Stadler Elmer, Stefanie (2005). Entwicklung des Singens. In T. Stoffer & R. Oerter (Hrsg.) Enzyklopädie der Psychologie,
Serie VII, Musikpsychologie, Bd. 2, Spezielle Musikpsychologie (S. 123-154). Göttingen: Hogrefe.
Entwicklung des Singens
Stefanie Stadler Elmer
5.5.1 Singen als elementarer sprach‐musikalischer Ausdruck
Zu den Besonderheiten, die den Menschen von anderen höher entwickelten Primaten unterscheidet, gehört
ein variationsreiches Potenzial an vokal‐artikulatorischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dieses ist phylogenetisch
entstanden und biologisch determiniert. Im Verlaufe der Evolution hat der Mensch seine körperlichen
Möglichkeiten der Lautgebung zu humanspezifischen Formen wie Sprechen, Singen, Lachen, Weinen usw.
differenziert. Diese Ausdrucksformen haben wichtige Funktionen in der Gestaltung des Zusammenlebens der
Menschen. Von Geburt an dient die Stimme dazu, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, Wirkungen
herzustellen und Befindlichkeiten Ausdruck zu geben. Zuerst geschieht dies durch unkultivierte Signale, dann
durch idiosynkratische und intersubjektive Zeichen, und mit fortschreitender Sozialisation werden die in der
soziokulturellen Umgebung kollektiv geltenden sprachlichen und musikalischen Lautsymbole und
Konventionen integriert.
Bei diesem Prozess werden die bestehenden vokalen und psychischen Strukturen laufend durch Selektion,
Variation und Verfestigung reorganisiert und restabilisiert. Der Mechanismus der Strukturbildung ist das
Ergebnis einer vitalen Tendenz, sich selbst zu reproduzieren und in der Umwelt Anschluss zu gewährleisten
(vgl. Äquilibrationsprinzip, z.B. Piaget, 1974/83; Seiler, 2000; vgl. auch Autopoiesis, z.B. Maturana & Varela,
1987; Luhmann, 1998). Die Integration eines Individuums in die spezifische Art und Weise des
Stimmgebrauchs beginnt sehr früh im Leben (vgl. Papoušek & Papoušek, 1987). Es findet eine Koevolution der
kindlichen Ausdrucks‐Prädispositionen mit jenen der sozialen Umgebung statt (H. Papoušek, 2001, vgl. auch
intuitive parenting, Papoušek & Papoušek, 1987).
Der Prozess der Kultivierung des vokalen Ausdrucks ist lebenslang und umfasst viele Fazetten.
Von Geburt an ist die Vokalisation dicht an Information, so dass die Beschreibung der vokalen Entwicklung
eine Auswahl und Reduktion unausweichlich macht. Transkulturell gesehen lassen sich drei Bereiche
unterscheiden (vgl. Stadler Elmer, 2000a, 2002), die die Menschheit im Verlaufe ihrer Stammesgeschichte zu
kultivieren begann. Diese Bereiche bestimmen auch die Entwicklungsrichtung, in welche sich die Ontogenese
bewegt:
1.
Die Kontrolle von vokal geäußerten Affekten (Schreien, Gähnen, Lachen usw.). Sie ist ein Bestandteil
des ‚sozialen Habitus‘ (Elias, 1976).
2.
Die kulturspezifische Selektion und Ausbildung von Lauten zu Symbolen, ‐ dem Sprechen ‐ zu
kommunikativen und kooperativen Zwecken (z.B. zur Referenz auf Objekte).
3.
Die Selektion und Gestaltung des stimmlichen Ausdrucks in Anpassung an kulturspezifische
Konventionen in sprach‐musikalischer Hinsicht, dem Singen.
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Wohl ist es möglich, Singen von Sprechen zu unterscheiden. Aber beide Modalitäten sind untrennbar
miteinander verbunden, da sie Teile ein und desselben Organismus sind (Merleau‐Ponty, 1966). Ihre
Unterscheidung ist abhängig von kulturbedingten und damit verbundenen funktionale Kriterien. Im
vorliegenden Kontext sind die abendländischen Konventionen berücksichtigt. Als einfachstes
Unterscheidungskriterium erweist sich die Tonhöhe, welche durch Vokalverlängerung akzentuiert und
gestaltet werden kann und dadurch den Eindruck von Singen erzeugt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium
betrifft die zeitliche Organisation (regelmäßiger Puls, periodische Muster, Gleichzeitigkeit von Parametern
(vgl. ausführlich, Stadler Elmer, 2002)). Funktional gesehen ist das Sprechen mehr auf kooperative
Kommunikation gerichtet, während die Funktionen des Singens eher in der Herstellung und Regulation von
positiv besetzten emotionalen Zuständen liegen, sowohl bei sich selbst, als Wirkung auf andere sowie als
gemeinsam erlebte Ereignisse (z.B. in Form von Ritualen). Gemäß Wygotski (1925/76) geht es um
‚Umwandlung der Affekte‘, oder anders gesagt, um die Reproduktion von sozial abgestimmten
Gemütsbewegungen. Lieder Singen verweist stets sowohl auf individuelle wie auch kollektive Erinnerungen
und Erfahrungen.
Die Übergänge zwischen Sprechen (mit seiner Sprachmelodie), Sprechgesang und Singen sind fließend und bei
Kindern oft nicht unterscheidbar. Das Singen schließt stets mehr oder weniger auf Sprache bezogene
Artikulationen in Form von Phonemen, Silben, Wörtern oder Text (Verse) mit ein. Sprachliche und
musikalische Komponenten sind so eng miteinander verbunden, dass es oft unmöglich ist, sie voneinander zu
trennen. In der frühkindlichen Entwicklungsphase entfällt eine Unterscheidung in mehr sprech‐ oder mehr
singähnliche Vokalisationsformen sogar völlig. Die sich anbahnende Differenzierung zwischen Sprechen und
Singen wird anhand von kulturell geprägten und von Kontext bezogenen Kriterien fest gemacht. Die
einfachste kultivierte Form des Singens sind Kinder‐ und Volkslieder. Die Entwicklung dieser sprach‐
musikalischen Form steht hier im Mittelpunkt.
Eine weitere Besonderheit des Singens gegenüber dem Sprechen ist der Eindruck von Wiederholbarkeit
(Kneppler, 1977): Obwohl eine identische Wiederholung eines zeitlichen Ereignisses letztlich nicht möglich ist,
spielt der Eindruck von Wiederholung beim Singen eine wichtig Rolle. Er kommt durch Erzeugen von
akustischer Ähnlichkeit zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zustande, wobei im Unterschied zum
Sprechen die Periodizität des Metrums, welches die Tonhöhen und die Silben synchronisiert, erleichtert,
kohärente und redundante Entitäten zu bilden.
Im Vergleich zu den anderen elementaren und universellen musikalischen Aktivitäten – dem Wahrnehmen
und Sich‐Bewegen – hat Singen insofern eine Sonderstellung, als hier alle grundlegenden musikalischen
Eigenschaften zum Ausdruck kommen: der Verlauf von Tonhöhen (Melodie), deren zeitliche Organisation
(Rhythmus), Lautheit und Klangfarbe. Ihre Gestaltung ist expliziten und impliziten kulturspezifischen Normen
unterworfen (vgl. Abschn. 5.5.3).
5.5.2. Singen als komplex strukturierte (Spiel‐) Handlung
Das Lieder Singen ist eine Darstellungs‐ oder Ausdrucksform und gehört zu den semiotischen Funktionen (vgl.
Piaget & Inhelder, 1960, 1966/77; z.B. auch Molino, 1990): Die sensomotorische Handlung ‐ die Lautbildung ‐
wird symbolisiert, indem die sinnlichen Zeichen Träger von kollektiv Sinnhaftem und dadurch zu Symbolen
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werden. Symbole sind das Material des Denkens, sie sind die elementaren Ideen, die der sinnlichen Erfahrung
Ordnung und Bedeutung verleihen (Cassirer, 1944/96; Langer, 1942/65). Im Lieder Singen manifestiert sich
kollektive Symbolisierung in sprach‐musikalischer Hinsicht. Lieder Singen ist eine typische soziokulturelle
Praxis; es ist die einfachste Art und Weise zu musizieren, denn sie bedarf keinerlei Gegenstände. Im
Unterschied zur instrumentalen Musik benutzt sie nur körpereigene Mittel des Ausdrucks. Es handelt sich
daher um eine universelle sinnliche Erfahrung, die allen Menschen eigentümlich ist.
Der eigenständige semiotische Gehalt ist mit sprachlichen Explikationen nur beschränkt zugänglich.
Des Weiteren können aus wiederkehrendem Singen einer Person Informationen folgender Art erschlossen
werden:
•
•
•
•
•
•
•
der einmalige und persönliche Stimmklang (vergleichbar mit dem Fingerabdruck);
in etwa der physische Entwicklungsstand;
nach der Geschlechtsreife in etwa das Geschlecht;
das Ausmaß an Anpassung an soziokulturelle Konventionen, Regeln und Symbolisierungen;
die kreative Nutzung der angeeigneten soziokulturellen Ausdrucksmittel;
Hinweise auf kulturelle Identität, Herkunft und Zugehörigkeit;
psychische und adaptive Prozesse, die sich rekonstruktiv anhand der Veränderung der
Handlungsstrukturen ermitteln lassen.
Da Singen oder Vokalisieren die elementarste Art ist, sich (vor‐)musikalisch auszudrücken, ist diese Handlung
besonders geeignet, Einblick in Prozesse der Akkulturation oder des Erwerbs von vielschichtigen kulturellen
Regeln oder Konventionen zu gewinnen. Diese Entwicklung verläuft weder zufällig noch ist sie ausschließlich
durch endogene oder exogene Faktoren bestimmt. Vielmehr handelt es sich um einen
Strukturbildungsprozess, bei welchem das Individuum, ausgehend von den biologischen Strukturen,
sensomotorische und geistige Strukturen aufbaut, welche im Austausch mit der Umwelt adaptive Funktionen
haben (vgl. z.B. Seiler, 1994; 2001). Bei dieser Anpassung an Umweltbedingungen spielt die Aneignung von
kulturspezifischen Regeln oder Konventionen des Singens eine grosse Rolle (vgl. Abschn. 5.5.3). Konzeptionen
dieses Entwicklungsverlaufs werden in Abschn. 5.5.5 thematisiert.
Bereits im zweiten Lebensjahr ist beobachtbar, dass Kinder Vorformen oder Fragmente von Liedern singen.
Lieder Singen gilt daher oft unbedacht als einfache Handlung. Tatsächlich aber stellt sie eine klar umgrenzbare
und gleichzeitig komplex strukturierte Handlung dar. Sie ist Ausdruck von Vorstellungen oder Ideen, die mehr
oder weniger – als Ergebnis von Akkulturation ‐ mittels kollektiv geregelten Symbolen gebildet sind. Singen als
Handlung ist nicht rational oder vernünftig, sondern symbolisch (vgl. Cassirer, 1944/96 ‚animal symbolicum‘).
Eine Person kann willentlich und intentional ihren Gesang steuern, aber nicht jedes Singen ist zielgerichtet
und beabsichtigt. Zudem treffen auf das Singen all jene Eigenschaften zu, die das Spiel charakterisieren (vgl.
z.B. Hetzer, 1979/95; Huizinga, 1938/94; Saner, 1993a; Gadamer, 1977): Wie das Spiel ist Singen geregelt,
zweckfrei, abgeschlossen oder zeitlich begrenzbar, ursprünglich mit emotional positiver Gestimmtheit oder
Befindlichkeit besetzt, (welche mit Spass, Heiterkeit, Ausgelassenheit und Erhabenheit (Huizinga, 1994)
umschrieben werden kann), und es kann personale, soziale und geistigeVerbindungen schaffen (Huizinga,
1994, S. 17: ‚Kulturfunktion‘). Die meisten Kinderlieder sind nicht aus dem Spiel entstanden, sondern sie sind
Spiel an sich, nämlich mit Lauten, Worten, Rhythmen, Bewegungen usw. (Stadler Elmer, 2000b, 2002).
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Das Singen lässt sich in die drei von Piaget eingeführten Hauptkategorien des Spiels einordnen:
1. Es ist sensomotorisches Spiel oder Übungspiel, vor allem durch die erlebnisbetonten und körperlich‐
sinnlichen Aspekte, die von Singen grundsätzlich nicht zu isolieren sind.
2. Es ist eine symbolische Spielform, die ‐ neben den sprachlichen bzw. lyrischen Gestaltungsmitteln ‐ im
Wesentlichen aus klanglichen oder melodischen Mitteln besteht, welche im Zeitverlauf organisiert sind.
3. Es ist stets geregelt oder strukturiert, wobei aber erst jenes Singen, welches sich den soziokulturellen
Regeln annähert, als Regelspiel im herkömmlichen oder konventionellen Sinne gelten kann. Das
präkonventionelle Singen, das nach wechselhaften und Ich‐zentrierten Regeln gestaltet ist, ist zwar Spiel.
Aber da dabei die Regeln nicht auf die soziale Gemeinschaft bezogen sind, entspricht es noch nicht dem
Regelspiel.
Um den Verlauf der Singentwicklung zu beschreiben, ist es unabdingbar, sowohl die Anpassung an die
kulturspezifischen Regeln und Konventionen wie auch präkonventionelle Formen und Abweichungen erfassen
zu können. Dies erfordert ein Begriffsinventar, das über die kulturspezifischen sprach‐musikalischen Normen
hinausreicht. Auch genügt es nicht, nur einzelne Parameter auszuwählen, sondern es muss die Konfiguration
von mehreren Parametern gleichzeitig beschrieben werden (vgl. Abb. 1 und 2).
5.5.3. Normative Aspekte des Lieder Singens
Je nach sozialem Kontext und den dabei wirksamen Normen und Regeln lassen sich Singarten voneinander
unterscheiden. Bestimmt die Sängerin oder der Sänger die Regeln selbst, so handelt es sich um Erfinden.
Lieder oder nur Melodien können sowohl spontan wie auch auf Aufforderung hin erfunden werden. Werden
hingegen Regeln des Singens übernommen, so handelt es sich um eine Reproduktion. Auch das Reproduzieren
von Liedern oder von Melodien kann spontan oder aufgefordert erfolgen. Oft lässt sich nicht eindeutig
zwischen Erfinden und Reproduzieren und zwischen spontanem oder aufgefordertem Singen unterscheiden.
Die verinnerlichten Strukturen einer Person manifestieren sich stets gleichzeitig assimilativ und
akkommodativ, so dass beim Erfinden beobachtbar ist, wie bereits Bekanntes reproduziert und variiert wird,
und umgekehrt, wie beim Reproduzieren fehlende Teile erfunden werden, um ein Lied vervollständigen oder
beenden zu können. Auch spontanes und aufgefordertes Singen vermischen sich bei aktueller Ausführung,
denn es gibt indirekte Aufforderungen in Form von Kontext bedingten Erwartungen, deren Erfüllung nicht als
spontan bezeichnet werden kann. Die Unterscheidung dieser Singarten ist wegen ihrer wesensgemäßen
Vermischung vorsichtig anzuwenden. Dennoch sind solche Unterscheidungen und Bezeichnungen zur
Verständigung wichtig, beispielsweise dazu, bestehende Studien methodisch danach zu ordnen, ob und wie
die Regeln des Singens vorgegeben sind (vgl. Abschn. 5.5.4.1). Der Stand des Könnens und Wissens einer
Person mit Bezug zu Konventionen des Singens lässt sich am besten aus Handlungsstrukturen erschließen, die
in unterschiedlichen Kontexten oder Singarten realisiert sind.
Da das Singen von einem Individuum handelnd realisiert wird, und da es ein zeitlich flüchtiges Produkt
hervorbringt, das als Klangmaterial mit technischen Mitteln gespeichert werden kann, lässt sich die
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Handlungsstruktur operational definieren. Das Klangmaterial besteht aus auditiven Zeichen, welche, ‐ im
Unterschied zu visuellen Zeichen ‐, in der Zeit verlaufen und hierarchisch strukturiert sind (vgl. Saner, 1993b).
Zudem ergeben Text und Melodie beim Lieder Singen eine parallel hierarchische Organisation (Baroni,
Dalmonte & Jacoboni, 1995).
Traditionellerweise werden Lieder in der Musik‐ und Literaturwissenschaft als schriftlich fixierte Produkte,
bestehend aus Liedtext und Liedmelodie, analysiert und im Lichte von verschiedenen Kriterien (u.a.
ästhetische, strukturalistische) sowie im historischem Kontext gedeutet. Beide Bereiche liefern
fachsprachliche Begrifflichkeiten, mit denen die sprachlichen und musikalischen Strukturen vor dem
Hintergrund der Konventionen beschrieben werden können.
In entwicklungspsychologischem Kontext ist Singen als aktuell ausgeführte Handlung relevant, einschließlich
der vorangehenden und nachfolgenden Bedingungen. Um diese Handlung in ihrer Struktur oder Organisation
analysieren zu können, muss zunächst das Klangmaterial in eine adäquate Schriftform gebracht werden. Die
Erfassung des kindlichen Singens, das oft von den Konventionen abweichen kann, erfordert ein anderes
Analyseverfahren, als in der Musikwissenschaft üblich ist. Es muss zweierlei leisten: (i) das kulturell geprägte
Hören objektivieren und (ii) eine Darstellungsweise mit Symbolen einführen, die über die Grenzen der
Konventionen hinaus reichen (vgl. Abschn. 5.5.4).
Die wichtigsten kulturspezifischen Regeln betreffen die Organisation der Tonhöhen und ihre Zeitstruktur. Für
die anderen Parameter, Lautstärke und Klangfarbe, sind die Konventionen eher impliziter Art und werden
meistens nicht notiert. Bereits die Variation von Tonhöhen auf verschiedenen Vokalen lässt sich als 'Melodie'
bezeichnen, auch wenn die Tonhöhenorganisation (noch) nicht den kulturspezifischen Konventionen
entspricht. Diese Eigenschaft ist schon in den frühen Vokalisationsformen des Säuglings realisiert. Diese
enthalten bereits alle musikalischen Parameter (Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe) sowie deren zeitliche
Organisation. Die Klangfarbe der Lautgebung ist ‐ analog zum Fingerabdruck ‐ Ausdruck individueller Identität
und einmalig. Die Artikulation der Vokale dagegen entspricht kulturellen oder regionalen Normen. Im
vorliegenden Kontext werden die Klangfarbe und die Lautstärke nicht weiter berücksichtigt, da neben dem
Text nur die Tonhöhe und ihre Zeitstruktur als konstitutiv für ein Lied angesehen werden.
Die Regeln für die Melodiebildung einfacher Lieder, z.B. bezüglich Tonskalen und Zeitwerte, sind
Konventionen. Diese sind einerseits über Generationen entstanden und andererseits einem ständigen Wandel
unterlegen. Es handelt sich nicht um rational begründbare Regeln oder gar naturwissenschaftliche Gesetze,
obwohl es musikalische Regeln gibt, welche mathematisch beschrieben werden können (vgl. Mazzola, 2002).
Vielmehr spielen neben dem tradierten Kulturgut der Zeitgeist sowie gesellschafts‐ und schichtspezifische
Präferenzen und Bräuche eine Rolle. Das praktische Musizieren weicht zudem von der theoretischen Notation
häufig unbemerkt ab (vgl. z.B. Seashore, 1938), und es kommt oft vor, dass die Anleitungen zum Musizieren
nicht oder nur unvollständig schriftlich vermittelt sind. Da Singen mit der Produktion von Vokalen, Silben,
Worten oder Texten einher geht, ist es keine rein ‚musikalische‘ oder ‚melodische‘ Angelegenheit, sondern
stets eine Verbindung von sprachlichen und musikalischen Ausdrucksmitteln. Es besteht ein allgemeiner
Konsens darüber, dass beim Lieder Singen Melodie und Text (d.h. Töne und Wörter) zu einem synchronen
Gebilde (meist in Versform) organisiert sind.
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Beim Singen ist die hierarchische Organisation der Laute ‐ im Unterschied zu dialogischem Sprechen ‐ in der
Zeit metrisch und als zeitlich kohärente Einheit strukturiert. Die kohärente zeitliche Einheit erleichtert es, auch
mit wenig Voraussetzungen am Singen anderer teilzunehmen, und sie begünstigt das Memorieren. Die
zeitliche Organisation weist kurze, durch die Atmung bedingte Zäsuren auf, die voneinander getrennte
Phrasen definieren. Die Phrasen sind die Subeinheiten. Phrasen und ihre hierarchische Organisation
unterliegen musikalischen Regeln der Melodiebildung sowie Regeln lyrischer Sprachgestaltung (in Verse
gebundene Rede, Gedichte, Sprüche usw.). Die Silben sind durch ein Gleichmaß (Isometrie) und die Töne
durch einen regelmäßigen Puls (oder Schlag) organisiert. Beim Lieder Singen sind die Isometrie und der Puls
synchronisiert. Die periodischen Hebungen und Senkungen (d.h. die Abfolge von betonten und unbetonten
Akzenten) bilden das Metrum, wobei die Regel ist, das Versmass und die Taktordnung in Übereinstimmung zu
bringen. Das Metrum ist das wichtigste Mittel zur Erzeugung der zeitlichen Kohärenz. Zu den spezifisch
sprachlichen Mitteln gehört die Reimbildung, zu den melodischen die typische Schlussbildung auf dem
Grundton.
Es gibt weitere abendländische Konventionen im Zusammenhang mit Lieder Singen, die für die Ausführung
und deren Analyse relevant sind. Beispielsweise sollte die Tonhöhe einer Note oder Silbe jeweils stabil sein,
d.h. konstant und nicht schwankend oder glissandi‐artig (nur Vibrato ist erlaubt). Sind die Tonhöhen, welche
sich von Silben zu Silbe verändern können, stabil, so lassen sie sich in Beziehung zur Tonskala setzen.
Während das Tempo, d.h. die Geschwindigkeit, mit der die regelmäßige Abfolge von Silben und/oder Tönen
produziert wird, innerhalb des Lieder Singens konstant sein sollte, ist es möglich, ein Lied in gewissen Grenzen
schneller oder langsamer zu singen, ohne dass damit die Identität und Kohärenz beeinträchtigt wird. Weiter
gilt, dass die Identität ‚Lied‘ vom Kontext abhängt: Beim Übernehmen von bestehendem Liedgut (z.B. im
Chor) gelten Regeln, die großenteils schriftlich vorhanden sind, und die gemeinsam einzuhalten wichtig für die
erfolgreiche Ausführung ist. Beim Lieder Erfinden hingegen ‐ sei es unmittelbar oder in Schriftform ‐ setzt ein
Individuum in gewissen Grenzen die Regeln selbst fest.
Zusammenfassend gesagt setzt ein Lied zu produzieren voraus, dass implizites Wissen über Konventionen
vorhanden ist, wie die Organisation der Lautbildung zu einem zeitlich kohärenten Ereignis gestaltet wird. Es
setzt zudem die Fertigkeit voraus, die Tonhöhen der stimmlichen Laute so zu organisieren, dass sie zeitlich
und artikulatorisch (Silben, Wörter) der subjektiven Repräsentation eines unmittelbar gegebenen Liedmodells
und/oder verinnerlichten Vorstellungen von sprach‐musikalischen Konventionen des Lieder Singens
entsprechen.
5.5.4. Methoden der Analyse und des Beschreibens von Singen
5.5.4.1.
Erhebung von Daten
Bei der Datenerhebung von Singen sind stets situativ geltende Normen wirksam (vgl. Abschn. 5.5.3).
Unaufgefordertes oder spontanes Singen ist vor allem im Kleinkind‐ und Vorschulalter zu beobachten. Es
ergibt sich in informellen Kontexten, z.B. Spiel begleitend, weswegen vorwiegend Eltern Gelegenheit zur
Aufzeichnung auf Tonträger haben (z.B. Stern, 1914; Papoušek & Papoušek, 1981; Dowling, 1984; Stadler
Elmer, 1997a), und Personen, die unbeteiligte Beobachtungen im Kinderalltag anstellen (Veldhuis, 1984;
Kelley & Sutton‐Smith, 1987; Björkvold, 1990). Spontanes Singen, sei es Lieder Reproduzieren oder Erfinden,
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kann als Ausdruck von Wohlbefinden interpretiert werden (Schünemann, 1930; Wicke, 1931; Stadler Elmer,
1995b, 2002). Die Gestaltung des Singens ist überaus reichhaltig, und mikroanalytische Methoden (Catán,
1986; Siegler & Crowley, 1991) werden diesem Phänomen zur Zeit am ehesten gerecht. Melodie‐ wie auch
Textfragmente von bereits erworbenen Liedern werden mit unkonventionellen und selbst erfundenen
vokalen Gebilden vermischt und einer Spiel‐Situation angepasst. Besonders lustbetonte vokale Muster
werden unzählige Male wiederholt. Auch bei Erwachsenen gibt es das Phänomen, dass musikalische
Strukturen spontan zu wiederholtem Ausdruck drängen; es wird umgangssprachlich als ‚Ohrwurm‘ (‚haunting
melody‘) bezeichnet.
Kinder werden oft direkt zu Lied‐ und Melodie‐Erfindungen aufgefordert (vgl. z.B. Werner, 1917; Nestele,
1930; Metzler, 1961, 1962, 1970; Fulin, 1974; Kalmar & Balasko, 1986; Kalmar, 1990; Davies, 1986, 1992,
1994; Umemoto, 1994; Zulauf, 1997; Sundin, 1998; Stadler Elmer & Hammer, 2001). Die Arbeiten hierzu
divergieren stark in der Art und Weise, wie Anleitungen und Hilfestellungen angeboten wurden. Der
Liedanfang wird vorgegeben (Davies, 1986, 1992), oder ein Text (Werner, 1917; Stähli, 1992), oder Melodie‐
Anfänge, die das Kind vervollständigen soll (Zulauf, 1997), oder ein Bild soll das Erfinden anregen (Aufschläger
& Oerter, 1999; Stadler Elmer & Hammer, 2001). Auch die jeweiligen Leitfragen, theoretischen Positionen und
Analyseverfahren sind recht unterschiedlich. Die älteren Arbeiten zielten vor allem darauf ab, von den
melodischen Strukturen endogen bedingte Entwicklungsstufen aufzustellen (Werner, 1917; Nestele, 1930)
und sie mit melodietheoretischen Bezügen zur kulturhistorischen Entwicklung zu begründen (Metzler, 1961,
1962, 1970; Bimberg, 1957). In jüngeren Arbeiten wird vorgezogen, anhand von Einzelfallanalysen
Veränderungsprozesse zu ermitteln (z.B. Davies, 1986, 1992; Aufschläger & Oerter, 1999; Kelley & Sutton‐
Smith; 1987; Stadler Elmer & Hammer, 2001; Stadler Elmer, 2002; Stähli, 1992, Zulauf, 1997). Auch sind
Dokumente von erfundenen Liedern im Rahmen von pädagogisch motivierten Fragestellungen zu finden, z.B.
bei Jöde, (1928) und bei Heywang (1929) zu vorgegebenen Versen oder bei Schleuning (1978) zu selbst
erfundenen Texten.
Um das Reproduzieren zu erforschen, werden Lieder aktuell oder durch Tonträger vorgegeben: traditionelle
Lieder (Moog, 1967, 1968; Flowers & Dunne‐Sousa, 1990, Papoušek & Papoušek, 1981; Sundin, 1998), ein
fremdländisches Lied (Chen‐Hafteck, 1999; Brand, 2000), neu komponierte Lieder (Sergeant & Roche, 1973;
Davidson, McKernon & Gardner, 1981; Welch, Sergeant & White, 1998; Levinowitz, 1989; Stadler Elmer,
1998a, 2000a, 2000b, 2000c, 2000d, 2002), eine neue Melodie (Moore, Brontons, Fyk & Castillo, 1996). Oft
gibt es keine oder unklare Angaben über die Vorgaben (Davidson, 1985; McKernon, 1979; Ries, 1987; Kelley &
Sutton‐Smith, 1987).
Neben dem spontanen oder aufgeforderten Reproduzieren und Erfinden werden im Rahmen der Entwicklung
des Singens auch der Stimmumfang und die Tonhöhen‐Nachsingfähigkeit (pitch matching ability) untersucht,
obwohl dies nicht Ausdrucksweisen sind, die sich deutlich kulturell formen. Beide können als Indikatoren von
vokaler Kontrolle gelten, z.B. zu diagnostischen Zwecken. Der Stimmumfang, d.h. der vokal verfügbare
Tonraum vom tiefsten zum höchsten Ton, kann nach verschiedenen Methoden bestimmt werden (vgl. Stadler
Elmer, 1995a): anhand von Nachahmungsleistungen, b) von Lieder Singen (‚bequemer Umfang‘) und c) von
instruiertem und wiederholtem Ausloten der Grenzen. Es gibt die Meinung, der Stimmumfang würde mit
zunehmendem Lebensalter zunehmen und von der sozialen Schicht abhängig sein (vgl. Welch, 1979a).
Untersuchungen (Flowers & Dunne‐Sousa, 1990; Stadler Elmer, 1995a) zeigen jedoch, dass sich nur der untere
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Stimmbereich aufgrund physischer Reife mit dem Alter erweitert. Der obere Stimmbereich erweist sich
intraindividuell als instabil und durch Training, Technik u.a.m. beeinflussbar.
Die oft für die musikalische Entwicklung als grundlegend betrachtete Fähigkeit, vorgegebene Tonhöhen richtig
nachsingen zu können, ist bereits im Alter von wenigen Monaten vorhanden (Schünemann, 1930; Révész,
1946/72; Michel, 1970; Papoušek & Papoušek, 1981; Kessen, Levine & Wendrich, 1979). Doch die
Längsschnittstudie von Wendrich (1980/81) zeigt, dass diese Fähigkeit nach 3 Jahren bei 7 von 9 Kindern
reduziert oder gar ganz verschwunden ist, vermutlich wegen mangelnder Stimulation. Das Ausbleiben von
kontinuierlicher Aktualisierung der stimmlichen Fähigkeiten gilt auch als Erklärung für die großen
individuellen Unterschiede und dem Ausbleiben eines Alterseffekts (z.B. Petzold, 1963; Sims, Moore & Kuhn,
1982; Stadler Elmer, 1995a; Moore, 1994a). Goetze, Cooper & Brown (1990) und Moore (1994b) geben
Überblicke über die untersuchten Faktoren, die die Nachsingfähigkeit und generell das richtige Singen
beeinflussen. Beispielsweise können Kinder besser einer Frauenstimme nachsingen als nach anderen
Klangfarben (z.B. Green, 1990; Sims, Moore & Kuhn, 1982). Eine Erfahrungsanreicherung in Form vermehrten
Singens führt durchwegs zu einer Verbesserung der Nachsingfähigkeit, insbesondere auch bei sogenannten
‚singunfähigen‘ Kindern (vgl. Übersicht von Shuter‐Dyson, 1974; Welch, 1979a; Atterbury, 1984; Stadler
Elmer, 1995b, 1996a).
5.5.4.2. Traditionelle Methoden der Analyse und Darstellung von Gesang
Da Kinder unmittelbare und in kurzer Zeitspanne ausgearbeitete Lieder oder Vorformen realisieren, d.h.
sprachliche und musikalische Regeln auf Anhieb zu einem synchronen Lautgebilde koordinieren, handelt es
sich um ein Zeit gebundenes Produkt, welches nur in der Form eines aktuell gegenwärtigen Ereignisses
existiert. Von Erwachsenen geschaffene Produkte hingegen können in Schriftform vorliegen, oder deren
hohes Ausmass an Regelkonformität erleichtert die Analyse und die Verschriftung.
Zwar lässt sich Kindergesang mit Tonträgern fixieren. Aber es ist weit schwieriger, solche Produkte zu
analysieren und darzustellen, weil sie meist weniger den kulturellen Normen entsprechen als der Gesang von
Erwachsenen. Neben physiologischen Analysen (‚machine based‘) wird Singen mittels gehörsmäßigen Ratings
ausgewertet (‚human based‘, vgl. Welch, 1994): Meist sind es Berufsmusikerinnen, die das Ausmaß an
Anpassung an musikalische Konventionen auf vorgegebener Skala einschätzen. Aufwendiger und gängiger ist
die Methode, welche bereits Werner (1917) verwendet hat: Auf Tonträgern aufgenommenes Singen wird
durch wiederholtes Anhören mit der konventionellen Notenschrift festgehalten. Meist wurden einige
zusätzliche Symbole wie Viertelnoten, X für sprech‐ähnliche Vokalisation u.a.m. verwendet.(z.B. Moog, 1967;
1968; McKernon, 1979; Davidson et al. 1981; Davidson, 1994; Davies, 1986, 1992; Kelley & Sutton‐Smith,
1987; Sundin, 1998; Brand, 2000). Manchmal wird ein Musikinstrument (z.B. Davidson, 1985) und selten ein
automatisches Stimmgeräte (Flowers & Dunne‐Sousa, 1990; Stadler Elmer, 1990; Sundin, 1998) als Hilfsmittel
zur Tonhöhenanalyse benutzt.
Wird Gesang durch bloßes Hören analysiert und mit konventioneller musikalischer Notation festgehalten, sind
zwei wichtige Fehlerquellen mit eingeschlossen: Es besteht die unreflektierte Tendenz, nach gewohnten
kulturellen Kategorien ‚zurecht‘ zu hören (vgl. Seashore, 1938; Siegel & Siegel, 1977a, 1977b). Zusätzlich stellt
sich das Problem, dass die konventionelle Notationsweise nicht angemessen ist, Abweichungen von den dabei
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Stadler Elmer, Stefanie (2005). Entwicklung des Singens. In T. Stoffer & R. Oerter (Hrsg.) Enzyklopädie der Psychologie,
Serie VII, Musikpsychologie, Bd. 2, Spezielle Musikpsychologie (S. 123-154). Göttingen: Hogrefe.
gültigen Begriffen und Kategorien darzustellen. Solche Schwierigkeiten bei der Analyse und der Beschreibung
haben dazu beigetragen, dass Gesang wenig untersucht wurde. Das Hauptproblem besteht darin, die nur kurz
dauernde und zugleich reichhaltige Information objektiv, zuverlässig, gültig und als zeitliches Ereignis
analysieren und darstellen zu können.
5.5.4.3 Computerisierte Analyse‐ und Beschreibungsmethoden
Für die Analyse von Sprache sind Computer unterstützte Verfahren seit langem Tradition (z.B. Hess, 1983;
Tohkura, Vatikiotis‐Bateson & Sagisaka, 1992), insbesondere mit Bezug zu akustischen Eigenschaften der
Intonation (Prosodie) (z.B. Helfrich, 1985; t'Hart, Collier, & Cohen, 1990). Fernald & Simon (1977) und Garnica
(1977) begannen damit, prosodische Eigenschaften von an Säuglingen gerichtete Sprache (motherese)
akustisch zu verifizieren. Es folgten weitere Studien (z.B. Fernald & Simon, 1984; Fernald & Kuhl, 1987;
Fernald, Taeschner, Dunn, Papoušek, de Boysson‐Bardies, & Fukui, 1989), darunter auch prosodische
Analysen von Eltern‐Kind Dialogen (z.B. Papoušek & Papoušek, 1989; M. Papoušek, 1994, 1995) und von
Entwicklungsaspekten im kindlichen Sprechen (z.B. Smith & Kenny, 1998). Papoušek & Papoušek (z.B. 1981)
stellten akustische (z.B. Sonogramm) und gehörsmäßig gewonnene, konventionelle Notation nebeneinander,
um die musikalischen Elemente in den vorsprachlichen oder vormusikalischen Vokalisationen zu
verdeutlichen (vgl. auch M. Papoušek, 1996).
Ein Computer unterstütztes Verfahren zur Tonhöhenanalyseprogramm (von D. Howard) wurde auch von
Sergeant (1994) verwendet, um Unterschiede zwischen trainierten und nicht trainierten Sängerinnen und
Sängern zu ermitteln. Er interessierte sich für den Tonhöhenverlauf auf der Ebene von Einzeltönen (pitch
matching), und nicht für größere Einheiten wie eine Melodie oder ein Lied. Dies trifft ebenfalls auf die Studie
von Trehub, Unyk, Kamenetsky, Hill, Trainor, Henderson & Sarara (1997) zu: Ihr Interesse galt der
Quantifizierung der durchschnittlichen Tonhöhe, mit welcher Erwachsene an Kinder gerichtete Lieder sangen.
Nur der Grundton solchen Gesangs wurde identifiziert und danach mit Computer analysiert (Fo). Die
Organisation der Tonhöhen im Zeitverlauf und mögliche Schwankungen des Grundtons während des Singens
wurden nicht beachtet.
Um Singen und seine Entwicklung auch in seinen Norm abweichenden Formen strukturell analysieren und
beschreiben zu können, haben wir eine neue, mikroanalytische Methode entwickelt (Stadler Elmer, 1997b,
ausführlich: Stadler Elmer & Elmer, 2000). Zuerst werden die situativen Begebenheiten von nacheinander
erfolgtem Singen (u.a. Interaktion) erfasst. Danach wird jedes einzelne Sing‐Ereignis im Computer als Datei
gespeichert. Ein eigens entwickeltes Tonhöhenanalyse‐Programm liefert akustische Information über den
Tonhöhenverlauf und die Zeitstruktur (siehe: http://monet.physikunibas.ch/~elmer/pa) . Das Hören ist
dennoch unablässig, um irrelevante Information (z.B. Geräusche, Störungen) von relevanter zu unterscheiden.
Die detaillierte Information wird durch Symbole reduziert und grafisch dargestellt. Abb. 1 und 2 zeigen je ein
Beispiel einer Lied Reproduktion und einer spontanen Erfindung.
Die Tonhöhen sind auf einer kontinuierlich verlaufenden Skala dargestellt. Auf der y‐Achse sind zwar die
kulturell bedingten Tonhöhenkategorien als Orientierungshilfe eingezeichnet (in angelsächsischer
Schreibweise, d.h. a‘ = A4, h‘ = B4, c‘ bis c‘‘ = C4 bis C5); aber der Raum zwischen diesen Kategorien wird
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ebenfalls zur Darstellung von akustisch gewonnenen Daten genutzt. Auf diese Weise lassen sich
Abweichungen vom Tonsystem, z.B. Mikro‐Intervalle und Ein‐ und Ausschwingphasen, genauer darstellen.
Ebenso wird der Zeitverlauf auf der x‐Achse als Kontinuum dargestellt. Dies erlaubt, die genauen Angaben
zum Beginn und zur Dauer einer Silbe oder eines Tones (in secs.) anzugeben. Jedes Symbol repräsentiert die
produzierte Qualität der Tonhöhen, und durch die Position im Koordinatensystem sind die Tonhöhen und die
Zeitpunkte lokalisiert. Das Symbol ‚grosser Punkt‘ steht für eine stabil produzierte Tonhöhe, während ein
schräger oder senkrechter Strich angibt, in welcher Bandbreite sich die instabil produzierten Tonhöhen
befinden. Die Verbindung von Punkt und Strich gibt entsprechend an, in welche Richtung eine stabil
produzierte Tonhöhe eine Ein‐ oder Ausschwingphase oder ein Glissando aufweist. Diese Information ist
durch die akustische Analyse gegeben.
Tom, 1/1, E.4, 8.1 secs
so
G4
F4
mi
E4
D4
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C4
B3
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7
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3
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0
Abb. 1: Nach zweimal Zuhören und einmal Mitsingen produzierte Tom (4;7 J.) dieses Lied. Der Liedtext ist
nach den ersten Worte auf die Silbe ne reduziert. Die zweite Phrase ist eine eigenständige Melodie in der
Dreiklangsstruktur, die auf dem Grundton endet. Das vorgesungene Modell ist als feine Linie dargestellt (aus
Stadler Elmer, 2000b).
Das Beispiel in Abb. 1 zeigt die erste Reproduktion eines neuen Liedes von einem Jungen im Alter von 4;7
Jahren. Er hatte das Liedmodell (als fein durchgezogene Linie angegeben) zweimal angehört und danach
einmal mitgesungen. Seine erste Reproduktion zeigt, dass er den Text großenteils durch die repetitive Silbe ne
vereinfachte. Er konzentrierte sich nicht auf den Text, sondern auf die Melodie: Die ersten sieben Töne
übernahm er angemessen; die zweite Phrase, welche im Modell dorisch ist, gestaltete er als selbst erfundene
Melodie, die konventionell endet, nämlich mit dem Grundton. Im fortsetzenden Lernprozess bemühte sich
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Tom, von seiner bereits habituell verwendeten und konventionellen Schlussbildung abzukommen und das
Modell anzunähern. Zwischendurch erfand er unaufgefordert ein neues Lied (Abb. 2). Eindrücklich ist die
Gestaltung der Melodie mit vielen Mikrointervallen wie auch des Textes mit Neologismen ‚um des Reimes
willen‘ (Christian Morgenstern). Die beiden Abbildungen sind ein Ausschnitt aus einer ausführlichen
Prozessanalyse (vgl. Stadler Elmer, 2000b, 2002). Solche mikroanalytischen Ergebnisse, welche die
Organisation des Singens empirisch beschreiben und welche die Veränderungen als sich wandelnde
Konfigurationen zu rekonstruieren erlauben, lassen sich in die bisherige Theorien (vgl. Abschn. 5.5.5.1) weder
einordnen noch erklären.
Tom, 1/4(inv.), E.13, 13.0 secs
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G4
F4
E4
D4
C4
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Abb. 2: Spontane Lied‐Erfindung von Tom im selben Kontext wie Abb. 1.(aus Stadler Elmer, 2000b).
5.5.5. Entwicklungsverlauf
5.5.5.1. Bisherige Theorien
Zur Frage, wie der Entwicklungsverlauf des Singens konzipiert wird, hat meine Analyse der einschlägigen
Literatur die folgenden drei Ansätze ergeben (Stadler Elmer, 1995, 1996):
1. Die Intervall‐Erwerbs‐Theorie nimmt an, dass die Menschen angeborene musikalische Strukturen haben.
Einige Individuen sind von der Erbanlage her musikalisch begabter als andere. Der Tonraum im Singen
entwickelt sich nach einer festen Reihenfolge: Zunächst entsteht die Stufe V (so), dann die III (re), was die
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kleine Terz ergibt. Es folgt die Stufe VI (la), was die ‚Urmelodie‘ ergibt (so, la, so, mi) (z.B. Silverstolpe, 1926;
Nestele, 1930; Michel, 1968), und es folgen weitere Stufen. Diese invariable Reihenfolge wird als Ableitung
von der harmonischen Klangstruktur (Obertonreihe) begründet (Roederer, 1973) oder auch in
Zusammenhang mit der Pentatonik gebracht (Kodaly folgend, z.B. Fredrikson, 1994). Analog zu Chomsky's
‚Language Acquisition Device‘ wird angenommen, dass das Singen sich durch ein universelles und
angeborenes Programm entwickelt (z.B. Bernstein, 1976).
2. Die Idee einer Sprach‐Dominanz widerspiegelt eine allgemeine Übereinstimmung unter Forschern darin,
dass Sing‐ oder Lied‐Erwerb in folgender Reihenfolge verläuft: Zunächst erscheinen die Wörter, dann der
Rhythmus, dann die Kontur, und schließlich die genauen Intervalle (vgl. z.B. Hargreaves, 1986; Davidson,
1985; Davidson et al., 1981; Moog, 1968; Schwan, 1955; Welch, 1986, 1998).
3. Die Melodie‐Kontur‐Theorien fokussieren die Phrase als Einheit und dabei den Tonhöhenverlauf. Dowling
(z.B. 1988) beschreibt den Gang der Entwicklung als zunehmend komplexer werdende Organisation der
Phrasen, und er betont die Rolle der Melodie‐Kontur als Baustein der musikalischen
Informationsverarbeitung. Davidson's (1985, 1994) Theorie konzentriert sich auf das ‚Kontur Schema‘, d.h. auf
den Umfang vom höchsten zum tiefsten Ton einer gesungenen Phrase. Er beschreibt die Entwicklung als
einen mit dem Alter zunehmenden Tonhöhen‐Umfang der Phrasen. Sie beginnt mit der kleinen Terz, Quarte
usw., und erreicht im Alter von 6 oder 7 Jahren den Umfang einer Sexte.
Es wird hier nur kurz auf drei Kritikpunkte eingegangen:
A) Detaillierte Analysen von Singen können mit Bezug auf musikalische Intervalle weder eine invariable
Reihenfolge noch Universalien (z.B. Nattiez, 1977), noch eine Bevorzugung der pentatonischen Skala
bestätigen. Intervalle erweisen sich als unangemessen, um Singen zu analysieren und zu beschreiben, denn
Abweichungen bleiben aufgrund der kategoriellen Wahrnehmung (Siegel & Siegel, 1977a, 1977b) unbemerkt,
oder sie werden aus ästhetischen Gründen toleriert (Seashore, 1938). Um zu vermeiden, einer
ethnozentrischen Sicht zugunsten des abendländischen Tonsystems zu verfallen, ist es notwendig, Gesang so
differenziert zu beschreiben, dass auch nicht abendländisches und präkonventionelles oder von Normen
abweichendes Singen erfasst werden kann. Computer unterstützte Analyse‐Methoden bieten die Möglichkeit,
das kulturell geprägte Hören zu kontrollieren und zu objektivieren (vgl. Stadler Elmer & Elmer, 2000).
B) Öfters wird versucht, den Gang der Sing‐Entwickung zu formalisieren, indem eine additive Reihenfolge von
musikalischen Intervallen mit dem Lebensalter kombiniert wird (z.B. Werner, 1917; Kube, 1958; Davidson,
1985, 1994). Laut diesen Theorien wäre es möglich zu sagen, in welchem Alter welche Intervalle im kindlichen
Singen anwesend oder abwesend sind. Gemäß Davidson, beispielsweise, würde ein junges Kinds jedes Lied
mit großen Intervallen auf die seinem Alter entsprechenden Kontur‐Schema (Umfang) reduzieren.
Verschiedene Autoren haben Analysen von kindlichem Singen dokumentiert und können diese Annahme
nicht bestätigen (z.B. Davies, 1986; Stadler Elmer, 1998a, 2000a, 2000b, 2002).
C) Ähnlich unbestätigt bleibt die Annahme, dass Kinder beim Singen additiv vorgehen und mit dem Liedtext
beginnen würden (vgl. Papoušek & Papoušek, 1981; Kelley & Sutton‐Smith, 1987; Stadler Elmer, 1998a; Chen‐
Hafteck, 1999). Da die Komponenten eines Liedes (Text, Melodie) und deren zeitliche Organisation
(Rhythmus) untereinander zusammenhängen und parallel hierarchisch organisiert sind (Baroni, et al., 1995),
ist eine additive Konzeption nicht angemessen. Es ist notwendig, die möglichen Elemente und Strukturen von
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aktuell erfolgtem Lieder Singen begrifflich zu explizieren, um Beobachtungen entsprechend beschreiben und
theoretisch reflektieren zu können.
Das Beobachten und Beschreiben eines informationsreichen Ereignisses, wie es das Singen ist, ist
zwangsläufig selektiv. Deshalb ist es entscheidend zu klären, was und wie beobachtet wird. Es mag trivial
anmuten zu sagen, dass das Beobachten nur im Rahmen von etablierten Begrifflichkeiten erfolgen kann. Wie
kritisch diese Feststellung ist, lässt sich leicht an bisherigen Theorien aufzeigen, die das Singen auf wenige
musikalische Begriffe einschränken. Es geht daher vor allem darum, den Prozess der sprach‐musikalischen
Akkulturation, wie er in der Vokalisation zum Ausdruck kommt, neu zu konzipieren, d.h. die
Beobachtungskonzepte zu klären und empirisch zu verifizieren. So wird es möglich, eine Vielfalt von
Entwicklungsverläufen schon vom Säuglingsalter an theoretisch und empirisch zu ermitteln und zu
rekonstruieren.
5.5.5.2.
Eine Entwicklungssequenz des Singens
Wie in anderen Entwicklungsbereichen, so gilt auch für den sprach‐musikalischen Ausdruck die Prämisse, dass
sich die Strukturen im Handeln und Denken nicht zufällig verändern, sondern dass die Veränderungen
theoretisch als Abfolge von qualitativen Stufen oder Stadien beschreibbar sind (vgl. Seiler, 1977). Notwendige,
aber nicht hinreichende Bedingungen einer fortschreitenden Entwicklung sind einerseits physische
Voraussetzungen, z.B. das Hören, durch welches Modifikationen erst möglich wird, und die Partizipation an
sozial‐emotional anregenden kulturellen Anlässen. Das Gefühl erlebter sozialer Zugehörigkeit ist dabei ein
wichtiger Bestandteil.
Die folgende hypothetische Entwicklungssequenz (vgl. Stadler Elmer, 2000a‐d, 2002) stellt eine Synthese dar
aufgrund von bestehenden Studien, empirischen Analysen und metatheoretischen Überlegungen auf der
Grundlage eines strukturgenetisch‐konstruktivistischen Ansatzes in der Tradition von Piaget (vgl. z.B. Seiler,
1991, 1994, 2000; Stadler Elmer, 1998a, 2002). Die der Sequenz zugrunde liegenden Kriterien sind nicht das
Alter oder rein musikalische Aspekte. Vielmehr sind es allgemeine Dimensionen, anhand derer Strukturen im
Handeln und Denken bereichsspezifisch beschrieben werden können (vgl. Seiler & Wannenmacher, 1987):
zunehmende Differenzierung und Integration, Dekontextualisierung, Abstraktheit, Konsistenz, Bewusstheit,
Beweglichkeit und Festigkeit, u.a.. Die Entwicklungssequenz bietet eine vorläufige theoretische Orientierung,
um den Entwicklungsstand des Singens von einzelnen Kindern differenzierter beobachten, beschreiben und in
einem größeren Rahmen verstehen zu können. Fortgesetzte Zirkel von Beobachten, Bezeichnen und
Kommunizieren bieten selbst wiederum die Möglichkeit, laufend die Begriffe der Beobachtung anzupassen
und zu verbessern.
1. Stufe: Beginnende Koevolution angeborener Ausdrucks‐Prädispositionen mit der sozialen Umgebung
Von Geburt an ist es möglich, das Hören, das Vokalisieren und Bewegungen miteinander zu koordinieren. Das
Vokalisieren dient dazu, innere Zustände (Empfindungen (Hunger, Schmerz), Affekte und Emotionen) der
Umwelt zu signalisieren. Der Säugling reagiert empfindlich auf bestimmte Umweltreize, vor allem auf die an
ihn gerichtete Art zu kommunizieren. Eltern verwenden intuitiv eine Sprech‐ und Kommunikationsweise, die
auf den Säugling anregend wirkt, und umgekehrt, die Eltern lassen sich zu dieser Art 'motherese' durch die
Vokalisationen des Säuglings anregen, indem sie es imitieren und wiederholte Klangmuster bieten, welche die
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Stadler Elmer, Stefanie (2005). Entwicklung des Singens. In T. Stoffer & R. Oerter (Hrsg.) Enzyklopädie der Psychologie,
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sensomotorische Strukturierungs‐Möglichkeiten des Säuglings anregen und fördern (H. Papoušek, in press).
Vormusikalische Merkmale (Sprachmelodie, rhythmische Muster usw.) spielen hier eine besondere Rolle (H.
Papoušek, 1996; M. Papoušek, 1996; Trevarthen, 1999). Diese Art Kommunikation zwischen Säugling und
Bezugspersonen sind emotional positiv besetzte Erfahrungen, die zum Aufbau einer vertraulichen Bindung
beitragen. Das ausdauernde Ausprobieren der stimmlichen Möglichkeiten sowohl im Dialog wie auch im
Monolog (Vokalspiel) repräsentieren die ursprüngliche Form von Spielen. Eltern‐Kind Dialoge zeigen ein
häufiges Vorkommen von Sequenzen gegenseitiger Imitation, besonders vokaler Art (z.B. M. Papoušek, 1994).
(Für eine Übersicht zu den Anfängen der musikalischen Entwicklung siehe H. Papoušek, 1996, 1997; Stadler
Elmer, 1997, 2002).
2. Stufe: Verschobene Nachahmung, entstehende Rituale und ausgedehntes Vokalspiel
Eltern‐Kind Dialoge stimulieren gleichzeitig die Entwicklung von vorsprachlichen wie auch von
vormusikalischen Kommunikations‐Kompetenzen des Säuglings. Wiederkehrende Erfahrungen von ähnlichen
vokalen Klangmustern und von gemeinsam erzeugten (Spiel‐) Regeln zwischen Eltern und Kind ergeben eine
Art 'Rituale', die auf gegenseitig aufeinander abgestimmte Erwartungen an Interaktionen basieren. In der
Eltern‐Kind Kommunikation sind oft prosodische und melodische Merkmalen nicht voneinander
unterscheidbar. Gemeinsam erzeugte Kommunikationsregeln betreffen das Abwechseln (turn‐taking) wie
auch das gleichzeitige, aufeinander abgestimmte Vokalisieren. Das Wiederholen von vokalen Mustern ist eine
elementare Aktivität in frühen Dialogen wie auch in den kindlichen Monologen. In den kindlichen
monologischen Vokal‐Spielen zeigt sich, wie allmählich Merkmale, die zuvor in dialogisch erzeugten Mustern
vorkamen, integriert werden und umgekehrt, wie Merkmale von monologisch eingeübten vokalen Mustern in
dialogischen Situationen übertragen werden. Solche Beobachtungen lassen auf verschobene Nachahmung
schliessen. Sie sind Hinweise darauf, dass mentale Strukturen entstanden sind, und somit diese
sensomotorischen Aktivitäten beginnen, von einer inneren Vorstellung oder Erinnerung begleitet zu werden.
Normalerweise kann man im Alter zwischen 10 und 14 Monaten beobachten, wie sich die eher sprech‐
ähnlichen und die eher sing‐ähnlichen Lautbildungen zu differenzieren begonnen haben. Oft sind Eltern in
dieser Phase aufmerksamer gegenüber den entstehenden Sprech‐Mustern und weniger oder gar nicht
gegenüber den vormusikalischen Vokalisationsweisen des Kindes.
3. Stufe: Sensomotorische Orientierung: Nachahmen ohne Regelverständnis und Erfinden nach
idiosynkratischen Regeln
Das frühe Lieder Singen, das bereits ab dem zweiten Lebensjahr beobachtbar ist, hat folgende
Charakteristiken: Das Kind kann ‚richtig‘ mitsingen, indem es die Tonhöhen, die Silben und den zeitlichen
Verlauf dem Singen einer anderen Person anpasst. Wenn es alleine singt, so kann man zuhörend
übernommene Lieder und Lied‐Fragmente wiedererkennen. Abweichungen von den konventionellen Regeln
betreffen nicht eine bestimmte Liedkomponente, sondern Details gleichermaßen von Text, Melodie oder
Zeitverlauf. Z.B. werden Phoneme ausgelassen oder ersetzt, oder der Rhythmus oder die Melodie sind
vereinfacht. Die Abweichungen zeigen, dass das Kind sich auf das Hören und das stimmliche Umsetzen des
Gesamtklangs konzentriert. Diese sensomotorische Strategie, wie ich sie bezeichne, entbehrt noch der
Steuerung durch mentale Vorstellungen oder Strukturen, die einigermaßen den konventionell geltenden
sprach‐musikalischen Regeln und Begriffen entsprechen könnten. Daher mag die kindliche Aufmerksamkeit
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zeitweise auf irrelevante Merkmale des Geschehens gerichtet sein, zu Ungunsten von solchen, die kulturell
bedeutsam wären. Es ist schwierig, allgemein zu sagen, wie und was ein Kind auf dieser Stufe zur
Nachahmung auswählt. Aber es gibt Ereignismerkmale, die leichter als andere strukturierbar und
memorierbar sind. Dazu zählen vertraute Muster, kleine Einheiten mit repetitiven Silben und Tönen,
Merkmale an wichtigen Stellen innerhalb des hierarchisch gegliederten Ablaufs (Anfang, Ende (Reime),
metrische Akzente). Schwieriger hingegen sind lange und variationsreiche sprachliche, melodische und
rhythmische Phrasen (unübliche Lautmuster, Tonartwechsel, Synkopen usw.). Produkte der
sensomotorischen Strategie sind daran zu erkennen, dass einerseits erstaunlich genaue oder richtige
Passagen vorkommen, es aber andererseits Stellen gibt, an denen erkennbar ist, dass das Kind die
konventionellen Regeln (z.B. parallele Hierarchie) und sprachliche und musikalische Konzepte noch sinnlich
und bloß nachahmend (sensomotorisch) begreift. So kann es vorkommen, dass das Kind an beliebigen Stellen
während des Liedes atmet, selbst in der Mitte eines Wortes. Dadurch verstößt es gegen die Regel, dass nur
zwischen Phrasen geatmet werden darf (vgl. z.B. Stadler Elmer, 1998b). Obwohl das Kind die Bausteine oder
Gliederung seiner Handlung noch flexibel generalisieren kann, ist es dennoch fähig, mittels der auditiv‐
vokalen Koordination qualitativ so gut zu singen, dass beim Mitsingen und beim alleinigen Singen klar
identifizierbare Lieder entstehen können, selbst solche mit fremdsprachigem Text. Diese imititave Leistung ist
typisch für die sensomotorische Strategie. Metaphorisch gesprochen, kann man die Funktion mit jener eines
Tonbandes vergleichen. Jakobson (1944/69) verweist auf die ‚stempelartige Fixierung des lautlichen
Gedächtnisbesitzes‘ (S. 40/41) für dasselbe Phänomen beim Erwerb des Sprechens. Ergebnisse der
sensomotorischen Strategie werden oftmals überschätzt, beispielsweise als ‚Wunderkinder‘, oder
unterschätzt, indem richtiges Lieder Singen erst viel später in der Entwicklung erwartet wird. Abgesehen von
Nachahmung, kann das Kind auf dieser Stufe ausführlich und ausdauernd spontan singen und erfinden, als ob
es üben würde. ‚Erzählgesänge‘ (vgl. Moog, 1968), unzähliges Wiederholen von Lautmustern, Variationen,
Einbeziehen von nachgeahmten Mustern (aus Medien, aus Liedern usw.), Spiel begleitende Lautmalereien,
symbolische Verwendung von Lautmustern und Melodien (z.B. Puppen sprechen und singen lassen) ‐ dies sind
Umschreibungen von reichhaltigem, kreativem und noch un‐ oder präkonventionellem Stimmgebrauch. Die
hohe auditiv‐vokale Plastizität, Flexibilität und die noch wenig gefilterte Reichhaltigkeit der Lautbildungen
sind Qualitäten, die in späteren Phasen der Entwicklung abgebaut werden.
4. Stufe: Erste Regeln und Verallgemeinerung von Beispielen
Bei allen Arten des Singens ‐ spontane oder aufgeforderte Reproduktion oder Erfindung ‐ können
verschiedenartige Merkmale andeuten, dass die Produktion durch Teil‐Verallgemeinerung von einzelnen
Beispielen entstanden ist. Sowohl beim Erfinden und wie auch beim Reproduzieren ersetzt das Kind
beispielsweise einen Teil eines neues Liedes durch eine melodische Wendung eines ihm bereits bekannten
Liedes. Beim Lernen eines neuen Liedes kann das Kind die sensomotorische Strategie mit der an Beispielen
orientierten Strategie kombinieren. Wie schon die sensomotorische Strategie, so zeigt auch das
Verallgemeinern von Einzelbeispielen, dass das Kind noch nicht allgemeine Regeln des Lieder Singens
integriert hat. Dies ist weniger beim Lieder Lernen deutlich, wo durch die Kombination der vorhandenen
Strategien kompensiert werden kann, als vielmehr beim spontanen Erfinden: Hier kommen idiosynkratische
und inkonsistente Regeln zum Ausdruck. Diese Art Singen ist noch Spiel für sich allein, und für das Kind
besteht noch kein Anlass, seine Spielregeln in allgemeiner Form sozial zu koordinieren. Es weiß noch nicht,
welche sprach‐musikalischen Regeln und Eigenschaften mit gewisser Konstanz den allgemeinen sozialen
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Erwartungen (Normen) entsprechen müssen, um als Lieder Singen zu gelten, das potenziell sozial mitteilbar
sein könnte. Es verändert die konventionellen Regeln des Lieder Singens nach eigenem, wechselhaft
beliebigem Gutdünken. Sowohl die vorherige wie auch diese Stufe könne umschrieben werden als
vorhandenes 'Handlungswissen' (vgl. Seiler, 1993). Das Kind kann auf der Handlungsebene die wichtigsten
Konventionen reproduzieren (mitsingen und nachahmen), die ihm erlauben, an der soziokulturellen Praxis
teilzunehmen. Aber die vokalen Produktionen, wie sie beim spontanen und aufgeforderten Erfinden
entstehen, weisen auf beiden Stufen, der 3. und 4., noch deutlich präkonventionelle Eigenschaften und
Spielregeln auf.
5. Stufe: Konventionelle Regeln werden implizit in die Handlungen integriert
Das wachsende Lieder‐Repertoire erlaubt es, vom Generalisieren von Einzelexemplaren und von
idiosynkratischen Regeln abzukommen. Es entstehen allmählich allgemeine Regeln, die über verschiedene
soziokulturelle Kontexte und Anforderungen hinweg verallgemeinerbar werden. Dazu gehören isometrisch
gestaltete Verse, die Reimbildung, Schlussbildung auf dem Grundton (Dur oder Moll), Dreiklangstrukturen in
Melodien, längere und komplexer organisierte Phrasen, stabile Tonart dank stabil produzierten Einzeltönen.
Diese und weitere allgemeine Merkmale und Regeln erscheinen zunehmend in allgemeiner Weise im Singen
integriert. Dies zeigt sich auch im langsamen Verschwinden von prä‐konventionellen Merkmalen wie
Neologismen (was auf früheren Stufen mangels passendem Vokabular erfunden wurde), Mikro‐Intervalle,
Glissandi, instabile Tonarten usw. Die Konventionen des Lieder Singens können noch nicht bewusst reflektiert
werden. Aber die Handlungen zeigen, dass unausgesprochen oder implizit die Vorstellungen über ‚richtig‘ und
‚falsch‘ und andere normative Kriterien ausgebildet sind, und dass sie verwendet werden, um das eigene
Singen zu gestalten und kontrollieren (vgl. Stadler Elmer & Hammer, 2001). Die wachsende Kontrolle über das
Singen durch Vorstellungen über Konventionen und Normen führen nun dazu, das spontane, spielerische und
(unkonventionell) kreative Singen zu hemmen. Geschmack, Vorlieben und ästhetische Kriterien sind
zunehmend beeinflusst durch soziale Zugehörigkeit und Abgrenzung, was mit der Bildung persönlicher und
sozialer Identitäts‐Vorstellungen und Wünschen zusammenhängt.
6. Stufe: Beginnende Reflexion von Handlungen, der Mittel, Symbole und Begriffe
Die vorher impliziten Vorstellungen, wie Inhalte und Regeln im Lieder Singen und ähnlichen Handlungen
(Gedichte Rezitieren, Musizieren) gemäß soziokulturellen Konventionen zu strukturieren sind, werden nun als
Vorstellungen selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit. Anlässe dazu sind Erfolg und Misserfolg
gleichermaßen. Die Aufmerksamkeitslenkung auf die Mittel, wie ein Ergebnis erzeugt wird, führt dazu,
Elemente und ihre Relationen, wie sie in der Handlungsausführung und der Vorstellung vorkommen, expliziter
zu konzeptualisieren. Konventionelle Begriffe und Symbole werden verwendet, um die eigenen und
gemeinsamen musikalischen Handlungen in ihrem Ablauf expliziter als zuvor zu differenzieren, zu bezeichnen
und zu kommunizieren. Diese Mittel der Reflexion, die Begriffe und Symbole, dienen zunehmend als
handlungsbegleitende Werkzeuge, um Musik zu schaffen (schreiben, komponieren), zu reproduzieren (lesen,
interpretieren). Als innere Vorstellungen und Konzeptualisierungen bestätigen sie ihre Entsprechungen mit
den kommunikativen Normen durch die Kommunikation selbst, wenn z.B. gemeinsam musiziert wird und
Vorstellungen über die Spielregeln aufeinander abgestimmt werden. Die sprachlichen und auch verschrifteten
Kommunikationsformen von sprach‐musikalischen Regeln funktionieren als soziales Gedächtnis. Diese Mittel
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ermöglichen dem Einzelnen, an soziokulturellen Aktivitäten teilzunehmen. Weitere Schritte des allmählich
explizit werdenden Bewusstseins von musikalischen Handlungsstrukturen führen dazu, die gegenwärtig
herrschenden Konventionen und Normen in größerer Zeitdimension zu verstehen, beispielsweise unter
Einbezug von kulturhistorischem Wandel und anderen (Musik‐) Kultursystemen.
5.5.6. Ausblick
An mehreren Stellen ist deutlich geworden, dass die vorliegende Übersicht zur Entwicklung des Singens in
theoretischer Hinsicht vom strukturgenetischen Konstruktivismus, d.h. von Piagetschem Denken inspiriert ist.
Jedoch unabhängig davon, welche Entwicklungstheorie verwendet wird, um Veränderungen in potenziell
‚musikalischem‘ Verhalten zu konzeptualisieren, wird man nicht umhin kommen, gewissen
Eigentümlichkeiten dieses Bereichs gerecht zu werden.
•
•
•
•
•
•
•
Es gibt keine allgemein gültige Definition von ‚Musik‘. Verschiedene Autoren (Blacking,
1995; Molino, 1990; Nattiez, 1977; Saner, 2000) schlagen daher vor, ‚Musikalisches‘
stets von Neuem aus den Aktivitäten der Menschen zu erschließen. Eine
Entwicklungstheorie muss berücksichtigen, dass diese Aktivitäten zu einem äußerst
vielfältigen Kulturbereich gehören, der gegenüber anderen Bereichen Besonderheiten
aufweist (Bereichsspezifität).
Diese Besonderheiten liegen vor allem in der Ausrichtung auf körperlich‐sinnliche und
letztlich auf ästhetische Erfahrung und Erkenntnis. Als elementare Aktivitäten, welchen
eng miteinander verbunden sind, gelten das Hören, die Laut‐ und Klangerzeugung und
die sie begleitenden Bewegungen (vgl. Stadler Elmer, 1997a, 2000b).
Die Vor‐Formen und Funktionen (u.a. Emotionsregulierungen) der Aktivitäten, aus
welchen sich kultiviertere Formen entwickeln, sind bereits in den ersten
Lebensmonaten vorhanden.
Der körperlich‐sinnliche Charakter, welcher musikalischen Erfahrungen eigen ist, ist
auch im musikalischen Denken existent.
Singen und Musizieren sind Spiel, welches gemäß wandelbaren und kulturspezifischen
Konventionen geregelt ist.
Ursprünglich ist bei Kindern das aktive Musizieren erlebnismäßig mit Befindlichkeiten
wie Fröhlichkeit, Heiterkeit, Ausgelassenheit und Besinnlichkeit verbunden, denn diese
Emotionen gehören zum Spielcharakter. Intuitiv verwenden Erwachsene in ihrer
Sprechweise Kleinkindern gegenüber besondere klangliche Elemente, oder sie singen
besondere Kinderlieder, wenn sie negative Affekte und Gefühle wie Wut, Ärger, Angst,
Trauer, Langeweile und Schmerz abschwächen möchten (z.B. Einschlaf‐, Trostlieder
usw.). Lieder Singen erweist sich als Mittel zur Regulierung von Emotionen und
Affekten.
Mit Wygotski (1925/76) lässt sich sagen, dass die Gefühlszustände, welche mit
musikalischen Erlebnissen ursprünglich verbunden sind, zunächst individuell sind.
Durch das gesellschaftliche Medium ‚Musik‘ wird das gewöhnliche Gefühl verwandelt
oder überwunden, und es entsteht ein Zustand, der sich sozial verallgemeinert. Bereits
die frühen Formen von Musik sind darauf gerichtet, in den Menschen Emotionen
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Stadler Elmer, Stefanie (2005). Entwicklung des Singens. In T. Stoffer & R. Oerter (Hrsg.) Enzyklopädie der Psychologie,
Serie VII, Musikpsychologie, Bd. 2, Spezielle Musikpsychologie (S. 123-154). Göttingen: Hogrefe.
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auszulösen und bereits erlebte Gefühlszustände wiederum zu vergegenwärtigen.
Singen oder Musizieren ist eine soziale und sozial vermittelte Handlung, denn ‚Musik‘
ist von Menschen für Menschen geschaffene Wirklichkeit.
Musikalische Entwicklung verläuft nicht isoliert von anderen Bereichen. Enge
Verbindungen bestehen zur Sprachentwicklung, zur Entwicklung der Emotionen, der
sozialen Beziehungen, der Wahrnehmung, dem symbolischem Denken – kurzum: der
kulturellen Entwicklung. Trotz Gemeinsamkeiten kann nicht von einem Bereich auf den
anderen verallgemeinert werden.
Musikalische Entwicklung, wie sie sich in der Kindheit am deutlichsten im Singen
äussert, ist stets vom Individuum geleistete, kreative Anpassung an die Anforderungen
seiner spezifischen soziokulturellen Umwelt. Die Inhalte oder die Art der musikalischen
Praxis kann verschieden sein, die Prozesse der Aneignung und die kulturelle Anpassung
sind jedoch universell, d.h. bei allen Menschen gleich.
Die zuletzt formulierte Hypothese und andere in diesem Kapitel angeführte theoretische Überlegungen
ergeben sich aus dem heutigen Kenntnisstand. Man muss berücksichtigen, dass es sich bei der Entwicklung
des Singens oder allgemein der musikalischen Entwicklung um einen vergleichsweise noch wenig erforschten
Bereich handelt.
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