Codex Regius
ATLANTIKA
Was Platon wirklich sagte
2., überarbeitete Neuaulage
Wiesbaden Ljubljana 2014
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Platons Welt
Timaios
Der Weiseste der Sieben Weisen
Die Griechen sind alle Kinder!
Feuer und Wasser
Die Sechste Apokastastase
In der Gunst der Neith
Jenseits der Säulen des Herakles
In einem schlimmen Tag und einer schlimmen Nacht
Kritias
Die Verlosung der Erde
Was alte Könige wirklich taten
Platons Traum
Vor der dritten Sintlut
Ein Gott auf Freiersfüßen
König Atlas I.
Der König der Schafe
2 + 8 = 10
Ein falsches Paradies
Die Zirkel des Poseidon
Die größte Stadt der Steinzeit
Die Barbarenburg
Die Außenstadt
Der längste Kanal der Welt
Das Heer der Atlanter - oder doch nur der Griechen?
Was tut der König nach dem Essen?
Als das Göttliche verlorenging
Das Ende
Andere Zeugnisse
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Das Auge des Re
Die Atlantika wird parodiert
Kerne
Atlantis nach Platon
Atlantis vor Platon?
Die zweite Quelle
Die fernen Spuren
Der dreifach umschlossene Berg
Wie ein Mühlstein im Meer
Wo lag Atlantis?
Und was war Atlantis?
Anhang A: Zeittafel
Anhang B: Einige antike Schriftsteller
Literaturverzeichnis
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Vorbemerkung
„Viele Publizisten dieser Art glauben vermutlich, was sie schreiben. Sogar mir ging es so,
dass ich glaubte, was sie schrieben, bis ich die
Tatsachen nachzuprüfen begann.
Der Fehler ist eben der, dass sich bei diesen Autoren immer einer auf den anderen verlässt und
unbesehen nachplappert, was der andere behauptet. In einer Art Schneeballsystem ergeben
sich daraus immer üppigere, noch fantastischere und noch haltlosere Hypothesen.“
Lawrence D. Kusche, amerikanischer Publizist
„Aber das bedeutet eben doch, dass nur das
wortwörtlich von Platon übernommen wird,
was in eine Theorie hineinpasst, Widersprüchliches als Missverständnis oder als Übermittlungsfehler erklärt werden muss.“
Ernst von Khuon
Es könnte der Stoff für ein Hollywood-Drama sein. Ein
mächtiges und reiches Imperium beherrscht große Teile der
Welt. Es schickt sich an, auch den Rest zu unterwerfen, und
sendet eine Armee aus, gewaltiger, als man je eines gesehen
hat. Land um Land wird besetzt, selbst die härtesten Widersacher werden überrannt. Da gelingt es einem kleinen Dorf
voller unbeugsamer Bürger, sich der mächtigsten Militärmaschinerie aller Zeiten zu widersetzen. Die Schar aufrechter
Helden besiegt den bösen Feind und befreit edelmütig alle
besetzten Länder. Schließlich versinkt das Herz des geschlagenen Imperiums, von den Göttern gestraft, in einer Katastrophe, nach der die Welt nie mehr sein wird, wie sie vorher war.
7
Diese Geschichte ist kein Drehbuch. Ihr Autor ist Platon,
ein Mann aus dem antiken Athen. Sein Schriftwerk hat mehr
Seiten als die Bibel, doch bekannt wurde er vor allem mit
den Andeutungen über die Geschichte, die vom Kampf und
Untergang der sagenhaften Insel Atlantis berichtet.
Die Atlantika ist die Erzählung von Atlantis, der Text, „die
Atlantis betrifft“ - der Titel ist der „Argonautika“ des Apollonios von Rhodos nachgebildet, die von der Fahrt der „Argonauten“ erzählt. Sie liegt in zwei Teilen vor. Die „Kleine
Atlantika“, wenn man sie so nennen will, ist ein Exposee,
ein Handlungsabriss, der das dritte Kapitel eines Spätwerks
aus Platons Hand ausmacht, des Dialogs „Timaios“, dessen
Hauptteil konfuse, kaum entwirrbare Konzepte der Weltschöpfung und der Gestalt des Universums enthält. Die
„Große Atlantika“, die voller romanhafter Details steckt,
macht den unvollendet gebliebenen „Kritias“ aus, der an der
spannendsten Stelle abbricht. Platon scheint sich einem anderen großen Werk zugewandt zu haben, den „Nomoi“ oder
Gesetzen, und die Atlantika blieb bis zu seinem Tod in der
Schublade. Manche Fehler und Widersprüche im Text sind
gewiss diesem unredigierten Zustand zuzuschreiben.
Seit ihrer posthumen Veröffentlichung vor beinahe zweieinhalb Jahrtausenden beschäftigt die Atlantika die Träume
ihrer Leser. Ist sie ein Report lange zurückliegender Ereignisse oder Fiktion eines greisen Romanschriftstellers? Ihre
Veröffentlichung spornte eine umfangreiche klassische
Literatur an, die nur so wimmelt von verlorenen Ländern
und Inseln. Atlantis regte europäische Sagen und arabische
Märchen an, im späten Mittelalter taucht es auf Seekarten
als noch zu entdeckende Insel auf. Konquistadoren hofften,
auf dem Weg in die Neue Welt an Atlantis vorbeizukommen
und seine Schätze plündern zu können. Man schlug vor, das
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neuentdeckte Südamerika mit dem Namen der versunkenen
Insel zu belegen.
Die Suche nach Atlantis als verlorenem Paradies begann
erst richtig, als sich ihre Legende mit der vom Garten Eden
vermischte. Diese andere, jüngere Tradition, die mit Platon
nichts mehr zu tun hat, wurde von Ignatius Donnelly begründet, der 1882 den Klassiker „Atlantis: The Antediluvian
World“ veröffentlichte. Donnellys Atlantis ist identisch mit
allen Inseln der Glückseligen, Paradiesen und Ländern der
ewigen Jugend, die irgendwo auf der Welt in Mythen und
Märchen erscheinen. Es wird zur Heimat der Götter, Wiege der Zivilisation und Wurzel aller Kulturen der Alten und
Neuen Welt zugleich.
Donnelly beeinlusste die moderne Vorstellung von Atlantis mehr als Platon: Zehntausende von Publikationen griffen
seitdem auf seine Vision zurück, und Atlantis wandelte sich
vom Reich des Bösen in den kulturellen Mittelpunkt einer
Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Dies ist der gleiche Prozess, der die großen Epen der Antike entstehen ließ:
Homer und Hesiod, Vergil und Diodor, sie alle sammelten,
kopierten, plagiierten und verfremdeten allerlei verstreute
Legenden und versuchten, aus ihnen ein kohärentes, den gebildeten Literaten befriedigendes Werk zu bilden. Auch die
Bibel entstand auf diese Weise.
Bis heute ist kein archäologisches oder geologisches Zeugnis aufgetaucht, das sich zweifelsfrei einer Kultur zuordnen
ließe, der der Name Atlantis zugesprochen werden könnte.
Die Frage bleibt, ob es sinnvoll ist, danach zu suchen. Das
vorliegende Buch ist kein erneutes Unterfangen, Atlantis
an einem beliebigen Ort der Welt dingfest zu machen. Statt
dessen lesen wir Platon mit den Augen des Technikers und
Naturwissenschaftlers: Wir diskutieren, wie realistisch seine
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Vorstellungen von Astronomie und Klimawandel, Kanalund Brückenbau, der Bewaffnung eines antiken Heeres und
der Erosion durch Sturzregen sind, und wir suchen nach
Hinweisen, in welche Richtungen weiter geforscht werden
könnte, um die Inspirationen für die Legende von Atlantis
aufzuinden.
Platons Weltbild ist noch heute in der westlichen Zivilisation verankert. Wer der besseren Vergangenheit nachtrauert, sei es in Form des Gartens Eden oder, säkularer, des
Einklangs mit der Natur, der lebt in Platons Universum, in
dem die Menschheit als perfekte Schöpfung begann und unaufhaltsam veriel. Mit dieser Beobachtung beginnt die Diskussion von vier Teilnehmern, die entdecken werden, dass
Atlantis bis heute fester Bestandteil unserer Kultur ist.
Dem guten Beispiel Platons folgend haben wir die Diskussion in Form eines Dialogs zwischen iktiven Figuren
verfasst, die unterschiedliche Interpretationsansätze verkörpern. Diese Textform ist heute fast ausgestorben, obwohl
sie eine lange literarische Tradition hat: Auch Galileo Galilei
schrieb eines seiner wichtigsten Werke als Dialog zwischen
zwei Personen. Es gibt kaum einen besseren Weg, unterschiedliche Standpunkte abzuwägen und zu beurteilen.
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Platons Welt
„Legenden haben ein zähes Leben; sie sterben
selten an der Wirklichkeit.“
G.M. Trevelyan
Abb. 1 Platon
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Gal: Ich sag dir: Früher war es besser. Früher waren Anstand, Würde und Wohlverhalten noch gültige Werte …
Mia: … genauso wie Bigotterie, Eingebildetheit und Fanatismus.
Gal: Das hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber damals gab
es auch anderes: all das, was heute - wohl unwiederbringlich
- verloren ist!
Mia: An welches Zeitalter denkst du denn da, mein Lieber? An das siebzehnte Jahrhundert etwa? Siehst du wirklich
eine Welt als lebenswerter an, in der neunzig Prozent der
Leute Analphabeten waren, die sich in den Abwasserrinnen
der Dorfstraßen suhlten und von ihren Landesherren nach
Belieben verkauft oder auf dem Schlachtfeld verheizt wurden?
Gal: Ja, ich weiß, das war nicht so toll. Aber es hat auch
bessere Zeiten gegeben! Zeiten, in denen Regeln des menschlichen Lebens etwas galten. Sieh dich doch um! Barbarei auf
dem Vormarsch: das Innerste und Heiligste wird auf dem
Altar der Einschaltquoten geschlachtet, Kriege und Gewalt
erreichen eine unübertroffene Dimension des Abscheus, der
Mensch ist ein Monstrum, das besser niemals existiert hätte.
Mia: Und du meinst wirklich, das sei so neu? Diese Dimension des Abscheus, die du da propagierst, war schon im
Dreißigjährigen Krieg erreicht. Als er endlich vorüber war,
weil niemand mehr die Kraft zum Kämpfen hatte, lebte das
ganze entvölkerte Europa dreihundert Jahre lang in Elend
und der ständigen Gefahr von Hungersnot, weil die Überlebenden sich kaum noch selbst ernähren konnten. Und schon
vor zweieinhalb Jahrtausenden hat der Peloponnesische Krieg
genauso die griechische Welt ruiniert und restlos ausgeblutet,
so dass sie an Philipp von Makedonien und seinen Sohn Alexander den Großen fallen konnte. Auch ethnische Säube12
rungen sind eine alte Erindung, ob jüdische Diaspora oder
Vertreibung der Zigeunervölker aus Indien, die Auslöschung
der spanischen Stadt Tartessos durch die Punier oder die der
Punier durch Rom. Wenn es etwas zu beklagen gibt, dann
dies, dass sich der Mensch seitdem nicht gebessert hat.
Gal: Eben! Damals konnten sie aber wenigstens nicht wie
heute die ganze Erde vernichten.
Bea: Höre ich Kulturpessimismus? Guten Abend, ihr
kommt zu spät.
Mia: Es war schwierig, einen Parkplatz zu inden.
Max: Sieh an, sieh an. Noch so eine Schlechtigkeit, die es
früher nicht gegeben hat.
Gal: Scherzkeks! Mach dich nur lustig. Dabei bin ich in
bester Gesellschaft. Alle Leute, die die Welt wirklich durchschaut haben, waren sich über ihre Entartung völlig im Klaren. Erich Kästner beispielsweise antwortete auf die Frage,
wo in seiner Sicht der Welt das Positive bleibe: „Ja, wo bleibt
es denn?“
Bea: Womit er einer jahrtausendealten Tradition folgte.
Hier, der Tisch ist gedeckt: Bedient euch, mit was ihr wollt.
Mia: Danke. Das erkläre ich meinem Liebsten hier doch die
ganze Zeit. Gejammer gab es allerorten, selbst in Zeiten, in
denen es nach seiner Logik noch viel besser hätte sein müssen.
Gal: Was zum Beispiel?
Bea: Nehmen wir die nordische Sage? Da, bitte:
„Brüder kämpfen und bringen sich Tod,
Brudersöhne brechen die Sippe;
arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, eh die Welt vergeht nicht einer will den andern schonen.“
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Das stammt aus der „Völuspa“, der Weissagung der Seherin, die im 11. Jahrhundert aufgeschrieben wurde. Oder geh
noch weiter zurück ins alte Rom und hör dir an, wie Seneca
sich über die Unmoral und Zügellosigkeit der Jugend beschwert. Die ganze Bibel ist voll von solchem Gejammer: all
diese prophetischen Bücher und Klagelieder!
Mia: Ja, du hast recht. Da fällt mir zum Beispiel auch der
altgriechische Dichter Hesiod ein:
„Müsst’ ich doch unter dem fünften Geschlecht nicht leben auf Erden!
Wäre ich früher gestorben, wo nicht, dann später geboren!
Denn jetzt lebt ein eisern Geschlecht: und sie werden bei Tage
nimmer des Elends frei noch des Jammers, aber bei Nacht auch
leiden sie Qual; und der Sorgen Last ist die Gabe der Götter.
Aber selbst solchem Leid wird auch jetzt noch Gutes gemischt sein:
Zeus wird tilgen auch dieses Geschlecht der redenden Menschen!
Wenn sie, ergraut an den Schläfen, das Licht der Sonne erblicken,
nicht mehr gleichet der Vater den Söhnen, die Söhne dem Vater,
nicht der Gaste dem Gast, der Freund nicht gleichet dem Freunde,
auch wird der Bruder den Bruder nicht lieben, wie es zuvor war,
ja, nicht lang!, und sie werden im Alter die Eltern verachten,
und sie werden sie schelten und tadeln mit kränkenden Worten
mitleidlos und verachtend die Ahndung der Götter; nicht werden
diese den Lohn der Erziehung entrichten im Alter den Eltern.
Nicht wer eidesgetreu, wer gerecht, wer ehrlich gehandelt,
erntet den Dank: wer Böses tat und Übermut übte,
den wird man ehren: die Faust spricht Recht, und Scham wird auf Erden
nirgends mehr sein; dem besseren Mann wird schaden der böse
durch betrügliches Wort und wird es beschwören mit Meineid.
Scheelsucht wohnt an jeglichem Ort bei den elenden Menschen,
boshaft und übelberufen, Gehässigkeit führt sie im Blicke.
Dann zum Olympos empor von der Erde unendlicher Fläche
werden, den schönen Leib und weiße Gewänder gehüllet,
in der Unsterblichen Schar, die Menschen verlassend, enteilen
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Scham und gerechte Vergeltung: nur traurige Schmerzen verbleiben
dann noch den sterblichen Menschen: und Abwehr nirgend des Bösen.“
Gal: Sehr realistisch und prophetisch.
Bea: Hesiod zum Trotz haben wir aber die zweieinhalb
Jahrtausende recht gut überlebt, die seitdem vergangen sind.
Es gibt sogar mehr von uns als je zuvor. Nein, es ist die
Menschheit seiner eigenen Zeit, die er am Rand der Vernichtung wähnt. Hesiods Ideal war die ferne Vergangenheit
zu Beginn der Welt. Damals sollen die Menschen im ewigen
Glück gelebt haben, bevor sie durch immer minderwertigere
Generationen oder Geschlechter abgelöst wurden:
„dass [Hesiod] die Vorstellung von dem Wechsel der Geschlechter nicht
frei erfunden, sondern dem Volksglauben entnommen hat, wird im weiteren
begründet werden. … Die Vorstellung von dem Wechsel der Geschlechter ist
aus dem pessimistischen Glauben herausgewachsen, dass sich die Welt nach
und nach verschlimmere, die Menschheit von Stufe zu Stufe bis zum höchsten
Elend und zur äußersten Verworfenheit herabsinke. … Hesiods Zeit zumal
ist es, in der wir nach den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen Griechenlands eine derartige Stimmung annehmen können;“ (Roscher)
und seitdem hat sie sich fast kontinuierlich erhalten. Wir
nennen sie heute nur anders: Hesiod spricht vom „Goldenen
Zeitalter“, die Grünen von der Zeit, „als wir noch mit der
Natur im Einklang lebten“. Beide meinen das Gleiche.
Sein Landsmann Platon hat dessen Bild aufgegriffen und
ein Modell des idealen Schöpfungszustands entwickelt, von
dem aus das Universum verfällt. Erst von ihm wurde Kulturpessimismus popularisiert. Noch heute setzen wir im platonischen Geist Veränderung mit dem Verlust des Bestehenden gleich - stellen jede Ruine unter Denkmalschutz, kämpfen um mückenverseuchte Sumpfstücke im Versuch, die Zeit
zum Stillstand zu bringen und ja nichts „verloren gehen“ zu
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lassen, und schwärmen von der Guten Alten Zeit, die wir
bewahren müssten, obwohl es sie nie gegeben hat.
Mia: Vielleicht hätte sich die europäische Philosophie besser an Marc Aurel orientiert.
Max: Wer ist das?
Mia: Ein römischer Kaiser, der auch Literat war. Seine
„Selbstbetrachtungen“, die um Tod, Werden und Vergehen
und die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Verhältnis
zu den Dimensionen des Universums kreisen, gehören zur
WeltLiteratur. Für ihn bedeuteten Veränderung, Zerfall und
Tod Umwandlung in Neues, somit nicht nur Verlust, sondern auch Gewinn.
Bea: Klingt etwas netter als Platons schleichender Weltuntergang.
Gal: Ich wusste das von Platon nicht. Ich kenne ihn nur als
den Autor der Legende von Atlantis.
Bea: Ah ja. Aber wenn du genau hinsiehst, erkennst du
auch an ihr den Grundgedanken: Atlantis ist das glückliche
Reich, das großartig begann, dann unausweichlich degenerierte und schließlich mit Vernichtung bestraft wurde.
Max: Und manche behaupten, dass Atlantis ebenfalls fähig gewesen sei, die Welt zu vernichten, sich aber stattdessen
aus Versehen selbst hinweg gebombt hätte.
Bea: O je. Das ist aber eine Legende, die mit Platons Atlantis nur noch den Namen gemeinsam hat!
Gal: Ich habe es auch so gehört.
Bea: Sicher, das wird so behauptet. Aber das ist eine
Schöpfung der letzten hundert Jahre. Platon wusste nichts
davon und wäre erstaunt, es zu hören.
Gal: Es gibt also zwei verschiedene Atlantislegenden?
Bea: Doch, das würde ich schon so sagen. Die ältere,
ursprüngliche, geht auf die beiden Dialoge „Timaios“ und
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„Kritias“ zurück, die Platon wenige Jahre vor seinem Tod
verfasste. Als Entstehungszeit wird meist 349 oder 348 v.d.Z
genannt, manchmal auch 355 (Stemman). Platon stellt Atlantis als technisch hochentwickelte, aber ethisch entartete
Kultur dar. Sie wird von einem vorzeitlichen Athen geschlagen, das seine militärische Unterlegenheit durch moralische
Größe wettmacht, und versinkt am Ende durch eine Naturkatastrophe im Ozean.
Damit löste Platon eine beharrliche Suche aus. Zwar fällte
schon sein Schüler Aristoteles das Urteil, dass derjenige, der
Atlantis erfunden habe, es auch versinken ließ, und immer
wieder wurde es als größter Aprilscherz aller Zeiten angesehen. Trotzdem behandelten viele antike Autoren – mit mehr
oder minder verdrehten Einzelheiten - Atlantis als historische Tatsache. Die antike Literatur begann, von Inseln und
Kontinenten zu wimmeln. Im späten Mittelalter taucht es
auf manchen Seekarten als noch zu indende Insel auf. Im
Zeitalter der Entdeckungen …
Max: Du meinst: der Eroberungen.
Bea: Könntest du diese revisionistischen Auslassungen
unterlassen? Bitte? Ich wollte sagen, dass damals erfolglos
nach den Schätzen des verlorenen Atlantis gefahndet wurde.
Trotz Platons Meldung, dass die Insel versunken sei, hofften
einige Spanier, auf dem Weg in die Neue Welt Atlantis zu
passieren und die Reichtümer seiner Hauptstadt plündern zu
können. Auch Amerika selbst wurde mit Atlantis identiiziert: man schlug sogar vor, Südamerika mit diesem Namen
zu belegen.
Die Suche nach Atlantis als dem verlorenen Paradies aber
begann erst, als sich die Sage mit der Legende vom Garten
Eden zu vermischen begann. Diese andere, jüngere Tradition ist noch nicht einmal 150 Jahre alt. Sie wurde 1882 von
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Ignatius Donnelly mit dem Erscheinen seines Buchs „Atlantis: The Antediluvian World“ begründet. Sein Atlantis
hat mit dem Platons nur noch den Namen gemein. Es ist
identisch mit allen Inseln der Glückseligen, Paradiesen und
Ländern der ewigen Jugend, die irgendwo in Mythen und
Märchen erscheinen. Es wird zur Heimat und Herkunftsort
der Götter, zur Wiege der Zivilisation und zur Wurzel aller
Hochkulturen der Alten und Neuen Welt zugleich. Das ist
Fiktion und stützt sich weder auf Platon noch auf eine andere glaubwürdige Quelle. Doch die moderne Vorstellung
von Atlantis ist mehr von Donnelly als Platon getragen. Die
Mehrheit der publizierten Bücher greift auf diese Fantasien
zurück, die mehr und mehr als bewiesene Tatsachen betrachtet wurden. Seitdem gilt Atlantis als versunkenes Zentrum
einer Hochkultur, deren Zivilisation Spuren auf der ganzen
Erde hinterlassen haben soll.
Denn so zweifelhaft Donnellys Ansichten auch sein mögen, er traf seine Leser am richtigen Punkt: dem Traum von
einer glücklichen, verlorenen Vergangenheit. Und verankerte
Atlantis in den Bestsellerlisten. Das Thema verkaufte sich
einfach. Atlantis wurde von Rasseideologen, okkulten Medien und Sektierern okkupiert: von Helena Blavatsky bis zu
Rudolf Steiner reicht eine Kolonne von Exzentrikern, die
allerlei unglaubhafte und einander widersprechende Geschichten um einen Namen spannen, dessen Mythos ihnen
gleichgültig war. Und Platons Atlantis blieb auf der Strecke.
Dieser traurige Unfug aber ist dafür verantwortlich, dass
kein ernsthafter Wissenschaftler es wagt, sich öffentlich mit
Atlantis zu befassen. Es fördert die Karriere nicht, mit solchen Fantasten in einem Atemzug genannt zu werden!
Mia: Was willst du denn? Literaturhistorisch gesehen ist
das die logische Fortsetzung des Prozesses, der Mythen
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entstehen ließ. Donnelly tat nichts anderes als Hesiod zweieinhalb Jahrtausende vor ihm: er sammelte Legenden und
versuchte, aus ihnen ein kohärentes System zu bilden. Es
ist Dichtung und nicht Wissenschaft, auch wenn sie sich als
solche ausgibt. Ihr Wert ist zum Teil unterhaltsam, zum Teil
kommerziell, und sie hat zur Sammlung und Bewahrung von
Informationen ihre Berechtigung. Aber sie enthalten keine
Wahrheiten. Das gilt für Hesiod nicht minder als für Platon.
Abb. 2 Ignatius Donnelly
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Gal: Ich dachte immer, Homer und Hesiod seien so etwas
wie die Bibel der griechischen Religion?
Mia: Aber nein. Alles andere als das! Du darfst dir das nicht
so vorstellen, als hätte Hesiod seine Werke in den Tempeln
verteilt und die Priester hätten Predigten über sie gehalten.
Man glaubte nicht an seine „Theogonie“ wie an das Neue
Testament. Hesiod war zwar hochwertige Dichtung, aber
eben Dichtung, und dessen blieben sich seine Leser auch
bewusst. Er befriedigte den Verstand, nicht den Glauben.
Denn es gab den einen griechischen Glauben nicht. In dieser
Kultur mit ihren vielen Stämmen und Stadtstaaten bestand
eine Vielfalt religiöser Anschauungen, ohne dass jemand der
einen eine größere Originaltreue als der anderen zuschreiben
könnte. Der Versuch, diese disparaten Elemente zu synthetisieren, war als Dichtung legitim, konnte aber nie den Status
einer religiösen Einheitslehre erreichen. Der Volksglaube
und der alltägliche Ritus wurden davon kaum betroffen.
Hesiod mag sich als Forscher gefühlt haben, der versuchte,
die Mythen auf ihren realen Kern zurückzuführen. Aber er
ist nicht wirklichkeitsnäher als Gustav Schwab oder Donnelly: Alle griffen auf, was da war, schrieben einiges um und
kombinierten es neu, um einen Zusammenhang zu schaffen,
wo keiner war. Schwabs „Sagen des Klassischen Altertums“
könnte man einen Roman der griechischen Mythologie nennen, aber Schwab hat die eine griechische Mythologie nicht
erfasst, weil es sie nie gegeben hat. Homer und Hesiod litten
sogar unter dem Vorwurf, die Götter zu menschenähnlich
beschrieben zu haben. Auch Platon rieb ihnen das gerne unter die Nase.
Bea: Das stimmt. Und dies unterscheidet die Mythen von
der RomanLiteratur, die für alle Zeiten festgeschrieben ist:
Mythen leben, und solange sie leben, verändern sie sich.
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Denken wir an moderne Mythen: die UFOs, das Bermudadreieck, die Kornkreise. Wie ein Mythograf hat da jeder
andere Ansichten, jeder entwickelt sein eigenes Weltbild, das
unvereinbar ist mit dem der Kollegen. Und zumeist merkt
er es nicht.
Mia: Wundert euch also nicht, dass die Atlantislegende
weit über das hinaus gewuchert ist, was so ein alter Philosoph geschrieben hat.
Bea: Die Legende wucherte sogar noch über Donnelly hinaus. Großen Einluss hatte auch Edgar Cayce, der Atlantis
Abb. 3 Edgar Cayce
21
als Allegorie auf den Kalten Krieg benutzte. Auf seiner Insel
bekämpften sich zwei Großmächte, die „Diener des Gesetzes des Einen“ und die „Söhne des Belial“ …
Max: Sprich: die USA und die Sowjetunion …
Bea: … bis zur gegenseitigen Vernichtung. Man braucht
über den Wert von Edgar Cayces Visionen nicht zu diskutieren: er tat auch kund, am Ende des 20. Jahrhunderts würde
die Sowjetunion Europa bis zur Atlantikküste zu beherrschen – ihre Aulösung haben ihm seine spirituellen Quellen aus irgendeinem Grund unterschlagen. Sein Einluss auf
den Mythos ist aber nicht zu verkennen: Er hatte endgültig ein Atlantis geformt, dessen Zivilisation der modernen
gleichwertig oder sogar überlegen gewesen sein soll. Dann
brachten Louis Pauwels, Jacques Bergier und Robert Charroux die These auf, die später von Erich von Däniken erst
richtig popularisiert worden ist: dass einige Elemente alter
Mythen sich als entstellte Hinweise auf vorgeschichtliche
Hochtechnik interpretieren ließen, die der unseren mindestens vergleichbar sei. Nun war es leicht, die Brücke zwischen
Donnellys atlantischen Göttern und Cayces SF-Zivilisation
zu schlagen. Seitdem müssen sich die Atlanter damit abinden, bei ihren paläolithischen Zeitgenossen als Götter aufgetreten zu sein und ihnen Widerworte mit Atombomben
vergolten zu haben.
Gal: Und das wegen zwei kleiner Texte, die so ein alter
Grieche aufschrieb.
Max: Die Dialoge „Timaios“ und „Kritias“.
Mia: Genau. Die Atlantislegende verteilt sich auf sie in
zwei Teilen. Der erste, man könnte ihn der Einfachheit
halber die Kleine Atlantika nennen, macht Kapitel III des
„Timaios“ aus: er bildet eine grobe Zusammenfassung oder
ein Exposé der Legende, ist aber deren einzige vollständige
22
Fassung. Die ausführliche Behandlung des Stoffes, die Große Atlantika, macht den wesentlichen Teil des anschließenden „Kritias“-Dialogs aus.
Gal: Warum nennst du diese Texte Dialoge?
Mia: Weil Platon am liebsten in dieser Form schrieb, wie
ein Theaterstück sozusagen. Das ist sein bevorzugtes Stilmittel, um seine Argumente in Rede und Gegenrede darzulegen
und allen möglichen Einwänden zuvorzukommen. Oft tritt
bei ihm sein einstiger Lehrer Sokrates als Moderator auf, so
auch im „Timaios“ und im „Kritias“. Diese beiden Texte gehören zu Platons Alterswerk. In seinen letzten Lebensjahren
Abb. 4 Sokrates
23
hatte er eine Trilogie begonnen, die seine Staatsphilosophie
über das in der „Politeia“, also der „Republik“ oder dem
„Staat“, vorgestellte Modell hinaus entwickeln sollte. Diese Trilogie sollte ursprünglich durch einen Dialog mit dem
Namen „Hermokrates“ abgeschlossen werden. Aber schon
der „Kritias“ kam nur wenige Seiten weit, bevor Platon das
Manuskript abbrach und sich seinem letzten großen Werk
zuwandte, den „Nomoi“ oder „Gesetzen“.
Bea: Das war wohl ein Fehler. Denn der modernen Welt
bekannt geblieben ist er hauptsächlich wegen der Atlantika,
dem „Staat“ und dem Höhlengleichnis.
Mia: Stimmt. Die heillos ausufernden „Nomoi“ werden
nur noch von gequälten Philosophiestudenten gelesen.
Gal: Warum hat er den „Kritias“ nicht beendet?
Mia: Darüber wurde viel spekuliert. Die häuigste Erklärung, die heute gegeben wird, ist die, dass er die theoretisierenden „Nomoi“ interessanter fand als die für ihn ermüdende romanhafte Erzählung des „Kritias“.
Gal: Ist denn die Reihenfolge, in der er seine Bücher
schrieb, absolut gesichert? Könnte es nicht sein, dass er
starb, während er am „Kritias“ arbeitete?
Bea: Wer weiß. Schon der römische Biograf Plutarch
glaubte, Platon sei zu früh gestorben. Aber die heutigen
Philologen teilen nicht die Auffassung, der „Kritias“ sei sein
letztes Werk gewesen. Zumindest die voluminösen „Nomoi“
sollen jünger sein. Sicher hätte es viel weniger fantastische
Theorien über Atlantis gegeben, wenn Platon dieses Buch
vervollständigt hätte.
Max: Was bedeutet „Kritias“, wenn man es übersetzt?
Mia: Das ist ein Eigenname. Platon benannte seine Texte oft nach der Hauptrolle. An der Trilogie, die dramaturgisch an die „Politeia“ anschließt, nehmen vier Personen teil:
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Timaios, der seine Ansichten über die Entstehung des Universums mitteilt, Kritias, der Erzähler der Atlantika, Platons
alter Lehrer Sokrates sowie Hermokrates, der den dritten
Dialog hätte führen sollen. Ferner wird ein Fünfter erwähnt,
der aus nicht erklärten Gründen abwesend ist.
Mindestens drei davon, nämlich Sokrates, Kritias und Hermokrates, sind historisch belegt. Sokrates ist natürlich der
Philosoph, Platons Lehrmeister, der den Schierlingsbecher
trinken musste, weil er der Ketzerei bezichtigt wurde: sein
Vergehen war es gewesen, die Handlungen der Menschen
ihrem eigenen Bewusstsein zuzuschreiben statt Zeus und
den Göttern des Olymps. Man durfte über Zeus alles sagen,
nur ihn in Frage zu stellen, das war fatal. Sokrates tritt in den
meisten von Platons Dialogen auf. Platon hatte seinen Lehrer sehr verehrt, und ein weiteres seiner berühmtesten Werke
ist die „Apologie des Sokrates“, die der bereits verurteilte
Philosoph seinen Richtern vorträgt.
Max: Ja, und Kritias?
Mia: Kritias war mit Platon verwandt und ebenfalls Anhänger des Sokrates, daneben Politiker, Dichter und wütender Antidemokrat: ein antiker Robespierre, der am Ende
des Peloponnesischen Krieges die Schreckensherrschaft der
Dreißig Tyrannen führte. 403 v.d.Z. iel er im Kampf gegen
den Demokratenführer Thrasybulos. Die verwandtschaftliche Stellung zu Platon ist unklar: das Brockhaus-Lexikon
bezeichnet ihn als Onkel, das Fischer-Lexikon als Neffen.
dass er Platons Onkel war, scheint mir mit Hinblick auf seine Lebensdaten aber wahrscheinlicher.
Hermokrates wird mit einem Feldherrn aus Syrakus identiiziert, der im Peloponnesischen Krieg die sogenannte Sizilische Expedition zurückschlug, mit der die Athener das
zentrale Mittelmeer hatten erobern wollen.
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Max: Wieso benutzt Platon einen Feind der Athener als
Dialogredner?
Mia: Ich nehme an, weil auch Hermokrates Schüler des
Sokrates war. Timaios schließlich lässt sich nicht ixieren. Er
soll ein Pythagoreer aus Lokris, einer Stadt in Unteritalien,
gewesen sein. Andere vermuten, er sei Pseudonym eines gewissen Archytas von Taras.
Max: Warum sollte Platon ausgerechnet ihm ein Pseudonym geben?
Mia: Gute Frage. Man darf aber wohl annehmen, dass
auch Timaios ein persönlicher Bekannter Platons war.
Gal: Er verwendete also Freunde und Bekannte und legte
ihnen seine eigenen Gedanken in den Mund?
Mia: Genau. Manche meinen, dass er versuchte, die Personen so zu charakterisieren, wie sie dachten. Aber ich bezweile das, denn Kritias kommt viel zu gut weg. Platons
Staatskonzept wäre dessen Diktatur völlig fremd gewesen.
Platon aber ließ auf Kritias nichts kommen, während viele
andere ihn zu Recht in die Hölle wünschten.
Gal: Vielleicht waren die verwandtschaftlichen Bande einfach
zu stark.
Mia: Kritias war nebenberulich aber auch Dichter und
Philosoph, und einige Historiker inden, dass Platon zumindest die poetische Seite des Kritias, wie sie aus seinen eigenen Schriften ableitbar sei, ziemlich gut dargestellt habe
(Apelt): ein Rationalist, nicht übermäßig gläubig, in seiner
Meinung über das Göttliche eher Sokrates nahestehend. In
dem Dialog, der seinen Namen trägt, erzählt er die Atlantika
den drei anderen Teilnehmern. Ob er davon aber selbst etwas wusste, ist unbekannt: leider sind uns aus Kritias‘ Werk
nur wenige Textfragmente überliefert, und keines von ihnen
bezieht sich auf Atlantis.
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Platon beruft sich jedoch auf eine ältere Quelle, aus der
die Atlantika stammen soll. Das ist der weise Solon, der sie
seinerseits von ägyptischen Priestern erfahren habe. Solon
gehört in das ältere klassische Griechenland des 6. Jahrhunderts v.d.Z. Er war einer der bedeutendsten Politiker des alten Athens und in späteren Jahrhunderten hoch angesehen.
Leider haben wir von ihm nur wenige gesicherte Lebensdaten. Plutarch und andere haben zwar Anekdotensammlungen aus seinem Leben überliefert, aber diese überzeugen in
vielen Punkten nicht. Fest steht, dass er vor 624 in Athen
geboren wurde, vermutlich um 640. In jungen Jahren ging
er vermutlich auf Forschungsreisen, die er durch Handelsgeschäfte inanzierte. Das ist eine Weise, die oft wiederholt
wurde, sogar von Platon selbst. Zurück in Athen, proilierte
Solon sich als Demagoge, der zum Krieg gegen den Stadt-
Abb. 5 Solon diktiert die Gesetze
27
staat Megara und zur Eroberung der damals von Theben besetzten Insel Salamis vor der Küste Attikas aufrief. Er wurde
sodann zum Archonten, also zum obersten Staatsbeamten,
gewählt, um die schwere wirtschaftliche Krise zu beseitigen,
in die Attika geraten war. Die berüchtigten Gesetze des Politikers Drakon hatten nämlich zu Unruhen geführt, da sie
die einzelnen Stände stark voneinander abgrenzten und dem
Adel immense Macht verliehen. Solon hob deshalb 594 den
Unterschied zwischen Stadtbürgern und der Landbevölkerung auf. Die Rechte aller freien Griechen in Athen und der
Provinz Attika wurden wesentlich gestärkt. Er erließ den
Bürgern die öffentlichen und privaten Schulden und reformierte Währung und Maßsystem.
Heutige Historiker verstehen die Gesetze Solons als ersten Schritt auf dem Weg zur modernen Demokratie. Seine
Zeitgenossen waren weniger begeistert. Widerstand kam natürlich von den Adelsgeschlechtern, von denen etliche in die
Armut getrieben wurden. Man warf ihm Laschheit vor, weil
er sich nicht zum Tyrannen Athens, also zum Alleinherrscher, erklärt habe. Solon rechtfertigte sich entrüstet, denn
er wusste, dass die Tyrannis ihn zur Marionette des Adels
gemacht hätte. Es sieht nun so aus, als habe er sich der Kritik
durch eine weitere, zehnjährige Reise entzogen, die ihn bis
ca. 580 im Mittelmeerraum umher führte. Auf jeden Fall hat
er Ägypten, Libyen, Zypern und Kleinasien besucht. Und
von dieser Fahrt, so sagt Platon, brachte er die Atlantika mit.
Max: Sie wäre also ägyptischen Ursprungs!
Mia: War mir klar, dass ausgerechnet dich das begeistert!
Aber schau: Es liegt für einen griechischen Schriftsteller völlig nahe, die Herkunft solch einer fantastischen Geschichte
in Ägypten anzusiedeln. Dieses Land wurde als Hort geheimnisvoller Weisheiten und außerordentlicher Frömmig28
keit betrachtet. Die weniger nationalistisch eingestellten
Hellenen behaupteten, dass die griechische Kultur viel von
den Ägyptern entlehnt hätte, und auch einige Wissenschaftler sollen ihre Erkenntnisse aus Ägypten bezogen haben. So
heißt es, Aristarchos von Samos habe dort seine Kenntnis
des heliozentrischen Sonnensystems erworben.
Jedenfalls: Als Solon zurückkehrte, hatte er erheblich an
politischem Einluss verloren. Die Gesetzesreform von 594
hatte leider nicht den erhofften Frieden gebracht, sondern Attikas politischen Zerfall. Zwei rivalisierende Fraktionen waren
entstanden: auf der einen Seite der Adel des Binnenlandes
und auf der anderen die Küstenbewohner, angeführt vom
Adelshaus der Alkmeoniden. Solon versuchte vergeblich, zu
vermitteln, denn er befürchtete, dass über kurz oder lang ein
Tyrannen aufträte. Und er behielt Recht. Ausgerechnet Peisistratos, sein Cousin mütterlicherseits, putschte im Jahr 560 mit
Hilfe der Kleinbauern und ergriff die Alleinherrschaft. Solon
hatte ihn wortgewaltig, doch vergeblich bekämpft; er starb
noch im selben Jahr oder ein Jahr später, die Umrechnungen
der Kalenderdaten sind wohl ein wenig uneinheitlich. (Wissowa, Kaiser) Seine Reputation bei den Zeitgenossen hatte er
zu diesem Zeitpunkt verloren. Für die späteren Generationen
aber war er einer der angesehensten geschichtlichen Helden
überhaupt. Er wurde zu den Sieben Weisen gerechnet, den
berühmtesten Staatsmännern und Philosophen, die legendären Ruf hatten. Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Namenslisten, meist werden aber zumindest Solon, Thales von Milet,
Bias, Periander und Pittakos als Mitglieder genannt.
Gal: Ja, von denen habe ich einmal gehört. Ihnen wurden
zahlreiche Aussprüche zugeschrieben, die sie so wahrscheinlich nie gesagt haben. Mit Leichtigkeit also auch die ganze
Atlantika!
29
Mia: Solons Rolle als Dichter ist weniger bedeutend als die
als Staatsmann, doch im 4. Jh. galt er als einer von Athens
größten Poeten. Leider sind auch von ihm nur wenige Gedichte überliefert, selbst seine politisch motivierte „Salamis“-Elegie kennen wir nur in Bruchstücken. Und von Atlantis indet sich in diesen Texten keine Spur. Die Auszüge,
die uns erhalten blieben, sind politische und erotische Schriften sowie ein paar philosophische Betrachtungen.
Bea: Um sagen zu können, ob die Atlantika glaubwürdig
ist, sollte man aber eher Platons Umgebung berücksichtigen.
Was kannst du darüber sagen, Mia?
Mia: Platon war ein direkter Nachfahre von Solons Familie. 427 wurde er in eine Epoche geboren, in der die Welt zeriel: in die ersten Jahre des Peloponnesischen Krieges, einem
der verheerendsten Konlikte der antiken Geschichte. Die
Folgen waren ähnlich katastrophal wie die des Dreißigjährigen Krieges für Europa: alle Opponenten wurden ruiniert,
die Wirtschaft brach zusammen, Athen verlor nach der katastrophalen Sizilischen Expedition seine Großmachtstellung
und musste 404 kapitulieren, und das ausgeblutete Griechenland wurde zum reifen Schlachtopfer für fremde Mächte.
„Platons Jugend traf mit jener unglücklichen Zeit zusammen, die auf die
sizilische Niederlage folgte, als all die Schwächen der vorigen athenischen Herrschaft sich so schrecklich rächten. …. Er selbst gehörte einer gesellschaftlichen
Schicht und einer Familie an, die die bestehenden Verhältnisse unverhüllt und
nicht immer unbegründet mit Unzufriedenheit betrachtete. Einige seiner nächsten Verwandten waren unter den Sprechern der aristokratischen Partei. Aber
als diese Partei auf den Ruinen athenischer Größe von dem gemeinsamen
Feind [dem Peloponnesischen Bund unter Sparta] selbst an die Macht gebracht
wurde, missbrauchte sie ihre Stärke derart, dass unausweichlich selbst die Augen der blindesten Anhänger geöffnet wurden.“ (Jowett)
30
Das war eben die Terrorherrschaft der Dreißig Tyrannen,
die zahlreiche Oppositionelle das Leben kostete. Unter solchen Umständen wurde Platon zum Verfechter eines eher
reaktionären Idealstaates, der manche kommunistisch-totalitären Ideen vorwegnimmt, die Tyrannis aber ablehnt. In seiner Jugend hatte er sich wenig zufriedenstellend als Dichter
versucht, durch eine Bekanntschaft mit Kratylos und Sokrates wurde er aber in die erfolgversprechendere Philosophie
eingeführt. Sokrates‘ Tod muss ein schwerer Schock für ihn
gewesen sein.
Platon begann nun zu reisen, besuchte Ägypten, Kyrene,
Italien und Sizilien. Hier kam er mit der Sekte von Pythagoras in Kontakt.
Max: Moment! Pythagoras war doch Mathematiker und kein
Guru! War das nicht der mit dem Pythagoreischen Lehrsatz?
Mia: Doch, natürlich. Der Lehrsatz über rechtwinklige
Dreiecke ist fast das einzig Konstruktive, das er uns hinterlassen hat. Der Rest besteht aus einer abwegigen Naturphilosophie, allerlei Zahlenmystik und so tiefgründigen Geboten wie „Du sollst keine Bohnen essen“. Im übrigen ließ er
sich als Halbgott verehren – doch, Guru trifft es genau. Es
war wohl nicht falsch, dass manche Zeitgenossen die Pythagoreer als Schwachsinnige bezeichneten.
Bea: Jemand hat damals aber auch einmal gesagt: „Es gibt
Götter, Menschen und Leute wie Pythagoras.“
Mia: Sicher jemand, der ihm auch heute nachgelaufen
wäre. Ganz so wie ein richtiger Guru hat sich Pythagoras seine Lehre aus allerlei Ideen zusammengebastelt, hauptsächlich aus Elementen der Orphik. Das wiederum war ein Mysterienkult, der sich auf jenen Orpheus berief, den wir aus
dem Drama „Orpheus und Eurydike“ kennen. Dionysos,
Gott des Weines, wurde da verehrt. Die Lehren der Orphi31
ker und der Pythagoreer sind sich so ähnlich, dass manchmal
kaum zu unterscheiden ist, wer welchem Zweig angehörte.
In manchem erinnern beide an die Scientology-Sekte: Sie
unterwanderten die politischen Zentren und gewannen besonders in Magna Graecia, den italienischen Kolonien der
Griechen, erheblichen Einluss. Ihr Zentrum war Kroton,
das heutige Crotone in Kalabrien. Aber noch zu Pythagoras’
Lebzeiten wurden sie ausgeschaltet und galten seitdem nur
noch als eine obskure Sekte unter vielen.
Nun berufen sich beide, Orphiker wie Pythagoreer, auf
ägyptische und babylonische Lehren. So könnte Platon Recht
haben, dass die Atlantika auf eine ägyptische Quelle zurückgeht, wenn auch vielleicht nicht durch Solon, sondern über
die Pythagoreer weitergegeben. Nach der Gewaltherrschaft
Königs Asarhaddon von Assyrien war nämlich in Ägypten
eine wahre New-Age-Bewegung entstanden, die sich mit
allerlei Magie und Mystizismus befasste. Sie übte nachhaltigen Einluss auf die Griechen aus, die als Händler und
Gelehrte nach Nordafrika kamen. Platon selbst übernimmt
einige Ideen aus Ägypten: wenn er etwa im „Timaios“ den
unbedeutenden Schmiedegott Hephaistos als Weltschöpfer
(Demiurgen) und sogar als Schöpfer der Götter vorstellt,
dann denkt er offensichtlich an Ptah, der in der Theologie
der ägyptischen Stadt Memphis die gleiche Rolle einnimmt.
Max: Das kommt nicht von ungefähr. Die Griechen versuchten immer, fremde Götter mit ihren eigenen zu identiizieren, um Widersprüche in den Doktrinen zu vermeiden.
Im Allgemeinen funktionierte das ganz gut, und es vermied
Religionskriege.
Mia: Fest steht, dass in der griechischen Philosophie ägyptische Gedanken auftauchten. Das bestätigt in gewisser Weise Behauptungen wie die des Clemens von Alexandria, dass
32
die pythagoreische Lehre und die platonische Philosophie
auf heilige Bücher zurückgingen, die ein Gott namens Hermes Trismegistos verfasst habe.
Max: Ah ja. Das ist eine frühchristliche Verballhornung des
ägyptischen Gottes der Schreibkunst, Thot, eine mysteriöse
Gestalt im ägyptischen Pantheon. Von ihm wurde irgendwann
sogar behauptet, er habe, als er die anderen Götter nach Ägypten geführt habe, eine Prophezeiung erhalten, dass er sein Heimatland nie wiedersähe, weil es bald im Meer versinke.
Gal: Wer hat das behauptet? Und wann?
Mia: Klingt verführerisch, nicht wahr? Nun erklärt uns ein
Diogenes von Alerte – das nicht der mit dem Fass -, dass
Platon am Hof des Tyrannen von Syrakus, Dionysios II., ein
Traktat „Über die Natur“ erworben oder geschenkt bekommen habe, das von Pythagoras’ Schüler und Nachfolger Philolaos von Kroton stamme. Dieses Werk solle er zum „Timaios“
umgeschrieben haben. Wenn es jemals existiert hat, ist uns
das Original nicht erhalten geblieben, so dass wir keine Vergleichsmöglichkeit haben. Doch es könnte wahr sein.
Allerdings spräche es nicht für die Atlantika, wenn sie
einem verschollenen Werk des Philolaos entnommen sein
sollte. Seine philosophischen Ansichten ielen nämlich chaotisch, kaum nachvollziehbar und offenbar auch noch widersprüchlich aus, so dass einige moderne Historiker ihn offen
einen Wirrkopf nennen. Er war unter anderem derjenige,
der die Erde gemeinsam mit der Sonne und den anderen
Planeten das sogenannte Zentralfeuer umlaufen ließ.
Gal: Na, immerhin! Dieses Modell gilt als Schritt auf dem
Weg zum kopernikanischen System!
Mia: Vielleicht zu Unrecht. Jedenfalls: wenn der Atlantika
ein Werk dieses Philolaos zugrunde liegen sollte, wählte Platon nicht gerade die überzeugendste Quelle.
33
Max: Wie ging es denn nun weiter? Er hat also die Pythagoreer und ihre Lehren kennengelernt … ?
Mia: Um 385 v.d.Z. gründete er seine weltberühmte Akademie. Sie wurde erst 529 durch Kaiser Justinian geschlossen: dieser Moment gilt einigen Historikern als der Beginn
des Dunklen Zeitalters. Aber Platon kam spät: die goldene
Ära der antiken Philosophie war längst vorbei.
„Die schlimme Situation war der politische, wirtschaftliche und moralische
Bankrott des klassischen Griechenlands vor der makedonischen Eroberung.
Ein Jahrhundert ständigen Krieges und Haders unter den Bürgern hatte das
Land an Menschen und Geld ausgeblutet. Feilheit und Bestechlichkeit vergifteten das öffentliche Leben; Scharen politischer Emigranten, herabgesunken
auf die Stufe heimatloser Abenteurer, streiften auf dem offenen Land umher; gesetzlich zugelassene Abtreibungen und Kindsmorde lichteten überdies
die Reihen der Menschen. Die Geschichte des vierten Jahrhunderts … ist ‚in
mancher Hinsicht die des größten Fehlschlags der Geschichte … Platon und
Aristoteles versuchten … jeder auf seine Art (indem sie andere Formen der
Verfassung vorschlugen als diejenigen, unter denen das Volk in politische Dekadenz verfallen war), die griechische Welt, die ihnen so viel bedeutete, vor dem
politischen und wirtschaftlichen Unheil zu retten, dem sie entgegenstürmte.
Doch die griechische Welt war nicht mehr zu retten.“ (Koestler)
Ja, während des überwiegenden Teils von Platons Leben
herrschte Krieg unter den Stadtstaaten, vor allem zwischen
Athen, Theben und Sparta: bis 404 der Peloponnesische
Krieg, 399 - 394 der Spartanisch-Persische Krieg, 395 - 387
der Korinthische Krieg, in dem Athen und Theben auf der
einen, Sparta und die Perser auf der anderen Seite standen.
Es folgten ständige Übergriffe und Provokationen Spartas
gegen Athen, 371 der kurze Krieg Spartas gegen Theben den überraschenderweise Theben gewann, da der Feldherr
Epameinondas eine abenteuerliche, aber sehr wirkungsvol34
le Schlachtordnung eingeführt hatte - dann gingen prompt
Athen und Sparta gemeinsam gegen Theben. Und überall
mischte das Persische Reich mit, das die Rivalen fröhlich gegeneinander ausspielte, um irgendwann ganz Griechenland
wie reifes Obst zu plücken.
Im Norden aber wuchs, kaum erkannt, eine bedrohliche
Macht heran: Philipp II. von Makedonien, dessen überlegene Militärtechnik ihn Stadt um Stadt und Region um Region
einnehmen ließ. Sein Sohn Alexander, der später der Große
genannt wurde, verdiente sich bereits die ersten Sporen auf
dem Schlachtfeld. Als die Atlantika geschrieben wurde, hatte
Athen sich zur Führung des zweiten Attischen Seebunds emporgearbeitet, der immerhin sechzig griechische Stadtstaaten
umfasste. Aber trotz seines Sieges über die Hegemonie von
Theben war der zweite Seebund weit weniger erfolgreich als
sein Vorgänger, der bis zum Ausbruch des Peloponnesischen
Kriegs die wichtigsten griechischen Militärmächte gegen das
Persische Reich geeint hatte. 357 stieß Philipp nach Thrakien im heutigen Nordgriechenland vor und öffnete so seinem
Binnenland einen Zugang zur nördlichen Ägäis. Darauf ielen Chios, Rhodos, Kos und Byzanz vom Seebund ab. Es
kam prompt zum so genannten Bundesgenossenkrieg zwischen den Mächten der zerbrochenen Allianz. Philipp aber
stieß unbekümmert gegen Süden vor, alle seine Gegner überrennend und Stadtstaat um Stadtstaat sich einverleibend.
Noch konnte man weiter südwärts nicht abschätzen, wie
groß die makedonische Gefahr wirklich war. In Athen wurde die politische Entscheidungsfähigkeit gelähmt vom Streit
zwischen den Staatsmännern Isokrates, der sich mit Philipp
gegen die Perser verbünden wollte, und Demosthenes, der
ein hartes Auftreten gegen den fremdländischen „Barbaren
aus Makedonien“ forderte.
35
Max: War das der Demosthenes, der sein Stottern überwunden hatte, indem er am Strand geübt hatte, mit einem
Kieselstein unter seiner Zunge Reden zu halten?
Mia: Genau der. Der „Barbar“ dehnte derweil seinen Einluss über Thessalien aus, schlug 353 die Phokäer, obwohl sie
von Athen und Sparta unterstützt worden waren, und besetzte 348 die Halbinsel Chalkidike. Jetzt erst begann man auch in
Südgriechenland, zu begreifen, wie die Dinge standen. 346, in
Platons Todesjahr, kam es zwischen Makedonien und Athen
noch zum Frieden des Philokrates, der den damaligen Status
Quo sichern sollte. Demosthenes aber setzte sich schließlich
durch und gründete 340 den Hellenenbund, um Makedonien
zu widerstehen. Doch nun war es zu spät: der Hellenenbund
wurde in der Schlacht von Chaironeia kläglich geschlagen.
Wir wissen, was kam: die Besiegelung der makedonischen
Eroberung durch Alexander den Großen.
Platon hielt sich aus all dem heraus. Staatsmann wollte er
niemals werden; er versuchte nur, mit seinen Vorschlägen
die Gesellschaftsstruktur zu beeinlussen. In Syrakus fand
er einen Bewunderer im Schwager von Dionysios II.: einem gewissen Dion, der den Entwurf der „Politeia“ für si
genial hielt, dass er ihn sogleich verwirklichen wollte. Was
Dionysios weniger geiel. Platon hielt sich deshalb jahrelang
in Sizilien auf und versuchte vergeblich, zu vermitteln. Er
iel wegen verfassungsfeindlicher Umtriebe in Ungnade und
behielt die Freiheit nur durch eine Intervention seiner pythagoreischen Freunde: Annikeris von Kyrene löste ihn buchstäblich erst auf dem Sklavenmarkt aus. 357 usurpierte Dion
den Thron, um sein Vorhaben wahrzumachen, aber Freunde
schuf er sich damit nicht: nur drei Jahre später wurde er ermordet. Der siebzigjährige Platon kehrte nach Attika zurück
und scheint dort noch ein paar ruhige Jahre verbracht zu
36
haben, bevor er starb - angeblich während einer Hochzeitsfeier. Er veröffentlichte nach seiner Rückkehr aus Sizilien
keine Texte mehr. „Timaios“, das „Kritias“-Fragment und
die „Nomoi“ wurden posthum von seinem letzten Vorleser
Philippos publiziert.
Gal: Darf ich an dieser Stelle einspringen? Perser und Makedonen waren zu Platons Lebzeiten nämlich nicht die einzigen Probleme, mit denen die Griechen kämpfen mussten.
Besonders Sizilien hatte gleichzeitig stark unter Übergriffen
der Phönizier oder Kanaanäer zu leiden, einem ursprünglich aus dem nahen Osten stammenden semitischen Volk,
das sich von irgendwoher die Kenntnis beschafft hatte, wie
man Schiffe baut, die sogar die Bedingungen auf dem stürmischen Atlantik überstehen konnten, wo jede griechische
Triere scheitern musste. Die Phönizier hatten die Expansion
der griechischen Kolonisten immer stärker behindert und sie
aus dem westlichen Mittelmeerraum verdrängt. Sie waren die
Erbfeinde der Griechen zu See, wie die Perser ihre Erbfeinde zu Land waren: schon bei Homer sind sie grundsätzlich
üble Burschen, und die Abneigung ließ in kommenden Jahrhunderten nicht nach. Wir kennen bis heute die Feindpropaganda, die ihnen barbarische Kinderopfer und ähnliche
Gräuel zuschreibt.
Besonders ihr souverän gewordenes Tochterreich, das Imperium der Punier von Kart-Hadascht, der alten tunesischen
Stadt, die die Römer Karthago nannten, machte sich in der
griechischen Welt äußerst unbeliebt. Es hatte im 6. Jh. einen
Vertrag mit dem damals noch auf dem italienischen Festland
bestehenden Staat von Etrurien unterzeichnet, der dem römischen Imperium kulturell vorausgegangen war. In diesem
Vertrag war die Aufteilung des westlichen Mittelmeers beschlossen worden: die Punier oder Karthager hatten darauf
37
die südspanische Handelsstadt Tartessos, in der eine uralte
Kultur geherrscht hatte, dem Erdboden gleichgemacht und
standen nun wirtschaftlich und politisch konkurrenzlos im
westlichen Mittelmeer. Griechenland und die Länder des
Orients wurden durch die punische Seesperre von Westeuropa und Westafrika isoliert. Es gab zwar noch griechische
Kolonien an der europäischen Küste - wie Massalia an der
Stelle des heutigen Marseille -, aber der Süden des westlichen
Mittelmeers und vor allem die Ausfahrt durch die Straße von
Gibraltar waren in karthagischer Hand. Und die Punier duldeten keine fremden Schiffe in ihren Gewässern.
Max: Etruskische auch nicht?
Gal: Ich glaube nicht. Aber Kart-Hadascht blickte weiter.
Seit der verheerenden Sizilischen Expedition der Athener
schaute es gierig auf dieses Sizilien, das ihm ein Stachel inmitten seiner Machtsphäre war. Mehrmals wurde es angegriffen und eine Zeitlang zur Hälfte besetzt. Es gelang den
sizilischen Griechen zwar immer wieder, die Invasion aus
dem Westen zurückzuschlagen, doch die Punier gaben ihre
Ansprüche nicht auf: sie hätten zu gerne die Westhälfte des
Mittelmeers vollständig abgeriegelt.
Mia: Ja, die griechische Welt war von allen Seiten bedrängt. Die Zukunft gehörte nicht mehr dem klassischen
Griechenland, wie Platon und Aristoteles es kannten und
wollten, sondern anderen: Makedonien und vor allem dem
aufstrebenden Rom, das am Ende auch Karthago so völlig
auslöschte, wie dieses Tartessos ausgelöscht hatte. In dieser
Situation hätte Platon wohl glauben können, dass eine patriotische Legende wie die Atlantika, in der Athen über eine
feindliche Großmacht siegt, auf fruchtbaren Boden iele.
Nach dem Fiasko in Syrakus mag es ihn gedrängt haben,
seine Ideale erst recht populär zu machen. Er träumte den
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letzten Traum von einem großmächtigen Athen, das, auf
sich allein gestellt, dem größten Gegner widersteht.
Gal: Willst du damit sagen, dass Atlantis eine Allegorie
auf Philipp von Makedonien sei?
Mia: Nein, das ginge sicher zu weit. Aber um sein theoretisches Konzept im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu
verankern, könnte Platon doch eine anschauliche Geschichte entwickelt haben, um dem patriotischen Empinden seiner Zuhörer mitzuteilen: „Seht her, wenn ihr meinen Ideen
folgt, könnt ihr unsere Feinde von heute so besiegen, wie wir
unsere Feinde damals besiegten.“
Bea: Wäre solch eine billige Propaganda denn Platons
Sache? Wenn ihm an der Beeinlussung der Volksmeinung
gelegen gewesen wäre, warum schrieb er dann den „Kritias“ nicht zu Ende? Wäre eine Elegie im Stil von Solons
„Salamis“ nicht brauchbarer gewesen als kaum verständliche Traktate? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ganze
kosmologische Brimborium des „Timaios“ für ein Massenpublikum bestimmt war. Er bestand doch darauf, dass die
Atlantika mehr als Propaganda sei! Beim Höhlengleichnis,
dem Mythos des Er in der Unterwelt oder der Geschichte
von Theuth und Thanus lässt er keinen Zweifel, dass es sich
um Mythen handelt, die er selbst erfunden hat. Von Theuth
und Thanus lässt er Sokrates mit den Worten erzählen:
„Ich kann euch etwas berichten, was sich die Alten erzählen, doch ob es
wahr ist, wissen sie allein.“
In der Atlantika aber besteht Kritias nachdrücklich darauf,
dass der ganze Stoff historische Tatsache sei.
Mia: Das müsste er gerade dann tun, wenn er die politische Führung von seinem Gesellschaftsentwurf überzeugen
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wollte. Was überzeugt besser als historische Tatsachen? Und
wenn man keine hat, erindet man welche. Das ist vielleicht
der Grund, weshalb Solon in der Atlantika auftritt, denn er
würde natürlich mehr respektiert als der dubiose Philolaos,
dessen Mitgliedschaft im pythagoreischen Zirkel ihn von
vornherein disqualiizierte. Vielleicht ging Platon davon aus,
die Atlantika würde in dieser Form ungefragt akzeptiert. Und
dann kam jemand, vielleicht Aristoteles, las das unvollendete
Manuskript und begann, Fragen zu stellen. Da mag Platon
eingesehen haben, dass sein Dialog nicht so überzeugend
war, wie er gedacht hatte, und stellte die Weiterarbeit ein.
Max: Und wenn er dabei doch eine Legende in seinem
Sinn verdrehte, die schon bestand? Versunkene Inseln haben
in Ägypten Tradition. Ein sehr populäres Märchen von dort
erzählt von einem königlichen Gefolgsmann, der im Roten
Meer als Schiffbrüchiger an eine einsame Insel gespült wurde. Auf ihr hauste ein freundlicher Schlangengott, der ihm
seine Lebensgeschichte erzählte. Und darin hieß es, dass „ein
herabfallender Stern“ seine 75 Angehörigen erschlagen hätte, und dass die Insel, auf der er selbst nun wohne, bald untergehen und nicht mehr zu inden sein würde. (Ranke) Der
Grundstoff für eine Atlantika war also vorhanden.
Bea: Atlantis im Roten Meer wäre allerdings etwas Neues.
Es wurde auf den Kanaren, auf den Azoren, in Amerika,
auf Kreta, auf Santorin, in Troja, im Kaukasus, auf Helgoland, in der Karibik, in Spanien, in Frankreich, in Marokko,
in Skandinavien, in Indien, in der Arktis, auf dem Mond, auf
der Venus und im Planetoidengürtel gesucht. Das alles lässt
sich auf die eine oder andere Art „beweisen“, wenn man
die Zitate aus Platons Dialogen heraussucht, die die eigene
Meinung unterstützen, und den Rest vernachlässigt. Das ist
natürlich keine wissenschaftliche Vorgehensweise und trägt
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dazu bei, dass viele die Atlantisforschung als sinnlos ablehnen.
Ich meine daher, dass wir so vorgehen müssten: Jemand
sollte sich die Atlantika Satz für Satz vornehmen und beurteilen, ob das, was darin steht, historische Tatsache sein
kann. Wir sollten uns genau ansehen, was Platon wirklich
sagte, und es von den neuzeitlichen Fehlinterpretationen
und Fantasien trennen. Danach können wir versuchen, herauszuinden, ob das, was Platon sagt, sich beweisen lässt.
Gal: Wenn du das tun willst, bin ich dabei!
Max: Ich auch.
Bea: Mia?
Mia: Ich halte das alles für überlüssig. Aber ich will mich
nicht ausschließen.
Bea: Gut. Aber eins muss ich dazu noch sagen: ich kann
leider kein Griechisch und muss mich daher auf Übersetzungen stützen, sofern meine Quellen nicht so freundlich
waren, Auszüge in der Originalsprache wiederzugeben. Nun
bemühen sich die deutschen Platon-Übersetzungen leider,
zu klingen, als seien sie tatsächlich zweieinhalbtausend Jahre alt. Die sprachliche Qualität ist gewöhnlich fürchterlich:
wenn schon Platons literarische Erzählungen so ausfallen, ist
es kein Wunder, dass niemand seine Philosophien versteht!
Ich habe deshalb irgendwann einmal aus verschiedenen
Übersetzungen eine grammatisch lesbare Fassung konstruiert und dabei festgestellt, dass sie sich in einigen zum Teil
sehr wichtigen Punkten widersprechen. Wo ist sie denn …
Ah! Dz dz, ich muss diese Schublade auch wieder einmal
aufräumen.
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Abb. 6 Der Anfang des Timaios im Codex Parisinus graecus, 1807
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