütern nachhaltig organisiert.
Mobilität ist kein Selbstzweck und das Auto auch nicht unser natürliches
Fortbewegungsmittel. Das eigene Auto war lange Inbegriff der Moderne
und galt als Zeichen für sozialen Fortschritt. Das ist heute nicht mehr zeitgemäß, da wir in der digitalen Moderne persönliche Bewegungsfreiheit auf
sehr unterschiedliche Art und Weise realisieren können.
Ich will dabei gar nicht auf das Virtuelle abzielen: Heute kann ich mich
– zumindest im urbanen Raum – über Apps schwellenlos in Echtzeit schnell
und bequem fortbewegen, wodurch die negativen Aspekte des Autofahrens ins Bewusstsein rücken: Lange Parkplatzsuche, das Auto als Stehzeug,
hohe laufende Kosten und Wertverlust. Die Zeiten des Statussymbols
scheinen vorbei, auch wenn es da ein starkes Stadt-Land-Gefälle sowohl in
der Wahrnehmung als auch in der Nutzung gibt.
Plötzlich entstehen neue Allianzen und Modelle: Unternehmen arbeiten
gemeinsam mit Städten daran, Parkplätze besser zu bewirtschaften oder
den Parksuchverkehr zu optimieren. Nutzfahrzeughersteller suchen mit
Dienstleistern neue nachhaltige Wege auf der letzten Meile. Allen ist klar,
dass den Produktinnovationen auch Nutzungsinnovationen folgen müssen,
sollen sich Mobilität und Transport systemisch transformieren.6 Sich zum
nachhaltigen Mobilitätsdienstleister zu wandeln, lautet die Herausforderung für die Hersteller, denn der eigentliche Change steht noch bevor. Aber
wie kann es gelingen, dass Unternehmen, die bisher Autos produziert
haben, nun plötzlich Mobilität als Ganzes denken?
Drei Ideen für den Umstieg im Kopf
1. Schonungslose Ehrlichkeit. Auf der Seite der Unternehmen wären aufrichtigere Nachhaltigkeitsberichte ebenso notwendig wie eine transparentere Kommunikation und ehrliche Auseinandersetzung mit allen
6 MaaS und TaaS lauten die Kürzel
für diese Smart Services: »Mobility«
oder »Transport as a Service«. Auch
von VaaP ist die Rede: »Van as a
Platform«. Digitalisierung ermöglicht
es prinzipiell, Gegenstände mit
zusätzlichen Services auszustatten,
also zu hybriden Produkten
aufzuwerten.
218
Slow Mobility – Mobilität neu denken
Stakeholdern. Offen sein bedeutet dann auch, sich in die Pflicht nehmen
zu lassen, also Nachhaltigkeitsziele zu nennen und regelmäßig Rechenschaft darüber abzulegen.
2. Beschaffungspolitik7. Die Unternehmen sind alle selbst Fuhrparkbesitzer;
das bedeutet, innovative Mobilitätskonzepte und Antriebstechnologien
können durch eigene Mitarbeiter*innen und deren Fahrzeuge erprobt werden. Hier könnten die Konzerne mit gutem Beispiel vorangehen, nachhaltige Lösungen anbieten und diese Pilotprojekte anschließend ausrollen.
3. Systeminnovation. Wenn es nicht gelingt, das gesamte System Mobilität
neu zu denken, werden wir global nicht nachhaltig sein. Wir sollten die
Kriterien revidieren, anhand derer wir Fortbewegung und Erreichbarkeit
messen. Fußläufigkeit und Bike-Ability müssen ebenso neu gedacht werden wie die Qualität öffentlicher Räume. Die digitale Infrastruktur muss so
genutzt werden, dass alle Fahrten im Prinzip geteilt werden können. Die
Metapher des Netzwerks – auch mit dem öffentlichen Personennahverkehr – ersetzt das Paradigma des Individualverkehrs, und Service Design
wird zum Kaufkriterium. Wem gehört die Stadt? Nach der autogerechten
Stadt als modernem Leitbild geht es nun um stadtgerechte Mobilität als
smarte Idee für die Zukunft.
Slow Mobility – zukunftsfähige Geschäftsideen
Nachhaltigkeit als »triple bottom line« (Elkington 1997) entscheidet sich im
urbanen Raum. Entweder wir finden Lösungen, wie wir unsere Mobilitätsbedürfnisse mit Umwelt und Gesellschaft in Einklang bringen, oder wir ersticken an den Folgen des motorisierten Individualverkehrs.
Die paradigmatische Wende in der Mobilität könnte im Wörtchen slow
stecken und meint nicht nur Entschleunigung, wie es zunächst vielleicht
scheint. Im Konzept der Slow Mobility geht es um den innovativen Ansatz,
sich selbst zu bewegen, und zwar in der Stadt der kurzen Wege. Es geht
ebenso um nachhaltiges Teilen wie um intelligente Anwendungen – slow
7 Diesen Aspekt betont vor allem
Stephan Rammler. Vgl. hierzu
Rammler 2017.
Stefan Wolf
219
als Metapher für einen bewussteren Umgang mit Mobilität, wie wir es von
slow food oder auch von slow fashion kennen. Es wäre ein in jeder Hinsicht
reflexives Mobilitätsverständnis.
Die nächsten sieben Jahre werden für die Automobilbranche ausschlaggebend sein. Transformationen bringen es mit sich, dass Organisationen
wie Personen auch wieder etwas verlernen müssen; das bedeutet, bewusst
bestimmte Pfade zu verlassen und sich möglichst unvoreingenommen auf
Neues einzulassen. Noch wird in der Branche viel vom neuen Geist geredet,
während das alte Denken weiter vorherrscht. Ambivalenz und Unsicherheit
sind spürbar, doch neues Wissen als lernbereite Erwartung braucht mehr
als Start-Up-Rhetorik und agile Arbeitsmethoden.
Vielleicht ist das der eigentliche New CASE, der die ebenso wichtige betriebliche Transformation betrifft: Unternehmen vernetzen sich, sowohl nach
innen wie nach außen. Wissensnetzwerke werden zum neuen Leitbild des
organisationalen Lernens. Sie ermöglichen mehr Autonomie der Mitarbeitenden, die sich in einem offenen und lernfähigen Umfeld anders bewegen
können und dürfen.
Gesellschaftliche Transformation erfasst alle Lebensbereiche. Die darin
eingebettete neue Form der Mobilität wäre ein wichtiger Indikator für diesen Wandel – und das Transformationsdesign Impulsgeber und Nährboden
einer solchen nachhaltigen Entwicklung, die nicht willens ist, die Idee einer
guten Gesellschaft Preis zu geben.
220
Slow Mobility – Mobilität neu denken
Stefan Wolf
221
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Public Receptors & </ghosts> — Gabi Schillig
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224
225
Die Austreibung der
Unsicherheit – Business Gaming
Rolf Nohr
Zu spielen meint in unserer heutigen Gesellschaft nicht nur, ohne Konsequenzen und für das eigene Vergnügen eine Art Probehandeln auszuführen
– in bestimmten Zusammenhängen meint spielen auch, in funktionaler und
operationaler Weise die Bewältigung und Austreibung von Unsicherheit und
Unkalkulierbarkeit zu betreiben. Der Schlüsselbegriff für diese Art des Spiels
ist in den letzten Jahren das buzzword Gamification geworden. Die landläufige Definition von Gamification meint »the use of gamedesign elements
in a none game context« (Deterding et al. 2011), also den Einsatz von Gestaltungsprinzipien, die in spielerischen Umgebungen erprobt und tradiert sind,
in nicht-spielerischen Zusammenhängen. In der Darstellung vieler Apologeten der Gamification erscheint diese Praxis einerseits neu und zum anderen
als ein Allheilmittel zur Verhaltens- und Prozesssteuerung, ebenso wie zur
Prognose und Simulation von komplexen Wirklichkeiten.
Dabei sind jedoch zwei Dinge relativ offensichtlich: Zum einen ist diese Funktionalisierung von Spielelementen keine Erfindung des letzten Jahrzehnts, 1
und zum anderen ist der Einsatz der Designelemente in nicht-spielerischen
Kontexten in vielen Fällen durchaus kritisch zu betrachten. Allzu oft ist das,
was als Spieldesign transferiert wird, nichts anderes als ein mehr oder weni.
Peter Wagner: 1.Viel eher die Ausdifferenzierung des Spiels – das Trennen von Spiel
und anderen Funktionen. Das älteste Spiel
der Welt, das babylonische Spiel der Könige,
wurde vermutlich neben Unterhaltungszwecken zur Prophezeiung und strategischen
Planung genutzt. Im 17. und 18. Jahrhundert
spielten die Lords, Könige und Heerführer
Simulationen ihrer Schlachten in Sandkästen
oder auf tischgroßen Spielbrettern. Die
Kriegsführung selbst, so zum Beispiel in Johan
226
Huizingas Homo Ludens (Huizinga 2004)
beschrieben, hatte große Anteile spielerischer
Elemente wie Stellvertreterkämpfe, das
Verhandeln über die Imagination der Schlacht
oder Regeln in der Kriegsführung selbst, die
eingehalten werden sollten.
PW2.
Noch nicht einmal die guten Elemente, die
Spiele intrinsisch motivierend machen,
sondern lediglich extrinsische Motivationsfaktoren wie Punkte, Rankings, et cetera.
ger subtil eingesetztes Mittel zur Verhaltenssteuerung (»pointsification«,
Robertson 2010) oder zur Ausbeutung (»exploitation ware«, Bogost 2011)
in Arbeitszusammenhängen. 2
.
Mich interessiert im Folgenden weniger eine dezidierte Kritik an der Gamification, sondern vor allem die Frage, wo diese Diskursfigur ihren Ursprung hat:
Warum glauben wir, dass das Spiel eine transformative Kraft hat? Woher
nehmen wir die Überzeugung, dass sich das Spiel jenseits des Ernsten (oder
gar des ›realen Lebens‹) abspielt? Natürlich ist eine solche Figur eher akademisch – die Verspielung der Welt 3 ist eine Diskursfigur, die keinen Anfang
und kein Ende hat. Dennoch lassen sich dabei Kulminationspunkte ausmachen und untersuchen. Beispielhaft soll im Folgenden die Konjunktur der Unternehmensplanspiele der 1950er bis 1970er Jahre als signifikante diskursive
Konstellation skizziert werden, in der unterschiedliche Stränge miteinander
verschmolzen sind, die eine (Vor-) Geschichte der Gamification zeichnen.1
.
1958 erscheint in der Harvard Business Review ein Artikel von Jay Forrester:
»Industrial dynamics – a major breakthrough for decisionmakers« (Forrester
1958: 37), in dem er seinen Ansatz der System Dynamics vorstellt. Es handelt
sich dabei keineswegs um die Erstveröffentlichung seines Ansatzes, aber
es ist das erste Mal, dass in der (wirtschaftsorientierten) Harvard Business
Review über System Dynamics geredet wird. 1967 erscheint in der deutschen
Ausgabe der IBM Nachrichten ein Text von Oskar Morgenstern: »Gametheory
– a new paradigm for social science« (Morgenstern 1969: 482; 575). Auch
dieser Artikel ist bereits vorher veröffentlicht worden – es ist aber eines der
ersten Male, dass eine auf EDV-Probleme zugeschnittene Zeitung über
Spieltheorie berichtet. Und nicht zuletzt erscheint 1958, einen Monat nach
dem Artikel von Forrester, ebenfalls in der Harvard Business Review ein
Text von Richard Andlinger: »Business Games – play one!« (Andlinger 1958:
115). Diese – beliebig herausgegriffenen – Beispiele zeigen: Es scheint in
diesem Zeitraum eine Konjunktur dafür gegeben zu haben, das systemische,
modellative oder simulative Denken aus den spezialisierten fachdisziplinären
Denkräumen in breite gesellschaftliche Zusammenhänge zu überführen. 4
.
1 Vgl. dazu das Forschungsprojekt
Kulturtechnik Unternehmensplanspiel. Wissenstransformation und
Handlungssteuerung an der
Schnittstelle von Wirtschaft,
Computerisierung und Medialität,
http://kulturtechnik.biz/
PW3.
Die funktionale Trennung des Spiels von
zum Beispiel Ritualen, Liturgien, Kriegsführung
oder politischen Repräsentationssystemen hat
das Spiel bis zu einem Punkt geführt, an dem es
einen eigenen Raum erhielt. Man sollte also
eher von Entspielung der Welt sprechen.
Gamification – so wie sie hier beschrieben und
heute verstanden wird - ist ein weiteres
Indiz dafür, dass echtes Spielen (zweckfreies,
übendes, konsequenzloses Handeln) zunehmend losgelöst von anderen Aktivitäten stattfindet und in eigene Sphären verbannt wird.
227
Im Anleser zu Andlingers Text liest man: »You can pit your business wits
against competition; You can plan, control, and measure your progress; You
can prepare yourself for real-life decisions; You can do all this in your own
office at no cost« (ebd.). Ergänzen könnte man noch »… and it is great fun«.
In den frühen Unternehmensplanspielen kulminiert also die Idee, dass wir
das Spiel als eine Trainingssituation, einen Proberaum für die Wirklichkeit,
ein Laboratorium benutzen können. Genauso setzen sich die Business Games
in den 1960er und 1970er Jahren zusammen: Sie stellen sich als Szenarien,
Modelle oder Simulationen vor, in denen ganz bestimmte Praxeologien,
Handlungen und Denkweisen (angeblich) eingeübt werden können. Ihren spezifischen Fokus legen sie dabei auf Handlungsweisen des Ökonomischen. Und
neben der grundsätzlichen Idee des Game Designs als ›initiierende Kraft‹
setzen diese Spiel-Angebote auch auf Effekte von Transformationen durch
Simulationen oder Szenarien.
Eines der ersten Business Games ist die von der American Management Association (AMA) 1956 vorgestellte Top Management Decision Simulation (vgl.
Ricciardi et al. 1957). Sie stellte ein Kooperationsprojekt zwischen der AMA,
der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton und der RAND-Coporation
dar. Im Mai 1957 wurde sie öffentlich vorgestellt, ab September 1957 wurde
das Spiel bei Trainingskursen der AMA am Saranac Lake in New York eingesetzt. Manager*innen bereiten sich hierbei spielend und mithilfe von
Computern auf die neuen Herausforderungen einer sich zunehmend globalisierenden Wirtschaft vor. Was auf einen ersten Blick wie ein schlichtes
Aus- oder Weiterbildungsmittel wirken mag ist bei genauerer Betrachtung
wesentlich mehr. Letztlich wird hier, so die These, im Prozess des Spielens
eine Art von Rationalität herausgebildet und geschärft, die bis heute existiert
und dieser Tage in der Gamification- oder der Serious-Games-Debatte
wieder fröhliche Urstände feiert.
Es ist aber nicht nur die ›transformative Kraft‹ des Spiels, die hier wirkt – am
Objekt oder Prozess des Unternehmensplanspiels kulminieren eine Reihe
unterschiedlicher Diskurse und Denkfiguren. An dieser Stelle sei nur exemEs war auch die Zeit von Roger Caillois‘
populärem spielsoziologischem Werk Die
Spiele und die Menschen (Caillois 1982) – die
Antwort auf Huizingas Homo Ludens.
Außerdem die große Zeit der Entwicklung
der Computersysteme, die Zeit des Funktionalismus in den Sozialwissenschaften und
der Philosophie, das endgültige Scheitern des
Dualismus.
PW4.
228
Die Austreibung der Unsicherheit – Business Gaming
Abbildung 1: Top Management Decision Simulation
plarisch auf die Wichtigkeit der mathematischen Spieltheorie verwiesen,
wie sie John von Neumann und Oskar Morgenstern nur wenige Jahrzehnte
früher vorgestellt hatten (vgl. von Neumann/Morgenstern 1944). Beginnend
mit den 1920er und 1930er Jahren und zunehmend in den 1950er Jahren
wird die Idee des Spiels hier aus dem Schillerschen Befreiungsgestus herausgelöst – der Mensch sei »nur da frei, wo er spielt« (Schiller 1966: 5-95) – und
auf eine bestimmte Handlungs- und Denkweise zugeführt, die nur noch in
sprachlicher Hinsicht Spiel ist. Denn auf was die Spieltheorie abzielt, ist die
Implementierung einer bestimmte Handlungsrationalität.
Ein Beispiel hierfür ist das Handbuch The Compleat Strategyst, 1961 herausgegeben von der RAND Corporation (vgl. Williams 1954). Das Buch adressiert
»the little shopmaker« und gibt diesem Handlungsanweisungen zum Überleben im Spiel des freien Marktes: Wie kann ich den Markt mit den Mitteln der
Rolf Nohr
229
mathematischen Spieltheorie rational so durchdringen, dass ich am Ende des
Tages einen Profit mache? Wie kalkuliere ich das Verhalten der Konkurrenz,
wie entwickle ich eigene Handlungsparameter, die rein rational sind und von
strategischem Kalkül getragen werden? Das Buch stellt nach wie vor eine
der besten Einführungen in die mathematische Spieltheorie dar. Gleichzeitig
zeigt es, wie Akteuren des politisch-wirtschaftlichen Komplexes, wie beispielsweise der RAND Corporation, zu diesem Zeitpunkt daran gelegen ist, eine
bestimmte spezifische Rationalitätsordnung in der US-amerikanischen
Öffentlichkeit zu implementieren. Eine solche Steuerungspolitik lässt sich mit
James Beniger als eine Reaktion auf eine vorgelagerte Krise lesen (Beniger
1986: 429): eine Steuerungsrevolution, die auf Kontrollkrisen folgt. Eine der
größten Kontrollkrisen der Moderne ereignet sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Übergang von der Kriegswirtschaft zu einer Zivilwirtschaft, die
gleichzeitig aber auch eine globalisierte Wirtschaft ist.
Diesen Herausforderungen versucht man mit unterschiedlichen Werkzeugen
und Denkweisen zu begegnen: Die mathematische Spieltheorie versucht
beispielsweise, den Prozess der Entscheidung zu rationalisieren; an anderer
Stelle entstehen Verfahren, um den immer komplexer werdenden Prozess
der Planung zu verwissenschaftlichen. Letztere firmieren unter dem Oberbegriff Operations Research und entstehen in der Kriegswirtschaft aus der
Erkenntnis, dass man Kriege auch als Wirtschaftsprozesse oder als logistische Unternehmungen begreifen muss. Die Tätigkeit der unterschiedlichen
Operationsplanungseinheiten beginnt zunächst mit rein militärischen Aufgaben, wie zum Beispiel in England, wo die Frage der Weiterentwicklung, Verbesserung und Koordination der Luftabwehr in die Hände von Wissenschaftler*innen gegeben wird. Die erste Frage an die Operations Research ist die,
wo sich der Feind in der Zukunft befinden wird, damit die Luftabwehrkanone
ihn erreichen kann. Das ist Prognostik. Relativ schnell werden dann aus den
zunächst sehr operationalen und pragmatischen Aufgabenstellungen der Operations Research Projekte, die über Verfahren der Prognostik, der Szenariobildung, der Simulation versuchen, Kontingenz beherrschbar zu machen. Auch
hier etabliert sich also erkennbar eine spezifische Rationalitätsordnung.
230
Die Austreibung der Unsicherheit – Business Gaming
Diese Rationalitätsordnung überführt sich in der Folge in die Gesellschaft:
Mit Ende des Zweiten Weltkriegs gehen die Operations Research-Akteur*innen in die Wirtschaft. Es sind im Großen und Ganzen die gleichen Personen,
die industrie- und politiknah an der Etablierung von neuen Steuerungsparadigmen arbeiten – und nebenbei das Berufsbild der Consultants prägen. Die
eben schon genannte RAND-Corporation stellt dabei wieder einen gewichtigen Akteur dar. Sie versucht, so etwas wie ›politische Logistik‹ zu implementieren und der Wirtschaft entsprechende Steuerungsinstrumente an
die Hand zu geben. Eines dieser Instrumente, die hier zentral propagiert
werden, sind Simulationsverfahren.
Das Planspiel ist eine solche Simulation – und ein Schulungsinstrument, das
es seit dem 14. Jahrhundert in unterschiedlichsten Formen gibt: als Übungskontor, als abstraktes Brettspiel oder eben auch in der kontinuierlichen Tradition militärischer Planübungen. Natürlich verändert sich in dem Moment,
da der Computer als Werkzeug eingesetzt werden kann, auch die Idee des
Planspiels. Der Computer markiert hier die Wunschkonstellation einer Berechenbarkeitslogik – auf ihn projizieren die Entwickler*innen der Unternehmensplanspiele ihre Hoffnung, eine spezifische Rationalität in diese Planspielverfahren einzubauen und damit Zukunft beherrschbar zu machen. Ziel ist es
also nicht, Zukunft zu prognostizieren, sondern die Kontingenz aus der Zukunft auszutreiben, die Zukünfte auf eine optionale Zukunft zuzurichten und
Subjekte an die Steuerung dieser Zukunftserreichung anzuschließen. Einer
der Mechanismen, die dort auftauchen, ist die Idee des Algorithmischen, oder
genauer die Idee, dass Wirklichkeiten über eine bestimmte Mathematisierung,
Quantifizierung, Wahrscheinlichkeitsberechnung und mathematische Modellbildungsverfahren gebändigt werden könnten. Eine solche Denkungsweise
speist sich auch aus den Ansätzen und Paradigmen der ökonomischen Theorie.
Abbildung zeigt den MONIAC von William Phillips, einen hydraulischen
›Computer‹, der mit Hilfe von Wasserständen in diversen Tanks, Reservoirs
und Schläuchen eine nationale Ökonomie simulierte – die dynamische Kraft
der Märkte, sich gegenseitig auszugleichen und in Gleichgewichtszustände
zurückzukehren. Die Idee für dieses System geht zurück auf Irving Fisher (vgl.
Rolf Nohr
231
Planspiel bei der Bundeswehr, 1961
Brainard/Scarf 2000), einem späteren Nobelpreisträger. Auch hier treffen
wir auf eine spezifische Rationalität der Berechnungslogik und der Beherrschung des Zukünftigen auf der Basis der Modellierung des Gegenwärtigen.
In den Modellen und Modellrechnungen der Ökonomie treffen wir aber auch
auf die Rationalität des Algorithmischen – welche sich selbstverständlich
nicht nur hier sondern paradigmatisch vor allem in den sich ebenfalls um
diese Zeit durchsetzenden Computern und der elektronischen Datenverarbeitung niederschlägt.
Abbildung
zeigt den NIMROD-Rechner der Firma Ferranti, der auf der
Berliner Industrieausstellung 1951 öffentlich vorgestellt wurde. Signifikant
erscheint mir hierbei das auf dem Gerät angebrachte Display: »Elektronengehirn«. Die Diskrepanz zwischen dem festverdrahteten Rechengerät, das
gerade in der Lage war, ein einfaches Abzähl-Spiel gegen sein menschliches
Gegenüber zu gewinnen, und der Erwartungshaltung, dass mit den neuen
Technologien nicht weniger als das menschliche Denken selbst kopiert werden
könne, weist deutlich auf das Fantasmagorium und die Erwartungshaltung
hin, die mit den Computern verbunden war. Der Computer selbst ist ein Teil
der neuen Rationalitätsordnung: Die Idee des algorithmischen, computablen
Denkens wird die Zukunft beherrschbar machen – so zumindest die technisch-utopische Fantasie der 1950er Jahre. Ganz manifest wird diese Fantasie in der kurzen Konjunktur der teaching machines, bei denen es darum ging,
232
Die Austreibung der Unsicherheit – Business Gaming
Der MONIAC von William Phillips
Lernen und Lehren sehr viel stärker über Maschinen und interaktive Systeme
zu organisieren. Diese sehr stark vom Behaviorismus geprägte Bewegung
konzeptualisierte Lernen als Feedbackloopsystem, das in den Algorithmus
einer Maschine übertragen werden kann, und damit Lernen zu einer Funktion
von Leistungskontrolle, Feedbacksystemen und Belohnung überformt. In
den teaching machines kulminieren schon relativ viele der unterschiedlichen
Rationalitätsordnungen und Diskursstränge, die meines Erachtens aber erst
im Unternehmensplanspiel zu ihrer ›vollen Reife‹ zusammenwuchsen.
Rolf Nohr
233
Ferrantis NIMROD auf der Berliner Industrieausstellung am 06.10.1951
Blicken wir noch einmal zurück auf die oben erwähnte Top Management
Decision Simulation der American Management Association. Das AMA-Spiel
ist ein reines Führungsentscheidungsspiel: Es adressierte oberste Entscheidungskräfte der Wirtschaft – den zu diesem Zeitpunkt erst jüngst auf den Plan
getretenen Typus des Managers. Die Top Management Decision Simulation
wird zumeist als direkter Nachfolger der militärischen Kriegs- und Sandkastenspiele charakterisiert und durch seine Entwickler*innen als eine Art
»Kriegsschule für leitende Angestellte der Wirtschaft« ausgewiesen (Ricciardi
et al. 1957: 59).
Letztlich ist diese ›Urszene‹ des Unternehmensplanspiels aber nur eine relative Geburtsstunde. Vielmehr markiert sie einen Punkt im Strom eines mäandernden Stroms unterschiedlicher Rationalitätsdiskurse, der sich immer
wieder in unterschiedlichen Formen materialisiert und dabei Anschluss an
234
Die Austreibung der Unsicherheit – Business Gaming
gesellschaftliche Kontexte sucht. Im Spiel der AMA treffen wir auf den
ersten Blick an zwei Stellen auf eine hohe Anschlussfähigkeit an solche
Thesen. Zum einen begreifen sich die Planspiele als Rationalitätsschulungen
– es geht darum, Entscheidungshandeln auf eine rationale und wissenschaftliche Grundlage zu stellen, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse
(System Dynamics, Modelltheorie, mathematische Spieltheorie) zur Handlungsleitung aufzuarbeiten und neue Technologien – wie das junge Medium
des Computers – zu verwenden, um das störende Subjekt aus ›objektiven‹
Entscheidungsprozessen zu extrahieren (die AMA-Simulation wurde auf
einer IBM 650-Großrechenanlage gespielt). Zum anderen taucht natürlich
auch in der Auseinandersetzung mit der Frage nach den handlungsleitenden
Figurationen wirtschaftlicher Steuerung unweigerlich die Frage nach der Austreibung der Unsicherheit und der Beherrschbarkeit des Zukünftigen auf.
Das Unternehmensplanspiel ist eben nicht nur ein Schulungsmittel, in dem
das Management an eine spezifische Rationalität der Planung und Entscheidung angeschlossen werden soll, sondern versucht auch immer Szenarien
zu simulieren, die künftige Konsequenzen von aktuell getroffenen Entscheidungen modellhaft darzustellen versuchen.
Ganz konkret sind die meisten Unternehmensplanspiele rundenbasierte
Spiele, innerhalb derer die Akteur*innen Firmen oder Abteilungen spielen
und über ein Ensemble unterschiedlicher Optionen strategische Entscheidungen treffen, wie produzierte Produkte in vorwiegend oligopolistisch gedachten Märkten eingebracht werden. Die Spielenden entscheiden letztlich
zumeist über die Höhe der Budgets, die sie für Schulungen, den Aufbau von
Fertigungsstrecken, Forschung und Entwicklung, Marketing und so weiter
aufwenden wollen und speisen am Rundenende die somit festgelegten
Werte in einen Berechnungsalgorithmus ein, der im Computer hinterlegt ist
und auf der Basis von (den Spielenden nicht bekannten) Formeln die Konsequenzen aus den getroffenen Entscheidungen berechnet. Aus dem Rücklauf
dieser Berechnung ziehen die Spielenden ihre Rückschlüsse und beginnen
eine neue Entscheidungsrunde.
Rolf Nohr
235
Für die Aus- und Weiterbildung ist das abschließende Debriefing dieser
Spiele entscheidend: Hier werden die Entscheidungen der Spielenden durch
die Spielleitung bewertet und eingeordnet. Bei den frühen Spielen dieses
Sujets schwingt dabei immer eine One-Best-Way-Rationalität mit: Es gibt nur
ein Ensemble von richtigen Entscheidungen, die man treffen kann, die zur
Marktdominanz führen – alle anderen Optionen führen dazu, dass jemand
anderes marktdominant ist. Auf der Ebene der Rationalitätsordnungen ist an
diesen Spielen aber etwas anderes interessant: In ihnen liegt eine bestimmte
Steuerungslogik begründet, eine bestimmte Denkweise, die merkwürdig
ambivalent erscheint: Auf der einen Seite nimmt sie alles auf, was wir mit
Spiel konnotieren. Ein Spiel bedarf einer Strategie – wie gewinne ich? Diese
Strategie besteht im Wesentlichen darin, aus der Gegenwart heraus die
Zukunft zu prognostizieren und beherrschbar zu machen. 5 Diese Logik des
Spielerischen verbindet sich im Unternehmensplanspiel über das algorithmische Denken mit der Ökonomie, also mit dem Wunsch, über die Algorithmik, über den Computer, die Simulation und das Szenario Zukünfte beherr.
Entscheidungsblatt des bundesrepublikanischen Unternehmensplanspiels TOPIC 1
PW5.
Das ist vor allem eine westliche Sicht auf
die Dinge. Asiatische Strategie fußt auf
dem Blick auf die Vermehrung gegenwärtiger
Potentiale. Siehe dazu François Julliens
Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und
Effizienz in China und im Westen (Jullien
2006). Jullien beschreibt hier, wie eine
Gestaltung der Gegenwart im Zentrum des
östlichen strategischen Denkens steht, um aus
einer sicheren Position heraus in die Zukunft
236
voranzuschreiten. Als Metapher dieser
Unterschiedlichkeit kann auch der Blick auf die
Spiele Schach und Go hilfreich sein. Schach
wird im Allgemeinen mit dem Vorplanen und
Antizipieren von Zügen verknüpft – das
gezielte Schlagen von Figuren zum Erreichen
eines Zieles. Go hingegen hat die Kontrolle
von Territorium zum Ziel, in den ersten
Spielphasen spielt der Gegner keine wesentliche Rolle. Dennoch: Strategie bedeutet aber
Die Austreibung der Unsicherheit – Business Gaming
schbar zu machen. ›Eingeübt‹ wird im Planspiel also nicht (nur) der skill der
Entscheidung, sondern die Idee der Entscheidbarkeit, die voraussetzt, dass
Szenarien und Modelle überhaupt funktionieren, dass sich Unsicherheiten
austreiben lassen. Das ist die eigentliche Setzung von solchen Spielen,
und darauf beruht auch die große Nachfrage. Es dauert daher auch nicht
lange, bis dieses Konzept aus den verschlossenen Konferenzräumen der
6
Unternehmen in die breite
Öffentlichkeit dringt: Viele Unternehmensplanspiele
konnte man in den 1970er Jahren einfach im Handel kaufen. Sie existierten
– und existieren – analog zu Spielen wie Monopoly – und auch Monopoly ist
letztlich nichts anderes als ein Unternehmensplanspiel. Spiele wie Big Boss,
Executive Decision oder Petroleum existieren zu Hunderten als Brettspielvarianten, und führen ihr Nachleben heute in Form von Wirtschaft- und Aufbausimulationen im Markt der Computerspiele, wie sie in jedem Elektronikfachmarkt verkauft werden. Zudem haben sich eben nicht nur die Spiele
selbst und die ihnen innewohnenden Konstellationen von spezifischen Rationalitätsordnungen und spezifischen Ansätzen über die zu modellierende
Zukunft erhalten – unter dem Oberbegriff von Gamification und Serious
Games hat sich auch die dazugehörige Ideologie der Funktionalisierung von
Spiel zu nicht spielerischen Operationalisierungen fortgesetzt.
.
auch im Westen nicht ausschließlich die Prognose von Zukunft – Performanz, Konsistenz
und andere Schwerpunkte können Grundlage
einer Strategie sein.
6 Guter Punkt. Es ist aber auch mehr als das,
wenn wir Spiel wirklich ernst nehmen wollen.
Denn es werden hier auch verschiedene
Rollen eingeübt. Es wird Verlieren geübt. Man
hofft über virtuelle Erfahrungen echte
Erfahrungen vorwegnehmen zu können. Es
geht auch um die Komplexitätssteigerung
der Menschen im Spiel und die Effekte, die ein
Spiel über sein Ende hinaus in die soziale
Wirklichkeit trägt.
PW .
Rolf Nohr
237
Unplanning the City
(Polylemma)
Markus Bader
I am co-founder of Raumlabor. We are a group of nine architects, working
across the fields of architecture, urban design, art, and theater. »Doing things
together« was always part of our working structure. We have worked a lot in
public urban spaces, producing and co-producing prototypical situations
for something that we could call urban transformation. We believe we need
to work on a common understanding of the city. The city is not unchangeable like weather, and humans cannot be passive recipients of an existing
status quo. We, as Raumlabor, consider ourselves co-producers of this big,
complex entity that is the city. Because of that, we need to acknowledge that
urban processes tend to take a long time, but by acting in an urban environment we can become co-producers of what we call the city. We conceive of
the city as a place of diversity, where different ideas and modes of living
coexist. We believe that the culture of living this diversity is a great value
within the urban. We are working for an understanding that public space can
be a place where we cross the boundaries of our invisible bubbles and echochambers; a place where we encounter the other, exercising our practice of
238
mutual tolerance, acceptance, and understanding as practices of life in diversity. With this perspective, the public sphere could be a place for negotiation
or struggle, but also a training ground for living together in this world. As I
speak from a perspective of a practitioner, I decided to bring three examples
from our work: (1) the framework for actions; (2) the form of a conversation;
(3) a proposal. I show these examples not with the intention to say »this is the
way we should do it,« but as an attempt to inhabit something that we call the
future. is a literal, self-referential take on the idea of inhabiting the future:
you simply construct the word future, in large letters, and put them up, so you
can literally inhabit the future. If it only was that simple, the way forward would
be easy. Cities, however, are more complex than that.
The first example of our work is Berlin’s recreational park and former airfield,
Tempelhofer Feld. We were involved in designing a process. The area is located quite centrally in Berlin, next to Volkspark Hasenheide and Schillerkiez
in Neukölln. Tempelhofer Park is a fantastic, enormous place with vast open
spaces and a huge building. In late 2006, the Department of Urban Development was in a difficult situation, as they had no answer to the very simple
question, »What should we do with this piece of public infrastructure once
we stop using it as an airport?« This can be best illustrated with numbers:
239
There are about 382ha of land, and 300.000m of building within central Berlin’s perimeter of the S-Bahn. It is an enormous resource to redistribute, to
renegotiate, to bring back into common urban use. Since it is public property, it should be used for a common purpose, as a commons, or Gemeingut
as we call it in German.
But here, we face political difficulties, because the answer to the simple
question of what we should do with the former airport, is not simple at all. A
public call for ideas and an online participation process was a first attempt
to share the responsibility in trying to give an answer to that question. A lot
of ideas were produced, collected, catalogued, listed, evaluated, and voted
for. Most of the people who participated voted for designing a lake, which
we included in our drafts. We produced a slightly polemic image, featuring a
lot of the ideas projected onto the airfield. It represents a collective image of
possibilities, but we all know that reality is the very opposite. Berlin was
bankrupt at that time, and forced to sell off its properties, not being able to
afford any of the great desired changes of the public call for ideas. Instead,
there were only very small interventions: A new skate park was built, and the
old baseball fields left behind by the American forces after World War II
were reintroduced. The large-scale decisions, however, were not to be
taken with the participation of civic society but instead delegated to topdown expert-exclusive processes – in this case a competition for the park
redesign. An open call for participation can turn out to be problematic at
times. The residents might expect the ideas they articulate to be fulfilled by
the city’s administration: they are in power, after all, and should be in a position to fulfil these dreams. If expectations are not met, frustration grows.
Misunderstandings like this can only be avoided through very precise and
careful communication strategies, being open about the scale of the possible investment and the degree of power being shared.
In this context, Raumlabor together with Klaus Overmeyer of Studio Urban
Catalyst and Michael Braum & Partner started working with what we identified as a time gap between the existing definition of the place as an airport
240
Unplanning the City (Polylemma)
and the future role of the field as part of the city. Designing the transition
process became our objective, using a method devised by Jeroen Saris an
urban planner based in Amsterdam. Saris developed The Strategy of the
Venetian Bridge, which basically describes an inductive process of divergence and convergence for creating urban ideas. He proposes a time of five
years to create openness, stimulate ideas, find programs, support diversity,
act temporarily, and to test plans. Only then one should start to decide
which way to go, to condense, consolidate, determine and start investing.
Planning usually works very differently: Urban planning mostly follows an
already determined approach. Like a master plan, the future is clearly
defined. The drawbacks of this strategy come to light when it occasions
immediate rearrangements and adjustments to the initial plans. To accommodate local learning in the process of designing the city, we developed a
new planning tool, called the »Dynamic Master Plan«. We understand the
plan to be a very powerful tool to talk about futures. We try to open it up by
introducing multiple layers, which can be changed over time while main-
taining their basic relation to each other. In this way the Dynamic Master
Plan could be a tool for collecting knowledge and projecting a future at the
same time. We also produced process plans in order to project useful consecutive actions and talk about the implementation of an urban transformation within a reasonable time frame. These techniques were used to describe
the appropriation process of Tempelhofer Park as based on the actual activities that occur in this space. Public space is not just there when you open a
fence or lock, it grows through the interpretations and actions of the people
using it.
This plan shows the areas for pioneering uses of this space, and while it is
not very pleasing aesthetically it is of key importance strategically as it was
the foundation of the agreement reached between Raumlabor as the proposing party, the administration and the politicians. »Pioneer Users« are
people bringing ideas, time, and maybe even money to a place – as laid out in
The Strategy of the Venetian Bridge. In Tempelhof, it was about giving away
land for free to people to just do what they want. The precondition was that
Markus Bader
241
the park should be available to the general public, and that, in turn, the public
should try to contribute an interpretation of this open field as a public park: a
paradigmatic change to ›unplanning‹ the city, to open the definition of a collective urban future to experimentation and experience in use. With the activities inscribed into it, a park is more than a bench, a field of grass, and a little
path to walk on. A park confronts us with a far more diverse spatial experience. This process is not determined towards predictable results per se.
Then, however, a conflict arose: After our expertise was handed in and the
airport use was stopped, the fence remained closed and the future of the
site seemed unclear. The mood in the city took an unhappy, discontented
turn, and in June 2009 an initiative called for squatting the airport, a year
after its closure. This kind of thinking solely in black-and-white terms is very
typical of Berlin. Its citizens and the people who are using the city, making
the city, are seen as aggressors, strange people intent on committing crimes
and doing illegal things, when in fact they only want to use their own space.
The claim »It’s a public property, so why can’t we use it?« was the watchword of the day then. In May 2010 the fence and the park were finally opened
to the public, and people immediately realized the enormous potential of
this space. Finally, the pioneer process was kicked off, too, and I liked that
242
Unplanning the City (Polylemma)
very much indeed: People started to do all the things that they had wanted
to do. Urban gardening became very popular and prominent. There is the
Allmendekontor, which is not only a project about gardening, but about
bringing people together. Approximately eight to nine hundred people from
the neighborhood united in a frame of a social condenser which produces
this super-non-standard, heterogeneous surface as a public place of gathering, of interpretation, open to everyone else in the city.
The second example in this text is the Urban School. It is a project that is not
primarily physical but that really invests its time in creating a conversation.
The project is a response to an invitation by Urbane Künste Ruhr, to work
within the on-going transformation of the Ruhrgebiet (Ruhr Valley area, the
historic industrial core of the country). We decided to introduce it in the
context of a school as an existing protocol that invites people to join the
conversation about urban transformation in order to propose a school of
urban practice. Our goal was to bring people together throughout Europe
with practitioners active in the field between art, theatre, performance and
urban planning, a field we like to identify as urban practice.
We (Raumlabor) started with a series of research trips to Paris, Marseille, Liverpool, and Athens. We explored the diverse local conditions and interviewed
practitioners responding to theses contexts about their strategies and
experience. In the second half of the year, we located the urban school in
the city center of Witten (Ruhrgebiet), opening our shop school, in an empty
retail space in a dying part of the pedestrian zone. A central question of
urban transformation in the Ruhrgebiet became immediately tangible: if
retail is not the future, as today everybody goes shopping in malls or does
shopping online, what then is our vision for the inner city? Next to building a
discourse, the Urban School encouraged a discovery of ideas and testing
some of them. A hot bench created by artist Valentina Karga was placed in
the center of the public sphere, right where people pass by and can get in
touch with this strange way of thinking about the city, questioning urban
conditions. By becoming part of the construction of this intervention, people
Markus Bader
243
244
Unplanning the City (Polylemma)
can cross the boundaries from being a consumer of the city, to becoming
people who talk about transformation, maybe starting to imagine themselves
also as contributors.
The third project is placed in Montréal. It is a little pavilion placed right in the
center of the city, dealing with the resource water. The pavilion, Fountain
House , collects drinking water in a small basin and has a string of nozzles
that create a thin water cloud in its heart, keeping the water continuously
running and perpetually producing a subtle, rippling sound. The proposal
here is: »What if we reshape or create completely new ends to our public
infrastructure?« Fountain House can be seen as celebration of the public
good of the clean drinking water which we all use every day. This running
water tap raises questions: »Isn’t this fantastic that we all have these infrastructures? How do we value them?« This public installation creates a friendly,
warm and welcoming common room where people can take in the atmosphere, pause for a moment in time, breathe freely and be by themselves. It is
right in the heart of the pedestrian zone, so that people might feel themselves
directly becoming a part of the city, with fewer challenges and more mutual
respect and acceptance. Are not these the core values of what a public space
is about? A place to be human, a place to co-exist, and to view and encounter
the other as a person next to me in all his or her difference and uniqueness?
In conclusion, we can refer back to the title of this essay, the idea of Polylemma. We understand cities to be complex structures. They are formed by
our collective actions and through these cities are turned into procedural
entities. As these complexities just cannot be fully pictured, all professional
modes of city-making and urban planning are currently using fragmented
perspectives with preconceived priorities. With this text and the examples
provided I suggest a strategic shift from deterministic planning to a navigational and explorative approach, understanding both the profession and
the city as a field to be navigated rather than controlled and determined. To
get there, we need to ›unlearn‹ some of our professional protocols, and learn
how to bridge differences, and build trust between people. This begins with
a good conversation.
Markus Bader
245
Epilog
Marius Förster
Eine Tagung und die darauf aufbauende Publikation können zwar nach Radikalität fragen, aber als ein radikales Format wahrgenommen werden sie
wohl kaum: bewährte wissenschaftliche Formate, denen der zeitgeistige
Esprit fehlt. Wir müssten die Inhalte wohl mit Hilfe präemptiver Algorithmen1
generieren, um zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Gegenwärtigkeitsansprüche geltend zu machen. Büchern, und seien es ihre digitalen Äquivalente, scheint eine Patina der Behäbigkeit anzuhaften – romantisch, anachronistisch. Aber steckt in der Zeitwidrigkeit nicht ein gewisses Maß jener
Radikalität, die unsere Fragen benötigen? – nicht im Sinne eines (reaktionären) Konservativismus, sondern mit kritischem Blick auf die Phänomene
unserer Zeit – um nicht an der unsichtbaren Hand (Adam Smith) der roten
Königin (Alice hinter den Spiegeln)2 hängend nur rennend auf der Stelle zu
treten. Wir suchen nach einer Transformativität, die weder in den Schleifen
der Kritik gefangen bleibt, noch Veränderung zum Selbstzweck deklariert.
Es geht um ein Auseinanderfallen, Aus-der-Zeit-fallen (die geplante Obsoleszenz von Pfadabhängikeiten) – in dem Versuch dem Beschleunigungsparadigma zu entkommen und im vollen Bewusstsein über die Unüberwindbarkeit von Komplexität und Kontingenz. Die entstehenden Bruchstücke bilden
eine Topografie, die es zu entdecken gilt: auf der Verbindungslinien
gezogen werden, Wege beschritten und Kreuzungspunkte sowie Zentren
und Peripherien entstehen.
Das Symposium fand circa eineinhalb Jahre vor Veröffentlichung des Buches
statt. Der Entstehungsprozess war genau durch das Aufbringen dieser Zeit
geprägt, das Ringen um eine Zeitökonomie, die Rekursivität statt Präemption verlangt, zuwider allen Alltags-Deadlines und Projekt-Jonglagen.
Das Engagement der Autor*innen, der intensive Austausch mit und zwischen
Beitragenden, die Kuration, Redaktion, Lektorat, Layout und Zusammenarbeit mit Verlag und Druckerei machen den Wert dieses Projektes aus: Eine
Art Triangulation, die sich der Komplexität annimmt, welche die Fragen
zur Transformation mit sich bringen. Verwickelt in Zuversicht und Unsicherheit suchen wir nach Pfaden im »Kakosmos«³ (Latour, 2016), die das
Potential besitzen »Wirklichkeit zu perforieren« (Malorny, in diesem Band)
um mögliche beziehungsweise bevorzugte Richtungen sichtbar und gegebenenfalls begehbar zu machen. Das Layout greift diese Idee auf: Eine dystopisch anmutende Landschaft, die sich genauerer Bestimmung verwehrt,
1 Zuspitzung der Predictive
Analytics – siehe Irina Kaldracks
Beitrag in diesem Buch – a la Minority
Report (Film).
2 Carroll, Lewis (1996). The
Complete Illustrated Lewis Carroll.
Ware, Hertfordshire: Wordworth
Editions, p. 141.
246
3 Kakosmus (Kakofonie und
Kosmos) beschreibt die Gleichzeitigkeit sich widersprechender
Informationen, Meinungen, Emotionen, Ambiguitäten, ...
Latour, Bruno (2016): An Attempt at
a »Compositionist Manifesto.«
Mexico City: Gato Negro Ediciones.
aber mit Orten und Wegen gekennzeichnet scheinbar lesbar wird, mögliche
Cluster und Verbindungen vorschlägt. Über die Stirnseite wuchernd – das
Buch umschließend – bedeutet das Aufsuchen der Orte, respektive
der Artikel und Kunstbeiträge im Buch das Aufbrechen der dystopischen
Oberfläche, die Suche nach den Rissen und Brüchen im Narrativ der
Alternativlosigkeit. Laut Latour schaut die moderne Held*in nicht in die
Zukunft, sondern mit Schrecken in die Vergangenheit – vor ihr fliehend ohne
sich ihrer eigenen gestaltenden/zerstörerischen Kraft bewusst zu werden .
Mit dem Bewusstsein für die ökologische Krise erkennt der Mensch die
anthropogene Kraft, das Chaos, das unsere Flucht vor der Vergangenheit
verursacht hat. Der Anthropozän-Schreck ist der erst vor Kurzem erfolgte
Wechsel der Perspektive: Der Mensch bewegt sich nicht mehr mit dem
Rücken Richtung Zukunft, sondern ist mit ihr konfrontiert.4 Wohin führt uns
dieses Latour'sche Höhlengleichnis?
Es ist leichter sich das Ende der Welt vorzustellen als einen positiven
Wandel5 (was auch immer ›positiv‹, für ganz gleich wen, bedeutet). Fortschreiten wird zum unsicheren Unterfangen, ist doch nur die Apokalypse am
Horizont auszumachen, oder Innovation als das ›ewig Neue,‹ das dem ›immer
weiter‹ eine frische Note verleiht. Utopien als Produkte einer Gegenwart,
die sich dem Schrecken der Vergangenheit verdanken, scheinen für Latour
auch wenig hilfreich. Was bleibt ist eine bewusste Gestaltung, die Erwartungen formuliert und einfordert. Aber wie? Wir wissen, wie es mit Platons
Protagonisten endete .
Trotz fehlender Antworten lässt sich jedoch einiges ausschließen. Weder
können (einzelne) wissenschaftliche Disziplinen Ansprüche auf Deutungshoheit über die Welt(probleme) erheben, theorieverdrossene Pragmatiker*innen mit Aktionismus die Welt retten, noch wirtschaftlich-territoriale
Hegemonien (globaler Norden vs. globaler Süden) über die Geschicke
entscheiden. Genau das ist das Wertvolle der Konferenz, auf der diese Publikation fußt: ein transdisziplinärer Blick auf, mit und über die Grenzen des
Designs hinweg. Der Studiengang Transformation Design lud verschiedene
Sprecher*innen aus Wissenschaft und Praxis ein um über die Gestaltbarkeit
der Gegenwart und möglicher Zukünfte nachzudenken. Natürlich ging es
nicht um das Aufstellen eines Weltrettungsplans, sondern um das bereits erwähnte Ausloten von scope und stance – Transformation mit und von
Design, das Unsicherheiten produktiv hält. Im Dienst dieser Transformation
setzt sich der Blick auf die un/certain futures über die Grenzen eines reinen
Konferenzbandes hinweg und spinnt den produktiven Diskurs, der beim
Symposium zwischen den Teilnehmenden entstand, auf seine Weise fort.
4 Latour, Bruno (2016): An Attempt
at a ››Compositionist Manifesto.‹‹
Mexico City: Gato Negro Ediciones.
5 In Anlehnung an Fredric Jameson
und Slavoj Žižek: »Es ist einfacher,
sich das Ende der Welt vorzustellen
als das Ende des Kapitalismus.«
247
Epilogue
Marius Förster
Conferences and their publications might
inquire about radicality, but both formats are
hardly considered as such: established
academic routines with a lack of zeitgeisty
esprit. Probably, we ought to generate content
with pre-emptive algorithms1 to have one’s
finger on the pulse of time while publishing.
Books, as well as their digital equivalents,
seem to be patinated with stolidity and
romanticism. Might that anachronism be the
radicality necessary for our questions, to a
certain degree? Not in the sense of a
(reactionary) conservatism but with a critical
view on contemporary phenomena – to avoid
running as fast as you can to stay in the same
place2 while holding the Red Queen’s
»invisible hand« (Adam Smith). We are looking
for a transformative force that is not fenced in
loops of criticism, nor conceives transformation as self-purpose. It is about disintegration,
falling out of time, (planned obsolescence of
path dependencies ) by escaping the
paradigm of acceleration – fully aware of the
insuperability of complexity and contingency.
Those shards create a topography, and we are
eager to discover and draw connections where
we follow unknown paths, and crossings
emerge as well as centers and peripheries.
The symposium took place around one and a
half years before the book was published. The
creation process was shaped precisely by the
application of this time, the struggle for a time
economy that demands recursiveness instead
of preemption, against all daily routine
deadlines and project juggling. The commitment of the authors, the intensive exchange
with and among the contributors, the curation,
editing, proofreading, layout, the cooperation
with the publishing house and the printing
company – all of it constitutes the value of this
project: a kind of triangulation that faces the
complexity inherent in questions concerning
transformation. Entangled in confidence and
uncertainty we are searching for paths through
the »kakosmos« (Latour 2016),3 able to
»perforate reality« (Malorny)4 to visibly render
possible or preferable directions and make
them accessible if applicable. The design of
the book captures the idea: a dystopian
landscape that defies any definition is made
seemingly readable through markings of
places and paths proposing possible clusters
and connections. Dystopia literary sprawls
around the book’s cover. Therefore looking for
the sites, respectively the articles and
artworks, means to break up the dystopian
surface – a search for rifts and cracks in the
narrative of lack of alternatives. In reference to
Latour: the modern hero is not heading
towards the future but looking to his/her past
inflamed with fear fleeing from it without being
aware of his/her destructive power. With
awareness of the ecological crisis, humanity
recognizes the anthropomorphic force, the
chaos caused by our escape from the past.
The Anthropocene shock indicates the recent
change of course. Now mankind is not moving
with its back towards the future but rather
facing it head-on. So where does Latour’s
allegory of the cave lead us?
It is easier to anticipate the end of the world
than assuming a positive change (whatever
›positive‹ means for whosoever).5 Progression
becomes an uncertain endeavor. On our path,
one can only envision the apocalypse or
innovation as the eternal new, only capable of
keeping business as usual alive. For Latour
248
even utopian visions have significant
shortcomings because they, as products of a
particular present, are only fueled by fears of
the past.6 What is left is a cautious design that
formulates and claims expectations. But how?
We all know the tragic end of Plato’s
protagonists.
Without an answer, at least we are able to
exclude certain things. Neither (single)
scientific disciplines are capable of claiming
interpretational sovereignty about the world
(problems), nor pragmatists vexed by theories
are able the save the world, nor economicterritorial hegemonies (global north vs. global
south) are chosen to control the fate of
humankind. This constitutes the value of the
conference and the associated publication: a
transdisciplinary view at, with, and beyond
design. The degree program Transformation
Design invited speakers from various
backgrounds to reflect about the malleability
of presents and possible futures. Obviously, it
was not about compiling the world’s rescue
plan, but to sound out the already mentioned
scope and stance – transformation with and of
design that keeps uncertainties productive. In
the service of that transformation, the eye
on un/certain futures exceeds the boundaries
of conference proceedings and furthers the
discourse of the symposium’s attendees.
1 Exaggeration of predictive
analytics, inspired by Minority
Report – also have a look at Irina
Kaldrack’s contribution in this book.
2 Carroll, Lewis (1996): The
Complete Illustrated Lewis Carroll,
Hertfordshire: Wordsworth Edition,
S. 141.
3 Kakosmos (cacophony + cosmos)
describes the synchronicity of
contradictory informations, opinions,
emotions, ambiguities, etc. Latour,
Bruno (2016): An Attempt at a
»Compositionist Manifesto.«
Mexico City: Gato Negro Ediciones.
4
in this publication.
5 Referring to Frederic Jameson
and Slavoj Zizek, that it is much
easier to imagine the end of all life on
earth than the end of capitalism.
6 Latour, Bruno (2016): An Attempt
at a »Compositionist Manifesto.«
Mexico City: Gato Negro Ediciones.
249
Werkverzeichnis/
Catalogue Raisonné
the bare fact of seeing those artifacts speaks about the existence of
a future – hopefully, one worth to live
in - who knows for whom.
Born in 1987, Alexandre Bavard lives and works in Paris.
(www.alexandrebavard.com)
S. 22
Neoarcheologia (2017)
Alexandre Bavard
S. 38
Nacktwanderer (2014)
Roshan Adhihetty
How to design a warning sign for a
nuclear waste site, if you can’t be
sure that any form of signage will be
readable in 100.000 years? What appears to be a design question, raises
very existential questions about
humankind. What kind of society will
live on earth 100.000 years ahead?
Will humans be declared extinct –
why or by whom?
Similar questions might come to
one‘s mind while looking at Alexandre Bavard’s sculptures from his
ongoing series Neoarcheologia. His
(back)castings from remains of daily
life objects uncover views into a
potential dystopian future. The
cyber-punkish pieces coalesce any
certainty of past, present, and future
into the hazardous glowing vestige
of optimism. Provoking fascination
and disenchantment about us,
the homo sapiens, Bavards sculptures throw us into an uchronia, a
time that doesn’t exist, but that in
that very moment becomes undeniably perceptible. Perceiving them
as signs, saying it will have been
too late, blends a gleam of hope into
dystopia: we’ll never become the
humans we might want to be, but
»[…] Es sind Bilder, die über das rein
Dokumentarische des Ereignisses
hinausgehen, weil sie – wie mir
scheint – durch ihre inszenierte
Bildgestaltung nicht zuletzt auch
einen Blick auf unsere menschliche
Existenz werfen. Bilder, die von uns
Menschen sprechen, von unserer
großen Sehnsucht, mit der Natur
eins zu werden; und gleichzeitig von
unserer großen Hilflosigkeit der
Macht und Mächtigkeit dieser Natur
gegenüber. Dafür muss man kein
Nacktwanderer sein. Roshan Adhihetty ist es trotz seiner jahrelangen
Auseinandersetzung mit diesem
Thema und trotz seines jahrelangen
Mitwanderns mit den nackten
Wanderern auch nicht geworden.
Was ihm aber mit diesen Fotos
gelungen ist, ist ebenso bemerkenswert wie evident: Im ungeschönten
die Schönheit finden.« (Ulrich Seidl,
Auszug aus dem Vorwort des
Buches Nacktwanderer,
Sturm&Drang Verlag, 2007)
250
Roshan Adhihetty, geboren 1990, lebt und arbeitet in
Zürich. (www.adhihetty.ch)
schaftlicher Abbildungen in
Nachschlagewerken wie etwa
Enzyklopädien oder Atlanten. Die
gezeigten Siebdrucke sind Teil einer
umfangreichen Installation, die die
Konstruktion von Wahrheit in (historisch-) wissenschaftlichen Methoden des Sammelns und Abbildens
S. 60
untersucht. Ihre Arbeiten verhanGood Luck with the Future
deln die Faszination für Akribie und
Dani Pujalte, Rita Puig-Serra
Leidenschaft enzyklopädischer
Vorhaben.
»In meiner künstlerischen Arbeit
The artists embark on a photographdekonstruiere und analysiere ich
ic journey exploring how their
verschiedene Ordnungs- und
generation, born in the late 1980s,
Sammlungssysteme. Einen Schwerlives and feels concepts of future.
punkt bildet dabei das Phänomen
Following an infinite path has
der Kunst- und Wunderkammer, als
brought them to the attempt to
discover their very own perception. Ort der Konservierung, Aufbereitung, Ordnung und Weitergabe von
»What could be, and what will be,
although we do not know yet. What Wissen. Ich entwickle aus diesem
historischen Nährboden heraus
will never be, and also of what has
formensprachliche Antworten auf
been suddenly, without expecting
die Frage: Was ist eine Wunderkamit.« An uncertain destiny ahead
mer – was kann eine Wunderkamthe two artists capture fragile
glimpses, that reveal poetic dimen- mer sein? Zur Beantwortung dieser
sions hidden behind a strange layer Fragen nutze ich unterschiedliche
of normalities.
druckgrafische Verfahren (SiebRita Puig-Serra and Dani Pujalte both live
druck, Radierung, Cyanotypie),
and work in Barcelona on commissioned and personal
Filme, Bücher und Installationen.«
projects. (www.danipujalte.com; www.ritapuigserra.com)
Marlene Bart, geboren 1991, lebt und arbeitet in Berlin.
(www.marlenebart.com)
S. 84
Collect me
Marlene Bart
In ihrer Arbeit setzt sich Marlene
Bart mit der Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Bildsprache auseinander. Im Fokus
steht hierbei besonders das künstlerische Potential naturwissen-
S. 101
PTV-G4-B18
Daniel Kuge
Daniel Kuge hinterfragt in seinen
Arbeiten Parallelen, Wiederholungen
und Konstanten zwischen unserer
archaischen Vorzeit, dem industriell
geprägten Anthropozän und einer
251
unbestimmten Zukunft. Seine
Skulpturen und Malereien wirken
wie Black Boxes oder Portale aus
oder in eine andere Zeitlichkeit und
Welt, die in ihrer Einfachheit eine
erschreckende Tiefe, einen fast
mystischen Ausdruck formulieren.
An ihren glatten Oberflächen spiegeln sich Fragen zum Kultischen,
zum Verhältnis Mensch-Maschine,
zur Virtualität und dem vom Menschen gebauten Raum. So präzise
die Konstruktionen, so unklar ist das,
was sich zeigt – doch eindringlich
kommunizieren sie.
S. 160
The Long Now (2015)
Verena Friedrich
A soap bubble usually remains
stable for only a few moments – it is
a perfectly formed sphere with an
Daniel Kuge, geboren 1984, lebt und arbeitet in
iridescent surface that reflects its
Braunschweig. (www.danielkuge.de)
surroundings. As one of the classical
vanitas symbols, the soap bubble
traditionally stands for the transience of the moment and the fragility
of life.
THE LONG NOW approaches the
soap bubble from a contemporary
perspective – with reference to its
chemical and physical properties as
well as recent scientific and technoS. 114
logical developments.
Der Unbekanntheitsraum und die
THE LONG NOW is aimed at
Ursprungskugeln (2017)
extending the lifespan of a soap
Felix Helmut Wagner
bubble, or even to preserve it forever.
Using an improved formula, a
Die Arbeit gibt einen Einblick in die
machine generates a bubble, sends
Forschungsprozesse von Felix
it to a chamber with a controlled
Helmut Wagner, der sich neben
atmosphere and keeps it there in
anderen pataphysischen Fragen mit suspension for as long as possible.
dem Thema der »Ursprungskugeln« The project is presented in
auseinandersetzt: Warum ist die
the form of an experimental
Mutter die Verbindung zum
set-up in which the newly created
Unbekannten? Wie kommt es zur
soap bubble oscillates permanently
Verknüpfung zweier Gedankenbetween fragility and stability.
Verena Friedrich is an artist creating time-based
konstruktionen? Warum führt uns
installations in which organic, electronic and sculptural
der Schaufelradbagger zur
media come into play. She lives and works in Cologne.
(www.heavythinking.org)
Ursprungsfrage? Was ist die
Bekanntheitswand und der Unbekanntheitsraum? Warum liegt der
echte Kartoffelsalat im
Wahrheitssaft?
Felix Helmut Wagner, geboren 1987, lebt und arbeitet in
Braunschweig und Wien. (www.felixhelmutwagner.de)
252
are formed by non-rock materials
like red brick or slag, that have their
origin in the Anthropocene.
Prokop Bartoníček, born in 1983, lives and works in
Prague. Benjamin Maus was born in 1984 and is based in
Berlin. (www.allesblinkt.com)
S. 186
Jller (Iller)
Benjamin Maus, Prokop Bartoníček
Jller is part of an ongoing research
project in the fields of industrial
automation and historical geology.
It is an apparatus that sorts pebbles
from a specific river by their geologic age. The stones for this instance
were taken from the stream bed of
the German river Jller, shortly before
it merges with the Danube, close to
the city of Ulm.
In the installation a set of pebbles
from the Jller are placed on the 2 x 4
meter platform of the machine,
which automatically analyzes the
stones in order to then sort them.
The sorting process happens in two
steps: intermediate, pre-sorted
patterns are formed first, to make
space for the final, ordered alignment of stones, defined by type and
age. Starting from an arbitrary set of
stones, this process renders the
inherent history of the river visible.
One very common sedimentary
rock is the dark grey limestone from
the Trassic period (225 million years
ago). It was formed from the layers
of sediments in the primeval ocean.
Granodiorite, on the other hand, is
an igneous rock of volcanic origin
from the Tertiary Period (30 to 40
million years ago). Between those
types there is a variety of metamorphic rocks, created by the transformation of existing rock types
through the influence of temperature and pressure over time. Furthermore, a small amount of pebbles
S. 194
Hidden Kingdom (2006-2016)
Stefan Bladh
The shown work is a selection of the
series Hidden Kingdoms. The
images from European landscapes
photographed between 2006 and
2016 envision a journey through
inner and outer scenarios formed by
situations and encounters. As the
artist states: »I wanted to investigate a condition, the impermanence
of our existence and the vastness
of silence behind everything. On
these journeys I have often found
myself in moments that appear to
have neither a beginning nor an end.
Rather, I’ve found myself in the
middle of something.«
»Travel is useful, it exercises the
imagination. All the rest is disappointment and fatigue. Our journey is
entirely imaginary. That is its
strength. It goes from life to death.
People, animals, cities, things, all are
imagined. It’s a novel, just a fictitious
narrative. Littré says so, and he’s
never wrong. And besides, in the
first place, anyone can do as much.
You just have to close your eyes. It’s
on the other side of life.«
(Louis-Ferdinand Celine – Journey to
the End of the Night)
Stefan Bladh born in 1976 is a photographer
and artist who lives and works in Stockholm.
(www.stefanbladh.com)
253
plant forms, and materials found at
the raderberger brache, a highly
diverse green space, left to develop
successively on its own, located in
the city of cologne. using 3D digital
scans, drone footage, and x-ray
technology, virtually constructed
realities are layered with human
S. 222
perception. this results in a new, hyPublic Receptors & </ghosts>
brid, artificial landscape in which
Gabi Schillig
forms, dot clouds, and geometries,
regardless of their dimensions,
are layered on top of each other in a
The two very different works both
examine relationships between the kind of »geometrical ballet.« If
human body and its surroundings.
pedestrians were to take these elAs in </ghosts> Gabi Schillig experi- ements– materialized in the form of
ments with machine-made visualiobjects – and carry them back to
zations of natural surroundings,
the real space, the landscape, the
which might be regarded as exten- fact that they have been brought to
sions of the body’s sensitivity,
life would create a performative,
the work ›public receptors‹ blurs the surreal place where the boundaries
boundaries between a seemingly
between digital and analogue space
static urban landscape and the
are blurred.
Gabi Schillig born in 1977 lives and works in
inhabiting body.
Berlin. She is professor for Spatial Design and Exhibition
›Public Receptors‹ thematiDesign at the Berlin University of the Arts.
(www.gabischillig.de)
zes connections between body,
architecture and materiality and
their interplay within an urban space.
In particular it is the human body
that serves as transformative
power as well as the place for the
moveable spatial structures to
transform. These architectonic systems are small in scale and unfold
only once they are used and have
interacted with the body, leading to
a kind of ›body architecture‹, an
architecture for the body that
enables it to expand into space. The
textile structures and spatial garments possess the potential for the
body to expand in space and to
project people’s longings out into
urban surroundings: the spatial
boundaries of the body architectures are responsive, elastic and
and not static.
</ghosts> by Gabi Schillig is an
experimental exploration of natural
spaces, geometrical objects,
254
255
Autor*innen
Markus Bader studied Architecture
in Berlin and London. He graduated
in 1996 at the Bartlett School of
Architecture, London. Markus
Bader’s academic activities include
guest professorships in Düsseldorf,
Kassel and Prague, complemented
by many workshops and lectures
held internationally. Since 2016 he is
professor at the Institute of Architecture and Urban Design at the University of the Arts, Berlin, Germany.
Markus Bader is one of the founding
members of raumlaborberlin.
Through its, practice raumlabor has
developed and explored an extended concept of architecture and
space beyond the built object.
Ulrike Bergermann is media scholar
at the Braunschweig University of
Art (HBK) focusing on Gender and
Postcolonial Studies and History
of Science. She is editor of the
magazine for media science (zfm)
and published about several topics:
the history of media sciences and
cybernetics; disability; and the
relationship between postcolonial
theory and media. Until 2017, Bergermann was a member of the DFG
steering board for media sciences.
der Arbeit am Modell, in der Visualisierung und im Gespräch ein ganzheitliches Bild der städtischen
Alltagsexpertisen und möglicher
Handlungsfelder. Als Experten im
Zuhören und Übersetzer von Visualisierungen helfen wir die Bedürfnisse der verschiedenen Akteure zu
kommunizieren und einen gemeinsamen Weg zu finden.«
Michael Erlhoff is a professor (em.)
of design theory and history at Köln
International School of Design
(KISD). He was founding dean of
KISD and former CEO of the German
Design Council. Erlhoff has published many books on design, art and
culture-related themes. He is a
member of the German Association
for Design Theory and Research,
of the international Gender Design
Network and AICA. He regularly
gives guest lectures and conducts
workshops at international universities, and he is a frequent member of
national and international design
juries. In 2016, Erlhoff was appointed
honorary professor at Braunschweig
University of Art.
Jesko Fezer arbeitet als Architekt,
Autor, Designer, Künstler und
Ausstellungsgestalter. In je unterschiedlichen Kooperationen befasst
er sich dabei mit der gesellschaftlichen Relevanz entwerferischer
Praxis. In Kooperation mit dem ifau
(Institut für angewandte Urbanistik)
Im co.city lab gestalten Laura
realisiert er Architekturprojekte, ist
Popplow & Carolin Holzer als CoMitbegründer der Buchhandlung
Designerinnen seit 2016 mit unterPro qm in Berlin sowie Teil des
schiedlichen Akteur*innen für die
Stadt von morgen: »Mit dem Werk- Ausstellungsgestaltungsstudios
zeugkoffer des Entwerfers ausKooperative für Darstellungspolitik.
gestattet gehen wir in unterschied- Er ist Professor für Experimentelles
lichste Kontexte, gerne auch in den Design an der Hochschule für
öffentlichen Raum und schaffen mit Bildende Künste Hamburg, seit 2011
greifbaren Materialien Situationen,
im Vorstand der Deutschen Gesellin denen Menschen miteinander ins schaft für Designtheorie und
-forschung (DGTF) und Mitglied der
Machen kommen. So entsteht in
256
Hamburger Kunstkommission
öffentlicher Raum.
Alain Findeli is Honorary Professor
at the School of Industrial Design of
the University of Montréal (Canada),
where he has been teaching for
about 30 years and founded
the Master's program in Design and
Complexity. He is Emeritus Professor at the University of Nîmes
(France) where he co-founded the
Master's program in Social Innovation by Design. His research topics
and recent publications cover
more general philosophical issues of
the theory and practice of design
(epistemology, methodology, aesthetics, ethics) as well as some key
pedagogical aspects of design
research education (Ph. D.). Recently,
he introduced Otto Scharmer's
theory U model in his studio and
coaching activities.
Marius Förster ist Gestalter im
Spannungsfeld von Praxis und
Forschung mit dem Schwerpunkt
Transformation Design. Er ist
Mitbegründer des Kollektivs
operative.space.
Isabel Maria Finkenberger ist Freie
Stadtplanerin AKBW und Dipl.-Ing.
Architektur. Nach Stationen in
Hamburg, Berlin, London, Stuttgart
und Sydney bearbeitet sie seit 2009
mit ihrem Kölner Büro STUDIO if+.
Büro für Stadtentwicklung und
räumliche Transformation in unterschiedlichen interdisziplinären
Konstellationen Projekte an der
Schnittstelle von Planung, Forschung und Lehre. In den Spielzeiten 2015/16 und 2016/17 leitete
sie mit der Regisseurin Eva-Maria
Baumeister das Pilotprojekt der
Nationalen Stadtentwicklungspolitik
›Die Stadt von der anderen Seite
sehen‹ am Schauspiel Köln. Ab 2018
ist sie Professorin i.V. an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe am
Lehrgebiet Städtebau, Stadt- und
Regionalentwicklung.
Dana Giesecke hat seit 2011 die
wissenschaftliche Leitung der
Stiftung FUTURZWEI in Berlin inne.
Sie studierte Soziologie mit kultursoziologischem Schwerpunkt,
Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. 2010
absolvierte sie als Fellow des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft einen Master of Science
Communication and Management
an der Technischen Universität
Berlin. Dana Giesecke war bis 2011
Leiterin der Geschäftsstelle der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).
Saskia Hebert betreibt gemeinsam
mit Matthias Lohmann das Büro
subsolar* architektur & stadtforschung in Berlin. Sie arbeitet an der
Schnittstelle von Forschung, Lehre
und Praxis des Urbanismus und
vertritt derzeit eine Professur im
Masterstudiengang Transformation
Design an der Hochschule für
Bildende Künste Braunschweig.
Prof. Dr.-Ing. Christoph Herrmann is
university professor for Sustainable
Manufacturing & Life Cycle Engineering and co-director of IWF,
Institute of Machine Tools and
Production Technology, Technische
Universität Braunschweig. Since
2009 he leads the Joint German-Australian Research Group on Sustainable Manufacturing and Life Cycle
Engineering together with
Prof. Sami Kara from the University
of New South Wales (UNSW),
Sydney. Since April 2017 Professor
Herrmann is also Dean of the Faculty
of Mechanical Engineering.
257
Franziska Holzner studierte Kommunikationsdesign, Philosophie und
Kunstwissenschaften in München
und Kassel. Sie promovierte über
Heimat und Design. In ihrem Atelier
in Kassel arbeitet sie multidisziplinär
in den Bereichen Freie Kunst,
Design, Literatur und Illustration.
in Ankara, Turkey. Her research has
ranged over design history, design
education for sustainability, idea
generation, sustainability scenarios,
collaboration models with industry
in design education, and design
protection.
Im Kollektiv La Loma beschäftigen
sich Julia Wolf und Daniel Paez
Castillo mit Daten und Informationen,
tabellenweise und oft in großen
Mengen und konstruieren aus der
undurchsichtigen Masse im doppelten Sinne begreifbare Visualisierungen. Verständlich und zum
Anfassen: Die Projekte von La Loma
bestehen aus Materialien wie
Holz, Fäden, Erde, Stahl, Fundstücken… und jeder Menge Farbe.
Dabei bilden die Diskussionen um
die Daten, das Experiment mit
Mona Hofmann hat ihre Wurzeln im Materialien, Formen und Farben
Design und beschäftigt sich mit den einen wichtigen Teil des EntMöglichkeiten einer sozial-ökologi- stehungsprozesses ebenso wie die
schen Transformation. Angetrieben eigene Haltung.
wird sie durch die Fragen »Was ist
das gute Leben?« und »Wie werden Thomas Malorny hat Theater,
wir gelebt haben wollen?«
devising performance, Germanistik,
Psychologie und Zukunftsforschung
Irina Kaldrack verwaltet seit Winter- in Braunschweig und Berlin
semester 2015 die Professur Wisstudiert. Aktuell arbeitet er als freier
senskulturen im digitalen Zeitalter
Theatermacher und Dramaturg in
unterschiedlichen Tanz- und
an der HBK Braunschweig. Sie
studierte Mathematik und Theater- Theaterformaten und zudem als
wissenschaftlicher Mitarbeiter an
wissenschaft in Mainz und Berlin.
der Hochschule für Bildende Künste
Sie war Postdoc am Graduiertenkolleg Automatismen der Universität in Braunschweig. Er arbeitet dort
Paderborn, bei eikones NFS Bildan einer Dissertation auf der Schnittkritik der Universität Basel und am
fläche zwischen künstlerischer
Digital Cultures Research Lab der
Forschung, ästhetischer Praxis und
Universität Lüneburg. Ihre ForZukunftsgestaltung.
schungsschwerpunkte sind Theorie
Julia von Mende studierte Architekund Geschichte digitaler Medienkulturen und die Methoden
tur an der Universität der Künste
ihrer Erfoschung und Gestaltung.
in Berlin und an der Kunstakademie
in Kopenhagen. Ihr wissenschaftFatma Korkut is assistant professor liches Interesse gilt räumlichen Konat Middle East Technical University, stellationen und Strukturen
Department of Industrial Design
menschlicher Ernährung. Diese
Wolfgang Jonas ist Mitbegründer
und Leiter des Masterstudiengangs
Transformation Design am Institut
für Designforschung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mit einem ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund im Schiffsentwurf und habilitiert für das
Lehrgebiet Designtheorie arbeitet er
seit mehr als 20 Jahren theoretisch
und praktisch in Forschung, Entwicklung und Lehre des Designs.
258
untersuchte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Basisprojekt
Anthropozän-Küche am Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung der
Humboldt-Universität zu Berlin.
Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Lehrstuhl Gebäudelehre und
Grundlagen des Entwerfens an
der Architekturfakultät der RWTH
Aachen und schreibt dort ihre
Dissertation über Wechselwirkungen
von Essenspraxis und Raum.
geschichte. Seine letzten Veröffentlichungen befassten sich mit der
Abteilung Information der HfG Ulm
und dem Verhältnis von Design
und Politik.
Niko Paech studierte Volkswirtschaftslehre, promovierte 1993, habilitierte sich 2005 und vertrat den
Lehrstuhl für Produktion und Umwelt
an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg von 2008 bis 2016.
Seit 2016 ist er Lehrbeauftragter an
der Universität Siegen im MasterRolf Nohr studierte Theater-, Filmund Fernsehwissenschaften, Philoso- studiengang Plurale Ökonomik.
phie und Soziologie, war Dozent für Er forscht und lehrt uner anderem in
den Bereichen Klimaschutz, nachLiteraturgeschichte und Filmgeschichte an der Werbe- und Medien- haltiger Konsum, Umweltökonomik,
akademie Marquardt in Dortmund
Sustainable Supply Chain Management, Innovationsmanagement und
(WAM). 2001 promovierte er über
»Karten im Fernsehen: Produktion
Postwachstumsökonomik.
von Positionierung«, gefördert
durch die Heinrich-Böll-Stiftung.
Bernd Sommer ist promovierter
2001 bis 2002 war er wissenschaft- Soziologe und verantwortet am
Norbert Elias Center for Transformalicher Mitarbeiter im SFB 427:
Medien und kulturelle Kommunika- tion Design & Research (NEC) der
tion. Seit 2002 lehrt er am Institut für Europa-Universität Flensburg den
Medienforschung IMF der HBK
Forschungsbereich Klima, Kultur &
Braunschweig: zunächst Juniorpro- Nachhaltigkeit. In seiner Forschung
fessor für Medienkultur, 2008
beschäftigt er sich mit den sozialen
Vertretungsprofessor MedienäsDimensionen des Klimawandels
thetik/Medienkultur, seit 2009 als
sowie der Transformation kohlenProfessor für Medienästhetik/
stoffbasierter Gesellschaften. Er ist
Medienkultur.
Mitglied der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie (DGS), der International Sociological Association (ISA)
David Oswald ist Professor für
sowie der Deutschen Gesellschaft
Interaktionsgestaltung an der HfG
für die Vereinten Nationen (DGVN).
Schwäbisch Gmünd. Er studierte
Zudem geht er einer publizistischen
integriertes Design an der FH Köln
(heute KISD, TH Köln) und arbeitete Tätigkeit in verschiedenen Medien
nach. Seit 2018 ist er Fellow am
dort als Mitarbeiter in Forschung
DFG-Kolleg Postwachstumsgesellund Lehre bei Gui Bonsiepe. Er
arbeitet seit 25 Jahren mit digitalen schaften der Friedrich-SchillerUniversität in Jena.
Medien und leitete unter anderem
die User Interface Design Gruppe
Anke Strauß ist Organisationswisbei frogdesign in Düsseldorf
und Berlin. Seine Forschungssenschaftlerin und interessiert
schwerpunkte sind Interaction
sich für die Beziehung zwischen
Design, Auditive Interfaces, Semio- Kunst und Wirtschaft. Sie studierte
tik von Interfaces und DesignWirtschaftswissenschaften,
259
promovierte in Critical Management
Studies und forschte unter anderem
in Witten/Herdecke, an der University
of Essex (UK) und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
(WZB). An der Zeppelin Universität
in Friedrichshafen untersucht sie
zurzeit von Künstler*innen geführte
Organisationen. Sie fragt dabei
nach der Performativität utopischen
Denkens in der Entwicklung von
Gegenentwürfen zur (Kreativ-)
Arbeit auf Basis von Solidarität.
Klara Helene Stumpf ist Projektkoordinatorin und wissenschaftliche
Mitarbeiterin im Projekt GIVUN
(Gemeinwohl-Ökonomie im Vergleich Unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien) am Norbert Elias
Center for Transformation Design
& Research (NEC) der EuropaUniversität Flensburg. Zuvor arbeitete sie an der Leuphana Universität
Lüneburg, wo sie im Bereich der
Nachhaltigkeitsökonomik und -ethik
promovierte.
Stefan Wolf studierte Sozialwissenschaften und Philosophie. Nach
der Promotion arbeitete er im
Management der EXPO 2000 und in
der Beratung bei der Prognos AG.
2002 baute er für VW die AutoUni
als eigene Hochschule mit auf und
ging dann in die MMI-Akademie.
Seit 2012 entwickelt er Mobilitätsstrategien für VW Nutzfahrzeuge.
Außerdem lehrt er an verschiedenen
Hochschulen Zukunftsforschung
und FutureCentered Design.
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Fotos: Kristof Vrancken
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Nachrichten 174, S. 2803-2819
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S. 173
© Jesko Fezer
S. 239, 242, 244 (4)
raumlaborberln, Foto: Markus Bader
S. 186-187
Benjamin Maus, Prokop Bartoníček,
Fotos: Torsten Posselt,
Ex Post, Cultural Center Prague
(expost.space)
S. 244 (3)
Foto: Gary Hurst
S. 160
Verena Friedrich,
Foto: Victor S. Brigola;
Umschlag
Fotos: Marius Förster
267
Impressum
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Das Politische
politisch sein
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post-politisch
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Wahlen
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144
Konsum
42·120·144
Politik
142·144·162·174·214
Dissens
162
Wachstumsgrenzen
32·120·174
Unsicherheiten
42·96·142·174
parteiisches
Design
162
Erweckungserlebnisse
66
Altagsräume
42
Allmachtsfantasien
188
Queer
202
Paradoxien
26
Minderheiten
202
Nachbarschaft
86
Diaspora
202
Design Theorie
104
Lernmodelle
116
Philosophie
26·188·202·212
Komplizenschaft
52·86
Kunst
52·74
Partizipation
52·116·142·162·180
Interventionen
74·238
26·74·86·116·120·188·226
Reallabore
66·74·120·188
innere Metamorphose
104
Prognosen
96
Große Transformation
96·120·144
by design or
by disaster
96·104·162
Zukunft
32·74·86·96·104·116·202
Heimat
188·202
Transformative Praktiken
Moral
104
Theater
86
Rationalität
226
Möglichkeitsräume
52·74·144·162·174·180·188·202
offene Prozesse
66·74·86
Co-Design
86·162
Glück
188·212
artificial human being
26
66·96·104·120·142·144
162·174·214·238
kritische
Designpraxis
144
Methoden
104
96·120·144·214
Transformation
Problemlösung
144
Rolle des Designs
26·188
Designmodelle
104
Automatisierung
214
Digitalisierung
Stadt
42·74·86·214·238
öffentlicher Raum
42·86·238
Komplexe
Systeme
104
Social Design
104
Afrofuturismus
202
Industrie 4.0
180
Algorithmen
212·226
dauerndes
Update
96
Kreatives Arbeiten
52
Wertewandel
42·174
Change Agent
144
Design
26·104·144·162·180·188·214·238
Adversarial Design
162
people of color
202
42·52·120·162·174·180
Service Design
214
Urban Design
238
soziale Diffusion
120
Subjekt vs. Objekt
26
Mobilität
32·120·214
32·42·52·104·144·162·174·202
Diversität
238
Behaviorismus
96·226
Gamification
226
Wirklichkeitsgestaltung
74
Arbeit
Arbeiten 4.0
96·180
Pfadabhängigkeit
32·74·144
Gesellschaft
Individuum
26·104
Instabilisierung
96·188
Technologien
96·120·202
Ohnmachtsrealität
188
Arbeitszeitverkürzung
120·174
Prosument*innen
120·144
Resilienz
120
Sharing
120·144
Sachzwänge
144
Anthropozän
42
Gegenbewegung
174
Subsistenz
120
kognitive
Dissonanz
120
Commons
144·238
Scheitern
66·142
32·96·120·144·174
symbolisches
Kapital
66
Suffizienz
120·174
Energie
180
Degrowth
120
disruptive
Innovation
144
bottom up
142
Proteste
142
Solidaritätseinkommen
174
Krisen
Kontingenz
32·188·226
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142
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32·120·144·174·214
Green Growth
120
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32
Postwachstum
120·174
GemeinwohlÖkonomie
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