Thomas Schwinn (Hrsg.)
Die Vielfalt
und Einheit
der Moderne
Kultur- und strukturvergleichende Analysen
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Heiner Roetz
China - eine andere Moderne?
Kein Thema ist unter den chinesischen Intellektuellen seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts mehr diskutiert worden als das Verhältnis der chinesischen Tradition zur
Moderne.1 Seit den traumatischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts mit dem schließlichen Zusammenbrach des Kaiserreiches steht China vor dem Problem, wie, wenn überhaupt, die über lange Zeit bewährten Maßstäbe einer der ältesten Kulturen der Menschheit und die neuen Standards einer fremden, als überlegen erfahrenen Zivilisation miteinander vereinbart werden können.2 Die Diskussion ist vor allem in den Begriffen ti
undyong geführt worden, wobei ti die normative „Substanz" bzw. chinesisch-kulturelle „Identität" der Gesellschaft undyong das hiervon, so die ursprüngliche Vorstellung,
abtrennbare pragmatisch-praktische Anwendungswissen bezeichnen soll.3 Die Zhang
Zhidong (l 837-1909) zugeschriebene Formel „Chinas Lehren als Substanz, die Lehren
des Westens für die Nutzanwendung" (zhong xue wei ti, xi xue wei yong), die den
ersten griffigen Versuch markiert, einen Weg zur Lösung des Dilemma zu weisen, ist
seither in immer neuen Runden diskutiert und schließlich auf den Kopf gestellt worden:4 Nach der Gründung der Republik China am 1.1.1912, der traditionsfeindlichen
Bewegung des 4. Mai 1919 mit der Folge einer Hyperkritik an der alten Kultur,5 der
Rezeption des Marxismus durch weite Teile der chinesischen Intelligenz, der Ausrufung der Volksrepublik 1949 und schließlich der Bewegung der „Vier Modernisierungen" seit den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts6 hat sich der Akzent allmählich auf die „Moderne als Substanz" bzw. die „Modernisierung der Substanz" verlagert. Es hat jedoch immer Gegenbewegungen und Zwischenpositionen gegeben. Sie
gewinnen in letzter Zeit, beflügelt durch den Diskurs über die „asiatischen Werte" und
ein neues demonstratives Selbstbewußtsein, an Boden. Hierher gehört auch der Versuch, Chinas Ort im Rahmen einer „multiplen" und nicht von vornherein „westlich"
geprägten Moderne zu finden.
Es gibt drei mögliche Grundpositionen, um das Verhältnis der Tradition zur Moderne zu bestimmen - nämlich die Moderne gegen die Tradition zu stellen, die Tradition gegen die Moderne auszuspielen, oder sich um eine Vermittlung beider zu bemühen. Alle drei Positionen finden sich in der Debatte um China.7 Die Diskussion ist um
1 Der folgende Beitrag ist eine für die Zwecke dieses Bandes umgearbeitete Fassung des Artikels Roetz
2005.
2 Zu den chinesischen Reaktionen im 19. Jh. s. Eglauer 2005.
3 Vgl. Levenson 1958, Chapter IV.
4 Vgl. hierzu Geist 1996, S. 12, und Ommerborn 2000, S. 39-85.
5 Franke 1957, Richter 1992.
6 Einen Überblick über einschlägige Forschungen in Zusammenhang mit einem von der VW-Stiftung
geförderten Projekt zur Modernisierung Chinas geben Martin und Herrmann-Pillath 1998.
7 Vgl. die Unterscheidung von Traditionalismus, Ikonoklasmus und Synkretismus als „idealtypische Konstruktionen bestimmter Grundformen geistiger Reaktionen auf das durch Aggression und Kulturkontakt
entstandene Problem der Akkulturation" in Kindermann 1963, S. 68.
132
Heiner Roetz
den Konfuzianismus zentriert, während die anderen chinesischen Traditionen bislang
eine untergeordnete Rolle gespielt haben.8
Moderne vs. Tradition
China - eine andere Moderne?
133
und Religion statt nüchtern-rationaler Analyse - als entscheidendes Hindernis für einen Weg in die Moderne aus.15 Ähnlich hat Wolfgang Kubin das „Bemühen um Einklang" und die „Selbstkontrolle" als die „beiden entscheidenden Charakteristika" herausgestellt, die „einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tradition und Moderne
(sprich 4. Mai) in China unmöglich machen".16
Chinesische Modernisten haben deshalb als Voraussetzung für einen Anschluß Chinas
an die globale Entwicklung schon früh die „vollständige Verwestlichung" (quanpan
xihud) verlangt.17 In der nach-maoistischen Volksrepublik sind entsprechende Positionen u.a. von radikalen, sämtlich mit dem System in Konflikt geratenden Kritikern wie
Bao Zunxin, Liu Xiaobo, Fang Lizhi oder Su Xiaokang, dem Autor der schließlich
verbotenen Fernsehserie „Der frühe Tod des Gelben Flusses" (Heshang),™ vertreten
worden. Es wird davon ausgegangen, daß es zwischen der Moderne und der chinesischen Tradition keine Verbindung geben kann, da letzterer alle konstituierenden Elemente der Moderne fremd seien.
Das Bild des unausrottbar Traditionellen und Vormodernen der chinesischen Kultur
stammt ursprünglich aus der westlichen Darstellung Chinas. Schon Hegel bringt in den
verschiedenen Teilen seines Systems China unter den Begriff des „Substantiellen" im
Unterschied zur „Subjektivität",9 die wiederum das „Prinzip der modernen Welt"10 ist.
Während sich im Abendland die Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit" entwickelt, verharrt China im „Statarischen"." Marx hat diese Einschätzung
übernommen, u.a. in seiner Theorie der „asiatischen Produktionsweise", die außerhalb
der „normalen" Abfolge der Gesellschaftsformationen steht und in eine evolutionäre
Sackgasse führt. Max Webers 1920 erschienene Untersuchung zu „Konfuzianismus
und Taoismus" ist eine auf die „gesinnungsmäßigen Grundlagen" Chinas bezogene
detaillierte Elaborierung der Hegeischen und Marxschen Sicht auf Basis des vorliegenden sinologischen Materials bei einer bewußt kontrastiven Heuristik. Für Weber, der
China als Gegenfolie benutzt, um die westliche Entwicklungsdynamik verständlich zu
machen, vertritt der Konfuzianismus die „Legitimität des absoluten Traditionalismus"
und betreibt die „rücksichtslose Kanonisierung des Traditionellen". Den Konfuzianismus, so Weber, „interessierten lediglich die Dinge dieser Welt, wie sie einmal war",
während sich im Westen über die Hebelwirkung der Transzendenz die Moderne entwickelt hat, die die Welt unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit in Frage stellt.12 Der
Daoismus bietet aufgrund seiner Weltflüchtigkeit von vornherein keine Alternative.
Diese Sicht Chinas ist äußerst einflußreich geworden, zumal sie sich aus noch weiteren Quellen speist. Zu den geschichtsspekulativen und religionssoziologischen Ansätzen sind insbesondere linguistische hinzuzuzählen, die sich auf die chinesische Sprache und Schrift beziehen.13 Auch in China selbst ist die Kritik auf fruchtbaren Boden
gefallen. Thomas Metzger spricht von einer chinesischen „May Fourth sociology" im
Geiste des radikalen Ikonoklasmus der „Bewegung des 4. Mai" von 1919. Während
Metzger selbst die traditionellen Wurzeln der chinesischen Moderne herauszuarbeiten
versucht,14 macht die „May Fourth sociology" das ungebrochen Vergangenheitsorientierte, das der chinesischen Kultur zugeschrieben wird - Autoritätsfixierung, Gruppenbezogenheit, Sexismus, Geringschätzung des Handels und des rationalen Wirtschaftshandelns, pan-moralistisches, intuitives, holistisches Verschmelzen von Kosmos, Ethik
Das kritische Hegel-Webersche Bild Chinas läßt sich affirmativ wenden, ohne seine
wesentlichen Befunde in Frage zu stellen. Denn die „Modernisierung" Chinas nach
dem zugrundegelegten Modell der Subjektivierung (Hegel) oder der Rationalisierung
(Weber), namentlich der Durchsetzung von Zweckrationaität, muß, zusammen mit der
sie begleitenden Aufgabe der chinesischen Traditionen, keineswegs als erstrebenswertes Ziel angesehen werden. Diese Position ist in der Regel mit einer konfrontativen
Kritik der „seelenlosen" technischen „Zivilisation" der Moderne im Unterschied zur
„Kultur" verbunden, wie sie schon aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt ist.19 Statt den verhängnisvollen Weg des modernen „Westens" mitzugehen, sollte der „Osten" sich seiner holistischen, Mensch und Kosmos ebenso wie den einzelnen
und die Gemeinschaft in harmonischer Einheit sehenden „Weisheit" erinnern. Der im
Sinne Riesmans20 „traditionsgeleitete", in seinem Lebenskontext verwurzelte Mensch
tritt wieder an die Stelle des anonymen Mitglieds der „einsamen Masse", das sich in
der Unübersichtlichkeit und „Unbehaglichkeit"21 der Moderne rational bewähren muß.
Es ist kein Zufall, daß eine solche Theoriebildung gerade in den amerikanischen
Chinese Studies verbreitet ist, wo sie als Nebenströmung des Kommunitarismus auftritt.22 Ihr wichtigstes Gründungsdokument ist Herbert Fingarettes 1972 erschienene
Monographie Confucius - the Secular äs the Sacred.23 „Die Heiligkeit des Säkularen"
8 S. hierzu die Kritik B. Hendrischkes in Lee/Syrokomla-Stefanowska 1993, Introduction.
9 S. z. B. Hege! 1939 (Philosophie der Geschichte), S. 158 u. 169, und 1940 (Geschichte der Philosophie
1), S. 153 f. Hegel systematisiert hiermit die entsprechenden Thesen in Herders Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit
10 Hegel 1938 (Rechtsphilosophie) §§ 124, 162 und 273 Zusatz.
11 Hegel 1939 (Philosophie der Geschichte), S. 46 und 163.
12 Weber 1991, S. 158, 151 u. 145.
13 Roetz 1992, S. 27-39, und 2002a, S. 25f.
14 Metzger 1987 und 1990.
15
16
17
18
19
20
21
22
23
Tradition vs. Moderne
Metzger 1977, S. 241.
Kubin 1990, S. 88.
Birk 1991, Geist 1996, S. 14.
Weder 1996.
Reichwein 1923, 8-15, Roetz 2002, S. 331-333 u. S. 335 Anm. 25.
Riesmann 1958.
Taylor 1994.
Zu einem ähnlichen Standpunkt in der deutschen Sinologie s. Pohl 1999.
Fingarette 1972.
134
Heiner Roetz
soll die Botschaft des Konfuzianismus an eine desolate Moderne sein, die die alten
Konventionen, die Sitten und Rituale des alltäglichen Lebens aus dem Blick verloren
hat. Hiermit wird ein auf die China-Deutung des deutschen Idealismus zurückgehender, ursprünglich negativer Topos24 positiv umgewertet. In bewußter Antithese zur modernen Idee der Subjektivität sollen nun „die Konventionen und Traditionen, die wir
von unserer Kultur erben, für uns definieren, was wir als richtig zu schätzen haben".25
Gerade die „modernistisch" geschmähte Eingebundenheit allen Denkens in die „ererbten Formen des Lebens"26 gilt nun als Zeugnis für die Tiefe und Kompetenz chinesischen Philosophierens.
Der China-Traditionalismus schätzt all jene der chinesischen Tradition zugeschriebenen Züge, die in gängigen Modernisierungstheorien als Ausdruck einer zu überwindenden Rückständigkeit gelten, als zu bewahrende Werte. So heißt es bei Henry Rosemont:
„Confucius can teach us ... that to attempt to abandon communal rituals, customs, and traditions
altogether is madness, because they can only be replaced by the ethical, psychological, social,
and spiritual void, into which far too many autonomous, individual-oriented Americans are already gazing.... I believe ... that the conceptual framework of modern morals, with its concomitant notions of duty, autonomy, rights, freedom, seif, and choice, has run its course.... We need
new, or older, presuppositions. Of course, the 'What eise?' question now intrudes, which is
where Confucius comes in again."27
David Hall und Roges Ames haben den traditionalistischen Ansatz mit einem postmodernen Ästhetizismus zusammengebracht. Auch bei ihnen verbindet sich die Interpretation der chinesischen Texte mit einer kommunitaristischen Botschaft an den modernen Westen. Wie Fingarette betonen sie - wie es heißt, mit Konfuzius - den „zentralen
Charakter von Sitte und Tradition"28 und heben hervor, daß wir uns immer in einem
„Kontext der Interpretation" bewegen - der „Kultur als einem zur Verfügung stehenden Repositorium überlieferter Bedeutungen".29 Allerdings sichert für sie die „ritualistische Feier bestimmter traditionsverwurzelter konventioneller Praktiken" nicht von
selbst die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit (viability) einer Kultur.30 Mehr noch
sollen aber an dieser Stelle „transzendente" Orientierungen versagen, die für Weber
den Weg in die Moderne wiesen. Das dekonstruktive Denken habe sie ein für allemal
als unhaltbar erwiesen, und mit ihnen alle „Standards, Prinzipien oder Methodologien,
die den geschichtlichen Prozeß anleiten" könnten.31 Die chinesische Antwort auf dieses Problem ist laut Hall und Ames die „persönliche Kreativität" im Sinne „ästhetischer Weisen von Überlegung und Wahl", um die Tradition zu reformulieren und zu
bereichern.32 Neben diesem Element der Kreativität bedarf die Tradition keiner weiteren Zutat, geschweige denn eines nicht-traditionellen Korrektivs. So ist das Kreative
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Vgl. Roetz 1992, S. 39.
Fingarette 1991, S. 218.
Fingarette 1972, S. 69.
Rosemont 1986, S. 208 f..
Hall/Ames 1987, S. 107.
Ebd., S. 319.
Ebd., S. 107 und 109.
Ebd., S. 319.
Ebd., S. 109 und 266.
China - eine andere Moderne?
135
nicht mehr als eine „Ausweitung der Autorität des Vergangenen". Es bleibt letztlich
Teil einer es umgreifenden „Ontologie des Geschehens".33
Hall und Ames entwerfen von hier einen kommunitaristischen „counterdiscourse"
zur Moderne, insofern diese auf einer liberalen, individualrechtlichen Demokratie,
Marktökonomie und rationaler Technologie beruht. Ihr Gegenentwurf einer „konfuzianischen Demokratie" basiert auf der Wahrung ritueller Traditionen und dem Gedanken
der Relativität des Individuums.34
Tradition und Moderne: Versuche der Vermittlung
Die dritte und möglicherweise zukunftsträchtigste Position sucht nach den traditionellen Momenten in einer chinesischen Moderne und den auf die Moderne vorausweisenden Momenten in der chinesischen Tradition. Ein wesentliches Motiv, in diese Richtung zu denken, war der ostasiatische ökonomische Boom der letzten Jahrzehnte, insbesondere nach der politischen und wirtschaftlichen Öffnung der Volksrepublik China,
der in Antithese zu Max Weber dem „asiatischen", namentlich konfuzianischen „Wertesystem" zugeschrieben worden ist.35 Weber selbst hatte zwar nicht ausschließen wollen, daß „der Chinese" fähig sein würde, sich den im Westen entstandenen Kapitalismus „anzueignen".36 Daß ein „konfuzianisches" Ostasien zu einem der Motoren der
Weltwirtschaft würde, ist durch diese Konzession allerdings kaum abgedeckt. Mehr
noch: Es findet sich heute bereits das Argument, daß China gerade aufgrund des aus
Weberscher Sicht negativen Spezifikums seiner Tradition, nämlich des Fehlens religiöser Transzendenz, einen kulturell bedingten Vorsprung vor dem Westen habe: Es müsse
sich nämlich nicht mit dem Gedanken der Wahrung einer göttlichen Schöpfung auseinandersetzen und habe so in der modernsten Schlüsseltechnologie, der Gentechnik, einen entscheidenden Entwicklungsvorteil.37
Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein hatte noch weithin Konsens bestanden, insbesondere unter dem Eindruck der erklärten Traditionsfeindschaft
der Volksrepublik, daß Chinas Vergangenheit endgültig passe sei. Namentlich der Konfuzianismus, der mit der Aufhebung des Prüfungssystems 1905 seine institutionelle
Basis verloren hatte, galt als tot. In China sollte es nur noch einen „residualen Traditionalismus" im Sinne der oberflächlichen Funktionalisierung einiger Traditionsgüter geben.38 Daß 1979 ein Buch über den „letzten Konfuzianer", den Philosophen Liang
Shuming (1893-1988) erschien, kann für die weite Verbreitung dieser Einschätzung
stehen.39 Wenig Gehör fanden Stimmen wie jene Vitali Rubins, der in einer Antwort
33 Ames 1991,8. 167 u. 16.
34 Hall/Ames 1999. Zum neo-pragmatischen Diskurs in der Sinologie s. Roetz 1992, S. 11-13 und 1993
35 S. z. B. Berger/Hsiao 1988, Tu 1996, Tai 1989. Zur Debatte um die „asiatischen Werte" s. Draguhn/
Schucher 1995, Osiander/Döring 1999 und Roetz 2001. Zum Thema Konfuzianismus und Moderne s
auch Krieger/Trauzettel 1990.
36 Weber 1991, S. 208.
37 Vgl. Roetz 2004, S. 232 ff.
38 Levenson 1958, S. 135.
39 Alitto 1979.
136
Heiner Roetz
auf Wolfgang Bauers China und die Hoffnung auf Glück die Gleichsetzung des Konfuzianismus mit der historisch überlebten konservativen Staatsphilosophie der Kaiserzeit
zurückwies: Der Konfuzianismus habe immer auch eine Existenz als ethisch-nonkonformistische Strömung geführt, und als solche bleibe er auch für die Zukunft wichtig.
Unhaltbar sei gerade die den Konfuzianismus scheinbar obsolet machende Präferenz
für den Eudaimonismus bzw. Utilitarismus, die Bauer mit der VR China teile.40
Ähnliche Argumente sind schon früher aus dem Kreis des „Neu-Konfuzianismus"
(xin ru xue)*1 gekommen, einer über lange Zeit nicht sehr beachteten intellektuellen
Bewegung, die sich seit dem Ende der Kaiserzeit, also der Verkopplung des Konfuzianismus mit dem politischen Apparat, bei allem Kulturkonservatismus um eine moderne
Adaption der Lehre bemüht hat. Gegen die Konkurrenz explizit antitraditionalistischer
Strömungen, vor allem des Liberalismus und des Marxismus, versucht der Neu-Konfuzianismus, die kulturellen Ressourcen Chinas nicht nur zu bewahren, sondern als für
die „Modernisierung" der chinesischen Kultur förderlich und unverzichtbar zu erweisen.42 Das programmatische, 1958 in Taipei publizierte neu-konfuzianische Manifesto
on the Reappraisal of Chinese Culture formuliert als zentrale These, daß der „moral
spirit" der chinesischen, insbesondere der konfuzianischen Tradition mit der Monarchie immer schon in Konflikt gelegen habe und ein „demokratischer Konstitutionalismus" viel eher in seiner Konsequenz gelegen hätte. Jedoch hätten sich aufgrund historischer Umstände die „Samen" des Neuen nicht entfalten können.43
Hiermit bedient sich der Neu-Konfuzianismus eines Argumentationsmusters, das
sich auch in anderen Ansätzen findet. Im Unterschied zu quasi-ontologischen Theorien, die das von Hegel behauptete „Statarische" der chinesischen Kultur an wenig veränderlichen bzw. veränderten Größen wie dem Klima (so schon Montesquieu und Herder), der Sprache und Schrift (Humboldt) sowie einer in diesen oder anderen Faktoren
tief verwurzelten kulturellen „Gesinnung" (Weber) festmachen wollen und damit festschreiben, gehen historische Theorien davon aus, daß es aus mehr oder weniger kontingenten Gründen in China zur Arretierung einer Entwicklung kam, die möglicherweise
hi Richtung Moderne geführt hätte, die also ein Potential bot, das sich nicht verwirklichen konnte. Besonders suspekt muß aus dieser Perspektive die Webersche Methodologie erscheinen, einen genetischen Bezug zwischen bestimmten Werten und ihnen
affinen ökonomischen Entwicklungen herzustellen und aus dem Ausbleiben der gleichen Entwicklung in anderen Traditionskontexten auf das Fehlen der entsprechenden
Werte zu schließen.44
40
41
42
43
Bauer 1971, Rubin 1973, S. 68-78.
Vgl. Lee 2001, Bresciani 2001, und Moritz/Lee 1998.
Vgl. Steinbauer 1996, S. 95-108.
Chang/Hsieh/Hsü/Mou/Tang 1988, Chapter IX. Das Manifest wurde in englischer und chinesischer
Sprache publiziert.
44 Diese Kritik gilt m. E. trotz des von Weber selbst formulierten Vorbehalts, er verfahre nur „typologisch"
und wolle kein „voll abgerundetes Bild der dargestellten Religionen" bieten (Weber 1991, S. 19). Webers Darstellung Chinas unterscheidet sich gerade wegen ihres beeindruckenden Materialreichtums alles ist hier verwendet, was die damalige Sinologie zu bieten hatte - nicht von einer historischen und
ist auch so verstanden worden.
China - eine andere Moderne?
137
Auf der Suche nach den chinesischen Quellen der Moderne ist zunächst die Song-Zeit
ins Blickfeld geraten,45 die schon der japanische Historiker Naito Torajiro (1866-1934)
entsprechend gedeutet hatte - allerdings wegen des Übergangs von der aristokratischen zur von ihm am Puls seiner Zeit mit „modern" identifizierten autokratischen
Regierungsweise.46 Die Geschichtsschreibung der VR China ist dann bis in die MingZeit hinein den „Keimen" (mengya) des Kapitalismus nachgegangen.47 In Westen hat
Joseph Needham in einer großangelegten Untersuchung zur Entwicklung der chinesischen Naturwissenschaft und Technik einen Vorsprung Chinas vor Europa bis ins 15.
Jahrhundert festgestellt - nicht ohne scharfe Replik von Weberianischer Seite.48 Mark
Elvin wiederum hat den Abbruch einer innovativen Phase der chinesischen Technik
und Ökonomie, deren Ende er etwa wie Needham ansetzt, mit der Theorie der „Gleichgewichtsfalle auf hoher Ebene" (high level equilibrium trap) zu erklären versucht. Hiernach war nichts anderes als zweckrationales Wirtschaftsverhalten unter den Bedingungen einer Verbilligung der Arbeitskraft bei gleichzeitiger Verteuerung der natürlichen
Ressourcen für die späte Stagnation der chinesischen Entwicklung verantwortlich.49
Rüdiger Machetzki hat noch dieser Ansicht widersprochen: Erst im 19. Jahrhundert sei
es mit dem Eindringen des Westens zu einem Verlust der Entwicklungsdynamik Chinas
gekommen.50 Wie China seine traditionellen Potentiale - Erfahrung mit leistungsfähigen Institutionen, ein effizientes System der Elitenbildung, Lernethik, Arbeitsethik und
Sparethik - zur Geltung bringen könne, hänge noch in der Gegenwart allein von politischen Faktoren ab, insbesondere dem Niveau der politischen Eliten.51
All diese Theorien haben zu einer tiefgreifenden Revision der Thesen Webers, namentlich seiner Konfuzianismus-Analyse, Anlaß gegeben. Insbesondere unter der allerdings keineswegs gesicherten - Annahme, daß die ostasiatische Entwicklung der
letzten Jahrzehnte wie schon die vorangehende Modernisierung Japans Phänomene
darstellen, die mit dem Konfuzianismus zu tun haben, muß Webers Sicht offenbar in
der einen oder anderen Weise korrigiert werden: Entweder ist seine KonfuzianismusAnalyse sachlich verfehlt, oder sie ist in der Sache richtig, aber in der Bewertung falsch.
Die zweite Möglichkeit hat einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Theorie der Modernisierung selbst gehabt: Die Beispiele China und Japan haben dazu geführt, Vorstellungen von Modernisierung, in denen „traditionale Sektoren" als bloße Entwicklungshemmnisse gelten, zu hinterfragen. Die Modernisierung Ostasiens ist umgekehrt zum
Prüfstein für Modernisierungstheorien erklärt worden, die in der Lage sein sollten, eine
mögliche fördernde Wirkung traditioneller Wertesysteme in Rechnung zu stellen.52
Hiermit ist ein Trend zum Durchbruch gekommen, der sich schon länger in der
Kritik der Vorstellung „nachholender" Entwicklung -klassisch mit dem Stadienmodell
45
46
47
48
49
50
51
52
Schmidt-Glintzer 1990.
Fogel 1984, Chapter V.
S. hierzu die Bemerkungen in Wang 1982 sowie Brook/Blue 1999.
Needham 1954 ff. und 1969, Nelson 1977, S. 7-58, vgl. Roetz 1992, S. 274.
Elvin 1973.
Machetzki 1990, S. 447-448.
Machetzki 1994. Vgl. zu diesen Fragen Osterhammel 1989, Kap. „Die wirtschaftlichen Grundlagen".
Berger 1988a, S. 4.
138
Heiner Roetz
Walt W. Rostows verbunden53 - vorbereitet hat.54 Die Kritik stellte zunächst heraus,
daß die westliche industrielle Moderne schon deshalb kein nachzuholendes Modell
darstellen könne, weil sie gerade durch ihre Existenz die Startbedingungen der Peripherie verschlechtere. Sie entwickele sich wegen ständigen Surplus-Tranfers (Paul A.
Baran) eben auf Kosten der „Dritten Welt", wo sie nur eine „Entwicklung der Unterentwicklung" hervorrufe (Dependenztheorie). Die einzige Chance der nicht-westlichen
Länder liege in ihrer zumindest vorübergehenden Abkopplung vom Weltmarkt, eine
Strategie, für deren Erfolg die Volksrepublik China als Paradebeispiel galt.
Diese Argumentation bedeutete indirekt eine Rehabilitierung der traditionell-kulturellen Faktoren, insofern zunächst einmal nicht mehr sie, sondern Abhängigkeiten von
außen als das entscheidende Entwicklungshemmnis galten. In einem weiteren Schritt
konnte der „Faktor Kultur" dann selbst zur Triebkraft der Entwicklung werden, wie
etwa in den während der 80er Jahre diskutierten „self-reliance"-Strategien. In Verbindung mit den ostasiatischen Erfahrungen steht seither eine funktionale Äquivalenz eines östlichen Traditionalismus und eines westlichen Antitraditionalismus in Hinblick
auf die Beförderung einer „modernen" Gesellschaft zur Debatte. Sie bedeutet die Umwertung aller bisher als evolutionär folgenlos bzw. als für die Moderne dysfunktional
betrachteten „Werte". Die handlungsanleitenden „affektiven" Werte, die Talcott Parsons in Anschluß an Weber in seinen „pattern variables of value orientation"55 auf die
Seite des traditionalen Verhaltens geschlagen hat und deren soziologischer Ort die Familie ist, sollen nun neben dem westlichen „rationalen" bzw. „zweckrationalen" Typ
einen alternativen und sogar leistungsfähigeren „orientalischen" oder „post-konfuzianischen" Typ der Moderne konstituieren.56 Statt von „Post-Konfuzianismus" (MacFarquhar) ist hierbei auch von „bourgeois Confucianism" (Bellah), „Meta-Konfuzianismus" (Weggel) oder „Vulgärkonfuzianismus" (Berger)57 die Rede, womit auf eine Ethik
Bezug genommen wird, deren Träger nicht mehr - wie bei Weber - die politisch-intellektuelle Elite Chinas ist, sondern, in den Worten Weggels, der „kleine Mann". Wenngleich es nicht den Anschein hat, daß dieser Unterschied tatsächlich systematisch ernst
genommen würde, ist hiermit eine soziologische Umorientierung des Forschungsinteresses von der „großen Tradition" der Intellektuellen auf die „kleine Tradition" der niederen
Schichten erfolgt.58 Vor allem das mit populärkonfuzianischen, aber auch mit volksreligiösen Elementen durchwobene Wertesystem der Kauf leute ist in Anschluß an eine epochemachende Untersuchung Yu Yingshis („Die neuzeitliche religiöse Ethik Chinas und
der Geist der Kaufleute") zu einem vieldiskutierten Gegenstand geworden.59
Die Entwicklung Ostasiens unter dem - so die These - massenwirksamen Einfluß
des hergebrachten konfuzianischen Wertesystems gilt als paradigmatischer Fall der Herausbildung einer eigenständigen, „nicht-westlichen" Moderne. Er soll nicht nur, wie
53
54
55
56
57
58
Rostow 1960.
Vgl. Ferdowsi 1994.
Parsons 1951, S. 58 ff. Vgl. Habermas 1985, Bd. 2, S. 45 ff., und Roetz 2001, S. 184.
Beispielhaft für diese Argumentation ist Tai 1989a.
MacFarquhar 1980, Bellah 1983, S. 67-72, Weggel 1990, S. 497, und 1997, S. 116, Berger 1988a.
Eine auf Redfield 1956 zurückgehende und von Wang Liu (1959) in die Sinologie eingeführte Unterscheidung. -Auch Heberer 1990 und Herrmann-Pillath 1998 argumentieren auf dieser Ebene.
59 Yu 1987, Clart 1992.
China - eine andere Moderne?
139
dagestellt, Konsequenzen für die Theorie der Modernisierung, sondern auch für die
Konzeption der Moderne selbst haben, indem er deren Spannung zur Tradition aufhebt
oder zumindest relativiert. „Traditionsbestimmte Aspekte der menschlichen Existenz,"
so Tu Wei-ming (Du Weiming), einer der bekanntesten und international einflußreichsten Vertreter des Gegenwartskonfuzianismus, „wie Ethnizität, Muttersprache, Familienbindungen, Elternhaus und Glaube sind mittlerweile zu Zentralpunkten jeder anspruchsvollen Analyse des Modernisierungsprozesses geworden." „Urtümliche Bindungen, Rasse, Sprache, Geschlecht, Heimat und Religion, die die Existenz des Menschenjahrhundertelang bestimmt haben", können nicht einfach „als Restkräfte der Kultur
in den Hintergrund relegiert werden". Moderne ist nicht länger das „diametrale Gegenstück zu Tradition."60
„In both the Western and non-Western worlds", so Tu Wei-ming an anderer Stelle,
„the projected transition from tradition to modernity never occurred. As a norm, traditions continue in modernity. Indeed, the modernizing process itself is constantly shaped
by a variety of cultural forms rooted in distinct traditions."61 Hiermit wird die Theorie
„multipler Modernen" ins Spiel gebracht, deren wichtigster chinesischer Exponent Tu
ist. Sie richtet sich gegen die, so S. N. Eisenstadt, „homogenisierende und hegemonische Annahme", daß Modernisierungsprozesse nach dem historisch bekannten „westlichen" Programm ablaufen: „One of the most important implications of the term 'multiple modernities' is that modernity and Westernization are not identical; 'Western' patterns of modernity are not the only 'authentic' modernities, though they enjoy historical
precedence and continue to be a basic reference point for others."62 Eine komplementäre, von Charles Taylor vertretene Auffassung besagt, daß Modernisierung Hcht als
„akulturelles" Phänomen im Sinne einer auf breiter Front erfolgenden Übei-windung
„vormoderner" kultureller Traditionen verstanden werden kann, sondern in ihrer bekannten Form selber Ausdruck einer bestimmten hergebrachten Kultur - eben der westlichen - ist.63 In beiden Fällen kann die im Westen entstandene Moderne nicht länger
als allgemeines Modell gelten.
Basis der spezifisch chinesischen Moderne ist für Tu Wei-ming das vom Konfuzianismus geprägte Wertesystem, das ganz Ostasien beeinflußt hat, so daß im weiteren
Sinne auch von einer „ostasiatischen Moderne" gesprochen werden kann. Ihre Merkmale sind „network capitalism", „soft authoritarianism", „group spirit" und „consensual politics",64 bzw. eine „kohärente soziale Vision", die durch sechs Charakteristika
hervorsticht: eine starke Regierung, die regulative und distributive Aufgaben übernimmt
statt nur die Überwachung von Recht und Ordnung, eine soziale Integration durch „rituelle Praxis" statt durch das Recht, eine Wertevermittlung durch die Familie als „richly textured natural environment for learning the proper way of being human", ein Verständnis von „Zivilgesellschaft" als Ort des „Zusammenspiels" von Familie und Staat
statt als „autonomer Arena" jenseits beider, eine starke Gewichtung der Erziehung als
60
61
62
63
64
Tu 1990, S. 47 und 55.
Tu 2000, S. 198.
Eisenstadt 2000, S. l und 2f.
Taylor 1999.
Tu 2000, S. 204.
140
Heiner Roetz
„Zivilreligion" sowie die Betonung der „Selbstkultivierung" des einzelnen.65 Tu Weiming will hiermit die „Werte der Aufklärung" wie instrumenteile Rationalität, Freiheit,
Rechtsbewußtsein, Verfahrensgerechtigkeit, Privatheit und Individualismus nicht außer Kraft gesetzt wissen. Sie gelten vielmehr als „universalisierbare moderne Werte",
sollen aber mit den gleichfalls universalisierbaren „asiatischen Werten" Sympathie,
Verteilungsgerechtigkeit, Pflichtbewußtsein, Ritual, Gemeinsinn und Gruppenorientierung vermittelt bzw. durch sie korrigiert werden.66
Diese schematische Differenzierung von „Werten" erscheint allerdings eher kulturell unspezifisch. Sie erinnert an die romantische Aufklärungskritik;67 sie spricht auf
chinesischer Seite zudem, wie Tu selbst zugibt, der Realität Hohn. Dies nicht nur in
Anbetracht des rabiaten Kapitalismus, der im heutigen China grassiert. Um die von Tu
immer wieder exponierte Funktion der Familie als Beispiel herauszugreifen: Im Zeitalter der Geburtenregelung, wo sich mit der Ein-Kind-Politik für einen Großteil der chinesischen Bevölkerung alle Familienbeziehungen auf die reine Eltern-Kind-Beziehung
reduzieren, kann von „reich texturierten" Familienstrukturen keine Rede mehr sein.
Ein Konfuzianismus, der das Einleben von Riten und Sittlichkeit von ihnen abhängig
machte, wäre soziologisch gesehen ohne Basis.
Wichtiger aber erscheint die Frage, ob der von Tu Wei-ming vertretene „multiple
modernities"-Ansatz nicht von vornherein die Situation der Moderne in einem spezifischen Punkt verfehlen muß. Es macht das Wesen einer modernen Gesellschaft aus, ihr
Selbstverständnis aus sich selbst zu beziehen und nicht, wie eine traditionale Gemeinschaft, aus vergangenen Vorbildern. In genau diesem Sinne bestimmte Hegel als das
„Prinzip der modernen Welt" bzw. der „neuern Zeit" die „Freiheit der Subjektivität"
und das „Recht der Besonderheit".68 Die von den „multiple modernities"-Theoretikern
zu Recht zurückgewiesene Gleichung Modernisierung = Verwestlichung ist vor diesem
Hintergrund genau deshalb problematisch, weil sie an die Stelle des Subjektivitätsprinzips die Modellfunktion eines Vorbilds setzt. Man verfehlt aber diese Pointe, wenn
man die Orientierung am Westen durch das Schöpfen aus der je eigenen Tradition
substituiert. Denn welche unterschiedlichen konkreten Formen eine moderne Gesellschaft auch immer annehmen mag, so würde doch ein Rückgang hinter das im Prinzip
der Subjektivität gründende reflexive Verhältnis zur Tradition selber einen Rückfall auf
einen vormodernen Standpunkt bedeuten. Auch wenn man die Möglichkeit des Fortbestehens von Traditionen offenhält und sogar bereit ist, sie als produktive und unverzichtbare Elemente noch einer modernen Gesellschaft zu betrachten,69 wird der klassische Begriff „der" Moderne nicht obsolet - Moderne kann trotz unterschiedlicher, auch
kultureller Ausprägungen nur als ein nicht-traditionales und damit zugleich traditionenübergreifendes Projekt verstanden werden. Wer ihren Begriff in Anspruch nimmt,
muß bereit sein, Traditionsbestände nicht einfach zu reifizieren, sondern das Eintreten
für sie zu begründen und zu verantworten. Eine Gesellschaft, Staatsform oder Kultur,
65
66
67
68
69
Ebd., S. 205-206.
Ebd., S. 207.
Zu den romantisierenden Elementen in Tu Wei-mings Argumentation s.a. Roetz 2002b.
Hegel 1938 (Rechtsphilosophie) § 273 und § 124.
Eisenstadt 1973.
China - eine andere Moderne?
141
die das Prinzip der Subjektivität nicht aushielte, hätte keinen Anlaß, sich „modern" zu
nennen. Wir haben es in diesem Fall nicht mit modernen, sondern eher mit hybriden
Strukturen zu tun.
Der Kern des Problems zeigt sich in der Frage der Demokratie und der Menschenrechte. Es ist auffallend, daß die Theorien, die von einer „chinesischen Moderne" sprechen, ausnahmslos an den ökonomischen Boom Chinas anschließen (und nicht etwa,
was doch auch denkbar wäre, an die Demokratisierung Taiwans). Sie unterstellen so als
wichtigsten Indikator einer modernen Welt das System weltmarktfähigen effizienten
Wirtschaftens unter Nutzung und Entwicklung fortgeschrittenster Technologien. Hiermit wird das Subjekt der Moderne auf den homo oeconomicus und homo faber, wenn
nicht auf den Unternehmer reduziert und seine Rationalität auf Zweckrationalität, während die Folgen dieser Reduktion der Kompensationsleistung des konventionellen Ethos
der „Kulturen" zugeschoben werden.70 Der Mensch als Bürger einer menschenrechtlich fundierten Demokratie und als selbstverantwortlich handelnde Person, die primär
ihrem Gewissen - Hegel zufolge der „Standpunkt der modernen Welt"71 - und allgemeinen moralischen Normen statt einer Tradition verpflichtet ist, kommt in diesem
Szenario kaum vor. Mehr noch: Entwicklungsvorzüge einer „modernen" konfuzianischen Gesellschaft werden gerade in den für eine Demokratie hinderlichen traditionellen Einstellungen wie Hierarchiebewußtsein, Gefolgschaft und Autoritätshörigkeit gesehen, da sie die Reibungsverluste durch Individualismus und Insistieren auf Gleichheit unterbinden.72 Kollektive Disziplin, so heißt es, hat in Ostasien eine „nicht-individualistische Version des Kapitalismus" hervorgebracht.73 Ihre politische Entsprechung
ist die „illiberale Demokratie" mit paternalistischen Autoritätsstrukturen und dominanten Staatsapparaten, aber kaum mit mündigen Bürgern.74
Eben jene traditionellen ostasiatischen „Werte", die die ökonomische Moderne angeblich beflügeln, würden so die politische Moderne behindern oder zumindest nicht
befördern.75 Hier rächt sich nun allerdings die für die hier problematisierte Position
konstitutive Einebnung der Differenz von Moderne und Tradition. Denn erst aus dieser
erhellt, warum eine freiheitliche Demokratie unverzichtbarer Bestandteil des normativen Projektes Moderne ist: Die rechtsstaatliche Demokratie ist nichts anderes als eben
die politische Institutionalisierung des Subjektivitätsprinzips. Erst mit ihr wird über die
Sicherstellung entsprechender Verfahren die virtuell freie Veränderbarkeit und Neudefinition des Selbstverständnisses des Gemeinwesens zur praktischen Möglichkeit. Sie
ist zur Absicherung des Subjektivitätsprinzips gegen die „Tyrannei der Mehrheit" zu
ergänzen durch den Schutz der Menschenwürde aller Beteiligten und Betroffenen, also
70 Hiermit ergibt sich sozusagen die kulturalistische Variante dessen, was Karl-Otto Apel als „Komplementaritätssystem der westlichen Ideologie" bezeichnet hat - des Nebeneinander von wertneutraler,
ökonomisch-technisch-strategischer Vernunft auf der einen Seite und rationaler Begründung entzogenen Wertepräferenzen auf der anderen (Apel 1976, S. 370 ff, und 1988, S. 56 ff). Hierbei treten kulturelle Wertungsaxiome an die Stelle der individuellen.
71 Hegel 1938 (Rechtsphilosophie) § 136.
72 Kahn 1979, 122, ähnlich Weggel 1990, 504 f., und Weede 1996.
73 Berger 1988a, S. 6.
74 Bell/Brown/Jayasuria 1995, Fox 1997 sowie Neher 1994. Vgl. hierzu Roetz 2001, S. 193.
75 S. Tu 1991.
142
Heiner Roetz
die Menschenrechte. Es ist nicht zu erkennen, welche akzeptable Alternative es hierzu
in einer Zeit der Pluralisierung, Diversifizierung und Neuorientierung der Lebensstile
und Vorstellungen vom „guten Leben" auch in China geben sollte. Was allein schon
angesichts der hergebrachten Vielfalt chinesischer Traditionen fragwürdig ist, erscheint
unter den heutigen Umständen als nachgerade gefährlich: nämlich eine speziell „konfuzianische" und damit eben nicht offene „Demokratie" kommunitaristischen Typs zu
konzipieren.76
Eine moderne Traditionsaneignung kann deshalb allein eine solche sein, die sich selber unter das Regulativ der Moderne stellt. Sie macht es zur ersten Aufgabe der hermeneutischen Wissenschaften, eben jene Traditionen zu rekonstruieren, die den reflexiven
Standpunkt der Moderne bereits in der einen oder anderen Form antizipieren und schon
immer über die historischen Realisationsformen eines jeden chinesischen Ethos in Richtung auf eine mögliche andere Zukunft hinausgewiesen haben - Traditionen, mit Popper
zu sprechen, „zweiter Ordnung" statt erster, oder, mit Kohlberg, postkonventionellen statt
nur konventionellen Denkens.77 Dies impliziert auch eine systematische Präferenz für
eine solche „Reinterpretation der eigenen Kultur", die „sich der Welt und ihren demokratischen Traditionen [öffnet]", also auf Kompatibilität mit einem offenen Konzept der
menschenrechtlichen Demokratie ausgerichtet ist,78 gegenüber anderen Verbindungen
zwischen Tradition und Moderne, die funktionalistisch die ökonomische Effizienz in den
Mittelpunkt stellen, zu schweigen von antimodernen Traditionalismen.
Der Sinn und die Möglichkeit einer solchen Reinterpretation werden im Falle Chinas allerdings häufig in Frage gestellt, nicht nur kulturkritisch in Nachfolge der erwähnten Hegel-Weberschen Sichtweise,79 sondern auch kulturapologetisch auf Basis
kommunitaristischer Ethiken. Daß allerdings, wenn es um die Vereinbarkeit individueller Menschenrechte mit der chinesichen „Kultur" geht,80 sich westliche Sinologen
unter der Devise „rites instead of rights" fast noch schwerer tun als die Pekinger Regierung, entbehrt nicht der Ironie.81 Bezeichnenderweise sieht auch Charles Taylor, einer
der kommunitaristischen Theoretiker der „multiple modernities", den „westlichen Fokus auf das Recht" als unakzeptabel für viele andere „Kulturen" an.82
Indes ist der Konfuzianismus, auf den man sich an dieser Stelle gern beruft, selbst
gespalten. Das Spektrum reicht von einer kulturchauvinistischen Position, für die derzeit vor allem der Name Jiang Qing steht,83 über den moderaten Kommunitarismus Tu
76
77
78
79
80
Hall/Ames 1999.
Popper 1963. Zu Kohlberg s. Roetz 1992, Kap. 3.
Choe 1992, S. 281.
S. z. B. Trauzettel 1991, Müller 1997, und Möller 1999.
Zur Menschenrechtsdebatte siehe die Sammelbände Davis 1995, Paul/Robertson-Wensauer 1997, de
Bary/Tu 1998, Schweidler 1998, Paul 1998, Van Ness 1998, Schubert 1999, Paul/Göller/Lenk/Rappe
2001, Wegmann/Ommerbom/Roetz 2001.
81 S. z. B. Rosemont 1988 und 1989, und Ames 1988. Mühlhahn 1995 plädiert für den konfuzianischen
„Humanismus" als Alternative zu den Menschenrechten. Es ist in Kenntnis seiner älteren Gerechtigkeitstheorie bemerkenswert, daß auch John Rawls sich in Richtung eines solchen Standpunktes bewegt
und z. B. korporatistische und hierarchieorientierte Traditionen gegen den Gleichheitsanspruch einer
freien Demokratie in Schutz nimmt, statt sie an diesem Anspruch zu messen (Rawls 1993, S. 81). Vgl.
hierzu auch Roetz 2001a, S. 12.
82 Taylor 1999.
83 Jiang 2003.
China - eine andere Moderne?
143
Wei-mings, der die „Aufklärungskultur" mittels des „konfuzianischen Humanismus"
läutern will, bis zum von Lee Ming-huei (Li Minghui, Academia Sinica Taipei) im
Anschluß an das „neu-konfuzianische" Manifest von 1958 und die praktische Philosophie Kants vertretene Programm einer „kreativen Transformation" (chuangzaoxing
zhuanhuä) der konfuzianischen Ethik auf der Höhe des „modernen Bewußtseins" (xiandaiyishf).M Der für die letztere Position entscheidende methodische Schritt ist die
„Selbstnegation des moralischen Wissens" (liangzhi de zvwo kanxian), das unter den
Bedingungen moderner Pluralität nicht abdankt, aber Autorität an den demokratischen
Rechtsstaat delegiert. Diese dialektische Denkfigur ermöglicht den Anschluß der konfuzianischen Ethik an das Subjektivitätsprinzip der Moderne, statt diese kulturalistisch
zu relativieren oder funktionalistisch zu reduzieren.
In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten westlicher China-Wissenschaftler
wie Wm. Theodore de Bary, Edward Friedman und Andrew J. Nathan.85 Auch ich
selbst habe in einer Reihe von Beiträgen die Möglichkeit einer rekonstruktiv-hermeneutischen Aneignung der klassischen chinesischen Philosophie auf Basis der Moderne und namentlich der Rekonstruktion einer virtuellen chinesischen Vorgeschichte der
Menschenrechtsidee nachzuweisen versucht86 - Rekonstruktion im Sinne einer gezielten Neuformulierung des in der Tradition Angelegten, aber unentfaltet Gebliebenen,
im Unterschied zu einer bloßen Wiederholung des Alten, aber auch zu einer freien
Konstruktion aus einem ahistorischen Nullpunkt. Entsprechende Anknüpfungsmöglichkeiten liefert die chinesische Tradition der Machtkritik, vor allem in der auf den Konfuzianer Mengzi (372-281) zurückgehenden Linie,87 und, wichtiger noch, die Tradition der Traditionskritik,88 die den für die Moderne essentiellen dezentrierten Blick auf
das eigene Herkommen bereits teilt. Aus beiden Traditionen ist es möglich, materiale
und formale, zugleich kulturinterne und kulturübergreifende Argumente gegen einen
aggressiven Partikularismus der „Zivilisationen" und das Ausspielen ihrer angeblichen
Inkommensurabilität gegen die „westliche" Idee eines modernen demokratischen Rechtsstaats zu gewinnen.
Welche Chancen hat eine auf der Höhe der Moderne stehende nicht regressive Traditionsaneignung, wie sie primär von den chinesischen Humanwissenschaften und sekundär von den westlichen Chinawissenschaften geleistet werden kann? In jedem Fall
ist sie mehr als „academic business" - sie kann immerhin einen deutlichen Akzent
gegen das kulturalistische Identitätsmanagement setzen, mit dem das Establishment
der VR China seit einiger Zeit die verbleichenden Reste sozialistischer Ideologie abzulösen versucht und das auch im politischen und wirtschaftlichen Westen keineswegs
nur auf Unverständnis stößt. Daß im Windschatten der offenkundigen politischen Funktionalisierung des Konfuzianismus und insbesondere seines Begründers Konfuzius auch
andere Lesarten der konfuzianischen Ethik zu Gehör kommen und sich gar durchset84 Lee 1991 und 1994, sowie, zur Frage der Vereinbarkeit der Ideen der Menschenrechte und der Demokratie mit dem Konfuzianismus, Lee 2000. S. hierzu auch Deng 1995 und allgemein He 1996.
85 de Bary 1983, Friedman 1999, Nathan 1990 und 1997. Vgl. zu diesem Thema Schubert 1999, Einleitung.
86 S. zuletzt Roetz 2004a.
87 S. Deng 1995, Roetz 1998, 2001a, 2004a und 2006, Paul 2005.
88 Paul 1999, Roetz 2005.
144
Heiner Roetz
zen, ist sicher nur eine sehr vage Möglichkeit, Zumindest sind aber die Chancen, die
hier liegen, auf der politischen Bühne Ostasiens aufgeleuchtet, als der koreanische Staatspräsident Kim Dae Jung unter Berufung auf die Philosophie Mengzis den „Mythos der
antidemokratischen asiatischen Werte" zurückwies.89
Allerdings ist festzustellen, daß eine Reduktion der Moderne auf ungebremstes Wirtschaften und Technokratie mit kulturkonservativen Fassaden durchaus im Horizont der
globalen Entwicklung liegt. „Zwischen der globalisierten Logik des Kapitals und dem
Identitätsfanatismus", so Alain Badiou, existiert ein „widerwärtiges Zusammenspiel".90
Diese Mischung kann sich als äußerst produktiv erweisen, da unter ihren Voraussetzungen die Zweckrationalität keine Restriktion durch globale ethische Standards zu befürchten hat, sondern sich entlang eines Normierungsgefälles zur technischen „Hypermoderne" entfalten kann.91 China ist auch für eine solche Zukunft zweifellos ein Kandidat.
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89 Kims Polemik gegen Lee Kuan Yew, den Premierminister von Singapur und, so Kim, „the most articulate among Asia's authoritarian leaders", schließt mit den Worten: „Asia should lose no time in firmly
establishing democracy and strengthening human rights. The biggest obstacle is not its cultural heritage
but the resistance of authoritarian rulers and their apologists. Asia has much to offer the rest of the
world; its rieh heritage of democracy-oriented philosophies and traditions can make a significant contribution to the evolution of global democracy. Culture is not necessarily our destiny. Democracy is."
(Kim 1994)
90 Zit. nach Gresh 1998, S. 7.
91 Das aktuellste und brisanteste Beispiel hierfür ist die humanmedizinische Biotechnologie; s. Roetz
2004. - Fabian Heubel versucht, gegen die heraufziehende biotechnische Hypermoderne chinesische
Praktiken der Lebenskunst für eine an der Ästhetik des „Faden" orientierte, dem Kult grenzenloser
Kreativität entsagende Moderne nutzbar zu machen. Zur Grundlegung seines Ansatzes s. Heubel 2002.
China - eine andere Moderne?
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