Slavistische Beiträge ∙ Band 402
(eBook - Digi20-Retro)
Cornelia Soldat
Urbild und Abbild
Untersuchungen zu Herrschaft
und Weltbild in Altrußland 11.-16. Jahrhundert
Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.
Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“
der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch
den Verlag Otto Sagner:
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insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages
unzulässig.
«Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH.
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S
l a v ist ic h e
Beiträge
H e r a u s g e g e b e n von
Peter Rehder
Beirat:
Tilman Berger *W alter Breu *Johanna Renate Döring-Smirnov
W alter Koschmal ■Ulrich Schweier ־MiloŠ Sedmidubskÿ ־Klaus Steinke
BAND 402
V erlag O tto S agner
M ü n c h e n 2001
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Cornelia Soldat
Urbild und Abbild
Untersuchungen zu Herrschaft
und Weltbild in Altrußland
11.-16. Jahrhundert
V erlag O tto S agner
M ü n c h e n 2001
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PVA
2001 .
929
ISBN 3-87690-781-0
© Verlag Otto Sagner, München 2001
Abteilung der Firma Kubon & Sagner
D-80328 München
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
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V orbem erkung
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Sommer 2000
an der Universität Potsdam verteidigt wurde Vorweg mochte ich einige rezeptionstechnische
Vorbemerkungen machen
Die von mir benutzten Ausgaben der Quellentexte wurden so
gewählt, daß sie g g f schnell zur Überprüfung eingesehen werden können Für die altrussischen
Texte heißt das, daß ich, soweit möglich, die Ausgaben der Pamjatniki literatury drevnej Rust
benutzt habe In Zitaten wird die Schreibweise, insbesondere die Ausdrücke bog ״synt otec ,
duch, gemäß der jeweiligen Edition beibehalten
Da wesentliche Teile der philologischen Forschungen in das Slovar ' kmintkov i foninosi!
drevnej Rust eingegangen sind, stütze ich mich bei der Quellenkritik weitestgehend au f dieses
Lexikon Der erste Band stellt die altrussischen Texte nach den von Lichačev in Anlehnung an
die westliche Philologie erstellten Kriterien der Textologie dar, die Arbeit mit dem zweiten
Band wird dadurch erschwert, daß Angaben über Zahl und Datierung von Handschriften teilweise fehlen
Alle Quellen werden in der Originalsprache zitiert und, wenn es sich um nicht mehr gespro*
chene Sprachen handelt, übersetzt Wo es möglich war, habe ich auf bereits veröffentlichte
Übersetzungen zuruckgegrifTen und diese als solche gekennzeichnet Alle anderen Übersetzungen stammen von mir, die Analysen beziehen sich jedoch immer au f die Originaltexte Bibelzi*
tate werden, wenn es sich um neutestamentarische Zitate handelt, in der Ausgabe von
Nestle/Aland zitiert Bei Übersetzungen und alttestamentarischen Zitaten greife ich au f die sich
näher am Griechischen befindenden Übersetzung Luthers zurück. Dies deshalb, weil auch die
altkirchenslavischen Bibelübersetzungen aus dem Griechischen und unter größtmöglicher Beibehaltung der griechischen Textstruktur erfolgt sind
Zitate aus der Sekundärliteratur werden in den Fußnoten mit Automamen und einem Kurztitel angegeben, der in der Regel der Anfang des Titels ist Die genaue bibliographische Angabe
steht in der Bibliographie unter dem Autornamen Weiterfuhrende Literatur steht mit der voilen bibliographischen Angabe in der Fußnote und taucht nicht in der Bibliographie auf, wenn
sie nicht im Verlaufe der Argumentation benutzt wurde
Da ein Großteil der Arbeit vor Inkrafttreten der Rechtschreibreform geschrieben wurde, ist
sie in alter Rechtschreibung gehalten.
Alle russischen Eigennamen, Literaturangaben und Termini werden in wissenschaftlicher
Transliteration angegeben Sollte es sich um im Deutschen gebräuchliche Termini handeln,
wird in Einzelfällen von einer Umschrift abgesehen Der Name Moše Baraš wird im Unterschied zur englischen Transkription aus dem Hebräischen auf dem Titelblatt, "M oshe Barasch",
in Bibliothekstransliteration wiedergegeben, da er so in Bibliotheken eher zu finden ist
Zuletzt möchte ich den genrespezifischen Dank abstatten, der vor allem den Herren Professores Franz und Witte für die Betreuung der Arbeit, sowie Prof Peter Rehder für ihre Aufnähme in die Reihe "Slavistische Beiträge ״gilt, außerdem meinen Töchtern für die Geduld, die
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sie mit meinem Arbeitseifer aufbrachten, und fiir die Freizeit, die ich mit ihnen verbringen
durfte Das Manuskript wurde mit der freundlichen Unterstützung der Firma abitz.com erstellt
Des weiteren seien in Dankbarkeit erwähnt
Hildegard Barwin, Rainer Fischbach, Julia
Harman, Riccardo Nicolosi, Brigitte Obermayr, Henrieke Stahl-Schwätzer und Karlwilhelm
Stratmann, der mir den Mut machte, diesen Weg zu gehen
Gewidmet sei diese Arbeit in Dankbarkeit für die erwiesene psychische und physische
Unterstützung Stephan Küpper
Berlin, im O ktober 2000
Cornelia Soldat
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7
Abkürzungen
Cael. hier. Dionysios Areopagita, De caelesti hierarchia
Eccl hier
Dionysios Areopagita, De ecclesiastica hierarchia
EG
Evangelisches Kirchengesangbuch
Enn
Enneaden Plotins
LCI
Lexikon der Christlichen Ikonographie, ed Kaufmann
LThK
Lexikon für Theologie und Kirche
PG
Patriarchalia series graecae
PLDR
Pamjatniki literatury drevnej Rusi
PSRL
Polnoe sobranie russkich letopisej
PVL
Povest* vremennych let
RBK
Reallexikon der byzantinischen Kunst
SEEJ
Slavic and East European Journal
TODRL
Trudy otdela drevnej russkoj literatury
VC
Vita Constantini des Eusebius von Kaisareia
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Inhalt
0
V orbem erkung
5
Abkürzungen
1
Einleitung
ל
П
Methodischer Ansatz 17
Herrschaft und Legitimation in West und O st
2
21
Urbild und Abbild 27
Die zwei Welten: P lato
29
Die Emanation: Plotin
32
Die Hierarchien: Dionysios Areopagita 38
Die Bilder: Johannes Damascenos 48
Die Texte: Biblische Typologie 55
Résumé: Urbild und Abbild
Anamnese
3
61
67
Das heilige Volk
71
Die Dynastie Vladimir Svjatoslavičs
99
Heiliges Land .......... .י
4
119
Ein allrussisches Bauprogramm 123
Das Kiever Bauprogramm 132
Das himmlische Jerusalem
5
Virtuelle H errschaft
138
151
Exkurs: Der Ikonostas als intratextuelles Abbild, 174
6
Das heilige Rußland...... 177
Kreml'9 Kirche, Ritual 179
Weltlicher Mid sakraler Raum ..
... 198
Weltliche Herrschaft als göttliche - das Herrschaftskonzept des ProsvetiteF ... 208
Antiverhalten und Typologie
230
7
Zusammenfassung und Ausblick 235
8
Bibliographie 245
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11
1
Einleitung
Das Konzept von "Zeit" kann nur in bedingtem Maße ausgedrückt und verstanden werden
Beim Ausdruck von Zeit oder einer Zeitspanne behilft man sich normalerweise mit Metaphern.
Der Geologe Stephen Jay Gould bemerkt, daß in der Geologie zwar ein Konzept von der Tiefe
der Zeit existiert daß jedoch diese Tiefe nur metaphorisch ausgedrückt verstanden werden
kann
"An abstract, intellectual understanding o f deep time comes easily enough - I know
how many zeroes to place after the 10 when I mean billions Getting it into the gut is
quite another matter Deep time is so alien that we can really only comprehend it as
metaphor And so we do in all our pedagogy We tout the geological mile (with human
history occupying the last few inches); or the cosmic calendar (with Homo sapiens
appearing but a few moments before Auld Latig Syne). A Swedish correspondent told me
that she set her pet snail Björn (meaning bear) at the South Pole during the Cambrian
period and permits him to advance slowly toward Malmö, thereby visualizing time as
geography. John McPhee has provided the most striking metaphor o f all (in Basin and
Rage). Consider the earth's history as the old measure o f the English yard, the distance
from the king's nose to the tip o f his outstretched hand One stroke o f a nail file on his
middle finger erases human history
Gould gebraucht fur die Zeitspannen, die man in der Entwicklungsgeschichte der Erde ausmachen kann, die Metapher vom Zeitstrahl, time's arrow Geologische oder historische Zeit ist
die Zeit, die man zählen oder messen kann, die von einem gedachten Anfangspunkt in eine
unendliche Zukunft hineinfuhrt Bei seiner Analyse der Texte von Geologen, die das Konzept
der ,,tiefen Zeit" der Erdgeschichte entwarfen, macht Gould darauf aufmerksam, daß sie auf
einer metaphorischen Ebene mit der zyklischen Zeit, time's cycle, argumentieren Die der
Geologie zugrundeliegenden Metaphern der Zeit seien somit die von Pfeil und Zyklus .2 Den
metaphorischen Zeitkonzepten der Geologie liegen nach Gould die von Mircea Eliade flir den
religiösen Menschen herausgearbeiteten Konzepte von heiliger Zeit und profaner Dauer
1
2
Gould, Time’s Arrow, Time’s Cycle, S. 3
Gould, Time’s Arrow, Time's Cycle, S. 5ff.
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zugrunde 3 In archaischen Gesellschaften wird, so Eliade, durch die rituelle Wiederholung der
Urhandlungen das Fortschreiten der Zeit verhindert Der am Ritus teilnehmende Mensch wird
aus der profanen, dauernden Zeit in die heilige Zeit des Anfangs, iliud tempus, versetzt und hat
an ihrer ontologischen Fülle te il 4 Im Judentum erhielt die Zeitdauer einen eschatologi sehen
Wert Die geschichtlichen Katastrophen des Judentums wurden von den Propheten in den
"Zorn Jahwes" umgedeutet, das Erscheinen seines Zornes wurde zu einer negativen Theophanie Die Katastrophen erhielten so einen Sinn und enthüllten den einheitlichen göttlichen Willen Die Geschichte erhielt als Abfolge von negativen und positiven Theophanien einen Wen,
den sie in archaischen Religionen nicht h a t 5
Im jüdischen Messianismus vollendete sich laut Eliade diese neue Wertung von Zeit und
Geschichte Die Zukunft sollte die Zeit regenerieren und das Ende der Zeit mit seinem Anfang
in eins setzen Der Sieg des Messias wiederholt sich dazu nicht mehrmals im Jahreszyklus,
sondern in der Heilszeit am Ende der Geschichte, in der messianischen Z ukunft 6 Diese eine
Regeneration steht der periodischen Regeneration der Schöpfung in den die Juden umgebenden
Religionen gegenüber Die messianische Regeneration wird in einem künftigen iliud tempus
stattfinden 7
Im Christentum wird dieses iliud tempus der Zukunft mit dem primordialen Paradies zu*
sammengefuhrt 8 Das Christentum geht von einer historischen Inkarnation G ottes aus, die die
profane Zeit, den Zeitstrahl, heiligt und zum mythischen Zyklus werden laßt Die messianische
Erwartung der Wiederkunft in Judentum und Christentum verbindet Zyklus und Zeitstrahl,
indem es den Strahl metaphorisch gesehen zum Kreis umbiegt, denn ihm selbst liegt schon die
eschatologische Wiederkehr Christi zugrunde, die in ihrer Wiederholung die Christen in den
Heilszustand des Anfangs zurucktühren soll 9 Anfang und Ende werden im Christentum in eine
Zeit überfuhrt, die in der zyklischen Wiederholung der Heils-Geschichte nachempfunden wird
Die Metapher für diesen Zeitzusammenfall ist das himmlische Jerusalem, das gleichzeitig für
3
4
5
6
7
8
9
Gould. Time's Arrow, Time’s Cycle, S. I2ff, vgl Eliade, Das Heilige und das Profane. S 89ÍT
Eliade. Kosmos und Gcschichtc, S. 84ÍT
Eliade, Kosmos und Gcschichtc. S 117Г+І20
Eliadc. Kosmos und Gcschichtc. S. 119. Ebd., S. 121 macht er darauf aufmerksam, daß diese
Neubewertung der Gcschichtc ein Projekt der Eliten war, während die Masse des Volkes in Synkretismen
an der kosmischcn Ökonomie der ruucllcn Wiederholung und Aufhebung der Zeit festhielt
Eliadc. Kosmos und Gcschichtc. S. 125
Vgl /uni primordialen Paradies als archaischer Vorstellung Eliadc, Kosmos und Gcschichtc. S 135
In der Offenbarung auch metaphorisch mit Anfang und Ende. A und ß . bezeichnet Vgl Offb 1,8; 21,6;
22.13
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den Paradiesgarten steht .10 Jerusalem ist die Stadt des historischen Heilsereignisses, in dem
G ott seinen Sohn opferte und zum Zeichen des Heils auferstehen ließ Das himmlische Jerusalern ist der O rt der Wiederkehr Christi und Wohnung des heiligen Volkes mit seinem Gott. Es
beinhaltet Anfang und Ende, sowohl die historische Zeit als auch die zyklische, mythische Zeit,
im liturgischen Jahreszyklus wird die *,archaische" zyklische Wiederholung der Heilszeit praktiziert Der Christ, der an den Zyklen der Liturgie teilnimmt, partizipiert am Heil der historisehen wie an dem der mythischen Zeit. Die Zusammenfuhrung von historischer und zyklischer
Zeit wird am sinnfälligsten im Osterfest, dem heiligsten Fest des Kirchenjahres, das jedes Jahr
aufs Neue die Heilszusage durch die Auferstehung Christi erneuert Das Christentum erhält so
unterschiedliche Heilszeiten, an denen es zyklisch partizipiert: die Zeit des Anfangs, die des
Endes und die Zeit, in der Christus auf Erden wandelte Hinzu treten die Hierophanien des
Alten Testamentes, die auf das Kommen Christi hinweisen und die Hierophanien durch die
christlichen Heiligen .11
Goulds Buch Time's Arrow, Time's Cycle versteht sich auch als Plädoyer dafür, die Metaphem, die einem Text und seiner Zeitkonzeption zugrunde liegen, mitzulesen und zu entschlüssein, weil sie sich als Konzepte einer bestimmten kulturellen Auffassung begreifen lassen 12 In
einer vom Christentum geprägten Kultur geht es analog darum, die ihr zugrundeliegenden religiösen Figuren zu entschlüsseln. Dazu will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten. Es geht
darum, eine Figur zu untersuchen, die das "Funktionieren" der altrussischen 13 Kultur begründete, und die gemeinhin "das neoplatonische Urbild-Abbild-Denken" genannt wird Implizit
wird hier davon ausgegangen, daß im 10 und 11. eine Beeinflussung der slavischen Kultur
durch das byzantinische Christentum orthodoxer Prägung stattgefunden hat, deren genaue Art
und Weise nicht eruiert werden soll. Ich gehe hier mit Donald Ostrowski davon aus, daß eine
Beeinflussung stattgefunden hat, wenn (1) die Institution oder Praxis in der Quellenkultur vorhanden war, (2) ihr Vorhandensein in der Quellenkultur mit ihrem Auftauchen in der Zielkultur
zur gleichen Zeit nachgewiesen werden kann, und (3) es einen Transfermechanismus wie militarische Invasion, administrative Institutionen oder Handelsverbindungen gegeben hat, da
10 Offb. 21+22; s u. Kap. 4
11 Vgl. Eliadc, Kosmos und Gcschichtc. S. 142f.
12 Gould, Time’s Arrow, Time's Cycle, S. 13ff.
13 Die Termini "Altrußland" und "altrussisch" werden hier zur Kennzeichnung einer Periode ostslavischer
Geschichte und Kultur gebraucht, die sich vom 10. bis zum 17. Jahrhundert erstreckte. Da heutzutage
mindestens zwei Staaten Anspruch auf das Kiever Erbe erheben, ist der Gebrauch des Terminus natürlich
gefährlich, zumal hier auch nur die russische Staatlichkeit und nicht die ukrainische untersucht werden
soll. Der Terminus wird jcdoch trotzdem verwendet, da mit ihm, wie gesagt, der Zeitraum der
Untersuchung, weniger der geographische oder der nationale Raum beschrieben werden soll
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Ideen Handelsrouten folgen 14 Letzterer Mechanismus ist fur die byzantinisch-slavischen Beziehungen bezeugt Der Untersuchung des Urbild-Abbild-Denkens in der byzantinischen Kultur
und seiner Bindung an die Ikonenverehrung ist deshalb ein erster Teil dieser Arbeit gewidmet,
der Untersuchung des altrussischen Urbild-Abbild-Denkens der nächste und größte Teil
Die These, mit der ich diese Untersuchung begann, lautete, daß Abbildlichkeit in Altrußland
zur Herrschaftslegitimation eingesetzt wurde Es zeigte sich jedoch bald, daß die Herrschaftslegitimation nur ein Aspekt eines ganzen durch urbild-abbildliches Denken strukturierten Weltbildes ist. welches darzustellen zwar nicht meine Hauptabsicht ist, aus dem der Herrschaftsdiskurs als wesentlicher Bestandteil aber auch nicht einfach ausgekoppelt werden kann, und das
daher begleitend, wenn auch nicht vollständig dargelegt werden soll Obwohl das UrbildAbbild-Denken seinen Ausdruck vor allem in der Ikonenverehrung und in theologischer Literatur findet, werden diese Phänomene werden von mir nur behandelt, wenn sie mit der Herrschaft und ihrer Legitimation Zusammenhängen
Da das durch Urbild und Abbild strukturierte Herrschafts- und Weltbild religiös determiniert
ist. kann es von innen heraus nicht objektiv-beschreibend dargestellt werden Eine deskriptive
Darstellung setzt eine Distanz voraus, die bei an die göttliche Legitimation ihrer Welt Glaubenden nicht vorhanden ist, da sie den Ausschluß aus der Gemeinschaft der Gläubigen bedeuten würde Das Problem von Innen- und Außenstandpunkt ist bis heute virulent und nicht adaquat reflektiert Darstellungen von innen heraus, die an einer Darlegung und Festigung des
Weltbildes interessiert sind, habe ich mit dem Begriff der "Selbstbeschreibung” belegt Statt das
in den Selbstbeschreibungen präsentierte Weltbild nachzuerzählen, kommt es mir jedoch darauf
an, die ihnen zugrunde liegende Struktur, die das Weltbild auf einer Tiefenebene prägt, herauszuarbeiten Für das hier zu untersuchende Weltbild in Altrußland bedeutet dies, daß eine ReLektüre von Texten unter dem Gesichtspunkt, wodurch welches Weltbild generiert wird,
erforderlich ist, während diese Texte gemeinhin unter rein literaturwissenschftlichem, linguistischem oder historischem Gesichtspunkt gelesen worden sind So sah z В die russische Mediävistik des 19 Jahrhunderts ihre Aufgabe im wesentlichen in der Scheidung von originaler Literatur und Fremdeinflüssen In sowjetischer Zeit änderte sich die Herangehensweise, weil die
russische Geschichte als nach den von Marx und Engels dargestellten Prinzipien funktionierend
begriffen werden mußte Außerdem führte der Zwang, die russische Geschichte als originär zu
begreifen, zur Verneinung von Einflüssen jedweder Art In der Auseinandersetzung mit der
14 Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 34f
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russischen Mediävistik des 19 Jahrhunderts stand die sowjetische Mediävistik vor dem Problem, alles positiv bewerten zu müssen, was auf die prinzipielle Eigenständigkeit und Originalität der russischen Entwicklung hinausläuft, und verneinen zu müssen, wo in der russischen
Geistesgeschichte Eigentümlichkeiten im Gegensatz zur westeuropäischen angenommen werden W o Einflüsse aus dem Westen oder aus Byzanz festgestellt werden, wurden sie als sekundär gew ertet Dies führte zu dem großen Paradox der sowjetischen Forschung, daß die Entwicklung der russischen Geschichte zwar analog zur westlichen verlaufen sein mußte, gleichzeitig jedoch originär und aus sich heraus und ohne wesentliche Einflüsse so verlaufen sein
mußte 15
Diese Deutungsschemata fuhren zu Widersprüchen in den Darstellungen, die sich nicht auflösen ließen, und die Thomas Seebohm mit folgenden Beispielen erläutert
"Wird etwa gesagt, die ,Renaissance* in Rußland sei national orientiert, sie wende sich
nicht zur klassischen Antike, sondern zur 'nationalen Antike' des Kiever Rußland, so ist
implizit ein Strukturunterschied von solcher Dimension angegeben, so daß gefragt werden muß, wie daneben, unter denselben methodischen Voraussetzungen, wenn auch von
einem anderen Autor, versichert werden kann, der russischen Renaissance fehlten gegenüber der westeuropäischen nur einige Besonderheiten unwesentlicher Art, etwa der
,Paganismus' Es liegt auf derselben Ebene, wenn einerseits versichert wird, das wachsende Interesse an patristischer Literatur sei analog zu ähnlich gerichteten Interessen der
Humanisten und Reformatoren, andererseits eben die ostkirchliche patristische Literatur
als die ideologische Schatzkammer der russischen 'Scholastik' aufgefaßt werden soll.
Wiederum ist es dann paradox, wenn an weiterer Stelle, ־was doch wohl schon aus kultursoziologischen Gründen suspekt ist -, in Häresien der Unterschichten wie dem Strigolničestvo Analoga zu Gedankengängen frühscholastischer Denker wie Abälard und
Siger von Brabant entdeckt werden Eine nicht zu übersehende Unstimmigkeit der Proportion in der Analogie ergibt sich schließlich, wenn Josif Sanin gegenüber den humanistischen Häretikern die Rolle des Scholastikers und zugleich des Gegenreformatoren
übernehmen soll Es ist schließlich ein Faktum, daß es vor Josif Sanin in Rußland keinen
Autor gab, der sich einem gründlichen Studium dogmatischer Probleme widmete und
umfangreiche dogmatische Schriften verfaßte Demgemäß folgt aus der erwähnten ana15
Ich beziehe mich hier auf die exzellente, immer noch aktuelle Analyse von Seebohm, Ratio und Charisma.
S. 25-33.
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logisierten Interpretation, daß sich die Scholastik in Rußland als Reaktion auf den
Humanismus ausbildete " l6
Neuere Arbeiten mit stärker mediävistischer oder kulturwissenschaftlicher Ausrichtung sind
in der Mehrheit von bundesrepublikanischen und angloamerikanischen Forschern geleistet
worden Hierzu kommt ein großer Teil an okkasionellen Arbeiten vor allem zur Geschichte der
Kiever Rus', die aus Anlaß des Millenniums der Taufe der Rus' 1988 erschienen sind, und die
aufgrund dieser Okkasionalität zumeist einen perpetuierenden Charakter haben 17 Zumeist werden altrussische Texte jedoch weiterhin unter linguistischem bzw historisch-philologischem
Gesichtspunkt untersucht
I
fl
Die neuere postsowjetische Forschung wirft zumeist zwei Probleme auf Zum einen wird in
der Beschäftigung mit altrussischer Kultur ein Substitut flir die weggefallene ideologische
Basis gesucht Die hieraus entstehenden Arbeiten sind deshalb bewußt von einem Innenstandpunkt aus geschrieben 19 Zum anderen fehlt teilweise schlicht die religionswissenschaftliche
Basis, das heißt, es fehlen Kenntnisse in Theologie und Kirchengeschichte und vor allem die
Kenntnis der biblischen Texte, die die Grundlage der christlichen Kultur darstellen So wurzelt
ein Großteil der Mißverständnisse bei der Erforschung der altrussischen Kultur in einer religionswissenschaftlichen
Inkompetenz,
die
sich
nicht
auf postsowjetische
Forschungen
beschränkt, sondern die auch im Westen auf eine zunehmende Säkularisierung der Kultur
zunickzufiihren ist, die selten, wie z В in der Einleitung zu Religion and Culture in Early
Modern Russia and Ukraine überhaupt realisiert wird
"Since Russia in the popular mind is often associated with fervent spirituality and deep
cultural identity, it is a paradox that religion and culture have been so selectively - some
would say even shabbily - treated in historical literature We take the word o f Slavophile
publicists and modem philosophers on the communal essence of Russian spirituality, we
get our theology from The Brothers Karamazov, we are enlightened by Tolstoi on the
16
17
Seebohm. Ratio und Charisma. S. 32
Vgl. Payer, Anja / Glaßner, Gottfried: Bibliographic der dcutschsprachigcn Literatur über das Christentum
in Rußland (und Nachfolgestaaten der UdSSR) 1986-1993, Salzburg 1996 (* Veröffentlichungen des
Internationalen Forschungszentrums fur Grundfragen der Wissenschaften Salzburg. N F., 65)
18 Dies spiegeln auch die TODRL wider, deren Autorenstamm sich zudem in den letzen dreißig Jahren nicht
signifikant geändert hat.
19 Vgl. Esaulov, Kategorija sobomosti v russkoj literature. S 12. Neben den dort angeführten Autoren sei auf
die beiden Sammclbände "Evangelskij tekst v russkoj literature”, Tom 1-2. Petrozavodsk 19*^4-1998,
verwiesen.
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cultural rift between noblemen and peasants in nineteenth-century Russia Meanwhile,
historians have not created an edifice o f scholarly knowledge comparable to that which
exists for the medieval Latin West, about the church or about premodem cultural life,
about theology and religious practice, religious dissent, social values and mores This,
despite the fact that Russia remained a nonsecular, principally religious society significantly longer than did Europe This relative neglect makes all the more striking the contemporary turn toward religion and culture in historical studies broadly conceived (not
just in the discipline o f history) [...].2°״
Diesem Hintergrund ist der methodische Ansatz dieser Arbeit geschuldet
Methodischer Ansatz
Ich untersuche im folgenden die altrussischen Texte mit den Mitteln der Intertextualitätstheorie, wie sie von Renate Lachmann fìir die Literatur der Moderne dargestellt wurde Ich gehe
mit Lachmann davon aus, daß in Texten auf andere Texte verwiesen wird, um diese in ihrer
Ganzheit aufzurufen und damit im späteren Text Sinn zu akkumulieren 21 Dies bedeutet, daß
ich im Gegensatz zur bisherigen Forschungspraxis davon ausgehe, daß die vielen Bibel- und
anderen Textzitate in mittelalterlichen Texten nicht nur einer mechanischen Textproduktionstechnik, Kompilation, oder einem Verweis auf eine höhere Autorität geschuldet sind, sondern
daß sie den Text kommentieren und ihm einen bestimmten religiösen und gesellschaftlich relevanten Sinn geben sollen Gerade das Benutzen von Bibelzitaten spielt hierbei in mittelalterlichen Texten eine besondere Rolle, weil man davon ausgehen kann, daß biblische Texte allgemein bekannt waren
Zwar gab es in Altrußland bis zum 16 Jahrhundert keine Vollbibel, doch gab es eine Reihe
von Texten, die im Jahreszyklus der Liturgie ständig wiederholt wurden, die also so präsent
waren, daß ein Verweis auf eine bestimmte Textstelle durch einige Schlüsselbegriffe den biblisehen Text in seinem Gesamtzusammenhang evozierte 22 Eine besondere Bedeutung kommt
hierbei dem altrussischen Psalter zu, der nicht nur die Psalmen, sondern auch ausgewählte Pas-
20 Baron/Kollmann. Introduction. S. 3
2 1 Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 48
22 Vgl. Lachmann. Gedächtnis und Literatur, S. 34-38. Diese Auffassung lieg( implizit auch der
Untersuchung von biblical thematic clues von Riccardo Picchio zugrunde, auf die ich in Kap. 3 näher
eingehen werde.
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sagen des Pentateuch und der Propheten, allen voran Jeremia und Jesaja, enthielt Auf eine
besondere Kenntnis des Psalter, der außerdem als Grundlage fur die Alphabetisierung diente ,23
wurde schon in Kiever Zeit Wert g ele g t 24
Diese Herangehensweise bringt es mit sich, daß die Texte als Ganze analysiert werden, so
wie sie auch rezipiert wurden. A uf textkritische Untersuchungen, die sich insbesondere mit der
Frage nach Textgenese und Autorschaft in historisch-philologischer Weise beschäftigen, wird
dagegen weitestgehend verzichtet
Während der literaturwissenschaftliche Schwerpunkt dieser Arbeit in der Analyse der den
schriftlichen Texten zugrundeliegenden urbild-abbildlichen Struktur und der Herausarbeitung
des durch sie evozierten Weltbildes liegt, auf dessen Grundlage sich die altrussischen Herrscher
legitimierten, geht sie gleichzeitig auf den Niederschlag von Struktur und Weltbild in anderen
Speichermedien der altrussischen Kultur, wie Bilder oder Architektur, ein, die als Texte der
Kultur zur Unterstützung der Untersuchung herangezogen werden Um die Wirkung auf das
kulturelle Gedächtnis zu untersuchen, wird der Textbegriff im Sinne der sowjetischen Kultursemiotik entgrenzt und der geschriebene Text als ein möglicher Mechanismus der Speicherung
kulturellen
Wissens
oder
sekundäres
modellbildendes
System
betrachtet 25
Der
literaturzentristische Ansatz wird somit in einen kulturgeschichtlichen Rahmen überfuhrt Ein
solcher Ansatz orientiert sich an den neuesten Forschungen auf dem Gebiet der Kulturgeschichte, die mit dem Begriff cultural studies einen neuen Forschungsansatz in den Literaturund historischen Wissenschaften verfolgen Den Vorteil dieses Begriffes definieren Kelly и a
folgendermaßen:
"It [...] requires that the relationship between the cultural and the political be
examined to the extent that 'politics is one o f the constitutive parts o f culture and is itself
subject to culturological analysis and justification’ 26״
Ein solcher Ansatz fragt nach ,,various sites o f cultural production [...] and numerous exampies o f cultural product [. ..] in order to establish links between aspects o f Russian society that
are not usually considered together 27״
23
24
25
Zu Alphabetisiemngspraxis und Schulwesen vgl. Seebohm, Ratio und Charisma, S. 47-66, Scheidcggcr,
Endzeit, S. 232-271.
Im Kievo-pečerskij paterik wird des öfteren darauf abgehoben, daß besonders fromme Mönche ständig den
Psalter auf den Lippen hatten Auch Vladimir Monomach berichtet davon, daß er den Psalter las
Lotman. Das Problem der "Kulturvcrmittlung", S. 839-843
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Die Emphase der Forschung geht damit weg von dem Versuch, einen einheitlichen Mechanismus zu finden und eine homogene Studie zu schreiben, die "Rußland erklärt", und hin zur
Präsentation von Einzelstudien In diesem Sinne verstehe ich meine Untersuchung des Urbild*
Abbild-Denkens und seiner Verwendung zur Herrschaftslegitimation als Studie eines Aspekts
der altrussischen Kultur, nicht - wenn dies gelegentlich auch so scheinen mag - des umfassenden Mechanismus, der sämtliche Phänomene erklärt Es geht mir nicht so sehr um die Präsentation von neuen Funden wie darum, die bereits vorhandenen Forschungsergebnisse der unterschiedlichsten Fachdisziplinen zu bundein und zu synthetisieren und die Ergebnisse der Einzelforschungen unter einer zentralen Fragestellung darzustellen Abweichend von dem in den
beiden von Kelly/Shepherd herausgegebenen Banden favorisierten Konzept, hottom-upMechanismen verschiedener zentrifugaler Subkulturen gegen die /0/>4 / 0H?j־Mechanismen der
Hochkultur auszuspielen, machen es hier Fragestellung wie auch Quellenlage nötig, sich v a.
auf die Produkte der herrschenden Kultur zu konzentrieren Doch zeigen die synkretistischen
Elemente im Skazanie о Borise i Glebe, die Reaktionen auf den M ongolensturm in den Viten
des Michail von Čemigov und des Aleksandr Nevskij, der als Antwort au f die Häresie der
"Novgoroder Judaisierenden" konzipierte Prosvetitel\ ebenso wie der Briefwechsel Ivans IV.
mit Kurbskij und sein Antiverhalten in der Opričnina, wie sich die herrschende Kultur in der
Reaktion au f einheimische oder fremde counterculture definiert und welche Rolle hier der
Mechanismus von Urbild und Abbild spielt.2*
Die grundlegende Frage, die mich bei meiner Untersuchung beschäftigt, ist: Wie legitimiert
sich eine Kultur *7 Die grundlegende These ist, daß in der Herrschaftslegitimation durch Urbild
und Abbild ein bestimmtes Selbstbild der russischen Kultur generiert wird und sie versucht,
sich nach diesem Bilde zu verhalten Urbild und Abbild wird hierbei als em Mechanismus verstanden, der die russische Kultur determiniert, nicht als der Mechanismus, der der Kultur
zugrundeliegt 29
Die hier vorgenommene Bundelung von Ergebnissen der Einzeldisziplinen von slavischer
Philologie und Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Theologie resp
Kirchengeschichte,
historischen Wissenschaften, Byzantinistik u.a kann nicht ohne Folgen flir diese Disziplinen
bleiben Sie wird u.a. zeigen, wo mit der Kultur nicht adäquaten Fragestellungen und Untersu
26
27
28
29
Kelly u.a.. Introduction: Why Cultural Studies?, S. 12f
Kelly/Shepherd, Introduction Literature, History, Culture. S. 4
Vgl Kelly u.a.. Introduction: Why Cultural Studies?, S. I2ff
Vgl. zur Kritik an den bisherigen Tendenzen, die russische Kultur immer auf eine Formel zurückfuhren
zu wollen, Kelly u.a., Introduction: Why Cultural Studies?, S. 2*5.
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chungsmethoden gearbeitet wurde In einigen Fallen sind Mißverständnisse in der bisherigen
Forschung einfach darauf zunickzufuhren, daß irgendwann die Quellentexte nicht mehr im
Ganzen, sondern aus dem Zusammenhang gerissen zitiert wurden Häufig findet sich auch die
Praxis, auf Quellenzitate überhaupt zu verzichten und lediglich zu übersetzen, zu paraphrasieren oder auf Texte zu verweisen Ein Nachlesen ergibt dann häufig, daß etwas anderes im
Quellentext steht, als in der Sekundärliteratur gemeinhin dargestellt wird Gegen diese Praxis
setzt die vorliegende Arbeit die extensiven Textbelege in der Originalsprache
Die Untersuchung der russischen Kultur gründet sich auf die allgemein anerkannte Periodisierung der altrussischen Geschichte und untersucht die Kiever Rus', die Mongolenzeit und die
Moskoviter Rus\ verstanden als historisch begründete kulturelle Formationen auf einem vom
jeweiligen Zentrum dominierten Territorium Des weiteren werden gängige Dualismen wie die
Trennung von Kirche und Staat vorerst beibehalten, obwohl sich heraussteilen wird, daß sie in
ihrer Zeit als Synthese gedacht wurden Diese Oppositionierung gilt der besseren Veranschaulichung der kulturellen Prozesse und wird zum Ende der Untersuchung hin aufgehoben werden
Außerdem wird zwar die Linie Kiev - Moskau in der Untersuchung beibehalten, es wird sich
jedoch zeigen, daß die gängige Vorstellung von der zentralistischen Moskauer Autokratie als
Erbin eines Staates mit Kiev als Zentrum so nicht aufrechterhalten werden kann ־° Paradigmatisch für die Herrschaft der Moskoviter Rus' wird abschließend Ivan IV Groznyj untersucht
werden Er stellt als erster russischer Zar gleichsam eine Kulmination des altrussischen Herrschaftsbildes dar In seine Zeit fällt außerdem der Versuch einer allgemeinen Synthese des
Weltbildes, das danach in Smuta und Raskol im 17 Jahrhundert erschüttert w ird 31
Um den Kreis zu schließen und zum anfangs Gesagten zurückzukommen: Es wird im folgenden gezeigt werden, daß Urbild und Abbild ftir eine bestimmte Strategie steht, die der altrussischen Kultur dazu dient, die historische Zeit des Zeitstrahls in die zyklische Zeit des
Mythos und damit der Anteilnahme am Heil zurückzuflihren und voranzubringen Das Fehlen
einer konkreten Metasprache bringt es mit sich, daß der Ausdruck ׳,Urbild und Abbild" als
Neutrum Singular bisweilen etwas unbeholfen im Text stehen wird Urbild und Abbild selbst ist
schon eine Synekdoche für eine Denkstruktur, die nie explizit formuliert wurde, sondern als
Gedankenkonstrukt der antiken Philosophie in die christliche Theologie eingedrungen ist und
zur Ontologisierung der Welt im christlichen Sinne benutzt wurde.
30
31
Wie Edward L. Kccnan bereits 1984 deutlich gemacht hat, vgl Keenan, On Some Mythical Beliefs, S. 32f.
Vgl. hierzu Schcidegger, Endzeit. S. 27-39
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Herrschaft und Legitimation in West und Ost
Für jede Herrschafts ־oder Staatsform erhebt sich das Problem ihrer Legitim ität 32 Im Gegensatz zur Legalität, die Übereinstimmung von Handeln und gesetztem Recht bedeutet, ist Legitimation die Rechtfertigung der staatlichen Machtentfaltung durch allgemeinverbindliche Prinzipien und drückt letzte Verbindlichkeitsgründe staatlicher Herrschaft a u s 33 Zum Nachweis der
Legitimität bedarf es eines Grundes, der außerhalb der Faktizität des Legitimationsobjektes
liegt .34 Diese Gründe liegen in der europäischen Tradition vornehmlich in Anforderungen von
Religion, Moral, Recht oder Vernunft 35 Das Bedürfnis der Legitimation ergibt sich aus dem
Spannungsverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten Den Gewaltunterworfenen
dient die Legitimität der Herrschaft zur Steigerung ihres Vertrauens in die Herrschaftsform,
den Gewaltausübenden dient sie zur Stabilisierung der Herrschaft sform Legitimation wird zum
vertrauensschaffenden Akt zwischen Herrschenden und Beherrschten Der Legitimationsglaube
des Volkes ist deshalb die wichtigste Grundlage für den dauernden Bestand staatlicher Ordnung, so daß jeder Staat sich gezwungen sieht, seine Legitimitätsgrundlage in der öffentlichen
Meinung zur Anerkennung zu bringen 36 Die Rechtfertigungsgründe wechseln dabei mit dem
historischen und sozialen Kontext, wobei bis ins Spätmittelalter hinein religiöse Gründe vorwiegen, diese jedoch in der Neuzeit zunehmend durch das Prinzip der ,,Volkssouveränität״
abgelöst wurden 37
Die religiöse Legitimation wird durch den Begriff der Politischen Theologie charakterisiert,
der es um die Beziehungen zwischen politischer Gemeinschaft und religiöser Ordnung, zwisehen ,,Herrschaft und Heil" g e h t 38
"Politische Theologie entsteht dort, wo solche Probleme in Formen verhandelt werden, die die Götter bzw Gott einbeziehen Dabei lassen sich zwei Aspekte Politischer
Theologie unterscheiden Die eine fragt nach den theologischen Implikationen des Politisehen [...], die andere nach den politischen Implikationen des Theologischen Zur Politi*
sehen Theologie gehören also sowohl Diskurse über Herrschaft und/oder Gemeinschaft,
32
33
34
35
36
37
38
Iscnsce. Legitimität. Sp 746
Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, S. 677
Isensec. Legitimität. Sp 746
Iscnsce. Legitimität. Sp. 747
Gcschichtlichc Grundbegriffe. Bd. 3, S. 678
Isensce. Legitimität. Sp. 747
Zur Geschichte der Politischen Theologie s. Assmann. Herrschaft und Heil. S. 15-31.
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die nicht ohne (explizite oder implizite) Bezugnahmen auf G ott oder die G ötter auskommen, als auch Diskurse über Gott oder die Götter, die die Sphäre der vertikalen bzw
horizontalen Strukturen der Menschenwelt einbeziehen "39
Die Indienstnahme einer bestimmten Politischen Theologie zur Herrschaftslegitimation setzt
in dem Moment ein, in dem Staatswesen und göttliche Weltordnung voneinander getrennt
w erden 40 Die Christianisierung der Römischen Reiches markiert den Beginn einer explizit
christlichen Politischen Theologie, die die Dissoziation von Herrschaft und Heil in der Spätantike wieder aufzuheben trachtet In Anlehnung an den römischen Kaiser erhält der byzantini•
sehe Kaiser kirchliche Weihen,41 legitimierte sich jedoch vorrangig durch die Krönung durch
den Vorgänger und durch die Akklamation von Soldaten, Senatoren und Volk im Hippo־
d ro m 42 Die im Westen im Mittelalter vorherrschende Art der Legitimation war das Gottesgna•
dentum Die Formel *Dei gratia" rekurriert auf eine göttliche Einsetzung einer Amtsgewalt
und wurde ursprünglich von den ökumenischen Konzilien benutzt, um ihre Unabhängigkeit
vom Herrscher zu demonstrieren Während die frühen fränkischen Herrscher (Merowinger)
sich durch Charisma legitimierten, hielt sich bei den Germanen das Königsheil, das durch göttliehe Ahnen garantiert wurde Pippin der Jüngere war der erste Frankenkönig, der die Formel
"Dei gratia" anwandte und sich diese durch den Papst sanktionieren ließ Hinzu kam die geistliehe Salbung als herrschaftslegitimierender Akt, der bis zur Mittel des 12 Jahrhunderts außerdem die W ürde des Diakons vermittelte Das Gottesgnadentum bewirkte, daß der Herrscher
mit besonderen Vorzügen und Eigenschaften (virtus) ausgestattet war, zeigte sich durch seine
Siege in der Schlacht und in der Demut, mit der er sich in die bestehende W eltordnung
einfugte<נ
39
40
41
42
43
Assmann. Herrschaft und Heil. S 15f.
Zur Entstehung der Politischen Theologie aus der Trennung zwischen weltlicher Herrschaft und Religion
im alten Ägypten und Israel vgl. Assmann. Herrschaft und Heil Zu antiken Formen des
SakralherTschertums vgl. Gundlach, Rolf: Der Sakral Herrscher als historisches und phänomenologisches
Problem, in: Gundlach. Rolf / Weber, Hermann (Hrsg.): Legitimation und Funktion des Herrschers Vom
ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator (*= Schriften der Mainzer Philosophischen
Fakultätsgesellschaft; 13), S. 1-22.
Vgl. Pnnzing. Günter: Das byzantinische Kaisertum im Umbruch Zwischen regionaler Aufspaltung und
erneuter Zentrierung tn den Jahren 1204-1282, in: Gundlach. Rolf / Weber. Hermann (Hrsg.):
Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator (*
Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft, 13), S. 129-184.
Lilie. Byzanz, S. 10-21
SchJinker/Willowát. Gottesgnadentum. Sp. 917Г Vgl. zum Sakralkönigtum bei den deutschen Kaisern
auch: Weinfurier. Stefan: Idee und Funktion des Sakralkönigtums bei den octonischen und salischen
Henschem (10. und 11. Jahrhundert), in: Gundlach. Rolf / Weber, Hermann (Hrsg.): Legitimation und
Funktion des Herrschers Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator ( - Schriften der Mainzer
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Die Bezeichnung des Moskauer Großfürsten Vasilij I als Herrscher von Gottes Gnaden
1396, hoz'ju miiost'ju , eine Formel, die später fester Bestandteil des Titulars der Großfürsten
und Zaren wurde, stammt nicht von diesem fränkischen Modell, sondern gehört zu den mongolischen Einflüssen auf den Moskoviter Staatsaufbau Die Mongolen wiederum übernahmen
die Legitimation über das "Mandat des Himmels", so der eigentliche Ausdruck, von den chinesischen Kaisern der Jin-Dynastie (11 15-1234)44
Die gängigste Variante der Legitimation ist die über die Genealogie Die Merowinger
bezeichneten sich z.B nach dem Zeugnis der Fredegar-Chronik aus dem 7 Jahrhundert als
Abkömmlinge eines mythischen M eerungeheuers 45 Die Karolinger legitimierten sich sowohl
durch das Gottesgnadentum als auch durch die "Ansippung" an das Geschlecht der Merowinger, indem den Söhnen HmerowingischeH Namen gegeben wurden Karl der Große firmiert in
der mittelalterlichen Dynastiengeschichte als "überhaupt der Spitzenahn schlechthin n46 ln
zahlreichen fiktiven Genealogien werden die Herrscher als von mythischen antiken Helden
abstammend charakterisiert, wobei die Abstammung von Trojanern sehr häufig is t 47 Eine
christliche oder biblische Abstammung war nicht zwingend notwendig. Zwar wurden Noah
oder Adam als Urahnen angegeben, doch wurde die entscheidende Position durch einen
"Zwischenahn ״gehalten, der in der Folgezeit verchristlicht wurde 4* Auch die Wahl der
Schutzpatrone und Reichsheilige ist auf den Wunsch nach himmlischem Schutz für die Dyna•
stie zuriickzufuhren 49
Die imperiale Gewalt wurde im Westen durch den Rückgriff auf Rom und die Antike legitim ie rt 50 Diese Art macht sich auch in der Darstellung der Reichsregalien bemerkbar Die
Typologie der Reichskronen wird von Hermann Fillitz auf drei Typen zurückgeflihrt: 1) die
Krone als literarische Konstruktion, die nur schriftlich überliefert ist, 2) Kronen als Bekränzungen, wie sie in der Antike überliefert wurden, 3) reale Kronen, die aus antiker Tradition
stammten und denen bei der Verwendung als Insignien ein aktueller Symbolgehalt gegeben
44
45
46
47
48
49
50
Philosophischen Fakultàtsgcscllschafì; 13), S. 99-128; Weber. Hermann: Sakralkönigtum und
Herrscherlegitimaüon unter Heinrich IV., e b d , S. 233-258.
Ostrowski, Muscovy and lhe Mongols. S. 95ff.; vgl. das Schema auf S. 105.
Angcnendt, Der eine Adam, S. 42
Angenendt, Der eine Adam, S. 43
Angenendt. Der eine Adam, S. 42ff.
Angenendt. Der eine Adam. S. 45
Vgl. hierzu Angenedt. Heilige und Reliquien, S. 126f.
Dies ist auch in einer Genealogie Ivans IV gegeben, vgl. Hecker, Dynastische Abstammungslegende und
Gcschichtsmythos. S. 126: genealogische Abstammungslegenden gab cs in Rußland dann erst wieder im
18. Jahrhunden.
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wurde 51 Herrschaftslegitimation hatte nicht nur mit Realia zu tun Die Normannen in England
legitimierten ihre Herrschaft zwar genealogisch als Abstammung von Caesars (Adoptiv-)Sohn
Brutus, doch wurde diese Legende in ein neues Genre des Artusromans eingeschrieben, das
sich von der kontinentalen Artusepik wesentlich unterscheidet 52
In der Fruhrenaissance änderten sich die Verfahren Die Legitimation ging auf höfische
Festspiele 53 über oder wurde über Sprachursprungstheorien 54 abgehandelt Mit zunehmender
Säkularisierung verlor das Gottesgnadentum des Herrschers, auf das sich v a 'die deutschen
Herrscher noch ausschließlich beriefen, seine Potenz zur Herrschaftsbegründung
Im Westen läßt sich eine generelle Tendenz zur Legitimation über Genealogie, Gottesgnadentum und im Imperiumsgedanken in der Nähe zu Rom und der griechischen Antike festhalten Der Rückgriff auf die Antike kommt in Altrußland nicht zustande, weil die Überlieferung
nie so populär war wie im Westen (z.B. die Alexanderepik) Die genealogische Legitimation
beschränkt sich gemeinhin auf Vater und Großvater und ist damit eher einem regionalen
Ahnenkult als einer antiken Vergangenheit verpflichtet. Kronungszeremoniell und Reichsregalien entwickelten sich vergleichsweise spat, im 14.-16. Jahrhundert, zusammen mit ihren
Legenden Das Gottesgnadentum des Königs ist ein Konstrukt des Westens, das aufgrund von
Usurpation des Thrones gefunden werden mußte In Rußland findet Usurpation erst am Ende
des 16 Jahrhunderts statt; die Rjurikiden hatten ihre Herrschaft durch fiktive Verwandtschaftsbande und die Ruckfuhrung auf die Ahnherren Rjurik und Vladimir Svjatoslavič gefestigt Usurpation fand im ausgehenden russischen Mittelalter durch samozvamtvo , das Ausrufen als verloren geglaubter, rechtmäßiger Zarensohn s ta tt 55
Im Rahmen dieser Arbeit geht es darum zu belegen, daß Abbildlichkeit zu den Legitimation•
Strategien der altrussischen Herrscher gehörte, ohne daß im Einzelnen auf parallel dazu existie-
rende Strategien wie die Legitimation über Pokrov oder den heiligen Georg den Drachentöter ,56 imperiale Legenden und genealogische Konstrukte oder auf Legenden zu Regalien wie
51
52
53
54
55
Fillitz. Kaisertum. Papsttum und Politik in der Kunst. S. 139
Busse. Brutus in Albion. S. 207
Vgl. Guthmullcr, Bodo: Herrscliaftslegitiinanon im höfischen Festspiel der italienischen Renaissance. ווו
Wunderli. Pctcr (Hrsg.): Herkunft und Ursprung Historische und mythische Formen der Legitimation.
Stgmaringcn 1994. Seiten 225-239
Vgl Wunderli. Peter: Sprachursprungstheoncn in der Romania, in: Wunderli. Peter (Hrsg.): Herkunft und
Ursprung Historische und mythische Formen der Legitimation. Sigmanngcn 1994, Seiten 179-205
Vgl hierzu Uspcnskij. Semiotik der Geschichte; sowie Wöll. Alexander Doppelgänger Steinmonumcnt.
Spiegcischnft und Usurpation in der russischen Literatur. Frankfurt/M., Berlin, Bem. Bruxelles. New
York. Wien 1999. (» Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen, herausgegeben von Wolf Schmid.
1<ל.
56
Vgl hierzu Pljuchanova. Manja B.: Sjužctv i simvolv Moskovskogo carstva. Sankt-Peterburg 1995,
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der Sapka Monomacha oder der Novgoroder Weißen Mitra näher eingegangen wird Legitimation ist eine Notwendigkeit eines Herrschaftswesens, die Legitimationsstrategien sind jedoch
diskursabhängig und können sich deshalb ändern, bzw tatsächlich parellel gebraucht werden,
ohne daß dies etw as in der Legitimität der Herrschaft ändern würde. Wichtig ist allein, daß sich
die Strategien als glaubwürdig erweisen
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Urbild und Abbild
Der Ausdruck ,*Urbild und Abbild" ruft bei denen, die sich damit beschäftigt haben, unweigerlieh die Theorie der Ikone hervor. Es ist allgemeiner Konsens, daß sich diese Theorie aus der
platonischen Ideenlehre herleitet, die in der Spätantike eine neuplatonische und christliche
Umprägung erhalten hat, bis sie schließlich im 9. Jahrhundert zum Dogma der Orthodoxen
Kirche erhoben wurde. Eine genaue Nachzeichnung dieser ideengeschichtlichen Entwicklung
würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich werde mich deshalb weitestgehend au f Überblicksdarstellungen beziehen und, wo nötig, zentrale Texte genauer untersuchen.
Es sollen hier im wesentlichen vier Epochen oder Gegenstände untersucht werden Zum
einen ist dies Platos Ideenlehre; des weiteren die ״Popularisierung" der Ideenlehre in der neuplatonischen Philosophie sowie ihre christliche Umformung in der Hierarchienlehre des Dionysios Areopagita In einem für die Fragestellung nach Urbild und Abbild zentralen und letzten
Teil dieses Kapitels wird auf die Funktion der Bilder in der Lehre des Johannes Damascenos
eingegangen und die von ihm beschriebene Wirkungsweise der Bilder aufgezeigt
Die übergreifende Fragestellung, unter der die unterschiedlichen Lehren untersucht werden
sollen, lautet: Was ist ein Urbild, wie ist sein Verhältnis zum Abbild, und warum ist es so
wichtig, daß es ein Abbild des Urbildes gibt, bzw. im Falle der Ikone, daß es hergestellt und
verehrt wird? Daß es hier nicht nur um die Ikonentheorie geht, wird schon durch den Einbezug
Platos deutlich, der die Ikone noch nicht kannte Da Urbild und Abbild zumeist im Kontext der
Ikone behandelt werden, ist es unumgänglich, daß immer auch die Ikone, die hier einen Son*
derfall des Bildes darstellt, im Auge behalten wird, so daß die Definition von Urbild und
Abbild, die am Ende dieses Kapitels gegeben wird, auch auf die Ikone zutrifft
An Überblicksdarstellungen stand mir nur Moše Barai»’ Buch Icon. Studies in the History o f
an Idea zur Verfügung .1 Unter der zentralen Fragestellung "Wie kann das Heilige im Bild
dargestellt werden?" behandelt Baraš auch Urbild und Abbild als Aspekt der Theoriegeschichte
der Ikone, in deren Rahmen er jeden Bildertheoretiker von Plato bis zu Theodoros Studites,
dem Ikonodulen und Klosterreformer des 9 Jahrhunderts in Konstantinopel, einzeln behandelt
und ihre Argumente, wie man das Heilige im Bild darstellen kann, herausarbeitet Unter ästhetischem Gesichtspunkt behandelt Baraš fast alle Autoren noch einmal in seinem Buch Theories
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Baraš. Moše: Icon. Studies in the History of an Idea, Neu ׳York - London 1992
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o f Art. From Plato to Winckelmann * in dem er auf ästhetische Positionen zum Bild und zur
Kunst eingeht Zu Dionysios Areopagita sei auf die Studien von Koch 3 und Stiglmayr4 verwiesen, die immer noch Standardwerke sind, sowie auf die Studie von Bernhard Brons ”Gott und
die Seienden Untersuchungen zum Verhältnis von neuplatonischer Metaphysik und christlicher
Tradition bei Dionysius Areopagita "5 Diese drei Arbeiten zeigen die Verbindungen der Texte
des Dionysios Areopagita zur neuplatonischen Philosophie auf und behandeln deren Einfluß
au f die christliche Theologie
Die Bilderlehre des Johannes Damascenos kann nur vor dem Hintergrund des Bilderstreits
gesehen w erden .6 A uf den Bilderstreit selbst werde ich jedoch nur so weit eingehen, wie es
notwendig ist, um darzustellen, wie Johannes Damascenos Urbild und Abbild gebraucht Im
Zusammenhang mit der Bilderlehre des Johannes Damascenos ist eine Ausweitung der Diskus•
sion auf den Bereich der biblischen Typologie unumgänglich Die Grundlage fur die Erarbeitung der biblischen Typologie in der Kunstgeschichte hat Andre Grabar in einer Analyse der
2
3
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Baraś. Mość: Theories of Art From Plato to Winckclmann, New York - London 1985
Koch. Hugo Pseudo-Dionysius Areopagita in seinen Beziehungen /.um Ncuplatonismus und
Mysterienwesen. Eine literarhistorische Untersuchung. Main/ 1900 (s Forschungen zur christlichen
Literatur* und Dogmcngcschichte. 1)
Stiglmayr. Josef: Das Aufkommen der Pseudo-Dion) sischen Schnftcn und ihr Eindringen in die
christliche Literatur bis /um Laterankon /11 649 Ein /weiter Beitrag /иг Dionysios-Fragc, Feldkirch 1895
Brons. Bernhard: Gott und die Seienden. Untersuchungen zum Verhältnis von ncuplatonischer
Metaphysik und christlicher Tradition bei Dionysius Areopagita. Göttingen 1976 (* Forschungen /иг
Kirchen* und Dogmengeschichte. 28)
Zu Bildcrvcrchrung und Bilderstreit s. Belting. Hans: Bild und Kult Eine Geschichte des Bildes vor dem
Zeitalter der Kunst. Leipzig 1990: Brcdckamp. Horst Kunst als Medium sozialer Konflikte Bilderkämpfe
/wischen 300 und 1430, Marburg an der Lahn 1975; Brycr, A. / Herrin. J (Hrsg.): Iconoclasti! Papers
Given at the Ninth Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham. March 1975,
Birmingham 1977. Campenhausen. Hans von: Die Bildcrfragc als theologisches Problem der alten Kirche,
in: Schöne. Wolfgang (Hrsg. u.a.) Das Gottesbild im Abendland. Witten ־Berlin 1957 (= Glaube und
Forschung: 13). Seiten 77-108; Döpmann, Hans-Dieter Die Ostkirchen vom Bildcrstrcit bis /иг
Kirchenspaltung von 1053. Leipzig 1990 (= Kirchengcschichtc in Einzeldarstellungen, 1.8). Grabar.
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So/ialökonomischc Voraussetzungen * ideologische Grundlagen geschichtliche Wirkung. Leipzig 1980. Kollwitz. Johannes Zur Frühgeschichte der Bildcrvcrchrung. in:
Schöne. Wolfgang (Hrsg u.a.): Das Gottesbild im Abendland. Witten - Berlin 1957 (= Glaube und
Forschung. 13). Seiten 57-76, Ostrogorsky. Georg Studien zur Geschichte des byzantinischen
Bilderstreites. (1Breslau 1928) Amsterdam 1964 (= Historische Untersuchungen; 5); Soldat. Cornelia: Die
Entstehung des Bilderstreites Eine scmiotischc Annäherung, in Studi sull'Oncnte Christiano. 3,1 (1999).
Seiten 179-194. Thummcl. Hans Georg: Bildcrlchre und Bilderstreit Arbeiten /иг Auseinandersetzung
über die Ikone und ihre Begründung vornehmlich im 8 und 9 Jahrhundert, Wurzburg 1991 (x Das
östliche Christentum: 40). Živov. V M. Vlijanic i sistema kul'tury Problema tradicii v ikonoborčeskich
sporach, in Isakov. S G (Hrsg ): Finitis duodecim lustris Sbomik statej к 60-lctiju Prof Ju M Lotmana.
Tallinn 1982. Seiten 66-69 Zur Aufnahme der Bildcrfragc in der katholischen Theologie und ihre
Auswirkungen bis in die Gegenwart vgl Stock. Alex (Hrsg.) Wo/и Bilder 1111 Christentum? Beiträge zur
theologischen Kunstthconc. St Ottilien 1990. sowie Mansi. J D (Hrsg.): Sacrorum conciliorum nova et
amplissima collectio XIII. (!Florenz 1757) Graz I960
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frühchristlichen Ikonographie geschaffen 7 Unter Berufung au f Gerhard Podskalskys Studien
zur theologischen Literatur der Kiever Rus',* worunter er die beiden großen Genres der
altrussischen Literatur, d.h. Hagiographie und Chronikliteratur versteht, soll in diesem Exkurs
gezeigt werden, wie Urbild und Abbild in der Literatur der Kiever Rus' aufiaucht und als
strukturierendes Merkmal funktioniert
Die zwei Weiten: Plato
Für Plato ist Philosophie generell ein Streben nach Weisheit 9 Dem ״Ich weiß, daß ich nichts
weiß" des Sokrates setzt er die Lehre entgegen, daß in den ewigen Ideen ein Maß des Denkens
und Handelns gesetzt ist, das man denkend und ahnend erfassen kann Erkenntnis kann nur
über das philosophische Eros, das heißt den Trieb, über das Sinnliche zum Geistigen fortzuschreiten, erfolgen 10 Sie erfolgt über vier Stufen: 1) indirekte sinnliche Wahrnehmung, 2)
direkte sinnliche Wahrnehmung, 3) Wissenschaft, 4) philosophische Erkenntnis, die zu den
Ideen vordringt .11
Distinktiv für Platos Ansicht des Kosmos ist seine Unterteilung in eine unsichtbare, auch
"geistige”, "intelligible״, "nicht wahrnehmbare ״Welt genannt, und eine sichtbare Welt, deren
erste ungeschaffen und zweite geschaffen ist.12 Der Demiurg, den Plato in Timaios 29E
beschreibt, war gut und wollte bei der Schöpfung auch dem Geschaffenen das G ute zukommen
lassen Er blickte daher bei der Schöpfung auf die ewigen Urbilder in der ungeschaffenen,
unsichtbaren Ideenwelt und bildete die Welt ihnen nach 13 In seiner geordneten Seinsweise
Grabar, Andrć: Christian Iconography. A Study of its Origins. Princeton, N i 1968 (3 Bollingen Series
XXXV, 10)
8
Podskalsky, Gerhard: Christentum und theologische Literatur in der Kiever Rus' (988-1237). München
1982
9
Helfcnch, Gcschichtc der Philosophie, S. 21
10 Störig. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. S. 161
11 Helfcnch. Gcschichtc der Philosophie, S. 2 If.
12 Merlan, From Platonism to Neoplatonism, S. 191 f , vgl. Helfench, Geschichte der Philosophic, S. 23, der
dies als nur eine Möglichkeit, Plato zu interpretieren, beschreibt, Störig. Kleine Weltgeschichte der
Philosophie. S. 164.
13 Natorp. Platos Ideenlehre, S. 357; nach Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophic, S. 164, nimmt
Plato die Existenz einer Wcltsccle oder Gottheit erst in seinen Alterswerken als etwas zwischen den
Welten Vermittelndes an. Barai, Theories of Art. S. 7, sieht in diesem Prozeß die Arbeit eines Künstlers
beschrieben "By imitating the world of Ideas the divine artist fashions the real world "
7
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stützt sich der Kosmos so auf das gleiche ordnende Prinzip wie die Ideenwelt Dieses ordnende
Prinzip ist das ewige Gute, das in den Ideen enthalten i s t 14
Das Höhlengleichnis in Politela 514A-518DE verschaulicht das Bild, das Plato vom
menschlichen Leben und vom Aufstieg des Menschen zur Erkenntnis des höchsten ordnenden
Prinzips des Kosmos und der Ideenwelt entwirft Die Essenz dieses Gleichnisses besteht darin,
daß die Menschen unter Schmerzen dazu gezwungen werden müssen, die Ideen als die eigentliehe Wirklichkeit zu erkennen und zu begreifen, daß die wahrnehmbare Welt nur als Schatten
von Abbildern existiert, also nicht wahr ist Die Ideen befinden sich in der Sphäre des Lichtes,
zu der man aufsteigen muß
Plato bedient sich bestimmter Definitionen, um auszudrücken, was Ideen eigentlich sind,
meint aber, daß die Sprache zum Ausdruck der Ideen nicht ausreiche 15 Dementsprechend
zufällig sind seine Definitionen .16 Ideen sind nach Plato die Einheit eines Begriffsinhaltes,17 ein
fester Richtpunkt des Denkens, ein Musterbild, welches dasteht in dem, was ist, das Göttliche,
das W ahre ,18 sie sind das Reine, Gute, Schöne in dem, was i s t 19 Eine Idee ist rein, schlechthin
unwandelbar ,20 sie ist das ewige Urbild der geschaffenen W elt.21
In der geschaffenen, sichtbaren Welt sieht ein Mensch nur die Schatten oder Spiegelbilder
der Urbilder, nicht aber sie selbst .22 Wird er zu ihnen geführt und durch die Anschauung des
Schönen zur Erkenntnis vorbereitet, die er dann selbst durch dialektisches Denken erreichen
kann, so erkennt er das Wahre, Gute und Ewig Seiende 23 So auch Politela 517BC
14
Natorp. Plaios Idccnlchrc. S 198Г Das Gute ist das letzte Gesetz, das letzte logische und ethische Pnn/ip
reinen Seins und Erkcnncns. somit das letzte Pnn/jp des Seins der Ideen und Grund dafür, daß sic in der
Well sind
15 Später wird Dionysios Areopagita dies als apophatischc Theologie bezeichnen, und cs wird grundlegend in
die Theologie der Ostkirclie aufgenommen S. Lossky, Die mystische Theologie. S. 32ÍT., vgl den Artikel
"Apophatik" im LThK. Spalte 847; Hochschaffl, Josef Negative Theologie Ein Versuch zu Vermittlung
des patristischen Begriffs. München 1976, bes. S. 120-155 Zur Apophalik in der posimodernen
Sprachphilosophie s. Demda. Jacques: Wie nicht sprechen Verneinungen, hrsg. von Peter Engelmann.
Wien 1989 (« Edition Passagen; 29).
16 Helferich. Gcschichtc der Philosophie. S 22. Ich beziehe mich in meiner Darstellung auf die diachronc
Analyse von Platos SchriAcn in Natorp. Platos Ideenlehre. und gebe die Definitionen der Reihe nach, d.h
chronologisch wieder, ohne auf die einzelnen Texte Platos cinzugchen
17 Natorp. Platos Idccnlchrc. S. 3
18 Natorp. Platos Idccnlchrc. S. 100
19 Natorp, Platos Idccnlchrc. S. 129
20 Natorp. Platos Idccnlchrc. S. 187
21 Natorp. Platos Idccnlchrc. S. 366
22 B arai Icon. S. 27f; vgl BaraS. Theories of Art. S. 4f : die cmpinschc Realität 1st fur Plato nur
Annäherung an die absolute Existenz, d.h. die Ideen
23 Stöng. Kleine Wcltgcschichtc der Philosophie. S. 162
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"T a ô* obv èfioi (раіѵбцсѵа о&тш <ра(ѵета1 , èv тф уѵ׳ч ^ т ф xeX cvraía fļ тоѵ
åy aØ o u tó ć a x a i Łióyię браоѲ аі, бфѲеіоа ôè аѵХХоуіитёа eiv a i cbç й р а л а с а
návTCűv a tr n ļ òpCKõv тс х а і х а Хб>ѵ a h í a , ív тс б р а т ф (pœç x a ì tò v to v t o u xúpiov
т с х о й о а , ív тс ѵот!тф aOrfļ x u p ía <5Лг!Ѳс1аѵ x a i voûv лараохоц ёѵ т!, x a t ö ti ôet
Tavm ļv lóclv tò v ^іёХХоѵта è^cppóvíoç лр<і£е 1ѵ f\ lò ia 0 ףт1 цоа£д."
"Was ich wenigstens sehe, das sehe ich so. daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe
die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sic aber erblickt hat. sie auch gleich dafür anerkannt wird,
daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist. im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von
der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sic allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft
hervorbringend, und daß also diese sehen muß. wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder
in öfTenüichen Angelegenheiten ."24
Die Erkenntnis der Urbilder fuhrt zu der Erkenntnis, daß sie die Ursache des Guten und
Schönen in der sichtbaren Welt sind Dies ist die Voraussetzung für vernünftiges Handeln.
ln Politela 514BC wird daraufhingewiesen, daß die eigentlichen Dinge in der unsichtbaren
Welt erst im Schein des Lichtes Gestalt annehmen Das Licht, das vom letzten Guten als sein
Analogon ausgeht, ist die Voraussetzung dafür, daß das Objekt vom Subjekt gesehen wird und
die wahre Welt erkannt wird 25
Ontologisch gesehen ist die Ideenwelt für Plato die wahre Welt. Dies zeigt sich in der
Annahme, daß im Staate nur vernünftig handeln kann, wer die Ideen geschaut hat. Die Ideen
sind Formen. Gattungen oder Allgemeinheiten des Seins, die in der geistigen Welt als ewige
Urbilder der einzelnen geschaffenen Dinge existieren. Dem Hinaufsteigen und Ansehen der
Dinge im Höhlengleichnis entspricht der Aufschwung der Seele in die Welt der Ideen im Laufe
der philosophischen Erkenntnis. Diese sieht die eigentliche Wirklichkeit, die Urbilder, deren
Abbilder oder Erscheinungen die Naturdinge sind 26 Das Verhältnis der Urbildern zu den
Abbildern liegt in der Teilhabe der letzteren an den ersteren 27
Plato ging es in Politela um die Voraussetzung für den idealen Staat, die er nicht in der
Erkenntnis der Welt, sondern allein in der Erkenntnis der Ideenwelt sah Sein idealer Staatsmann ist der Philosoph, der zur Erkenntnis der Wirklichkeit aufgestiegen ist, die Wahrheit
erkannt hat und deshalb weise handeln kann. Das Licht ist gleichzeitig Mittel der Erkenntnis
24
25
26
27
Ich zitiere Text und Übersetzung nach Plato: Werke in 8 Bänden; Bd. 4, griechisch und deutsch, hrsg. von
Günther Eigler, Darmstadt 1990.
Natorp. Platos Idcenlehre, S. 190+198
Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie. S. 163
Helferich. Geschichte der Philosophie. S. 23; vgl. Barai. Icon. S. 7f.
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der Dinge in der geschaffenen Welt und der Ideen in der ungeschaffenen Welt, wie auch Ziel
der Erkenntnis, die Idee des ewig Guten Der Kosmos ist nach dem Vorbild der Ideenwelt
geschaffen und hat dadurch Anteil an der Ideenwelt, die als die wahrhaftige angesehen wird
Der Mensch als nach Erkenntnis strebendes Wesen 28 steigt nun umgekehrt über Erkenntnis der
geschaffenen Dinge zu den Urbildern auf und erkennt sie in ihrem wahrhaften Sein
Platos ״wahre" Ideenwelt ist jedoch in gewisser Weise ohne den Philosophen als Führer unerreichbar, er führte nicht aus, wie die Ideen in den Abbildern enthalten sind und wie man die
Trennung der Welten aufheben kann, um zu den Ideen zu gelangen Da es ihm um die Weisheit
des Staatsmannes ging, war ihm dies nicht wichtig Die Ideenlehre übte jedoch in der Folgezeit
einen Reiz aus, der damit zusammenhangt, daß die Ideenwelt als die ontologisch wahre Welt
postuliert wurde Die Aufhebung der Trennung der Welten wurde von Plotin, dem einflußreichsten Vertreter des Neuplatonismus, vorgenommen
Die Emanation: Plotin
Die Schule Platos wurde 385 v Chr in Athen gegründet Sie bestand dort kontinuierlich bis zu
ihrer Schließung durch Justinian im Jahre 529 n. Chr 29 Seine Philosophie wurde in dieser
Schule nach seinem Tode weiter gelehrt, aufgenommen und aus heutiger Sicht verändert,
während seine Nachfolger, die heute als "Mittelplatoniker" und "Neuplatoniker" bezeichnet
werden, sich immer als Platoniker sahen 30 Die Schule in Athen blieb ein Zentrum, doch breitete sich die platonische Lehre im 3 -6 Jahrhundert n. Chr in Schulen im ganzen östlichen
Mittelmeerraum aus Im 3 Jahrhundert gab es Schulen in Kleinasien, Syrien, Ägypten, Pergamon, Apaneia und Alexandria 31 In Rom lehrte ab 244 Plotin (204-270),32 dessen Werke im
Jahre 301 von seinem Schüler Porphyrius veröffentlicht wurden 33 Plato und Plotin waren die
Autoritäten der sich verbreitenden Schulen 34 Im Übergang vom Platonismus zum Neuplatonis-
28
29
30
31
32
33
34
So definierten ihn Sokrates und nach ihm Plato Erkenntnis wird von ihnen als das einzige Hei! des
Menschen verstanden. Vgl. Natorp, Platos Idccnlchrc. S. 189.
Zintzcn, Einleitung. S. IX
Henry, Plotins Standort, S. 120+125; vgl. Dodds. Tradition und persönliche Leistung, S. 60, Zintzcn. Die
Wertung von Mystik und Magic, S. 395; Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, S 292.
Zintzcn. Einleitung. S. X-XI
Zintzcn. Einleitung. S. XIII
Henry , Plotins Standort. S. 118
Zintzcn. Einleitung. S. XII
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mus w urde unter anderem auch die Kritik des Aristoteles an Plato aufgenommen und verarb e ite t 35
Die Philosophie des Neuplatonismus geht von einer Vielzahl von hierarchisch geordneten
Seinssphären aus, die von einem höchsten Prinzip ausgehen, das die Quelle allen Seins darstellt Dieses höchste Prinzip kann nur uneigentlich beschrieben werden Es ist so angelegt, daß
es eigentlich nicht mehr seiend, bzw nicht im selben Sinne seiend ist wie das Seiende, also über
den Seinssphären steht. Diese wiederum sind so geordnet, daß beim Aufsteigen die Vielzahl in
ihnen bis zur Einzahl des höchsten Prinzips abnimmt Die Kenntnis des höchsten Prinzips ist
jedoch etwas völlig anderes als die Kenntnis irgendeines Objektes 36 Das Problem, das sich den
Neuplatonikem weiterhin stellte, war das Problem des Anteils der Materie an der intelligiblen
Welt und des Aufstiegs von der Vielzahl zum Ei nenדנ
Zur Lösung dieses Problems übernahm Plotin drei wesentliche Grundlagen von Plato. Die
erste ist die klare Trennung zwischen den zwei Welten, deren erste, bei Plato die "unsichtbare**
genannt, bei Plotin als "Welt der Ewigkeit״, ”zeitlose Welt", als *,Welt der Ideen" oder als
"Jenseits** erscheint Die sichtbare Welt Platos ist bei Plotin die "Welt der Zeit", der "Wahrnehmung**, das "Diesseits" Als zweites nimmt er in Anlehnung an Sokrates die Unsterblichkeit
der Seele an Die dritte Grundlage ist die Lehre von der absoluten Transzendenz Gottes, die
jenseits der Ideen anzusetzen i s t 38
In der intelligiblen Welt gibt es nach Plotin drei Grundursachen oder Prinzipien: Das erste,
(tò
лраггоѵ), auch das Eine ( t ò čv), das Seiende ( t ó öv) oder das G ute ( t ó à y a 0 ó v )
genannt 39 Ich benutze im folgenden den Ausdruck " t ò tv", da dieser Ausdruck in der
Sekundärliteratur am häufigsten gebraucht wird Die Tatsache, daß das höchste Prinzip mit
mehreren Ausdrucken belegt wird, zeigt die Schwierigkeit, es überhaupt zu beschreiben Diese
Schwierigkeit ist schon bei Plato auffällig und kommt von der Unmöglichkeit, das nicht wahrnehmbare Heilige, um das es sich beim Einen handelt, überhaupt zu beschreiben
Das zweite Prinzip der intelligiblen Welt ist der Geist oder "Verstand", voOç. Er ist identisch mit der intelligiblen Welt und aus dem Einen hervorgeflossen 40
35
36
37
38
39
40
s. Merlan, Philipp From Platonism to Neoplatonism, S. I, 4, 185-195; vgl Armstrong. Der Hintergrund
der Lehre, S. 49.
Merlan, From Platonism to Neoplatonism, S. 1, Fußnote
Merlan. From Platonism to Neoplatonism. S. 1
Henry, Plotins Standort, S. 126f.
Creuzcr, Skizze der Philosophic Plotins. S. 3
Plotins "Enncadcn” werden zitiert nach Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder.
Neubearbeitungen mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, Band 1-8. Hamburg 1956 (»
Philosophische Bibliothek; 211)
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T ò ?v steht als höchstes Prinzip über allen Ebenen N ouç ist das höchste Denken, das
Urbild der Gesamtheit der Ideen, Modelle und Formen der wahrnehmbaren Welt, die Verneinung aller kosmischen Wesenheiten 41 Er ist Sitz des Sich-Selbst-Denkens und der ewig gleichbleibenden Ideen .42 Er ist die erste Wirklichkeit, die aus der Quelle des Seienden hervorgeht 43
Im vouç ist der Sitz der Ideen aller Dinge Die Ideen sind die geistigen Urbilder alles Seienden,
sie sind intelligibel und umspannen in ihrer Gesamtheit das höchste Geistige Die Urbilder des
Seienden sind sich selbst genügsam und ruhen gleichsam im vollen Glück Dies ist die wahre
und erste Welt, die alles Unsterbliche umfaßt, den Bereich des Geistes, alles Göttliche, die
ganze Seele, alles Ewige Sie ist das Urbild der wahrnehmbaren W e lt 44
Das dritte Prinzip, das aus dem zweiten hervorgeht, ist die Seele, ףфѵх^. Sie stellt das
Denken und Handeln des Geistes dar Die erste Seele umfaßt die Gesamtheit aller Seelen Sie
ist die Weltseele, von der alle anderen hinsichtlich ihrer Qualität abweichen, und wird, wenn sie
sich zum Geist wendet, mit dessen Ideen und Formen gesättigt, die sie in der Welt zu Gestalt
bringt 45 So bemerkt Plotin
"’Ev Tф xóojicp Tф ѵолтф fļ dXīļ01vfļ ouaíot. vouç
tó
őpicrrov аи то й ф ѵхаі òé
xáxci. éxcIØev y à p x a i évraOØa. xàxcîvoç ô x ó o jio a фѵх&€ йѵси ооацсітсоѵ fxei,
ovrroç ôè T à ç év а а щ а а і yivonévaç x a i iiep iaG d aaç
toIç
о ш ц а а іѵ / éxeî ôè 0ц о0
pièv jiâç voùç x a i o ù ô iax cx p i^év o ç o và i !icLicpiunévoç, бцоО õè л а а а і
ф и хаі év
évi тф хбацсх), o ù x ?v ôiacjxáaci то л іх п . vouç ^év obv à r i à ô iá x p rro ç x a i 0 ט
n cp u rró ç, фих?| öé éxcT à ô iá x p rro ç x a i á ^ é p ia ro ç ,
yàp 6 iicpioiiòç a ím iç
tò
ôè ф ш іѵ д ер ^ ео Ѳ аі. х а і
&лоотт 1ѵ а 1*х а і év а а )ц а т 1 уеѵ^оѲаі.” (Епп IV, 1,1,2)
"In der inłclligibcln Welt befindet sich die wahrhaAc Wesenheit, der Geist als das Beste derselben
und sodann die Seelen, uclchc auch dort sind und aus den! dortigen Reich ja auch in unsere Welt eintreten. Und jene Welt hat Seelen ohne Körper, unsere dagegen die in die Körper eingctrctcncn und
durch die Körper geteilten Seelen. In jenem Rcich ist der ganze Geist zusammen, ohne alle Sonderung
und Verteilung, zusammen sind in ihm als einer durchaus einheitlichen Welt auch alle Seelen, ohne
räumlich von einander geschieden zu sein. Der Geist ist immer ungesondert und ungeteilt, die Seele
aber ist nur in jenem Rcich ungcsondcri. cs liegt aber in ihrer Natur, geteilt zu werden: denn ihre Teilung verwirklicht sich mit ihrer Abwendung von jener Welt und ihrem Eintritt in die Korpcrwclt. mit
41
42
43
44
45
Cumont. Plotin. S. 20
Henry. Plotins Standort. S. 136f.
Armstrong. Der Hintergrund der Lehre, S. 38
Creuzer, Skizze der Philosophie Plotins, S. 4f
Creuzer, Skizze der Philosophie Plotins. S. 5f
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Recht also läßt sich von der Seele sagen, sie sei in bezug auf die Körper geteilt, weil sic sich auf diese
Weise von jener Welt abwendet und teilt.46״
Die intelligible Welt Plotins geht in ihrer Einteilung über sich selbst hinaus. T ò čv steht über
der Welt, die im voùç in sich selbst ruht, während
die Handlung des Hervorbringens
darstellt Der Ausgang des einen vom anderen findet nach Plotin durch das Prinzip der Emana•
tion, des Überfließens, statt.
T ò čv emaniert den voûç, der фих^і emaniert. T ò £v ist jedoch im voûç und dieser in
фѵхл enthalten ,47 allerdings in abgeschwächter F o rm 48
Diesen Prozeß beschreibt Enn V, 2,2;
"x a i л р а т ! olov y í v ^ o i ç a trn ļ. öv y à p ־réXnov, тф nnôè Ī ^ teTv nrçôè бсІоѲси,
olov ѵлсрсррил x a i *rò илсрлХлрсд ай то ѵ лслоіхсѵ йХХо."
"Es findet also ein Prozeß vom ersten bis zum letzten statt, und dabei behält ein jedes immer den ihm
eigenen O n. während das Erzeugte immer schlechter ist als das. von dem es abstammt "49
'H
ist das Prinzip, das für die Durchlässigkeit der intelligiblen Welt verantwortlich ist.
ln ihr liegt der Grund, warum die sichtbare Welt an der unsichtbaren Anteil hat: sie wird aus
ihr emaniert Die materiellen Objekte sind das letzte Abbild eines schwachen Schattens des ?v,
die aufgrund ihrer Entfernung einen schwachen Anteil am Einen haben 50
Um diesen Anteil zu verdeutlichen, benutzt Plotin den Begriff der Ä hnlichkeit 51 Dadurch,
daß das Abbild dem Urbild ähnlich ist, hat es, wenn auch nur schwachen, Anteil an ihm. Dieser
schwache Anteil ermöglicht es Plotin, zwischen den Welten hin- und herzuspringen .52
Generalisierend kann man sagen, daß die sichtbare Welt das Abbild der unsichtbaren Welt
46
47
48
49
50
51
52
Die Übersetzung folgt Plotin/Enneadcn. in Auswahl übersetzt und eingelcitet von Otto Kiefer. Band 1-2.
hier: Band 2, Jena - Leipzig 1905, S. 33.
Zintzen. Einleitung. S. XIII: bei Plotin entsteht das Seiende aus dem Überfließen eines infiniten
Kräftercscrvoirs. Vgl. Dodds. Tradition und pcrsönlichc Leistung. S. 63, Alvermann. Die Lehre Plotins. S
13fT
Creuzer, Skizze der Philosophie Plotins. S. 5ff.
Plotin/Enneadcn. Bd 1, S. 185
Henry. Plotins Standort. S. 153
Nach Barai, Icon. S. 64fF. ist Ähnlichkeit eine Kategorie der Spätantike. die es erlaubt, mit dem Bild des
Göttlichen zu arbeiten. Die Ähnlichkeit der Gottheit mit dem sic repräsentierenden Bild stellt die
Verbindung des Bildes zur immateriellen Gottheit dar Diese Auffassung teilte auch Plotin Vgl. ebenda.
S. 77: T h e view suggested by Plotinus can be put in simple words: the statue of the god is suited to attract
and make the god dwell in it. because it resembles the god "
BaraS. Icon. S. 74
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darstellt, da nichts in Materie existieren kann, das nicht durch фѵх?| n^ch dem Vorbild der
Urbilder im vouç emaniert worden ist
Die höhere Qualität der Urbilder liegt darin, daß sie als erste aus dem üv hervorgingen Die
intelligible Welt ist deshalb im höchstem Maße seiend .53 Sich in mystischer Ekstase mit den
Urbildern zu vereinigen, bzw über die Vereinigung mit ihnen zum Einen aufzusteigen, ist für
Plotin insofern Realität, als daß ewige und wahre Gegebenheiten enthüllt werden 54
Plotin nennt drei Wege, über die die Rückkehr zum £v möglich ist Musik, Liebe ( tò fpoç)
und Metaphysik, wobei die Metaphysik oder Kontemplation der eigentliche Weg i s t 55 Über die
Musik gelangt man zur Erkenntnis des Schönen, von ihr zur Liebe zum Schönen und schließlieh zur Philosophie, die mit der Kontemplation zur Vereinigung mit dem Einen fu h rt 56 Die
mystische Einheit ist der Abschluß der geistigen Leistungen 57 Ekstase wird erst dann erreichbar, wenn ihr die philosophische Erkenntnis (f| yvüxjiç) vorangegangen ist Der Mensch ist
also erst Philosoph und dann M ystiker 58
Im Kosmos zieht das Ähnliche Ähnliches an, nichts aber ist identisch 59 Nach dem Axiom,
daß das Gleiche das Gleiche erkennt, kann Plotin folgern, daß die Seele des Menschen mit dem
ïv verwandt ist Sie sehnt sich nach der Vereinigung mit dem Einen, weil sie ihm entstammt 60
Sie nähert sich dem Einen dadurch, daß sie sich auf diese Wesensgleichheit zurückbesinnt
Deshalb fuhrt der Weg zum Einen über die Versenkung in das eigene Wesen, die Kontemplation .61 Die Seele des Menschen steigt in der Erkenntnis immer weiter hinauf, bis sie schließlich
zur Schau des Einen, zur mystischen Ekstase gelangt, also gleichsam zurück zu ihrem
Ursprung oder Urgrund kommt
Dieser Zustand ist jedoch endlich, er muß immer wieder neu erreicht werden Tugenden und
Reinigung sind seine Vorstufe .62 Plotin selbst gelangte nach dem Zeugnis seines Biographen
Porphyrios viermal zur Ekstase 63
Die Erkenntnis des £v erfolgt durch sein L ich t 64 Das Licht ist das Manifestierende schlechthin, es erhellt, erklärt, grenzt ab, bestimmt, macht das Seiende offensichtlich 65 ln der Beschrei53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
Dodds. Tradition und persönliche Leistung. S. 66
[)odds. Tradition und persönliche Leistung. S. 72
Crcuzer, Skizze der Philosophie Plotins. S 9ff
Helferich, Geschichte der Philosophie. S. 49; vgl. Armstrong. Die Lehre Plotins. S. 8 .
Dodds. Tradition und persönliche Leistung. S. 73
Zintzen. Einleitung. S. XIV
BaraS. Icon. S. 77
Zintzen. Die Wertung von Mystik und Magic. S. 403
Zintzen. Die Wertung von Mystik und Magie. S. 400f.
Zintzen. Die Wertung von Mystik und Magic. S. 402
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bung der mystischen Ekstase wird Üv oft mit dem Licht gleichgesetzt, beide sind eine unmittel־
bare und untrennbare E inheit 66 TÒ 2v, das Grund und Ursprung für alles Gegründete und
Entsprungene ist, teilt sich durch sein Licht allem Seienden mit und macht es so intelligibel 67
Daß das Licht, das doch eigentlich sichtbar macht, hier unsichtbar macht, erklärt sich aus
seiner Existenz als Urbild in der unsichtbaren Welt Das sichtbar machende Licht der Sonne ist
das Abbild dieses unsichtbaren Lichtes 68 Wer in der Kontemplation das Licht im geschaffenen
Kosmos erblickt, erkennt seinen Teil am Iv und kann sich so emporschwingen zur Vereinigung
mit dem intelligiblen Einen, zur Erleuchtung, in der der Geist das Eine nicht-denkend schaut,
zur f x a r a a iç 69
Indem er davon ausgeht, daß
tò
čv alle, auch die wahrnehmbaren Seinssphären hierarchisch
emaniert, so daß auch die unterste Seinssphäre durch das Prinzip der Ähnlichkeit70 noch Anteil
an ihm hat, macht Plotin den Aufstieg, der gleichsam eine Rückkehr zum üv ist, erst möglich
T ò £v wird von Plotin als das Seiende oder das Göttliche verstanden Alles, was mit ihm
verbunden ist, nennt er "göttlich" 71
Diese religiöse Komponente in der Philosophie Plotins ist der Ausdruck der Bedürfnisse
seiner Zeit Das ausgehende Altertum, als dessen letzten großen Philosophen man Plotin ansehen kann ,72 besaß ein starkes religiöses Fühlen, das sich im Aufblühen von Mysterienkulten
und in dem Bedürfnis, Wissen auf göttliche Offenbarungen zurückzuflihren, manifestierte und
so in die Philosophie des Neuplatonismus eingedrungen ist 73 So wurde z.B. von Ammonius
Sakkas, der als Lehrer Plotins gilt, gesagt, er habe sein Wissen von G ott selbst Eine sehr
populäre Schrift der Zeit waren die sogenannten Chaldäischen Orakel, aus denen man schlie
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
Zint7.cn. Die Wertung von Mystik und Magic. S. 395
Beicrwaltcs. Plotins Metaphysik des Lichts. S. 113: "Im Augenblick der Erleuchtung gibt sich das zeitlose
Sein durch sein Licht zu erkennen es entzündet sich in der фих^І ein Licht, das sich selbst nährt "
Bcicnvaltcs. Plotins Metaphysik des Lichts, S. 86
Beicnvaltcs. Plotins Metaphysik des Lichts, S. %
Bcicnvaltcs, Plotins Metaphysik des Lichts, S. 67
In der christlichen Mystik gibt es später die Verehrung des unsichtbaren Taborlichts, in dessen Schein
Christus verklärt wurde. Dieses Licht ist für die umstehenden Jünger unerträglich, weil es aus der
jenseitigen Welt kommt. Vgl. Mt. 17,5: f n aöxoD XaXoOvroç tôoù v c ņ t\ī\ tpom vfļ èjicoxíaocv aírroúç,
"da überschanetc sie eine lichte Wolke", Lk. 28,36, Jh. 1,14. Zur Verehrung des Taborlichts im
Hesychasmus vgl Podskalsky, Gerhard: Zur Gestalt und Geschichte des Hcsychasmus, in: Ostkirchlichc
Studien 16 (1967), S. 15-32; sowie Beck. Hans-Georg: Das by/antinischc Jahrtausend. München 21994, S.
192-206. bes. S. 201
Betenvaltcs. Plotins Metaphysik des Lichts. S. 110
Vgl. BaraS. Icon, S. 82: T h e Ncoplatonic tradition, more than any other school, continued the rcflcction
on sacred images, and did so in the spirit of ambiguity. It was precisely this tradition that laid the
foundations of later notions of similarity, including some of that are still alive in our world "
Zintzcn. Die Wertung von Mystik und Magie. S 397
Henry, Plotins Standort. S. 118
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ßen kann, daß nicht mehr das Denken oder Künden von Gott im Vordergrund der religiösen
Handlungen stand, sondern die im Mysterienkult auf Gott gerichtete Handlung /74
So ist die Entwicklung von Plato zu Plotin nur zu verstehen, wenn man die neue Fragestellung des Neuplatonismus im Gegensatz zum Platonismus berücksichtigt: nicht mehr Platos
Ideenwelt ist das Ziel aller Erkenntnis, sondern das unbekannte Göttliche, das über allem Sei•
enden steht 75
Proklos als letzter große Vertreter der neuplatonischen Philosophie 76 faßte sie im 5
Jahrhundert noch einmal zusammen und beschrieb die Welt als ein allumfassendes System von
Relationen, die nicht mehr isoliert betrachtet werden können 77
Diese Zusammenfassung der antiken Philosophie durch Proklos erwies sich als fruchtbar für
die christliche Theologie So ging zwar im römischen Reich das Heidentum im 5 Jahrhundert
unter, seine Philosophie aber überlebte in der christlichen Theologie Die Schriften Plotins, die
den Zeitgeist der Spätantike aufgenommen hatten, wurden zu dem Zeitpunkt veröffentlicht, als
das Christentum nicht mehr verfolgt wurde und man öffentlich über Theologie und die biblisehe Offenbarung au f den Konzilien zu debattieren begann 78
Die Hierarchien: Dionysios Areopagita
Die Schriften des Dionysios Areopagita 79 sind zwischen 482 und 500 n. Chr. in Syrien oder
Palästina entstanden .80 Ab dem 6 Jahrhundert berufen sich Päpste, Theologen und Kirchenvä-
73
74
Zintzcn. Die Wertung von Mystik und Magic. S. 391+394
Zintzen. Die Wertung von Mystik und Magic. S. 393f. Die im 2. Jahrhundert in Rom entstandenen
Chaldäischen Orakel gelten als Quelle und Veranschaulichung des mystischen Gedankengutes der
Spätantikc. Sie hier darzustellcn fuhrt jedoch zu weit. Interessierte lesen nach bei Lewy, Hans: Chaldacan
Oracles and Theurgy. Mysticism and Platonism in the Later Roman Empire, Le Caire 1956 (=
Publications de !,Institut Français d'Archéologie Orientale. Recherches d'Archéologie. de Philologie et
d'Histoirc. hrsg. von Jean Sainte Fare Gamot. 13).
75 Zintzcn. Die Wertung von Mystik und Magie. S. 425
76 Zintzcn, Einleitung, S. XXII
77 BaraS. Icon. S. 84
78 Henry. Plotins Standort. S. 118f
79 Daß cs sich hierbei nicht um den Dionysios Areopagita aus Apg. 17,34 handelt, ist seit langem klar Dies
hindert jedoch nicht, die unter dem Namen des Dionysios Areopagita verfaßten Schriften weiterhin zu
zitieren und nicht als "Fälschung" abzutun, kam doch im Mittclaltcr die Autorität des Dionysios
Areopagita gleich hinter der der Bibel, wic Baraš. Icon. S. 158Г verdeutlicht Davon, ihn "PseudoDionysios" zu nennen, sehe ich deshalb ab. Mit dem BegrifT "Dionysios Areopagita" ist im folgenden nicht
eigentlich ein faßbarer Autor der Schriften gemeint, sondern die Autorität des Schriftkorpus. Zur
Autorfragc vgl. Stiglmayr, Das Aufkommen der Pseudo-dionysischen Schriften. S. 64, Koch, PseudoDionysios Areopagita, S. 4, Krüger. Wer war Pseudo-Dionysios Zusammengefaßt wird die Diskussion in
der Ausgabe des Corpus Dionysiacum von Pelikan, Pseudo-Dionysius. S. I Iff.
80 Stiglmayr, Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften, S. 63
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ter a u f diese Schriften, bzw auf Dionysios Areopagita als Autorität .81 Das Korpus der Schriften umfaßt vier Abhandlungen, De divinis nommibus, De mystica theologia , De coelesti hier-
archia , De ecclesiasticae hierarchia, und zehn Briefe Für die Bedeutung dieser Schriften, die
unter dem Begriff "Corpus Dionysiacum" gefaßt werden, spricht, daß etwa 150 sehr homogene Handschriften aus dem 9.-11. Jahrhundert erhalten sind Grundlage dieser Handschriften
ist eine Handschrift aus dem Jahre 708.82 Daß sich abgesehen von Konzilien 83 sowohl die
apollonischen Häretiker wie auch Monophysiten und Diophysiten ,84 sowie im Bilderstreit
sowohl Ikonoklasten als auch Ikonodulen 85 auf das Corpus Dionysiacum beriefen, zeigt nicht
nur seine Autorität, sondern auch die Ambivalenz der in ihm enthaltenen Lehre, die von unter־
schiedlicher Seite unterschiedlich interpretiert werden konnte 86
Grundsätzliches Thema des Dionysios Areopagita ist die Theophanie, das heißt die Frage,
wie Gott in der Welt erscheinen und erfahren werden kann Im Bezug G ottes zu den Menschen
sieht er hier zwei Grundtendenzen Die eine ist die auch von den Neuplatonikem bemerkte
Transzendenz des Göttlichen, das sich in absolutem Gegensatz zum Menschlichen befindet Die
andere ist die hierarchische Aufteilung von himmlischer bzw göttlicher und irdischer Welt, und
der graduelle Abstieg von einer zur anderen Die Teile einer Hierarchie haben mehr oder weniger großen Anteil an dem in ihr geltenden Prinzip 8ד
Mit der Emphase des Abstiegs steht Dionysios Areopagita im Gegensatz zu den Neuplato*
nikem, die den Aufstieg des Menschen in die göttliche Welt thematisierten. Die Ekstase des
Dionysios Areopagita, die durch Reinigung, Erleuchtung, Einigung, Gebet und Opfer, Kathartik, Telestik und Theurgik, Logien und Hierarchie erreicht werden soll und die die "Vergottung" des Menschen zum Inhalt hat, ist zwar im Platonismus und Neuplatonismus begründet ,88
findet jedoch auf der Erde statt Mit dem Verlegen des Sitzes der Ideen in G ott, was angesichts
eines christlichen Schöpfergottes verständlich ist, zerstörte er den neuplatonischen vouç als
Sitz der Ideen und nahm eine neue, hierarchische Einteilung vor .89
81
82
83
84
85
86
87
88
89
Stiglmayr. Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften. S. 66*70, fur den Westen s. ebenda. S. 87
Heil. Einleitung. S. 27
Stiglmayr, Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften. S. 84-86
Stiglmayr, Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften, S. 8
B arai Icon, S. 159
Andererseits zeigt sich hier auch, wie nah sich die Parteien in ihrer Argumentationsweise wie in ihren
Argumenten trotz aller Auseinandersetzungen waren.
Baraš, Icon, S. 160 ff
Koch. Pseudo-Dionysios Areopagita. S. 190ff
Brons. Gott und die Seienden, S. 32f.
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Der Begriff "Hierarchie" ist eine Neuschöpfung des Dionysios Areopagita Zwar wurde früher schon tcp áp x n ç für "B ischof gebraucht, doch institutionalisierte Dionysios den Begriff
te p a p x ta , abgeleitet von tcpóç, alles, was einem Gott geweiht, nicht profan ist, ist Gewalt
über die heiligen Dinge ( t ò lepà), alles, was mit Kultus und Lehre zu tun hat Der Bischof als
Í£pdpxr|ç ist gotterfullt, besitzt die gesamte geheiligte Erkenntnis und die Gaben des Priestertums Von ihm geht alle Vollmacht und Wirksamkeit der kultischen Handlung aus, er ist der
allein befähigte Vermittler aller göttlichen Gaben, und von seiner Vollmacht sind die Vollmachten der anderen kirchlichen Stände abgeleitet 90 "Hierarchie" wird bei Dionysios Areopagita zum Oberbegriff für das Ordnungssystem der kirchlichen Handlungen 91
Die Einführung des Hierarchienbegriffs ermöglicht es Dionysios Areopagita, die Kirche in
einem größeren Zusammenhang, sozusagen als umfassende Größe zu sehen, weil das in ihr
geltende Prinzip auch im Himmel g ilt 92 So ist sie nicht nur eine Institution unter vielen, sondem das Idealbild der gesamten, diesseitigen und jenseitigen Welt sowohl in ihrer Existenz als
auch in ihrer heilbringenden Funktion und Wirkung Insofern übertrifft die Hierarchie die in der
Antike herrschende Vorstellung der o tx o u ^ v r! 93 Umfaßt die o tx o u ^ v r! die ganze zivilisierte
Welt, die vom römischen Kaisertum beherrscht wird, so umfaßt die von Dionysios Areopagita
konzipierte Hierarchie die diesseitige und die intelligible Welt 94
Der intelligible Kosmos des Dionysios Areopagita ist in drei Range mit je drei Triaden aufgeteilt Die Ränge der himmlischen Hierarchie, deren Einheiten schon im alten Testament
auftauchten, sind 1) Seraphim, Cherubim, Thronende, 2) Herrschaften (x u p 1ó־rr|Tcç), Kräfte
(ôuváLiciç), Gewalten (é|o u aícu ), 3) Mächte (àpxaL), Erzengel (ü p x —áyyeXoi), Engel
(ÄYYcXoi).95 Diese drei Ränge sind von G ott ausgegangen und haben gemäß ihrem Rang Anteil
an seinem Sein 96
Der himmlischen Hierarchie steht in der wahrnehmbaren Welt die kirchliche Hierarchie
gegenüber und bildet sie ab Auffällig ist allerdings, daß die kirchliche Hierarchie nur aus zwei
90
91
92
93
94
95
%
Heil. Einleitung. S. 1-2, vgl. Eccl. hier. 505A.
Heil. Einleitung. S. 2
Heil. Einleitung. S. 2f.
Zum Begriff der оіхоиціѵп als Bezeichnung der gesamten, vom römischen Imperium beherrschten
zivilisierten Welt in Antike. Spätantikc und Byzanz vgl. Lilie. Byzanz. Kaiser und Rcich, S. 238-241.
Vgl. Brons. Gott und die Seienden. S. 49. MD[10nysi0s) A|reopagita] hat ein ckklesiologischcs Utopia
entworfen, in dem die Gesetze der neuplatonischen Ontologie herrschen "
Brons, Gott und die Seienden. S. 45; s. Cael hier 200D-20IA. vgl 501 AB
Brons. Gott und die Seienden. S. 44
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Rängen mit je einer Triade besteht, also keine vollkommene Analogie b ild et 97 Die Ränge der
kirchlichen Hierarchie sind 1) Rang der einweihenden Ordnung Hierarchen (ô 1épápx1!Ç).
Priester (ol lépcîç), Liturgen (ol Хптоирѵоі)
(ot цоѵахоі),
heiliges
Volk
(ó íepóç Xaóç),
2) Rang der Weiheempfänger
Reinigungsordnung
(a l
Mönche
хаѲсир 0 ц сѵ а 1
TáJ-eiç).98
In der hierarchischen Ordnung des Kosmos ist die kirchliche Hierarchie der himmlischen
untergeordnet Am Sein der göttlichen Welt haben die Ränge in abgestufter Form Anteil. Um
diesen Anteil auszudrucken, bedient sich Dionysios Areopagita des Begriffes der Ähnlichkeit
Da aber das Göttliche unsichtbar und nicht wahrnehmbar ist, während der wahrnehmbare
Kosmos etwas völlig anderes als das Göttliche ist, spricht er von "unähnlicher Ähnlichkeit" 99
Ähnlichkeit bedeutet, daß das in der intelligiblen Welt, bei Gott befindliche Urbild im in der
wahrnehmbaren Welt befindlichen Abbild anwesend ist, weil ein formgebender Prozeß stattgefunden hat (griech dóonoićco ) 100 Die Idee bringt das Formlose in der Materie zur Form
und macht es sichtbar Der Anteil des Abbildes am Urbild liegt in der Ähnlichkeit der Natur,
die durch die Entstehung durch die abbildende Idee, den Prozeß des cíöonóurív, gewährleistet
wird Die Unähnlichkeit zwischen Urbild und Abbild liegt in der erkennbaren Formhaftigkeit
des Abbildes 101
Die Anteilhabe der sichtbaren an der unsichtbaren Welt garantiert, daß die Abbilder zu den
Urbildern zurückgefiihrt werden können 102 Für Dionysios Areopagita gibt es kosmische,
biblische und liturgische Symbole ־keine ״Bilder ־ ״,. die enthüllen und verhüllen Das Bild ist
97
Brons. Gott und die Seienden. S. 49, spricht von der "Eigentümlichkeit", daß die kirchliche Hierarchie nur
zwei Ränge hat und davon, daß diese Hierarchisierung eine Vergewaltigung der kirchlichen Wirklichkeit
darstdll. Eine Erklärung für das Fehlen des dritten Ranges gibt er nicht.
98 Brons. Gott und die Seienden, S. 49
99 Baraš. Icon, S. 168
100 Brons. Gott und die Seienden. S. 134; vgl. ebenda. S.203f. : "Das Urbild wird mit elôoç oder áp x fru n o v
bezeichnet, das Untergeordnete mit ,das Formlose* ( t ô ávcíôov), das durch die Idee zur Abbildlichkeit
gebracht wird (Ы60 л 01£а>) "
101 vgl. Brons, Gott und die Seienden. S. 153: "Die idealen Sachverhalte werden ebenso wie die "Seienden"
(Engel und folgende) in ihrem jeweiligen So-Sein konstatiert. Zwischen beiden Bereichen bestehen jeweils
Übereinstimmungen und Differenzen. Die Übereinstimmung z.B. zwischen 'dem Schönen’ und einem
,schönen' Ritus besteht in eben dessen Schönheit, die Differenz in seiner Beschränkung auf Raum und Zeit
durch die Materie, in seiner jeweils nur unvollkommenen Darstellung und in seiner Teilhabc an anderen
intelligiblen Sachverhalten Das Ineinander von Sclbigkcit und Differenz zwischen den zwei Bereichen
des reinen Idealen und der Seienden wird dann durch die Bcgriffspaare Ursache• Verursachtes. UrbildAbbild. Begrenzcndcs-Bcgren/tcs. Form-Geformtes, (An-Sich-)Tcilhabe-Tcilhabendcs umnssen oder
durch Hervorgang. Vervielfältigung, Vermittlung beschrieben. Denkt man die arcopagitische 'Ideenlehre'
in dieser Richtung zu Ende, so entpuppt sie sich als eine in hohem Maße statische, beinahe 'clcatischc'
Verhältnisbestimmung zwischen in ihrem So-Sein fixierten Dingen. Man wird freilich zu bedenken
haben, daß DA diese Konsequenz so nicht gezogen hat, sondern bei der Verhältnisbestimmung mit Hilfe
des vielfältigen und vieldeutigen ncuplatonischcn BegrifTsapparates geblieben ist ”
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"ein Zugeständnis G ottes an die unzulängliche Verfassung des Geschöpfes auf einer bestimmten Stufe [der Erkenntnis, C S ] und ist dieser Stufe angemessen, aber zugleich erweist es sich
als etwas Anspruchsvolles, ja Esoterisches ” 103 Es steht am Anfang eines Heilsweges
Der symbolische Charakter der Bibel und des Hitus liegt in dem Anteil, den beide an der
göttlichen Welt haben So ist fur Dionysios Areopagita der kirchliche Ritus Abbild des alttestamentarischen Kultes, der ein dem Mose vermitteltes Abbild eines göttlichen Urbildes darstellt .104 Er fuhrt die systematische allegorische Deutung des kirchlichen Ritus, der Weihe und
der kirchlichen Stände als Abbild der himmlischen Hierarchie, ihres Urbildes ein, wobei die
Gemeinsamkeit in der Analogie liegt.105
Dieses Verhältnis liegt auch dem im vierten Kapitel von De ecclesiasticae hierarchia
beschriebenen Ritus der Myronweihe zugrunde, das als das bildertheoretische Manifest des
Dionysios Areopagita g ilt 106 ln der Beschreibung der Myronweihe versucht er die philosophisehe Exegese der Liturgie und bemüht sich darum zu zeigen, wie sich das Göttliche manifestiert. Ein Einschub in den Text enthält außerdem alle wichtigen Termini, die schließlich in der
Ikonentheorie des Bilderstreites gebraucht werden: x a í tò àXT1{tëÇ év тф 0 р 01й>цат1 , tò
àpx^Tim ov év rf\ clxóvi, "und die Wahrheit (zeigt
sich) im Ähnlichen, der Archetyp im
Bild " 107 Zunächst soll jedoch der Textzusammenhang dargestellt werden
"~AxpavT01 yáp claiv al той Ѳеои xpxxpíat xaí ímèp vouv eÍKOÔeiç еилрёлеіаі
x a í vor|T<bç épcpaiovrai nóvoiç
à p c T fjv
èv
to Iç
vocpoTç òpociôclç éxc1v éØéXouoai
фѵхаід <2шарафѲартоид dxóvaç. Tò yàp
<5етар0 уралтоѵ ей дещрлцёѵоѵ
А ф о р ш ѵ kó X K o ç
o O tg o ç
[tò ]
T f|ç
àya\\1a npòç éxclvo
é a v x ò ти яоТ x a í 01алХ<£ттс1 n p ò ç
K ai хаѲблер in i тшѵ аІаѲлтшѵ dxôvœv cl npòç
tò
хат*
Geoeiôovç àpCTf!ç
t ò v o t 1T ò v
tò
T àç
xaí cixbòcç
x áX X io ro v
Арх^тилоѵ dõoç ò ypacpcuç
áxXivwç elaopçt npòç prçôèv åXko тшѵ братшѵ áv 0cXxò^cvoç ¥\ x a r á ті
pcpiÇópevoç aOròv éxeïvov õotiç éori
tò v
ypacpópcvov cl Gepiç еілсіѵ
!02
103
104
105
Brons, Gott und die Seienden. S. 144
Lange. Bild und Wort. S. 60
Brons. Gott und die Seienden, S. 63
Koch. Pseudo-Dionysios Areopagita, S. 199; vgl Brons. Gott und die Seienden, S. 304Г So auch Völker,
Kontemplation und Ekstase. S. 205: "Auf Erden ist uns alles Göttliche nur in der Form der Verhüllung
zugänglich. So trin es uns in der Schrift, im Sakrament, in der gottesdienstlichen Handlung, in den
Dingen der Schöpfung, schließlich in den Rangordnungen der Hierarchie entgegen. Allein in der Ekstase
fällt dieser der menschlichen Natur angemessene Schleier, und damit ist zugleich die Schau der Wahrheit
verbunden.''
106 Jeck, Ein Zusatz im Corpus Dionysiacum, S 64
107 Jeck, Ein Zusatz im Corpus Dionysiacum, S. 64f, Übersetzung von mir, C.S.
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ô u r X a o i á o c i x a i ô c íÇ c i < x a í t ò
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a u T o I ç Ѳ с о ц 1цт!тй>ѵ à p c T c b v <3 לE iç t ò Ѳ с а Ѳ л ѵ а і לןx a T à t ò X ó y io v G> t o i ç à v ô p ó n o i ç
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л е р і х а Л ѵ л т о ѵ т с д л р 0 д ц 0 ѵт1ѵ й л о р ^ і л о ш і *rfļv 0 р х ^ т ѵ л о ѵ ѵ б л о і ѵ ." ( Е с с І
xai
lep ù> ç
h ie r
473BCD)
"Rein aber sind dic göttlichen, verborgenen und undenkbar wohldufìcnd schönen und wahrnehmbar
erscheinenden, allein im Denken gleichartig seienden und willig entsprechend der Schönheit in den
Seelen ewig seienden Bilder Das aber ist das der göttlichen Schönheit nichts beigefugt habende, gut
nachahmcndc B ild bei welchem die wahrnehmbar und wohlduftendc unfruchtbare Schönheit gestaltet
sich nach dem Vorbild zur schönsten Nachahmung. Und ebenso wie auf den sinnlich wahrnehmbaren
Bildern, wenn der Maler auf das ursprüngliche Bild unbeweglich schaut und sich nicht auf eine andere
Seite des Gesichtsfeldes ziehen läßt, oder cs gleichsam teilt, der ist es. der das Gemalte wie cs das göüliche Gesetz sagt, verdoppelt <und die Wahrheit im Ähnlichen, den Archetypen im Bild,> jenes im andcren zeigt, entgegen dein Unterschied der Seinsweise, auf diese Weise schenkt die auf das wohlduftendc
und verborgenere Schöne (gerichtete) beharrliche und unbeugsame Betrachtung dem das Schöne Liebenden und im Geiste Malenden die beständige und Gott am ähnlichsten seiende Erscheinung
(ТѵбаХца). Mit Recht nun schaffen die das Göttliche Malenden gemäß der übersinnlich uohlduftcndcn
Schönheit die Gestalt des selbst und unwandelbar geistig Wahrnehmbaren, und sic führen keine das
Göttliche nachahmcndcn Tugenden aus, 'daß sic von den Leuten gesehen werden’, wie das WORT sagt
(Mt 23,5). sondern sic erschauen geheiligt wie in dem Bild des göttlichen Myron die heiligsten verhüllten Dinge der Kirche. Weshalb sic auch gemäß der Tugend das Heilige und Gottähnliche innen im
Gott nachahmenden und Gott malenden Geist heiligmäßig verbergen und nur das Urbild betrachten und
wahmehmen (Eccl hier. 473 BCD)"
Der bei der Myronweihe entstehende Duft weist auf die Anwesenheit des Heiligen hin, das
in der Kontemplation des Duftes im geistigen Akt erkannt werden kann In den Seelen, èv
фихаід, existieren die ewigen Bilder, <5atapa<p0áprouç clxóvaç, die nur gedacht werden
können und ewig schön und wohlduftend sind Werden diese göttlich schönen Bilder nachgeahmt, so soll man ihnen nichts beifugen, damit sie sich nach dem Vorbild, é a u o rò тіл о і, zur
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schönsten Nachahmung gestalten, 01алХ 0 тте 1 л р òç
tòv
xáXXicrrov цѵ£цт1ц а Diese Nach-
ahmung, zu der nichts hinzugefugt werden darf, vollzieht sich im Ritus der Myronweihe Das
Vorbild, das hier nachgeahmt werden soll, ist das des göttlichen Wohlduftes, der im Öl offenbart werden soll
Als Beispiel dienen Dionysios Areopagita die M aler 108 Sie schauen unbeweglich auf das
ursprüngliche Bild, npòç
tòv
йрх^тѵ лоѵ
ciôoç, und zeigen, da sie sich von nichts ablenken
ließen und nichts hinzufugten in ihrer unverwandten Schau, gleichsam das eine im anderen,
tòv
èxáT tpov tv èxarépu), obwohl es einen Unterschied in der Seinsweise gibt Genauso kann
nun der das Schöne liebende Mensch verfahren, den Dionysios Areopagita im Unterschied zu
den sinnliche Bilder malenden Malern "im Geiste malend״, év ѵф урафсиш ѵ, nennt In der
Betrachtung, Ѳса>р(а, der geistigen Schönheiten und Bilder schafft er Gott ähnliche Erscheinungen, ТѵуаХйата, im Geiste Diese Erscheinungen sind wie im Bild des Myron, év cíxóvi
тф Ѳе£ф циро), die heiligsten, eigentlich verhüllt und verborgen gehaltenen Dinge der Kirche,
TÍ1Ç èxxXT10 íaç Ісрсотата л ер іх сх аХ и ц ^ѵ а. Diese Dinge im Verborgenen zu schauen, das
heißt die geistige Schau nicht aus Stolz den Massen zu enthüllen, wie Dionysios Areopagita
mit einem wörtlichen Zitat aus Matth 23,5 bemerkt, gehört zu den Tugenden der Menschen,
die an den Riten teilhaben So kehren sie ihre Betrachtung nach innen und schauen allein das
geistige Urbild,
t t )v
йрхстилоѵ.
Für Dionysios Areopagita ist ein Bild kein materieller Gegenstand, auf dem mit Farbe etwas
abgebildet ist 109 Ein Bild ist eine gedankliche Vorstellung, über die Erkenntnis möglich ist Er
sieht das Denken von Bildern gesteuert, bzw durch Bilder geleitet 110 Der Maler sinnlicher
Bilder schaut auf das Urbild, sein Modell, unverwandt hin, er läßt seine Aufmerksamkeit nicht
ablenken Deshalb werden Modell und Bild identisch Sie unterscheiden sich insofern in der
Seinsweise, als daß das Modell lebender Mensch ist, das Bild aber nur ähnliches Abbild, zwei
108 Jcck. Ein Zusatz im Corpus Dionysiacum, S. 65, meint. Dionysios Areopagita sprcchc hier vom
Ikoncnmalcr. Dies geht jcdoch nicht aus dem Text hervor
109 Die Kunsthistorie definiert den Bildbegriff der Spätantike bis ins Mittelaltcr folgendermaßen ein Bild =
Imago war ein personales Bildnis, das gewöhnlich eine Person darstcllte und gemeinhin wie eine Person
behandelt wurde Es geriet in der Renaissance in eine Krise und wurde zum Kunstwerk umgewertet Vgl
Belting. Bild und Kult. S. 9
110 vgl. Cael hier. I40BC + Eccl. hier 373AB. So auch Campenhausen. Die Bildcrfragc als theologisches
Problem. S. 106, Anm 32: "Pseudo-Dionys zieht die Bildcrvcrehrung noch nicht in Betracht " Dagegen
sicht Döpmann. Die Ostkirchen vom Bildcrstrei! bis zur Kirchenspaltung. S. 39, Ansätze einer
Btldcrverchmng bei Dionysius Areopagita BaraS. Icon, S. 159, der auch die Rezeption des
areopagitischcn Gedankengutes auf Aussagen zum Bild hin untersucht, macht pointiert auf diesen
Unterschied in der Rezeption des Corpus Dionysiacum aufmerksam: "It was particularly the attitude to the
visual arts, especially painting, that was determined by Dionysian thought This is all the more remarkable
since Dionysius Areopagita himself did not pay any attention to painting."
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dimensional in Farbe auf einer materiellen Unterlage Dieses Beispiel vom Maler und seinen
Bildern setzt Dionysios Areopagita nun um. Der im Geiste Malende, das heißt der Mensch, der
in der Betrachtung das Abbild meditiert ־in diesem Falle den Ritus der Myronweihe und den
Duft des Myron - gelangt zum geistigen Urbild. Einmal dort angekommen, schaut er auch die
anderen göttlichen Urbilder, die ansonsten verhüllten göttlichen Geheimnisse der Kirche, rr\q
іххкг\оіои; к р о п а т а лсріхсхаХиц^іёѵа.
Es geht im weitesten Sinne hier nicht mehr nur um die Myronweihe oder um eine Bildertheorie, sondern darum, wie und warum ein Mensch in der Kontemplation des Ritus zur Gottesschau kommt, gereinigt und dem Göttlichen ähnlich wird Das Göttliche kann im Prozeß,
den der beschriebene Maler ausfuhrt, im Abbild wahrnehmbar gemacht werden, und zwar
entgegen dem Unterschied in der Seinsweise Die Garantie für die Ähnlichkeit trotz Unähnlichkeit ist der oben schon erwähnte Prozeß des еіболоіпѵ Dieser Terminus wird auch im Text
gebraucht, um den Prozeß der geistigen Erkenntnis zu verdeutlichen:
EIxótcjüç o i v лр0д xf)v {m cpow iœ ç
Mit Recht nun schaffen die das Göttliche
сгхобл x a i vorļ־rfļv ейлр^леіаѵ ol Ѳсіоі Malenden gemäß der übersinnlich wohldufypacpCLÇ
tò
voepòv
čavrcov ten(jen Schönheit die G estalt des selbst und
<іцстаатр£лт< 1)д elÔ o n o io w reç оибсціаѵ unwan(jelbar geistig Wahrnehmbaren, und
ôpâxn тйѵ èv a ù ro lç Ѳеоцщптшѵ йретйѵ sje
кеіп< ־das Gö ״ljche nachahmen.
<î> Ele
■ von den
л !Leuten
.
^ t ò ѲсаѲг1!ѵ га 1^ ׳x errà t ò Xóyiov ^еп j Ugen(jen aus «j
M(jaß ״sie
<5Ут01с
0 ѵѲр0 л о 1с
ò,
aXX״
lepebe
,
. ״. ,
gesehen werden , wie das WORT sagt (Mt.
ёлолтсиогхлѵ 0)ç èv clxóvi tü> QcUû циро>
23,5), sondern sie erschauen geheiligt wie in
та
Tf\Q
èxxX noíaç
Ісраггата
dem Bild des göttlichen Myron die heiligлеріхсхаХ иццёѵа. (Eccl
hier 473D,
sten verhüllten Dinge der Kirche
Hervorhebungen von mir, C.S.):
Man kann daraus folgern, daß Dionysios Areopagita in der geschaffenen Welt ein Abbild
der ungeschaffenen Welt sieht, die das Urbild par excellence ist. Im umgekehrten Schluß
bedeutet dies, daß alles, was in der geschaffenen Welt existiert oder getan wird, ein himmlisches Urbild hat ïn der Kontemplation der kirchlichen Hierarchie erkennt der Mensch die
himmlische. Die kirchliche Hierarchie schaut die Urbilder, erhält in mystischer Ekstase Anteil
an ihrem göttlichen Sein und erkennt die Ähnlichkeit der Urbilder, abgesehen von der
Seinsweise.
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W er über die Schau der Urbilder zur Gottesschau gekommen ist, kann sein Wissen zwar
nicht durch W orte weitergeben, aber er kann den Ritus vollziehen und dadurch dem Volk das
Wahre nahebringen So erhebt er es zum göttlichen Volk, in einen höheren Weihestand, und
verschafft ihm eine größere Teilnahme am Sein. Da sie zur Heiligung beitragen, sind die kirchliehen Riten heilige Handlungen Taufe und Eucharistie haben direkte göttliche Urbilder und
sind von G ott eingesetzt ln der Gedankenwelt des Dionysios Areopagita wird alles zum Urbild
eines Abbildes, bzw umgekehrt die Myronweihe durch die Seraphim ist Urbild der Taufe
Christi, das Kreuz Vorwegnahme des Kreuzzeichens der kirchlichen Weihe usw (vgl Eccl
hier 5 0 5 B )111
Dionysios Areopagita deutet die Trennung der Welten und die verschiedenen Seinssphären
des Neuplatonismus in christlichem Sinne Der Gott des Christentums tritt an die Stelle des
obersten emanierenden neuplatonischen Prinzips, er wird zur Quelle des Seins Bei der hierarchischen Ordnung fallt jedoch die Unterscheidung von Vielzahl und Einzahl weg. Die Uberwindung der Trennung der Welten ist bei Dionysios Areopagita nicht denkbar, ohne daß das
neuplatonische Emanationsprinzip vorausgesetzt wird Die unsichtbare Welt emaniert die
sichtbare und schafft auf diese Weise ein sichtbares Abbild von sich selbst, das in seiner Sichtbarkeit und Materialität zwar dem Urbild unähnlich ist, aufgrund des Gestaltungsprozesses
aber seiner Natur nach in abgeschwächter Form Anteil am Urbild hat Der Natur nach sind sich
Urbild und Abbild ähnlich Diese Ähnlichkeit von Abbild und Urbild ermöglicht die Erkenntnis
des Göttlichen in der sichtbaren Welt und den Aufstieg des menschlichen Geistes zur Ekstase,
das heißt der Schau der Urbilder .112 Obwohl Dionysios Areopagita das feststehende platonisehe System der Dreiteilung von £v, voOç und фих?| zerstört, behält er das Triadensystem bei
Das gesam te Universum ist hierarchisch gegliedert und umfaßt Gott und die Seienden 113
Erstaunlich ist hier die Ausschließlichkeit, mit der diese Welt fur das Christentum eingenom
111 vgl. Brons. Gott und die Seienden. S 304 und ft: "Teil dieser Schöpfung der Weihen durch ihren
Ursprung ist die Inauguration der Eucharistie, die bczcichncnd geschichtslos wie ein transzendentales
Urbild geschildert wird: Die aktuelle Feier ,bringt (die Teilnehmer) zu heiligem Gedenken des göttlichsten
Mahles und Ursymbolcs, bei welchem der Schöpfer der Symbola selbst in gerechtester Weise den nicht
!)eilig und in glcichcm Wandel das Heilige mit ihm Essenden ausschlicßt." ״Gemeint ist hier Eccl. hier
428B in Bezug auf Jh. 13,21-30, v.a. 26-30. Vgl. außerdem Völker, Kontemplation und Ekstase, S. 194f
Kontemplation ist für Dionysios Areopagita zuerst das Versenken in die Symbolik der Sakramente, dann
in die Geheimnisse der Engclwcli. was schließlich zur Erkenntnis Gottes führt
112 vgl Brons. Gott und die Seienden, S. 49Í "Diese Anwesenheit Gottes in allem, was Sein hat, 1st die
Voraussetzung dafür, daß er aus all diesem erkannt werden kann. Der Nachweis solcher Anwesenheit ist
darum die Bedingung für die Verwertung der dem Menschen nachgcordnctcn Welt im Symbolismus DA*s,
der darum auf Natur. Schrift. Tradition und Kultus als den angeblichen und tatsächlichen Grundlagen und
Parallelfällcn seiner eigenen crkcnntnismctaphysischcn Methode des Rückschlusses aus den Seienden auf
Gott beruht "
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men wird Seiend sind nur Weiheempfanger, die in den oben beschriebenen kirchlichen Riten
Erkenntnis und Teilhabe gewonnen haben Die unterste Weihe ist dabei die Taufe Aus dem
Weltmodeli des Dionysios Areopagita fallen also alle Ungetauften per se heraus Diese erhalten
erst gar keinen Anteil am Kosmos 114 Die neuplatonische W eltkonstruktion wird exklusiv
In der christlichen Umdeutung des Dionysios Areopagita wirkte das neuplatonische Gedankengut weiter und wurde gleichermaßen populär in Ost und West 115 Die Ausführungen des
Johannes Damascenos im 8 Jahrhundert über die Bilderverehrung, bzw ihre Verteidigung,
machen deutlich, daß das bei Dionysios Areopagita dargelegte Urbild-Abbild-Denken von ihm
in seiner Klassifizierung der Bilderarten vorausgesetzt wird .116
113 Brons. Gott und die Seienden (sic!)» S. 325Г.
114 Den Komplex der Eingliederung des ncuplatomschcn Gedankenguts 1ns chnstliche beschreibt Koch in
beeindruckender Weise, sieht man von seiner etwas eigenwilligen Einschätzung der "Konkurrenz"
zwischen Ncuplatonismus und Christentum ab Denn man deutet heute den Einbezug des
Mystcricmvescns in die neuplatomsche Philosophie als Ausdruck des Zeitgeistes der Spätantikc. der
generell nach ontologischer Erkenntnis strebte. S. Koch, Pseudo-Dionysius Areopagita, S. 4 3 t: "Hier
haben wir eine interessante Wechselwirkung zwischen Griechentum und Christentum. Der
Ncuplatonismus erkennt als das Geheimnis des machtvollen Einflusses der christlichen Religion die
göttliche Auktontät beanspruchenden heiligen Schriften, welchc gegenüber den tausenderlei Ansichten
der PhtlosophenschuJcn eine feste Grundlage bilden zur Forschung über Gott und göttliche Dinge.
Schriften, welche metaphysische, physische und ethische Rätsel auktoritativ lösen Um also das
Heidentum neu zu beleben und dem Christentum gegenüber konkurrenzfähig zu machen, sucht auch er
eine auf göttlicher Auktontät beruhende Lehre, er findet sic in den Orakelsprüchen (der chaldäischen
Orakel. C.S.] und den Lehren der altchrwürdigcn Theologen. Wo sie ihn im Stiche lassen, nimmt er zu
künstlicher Exegese und weitgehender Allegorie seine Zuflucht und trägt die Lehren hinein, die er dann
finden und als göttliche Wahrheiten ins Feld fuhren will. Es sind Lehren, die an transcendentalem
Charakter und mystischer Abstraktion nicht zu wünschcn übrig lassen, die Ascese heischen und оштсріа
versprachen Der Coup hatte Erfolg und viele achtbare und erlösungsbedürftige Geister ließen sich
gefangen nehmen, sie fanden Befriedigung und Kraft zu sittlicher Lebenshaltung. Nun macht der Christ
!Dionysios Areopagita, C.S.| Anleihe beim Ncuplatonismus: er holt bei ihm die göttlichen Emanationen,
die durch alle Wesen hindurchströmcnden Lichiflussc. die straffe und alles beherrschende dreiteilige
Gliederung, die Abstrakta, Negationen. Steigerungen, er erschrickt nicht an den! pantheistischen Klange
des ganzen Systems, wenn er ihn auch stark zu dämpfen bestrebt 1st. und er findet alle diese Lehren dank
seiner mystisch-allegorischcn Exegese • in der heiligen Schrift. Wer daher der Schrift widerstreitet, ist
auch ferne von seiner Philosophie und wem nichts liegt an der Thcosophic aus den Logien
(rffc Ьс т&ѵ Xoyíojv Geoootpíaç), den will er auch nicht zu theologischem Verständnis fuhren (D.N.
2 .2 ) "
115 S. hierzu die Rezeptionsvergleiche in Jeck, Ein Zusatz im Corpus Dionysiacum
116 Barai. Icon, wirft Johannes auf S. 243 Inkongruenzen in der Bildertheorie vor: NHe cannot tell how the
,pure' forms of the spiritual beings can reach the painter's board. The continuous chain leading from pure
sliapcs perceived by the prophet to the actual material icon remains obscure With all the great
suggestivencss and rhetorical power of John's formulations, the critical reader cannot help feeling that the
old problem that haunted the thought of centuries, the overcoming of the chasm between the worlds,
assens itself again in the Apologies o f the Divine I m a g e s Dabei macht er gleichzeitig, ebenda. S. 227Г.
auf fast wörtliche Zitate aus Dionysios Areopagita bei Johannes Damascenos aufmerksam und bemerkt S.
240, daß Dionysios Areopagita einen prägenden Einfluß auf Johannes Damascenos hatte. Lange. Bild und
Won. S. 135 weist auf den Unterschied im Bildbegriff der beiden hin: *'Der innere Grund liegt darin, daß
Dionysios das ávó^iotov von Symbolen vor Augen hat. das den Sinn vom inadäquaten Zeichen hinlcnkt
zum Bezcichnctcn. während cs Joannes um Bilder geht, die eine 0цо(о>ца des Prototyps darstcllen und
deshalb das Verborgene zum Vorschein bringen und dem Volk zugänglich machen Die Dialektik des
Dionysischen Bildbegriffs fällt bei ihm aus "
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Die Bilder: Johannes Damascenos
Die Rezeption des Corpus Dionysiacum war maßgeblich an der Aufnahme des neuplatonischen
Gedankengutes in die christliche Theologie und die Bilderlehre der christlichen Kirche beteiligt
Die Bilderverehrung war ein verbreitetes Phänomen innerhalb der christlichen Kirche des
Ostens Hierdurch erklärt sich auch die Ausbreitung des Bilderstreites in der Kirche im 8
Jahrhundert Im Bilderstreit wurde die Theologie der Ikone und ihrer Verehrung explizit formuliert Der wohl herausragendste Theologe der Bilderverehrung ist Johannes Damascenos,
der um 675 in Damaskus als Sohn einer einflußreichen Familie geboren wurde, die ein erbliches
Staatsamt innehatte Damaskus war 636 von den Arabern erobert worden und seit 661 Residenz der omajadischen Kalifen, die offensichtlich soweit religiöse Toleranz übten, daß Christen
staatliche Ämter ausuben konnten 1,7 Johannes selbst hat das Staatsamt der Familie eine Zeit
lang ausgeübt, um sich später in der Kloster Salas bei Jerusalem zurückzuziehen und dort als
Mönch und Priester zu leben Am 4 12 749 starb er dort 118
Mit der Kompilation von Glaubens* und theologischen Zeugnissen ist Johannes Damascenos
methodisch auf der Höhe seiner Zeit Im 8 Jahrhundert meinte man, die Originalität sei vorüber, alles Wichtige bereits gesagt, und der Nachwelt bliebe das Zusammenstellen des bereits
Gesagten 119 Die in diesem Sinne zusammengestellten Werke machten Johannes Damascenos
zu einer Autorität seiner Zeit Seine Schriften sind in vielen Handschriften verbreitet und wurden im Westen ab 1507 g ed ru ck t 120 Am eindrucksvollsten manifestieren sich jedoch Verbreitung und Gewicht der damascenischen Schriften in den Beschlüssen des ikonoklastischen
Konzils von 754, in dem er mit viermal wiederholtem Fluch anathematisiert wurde 121
Jo h a n n e s D am asccn o s a n tw o rte te a u f die ik o n o k lastisch cn M aß n ah m en d es K aisers L eon
III mit drei Reden über die Bilder und die Bilderverehrung, die etwa 726 und 730-31 n Chr
117 Eine Tatsache, die sehr wahrscheinlich auch Johannes Damasccnos beinflußt hat Er lebte in einer
bildcrfeindlichcn islamischen Gesellschaft. in der er jedoch seinen Kult ausuben konnte. Der Bildcrkult
muß ihm identilätsstiftend gewesen sein Dagegen war ihm der Ikonoklasinus Leons III. wahrscheinlich
unverständlich, da er die politische und soziale Situation, die in Byzanz zum Bildcrstrcit gcfUhn hatte,
nicht übcrscliaucn kennte Aus dieser Position heraus ist cs leicht, die Bildcrvcrchrung aus der
Vätertradition zu begründen
118 Mengcs, Die Bildcrlchrc. S. 5
119 "Man exzerpiert (. ) ältere Autoren und bildet daraus eine 'Kette' von Anmerkungen gewissermaßen zu
einem biblischen Buch Offenbar war die Kraft zu echten Kommentaren vcrlorcngcgangen " So wertet und
beschreibt Biedermann. Das Bibclvcrstandnis der Ostkirche. S 137. dieses Verfahren, womit er Johannes
Damasccnos' Werken allerdings nicht gerecht wird
120 Langen. Johannes von Damaskus. S. 25ff.
121 Döpmann. Die orthodoxen Kirchen. S 54+58 Johannes Damasccnos wurde auf dem Konzil von Nikaia
787 gleichartig mit der Einführung der Bildcrvcrchrung rehabilitiert
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entstanden sind, sowie mit dem 16 Kapitel seines De fide orthodoxa 122 Er stellte in diesen
Reden die Traditionsargumente zusammen, die eine philosophische und theologische Fundierung der Bilderfrage darstellen, welche schließlich aus dem Väterbeweis als positives traditionelies Gut der Kirche gerechtfertigt wird 123
Die Hauptquelle des Johannes Damascenos zur Bilderfrage sind Basileios,134 ־Gregor von
Nazianz 125 und Dionysios Areopagita, die er auch namentlich z itie rt 126 ln Kapitel 16 des De
fid e orthodoxa fuhrt Johannes Damascenos die Rechtfertigung der Bilderlehre durch Basileios
näher aus: die Verehrung des Bildes bezieht sich auf das Urbild Gott kann zwar aufgrund
seiner absoluten Transzendenz nicht abgebildet werden, dafür aber Christus, da er Mensch
geworden ist Außerdem rechtfertigte Basileios bildliche Darstellungen aus der didaktischen
Motivation, die Analphabeten und Katechumenen zu belehren, und aus der Tradition heraus
Kreuz und Bilderverehrung gehören zur apostolischen Überlieferung ו2 דVor allem aber übernahm Johannes Damascenos von Basileios die Aussage, daß die Ehre, die man dem Bild
erweist, auf das Urbild übergeht, f! xf!ç elxóvoç *unfļ Łni t ò лрштбтилоѵ ö iaß aiv ci, die dem
Bild [entgegengebrachte] Ehrfucht geht auf das Urbild über.12*
ln der Darstellung der Gotteslehre schließt Johannes an Gregor von Nazianz und Dionysios
Areopagita an Im neuplatonischen Sinne stellt er Gott an die Spitze von Theologie und Weltbiid Gott ist der Urquell alles Seienden und unbegreiflich .129 Aufgrund der Unbegreiflichkeit
Gottes ist ihm nur in negativen Ausdrücken näher zu kommen .130 Er kann nur in seinen eigenen
Offenbarungen erkannt werden
Die Ekstase zeigt sich nach Dionysios Areopagita in der Enthüllung des göttlichen Lichtes
Dies ist ein in der Spätantike gängiger topos, der auch in der christlichen Offenbarung eine
122 Mcngcs. Die Bilderlehrc. S. 4-7
123 Mcngcs. Die Bilderlehrc. S 8 ; Langen. Johannes von Damaskus, S. 8f., BaraS. Icon. S. 188. S. 192-94 zu
den Einflüssen von Kirchenvätern, antiker und neuplatonischcr Philosophie auf die Bildertheorie.
124 Während Basileios die Autorität ist. auf die sich Johannes Damascenos bezieht, handelt es sich bei seinen
Lehren im Wesentlichen um den Gedanken von der Wcscnsgleichhcit von Urbild und Abbild, der schon
im Zusammcnliang mit Dionysios Areopagita erläutert wurde Daher wurde auf eine eigene Besprechung
des Basileios verzichtet.
125 Demoen, The Theologian on Icons?, S. 3. macht darauf aufmerksam, daß es sich bei der Annahme.
Gregor sei ein Bildcrthcoretikcr gewesen, um einen Rezeptionsfchler handelt.
126 Langen, Johannes von Damaskus. S. 61+105; vgl. Menges. Die Bilderlchre. S. 10 f., weitere Quellen ebd..
S. 12.
127 Langen. Johannes von Damaskus, S. 101
128 Zit. nach Menges. Die Bilderlchre, S. 8f ; auf S. 88 betont er außerdem, dieser Satz werde bei Johannes
Damascenos 0A wiederholt. Vgl. Langen. Johannes von Damaskus, S. 132, Döpmann. Die orthodoxen
Kirchen, S. 53; Thümmcl, Bilderlchre und Bilderstreit. S 45f
129 Menges, Die Bildcrlehre, S. 44
130 Langen. Johannes von Damaskus. S. 104ÍT.
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Rolle spielt: Christus wird auf dem Berg Tabor im göttlichen Licht verklärt (Mt 17,1-8, Mk
9,9-13, Lk. 9,28-36).131 Für Dionysios bedeutet das, daß sich Gott vor den Menschen versteckt, um sie zu schützen .132 Gleichzeitig erfahrt der Mensch die Strahlen Gottes als
Geschenk. Für das Bild bedeutet dies, daß es Teil der Konzession Gottes an das Unvermögen
des menschlichen Geistes ist, ihn unverhüllt zu sehen 133
Der Bildbegriff des Dionysios Areopagita ist in Johannes Damascenos' Verteidigung der
Bilder vorauszusetzen Er ist jedoch nicht auf die Ikone zu reduzieren, um deren Herstellung
und Verehrung es im Bilderstreit vornehmlich ging Vielmehr versucht Johannes Damascenos
eine Rechtfertigung der Ikone als Sonderfall unter anderen christlichen Bildern. Die Ikonen
werden lediglich in ein Weltbild einbezogen, das dem des Dionysios Areopagita mit seiner
Dreiteilung ganz ähnlich i s t 134
Nach Johannes Damascenos hat ein Bild drei grundlegende Voraussetzungen oder Qualitàten Sie zeigen auch die Art seiner Verbindung mit dem Urbild
1) Die Ähnlichkeit, griech. броісоца, zwischen Urbild und Abbild kann nur gewährleistet
sein, wenn das Urbild vor der Anfertigung des Abbildes geschaut wurde 135
2) Die Ursprungsbeziehung, griech èxxúna)^a Das Abbild ist eine zweite Setzung des
Urbildes und hat wegen der Beziehung zu ihm auch seine Wirkungsfähigkeit.136
3) Der offenbarende und hindeutende Charakter, griech čx<pavrop 1xfļ, ôaxT ixr! Das
Abbild weist auf das Urbild hin, das real existiert, und in dem die verborgenen Dinge ihre reale,
mit dem göttlichen Sein verbundene Existenz offenbaren 137
131 Bara$. Icon, S. 173; vgl S. 174 "This [(he revealing of the Divine light, C.S.), as is well known, was a
common topos in (he theological thought of Antiquity and in the Middle Ages, familiar also to wide
audiences, and used tn the dealing with different subjects ", vgl Lk. 9,29 und Mt 17,2.
132 vgl. Eliadc. Das Heilige und das Profane. S. 23-25
133 BaraS. Icon. S. 174Г, vgl. Ex. 3,6: "Und Mose verhüllte sein Angesicht, denn er fürchtete sich. Gott
an zusch au cn E x. 24,16-17; “und die Herrlichkeit des Herrn wohnte auf dem Berge Sinai, und dccktc ihn
mit der Wolke scchs Tage, und er rief Mose am siebenten Tage aus der Wolke Und das Ansehen der
Herrlichkeit des Herrn war wie ein verzehrendes Feuer auf der Spitze des Berges vor den Kindern Israel "
S. auch Thümmel. Bilderlehre und Bildcrstrcit. S. 44f und Menges, Die Bildcrlchrc. S. 11: "Vor allem ist
der damaszcnischc Bilderbcgnff auf Dionysius zurückzufuhren: Alles Sichtbare ist ein Bild des
Unsichtbaren. (...)
Auch die Berechtigung. Bilder anzufertigen und sic zu verehren, beweist Jolianncs mit Dionysius Areop
Sind nämlich die geschaffenen Dinge Bilder unsichtbarer Dinge, und sind diese Dinge von Gott
geschaffen, so liegt es auf der Hand, daß Gott Bilder gemacht hat und daß auch wir das Recht haben.
Bilder von jenen Dingen anzufenigen. die zwar sichtbar, aber augenblicklich uns nicht gegenwärtig sind
134 Langen. Jolianncs von Damaskus, S. 72ff Den BildbegnfT des Johannes Damasccnos auf die Ikone allein
zu reduzieren, wie Baraś dies tut. wird den Reden über die Bilder daher nicht gerecht
135 Menges. Die Bildcrlchrc. S. 36, auf S. 38f fuhrt er die Väterzitate an, die diese Auffassung belegen, und
die aufgrund der Traditionsichre nicht fehlen dürfen
136 Menges. Die Bildcrlchrc. S. 39
137 Menges. Die Bildcrlchrc. S. 40Г: S. 4 If. die Väterzitatc.
r
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In den Verteidigungsreden klassifiziert Johannes Damascenos die Bilder in 6 Kategorien, die
sich in der ersten Rede (O r I) und der dritten (Or III) wiederholen
1) Natürliche Bilder, ףtpuaixf), das heißt Bilder, die ihrer Natur nach existieren, und zwar
der Sohn, der Heilige Geist, der Menschensohn als Bild des Vaters Der Sohn nämlich trägt
den Vater ganz in sich und unterscheidet sich nur in der Ursache er ist vom Vater verursacht
[Or 1,9; Or III, 18]
2) Die ewigen Ideen in Gott, das heißt die ewigen Urbilder der zu schaffenden Dinge, die in
Gott ihren Sitz haben und von ihm ausgehen Sie sind die Bilder dessen, was sein wird, da in
Gottes Ratschluß alles schon da ist, wie einer, wenn er ein Haus bauen will, zuerst im Geist
dessen Gestalt ausprägt und es dann erst baut, das heißt abbildet [O r 1,10, Or 111,19]
3) Der Mensch als Ebenbild Gottes nach Genesis 1,26 [Or 111,20, Or III,26]
4) Die irdischen Geschöpfe als offenbarende Abbilder der unsichtbaren, unter 2) genannten
Urbilder der Dinge. Hierzu gehört auch die Schrift, die durch sichtbare Zeichen unsichtbare
Begriffe kundtut Die N atur deutet göttliche Offenbarungen an, zum Beispiel die Trinität durch
Sonne, Licht und Strahl oder Quelle, Fluß und Mundung oder Verstand, Wort, Geist, oder
Stiel, Blüte und Duft der Rose [Or 1,10, Or III,21 ]138
5) Die Bilder des Alten Testaments als Urbilder zukünftiger Wahrheiten, als Dinge aus der
Vergangenheit, die man auf das Zukünftige hindeuten kann So bilden zum Beispiel der Dombusch (Ex 3,2) und der Regen, der auf das Vlies fiel (Richter 6,40), die Gottesmutter vor,
ebenso Stab (Num 17,23), Bundeslade (Ex. 25,10) und Krug (Ex. 16,33) Stab und Krug mit
Manna oder die eherne Schlange bilden Christus vor, der den Biß der Schlange als Ursache
allen Übels durch das Kreuz zunichte gemacht hat (Num 21,8, Joh. 3,18) Meer, Wasser und
Wolke bedeuten den Geist der T aufe(! Kor 10,1-4). [Or. 1,11, Or 111,22]
6) Erinnerungszeichen, das heißt alles, was als Andenken an vergangene Taten, an Wundertaten oder Höchstleistungen, hergestellt wurde Diese Bilder dienen zur Verherrlichung, zur
Ehre und als Denkmal deijenigen, die sich hervorgetan haben, als Triumph über die Bosheit
und zum Nutzen der Nachfolger Entweder ist dieses Bild durch die Schrift dargeboten, wie
das Wort, das in Bücher geschrieben wird oder Gottes Gesetz auf den Tafeln, oder es wird auf
Tafeln gemalt und zur Schau gestellt, wie Gott gebot, den Krug mit Manna und den Stab in die
Arche zu legen (Num 17,10), oder die Namen der Geschlechter in Stein einzumeißeln (Ex
138 Vgl Menges. Die Bilderlehrc. S. 45. Vgl. die Beschreibung der Bildersortcn bei Barai. Icon. 2 2 3 f+227Г.
Beide weisen außerdem darauf hin. daß Johannes Damascenos bei der Beschreibung des 4 Bildertyps ein
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28,11). So werden auch die Bilder von gewesenen Personen und deren Tugenden auf Tafeln
gemalt und zur Schau gestellt, als Erinnerungszeichen an ihre Taten und zum Nutzen derer, die
daran erinnert werden [Or 1.13; Or III, 23]139
Gerade im letzten Typ der Bilder meint Baraš, die Kunsttheorie der Ikone zu sehen das Ziel
der Ikone sei die Erweckung des Wunsches, genauso zu sein wie der Dargestellte Hier liegt
auch seiner Kritik an der Theorie des Johannes Damascenos, die er als rezipientenorientiert
ansiehtЛ40
"First, John's major attempt to defend the icon was by showing that it is part o f a
cosmic chain o f images It was this argument that must have had a powerful appeal to his
audiences, and his time in general Secondly, the central feature o f the image is the bipolarity o f model and copy It is this bipolarity that forms the basic structure o f the image,
actually recurring in all types Finally, visibility, in a simple, everyday sense, plays a
minor, subordinate part in the characterization o f the image. As a result one may say
that, while the hierarchic scale may have had a powerful appeal to the imagination o f his
time, the modern student will express some doubt as to whether John o f Damascus did
indeed finally ,save' the image His classification o f images, and the linking o f meanings,
mental images, and actual, painted icons will remain an interesting attempt to find a phi•
losophical justification o f the picture ."141
Sieht man jedoch die Bilderklassifikation des Johannes Damascenos als Weltbild an, wie
Baraš dies impliziert, so fällt auf, daß sie alle von Gott als dem Ursprung ausgehen, sich aber
immer mehr verzweigen und immer wahrnehmbarer werden. Sind Sohn und Heiliger Geist als
natürliche Bilder noch relativ unfaßbar, ebenso wie die ewigen Urbilder in Gott, so sind die
nächsten beiden Kategorien faßbar Sie rekurrieren auf die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, die irdischen Geschöpfe sind die
Abbilder der in Gott existierenden Urbilder
Die fünfte und die sechste Kategorie der Bilder lassen sich nun mit sehr vielen Beispielen
belegen Die Beispiele der fünften Kategorie sind alle biblisch, während die der sechsten Kate
ganzes Kapitel der De caelesti hierarchia des Dionysios Areopagita paraphrasicrt. nå ml ich 1,2. Vgl auch
Thümmcl, Bildcrlchrc und Bilderstreit. S. 55-63
139 Menges, Die Bildcrlchrc. S. 58
140 Baraš. Icon, S. 234
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gone über die biblischen Bilder hinausgehen und die vom Menschen gemachten Dinge, z.B
das Kreuz, Reliquien und Ikonen umfassen, oder etwas, das zur Erinnerung aufgeschrieben
wird wie Genealogien oder Heiligenleben. Sie enthalten wie die vorher beschriebenen Kategorien die angenommene Verbindung zwischen Urbild und Abbild, d.h. das, was Dionysios Areopagita als "unähnliche Ä hnlichkeit bezeichnet, und was Johannes Damascenos die Ursprungsbeziehung und den hinweisenden Charakter des Abbildes nennt Daß Johannes Damascenos
dabei nicht mehr au f den das Bild schaffenden künstlerischen bzw demiurgischen Prozeß
eingeht, liegt daran, daß er die These des Dionysios Areopagita vom abbildungsschaffenden
Prozeß, das èiòonóieiv, als gegeben voraussetzt Die Bilder sind vom göttlichen Willen hervorgebracht Dies erklärt auch Baraš' Kritik, Johannes gehe nicht auf den Künstler ein, der das
Bild malt 142
Umgekehrt bedeutet dies, daß Johannes Damascenos von der Wesensahnlichkeit ausgeht,
die Dionysios Areopagita auf neuplatonischer Grundlage postuliert hatte Somit kann er sich
gegen die Bilderfeinde verteidigen, er verehre nicht die Schöpfung statt des Schöpfers, sondern
sei sich der Wesensähnlichkeit des Geschaffenen mit der göttlichen Natur bewußt In neuplatonischer Weise sieht er die Möglichkeit des Einen im Emanierten 143
O ù лроахглчЬ Tf|v xríoiv л а р 0 tò v x ría a v ra , òXkà лроахиѵа) tò v x tío ttiv
хтіаѲ ёѵта
tò
хат*
èjiè
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ciç xrícmv
àTcmctvcímoç x a i
àxaôapéTœç
хатеХт1А.иѲ0 т а , Тѵа Tfļv čjifļv Ôo^áap (púoiv x ai Ôcíaç xoivwvòv <ілеру 6 стт|ѵа1
Ф Ú O T io ç. [ . ] ״
Oi) y àp
0 c ó tt1 ç f|
<púatç yéyovc
tt\ç
oapxóç, àXX ״âxntep ò Xóyoç
a à p £ ÓTpćntwę èyévcTO *icívaç, блср лротіѵ, оОтш x a i f! aàp £ Xóyoç yéyovzv [.] ״
(O r ili, 6)
"Ich verbeuge mich nicht vor der Schöpfung in dem Geschaffenen. sondern ich verbeuge mich vor
dem Schöpfer des Geschaffenen, das wäre für mich die Erhöhung der Schöpfung und das lasterhafteste
Herabsteigen, dorthin, wo wir an das Geschöpf glauben und wo die Götter gemeinschaftlich die Natur
bewirken. (...) Nicht aber die göttliche Natur hat das Fleisch geschaffen, sondern gewissermaßen ist das
Wort unabänderlich Fleisch geworden, welches als erstes war, und auf diese Weise ist das Fleisch Wort
geworden [...J"
141 Baraš. Icon, S. 236, vgl. die Charakterisierung des damasccnischen Weltbildes als "cosmic chain" auf S.
231
142 BaraS. Icon, S. 243
143 Vgl. auch Thümmcl, Bilderlchre und Bilderstreit. S. 42f.
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A uf die Christusikone bezogen heißt das, daß zwar Christi Gottheit nicht im Bilde erscheinen kann, er aber trotzdem ganz auf der Ikone dargestellt ist:
Ob rf|v áópatov ctxovCÇw Ѳе0тт1та, àXX*
elxovíÇa) ѲеоО тт!ѵ браѲеТааѵ
o áp xaxt yàp Ф^ХЛѴ etxovíoai йцг!хаѵоѵ. (Or 111,6)
"Nicht dic unsichtbare Gottheit bilde ich ab. sondern ich bilde die Gottheit ab, die im Fleisch gcsc•
hen werden konnte, die Seele aber abzubilden bin ich außerstande *
Johannes Damascenos geht bei Ikonen von àxciponoCcxa aus, nicht von Hand gemalten
Bildern, Bildern also, die aus einem göttlichen Emanationsprozeß hervorgegangen sind Diese
Bilder tauchten in der Zeit vor dem Bilderstreit vermehrt auf.144 Somit ״rettet ״Johannes
Damascenos die künstlerischen Bilder im heutigen Sinne eigentlich nicht, denn Bilder sind
Offenbarungen, keine Kunst Für seine Zeit spezifizierte und rechtfertigte er ein hierarchisches
Weltbild, in dem die Welt als von göttlichem Sein emaniert angesehen wird, als Abbild von
göttlichen Urbildern Was die unter 4-6 zusammengefaßten künstlerischen Bilder angeht, so
zeigt sich, daß alles abgebildet werden kann, das nur in irgendeiner Form erscheint oder in
irgendeiner Weise umschrieben werden kann So können auch Engel, Heilige, Seelen und
Teufel abgebildet werden .145 Ausgehend von dieser Weitsicht wird auch die Art klar, auf die
Johannes Damascenos die Herstellung und Verehrung der Bilder rechtfertigt Zwar begründet
er die Bilderverehrung mittels Polemik, Tradition, Zirkelschlüssen und aufgrund ihres Nutzens ,146 da er aber die Ikonen in ein auf Urbild und Abbild begründetes Weltbild einbezieht,
begründet er ihre Verehrung zwangsläufig mit ihrer Existenz und ihrem Platz im Weltbild Da
die ganze Welt ein Bild ist, nämlich das irdische Abbild der geistigen Urbilder in Gott, kann
nichts existieren, das nicht in der göttlichen Welt präexistent war Will der Kaiser also die
Bilder zerstören, so muß er konsequenterweise die Welt zerstören 147 Da er dies nicht vermag,
ist auch die Zerstörung der Ikonen unsinnig .148
144 Brcdckamp. Kunst als Medium sozialer Konflikte. S 114; vgl S 122: йхпролоіета wurden in der
Hauptstadt gesammelt, um iihr eine höhere ontologische Qualität zu geben, und als Palladien im
Kriegszug verwendet, über Stadttoren und bei der Flotte angebracht.
145 Mcnges. Die Bilderlehre, S. 61
146 Die bei Mcnges, Die Bildcrlchrc. näher beschriebenen Begründungen soll hier kurz wiedergegeben
werden: Der Ikonoklasmus ist das Werk des Teufels (S. 116-121), das alttcstamenianschc Bilderverbot
betriffì unsere Bilder nicht (121-133), die Schrift zeigt, daß unsere Bilder ein Werk Gottes sind (133*145).
die Kirche war nie gegen die Bilder, also sind sie Gott wohlgefällig (145-168), der didaktische Nutzen, die
Hilfe und der Schutz durch die Bilder (180-185)
147 Soldat. Die Entstehung des Bilderstreites. S. 191Г
148 Mcngcs, Die Bildcrlehrc. S. 59
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Die Texte: Biblische Typologie
Die Abbildlichkeit des Neuen Testaments vom Alten Testament in der fünften Bilderkategorie
wird im System der biblischen Typologie beschrieben Hierunter fallen auch die in der sechsten
Kategorie genannten Erinnerungszeichen, die Abbilder von neutestamentarischen oder altte*
stamentarischen Handlungen sind, oder Erinnerungszeichen an Heilstaten, die nach dem
Erscheinen Christi geschehen sind Dominierendes Konzept der biblischen Typologie ist die
Präfiguration des einen Textes flir den anderen
In der Kunstgeschichte bedeutet "Typologie ״den Gebrauch von feststehenden Formeln
oder topoi%um den menschlichen Körper, Gestik, dramatische Aktion, Raum und Landschaft
zu repräsentieren 149 A uf frühchristlichen Portraits wird Individualität nicht durch Maltechnik
erreicht, sondern durch den schriftlichen Namen&zusatz deutlich g em ach t 150 Christus und die
Apostel werden in der frühchristlichen Kunst nach kollektiven konventionellen Vorlagen dargestellt ,151 Christus und Maria im 4 Jahrhundert nach dem Typus der Kaiserdarstellungen
typologisch g e fo rm t 152
In den Bibelwissenschaften wird die Typologie ab Mitte des 19 Jahrhunderts als M ethode
ein g esetzt 155 Bereits in der Schriftexegese des Mittelalters wurde versucht, ein Netzwerk von
Typ-Antityp-Beziehungen im Alten und Neuen Testament herzustellen Hierbei wurde der
Schriftsinn in vier Stufen zu ermitteln versucht: literal, allegorisch, tropologisch, das heißt
moralisch, und anagogisch oder eschatologisch 154 Allerdings wurde diese M ethode im
M ittelalter nicht als solche reflektiert
Die Grundlage des typologischen Denkens ist nach Alois Schmücker die Analogie, die in
erster Linie bei der Exegese der beiden Testamente eingesetzt wird .155 Wie Schmücker jedoch
zeigt, ist die Typologie nicht auf innerbiblische Analogien beschränkt, sondern geht darüber
hinaus und findet sich in der Literatur z В in Heiligenleben wieder Die innerbiblische Heilszu
149
150
151
152
Grabar, Christian Iconography, S. 63
Grabar, Christian Iconography, S. 63
Grabar, Christian Iconography, S. 74
Grabar, Christian Iconography, S. 77ff, vgl ebd., S. 77: "The process may even have begun somewhat
earlier than this, not so much as an imitation of Imperial Roman art but through the agcncy o f certain
iconographie clichés that referred to the ideas of sovereignity, victory, power, tribunal, or to the
relationship between the sovereign and the dignitaries of his court."
153 Heutzutage wird der Begriff in der Soziologie und in den Wirtschaftswissenschaften sowie unter anderem
in der modernen Narratologie gebraucht, weniger in den Bibelwisscnschaften
154 Paxson. A Theory of Biblical Typology, S. 359, v.a. Anm. 1; vgl. Schmücker, Sprachliche Verfahren in
hagiographischcn Texten, S. 522.
155 Schmücker. Typologie und Metaphorik. S. 375
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sage wird also nicht mehr auf die historische Heilszeit beschränkt Biblische Typologie zeigt,
wie die Heilszusage auch nach der biblischen Zeit aktuell bleibt, denn sie zeigt die Epiphanie in
der Geschichte auf
Ausgangspunkt des typologischen Denkens ist der Gedanke, daß die Ereignisse des Alten
Testaments ihre Fortsetzung und Erfüllung im Neuen Testament haben und beide Testamente
somit ein heilsgeschichtliches Kontinuum bilden, in dem sich der theologische Sinn der
beschriebenen Ereignisse enthüllt 156 Schon das Matthäusevangelium als einflußreichstes
Evangelium der alten Kirche ist darauf ausgerichtet, Christus als denjenigen zu etablieren, in
dem sich das alttestamentarische Heilsgeschehen erfüllt Dazu benutzt Matthäus zahlreiche
alttestamentarische Zitate und Anspielungen Auch Paulus weist im 1 Brief an die Korinther
mit den Worten т а ѵ т а Ôè тѵлоі
èyevr|ÔT10a v , etç
tò
clvai f!nãç £ л 1Ѳицтгт&;
хахш ѵ, xaôcbç xàxelvoi £лсѲи|іг!иаѵ, “das ist aber uns zum Vorbilde geschehen, daß wir
nicht uns gelüsten lasen des Bosen" (1 Kor 10,6), auf biblische Typologie hin, wenn er auf die
Sünden der Israeliten verweist: die in Num. 11,34 geschilderten Ereignisse erscheinen als
Urbild der in Paulus* Zeit sich vollziehenden Ereignisse Das alttestamentarische Urbild nennt
Paulus Typ, тилод Analog zur Verwendung bei Paulus verwendet man für das Vorbild den
Ausdruck "Typ" Das Nachfolgende wird mit ״Antityp" bezeichnet Für die Dichotomie Altes
Testament - Neues Testament gibt es zum Beispiel das Typ-Antityp-Paar Isaak als Sohn Abrahams, der das Holz für sein eigenes Opferfeuer trägt, und Christus, der Sohn Gottes, der das
Kreuz seines eigenen Opfertodes trägt, oder Noah in der Sintflut ־Christus, der von Johannes
getauft wird .157 Der alttestamentarische Typ ist bei Paulus zum Vorbild geschehen, damit das
Volk des Neuen Bundes diese Sünden nicht mehr begeht Diese Interpretation wird von den
Kirchenvätern fortgesetzt .158 Abgesehen von der Dichotomie Altes Testament - Neues Testament gibt es die typologische Deutung der beiden Testamente in sich Das Alte Testament wird
in die Teile ante legem und post legem eingeteilt, um die heilsbringende Wirkung der Gesetzgebung durch Moses für das jüdische Volk hervorzuheben Abgesehen von diesem logisch
nachvollziehbaren Terminus funktioniert das Schema auch wieder innerhalb der Teile Zum
156 Schmücker, T>־pologic und Mctaphonk. S. 375; vgl Schmückcr. Sprachlichc Verfahren in
hagiographischcn Texten, S. 521 "Typologie wird generell als eine Denkform verstanden, deren Funktion
cs ist. Alles mit Neuem in Beziehung zu setzen und in einer Steigerung bewußt zu machen Mit Blick auf
die T>polog1c kann man mit Recht von einem Verfahren sprechen, das sich in einer hcrmcneutischen
Leistung sicht, deren Ziel cs ist, hcilsgeschichiliche Bedeutung für den Leser oder Hörer eines religiös
thematisierten Textes crschließbar zu machen “
157 Paxson, A Theon of Biblical Typology, S. 370f
158 Schmückcr, Typologie und Metaphorik. S. 375, vgl Paxson. A Theory of Biblical Typology, S. 368.
Grabar, Christian Iconography, S 143
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Beispiel gilt Noah in der Arche als Typ Moses' im Bastkörbchen Analog werden Deutungen
innerhalb des Neuen Testamentes vorgenommen: die drei Magier an der Krippe sind Typ der
drei Frauen am Grab
Die Dichotomie Typ־Antityp ist die grundlegende Dichotomie der biblischen Typologie,
wobei die Anzahl der biblischen Typen und Antitypen, die zueinander in Beziehung gesetzt
werden können, verschieden sein kann Ein Antityp kann mehrere Typen haben, ein Typ mehrere Antitypen, also Allotypen 159 So kann zum Beispiel Christus jegliche Anzahl von Typen im
Alten Testament haben .160 Isaak, David, Noah oder Moses sind in diesem Falle Allotypen von
Christus, der als ihr Antityp fungiert Einzige Voraussetzung für die Setzung dieser Typen und
Antitypen ist eine assoziative Analogie, wie sie zum Beispiel bei Christus und Isaak im Opfergedanken besteht, bei Christus und Noah in der Stiftung des Alten und des Neuen Bundes, bei
Christus und David im Königtum usw., sowie die ethische Unantastbarkeit des Typs nach dem
forma-per/ectior• Prinzip, was bedeutet, daß der Typ chronologisch vor dem Antityp erscheinen muß 161
Für den negativ besetzten Typ fuhrt Paxson den Begriff countertype ein, der mit "Gegentyp" zu übersetzen wäre. Der countertype ist ein Typ, der nicht in das forma-perfectior-Prinzip
paßt, aber trotzdem als Typ nach dem Analogie-Prinzip aufgefaßt werden kann So ist zum
Beispiel Absalom ein Typ, der nicht als positives Beispiel fur Christus fungieren kann. Nichtsdestoweniger läßt sich Absalom mit der diabolischen Konnotation, die ihm als Aufrührer
anhängt, als ”Gegentyp" zu Christus konstruieren 162 Die Gemeinsamkeit ist hier das Hängen:
Absalom am Baum, Christus vom Kreuz
Die gesamte Sinnkonstitution eines Textes, die mittels der Paare Typ-Antityp, Gegentyp
und Allotyp aufgebaut wird, nennt Paxson "typołogue*, Typolog.
"A typologue is a formally discrete unit that comprises a complete typological configuration In traditional typology, it consists o f the abbreviated, type/antitype pairing.
But according to the logic o f the preceding, revisionai taxonomy, a typologue consists o f
any discrete, recombinant pairing o f the elements type, antitype, countertype, and aliotype These four elements exhaust the grid o f relations represented by temporal opposi159 Paxson. A Theory of Biblical Typology, S. 370: "Allotypes arc two or more parallel Old Testament types
that prefigure the same antitype; or, they can be two or more New ־Testament antitypes that ftilfil the same
type.״
160 Paxson. A Theory of Biblical Typolog)׳, S 366
161 Paxson. A Theory of Biblical Typology, S. 370
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tion (good/evil). A hypothetical, discrete typologue would contain: (I ) TYPE Isaac (the
son o f Abraham who carries the wood o f his sacrificial pyre); (2) ANTITYPE Jesus (the
son o f God who carries his sacrificial cross), (3) COUNTERTYPE Absalom (the son of
David who dies, hanging on a tree, from precisely three wounds 2 ־Sam 18:9-14), and
(4) (COUNTER-)ALLOTYPE Judas Iscariot (who also dies "hanging on a tree“ ־Mat
27:5, Acts 1 18). The typological "determinant," or recurring image o f the typologue is
the tactile object(s) o f wood to which the suffering agent is fixed ."163
Die beiden strukturellen Achsen dieses "typologue" sind Alt-Neu oder Gut-Schlecht Wie
willkürlich die Analogien eines Typologs gewählt sein können, und wie viel Assoziation dazu
gehört, zeigt der Typolog, den Paxson aus einem mittelenglischen Zyklus von Mysterienspielen, den Wakefield Plays, extrahiert
(1) TYP: Noah in der Sintflut
(2) ANTITYP: Christus, von Johannes getauft
(3) GEGENTYP: Pharao, der im roten Meer ertrinkt
(4) (GEGEN-)ALLOTYP. Herodes, der durch den Kindermord eine Flut von Blut
erzeugt 164
Das verbindende Merkmal ist hier "Flut", bzw "Wasser"
Paxson verfolgt das typologische Denken der mittelenglischen Literatur zurück bis zu
Augustinus* De dottrina Christiana und zu mittelalterlichen Theoretikern Johannes Scotus
Eriugena ist hierbei das Bindeglied zwischen der neuplatonischen Philosophie der Spatantike
und der mittelalterlichen westlichen Theologie 165
Manifestationen typologischen Denkens gibt es auch in Architektur, Brauchtum, Liturgie,
Kultusasthetik und in der zyklischen Wiederkehr der Kirchenfeste Es stellt eine allgemeine
Integrationsform für die Weitsicht des Mittelalters dar .166 In hagiographischen Texten
präfigurieren biblische Ereignisse die in der Hagiographie beschriebenen Ereignisse aus dem
162 Paxson. A Theory of Biblical Typology. S. 367Г
163 Paxson. A Theory of Biblical Typology, S. 371
164 Paxson. A Theory of Biblical Typology. S. 373. Die Handschrift der Wakefield Plays, die er benutzt, hal
die Sigle: Huntington Library MS Accession Mark MMI
165 Paxson. A Theory of Biblical Typology, S 382
166 Schmùckcr. Typologie und Metaphorik. S. 375Г
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Leben des Heiligen ,167 die Präfiguration kann so weit gehen, daß eine Vita eine andere präfigur ie r t 168 Ausschlaggebend ist allein die Steigerung ins Positive 169
Andre Grabar hat der die biblische Typologie für die frühchristliche Ikonographie entdeckt
In seiner Analyse der frühchristlichen Kunst des 1-6 Jahrhunderts macht er darauf aufmerk־
sam, daß in Bildern und Bildprogrammen ganz bewußt die Erfüllung des Alten Testamentes im
Neuen Testament dargestellt wird und daß es seit dem 5 und 6 . Jahrhundert systematische
Zyklen gab, in denen auf den typologischen Zusammenhang der beiden Testamente und somit
auf ihre heilsgeschichtliche Funktion verwiesen wird 170
In der bildenden Kunst funktioniert die biblische Typologie folgendermaßen:
*There are, however, a number o f Paleo-Christian monuments where Old Testament
subjects are not simply references to persons or events having their place in this continuously unfolding sacred history, with its two successive periods, but are, instead, references to some mysterious but all-important link established by Providence between the
events o f the tw o Testaments This link, which we have mentioned before, is affirmed by
the Gospels and in the Epistles o f St Paul, and under exactly the same form that appears
in certain works o f Paleo-Christian art I am thinking o f the following theme: a prophecy
made in the course o f the Old Testament is realized in gospel times In iconographie
terms, this theme becomes the image o f an event o f the age o f Grace accompanied by the
figure o f the prophet, who, sub lege, announced the event In the catacomb o f Priscilla,
there is perhaps a prophet Isaiah next to a Virgin and Child to say that the birth o f the
divine Child was prophesied by Isaiah. In the Sinope Gospel fragments in Paris and in the
Rossano Gospel the same method is used with all possible clarity The gospel event
167 Schmückcr, Sprachliche Verfahren in hagiographischen Texten, S. 531
168 Schmückcr, Sprachliche Verfahren in hagiographischcn Texten, S. 536. So wird die Vita Constantmi zur
außerbiblischcn Quelle für einen hagiographischen T>pos des Źitie Stefana Permskago des Epifanij
Premudryj
169 Schmückcr, Sprachliche Verfahren in hagiographischen Texten, S. 538
170 Grabar, Christian Iconography, S 111, bemerkt zur biblischen Typologie: "There is an area of Christian
thought that in its interpretation into images invariably produces topographical juxtaposition of figurations
that complement each other This is the area of typology, in the special sense that the term has for
theologians and image-makers: that is. the establishment of relations between persons and events of the
Old and the New Testament. The richest result of juxtaposition of this kind comes only in the Middle
Ages, in Western Europe. But the beginnings of the method appear in Paleo-Christian art, and we will see
some ancient examples of such iconography in a very complex form, observing at the same time, not
without surprise, that the Christian image-makers of late antiquity lagged several centuries behind the
theologians Christ himself, St. Paul in the Epistles, and the Fathers of the Church had already cited the
events of the Old Testament aïs préfigurations of the Alture evangelical events ” Vgl. ebenda. Kap. VI:
"Dogmas Represented by Juxtaposed Images". S. 128-146.
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which is represented is regularly accompanied by two or four prophets who point to the
scene and who hold enormous open phylacteries On the parchments are written the
words o f the prophets predicting the event which is shown nearby above the prophets in
the Rossano Gospel, between them in the Sinope Gospel The Rabbuia Gospels have a
simplified variant o f this scheme, with the prophets o f the Old Testament lined up above
the canon tables, which form a concordance for the story o f evangelical events The
content o f the individual prophecy is not revealed, nor is the exact event o f the age o f
Grace to which it refers The prophets that are shown on the side walls o f S Apollinare
Nuovo beneath the topmost register o f gospel scenes were perhaps placed there with the
same idea the prophets, in a body, are placed before the group o f events that they predieted. ״1■ל
Grabar beschreibt fiir die Ikonographie das gleiche Schema der Erfüllung des Alten Testaments im neuen Testament, wie es in der Literatur angewendet wird. Nur benutzt er eine andere Terminologie 172 Bei Grabar heißt der Typ "Antetyp", weil er präfiguriert Der von Paxson und Schmücker so genannte Antityp heißt bei Grabar "Typ". Grabar macht deutlich, daß
mittels Typologie in der Bildenden Kunst ein theologischer Kommentar gemacht werden kann
und daß diese M ethode seit der christlichen Kunst des 5 und 6 Jahrhunderts sehr verbreitet
ist
Grabars Begrifflichkeit Antetyp-Typ ist die gleiche, die Johannes Damascenos und Dionysios Areopagita gebrauchen Sie nennen den präfigurierenden Typ Archetyp oder Prototyp, das
göttliche Urbild, das im Typ sein Abbild h a t 173
171 Grabar, Christian Iconography, S. 141
172 Grabar, Christian Iconography, S. 14Iff Paxson. A Theory of Biblical Typolog). S. 369, verwirft dicse
Terminologie, weil er angeblich verwirrend 1st.
173 Hier ist cs interessant, sich noch einmal Baraš* Kritik an Johannes Damascenos, er rette das Bild an sich
nicht, ins Gedächtnis zu rufen. Gleichzeitig bemerkt BaraS. Icon. S. 228ÍT . daß Johannes im fünften und
scclistcn Typ der Bilder das beschreibt, was heute als biblische Typologie verstanden wird Dies hält BaraS
fur untypisch, s. Icon. S 229: "So far as I am aware, the biblical typology, though recounted many times.
Iiad not been described as an image, and lias never been subsumed under the philosophical category of the
icon." Der erste Teil dieser Bemerkung zeigt, daß Barai die Funktion von biblischer Typologie in der
darstellenden Kunst nicht berücksichtigt Der zweite Teil zeigt, daß Bara£ die Argumentation des
Johannes Damascenos nicht versteht, weil er auf das sichtbare, gemalte. Bild fixiert ist. Johannes
Damasccnos aber will das unsichtbare Bild als Urbild der Welt und ihr Abbild, das heißt die ganze Welt,
erhalten Die Katcgorisicrung der Bilder dient nur dem Zweck zu zeigen, daß die Welt als Abbild existiert,
abgcsichcn durch Bibel. Kirchenväter und Tradition, was wiederum berechtigt, Abbilder hcrzustellcn
Über die Rettung des Abbildes rettet Johannes Damasccnos die Welt als Urbild Sein Ictztendlichcs Ziel
war es. die Ikonoklastcn ins Unrccht zu setzen Dies gelingt ihm dadurch, daß er die Präexistenz der Welt
beweist Die Ikonoklastcn werden damit zu den Häretikern, als die sie am Ende des Bilderstreitcs
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Biblische Typologie ist die Variante von Urbild und Abbild, die in Kunst und Literatur am
ehesten Eingang gefunden hat und die dort mittels Analyse wiederfmdbar ist Urbild und
Abbild sprengt den engen typologischen Rahmen von Altem Testament und Neuem Testament
und von Hagiographie. Die in der Kategorisierung des Johannes Damascenos angegebenen
Bildertypen für die funfie und sechste Kategorie stimmen mit den von Paxson, Schmücker und
Grabar angegebenen Beispielen für biblische Typologie zwar überein, das mittels der Bilder
von Johannes Damascenos dargestellte Weltbild ist jedoch das allumfassende Weltbild des
Dionysios Areopagita: das in der irdischen Welt Existente bzw sich Manifestierende, zum
Beispiel die Bilder der Heiligen oder die Heilstaten Christi, ist in den himmlischen Urbildern
präfiguriert Die Summe der sich auf der Welt manifestierenden Urbilder ist gleichzeitig Zeichen fur die Größe des sich vollziehenden göttlichen Heilswerkes, der Prozeß ihres Erscheinens Ausdruck des göttlichen Wirkens Dieses zu leugnen, käme der Verleugnung G ottes
gleich
Résumé: Urbild w x iAbbild
Das Urbild-Abbild-Denken, wie es bis zur Beendigung des Bilderstreits formuliert wurde, läßt
sich so zusammenfassen
Dem Urbild-Abbild-Denken liegt die Auffassung zugrunde, daß es zwei Welten gibt. Die
eine ist sichtbar und wahrnehmbar, die andere ist unsichtbar und nicht wahrnehmbar. Über den
beiden Welten steht ein absolutes, transzendentes, göttliches Prinzip, von dem sie ausgehen,
bzw emaniert oder geschaffen werden Aufgrund der ontologischen Beschaffenheit der intelligiblen Welt und des einen Prinzips, sowie aufgrund der Tatsache, daß die intelligible Welt
zuerst emaniert wurde und deshalb präexistent ist, wird davon ausgegangen, daß die nicht
wahrnehmbare Welt dem einen Prinzip näher und damit hierarchisch höher anzusiedeln ist als
die wahrnehmbare Gleichzeitig bedeutet aber der Ausgang auch der wahrnehmbaren Welt
vom einen Prinzip, daß sie, obwohl immanent, einen gewissen Anteil an ihm hat Dieser Anteil,
wie immer er auch aussehen mag, ermöglicht den Aufstieg zum einen Prinzip und damit die
Teilhabe an der ontologischen Fülle des Ursprungs .174
anathematisiert »unten. Daß die Ikonoklasten die Existenz der Urbilder nicht in Frage stellten, spielt
hierbei keine Rolle, wichtig ist nur, daß sie so dargcstellt wurden
174 Eine Teilnahme, die das grundlegende religiöse Bedürfnis des Menschen ausmacht Vgl. Eliade. Das
Heilige und das Profane. S. 85-92
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Hier tritt die Zirkularität dieses Denkens hervor Der Aufstieg zum Einen beweist die Exi׳
stenz der nicht wahrnehmbaren Welt und des göttlichen Prinzips Das Ankommen in der göttli*
chen Erkenntnis ist gleichzeitig Gottesbeweis Andererseits ist die Existenz des einen Prinzips
und der intelligiblen Welt die Voraussetzung für den Aufstieg und die Gotteserkenntnis Das
gesamte Weltbild bricht in dem Augenblick zusammen, in dem die Existenz der intelligiblen
Welt geleugnet wird Denn in diesem Augenblick kann sie ihre Existenz nicht mehr durch die
Möglichkeit des Aufstiegs beweisen Den Theoretikern der Antike und Spatantike ging es
jedoch nicht so sehr um den Beweis der Existenz der Welten wie um die Möglichkeit und
Voraussetzung für den Aufstieg zum Göttlichen, den sie als Rückkehr zum Sein darstellten
Der Aufstieg ist für den Menschen möglich, der die Grundvoraussetzung der Existenz der
zwei Welten und ihres Ausgangs vom einen Prinzip akzeptiert. Damit akzeptiert er gleichzeitig
seinen eigenen Ausgang aus diesem Prinzip Dies ermöglicht ihm die Erkenntnis des eigenen
ontologischen Wesens, die wiederum die Möglichkeit des Aufstiegs von der Vielfalt zum Einen
und damit die Erkenntnis des Einen ermöglicht Diese Erkenntnis ist gleichzeitig Vereinigung,
Ekstase Die Aufgestiegenen haben das Gefühl, mit etwas Göttlichem oder Heiligem verbunden
zu sein, und sehen ihre ontologische Sehnsucht erfüllt
Das weitere Konstrukt, das aus der hierarchischen Emanation der Welten aus dem einen
Prinzip abgeleitet wird, ist die Vorstellung davon, daß die wahrnehmbare Welt nach dem Vorbild und der wiederum hierarchischen Ordnung der nicht wahrnehmbaren Welt aufgebaut ist
Die unsichtbare Welt ist das Urbild der sichtbaren Welt Im Griechischen werden für die
unsichtbaren
Vorbilder
Ausdrucke wie àp x étu n o ç,
Typ, der ursprünglich ist, oder
npÓTOTvnoç, Typ, der eher ist, gebraucht Das Abbild ist einfach nur TÚnoç
Der Vorzug des Konzepts der Urbilder, die in der intelligiblen Welt praexistieren und die
Abbilder in die wahrnehmbare Welt emanieren, ist seine Umkehrbarkeit alles, was in der
wahrnehmbaren Welt existiert, hat zwangsläufig ein Urbild in der unsichtbaren Welt und deshalb Anteil am einen Prinzip Das Prinzip der Präfiguration ist damit ausschlaggebend für die
Ontologisierung der Welt, der außerdem die philosophisch-spekulative Annahme zugrunde
liegt, daß es zwischen Geist und Materie eine Ähnlichkeit der Naturen geben kann
Dieser Unterschied zwischen Geist und Materie ist es, den Plato thematisiert Er stellt den
Geist höher als die Materie: im Höhlengleichnis wird deutlich, daß die wahrnehmbaren, materiellen Gegenstände nur Schatten der Abbilder dessen sind, was sich eigentlich zu erkennen
lohnt, nämlich der geistigen Urbilder Bei Plato ist der Aufstieg zu den Ideen eine Metapher
der Menschenbildung Die Erkenntnis des wahren Seins ermöglicht die Ausbildung des guten
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Staatsmanns Die Abwertung der Materie steht bei ihm der Aufwertung des Geistes gegenüber,
dem eindeutig der Vorzug gegeben wird 175 So äußert sich Plato nicht darüber, wie die Ideen
in den Einzeldingen wohnen 176 Die Welten sind unvereinbar, sie sind getrennt voneinander
Der Aufstieg erfolgt aufgrund einer diffusen und nicht weiter erläuterten Teilhabe, n e 0ć£ 1ę,
des Abbildes an der Idee .177
Wurde die Ideenlehre Platos noch einem exklusiven Schülerkreis der Athener Schule
gelehrt, so breitete sie sich mit dem Entstehen platonischer Schulen im M ittelmeerraum immer
weiter aus In diesen Schulen wurde die Ideenlehre immer weiter expliziert, die platonischen
Dialoge wurden kommentiert Eine Modifizierung der Lehre von den zwei Welten in dem
Sinne, daß sie dem Diskurs der Zeit angepaßt wurde, blieb nicht aus, selbst wenn die einzelnen
Philosophen ihr Werk nicht als neu auffaßten, sondern bloß als Erklärung dessen, was Plato
gelehrt hatte Dies erklärt das Eindringen platonischer Elemente in die Philosophie und Theo־
sophie des 1 und 2. Jahrhunderts * hier sei an die chaldäischen Orakel erinnert -, aber auch in
die christliche Trinitätslehre .178
Plotin überbrückte die Trennung der beiden Welten durch die Einführung des Emanationsprinzips 179 Die Emanation der Abbilder von den Urbildern wird zum Garanten des Aufstiegs
Hierzu wird außerdem die intelligible Welt hierarchisiert und mit vouç, фих^І und 2v gefüllt,
die den Emanationsprozeß und die Entstehung der wahrnehmbaren Welt erklären helfen und
die den Weg des Aufstiegs zur Ekstase klären Die Betonung der mystischen Ekstase und des
Aufstiegs zum Göttlichen bei Plotin 180 zeigt das ontologische Bedürfnis einer Epoche, in der
das die bekannte Welt umspannende Römische Reich immer mehr Unsicherheit und Verfallserscheinungen zeigte und zudem durch erste Barbareneinfälle erschüttert wurde Sie zeigt auch
175 Daher auch das bei Baraś. Theories of Art. S 6 . erwähnte Mißtrauen Platos gegenüber den Bildern als
Abbildern von Abbildern von Ideen.
176 Alvcrmann. Die Lehre Plotins. S. 4
177 BaraŠ. Theories of Art, S. 56; vgl. ders., Icon. S. 73, unter Bezug auf Kratylos 43IE-434B: "There is an
affinity between the picture and the object it represents, even if that affinity is confined to only one aspect
of the object, such as shape ."
178 Schmaus. Trinität. S. 707
179 B arai Icon. S. 137 weist darauf hin. daß dieses Pnnzip von Origcnes stammt und auf die Trinitätslehre
bezogen wurde: "The idea of the continual emergency of one quality from another, without implying in
any way a rupture in the fabric of being, was common in Origen's time and culture Thus, about a
generation after Origen composed De principiis, none other than Plotinus described the emergence of the
nous from the One in precisely the same terms. And a generation before Origen Tertullian described in
similar words the emergence of the Son from the Father." Vgl. Ziebritzki. Heiliger Geist und Weltseele,
bes. Teil II, S. 130-259 Das Lexikon für Theologie und Kirche bestreitet übrigens einen Zusammenhang
zwischen Trinitätslehre und neuplatonischer Philosophie
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die Offenheit, die in dieser Zeit flir eine mystisch-spekulative Gottesschau unabhängig von den
geschaffenen Götterstatuen herrschte Auf diesem Boden konnte eine Religion wie das Christentum populär werden, weil sie das Heil des Einzelnen in kürzester Zeit durch die Wiederkunft des Gottessohnes ankündigte Diese Wiederkunft wurde angesichts des Zerfalls des
Reiches bitter nötig 181
Die Existenz des Plotinschen Emanationskonzeptes und der Lehre von den zwei Welten
gleichsam als Volksbildungsgut der Spätantike kommt einer Popularisierung der platonischen
Ideenlehre gleich und liegt den Arbeiten des Dionysios Areopagita implizit zugrunde 182 Dionysios Areopagita expliziert die Lehre von den zwei Welten im Sinne des Christentums Dies liegt
vor allem in der veränderten Situation, in der sich das Christentum und das Römische Reich im
5 Jahrhundert im Gegensatz zum 3 Jahrhundert Plotins befanden So war das oströmische
Kaisertum relativ gefestigt und das Christentum die vorherrschende Religion im Reich Eschatologisch gesehen stand jedoch die Wiederkunft des Gottessohnes nicht mehr unmittelbar
bevor, was eine Modifikation der Theologie im Sinne der Anteilnahme am Göttlichen in der
diesseitigen Welt auch ohne die Wiederkunft Christi begünstigte
Dionysios Areopagita änderte nichts am Emanationsprinzip und der Zwei-Welten-Lehre,
sondern teilte die Welten nur weiter ein und erhöhte die Zahl der Triaden, die aber nach dem
plotinschen Prinzip weiterexistieren Er besetzte die Triaden christlich und das höchste Prinzip
mit dem christlichen Gott Damit rettet er nicht den Platonismus oder gar den Neuplatonismus,
sondern fuhrt lediglich fort, was andere, zum Beispiel Origenes, schon vor ihm gedacht hatten
Das Ergebnis der Umdeutung des Zwei-Welten-Prinzips im Zeichen des Christentums ist die
hierarchische, auf Triaden beruhende Einteilung der gesamten Welt, die zur alleinigen Welt der
Christen wird, und aus der alle Nicht-Christen herausfallen Den Christen jedoch ermöglicht
dies die Anteilnahme am Göttlichen, da durch das Hierarchienprinzip ein Anteil des Göttlichen
in der Welt perzipiert werden konnte. Hiermit lag Dionysios Areopagita im Trend seiner
Zeit 183
Dionysios Areopagita geht es nicht mehr darum, die Möglichkeit der Anteilnahme an der
Welt der Urbilder zu zeigen Im Gegensatz zu den Philosophen der Antike und Spätantike,
180 Und nicht nur bei ihm: Der Aufstieg /uni Einen und die Teil habe der wahrnehmbaren Well an der
intelligiblen. die bei Plotin Ausdruck finden, waren spätantikes Allgemeingut unter den Intellektuellen,
vgl B arai Icon. S. 137
18! Zu den Zcrfallscrschcinungcn vgl. Lilie. Byzanz. S. 135ÍT. Martin, Spätantikc und Völkerwanderung. S.
1-28.
182 Vgl. B arai Icon, S. І6 .ЧГ
183 B arai Icon. S. 172
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denen es um die Menschenbildung durch den Aufstieg zur Wahrheit ging, entwirft Dionysios
Areopagita das Konzept vom Abstieg des Heiligen Das Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit
erklärt, warum das Heilige in der sichtbaren Welt wahrgenommen werden kann. Dies wird
pointiert in der Bilderlehre des Johannes Damascenos vertreten Er zeigt, daß die gesamte
Heilsgeschichte in der Welt präfiguriert und wahrnehmbar ist und entwirft in der Verteidigung
der Bilder eine ontologisierte diesseitige Welt Diese Ontologisierung, die in den Begriffen des
Christentums stattfindet, ist die Essenz der Umformung der platonischen und neuplatonischen
Spekulation im Sinne des Christentums Die Existenz der Urbilder in Gott wird zur Heilsvoraussetzung der Christen, zum Grund ihrer Heilserwartung
Das Urbild• Abbild-Denken ist im Christentum also eigentlich nicht mehr neuplatonisch 184
Zw ar werden die zwei Welten, die Hierarchisierung und die Emanation im Prinzip beibehalten,
doch wird mit dem Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit die Existenz und Wahrnehmbarkeit der
Ideen auf der Erde bewiesen Der Abstieg der Ideen ist damit der Ausdruck des Abstiegs des
Göttlichen zu den Menschen hin und findet ohne ihr Zutun, nur aufgrund der Gnade Gottes
und durch seine Offenbarung statt. Im Christentum wird die Erkenntnis des Göttlichen zum
Ergebnis der Offenbarung der Urbilder durch die Gnade Gottes Das göttliche Heil wird so
durch die Erkenntnis des Anteils der Abbilder an den Urbildern erfahrbar, nicht mehr durch die
Erkenntnis der Urbilder in der Ekstase
Während es jedoch Dionysios Areopagita wie den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte
um eine Festigung im Glauben durch die Schau der Mysterien ging, hatte Johannes Damascenos ein konkretes kirchenpolitisches Ziel Die Reden über die Bilder richteten sich direkt gegen
die politischen Maßnahmen der Ikonoklastenkaiser 185 Er rechtfertigte das Bild als Bestandteil
der christlichen Tradition und schrieb es gleichzeitig in seinem Offenbarungscharakter fest 186
Es ging Johannes außerdem darum, das Weltbild, das von Dionysios Areopagita beschrieben
worden war, zu bewahren, da ihm die Zerstörung dieses Weltbildes als Leugnung der göttlichen Offenbarung erschien
184 Dies bemerkt auch B arai Icon. S. 219: "John of Damascus, as we know, grew out of the Platonic trend in
antique speculation. But with his argument concerning the power of the image the Platonic tradition has,
at least in this one respect, come in full circle. Plato and many of his followers believed, as we know, that
the painted image can portray only what is anyhow available to the senses Moreover, being a ,shadow' of
the reality1 represented, the painted image shows less, and does so less correctly, than what we can observe
in the prototype, the natural object itself Now, John of Damascus claims exactly the opposite The image,
at least the holy icon, reaches farther than the perception of the human eye in natural experience; it shows
what lies beyond the realm of visual experience. All of John's efforts to sustain the validity o f the sacred
icon aim precisely at showing that the icon reveals more than can be seen in nature."
185 Lange. Bild und Wort, S. І67Г
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Das Argument, man müsse entweder jedwede Verehrung jeglichen Bildes abschaffen oder
aber alle mit ihrem Sinn gelten lassen, wiederholt Johannes Damascenos mehrmals in ähnlicher
Form in den Verteidigungsreden der Bilder, was auf die Wichtigkeit dieser Aussage
hinw eist 187
Die Klassifizierung der Bilder zeigt eine Ausweitung und Explizierung des areopagitischen
Weltbildes, das nicht mehr nur die Hierarchien der Kirche und des Himmels beinhaltet, sondern
den Dingen in der Welt einen Platz im göttlichen Kosmos zuweist, gemäß ihrem Anteil an der
intelligiblen Welt und gemäß ihrer theologischen Bedeutung, die mittels Bibel- und Väterzitaten nachgewiesen wird Im Prinzip wird hier die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ־und der
menschenähnlichen Wesen, der Engel, Seraphim, Thronenden usw. ־ausgeweitet, bzw mittels
Analogieverfahren au f die Dinge der Welt übertragen, so daß auch die in der Klassifizierung
der Bilder angesprochenen Tiere, Pflanzen, Steine und Bibelstellen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis der in ihnen sich offenbarenden göttlichen Wahrheiten haben Für den Menschen
bieten sie wiederum die Möglichkeit der Erkenntnis der göttlichen Offenbarung
Zum anderen bezieht Johannes Damascenos Vorstellungen und Strömungen wie die Ikonenverehrung und die biblische Typologie in das Weltbild ein und verleiht ihnen eine sakrale
Legitimation Was aus diesem Weltbild konsequenterweise in Bezug auf die Ikonen Verehrung
herausfällt, ist der Ikonenmaler und die Ikonenmalerei 188 Beide haben in diesem Weltbild
keinen Platz, da die Ikone emaniert sein muß, um ihre göttliche Wirkung zu zeigen Hier befindet sich Johannes Damascenos im Einklang mit seiner Zeit, da sich gerade im 7 Jahrhundert
das Erscheinen von à x e ip o n o íe ia und von Literatur über ihre Wirkung häufte 189 Durch die
Einbeziehung der Ikone in das Weltbild von Urbild und Abbild befreit Johannes Damascenos
sie aus dem Dilemma, das ihr bis heute bleibt, nämlich der Tatsache, daß sie von Menschen
gemalt ist Die Ritualisierung der Ikonenmalerei hat das Ziel, den Maler seiner Individualität
und Kontingenz zu entheben und zum reinen Medium der Emanation zu machen
186 Lange. Bild und Wort, S. 109ff.
187 Vgl Or 1,14; Or 1.22; Or 111.23.
188 Dies bemerkt auch B arai Icon. S. 243, trotzdem geht er. da Kunsthistoriker, immer wieder auf den Maler
des Bildes ein, z.B. S. 231
189 Vgl Lange. Wort und Bild. S. 123Г
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Anamnese
Problematisch ist in diesem Zusammenhang tatsächlich die Materialität des Bildbegriffes
Lange weist in diesem Zusammenhang pointiert auf den Unterschied des damascenischen zum
areopagitischen Bildbegriff hin
"Es zeichnet sich hier so etwas wie eine Grundfigur der Stellungnahme des Damaszeners zum Areopagiten ab Jedesmal handelt es sich um einen Schluß vom G rößeren auf
das Kleinere, und zwar ex difficiliore Wenn schon die Bildersprache der Heiligen Schritt
zu rechtfertigen ist, durch die an sich Unsichtbares sichtbar gemacht wird, um wieviel
mehr das gemalte Bild, das ja nicht Unsichtbares, sondern das wirklich sichtbar gewor*
dene Unsichtbare, das heißt den Menschgewordenen darstellt! Mit anderen W orten, das
Bild hat nicht zuerst die Funktion, das ob seiner höheren Wirklichkeitsart Unsichtbare
darzustellen, sondern es ist grundsätzlich Mnemebild, das die geliebte sichtbare Gestalt in
die Nähe holt, die nur wegen ihres raumzeitlichen Abstandes unsichtbar ist. Bild und
Abgebildetes liegen in derselben geschichtlichen Wirklichkeitsebene, mag der lebendige
Prototyp auch noch so viel mehr an Qualitäten und an Dignität besitzen als das zweidimensionale Bild Mit dem prinzipiell Unsichtbaren hat es das gemalte Bild nur insofern
zu tun, als der abgebildete Prototyp selber als [im dionysischen Sinn] Bild einer höheren
Wirklichkeit auffaßbar ist. Wir sehen uns damit genötigt, den unmystischen, unplatonisehen, nichtsymbolischen Sinn der Malerei bei Joannes Damaskenos herauszustellen
Was am Prototyp unsichtbar ist, bleibt undarstellbar Es liegt au f der Hand, daß damit
der Bildbegritt'des Dionysios Areopagites sozusagen unterschritten ist .” 190
Die Wirkungsmöglichkeit des Bildes liegt in diesem Zusammenhang au f der gleichen Ebene
wie die des W ortes Bild und W ort werden von Johannes Damascenos als zumindest ebenbürtig genannt, wenn es darum geht, das Heilswerk Gottes darzustellen Eine Aufwertung des
Materiellen liegt hier auf der Hand Wichtig ist es, das Geoffenbarte zu erkennen Johannes
geht in diesem Zusammenhang so weit, daß er Joh 1,14 umkehrt zu fļ oápÇ Xóyoo yéyovcv,
das Fleisch ist W ort geworden 191 Die Erkenntnis des Göttlichen liegt nun zuerst in seiner
Erkenntnis im Geschaffenen, und dann erst in seiner Erkenntnis als Schöpfer Eine mystische
190 Lange, Wort und Bild. S. 136Г.
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Ekstase ist in diesem Falle nicht mehr nötig 192 Die Voraussetzung dieser Gotteserkenntnis
liegt für Johannes Damascenos wie schließlich auch für die Ikonodulen im Bilderstreit in der
Inkarnation des Logos Gott ließ sich in Christus sehen, der in sich nach dem diophysitischen
Dogma zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, in der Perichorese unvermischt und
ungetrennt birgt Die hypostatische Union Christi begründet die Anteilnahme an der göttlichen
Natur» auch wenn nur die menschliche Natur darstellbar ist .193
Der Heilscharakter der Bilder - man könnte mit Lange auch vom religionspädagogischen
Charakter sprechen - liegt darin, daß sie den gleichen Nutzen wie das Wort haben Nach
Johannes Damascenos läuft die Überlieferung der Taten Christi im Bild von Anfang an neben
der Überlieferung im W ort der Schrift her Geschautes und Gehörtes über den Herrn wird
weitergegeben an die Sinne, die es weiterleiten an die Seele 194 Das Geschaute hat hier einen
intellektuellen und affektiven Mehrwert gegenüber dem Gehörten 195 Insofern gebührt dem
Bild wie dem Evangelienbuch die gleiche Ehre
"Die Entnahme der heiligmachenden Worte aus den heiligen Büchern führt zu einer
Sakralisierung der Bücher selbst Dem entspricht der Umgang des Gläubigen mit diesem
Buch [insbesondere der des Liturgen] Denselben Anspruch können infolge der von
Joannes vorgenommenen Parallelisierung auch die Bilder stellen Das Bild beansprucht
die gleiche *Ehre' wie das Evangelienbuch, und zwar mit der gleichen Begründung!
Im topos war der Gegenstandsbereich des Bildes kein anderer als der des W ortes
»Was das W ort des Geschichtsberichtes durch Gehör darstellt, das zeigt die Malerei
schweigend durch Darstellung « Ein und derselbe Sachverhalt wird in zwei verschieden cn M e d ie n p rä se n tie rt, um die b eiden H au p tsin n c zu affizicren Jo a n n e s hat an u n se re r
Stelle den topos nicht erwähnt Aber ein Vergleich lohnt sich! Joannes trennt hier die
Gegenstandsbereiche von Wort und Bild Damit wird das Bild in seiner Notwendigkeit
hervorgehoben W orte geben Gehörtes weiter Bild ist die adäquate Weise, Geschautes
festzuhalten und weiterzugehen, also nicht nur Gehörtes in Schaubares umzusetzen
191 Lange. Bild und Wort, S. 137 zitiert PG 94,1236C
192 So Lange. Bild und Won, S. 138.
193 Lange. Bild und Wort. S. 117, vgl. Soldat. Der Anfang des Bilderstreites. S. 191, Ohme, Ikonen,
historische Kritik und Tradition, S. U ff +22
194 Wir vergessen wahrscheinlich viel zu oft. daß es den Theologen um das Heil des Menschen geht. Zum
einen darum, wie Gott seine Heilszusagc machte, und zum anderen darum, wie der Mensch zu der
Erkenntnis dieser Heilszusagc und zum Glauben kommt und daiin gefestigt wird
195 Lange. Bild und Won. S. 126
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Damit ist eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Behauptung einer Notwendigkeit
des Bildes neben dem Wort der Heiligen Schrift erreicht
Mit all diesen Erörterungen haben wir versucht, eine Tendenz in der Bildertheologie
des Damaszeners aufzudecken, durch die er die Parallelisierung von W ort und Bild
vorantreibt, er sucht die Notwendigkeit des Bildes der des W ortes anzugleichen, indem
er das zum Vergleich herangezogene Wort als eigentliches Offenbarungswort versteht
[u n d n ic h t b l o ß a ls
W ort der O f f e n b a r u n g s t r a d i e r u n g ]
” 1^6
Die Funktion von Bild und W ort liegt in der Erinnerung (griech áv áiiv rio iç, lat memoria)
Beide bezeichnen die Heilswerkzeuge Gottes oder stellen eine Beziehung zu G ott und dem
Heil der Menschen her, sie bringen den Prototyp zur sinnlichen Erscheinung ,97Die Erinnerung
dient der Wirksamkeit des Vergangenen Johannes befindet sich hier in der Anamnesetradtion
der byzantinischen Liturgiekommentare Bereits im 4 Jahrhundert betonte man den anamnetisehen Charakter der Eucharistiefeier Brot und Kelch werden Gegenstand des Gedächtnisses
an Leiden, Kreuz, Grab, Auferstehung, Himmelfahrt, Weltenrichtertum und Wiederkunft Christi, die im Stillgebet des Priesters nach den Einsetzungsworten memoriert werden 198
"Die Eucharistiefeier als Repräsentation, ja, als genaues Gleichbild des Abendmahls
wird in dieser Zeit so konkret aufgefaßt, daß der biblische Einsetzungsbericht eine weitere Angleichung an die liturgische Praxis erfährt So heißt es nun in der byzantinischen
Basileiosanaphora bei den Worten über das Brot ’Er sagte Dank und segnete, heiligte,
brach und gab es seinen heiligen Jüngern
Beim Kelch heißt es: ’Er mischte ihn , sagte
Dank und segnete, heiligte ihn und gab ihn seinen heiligen Jüngern ...’
Bezeichnend flir die stärkere Betonung des Anamnesischarakters der Eucharistie ist
auch die folgende Änderung der basilianischen Anaphoraredaktion Die ältere Wendung
*Er hinterließ uns dieses große Geheimnis seiner Liebe in der Überleitung zum Einsetzungsbericht wird nun entsprechend der liturgischen Anamnesis konkretisiert: ’Er hinterließ uns als Andenken (О лоцѵтіцата) seines heilbringenden Leidens das, w as wir nach
seinem Aufträge dargebracht haben .’” 199
1% Lange, Bild und Wort. S. 123
197 Lange. Bild und Wort. S. 126Г
198 Vgl Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche, S. 29.
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Die Evokation der Heilstaten im Anamnesisgebet entspricht in ihrem Charakter der AufZahlung der Heilstaten im Glaubensbekenntnis (Symbolum)
”Ob nun das Bild das gehörte und gelesene Wort in Erinnerung ruft oder ob es zum
Hören des W ortes führt, immer hat der Damaskenos dabei eine Auswahl von entscheidenden Heilstatsachen vor Augen, allen voran den Heilstod Christi, aber auch die anderen im Symbolum als Kurzfassung der Verkündigung erscheinenden neutestamentlichen
Heilsereignisse Das Symbolum stellt in bezug auf die Thematik der Christusbilder die
Brücke dar zwischen dem Bild und dem Wort des Evangeliums .” 200
Die Funktion von Bild und Wort ist also die Evokation des Urtextes oder Urbildes zur
Anamnesis der Heilstaten und Vergewisserung des eigenen H eils 201 Die Synchronisierung von
Wort und Bild wird nach Schulz besonders sinnfällig in der byzantinischen Liturgie des 8 und
9 Jahrhunderts dargestellt, die somit ein Transportmittel des damascenischen Gedankengutes
und Weltbildes wird .202 Wenn also im folgenden von Urbild und Abbild gesprochen wird, so ist
damit der anamnetische Charakter dieser Denkfigur gemeint, der das Urbild zum Zwecke der
Heilsvergewisserung evoziert, wobei unter Urbild sowohl Bild als auch Wort (Urtext) verstanden wird A uf textueller Ebene gilt es zu zeigen, welche Ahnlichkeitsbezuge in der Abbildlich־
keit liegen und den Mehrwert der Ausdeutung gegenüber dem Abbild zu verdeutlichen
IW
200
201
202
Schul/, Die byzantinische Liturgie. S. 31
U nge, Bild und Wort, S. 131
Diese Evokation ist gleichbedeutend mit der, die Lachmann für die Funktion der Intertextuahtät annimmt.
Vgl Schul/.. Die byzantinische Liturgie S 130: "Die Liturgie ist also Repräsentation nicht nur des Todes,
der Grablegung und der Auferstehung, sondern wesentlich auch der Inkarnation Dies zeigt sich am
deutlichsten im Kleinen Einzug, in der bischöflichen Gewandung und im Wortgottesdienst, besonders der
Evangclicnverkündigung. Der Kleine Einzug ist der feierliche Zug des Bischofs zum Altar (nicht mehr
sein erstes Kommen in die Kirche, auf das ja zunächst die Antiphonen folgen), bei dem das
Evangclicnbuch mitgetragen wird, weshalb Germanos vom ״Einzug des Evangeliums" spricht Bei der
Erwähnung des Opferbrotes und der Beschreibung der Proskomidic wird dagegen die
Inkamationssymbolik nur kurz berührt Hier, wie vor allem vom Großen Einzug bis zum Beginn der
Anaphora ist die Deutung von Kreuz, Grab und Auferstehung bestimmt. Somit gibt Germanos weit mehr
als Maximos und Dionysios der Lcben-Jcsu-Symbolik Raum. ja. er geht darin auch über Theodor von
Mopsucstia hinaus, indem er eine Fülle liturgischer Einzelheiten auf äußerlich ähnliche Gegebenheiten
des Lebens Jesu bezieht, ohne damit jedoch ein einheitliches Dcutungspnnzip konsequent zur Anwendung
zu bringen, wie Tltcodor von Mopsucstia dies tut. • Im II. Jahrhundert wird Theodor von Andida mit
Erfolg versuchen, die vielfältigen Deutungsmotive des Germanos in eine Ordnung zu bringen, indem er
die ganze Liturgie von der Proskomidic bis zur Kommunion mit dem Leben Jesu gleichsam
synchronisiert
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3
Das heilige Volk
Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, daß mit der Taufe der Kiever Rus' ideengeschichtliche Konzepte aus Byzanz in die Rus' gekommen sind 1 Wenngleich der Bekehrung der Kiever
Rus* zum christlichen Glauben griechisch-orthodoxer Prägung in den Quellen eine religiöse
und theologische Ausrichtung gegeben wird, hatte sie politische Grunde und vor allen Dingen
politische Folgen Die christliche Rus* wurde ein gleichgestellter Partner flir andere christliche
S ta a te n 2
Die Aneignung und Reproduktion der christlichen M uster der Herrschaftslegitimation fuhrt
einerseits zur Selbst-Präsentation in der Welt der Diplomatie, andererseits zur Selbst-Repräsentation zwecks Erlangung eines Selbstbewußtseins in der Elite, das dem Herrschaftsanspruch
gerecht wird In Anbetracht der Kommunikationsstrukturen im Europa des 11 Jahrhunderts
1
Zum Komplex "Byzantinische Einflüsse auf die Kiever Rus'" vgl. Alekseev, A A. Koe-ćto 0 pcrevodach v
Drevnej Rusi, in TODRL 49 (1996), S. 278-296, Avenarius, Alexander: Metropolitan Marion on lhe
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Thirteenth Centuries and its Implications for Russian Culture, in: Slavica Gandcnsia 5 (1978). S. 107-141;
Thomson. Francis J. Quotations of Patristic and Byzantine Works by Early Russian Authors as the
Indication of the Cultural Level of Kievan Russia, in Slavica Gandensia 10 (1983). S. 65-102
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dient jedoch auch die Selbst-Präsentation vornehmlich einer Bestätigung des inneren Selbstwertgefuhls Gegenüber dem Westen bedeutet eine Legitimation der Herrschaft durch byzantinische Modelle sowohl eine Abgrenzung als auch ein Herausstellen der neuen Identität in der
Familie der Könige 1 und damit den Eintritt in die "zivilisierte" europäische Welt und ihre
ökonomischen und diplomatischen Beziehungen, die vor allem durch die Heiratspolitik Jaroslav
Vladimirovičs im 11 Jahrhundert verdeutlicht wurden
Bei der Untersuchung der Herrschaftslegitimation in der Kiever Rus' stellt sich das Problem
der Textauswahl Während 90% der Texte in der Kiever Rus' Übersetzungen aus dem Griechisehen und Texte für den liturgischen Gebrauch sind/ steht man bei den übrigen Texten vor der
Frage der gattungsmäßigen Einordnung Ein eigenes literarisches Genre der ,,Herrschaftslegitimation" gibt es nicht. Herrschaftslegitimation fließt vielmehr als ein Element in bestimmte
Texte ein, die ich, Jurij Lotman folgend, mit dem Begriff der "Selbstbeschreibung" belegt
habe 5
Die Selbstbeschreibung geschieht von einem Innenstandpunkt aus und verwendet Termini,
die sich im Verlaufe der Entstehung der Kultur entwickelt haben, also bereits existierende
Gattungen, Formen, Begriffe und Konzepte Auf dieser Grundlage läßt sich aus dem bestehenden Textkorpus der Kiever Rus' eine Anzahl von Texten unabhängig von ihrer gattungsmäßigen Einordnung herausgreifen, die das grundlegende Kriterium einer Selbstbeschreibung erfiillen, d.h. eine Aussage über die sie umgebende und sie hervorbringende Kultur intendieren.
In der Selbstbeschreibung beschreibt sich die Kultur als homogen, ihre Strukturen als einzigartig und als mit einem einheitlichen Weltbild versehen, bzw zentral eingefugt in das einheitliche Weltbild. Das immanente Weltbild der Kultur ist hier eine Wunschvorstellung und
muß von den tatsachlich existenten Strukturen unterschieden werden - allein schon deshalb,
weil eine Selbstbeschreibung Teil der Kultur ist, die sie zu beschreiben versucht, und damit ihr
eigener blinder Fleck Selbstbeschreibungen können Mißverständnisse hervorrufen, wenn ihre
Situierung in der beschriebenen Kultur und ihre immanente Funktion nicht berücksichtigt
werden Dies umgeht man, indem man die Selbstbeschreibungen auf ihre eigene produktive
2
3
4
5
Poppe. The Conversion of Rus', S. 299
Vgl Dölger, Dic Familie der Könige im Mittelalter, wobei Dölger zeigt, daß der Großfürst der Kiever Rus'
in den untersten Rang der Familie aufgenommen wurde und damit noch unter den lateinischen Königen
rangierte
Podskalsky, Christentum und theologische Literatur, S. 4
Vgl Soldat. Sclbstbcschreibungen in der Kiever Rus' Lotman benutzt den Begriff "Selbstbeschreibung”
im Zusammenhang mit seiner Entwicklung der Semiosphäre. vgl. Lotman. О Semiosfere. S. 11-24
Kennzeichen des Zentrums der Semiosphäre ist. daß es irgendwann einen Zustand erreicht, in dem es
Sclbstbcschreibungen produzier!
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Struktur hin untersucht Die Selbstbeschreibung stellt somit ein Metagenre dar, anhand dessen
sich die Ideengeschichte einer Kultur beschreiben läßt
Die Selbstbeschreibung eines kulturellen Zentrums setzt immer auch die Beschreibung seiner Peripherie voraus. Die Beschreibung der Peripherie dient nicht der Polemik gegen die
Peripherie, sondern vielmehr der Schärfung des Bewußtseins fur die eigene Besonderheit, der
Abgrenzung von anderen kulturellen Bereichen Hierbei geht es nicht um Erkenntnisgewinn
über den peripheren Raum, sondern um Erkenntnisgewinn über die eigene Kultur, die Abgrenzung vom "Nicht-Ich", somit die Konstituierung der Kultur als Subjekt
Das zu untersuchende Textkorpus wird also vor allem aus Selbstbeschreibungen bestehen,
die a u f ihre Beschreibung der Herrschaftslegitimation durch Abbildlichkeit des Herrschers wie
auf die Struktur ihrer Beschreibung hin untersucht werden
Das Slovo о zakone i blagodati ist der älteste erhaltene original-russische Text. Es ist etwa
1049 entstanden 6 Seine W ertschätzung zeigt sich darin, daß noch in nachmongolischer Zeit
viele Abschriften des Textes existieren Die erste Redaktion ist die vollständigste die des
Smodarnyj sbontik mit der Sigle S-591, die neben dem Slovo о zakone i blagodati die Pochvaia auf Vladimir den Heiligen, die Molitva für die russischen Lande und das Glaubensbe*
kenntnis des M etropoliten Ilarion enthält Letzteres nennt den M etropoliten Ilarion als Autor
Gorskij hat 1844 nachgewiesen, daß aufgrund sprachlicher Ähnlichkeiten von einer Verfasserschaft Ilarions auch flir die drei anderen Texte ausgegangen werden kann .7
Neben dieser einen, vollständigsten Handschrift aus dem 15 Jahrhundert existiert eine
zweite Redaktion mit mehr als 30 Handschriften aus dem 15.-17 Jahrhundert und einem
Fragment des 12.-13. Jahrhunderts Eine dritte, interpolierte Redaktion, die besonders das
theologische Element hervorhebt, existiert mit etwa einem halben Dutzend Handschriften aus
dem 15.-17 Jahrhundert 8
Von den zugänglichen Editionen ist keine zufriedenstellend Rozov gab das Slovo nach der
Handschrift S-591 heraus 9 Ludolf Müllers Ausgabe ist der mit einem inhaltlichen und
6
7
8
9
Soloviev, Тахт Lobrede des Metropoliten Hilarion. S. 6 2 t, Podskalsky, Christentum und theologische
Literatur, S. 86 ; Poppe. Two Concepts of the Conversion of Rus\ S. 491, FN 12+13 Poppe weis! ebenda
darauf hin. daß das Siovar' knitnikov im Gegensatz hierzu nicht exakt datiert.
Rozov, Ilarion, S. 200
Rozov, Ilarion, S. 201, zur ausführlichen Textkritik vgl. Moldovan. "Slavo о zakone 1 blagodati". S. 2030.
Moldovan, "Slovo о zakone i blagodati", S. 11, vgl. Rozov*, N. N.: Sinodal'nyj spisok soćinenij Ilariona ־
russkogo pisatclja XI v., in: Slavia 31 (1963), S. 141*17$
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ausführlichen Kommentar versehene 10 Nachdruck der Erstausgabe der Handschrift S-591
Gorskijs von 1844.11 Die Ausgabe der Akademie der Wissenschaften der UdSSR beschränkt
sich au f Nachdruck und Faksimile der Handschrift S-591 und einen Kommentar der Ubersetzung unter philosophischem Gesichtspunkt .12 Die einzige kritische Ausgabe von Slovo und
Pochvala ist die Moldovans, die den Nachteil hat, daß sie keinen Textkommentar und die
Molitva nicht mit in die kritische Ausgabe aufgenommen hat 13 Ich werde Slovo und Pochvala
nach dieser Ausgabe mit Folioseite und Zeile in Klammem im Text zitieren, die Abbreviaturen
auflösen und Müllers Kommentare 14 mit berücksichtigen
Während relative Klarheit über die Werke besteht, als deren Autor Ilarion zu gelten hat,
nämlich SIovot Pochvala, Molitva und Glaubensbekenntnis ,15 besteht keine ausreichende Klarheit darüber, welche dieser Texte unter die Überschrift "Slovo о zakone i blagodati" zu fassen
sind Das S lo w r ' knižnikov faßt die Pochvala mit unter das Slovo}6 Müller will alle vier Texte
als eigenständige sehen, die erst später von Ilarion kompiliert wurden 17
Da Müller daraufhinweist, daß das Glaubensbekenntnis wahrscheinlich jenes ist, das Ilarion,
wie in der orthodoxen Kirche üblich, bei seiner Bischofsweihe gesprochen, aufgeschrieben und
unterschrieben hat,
1в
-_
bleiben als zu untersuchender Text Slovo, Pochvala und Molitva übrig
Im folgenden werden Slovo, Pochvala und Molitva unter dem Begriff "Slovo" zusammengefaßt
und untersucht. Diese Zusammenfassung wird auch von der Einleitung des Textes nahegelegt
"О законѣ мшусѣомъ данѣѣмъ. и со благодѣти и істинѣ іисусомъ христомъ
бы вппи. и како закон ъ сотиде благодѣть ж е и истина, всю землю исполни, и
10
11
12
13
14
15
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17
18
Poppe. Two Concepts 0Г the Conversion of Rus*, S. 491, FN 12, weist daraufhin, daß Müllers Kommentar
immer noch der beste ist.
Vgl. Müller. Des Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 34-42+52.
Idcjno-filosofskoc nasledic llariona kicvskogo. dast’ pervaja, Moskva 1986
Moldovan. A. M.: "Slovo о zakone i blatodati” llariona. Kiev 1984. Da die Molitva sehr weite Verbreitung
erfahren hat und in die unterschiedlichsten Bücher, kormčte knigi, travniki, kanoniki und iasoslovy
angegangen ist, ist es schwierig, einen Textkorpus für die tcxtkritischc Ausgabe zusammcnzustellen
Deshalb, so Moldovan, S. 11, habe er die Molitva nicht mit ediert. Moldovans kritischer Text ist ohne die
tcxlkritischcn Angaben und translitericrt in graidanskij šrift in die PLDR 12 aufgenommen worden. Der
Kommentar, den Moldovan für diese Ausgabe zusammengcstellt hat. bleibt jedoch weit hinter dem
Müllers zurück.
Einen zusätzlichen Kommentar zu seiner Ausgabe des Slovo von 1962 veröffentlichte Müller zusammen
mit seiner Übersetzung des Textes 1971
Rozov. Ilarion, S. 200, nennt weitere Texte, als deren Autor llanon gilt, hált diese Autorschaft jedoch für
nicht sehr wahrscheinlich.
Rozov, Ilarion. S. 200
Müller. Die Werke des Metropoliten Ilarion. S. 13
Müller. Die Werke des Metropoliten Ilarion, S. 17; S. 18 bemerkt er, daß Marions Glaubensbekenntnis
dem des Michael Synkcllos folgt, was für seine Bildung spneht
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вѣра въ вел
іа зы к ы
простресА. и до наш его
іа з ы к э
роускаго. и похвала каганоу
нашемоу влодимероу. ап ъ него ж е кры цени быхомъ. и молитва къ богж. ш ть
всеа землА наш еа." (168а,1-11)
"Über das dem Mose gegebene Gesetz und über die Gnade und die Wahrheit, die Jesus Christus war
(verkörperte) Und wie das Gesetz verging, die Gnade aber und die Wahrheit die ganze Well erfüllten
und der Glaube sich zu allen Völkern ausbreitctc. auch bis zu unserem russischen Volk 19 Und der
Lobpreis auf unseren Fürsten Vladimir, von dem wir getauft wurden Und das Gebet zu Gott von
unserem ganzen Land " 20
Dieser Einleitungssatz nimmt die Struktur des Textes vorweg und legt seinen Inhalt bereits
offen Riccardo Picchio macht im Zusammenhang mit dem Exordialtopos des Siovo darauf
aufmerksam, daß der Anfang ein Zitat aus Johannes 1,17 ist und als biblical thematic clue
funktioniert, der die Intention des Textes vorausnimmt Bei Jh 1,17 heißt es ö t i ò vópioç õ ià
M oixréoç £0<ל0 ף, f| xápiÇ *cà ףàX rjõ tia ô ià י1 ןז00 טХріатоО èy ^vrro, "denn das Gesetz
ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden".
Picchio folgert, daß es im Text darum geht, die Superiorität der apostolischen Zeit der Gnade
gegenüber
jeder
anderen
menschlichen
Zusammenhang mit Zitaten aus Jesaja (Jes
geschichtlichen
Zeit
herauszustellen 21
Im
51,4-5), die den Übergang vom Slovo zur
Pochwla einleiten ( 181a, 4184 ־b,3, s.u.), kann man außerdem einen zweiten thematic clue
festmachen, der intepretiert, was das erste Leitmotiv schon implizierte das Land der Rus' ist
direkt durch G ott bekehrt w o rd e n 22
"Since the ,Eulogy' o f Prince Vladimir, which immediately follows, emphasizes
precisely this idea, it seems reasonable to infer that this is actually a thematic clue In
favor o f this interpretation we may add that, besides being structurally marked as a
statement that precedes an expositio, this set o f citations does not directly apply to the
main theme o f the preceding sermon on *Law and Grace'.23״
19
20
21
22
23
Vgl. zu "jazyk“ Müller. Die Werke des Metropoliten Ilarion. S. 62-65
Müller. Die Werke des Metropoliten Ilarion. S. 74, führt aus. daß "zcmlja" bei Ilarion für das eigene,
russische Land gebraucht wird, im Gegensatz zu "strana", oder "strany", womit er die ändern Länder
bezeichnet Heraus fällt das Land der Juden, das "Ijudeja“ genannt wird.
Picchio. The Function of Biblical Thematic Clues, S. 21
Picchio. The Function of Biblical Thematic Clues. S. 22f
Picchio. The Function of Biblical Thematic Clues. S. 23
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Daß das Siovo nach dem urbild-abbildlichen Prinzip aufgebaut ist, ist bereits von Werner
Philipp und Klaus-Dieter Seemann beschrieben worden Philipp sieht die urbild-abbiidliche
Argumentation als Ansatz zum Geschichtsbewußtsein in der Kiever Rus ' 24 Seemann untersucht zwar biblische Typologie in Bezug auf das Alte Testament im Slovo, er impliziert jedoch
nur die Steigerung des Typs vor dem Prototypen ,25 und somit werden die semantischen
Implikationen der Typologie nicht mitberücksichtigt
Während der Text vordergründig im ersten Hauptteil, dem Siovo о zakone i biagodati. eine
typologische Predigt über die Genesis und den Galaterbrief ist, im zweiten Hauptteil eine
Lobrede au f den Großfürsten Vladimir Svjatoslavič darstellt und in der Moiitva für das ganze
russische Land betet, schreiben die urbild-abbildlichen Äquivalenzen einen Subtext, der als
Selbstbeschreibung der Kiever Rus' zu lesen ist und der die Herrschaft des Großfürsten und
ihre Strukturen göttlich legitimiert
Ilarion weist das Herausragende der Bekehrung der Kiever Rus' in einer Reihe von urbildabbildlichen Erscheinungen nach, die geradlinig und teleologisch auf die Vollendung der
Bekehrung durch Jaroslav VladimiroviČ, den Zeitgenossen Ilarions, zulaufen Hierbei liegt die
Grobstruktur in der typologischen Abfolge Altes Testament - Neues Testament - postbiblische
Heilsgeschichte
Der oben zitierten Einleitung folgen das Lob Gottes und die Bitte um Segen, die der Vorleser an G ott oder den ältesten anwesenden Geistlichen richtet,26 sodann ein allgemeines Lob der
Heilstaten Gottes, wie sie im Glaubensbekenntnis bekannt werden Es folgt die Aufteilung der
Heilszeiten in die Zeit des Gesetzes und die der Gnade und ihre vorläufige und allgemeine
Ausdeutung am Beispiel von Altem und Neuem Testament Der nun folgende Hauptteil über
Gesetz und Gnade wird mit einem typischen Exordialtopos 27 cingclcitcl, in dem vcrsichcrt
wird, daß nichts Bekanntes wiederholt wird
"Е ж е 60 въ инѣхъ книгахъ писано, и вами вѣдомо. ти еде п о л о ж и т то
дръзости (образъ есть и славохотію.
24
25
26
27
Philipp. Ansätze zum geschichtlichen und politischen Denken in Rußland, bcs S. 156ff Zum Bcgnfidcs
Geschichtsbewußtscins vgl. Jcismann. Karl-Emst: Geschichtsbewußtsein. in; Bergmann. Klaus (Hrsg
u.a.): Handbuch der Gcschichtsdidaktik , Bd 1, Düsseldorf21980, S 42-45
Seemann. Allegorisch-exegetische Verfahren, bcs. S. 422. Der Aufsatz ist sowohl russisch in: Kontekst
1990. S. 72-83 und englisch in: Canadian-American Slavic Studies 25 (1991). S. 31-45 erschienen
(Seemann. Allcgorisch-excgctischc Verfahren. S. 415, FN) Ich benutze die ausführlichere deutsche
Version aus der Festschrift für Erwin Wedel
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 147
Müller, Des Metropoliten Uanon Lobrede. S. 149
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Н и къ невѣдж ниим ъ 60 пиш емь. нъ прѣизлиха насы ш ты ием сл сладости
к н и ж н ы а. не къ врагом ъ бож іем ь иновѣрныимъ. нъ самѣм ь сы ном ъ его. не къ
стран ьны и м ъ. нъ къ наслѣдником ъ нсбеснаго царьства.и (169Ь,14-170а,2)
"Was nun in anderen Büchern geschrieben und euch bekannt ist. hier hinzustellen. ist ein Bild für
Wagnis und Ruhmsucht
Nicht an die Unwissenden schreiben wir nun. sondern an die über alle Maßen mit der Süße der Bücher
gesättigten Nicht an die Feinde Gottes, die Andersgläubigen, sondern an seine eigenen Sohne Nicht an
die Fremden, sondern an die Erben des himmlischen Reiches N
Wenn für die geschrieben wird, die nicht unwissend sind, sondern die, die metaphorisch
"über alle Maßen mit der Süße der Bücher gesättigt" sind, so sind die gemeint, die bereits eine
gewisse Vorbildung haben, die zum Verständnis des Textes beiträgt Der Text des Siovo
bezieht sich somit auf eine traditio auctoris oder traditio auctoritatis von als allgemein
bekannt vorausgesetzten Texten, vor allem die Bibeltexte, die Väterliteratur und andere als
heilig anerkannte Schriften der Christenheit
Der Sinn dieser Prätexte geht in das neu
kompilierte Werk ein .29 Vom Hörer wird erwartet, daß er die im Text enthaltenen M arker
erkennt und ihnen sowohl den alten wie auch den neuen Sinnzusammenhang z u o rd n et 30 Nach
dieser Vorrede beginnt der erste Hauptteil über Gesetz und Gnade
”Ho to законѣ мшѵсѣемь данѣѣмь. и 0) благодѣти и істинѣ христосомъ
бы внии. повѣсть cï есть." (170а,36)־
"Aber über das dem Mose gegebene Gesetz und über die Gnade und die Wahrheit, die Christus war,
ist diese Erzählung."
Es folgt die Ausdeutung der Erzählung von Hagar und Sara (170a,6-184b,2)
Gen.
16+21,1-14 erzählt, wie Abraham zuerst mit der Sklavin Hagar, dann mit seiner Frau Sara
einen Sohn zeugt A uf Bitten der Sara wird der Sohn der Hagar, der als Erstgeborener erbbe
28
29
30
Picchio. Compilation and Composition, S. I
Vgl. Soldat. Selbstbeschrcibungcn in der Kiever Rus', S. 2 4 4 f. Picchio. Compilation and Composition. S.
2 , spricht von "a general technique of combining lexical units to convcy new messages"
Die übliche Lesart mittelalterlicher Texte ist das Vorlesen Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S.
31f. geht außerdem davon aus. daß Ilarion die Rede zu Ostern in der Desjatinnaja ccrkov' am Grabe
Vladimirs stehend gehalten hat Vgl Rozov, N.N.: Sinodal'nyj spisok sočinenij llariona • russkogo
pisatclja XI v., in: Slavia 32 (1963), S. 141-175, S. 147; Müller, Ludolf: Eine weitere gncchische Parallele
zu llarions "Slovo о zakone 1 blagodati*, in: TODRL 48 (1993), S. 100-104, S. 102f. Nach Müller geht
LichaČcv, Samosoznanic. S. 316 davon aus. daß die Rede in der Sophienkathedrale gehalten wurde.
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rechtigt wäre, verstoßen
Saras Sohn Isaak, der durch die göttliche Verheißung geboren
wurde, wird Erbe Abrahams, aus seinem Samen geht das Volk Gottes hervor (Gen 21,12)
Die typologische Ausdeutung dieses Textes im Sinne von Gesetz und Gnade wird von Paulus im Brief an die Galater vorgenommen (Gal 4,21-31), also noch innerhalb der neutestamentarischen Zeit Nach dem Gesetz, so Paulus, sollten die Juden die Erben des himmlischen
Reiches und des himmlischen Jerusalem sein Durch die Gnade Gottes jedoch sind die Christen
die Kinder Isaaks und werden das Himmelreich besitzen
àXX* ò név t x TÍ1Ç л а і ôíoxr!ç х а т а o á p x a угу£ѵѵт1т а и ó ôè t x xf!ę èXruOépaç
ò C tn a y Y tU a ç .
â x iv á éoriv <Шл1уороѵцсѵа. a i n a i y á p d o iv ô ú o 01аѲ?1х а 1 , щ а
nèv falò ôpouç Z iv ã clç õouX dav y c w a x ja , ffriç èaxlv 'A y á p . t ò ôè *Ayàp Z iv â
ô p o ç è ariv èv * \ךדApapíçi. avcnoixti ôè xfj vuv ЧероиоаХгщ , ôouXcúei y à p ц ета
т<Ьѵ ־réxvwv a m f |ç . f! ôè öva> ЧероиааХ ^ц £ХсиѲ£ра è<mv, fļTig èa rìv цг!тт1 р
f|jxà)v. (Gal 4,23-26)
"Aber der von der Magd war, ist nach dem Fleisch geboren, der aber von der Freien ist durch die
Verheißung geboren Die Worte bedeuten etwas. Denn das sind die zwei Testamente eins von dem
Berge Sinai und kommt überein mit Jerusalem, das zu dieser Zeit ist und dienstbar ist mit seinen Kindem Aber das Jerusalem, das droben ist. das ist die Freie; die 1st unser aller Mutter
Der Textaufbau setzt die Bekanntheit sowohl der alttestamentarischen Erzählung als auch
ihrer neutestamentarischen Deutung im Sinne von Gesetz und Gnade bei seinen Rezipierenden
voraus Dies zeigt sich daran, daß die Texte aus Genesis und Galater nicht der Reihe nach,
linear in ihrer heilszeitlichen Abfolge nacherzählt werden, sondern beide Texte so ineinander
verschränkt sind, daß Hagar und Sara des Alten Testaments mit Gesetz und Gnade des Neuen
Testaments in eines fallen und der eine Text den anderen direkt kommentiert Durch diese
rhetorische Strategie wird die Ausdeutung der Texte im Sinne der biblischen Typologie deutlieh, die von Paulus im Galaterbrief nicht vorgenommen wurde
Die typologische Ausdeutung beider biblischen Erzählungen wird sogar am Anfang explizit
hervorgerufen "собразъ ж е законж и благодѣти. агаръ и cappa” (170b,10-11), ״das Bild
von Gesetz und Gnade sind Hagar und Sara" Schon der Ausdruck obraz macht deutlich, daß
die Wirklichkeit der alttestamentarischen Erzählung als Bild der göttlichen Realitäten von
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Gesetz und Gnade verstanden w ird 31 Nach Miklosich hat obraz die Bedeutung von ļiopcprj,
elôoç, ô n o ío o iç, elxcòv, similitudo , imago, also ein Bild, bei dem eine Ähnlichkeit impliziert
ist Auch der G alaterbrief hebt hervor, daß hier bildlich gesprochen wird 32 Die Anfangsaussage
des Slovo , daß Hagar und Sara ein Bild von Gesetz und Gnade sind, läßt die Rezipierenden den
typologischen Bezug der beiden biblischen Texte noch einmal hersteilen, der ihnen schon
vorher geläufig gewesen ist wie Gesetz und Gnade, Schatten und Wahrheit typologisch aufeinander bezogen werden (170a,6-10), so sollen die Rezipierenden Gesetz und Gnade und
Hagar und Sara in dem Sinne typologisch aufeinander beziehen, daß die Bevorzugung Isaaks
durch die Gnade G ottes die Präfiguration der Bevorzugung der Christen vor den Juden durch
die göttliche Gnade ist Der Satz собразъ ж е законж и благодѣти. агаръ и cappa fungiert
hier als ein Memorialzeichen im Text, der den typologischen Zusammenhang der Texte des
Alten und des Neuen Testaments bei den Zuhörern noch einmal in seiner zeitlichen Abfolge
innerhalb der biblischen Heilszeit evoziert und festigt
"изнесс ж е и мшѵсѣи
путь
синаискы а горы законъ. а не благодѣсть, стѣнь а
не истинж ." ( 170b, 22171־a,3)
"Es trug aber Moses das Gesetz vom Berge Sinai herab Aber nicht die Gnade, den Schatten, aber
nich! die Wahrheit "
Während die Gnade von G ott auf die Erde gesandt wird, wird das Gesetz von M ose vom
Berg herabgeholt 33 Deshalb ist es nur der Schatten und nicht die Wahrheit.
Die zeitliche Abfolge der evozierten biblischen Typologie wird im Slovo systematisch
dadurch aufgehoben, daß sich beide, Genesis und Galaterbrief, gegenseitig kommentieren.
״И богь оубо прѣж дс вѣкъ. изволі и оумысли сына своего въ м и р ь послати
и тѣмъ благодѣтѣ
іа в и т и с л .
cappa ж е не р аж д ааш е.” ( 170a, 1720)־
"Und Gott bedachte (izvoliti) aber vor aller Zeit und trachtete danach, seinen Sohn in die Welt zu
schicken und dadurch die Gnade erscheinen zu lassen Sara aber gebar nicht."
31
32
33
Wiederum, wie auch schon in der Einleitung, reflektiert der Text seine eigenen Verfahren und legt diese
offen dar.
áXXriYopoújirva ist das Part. Präs. Pas zu 6 ЛХ1|уор£й> я bildlich reden; Luther übersetzt den Satz
dagegen mit: "Die Worte bedeuten etwas "
Daß dieses Gesetz das göttliche Gesetz war, ist für die Argumentation irrelevant, da Gott schon von
vornherein die Gnade senden wollte. Daß er die Juden betrogen hat. ist für diese Argumentation deshalb
nicht wichtig, weil sie ja den Sohn getötet haben, also selbst schuld sind, daß sie nur das Gesetz, aber
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Die Präfiguration ist nicht von Menschen erdacht, sondern von Gott vorhergesehen Diese
Argumentation ist neutestamentarisch, während der nächste Satz scheinbar zur GenesisErzählung zurückkehrt: Sara aber gebar nicht Der Text bezieht sich hier noch auf den Galaterbrief, in dem Paulus mit Jes. 54,1 das Lob der Unfruchtbaren singt, die Gott ob ihrer Unfrucht־
barkeit rühmt, weil sie weiß, daß aus ihr ein ganzes Volk hervorgehen wird (Gal 4,27) In der
Beschreibung der Geburt Isaaks werden die Zeit des Alten und des Neuen Testamentes ununterscheidbar
״тогда оубо олъклю чи богь лож ссна сарьрина. и зачсньш и роди исаака
свободьнаа
свободьнааго.
и
присѣтивыиж
богоу
чьловѣчьска
сстьства.
ідвишасл оуж с бсзвѣстнаа и оутаснаа. и родисл благодѣть. истина а не законъ.
сы нъ а не рабъ." (171а, 20171־Ь,6)
"Dann aber schloß Gott den Mutterleib der Sara auf, und nachdem sic empfangen hatte, wurde der
freie Isaak von der Freien geboren Und es kam zu Besuch der Gott mit menschlichem Wesen. Heimlich
und verborgen erschien die Gnade und wurde geboren, die Wahrheit und nicht das Gesetz, der Sohn und
nicht der Sklave."
Indem G ott den Leib der Sara öffnet und sie einen Sohn gebärt, wird sie Urbild fur Maria,
der Sohn Isaak Urbild für Christus. Der Sohn, der von Maria geboren wird, ist Gott in
menschlicher Natur
"и
б о гь
іа в и с а
благодѣть божТа всѣмъ человѣкомъ в Торданьстѣи рѣцѣ. сътвори
гоститвж
и
гшръ
великъ.
тельцсм ь
оупигЬныимъ
вьзл ю б л сн ы и м ь сы и ом ь своим ь іисоусомь христомъ.
от»
вѣка
съзваьь 11а едино
вессліе нсбссны а и зсм ны а. съвокж нивъ въ едино аггелы и человѣ кы .”
(171b,15*172a,2)
"Und cs erschien die Gnade Gottes allen Menschen im Flusse Jordan. Es bereitete Gott und lud ein
zu einem großen Gastmahl mit dem gemästeten Kalb, seinem vor der Zeit (schon) geliebten Sohn Jesus
Christus, und rief /и einhelliger himmlischer und irdischer Freude, rief zusamnrcn in Einheit Engel und
Menschen "
Hier zeigt sich, daß beide Zeiten, die alttestamentarische und die neutestamentarische in eine
Heilszeit gedacht werden Die alttestamentarische Gnade ist die neutestamentarische Gnade, in
nicht die Gnade erhalten Wenn man nicht antijüdisch argumentiert, ist es so. daß die Juden noch nicht
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beiden Falién wird ein Sohn geboren Für Christi Geburt wird hier außerdem das Bild der
Taufe im Jordan als Geburt bzw Wieder-Geburt eingeführt 54
In der so erreichten Heilszeit spielt sich eine Heilsgeschichte ab, der die Funktion eines
M ythos zukommt Jene Erscheinung der Gnade ist in der christlichen, scheinbar historischen
Heilszeit geschehen, in der biblischen Zeit, die sowohl Altes als auch Neues Testament und die
apostolische Zeit, die Zeit nach dem Erscheinen der Gnade, umfaßt Diese Zeit wird zum
Urbild fur die Zeit der Rezipierenden, die Christen in der Rus' des Jahres 1049, deren Zeit als
die abbildliche Zeit der Gnadenzeit zu verstehen ist. Die im Text evozierte Heilszeit präsentiert
die kumulative eschatologische Wahrheit des Christentums in der Rus’, indem sie sie auf die
Christen in der Rus* projiziert, die zuhörend gleichsam an der Gnadenzeit, illud tempus, partizipieren Dadurch gewinnen sie ihr neues Selbstbewußtsein in der neuen Religion und in ihrer
neuen Stellung in der christlichen Welt 35
Der Untergang des Gesetzes gehört genauso in diese Zeit wie die Ausbreitung des
Christentums in der Welt, die im folgenden in einer scheinbaren (W ieder-)Aufnahme der
historischen Linearizitat geschildert werden
Die Juden als Vertreter des Gesetzes erkennen die Gnade nicht und werden über die Welt
verstreut
Ihre Verstreuung hat jedoch eine andere Bedeutung als die Ausbreitung des
christlichen Glaubens in der Welt:
"По з н е с е т и ж е господа Тисоѵса. оучеником ъ ж е и Тнѣмь. вѣровавш іим ъ
оуж с
въ христоса
сж щ ем ь
въ іержсалимѣ.
и собоимъ съмѣсь сж ш ем ь.
иоудсшмъ ж е и христіаномъ. и крсщ сш е благодатьное ш бидимо блаш е о т >
обрѣзаніа законьнааго. и не прш м ааш е въ іеросалимѣ христіанска церкви
епискж па необрѣзана. понеж ь старѣиш е творлшесА соущ еи ш ть обрѣзаніа.
насиловаахж на христТаныа. рабичиш ти на сыны свободны е, и бы ваахж
м сж дью ими многы распѣ." (172а, 11-172b, 19)
"Nach der Erhöhung des Herrn Jesus, als die Schüler und die anderen, die schon an das Wesen Christi glaubten, in Jerusalem waren, und beide waren vermischt, die Juden und die Christen, da war die
34
35
reif für die Empfängnis der neutestamentarischcn Gnade waren.
Hier werden gerade nicht Elisabeth und Zacharias als ncutestamcntarischc Beispiele benutzt, obwohl doch
Elisabeth wie Sara in fortgeschrittenem Alter einen Sohn bekommt Dies wäre kontraproduktiv, da
Zacharias jüdischer Priester war, sein Sohne Johannes nur Vorausdeutung der Gnade Christi. Der Sohn ist
in beiden Fällen, bei Sara und Maria, die Verkörperung der Gnade und die Erscheinung des
Höherwertigen.
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. ISO, argumentiert theologisch Der Gnadenplan Gottes war
schon gefaßt, bevor die Welt entstand.
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gnadenhafte Taufe von der gesetzmäßigen Beschneidung umgeben Und es wurden in Jerusalem die
nichtbeschnittenen Bischöfe der christlichen Kirche nicht anerkannt, weil die Ältesten bcschmttcn
waren und die Christen unterdrückten, die Sklaven die freien Söhne. Und es gab unter ihnen viel Streit."
"И сотъгнана бы сть агаръ раба съ сы ном ъ еѣ изм аилом ъ. и и саакъ сынъ
свободны а наслѣдникъ бы сть авраам ж отьцж своему. И сотьгнани б ы т а іѵдѣи
и расточсни 110 странам ъ. и члда благодѣтьнаа христіаніи наслѣдници б ы т а
богу и ейтьцоу." (172Ь,14-22)
"Und vertrieben wurde die Sklavin Hagar mit ihrem Sohn Ismail. Und Isaak, der Sohn der Freien,
wurde der Erbe seines Vaters Abraham. Und die Juden wurden vertrieben und über die Länder zerstreut
Und die Kinder der christlichen Gnade wurden Erben des Gottes und Vaters."
Schließlich zieht Ilarion das Resümee aus seiner Argumentation: "ІДко іѵдсиство
стѣнсмь и закон ом ъ соиравдаашссл. а не спасааш ссл. хрьсгіани ж ъ истиною и
благодатію не соиравдаютьсл
ііъ
спасаютьсл" (173а,13-17);36 "So ist das Judentum
durch den Schatten und das Gesetz gerechtfertigt worden, aber nicht gerettet Die Christen
aber wurden durch die Wahrheit und die Gnade nicht gerechtfertigt, sondern gerettet ״
Dieser Teil dient nicht so sehr der antijüdischen Polemik37 als vielmehr dazu, die G röße der
Gnade und ihre Ausbreitung im christlichen Glauben zu verdeutlichen Mit der alttestamentarisehen Erzählung von Ephraim und Manasse (Gen 40,13-20) wird ein neues Urbild eingefiihrt,
um zu zeigen, daß die Gnade auf den jüngeren Bruder, bzw das jüngere Volk übergeht (Siovo
173b, 10- 16+19174 ־a,5) Jakob/Israel segnet Ephraim und Manasse Zwar ist Ephraim der
jüngere Sohn, sein Volk wird aber größer werden als das von Manasse Deshalb segnet Jakob
/Israel den Ephraim mit der rechten Hand und hält dazu sogar die Hände über Kreuz. Er macht
also die gleiche Geste, die im Siovo auf textueller Ebene als Chiasmus auftritt durch eine
Kreuzbewegung38 wird Alt zu Neu, bzw wird das Alte verworfen und das Junge vorgezogen
175a, 12175 ־b, 22 lobt die Trinität, 175b,5-14 die Heilstaten des Vaters er schickte den
Sohn in die Welt 175b,15*177b,7 lobt die Heilstaten des Sohnes, der zwei Naturen, die göttliche und die menschliche (I76a,21). In Antithesen39 werden sein Wesen und sein Kommen
soteriologisch ausgedeutet die Göttlichkeit und Menschlichkeit Christi ermöglicht die Rettung
der Welt durch seine Heilstaten, die im weiteren aufgefuhrt werden
36
37
38
39
Der Absatz wird bis 173b,9 noch weiter erläutert.
s. auch Müller, Die Werke des Metropoliten Illarion. S. 29f
Bzw. den Kreuzestod. C.S.
Zu einer genaueren Interpretation dieser Antithesen vgl. Seemann, Allegorisch-exegetische Verfahren. S
424Г
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I Die Jerusalemklage Christi aus Matth 23,37-38 verdeutlicht seine Heilstaten noch einmal
un d i zeigt, daß die Juden im Text als countertype der Gnade fungieren
"Іерусалим ъ
ісрусалимъ
избиваю щ іа
пророкы .
кам еніем ь
иослан ы а к тобѣ. колиж ды въсхотѣхъ събирати члда твоа.
побиваю іци
іа к о ж ъ
събираеть
к о к о ш ь иътеньцѣ подъ крилѣ свои и не въсхотѣсте. се ахггавллетсл д о м ъ ваш ь
поусгь.
1АК0
ж е и бысть. приш сдъш е 60 римллнс. илѣниш а іерусалимъ. и
р а з б и т а до сосноваша его. іѵдеиство ш тьтолѣ погыбе. и зако н ъ по семь глко
всчерьнѣи зарѣ погасе. и расѣкдни бы ш а іѵдеи по странам ъ. да не въкж пь злое
пребы вает." (179а,8-179ЬД)
"Jerusalem. Jerusalem, du vertreibst die Propheten. Du steinigst die zu dir Geschickten, die doch nur
deine Kinder sammeln wollten, wie auch die Henne ihre Küken unter ihren Flügeln sammelt Siehe da!
Ihr wolltet euer Haus nicht leer lassen, wie cs aber geschehen ist. Nun sind die Römer gekommen und
haben Jerusalem erbeutet und es zerstört bis auf seine Grundmauern Von da an starb das Judentum
Und das Gesetz erlischt wie das Abendrot Und die Juden wurden über die Lander verstreut, damit nicht
ausschließlich das Böse bleibt."
EBezeichnend ist die Auslassung, die Ilarion vomimmt. Der folgende Vers Mt. 23,39 lauten
nacbh Luther: ״Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da
konmmt im Namen des Herren". Dieser letzte Satz hatte jedoch den Juden die Hoffnung eingeräunmt, doch noch in den Stand der Gnade zu kommen So ist die Argumentation eindeutig:
Jeruusalem als von Christus verflucht steht für Hagar (und Sara) und fur die Juden. Sie haben
die t Gnade G ottes nie besessen Im Besitz der Gnade waren vielmehr immer schon die Christen.
In ihhnen hat sich das Reich G ottes in allen Völkern verbreitet
HteK0 оутиметсА о л ъ васъ цѣсарьство бож іе. и дастъсл странамъ. творлщ іи м ъ
плоды его. къ ним ж е посла оученикы своа глаголл. ш едъш с въ весь миръ
проповѣдитс. свангеліе всей твари, да иж е вѣроуеть и крьститьсл спасенъ
бж деть. и ш ьдьш е наоучите. всл ілзыкы крьстлщ а л въ и мл ап ъ ц а и сы на и
евлтаго духа, оучлще а блюсти, всл елика заповѣдахъ вамъ.
лѣпо бѣ благодати и істинѣ на новы лю ди въсіати.” ( 179b, 19180״a, I0)
"Wie das Rcich Gottes von Euch hinweggenommen worden ist und, den Völkern gegeben, seine
Frucht bringt. Zu ihnen jedoch wurden die Schüler seines Wortes gesandt: geht in die ganze Welt und
predigt das Evangelium allen Geschöpfen, damit wer glaubt und sich taufen läßt gerettet wird. Und
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während ihr geht, lehrt alle Völker und tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes, lehrt und bewahrt all das, was euch verkündet wurde.
Schön sclieincn Gnade und Wahrheit auf das neue Volk."
Daß es sich bei dem neuen Volk ,40 auf das Gnade und Wahrheit scheinen, um das Volk der
Rus' handelt, wird später noch deutlicher Der Fall Israels wird typologisch ausgedeutet Israel
als counterty/w der Rus' ist vergangen, die Rus' aber ist noch da Die Ausbreitung des Christentums in alle Völker gipfelt in der Christianisierung der Rus' 41
Mit dem Gleichnis von den Schläuchen und dem Wein (Mt. 9,17, Mk. 2,22, Lk 5,37-38)
wird noch einmal auf diese Ausdeutung hingewiesen
"ігь ново оучсніс новы мѣхы новы ъьзыкы. и шбое съблюдетсл. ілко ж е и
есть, вѣра 60 благодѣтьнаа по всси земли нрострѣсл. и до наш его ілзыка
рускааго доидс. и законьное езеро прѣсъшс. свангельскыи ж е источникъ
иаводнивсл. и всю землю покрывъ. и до насъ разліасл се 60 оуж е и мы съ
всѣми христианами, славим ь евлтоую троицж a іѵдса молчить. христосъ
слави м ъ бывасть. a іѵдси кленоми." (180а, 20-180Ь, 1 1 )
"Aber eine neue Lehre, neue Schläuche, neue Völker Und beides wird bewahrt So aber ist es. Der
gnadenhafte Glaube hat sich über die ganze Erde ausgebreitet und kam bis in unser russisches Land
Und der Sec des Gesetzes ist ausgctrocknct. die Quelle des Evangeliums aber hat steh mit Wasser gefüllt
und die ganze Erde bedeckt Und bis zu uns ist cs nun schon genossen, und wir sind alle Christen, loben
die Dreifaltigkeit, die Juden schweigen "
Der erste Teil des Textes schließt mit der Erzählung davon, wie das Christentum die Rus' zu
ihrem Vorteil verändert hat: es werden keine Götzen mehr angebetet, die Rus', die christlich
ist, wird gelobt Schließlich erinnert er an die Heilsgeschichte und schließt mit Prophezeiungen
des Alten Testaments (181a,4-184b,3)
40
41
Nach Müller, Die Werke des Metropoliten Ilarion. S. 65 ist "ljudie" bei Ilarion Äquivalenz zu ”Xaòç" in
der Septuaginta. Es ist das heilige Volk der Getauften, das die Gnade besitzt
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 157, kommentiert: "Nach Val'dcnberg (S. 94) will Ilarion
mit diesen Sätzen sagen, das russische Volk sei also von Ewigkeit her bestimmt zur Annahme des
gnadenhaften Glaubens und das gebe Grund zur Hoffnung, daß ihm auch in der Zukunft eine wichtige
Rolle in der Welt zufallen werde M E. wird durch eine solche Formulierung eine Intention in den Text
hineingelcgt. die ihm an sich fremd ist; denn bei Ilarion ist hier nicht von einer Besonderheit des
russischen Volkes die Rede, sondern von dem. was ihm mit allen christlichen Völkern gemeinsam ist
Eine wichtige Rolle Rußlands in der Zukunft wird mit keinem Wort erw ähnt" Zumindest mit letzterem
liat er Recht. Da Ilarion die Heilszeit kumulativ im Text evoziert, hat er keine Veranlassung mehr, an eine
Zukunft zu denken, da die Zukunft des Heils schon anwesend ist. Die Vollendung geschieht durch die
Offenbarung der Gnade in der Heilszeit. in der historischen Zeit auf der Erde ist sie relativ
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Wie Picchio deutlich gemacht hat, weisen die Prophezeiungen Jesajas (1833,10-1846,3) auf
den Anfang des Textes zurück Jes 52,10 (Siovo 183 a, 11-14) spricht davon, daß alle Enden
der Erde die Gnade erhalten werden, die von Gott kommt Schließlich schließt Ilarion:
"buco закон ъ < т ъ мене изидеть и сж дъ мои свѣтъ странам ъ. п рибли ж аетсл
скоро правда моа. и изыдсть
ja k o
свѣтъ с п а с е т е мое. мене акггрови ж идж ть. и
на м ы ш ьцю мою страны оуповають” (184а,18*184Ь,3)
"So geht das Gesetz von mir aus und crlcuchtct mein Gericht die Länder Bald nähen sich meine
Gerechtigkeit, und wie Licht zieht meine Rettung aus. Nach mir dürsten die Inseln Und auf meine
Arme warten die Länder *
Hier wird der biblical thematic clue des Textes wiederholt und verdeutlicht seinen Sinn: die
Rus1 wurde direkt von G ott bekehrt Dieser Sinn wird in der Lobrede noch einmal wiederholt
und gefestigt42
So diente der erste Hauptteil des Textes, die Rede von Gesetz und Gnade, dazu, die Heilszeit zu evozieren, indem Altes Testament und Neues Testament verschränkt wurden, und Sara
als alttestamentarisches Urbild in Maria zum neutestamentarischen Abbild und schließlich als
Gnade wieder zum Urbild flir die Rus1wurde Die Ausbreitung der Gnade zu den christlichen
Völkern kulminiert in der Bekehrung der Rus' durch Gott selbst Die Bekehrung der Rus' war
damit von vornherein im göttlichen Heilsplan vorgesehen und eingeschlossen in den End- und
Anfangspunkt des Heilsgeschehens Während das jüdische Volk als countertype für das russisehe dient, werden alle anderen Völker zu Prototypen oder Allotypen flir die Rus*. Für die Rus*
evoziert Ilarion die Heilszeit, in der die biblischen Urbilder anwesend sind Indem er die Rus1
zum Abbild des jüdischen Volkes als countertype macht, macht er das Volk der Rus' zum
eigentlichen auserwählten Volk Gottes und paßt es in das christliche Heilsverständnis ein. Die
Christianisierung der Kiever Rus' wird damit zum Teil des göttlichen Heilsplanes Das auserwählte Volk der Rus', das nach dem countertype Israels funktioniert, lebt in der Heilszeit im
von Gott verheißenen Land.
Damit wird die Rus' zum Abbild des Reiches Gottes auf Erden und ihre Bekehrung zur
Vollendung des Heils Wenn aber die Rus' Abbild des Reiches Gottes ist, so ist ihr Herrschaftssystem das Abbild der göttlichen Herrschaft, im areopagitischen Terminus das Abbild der
himmlischen Hierarchie Die Hierarchie in der Rus* ist also analog zur himmlischen Hierarchie
42
Picchio, The Function of Biblical Thematic Clues. S. 23
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aufgebaut und gleich ihr von Gott ausgegangen Dieser komplizierte, durch die urbild-abbildlichen Beziehungen aufgebaute Subtext des Siovo wird nun in der Lobrede auf den Großfürsten
Vladimir Svjatoslavič ausgebreitet und expliziert Im Sinne des Subtextes ist Vladimir als
Herrscher und Bekehrer der Rus1 nicht bloß das Werkzeug der göttlichen Vorsehung, wie die
Text Oberfläche glauben macht, sondern Abbild Christi als Pantokrator, als Beherrscher des
Reiches G ottes
Dieser Subtext konkurriert in der Pochvala mit der Text Oberfläche, an der Vladimir "nur"
als Täufer der Rus* und damit apostelgleich apostrophiert wird Doch gerade in der Taufmetapher, die sich wie natürlich durch die ganze Pochvala zieht, wird die Christusabbildlichkeit, die
0цо£(1)ца, immer wieder unterschwellig thematisiert und damit evoziert Da Vladimir im
christlichen Verständnis nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, ist eigentlich klar, daß er Gott
ähnlich ist Der Text braucht Vladimir jedoch an der Spitze einer Hierarchie in der Rus* und
deshalb als Abbild Christi/des Pantokrators
Die Christusabbildlichkeit des Vladimir Svjatoslavič ist nichts ungewöhnliches, legt man die
weitere Funktion des Siovo, die Sammlung von Beweisen für die Heiligkeit Vladimirs,
zugrunde Jedem christlichen Heiligen werden Wunder zugeordnet, die auf eine imitatio Chri-
sti hindeuten Dies wird vor allem in Heilungswundem evident Ilarion steht jedoch im Falle
Vladimirs vor dem Problem, daß er weder ein heiligmäßiges Leben geführt hat noch sich Wunder vor oder nach seinem Tod ereignet haben Er behilft sich mit der Konstruktion des Wunders, daß es keine Wunder gab 43 Zum anderen hebt er auf die heiligmäßige Tat der Taufe ab,
die Vladimir zukommt Die Überleitung zu diesem Textabschnitt ist auffällig
Wie bereits gesagt, macht Picchio darauf aufmerksam, daß schon das Exordium des Textes,
das aus Jcsaja-Zitatcn und einem Johannes-Zitat besteht, zeigt, daß dic Rus' von Gott selbst
bekehrt wurde und daß die Pochvala dies bestätigt Vor allem die ersten drei Jesaja-Zitate sind
hierfür aufschlußreich, so daß ich sie noch einmal zitiere und die Stellenangaben hinzuflige
"и с ъ б ы с т ъ с л 0> н а с ъ ідзыцѣхъ р сч сн о с. а г г ь к р ы с т ь го с п о д ь м ы ш ьцж с в о ю
сватж ю
.
п р ѣ д ъ всѣми
б о г а наш его. (Jes
іа з ы к ы
.
и оузрлть вси к о н ь ц и землл. с п а с е т е е ж е ш ть
52,10) и д р ж г о е ж и в ж азъ г л а г о л е т ь го сп о д ь ,
п о к л о н и т с л ВСАК0 к о л ѣ н о . и в ел к ъ
Rom
43
44
іа з ы к ъ
іа к о
мнѣ
и сп о вѣ сть сл б о гж . (Jes 45,23fr, vgl
14,11) и іс а и и о .44 в ел к а д е б р ь исполнитсл. и всАКа гора и хольм ъ с ъ
Vgl Soldat. The Absence of Miracles. S. 39f.
Moldovan belegt eine weitere Lesart: ісаил же рече.
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м ѣ р и т с л . и б ж д о у т ь к р и в а а въ п р а в а а . и охггріи въ н ж т и г л а д ъ к ы . и
ілвитса
с л а в а го с п о д н л . и в сл к а п л о т ь о у зр и ть с п а с с н іс б о г а н а ш е г о / (Jes 40,4-5, Lk
3,4f.) ( 183a, 10183־b,3)
"Und cs kam zu uns das über die Heiden Gesagte. Es öffhet der Herr seinen heiligen Ami vor allen
Völkern, und alle Enden der Erde erkennen die Rettung von unserem Gott (Jes. 52,10). Und ein anderes:
Ich lebe, spricht der Herr, so wird sich vor mir der ganze Erdkreis verneigen und alle Völker sich zu
Gott bekennen (Jes. 45,23ff., vgl. Röm. 14,11) Und bei Jesaja: Es fülle sich jedes Tal, und jeder Berg
und Hügel erniedrigt sich. Und cs wird das Krumme gerade werden, und die unebenen Wege werden
glatt werden. Und cs enthüllt sich der Ruhm des Herrn und alles Fleisch erkennt die Rettung unseres
Gottes (Jes 40,4-5) "
Müller wundert sich in seinem Kommentar des 5/ovo, warum erst das dritte Zitat als solches
von Jesaja gekennzeichnet ist.45 obwohl er selbst neben Jesaja 40,4-5 auch Lk 3,4f im Stellenkommentar angibt Bei diesem Zitat handelt es sich um die in allen vier Evangelien zu findende
Christusprophezeihung von Johannes dem Täufer, die dieser aus Jesaja nimmt 46
Mt. 3. 3: Dieser näm-
Mk
lieh ist's, über den durch schrieben
1,2-3: Wie gesteht
Lk
beim Buch
3,44>:
im
Jh
1,23: Er sprach:
Reden
des Ich bin "die Stimme eines
den Propheten Jesaja ge- Propheten Jesaja: "Siehe, Propheten
Jesaja
ge- Rufers
sprachen
steht:
(Es Machet
worden
der
Wie
ist, ich sende meinen Boten schrieben
welcher sagt: "Es erschallt vor deinem Angcsicht her, erschallt)
in
den
der
Wüste:
Weg
des
Stimme Herrn gerade!" wie der
"Die
die Stimme eines Rufers der deinen Weg bereiten eines Rufers in der Wüste: Prophet Jesaja gesagt hat.
in der Wüste: Bereitet den wird: (cs erschallt) die Bereitet
den
Weg des Herrn, machet Stimme eines Rufers in Herrn,
machet
seine Straßen gerade1"
Weg
des
seine
der Wüste: Bereitet den Straßen gerade! Jedes Tal
Weg des Herrn, machet soll ausgeiüllt und jeder
seine Straßen gerade "
Berg und Hügel niedrig
45
Müller. Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 159: "Die Wendung 'I Isaino' befremdet, da auch die
vorangehenden Zitate aus Jesaja stammen. Aber die Herkunft ist bei diesen beiden nicht vermerkt
Vielleicht hat Ilarion die Herkunft nicht genau gekannt. Dann wäre zu fragen, woher er sie übernommen
hat. Gewiß gab cs Sammlungen von Bibclzitatcn zu bestimmten Themen, also etwa zum Thema der
Berufung der Heiden. In der Vita Const, und in der Chronik werden bei Erörterung dieses Themas immer
wieder die glcichcn Bibelstcllcn angeführt " Anstatt hypothetische Quellen zu postulieren, scheint es mir
wahrscheinlicher, daß die Sammlung von Bibelstcllcn zur Berufung der Heiden schlicht aus einer Vita in
die andere übernommen wurde - die Viten selbst, im gegebenen Fall dic Vita Constantini, waren die waren
die von Müller postulierte Zusammenstellung. Man sollte allerdings das Gedächtnis der mittelalterlichen
Mönche nicht unterschätzen, die immerhin den gesamten Psalter (dies belegen Stellen aus dem Kievopečerskij paterik) und wahrscheinlich mehr als nur einen Teil der Liturgie auswendig kannten und
deshalb die Stellen assoziativ zusammenstelltcn. Dies erklärt auch Abweichungen im Wonlaut
46 Ich zitiere der Einfachheit halber aus der Züricher Evangcliensynopsc.
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«
gcmacht werden, und das
Krumme soll zu geraden
Wegen und die rauhen
sollen zu ebenen Wegen
werden, und alles Fleisch
soll
das
Heil
Gottes
sehen."
Während die ersten beiden Zitate dem alten Testament entnommen waren, wird durch die
Wendung "и ісаино" nicht etwa auf diese Quelle verwiesen, sondern nun wörtlich aus dem
Lukasevangelium zitiert, um die alttestamentarischen Prophezeiungen mit Textbelegen auf
Christus beziehen zu können So heißt es in Lk 3,3-6:
x a i f!X0ev clę л а о а ѵ (xf!v) лсріхсороѵ т о й M opöávou х л р и а о ш ѵ р < іл т ю р а
H C T avoíaç e ķ йсрсоіѵ й р а р т іш ѵ , <bç у^ѴР<*лтси £v ßißXtp Xóya)v *H aaïou то й
лро<рг|тои. qxúvf! ßowvrog év rfj êpfjpq). êrotpáaarc t t j v ó ô ò v xvpíov, сѵѲаад лоштс
ràç rpißoug aino v. jrãoa cpâpayÇ якцреовцогтеи xaí лаѵ õpoç xaí ßovvög
талсіѵсйѲцогтаі, xaí Іслаі 7ä axoktà eiç еѵѲсlav xai at rpaxcJat ciç ôôoùç kcíaç. xaí
0фета1 m o a oàpÇ tò ownjptov той Ѳеоѵ.
"Und er kam in alle Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der
Sünden, wie geschrieben steht in dem Buch der Reden iesaja’s, des Propheten, der da sagt: ,Es ist eine
Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und machet seine Steige richtig! Alle
Täler sollen voll werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll
richtig werden, und was uneben ist, soll schlichter Weg werden. Und alles Fleisch wird den Heiland
Gottes sehen "י
Hieraus erklärt sich der Einschub, hier handele es sich um ein Zitat von Jesaja, der in keinem
der Evangelien fehlt, und hieraus erklärt sich die Markierung als neutestamentarisch Gleich׳
zeitig wird mit diesem Zitat die Situation der Taufe Christi im Jordan evoziert Das heißt, es
wird hier eine Erwartungshaltung aufgebaut: das Gesetz ist vergangen, die Gnade hat sich in
der Welt verteilt Der Weg soll dem Retter der Rus' und der ganzen Welt bereitet werden. Wer
dieser Retter ist, wird mit der Einleitung der Pochvala beantwortet
"хвалить ж е похвалны ими гласы. римьскаа страна истра и паоула. има ж е
вѣроваиіа въ іисуса христоса сына божіа. асіа и еф есъ и паѲмъ. ісоаньна
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богословьца. індиа (кому егѵиетъ м арка, всл страны и гради и людТе. чтж ть и
славлть.
коегож до
ихъ оучителл.
иж с
наоучиш а
a
православнѣи
вѣрѣ.
похвали м ъ ж е и мы по силѣ наш ей, малы им и похвалами, всликаа и дивнаа
сътворьш ааго. наш его оучителл и наставника, великааго кагана, наш еа зем ли
володим ера. вънж ка старааго игорл. сына ж е славнааго свлтослава." (184Ь,3-
20)
МЕ$ preist aber mi! lobenden Worten das römische Land Peints und Paulus, durch die sie an Jesus
Christus, den Sohn Gottes, glaubten. Asien und Ephesus und Pathmos Johannes den Evangelisten.
Indien den Thomas. Ägypten den Markus. Alle Länder und Städte und Völker lesen und loben
jemanden als ihren Lehrer, von dem sic den rechtgläubigen Glauben lernten So loben denn auch wir
nach unserer Kraft unseren Lehrer und Beginner, den großen Fürsten unseres Landes Vladimir, den
Sohn des alten Igor1, den Sohn des berühmten Svjatoslav "
%
Der Retter, dessen Erscheinen durch die textuellen Strategien vorbereitet wurde, und der
durch die Taufe (!) rettet, ist Vladimir Svjatoslavič/7 der Großfürst der Kiever Rus', der die
Rus* bekehrte.48 Die Erwähnung der Apostel der Länder49 reiht Vladimir zwar in ihre Reihe ein,
weil er nach ihrem Berufungsauftrag handelt und ein Volk tauft In diesem Sinne wird er auch
mit Johannes in typologische Verbindung gebracht, der wiederum ein Prototyp Christi ist. Die
Situation, die am Übergang von Slovo zu Pœhvala evoziert wird, ist eine Übergangs- und
Schwellensituation, in der auf den Erlöser gewartet wird Der Text gibt als Retter Vladimir
Svjatoslavič an Johannes weist auf Christus als den Retter hin Im folgenden wird jedoch
deutlich, daß die Taufhandlung Vladimirs nur bedingt als Abbild der Taufhandlungen der Apostel oder des Johannes verstanden werden kann
47
48
49
Das Lob der Vorfahren des Helden gehört zu den klassischen Verfahren der Lobrede, vgl. Delchayc. H.:
Les Passions des martyrs et les genres littéraires. Brüssel 1921, S. 196ff, zil nach Müller, Des
Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 161.
Hicnnit wäre auch intratextuell die Frage beantwortet, ob das Slovo nun aus einem oder mehreren Teilen
bestehe. Diese beiden Teile gehören argumentatonsch zusammen.
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 160, moniert in seinem Kommentar, daß Ilarion die
Andrcaslcgcndc aus der Povest' vremennych let nicht erwähnt, obwohl angenommen wird, daß er sie
kannte. Allerdings weist Poppe. Two Concepts of the Conversion of Rus', S. 499, daraufhin, daß Uarions
Text ein anderes Konzept zugrunde liegt als der Povest’ Während die Povest' sich um Vollständigkeit
bemüht und alle Erzähungcn aufnimmt, geht Ilarion von Vladimir als alleinigem Täufer der Rus‘ aus,
kann also die Apostclthcoric nicht brauchen. Vgl. S. 494: T h e concept of Ilarion differs from that of the
Primary Chronicle not only in time and in detail, but also in substance The vision of Ilarion was bom of a
conviction in the unity of the church, its apostolicity and its orthodoxy, whereas the conception of the
Primary Chronicle already recognized the division between the imperial cities." Dieses letzte Zitat macht
auch noch einmal deutlich, warum es müßig 1st mit Müller zu fragen, weshalb Rom an erster Stelle steht
und nicht Konstantinopel. Für Ilarion ist Konstantinopel das neue Rom. "Rom" steht im Text also für
beide Städte. Für Ilarion ist die Christenheit eine Einheit, in deren Zentrum die Rus* steht Er trägt keinen
politischen Konflikt zwischen Rom und Konstantinopel aus.
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Der nun folgende Text der Pochvala kann als Vita des Großfürsten Vladimir Svjatoslavič
angesehen werden Sie ist in Teilen (ab 185a,l) dem Lobpreis des Konstantin aus dem Gottesdienstmenäum vom 21. Mai nachgebildet 50 185a,9-187b,6 beschreiben das Leben Vladimirs,
seine Bekehrung, seine Taufe und die Bekehrung des ganzen Landes Nach Müller werden hier
die topoi der Heiligenvita für einen weltlichen Helden um strukturiert51 Da jedoch umgekehrt
die Heiligenvita aus der antiken Lobrede entstanden ist,52 sind die Übergänge von Lobrede zu
Vita fließend und ist die Vermischung der topoi als normal anzusehen Man kann ebensogut
annehmen, daß die topoi der Heiligenvita angewendet werden, weil man Vladimir bereits fur
heilig hält und die topoi sozusagen post festum anwendet
Diese Tatsache wird verständlicher im Lichte dessen, was Gail Lenhoff über die Heiligsprechung von Fürsten in der Kiever Rus' sagt. Der Alltag in der mittelalterlichen Rus' war von
einem christlich-heidnischen Synkretismus beherrscht, in dem sich slavisch-heidnische mit
neuen christlichen Verhaltensmustem mischten In Bezug auf Heilige war es in der Rus*
besonders wichtig, daß die unverweslichen Reliquien der Heiligen erhoben werden konnten
Diese neue Sitte stand im Gegensatz zur alten heidnischen Sitte der Verbrennung des Körpers
und der Bestattung an einem K reuzw eg55 Auffällig an den in der Kiever Rus* kanonisierten54
Heiligen ist die besonders hohe Zahl von Fürsten, etwa 2/3 aller kanonisierten Heiligen,55 unter
ihnen Boris und Gleb, Großfürstin Ol'ga, Mstislav Vladimirovič, Igor' Olegovič, Vsevolod,
Fürst von Novgorod, Fürst Michail VsevolodoviČ von Čemigov und Vladimir Svjatoslavič Die
Kanonisierung der Fürsten hat nach Lenhoff ihren Grund im altslavischen Ahnenkult
"The primary archaic code involves the Kievan worship o f dead ancestors in particular
among the princes Before the conversion to Christianity, the princes believed that their
dead ancestors would protect and guide them in times o f need Such aid was contingent
upon the descendants' fülfilling certain obligations to the dead blood revenge and a
50
51
52
53
54
55
Müller. Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 162. Hier zeigt sich auch, daß Müller das Siovo als
historische Quelle lesen möchte: "... dämm darf diesen Sätzen nur ein geringer Quellenwert gegenüber
anderen Nachrichten über die Taufe Rußlands bcigcmcsscn werden Ein wirklicher Widerspruch gegen die
Gcschichte der Bekehrung Vladimirs, wie sie in der Chronik 986-988 berichtet wird, besteht nicht."
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 161
Wilpert. Sachwörtcrbuch der Literatur, S. 651
Lenhoff. The Notion of "Uncomiptcd Relics", S. 262
Zu Kanonisierung vgl. Golubinskij. Istonja kanonizacii, S. 23+4Iff; Soldat. The Absence of Miracles S.
31-34.
Lenhoff. The Notion of "Uncomipted Relics", S. 257, vgl Golubinskij. Istorija kanonizacii. S. 34-64
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proper burial in the ancestrial grounds (including the pre-burial funeral feast and postburial lamentation) h56
Die Funktion der heidnischen Ahnen, das Land zu schützen und es zu fuhren, wird au f die
heiligen Fürsten übertragen 57 Die Deutung Vladimirs als Abbild Christi kann als Synkretismus
aus altslavischem Ahnenkult und christlichem, hierarchisch geordnetem Weltbild verstanden
werden. Das Weltbild, das im Text aufgebaut wird, ist das der Rus', deren auserwähltes Volk
vom Großfürsten als Abbild Christi beherrscht wird In diesem Diskurs ist die Rus' nicht mehr
ein Reich in der diesseitigen Welt, weil die Heiligung der historischen Zeit im ersten Hauptteil
des Siovo auf der textuellen Ebene schon praktiziert wurde Die Rus' befindet sich bereits in
der Heilszeit.58 Sie repräsentiert als Abbild der himmlischen Welt diese auf Erden Dieses
Weltbild wird durch den Bezug auf die heilsgeschichtlichen Urbilder geformt Die Taufmetapher macht aus Vladimir vordergründig den Apostel der Rus' und ein Abbild Konstantins, der
Subtext macht ihn zum Abbild Christi
Im Taufbefehl Vladimirs fur die Rus' wird der Taufbefehl Christi aus Mt 28,19 zitiert.59
Hier wird das oben gesagte offensichtlich In der Taufe der Rus' handelt Vladimir nicht als
Abbild der Apostel, sondern als Abbild Christi, indem er dessen Taufbefehl ausspricht und die
Rus' nicht selbst tauft, sondern nach seinem Befehl taufen läßt
"заповѣдавъ по всей зем ли и крьститисл
въ имл оугьца и сы на и евлтаго духа, и мсно
Mt 28,19-20:
"Er befahl
ойѵ
ц а Ѳ л т е и о а т е n á v i a t ò £ 0 \ ן ד, P c ü t t ÍÇ o v t c ç
и велегласно въ всѣхъ градѣхъ славитисл aírrouç etç
свлтѣи гроици. 186) ״b,2-6)
n o p e u O d v reç
tò
бѵоца той латрбд x a i той иіои
x a i той áyíou лѵсОратод, ôtòáaxovTCç
fúr das ganze Land, daß es sich taufen ließe airroùç TTļpcIv n á v ia ö o a èvcTciXánnv tyiîv.
im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen
"Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie
Geistes und daß man klar und laut in alle Städten die im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen
heiligen Dreieinigkeit lobte."
«
Teistes. und lehret sie halten, alles, was ich euch befohlen
habe "
56
57
58
59
Lenhoff. The Notion of "Uncomipted Relics", S. 264
Vgl. Soldat, The Absence of Miracles, S. 36.
Ähnlich Poppes Schlußfolgerung aus seiner Analyse des Siovo in Two Concepts of the Conversion of Rus',
S. 503: "Uarion's Slovo ... is a theological-philosophical treatise, an attempt at offering a philosophy of the
history of Rus' with the aim of demonstrating its place in the general Christian history of Salvation "
Dieses Zitat ist in Müllers ansonsten sehr ausführlichem Kommentar nicht ausgewiesen.
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Der Konstantinsvergleich in Siovo 190b, 15 -191b, 1460 wird normalerweise dazu herangezogen, Vladimir als apostelgleich und Zweiten Konstantin darzustellen Diesem Teil des Textes
ist jedoch der Subtext von Vladimir als Abbild Christi ebenfalls immanent Vladimir hat, so
argumentiert der Text, wie Konstantin sein ganzes Volk zum christlichen Glauben bekehrt.
"не токм о исповѣдавъ. ьѵко сы нъ божіи есть христосъ. нъ исповѣдавъ. и
вѣру его оуставль. не въ сдиномь съборѣ нъ по всей земли сеи. и црькви
христови
поставль.
и
слоуж ителл
смж
въведъ.
подобничс
всликааго
коньстантина. равнооумнс. равнохристолюбче. равночеститслю слоуж ителем ь
его.
нъ съ
сваты им и
сотьцами
никеискааго
събора
законъ чьловѣком ъ
полагааш е. ты ж е. съ новыми наш ими штьцами епископы , сънимаілсл
часто.
съ м ногы м ъ съм ѣрсш ем ь съвѣщ авааш есл. како въ чьловѣцѣхъ сихъ ново
познавш іихъ
господа,
законъ оуставити. 0)11ъ
въ елинѣхъ и римллнѣхъ
царьство богоу покори, ты ж е въ роуси. оуж с 60 и въ сонѣхъ и въ насъ
христосъ
царсм ь
зо встса .
сонъ
съ
материю
своею
еленою
крсстъ
соть
іерусалима принссъш а по всему мироу своему раславы на раславъіна .61 вѣрм
оутвердиста. ты ж е съ бабою твоею сольгою принссъш а крсстъ а п ъ новааго
іерусалима
констлитина
града .62
по
всей
зем ли
своей
поставивьш а
оутвердиста вѣрж. его ж е оубо подобникъ сыи. съ тЬмь ж е единол славы и
чести, собещьника сътворилъ
та
господь на небесѣхъ благовѣріа твоего ради,
еж е имѣ въ ж ивотѣ своемь. добръ гіастухъ благовѣрѴю твоему 0 גблаж ен ичс.
свАтаа цьркви свлтыа богородица марТа. ілже създа на правовѣрьнѣи оасновѣ.
иде ж е и моуж ьственос твое тело нынѣ л сж и тъ ж ида троубы архаггелъскы ."
( I 9 0 b j6 -1 9 lb ,l4 )
"Du hast nicht nur bekannt, daß der Sohn Gottes Christus ist. sondern bekannt und seinen Glauben
aufgcrichtet. Nicht in einer einzelnen Kirche, sondern in diesem ganzen Land Und du hast christliche
Kirchen erhehtet und seine Diener eingefuhrt. Nachahmer des großen Konstantin, ebenso klug, ebenso
Christus liebend, ebenso seine Diener ehrend Er aber hat mit den heiligen Vätern des Nikaischcn
Konzils das Gesetz für den Menschen aufgcstcilt. Du aber hast dich oft mit unseren neuen Vätern, den
Bischöfen, versammelt, hast mit großer Bescheidenheit beratschlagt, wie man unter diesen Menschen,
die den Herrn neu anerkennen, das Gesetz cinführcn kann Er unterwarf das griechische und römische
Kaiserreich Gott. Du aber befahlst dem russischen Reich, so wie cs schon bei ihnen war. auch bei uns
60
61
62
Außerdem in der FVL. sub 6523 (1015). in PSRL1 S. 130
Moldovan. Siovo. S. 108. Komm. 62: "вторично написано по ошибке"
Bei den Griechen ist diese Bezeichnung seit dem 9. Jh. nachzuweisen S. Stupperich. Kiev • das zweite
Jerusalem. S. 232.
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Christus den Kaiser zu nennen Er brachte mit seiner Mutter Elena das Kreuz aus Jerusalem und stärkte
in seiner ganzen geschwächten Welt den Glauben Du aber brachtest mit deine Großmutter Ol'ga das
Kreuz vom neuen Jerusalem, der Stadt Konstantins, und stelltest cs in deinem ganzen Land auf Indem
du den Glauben gestärkt hast, bist du eben sein Nachahmcr, mit dem gleichen Ruhm und der gleichen
Ehre. Wegen deiner Frömmigkeit hat Gott dich in den Himmel aufgenommen, damit du an seinem
Leben teilhast, der gute Hirte Wegen deiner Frömmigkeit, о Seliger, wurde die heilige Kirche der
heiligen Gottesmutter Maria auf rechtgläubiger Basis erbaut, wo nun auch dein mannhafter Körper
heute liegt und auf die Posaunen der Erzengel wartet "
Die Wendung, die hier für die Taufe gebraucht wird, lautet: "ты ж е въ роуси. оуж е 60 и
въ оонѣхъ и въ насъ христосъ царем ь зоветсл." "Du aber befahlst dem russischen Reich,
so wie es schon bei ihnen (den Griechen, C S.) war, auch bei uns Christus den Kaiser zu
nennen ״Der Vergleich mit Konstantin bezieht sich also auf die Christianisierung Wie
Konstantin mit seiner M utter Elena das Kreuz aus Jerusalem brachte, brachte Vladimir mit
seiner G roßm utter Ol'ga das Kreuz vom neuen Jerusalem, der Stadt Konstantins, in die Rus ' 63
Indem Vladimir seine Großmutter, die sich schon vor ihm taufen ließ und den Taufnamen
Helena bekam ,64 an die Seite gestellt wird, werden beide zum Abbild Konstantins und seiner
M utter Der Legende nach wurde das Kreuz, an dem Christus gekreuzigt worden ist, von
Helena in Jerusalem gefunden. Nach einigen Varianten der Legende war auch Konstantin bei
diesem Fund anwesend Im Falle von Konstantin und Helena geht es also noch um eine Realie
Im Falle von Vladimir und Ol’ga steht das Kreuz emblematisch for das Christentum, das nicht
aus dem Jerusalem der Juden, sondern aus dem neuen Jerusalem bzw
seinem Abbild
Konstantinopel in die Rus' gebracht wurde. Konstantin nahm für sich Christusebenbildlichkeit
in Anspruch.
"Ein kaiserlicher Iovius oder Hercu/ius, wie während der Tetrarchie praktiziert, wäre
mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren gewesen Dennoch ist auch dieser
Weg von Konstantin versucht worden, der die pagane Vorstellung der Angleichung an
den jeweiligen Schutzgott
Ѳсой) mit der daraus resultierenden eigenen Ver-
göttlichung in gewisser Weise auf das Christentum zu übertragen suchte, indem er sich
selbst zunächst als vicarius Christi darstellt und später sogar als ’christusgleich'
(laó x p iaio ç), wie es in dem Konzept seiner Grablege als Zentrum des Kreuzes und der
63
64
Zu Müllers Interpretation dieser Stelle $ Soldat. Sclbstbcschreibungen in der Kiever Rus\ 239ff..
S. hierzu Obolenskij. Olga's Conversion. S. 156.
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Apostel deutlich wird Allerdings überdauert dieser Versuch nicht das Leben seines
Erfinders, und so wird Konstantin wenige Jahre nach seinem Tod vom loóxpurroç
umgedeutet zum tocuróaroXoç, zum 'apostelgleichen*, was für die Kirche weniger
anstößig ist und den Kaisern nichtsdestoweniger eine besondere Stellung sowohl im
weltlichen wie auch im klerikalen Bereich ermöglichte."65
Noch um 1200 kannte man die Grablege Konstantins inmitten der Apostel Der Leichnam
war zwar schon 359 ausgelagert worden, doch lebte das Bild in der Literatur weiter 66 Die
typologische Ausdeutung der Herrscher und ihrer Frauen als neue Konstantin und Helena
gehört zu den topoi der byzantinischen Herrscherbeschreibung im 9 und 10 Jahrhundert67 Die
Implikation im Slovo findet auf der literarischen Ebene statt, und Vladimir übertrifft Konstantin
жQ
typologisch in seinen Taten
Der oben zitierte Teil des Slovo ist ebenso nach dem Vorbild der
Vita Constantini modelliert wie die Chronikeinträge über Vladimirs Leben Einige Teile der
služba Vladimirs aus dem 13 Jahrhundert sind direkt aus der Konstantins übernommen.69 Der
im 5/ovo geRihrte Konstantinsvergleich war also so präsent, daß man bei der Lebensdarstellung
wie bei der služba auf die Texte zu Konstantin als Vorlagen zurückgriff Hiermit hängt wohl
direkt das Oszillieren zwischen Apostel- und Christusabbildlichkeit in der Auffassung Vladimirs zusammen
In der Legende werden Vladimir 12 Söhne beigegeben, was historisch zweifelhaft ist. So ist
es auf der einen Seite möglich, daß hier Jakob/Israel Urbild für Vladimir war, auf der anderen
Seite kann es auch Christus mit seinen zwölf Aposteln sein, für die Jakob als Urbild steht Im
Facettenpalast aus dem 15 Jahrhundert im Moskauer Kreml’ befindet sich im zentralen Saal die
wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Bau des Palastes angebrachte Malerei ,,Fürst Vladimir und
65
66
67
68
69
Lilie. Byzanz. S 5f., in diesem Sinne wird das Kirchcnbauprogramm und das Mausoleum Konstantins
auch von Lccb. Konstantin und Christus, S. 96-120 dargcstellt.
Lccb. Konstantin und Christus. S 96ff. S. 115 geht Lceb von einer Christusähnlichkeit Konstantins aus
und davon, daß er sich als 13. Apostel gesehen habe. Dies ist insofern unwahrscheinlich, als daß die
Zwölfzahl sich typologisch wesentlich besser deuten läßt als die Dreizehn. Auch stellt Lccb fest, daß nach
Konstantins Tod keine Apotheose stattgefunden hat Dies ist jedoch nicht notwendig, wenn man die
Stellung berücksichtigt, die Konstantin als römischer Kaiser einnahm, und wenn man die Art seiner
Grablcgc bedenkt So werden nicht nur die Heiden, wie Leb S. 117 einräumt. sondern auch die Christen
eine Apotheose Konstantins assoziiert haben, da Heiden wie Christen im römischen Reich die gleiche
Sozialisation hatten Außerdem wurde an Konstantins Grabstätte ständig Gottesdienst gehalten (ebd.. S
119).
Korpcla. A New Christ. Holy Mother and Judas in Medieval Russia, S. 32, FN 59
Dazu bietet Ilarion all seine rhetorische Kunst auf, vgl. Müller, Des Metropoliten Ilanon Lobrede, S. І67Г
Korpcla. A New Christ. Holy Mother and Judas in Medieval Russia, S. 19
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seine Söhne** Sie zeigt Vladimir in der Pose des Zaren und ihm gegenüber seine zw ölf Söhne.70
Zwar schreibt die Povest ״vremennych Iet, Vladimir habe seine zw ölf Söhne als Statthalter in
die verschiedenen Städte der Rus* eingesetzt,71 doch muß Walter Hanak bei dem Versuch, die
zw ölf Söhne mit zw ölf Städten zu assoziieren, auf mehrere Chroniken zurückgreifen 72 Der
Chronikbericht scheint hier auf die Typologie zurückzugreifen, um Vladimir dem Urbild Salomos anzugleichen, der zw ölf Amtleute über ganz Israel eingesetzt hatte (1 Kön. 4,7). Das
Skazanie о Borise i d e b e , das wahrscheinlich älter als die Chronikerzählung ist, nennt folgende zw ölf Söhne Vladimirs VySeslav, Izjaslav, Syjatopolk, Jaropolk, Izjaslav, Mstislav,
Jaroslav, Vsevolod, Svjatoslav, Mstislav, Boris und G leb 73 Es doppelt also zwei Söhne, Izjāslav und Mstislav, um auf die Zwölfzahl zu kommen 74 Die zw ölf Söhne scheinen ein Bild zu
sein, das zwangsläufig folgen muß, wenn man Vladimir als Abbild Christi darstellt
Schließlich geht der Text auf Jaroslav Vladimirovič als Nachfolger Vladimirs in der Großfurstenwürde ein.
"добръ ж е зѣло и вѣрснъ послухъ сы иъ75 твои гешргіи. его ж ъ сътвори
господь нам ѣстиика
по тебѣ. твосмж
владычьствж .
не
руш ащ а твоихъ
оуставъ. нъ оутверж аю щ а. ни оумаллю іца твоему благовѣрію п олож сніа. но
паче прилагаю щ а. не сказаш а нъ оучинлю щ а. иж е недоконьчанал твоа
наконьча. акы солом онъ да д вы два. иж с дсомъ бож іи великы и евлты и его
прѣм ж дрости създа.и (191Ь,16-192а,5)
"Sehr gut und ein Glaubcnsbezcugcr 1st dein Sohn Georgij. Ihn aber machte Gott zu deinem
Nachfolger in deiner Herrschaft. Er hat das von dir Aufgebaute nicht zerstört, sondern gestärkt. Er
verkleinerte nicht die Summe des von deiner Frömmigkeit Hinterlegten, sondern fugte ihm viel mehr
hinzu. Er bestraf) nicht, sondern stellt die Ordnung wieder her Was du nicht beendet hast, beendet er,
wie Salomon das Werk Davids. Er baute das Haus Gottes, seiner großen und heiligen Weisheit."
70
71
72
73
74
75
Abb 97 in Der große Kremlpalast in Moskau
PVL sub 64% (988). PSRL1, S. 121
Hanak, The Nature and Image of Grand Princely Power, S. 29ff.
nach PDRL1, S. 278
Man kann hier natürlich spekulieren, ob nicht einige Söhne früh verstorben sind und andere deren Namen
bekommen haben. Allerdings würde auch dies die Zwölfzahl zerstören. Daß Söhne von unterschiedlichen
Müttern die gleichen Namen erhalten haben könnten, 1st ebenso unwahrscheinlich Die Genealogie in
PDRL1, S. 412, nennt nur 11 Söhne Vladimirs und zwei Töchter, dafür keine Namensgleichheiten Stökl.
Russische Geschichte. S. 834, führt in der Fürstengcncalogic überhaupt nur 7 Söhne auf. tm Gegensatz
dazu zählt Pritsak, The System of Government Under Volodimer, S. $86f. sogar 13 Söhne.
Das "syn"" erscheint im Text in abgekürzter Form, wie cs sonst nur bei "syn" boiii" der Fall ist
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Mit einem weiteren typologischen Vergleich wird Jaroslav hier zum Abbild Vladimirs: wie
Salomon das Werk Davids vollendete, so vollendet Jaroslav das Werk seines Vaters. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wendung "не сказаш а нъ оучинлю щ а", "Er bestraft
nicht, sondern stellt die Ordnung wieder her" Schließlich kam Jaroslav nach Bruderkämpfen
auf den Kiever Großfürstenthron, in deren Zusammenhang der von ihm besiegte Svjatopolk
seine Brüder Boris und Gleb ermorden ließ (s. unten)
Indem Jaroslav Vladimirovič als Stellvertreter seines Vaters auf dem Großfurstenthron
herrscht, hat er die gottgegebene Ordnung wieder hergestellt Die Implikation des Herrschers
als Abbild Christi bleibt im Subtext der Pochvala erhalten, während an der Textoberfläche die
Apostelgleichheit des Großfürsten vorherrscht Auch der Ausruf in 193b, 12: "радуисл въ
влады кахъ апостоле״, "Freue dich unter den Herrschern, Apostel",76 konkurriert mit dem
Folgetext, in dem Vladimir um Fürbitte gebeten wird, als sei er ein Heiliger und Apostel
(194b,l 1-13), wobei ihm jedoch Taten zugesprochen werden, wie sie in den Psalmen Gott
zugesprochen werden (194b,22-I95a,2): er gibt den Hungrigen Speise (Ps 146,7), ist Vater
der Waisen und Richter der Witwen (Ps 68,6), Zuflucht der Armen (Ps. 9,10), Helfer der
Waisen (Ps
10,14+18), er schafft Recht denen, die Gewalt leiden (Ps 146,7), behütet die
Fremden (Ps 146,9).77
Der Text des Siovo evoziert die christliche Heilszeit der Gnade und macht sie für die Rus'
erfahrbar Diese wird zum Abbild des auserwählten Volkes Indem der Großfürst Vladimir an
der Oberfläche in die Nachfolge der Apostel, im Subtext jedoch in die direkte Nachfolge
Christi gestellt wird, wird er zum Abbild Christi und seiner Handlungen Als solches hat er
Anteil am Urbild im Sinne von 0цо(ш ца. Nur als Abbild Christi kann er durch die Taufe die
Heiligung
der
Rus'
zum
Volk
Gottes
crrcichcn.
Denkt
man
das
areopagitische
Hierarchiengebäude mit, so wird die Herrschaft in der Rus' zum Abbild der himmlischen
Hierarchie, an dessen Spitze a!s lepapxt|ç der Großfürst steht, der über das heilige Volk der
Getauften herrscht In einem weiteren abbildschaflfenden Prozeß wird Jaroslav Vladimirovič
zum Vollender der Taten seines Vaters, der dadurch die wahre Ordnung im Reich wieder
76
77
Und nicht, wie Müller, Die Werke des Metropoliten Ilarion, S. 51, übersetzt "Freue Dich, du Apostel
unter den Herrschern "
Nur der Kuriosität halber Müller. Des Metropoliten Marion Lobrede. S 176, findet ähnliche Anklängc in
Paul Gerhardts "Nun laßt uns gehn und treten", EKG 42.
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herstellt. Typologisch gesehen wird er nach dem forma-perfectīor-Prinztp zum Abbild
Vladimirs und dieser dadurch zu seinem Urbild im Text
Jaroslav wird als Nachfolger und Vollender Vladimirs mit typologischen Merkmalen wie
"Salomon" und "David" gekennzeichnet
In seiner Einführung als M
syn" Vladimirs wird
außerdem der Ausdruck in der Handschrift abgekürzt wiedergegeben, wie dies gemeinhin nur
für nomina sacra der Fall ist Ob der Großfürst als Abbild Christ oder gar als Abbild Gottes,
bzw. gottgleich aufgefaßt wurde, ist nicht sicher zu bestimmen Im Falle der im 11 Jahrhundert
erfolgten Substitution des altslavischen Ahnenkultes durch den christlichen Heiligenkult wird
nicht eindeutig zwischen Göttern und Heiligen getrennt Sehr wahrscheinlich spielte dieser
Synkretismus bei der Auffassung von Vladimir als Heiligem und Großfürsten eine Rolle A uf
eine G ottesabbildlichkeit oder gar Gottesebenbildlichkeit Vladimirs wird jedoch in den untersuchten Texten nicht abgehoben Er wurde vielmehr als Abbild Christi dargestellt, was offensichtlich nicht als Häresie gedeutet wurde, sondern als Argumentationsgrundlage für seine
Kanonisierung genutzt wurde Bis heute werden in der Liturgie am 15 Juli, dem Tag Vladimirs
des Heiligen, die Formulierungen des Slovo b en u tzt79 Die Christusabbildlichkeit Vladimirs
bezieht sich vor allem auf seine Funktion als Spitze der weltlichen Hierarchie, die Christus
Pantokrator abbildet Theologisch gesehen besteht außerdem ein Unterschied zwischen der
Gottes- oder Christusgleichheit und der Abbildlichkeit von Christus im Sinne einer areopaghisehen unähnlichen Ähnlichkeit oder der damascenischen бц ои оц а
In der Auffassung der Apostolizität ist die Auffassung der Christusabbildlichkeit außerdem
noch einmal enthalten, wenn es um den Vergleich zwischen Vladimir und Konstantin im Slovo
geht. Im Bild Konstantins gibt es beides, sowohl die Abbildlichkeit von Christus in der Selbstdarstellung Konstantins zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tode, als auch die theologische
Entschärfung dieses Bildes als Apostelgleichheit Gerade aber das Bild des christusabbildlichen
78
79
ln diesem Zusammenhang ist cs noch einmal interessant daraufhinzuweisen, daß Marions Einsetzung als
Metropolit zwar in der PVL unter 6559 (1051) erwähnt wird, von seiner Absetzung jcdoch nichts mehr
geschrieben wird. Für das Jahr 6564 (1055) wird in PSRL 30 bereits ein neuer Metropolit, Efrem,
erwähnt Üblicherweise geht man davon aus. daß die eigenmächtige Einsetzung !tarions durch Jaroslav
und seine Bischofssynode in Byzanz beim Patriarchen in Konstantinopel Protest hervorgerufen hat. so daß
dieser von seinem Recht Gebrauch machte und einen eigenen, griechischen Metropoliten einsetzte. Vgl
Rozov, Ilarion, S. 199 Der Subtext läßt eine andere Deutung der Nicht-mchr-Ncnnung llanons zu, waren
doch die Griechen in Kiev, die zur Metropolitanvervvaltung gehörten, im typologischen Denken weit
besser geschult als die russischen Zeitgenossen llarions. Sic werden also den Subtext um so eher und in
seiner ganzen fur die byzantinische Orthodoxie blasphemischen Tragweite begrifTen haben. Für die
anwesenden Russen ist der Subtext insofern nicht blasphemisch. als daß er ihren Wunsch nach göttlichen
Ahnen bedient
Soldat. The Absence of Miracles. S. 42
^ ——י
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J
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Konstantin erlebte in Byzanz ab dem 8 Jahrhundert eine Renaissance und war im kollektiven
Bewußtsein bis ins 12. Jh. hinein p räsent 90
Die Nähe des Großfürsten zu Christus wird in der Ikonographie deutlich, die Frank
Kämpfer flir das Herrscherbild in der Kiever Rus* herausgearbeitet hat, das, wenn es nicht
sowieso einem sakralen Raum im engeren Sinne zugeordnet war, in programmatischem
Zusammenhang mit einem Christusbild stand
"Herrscher sein bedeutet demnach [. ] in
ständiger Beziehung zu Christus oder einem seiner Vertreter stehen."81 Wenngleich Kampfer in
der Interpretation seines Bildmaterials sehr vorsichtig ist, korrespondiert seine Aussage über
die Beziehung des Herrscherbildes zum Christusbild mit der flir das Siovo herausgearbeiteten:
"Dennoch bleibt es unzweifelhaft, daß das au f den Zeitgenossen gerichtete
Bedeutungselement *Herrschaft* bei den hier betrachteten Bildern völlig im Schatten des
religiösen Bezuges zwischen Herrscher und Christus steht Wesentliches Handlungsziel
der Mehrheit der untersuchten Darstellungen ist das Seelenheil des Herrschers. Die
verschiedenen Möglichketen, mit Hilfe eines Bildzeichens Christus und die Heiligen
anzusprechen, ihnen Gnade darzubringen, sie zu Wohlverhalten im Diesseits wie im
Jenseits zu veranlassen, haben die Herrscher des Mittelalters fasziniert
In dieser
Fähigkeit des Bildes, imaginäre Wirklichkeit zu schaffen, Wünsche des Herrschers zu
formulieren und ihre Erfüllung vorwegzunehmen, liegt sein entscheidender Vorzug
gegenüber dem Schrifttext "
Das in der Christus-Großfurst-Beziehung sich widerspiegelnde Weltbild ist sowohl ein
politisches als auch ein pastorales. Es verhiltt dem Großfürsten zu einem heiligmäßigen
Charisma, das ihn und seine Herrschaft über die irdische Sphäre hinaus erhebt und das
offensichtlich problemlos auf den jeweiligen Nachfolger zu übertragen ist In diesem Sinne wird
Jaroslav über die Abbildlichkeit von Vladimir legitimiert, weil es seine Herrschaft in Kiev ist,
deren
Rechtmäßigkeit
anfechtbar
ist
Die
Voraussetzung
seiner
Legitimität
ist
die
Urbildlichkeit seines Vorgängers als christusähnlich
Das Siovo rekapituliert außerdem die wichtigsten Stadien der Heilsgeschichte flir ein Volk,
dessen Missionierung noch nicht abgeschlossen ist und versichert dieses Volk des christlichen
m
"י
82
Ka/hdan. "Constantin Imaginaire", S. 21 Iff.
Kämpfer, Das russische Herrscherbild, S 257, vgl ebd S. 258f
Kämpfer, Das russische Herrscherbild. S 263
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Heils dergestalt, daß es in eine typologische Beziehung zum auserwählten Volk G ottes gesetzt
wird Die Christen als auserwähltes Volk des neuen Bundes sehen sich als von Christus in der
A4
Wiederkunft regiert an Der pastoralen Intention dieses Weltbildes ist die Molitva , ־der letzte
Teil des Textes, geschuldet. Aus der Textüberlieferung und der außerordentlichen Verbreitung
der M olitva kann
man auf ihre Popularität
schließen
Der Text
ist
eine
knappe
Zusammenfassung des Inhaltes des Slovo und beginnt mit der Postulierung der Rus' als Volk
Gottes und als die Schafe des Hirten "мы 60 людіс твои, и швцѣ паствы твоей", ״wir sind
Dein Volk, und die Schafe Deiner Herde." Die hiermit einhergehenden Anspielung a u f Jh. 10,
das Evangelium vom Guten Hirten, gehört zur urchristlichen Tradition
und weist noch au f die
Auserwähltheit des russischen Volkes hin: das Volk der Rus' hat die Stimme des Hirten gehört,
der seine Schafe ruft, ist zu ihm gekommen und erhält deshalb das ewige Leben (Jh 10, 2829). Daß aber die Rus' die Stimme des Hirten gehört hat, zeigt, daß sie von vornherein zu
seiner Herde gehörte, sonst hätte sie seine Stimme nicht erkennen können .85 Dementsprechend
zieht sich das "мы лю діс твои", "wir sind Dein Volk" durch den ganzen Text
Die Molitva hat die Funktion, für die Vergebung der Sünden des Volkes der Rus* zu bitten
und sie andererseits als das schon immer auserwählte Volk G ottes darzustellen Dies geschieht
nach dem Urbild des Volkes Israel Wie aber der Heilsplan G ottes sich darin offenbart, daß die
Berufung der Rus' schon immer in ihm vorgesehen war und ihn damit gleichsam zur Vollendung bringt, so ist auch der Abfall der Juden durch den göttlichen Heilsplan zu erklären. Die
Juden werden zum countertype für die Rus', die anderen christlichen Völker zu Allotypen
Die Dynastie Vladimir Svjatoslavičs
_
Q/
Das S"kazat1ie i strast ׳/ pochvala svjatjuju mučeniku Borisa i Gleba
gehört, urteilt man nach
Фך
den überlieferten 172 Handschriften,
zu den beliebtesten Texten Altrußlands. Es sind 4
Handschriften aus dem 12 Jahrhundert überliefert, 35 Handschriften aus dem 14. Jahrhundert,
50 Handschriften vom Ende des 14 /Anfang 15 Jahrhundert. Aus dem 15 Jahrhundert sind in
83
84
85
86
87
Moldovan. "Slovo о zakone i blagodati", S . l l ; ich zitiere die Molitva nach der Handschrift S-591 in der
Ausgabe der Akadēmija Nauk SSSR.
Vgl. LCI 2, Sp. 289ff
Vgl. Jh. 10,16: xai äXXa л р б р а т а £xü> ä o0x foxiv Ы rfjç aí>Xf£ taúrrçç. xàxcîva Ôeï цс åyayctv xai
rffc (p<1)vf|ç цои áxoúoouoiv, xai ycvfjoovrai jiía лоіцѵт), ctç лоіцт^ѵ. "Und ich habe noch andere
Schafc. die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme
hören und wird eine Herde und ein Hirte werden."
Im folgenden kurz Skazanie genannt
LenhofT. The Martyred Princes Boris and Gleb, S. 79
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100
drei unterschiedlichen Redaktionen 75 Handschriften erhalten, neue Redaktionen wurden im
16 und 17 Jahrhundert erstellt88 Die unterschiedlichen Redaktionen des Textes beziehen sich
jedoch eher auf stellenweise Lesarten einzelner Wörter als auf Umstellungen des Gesamttext e s 89 Man kann also davon ausgehen, daß der Text in seiner Gesamtheit in allen Redaktionen
und damit auch allen Handschriften ungefähr gleich ist Im 15 Jahrhundert ging der Text
außerdem in die Lesemenäen ein, was für eine zusätzliche Verbreitung gesorgt haben mag
Der Text des Skazanie bezieht sich auf die Bruderkriege in den Jahren 1015-1019 nach dem
Tode Vladimir Svjatoslavičs Vladimirs Sohn Svjatopolk übernahm unter nicht geklarten Umständen den Thron von Kiev Im Zuge seiner Thronsicherung ließ er mindestens drei seiner
Brüder töten, Boris, Gleb und Svjatoslav.90 Schließlich wurde Svjatopolk von Jaroslav
Vladimirovič, der von Vladimir zum Fürsten von Novgorod gemacht worden war, uberwunden 1019 installierte sich Jaroslav als Großfürst von Kiev Nur kurze Zeit später ließ er die
Gebeine Boris* und Glebs ־die Syjatoslavs wurden nie gefunden91 - in VySgorod, der von ihm
gegründeten Kiever Oberstadt, beisetzen und forderte einen Kult um sie 92
88
89
90
91
92
Dmitriev, Skazanie. S. 404
Dmitriev, Skazanie. S. 404Г
Toporov. Ideja svjatosti v drevnej Rusi. S 57, nach PSRL 1 sub 6523 (1015)
Lehnhof, The Notion of "Uneorrupted Relies", S. 257
Der Zeitpunkt der Einsetzung des Kultes ist in der Forschung umstritten. Die von Dnutnev, Skazanie,
favorisierte Version ist die von Andrzej Poppe Poppe gehl in seinem Aufsatz ”0 vremeni zaroAdcnija
kul'ta Bon sa i Gleba" davon aus. daß der Kult nicht vor )069/73, dem Zeitpunkt der Translation der
Gebeine in eine neue Kirche in Kiev, eingesetzt hat. Er fuhrt dafür folgende Grunde an. 1) Boris und Gleb
werden in Marions Sfovo nicht erwähnt. also kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einer
Kanonisierung die Rede gewesen sein (Poppe. О vremeni zaroždenija kul'ta Borisa i Gleba. S 9). 2)
Vladimir wurde der Brudermord an Jaropolk nicht zur Last gelegt Poppe impliziert, daß dies daran lag.
daß die Atmosphäre an Vladimirs Hof noch heidnisch war Erst in der 2 Hälfte des 12. Jahrhunderts
verstärkte sich die religiöse Atmosphäre in Kiev, Svjatopolks Brudermord wurde verurteilt, der Name
S vjalopolk vcrscltw nnd a u s dem FU rstcngcschlcchl 3) Jaroslav k a n n die K an o n isieru n g seiner D rüder
nicht vorangetricben liaben, weil keiner seiner sechs Söhne ihre Namen trägt, dafür aber seine Enkel,
später trugen noch mehr Fürsten die Namen von Bons und Gleb. 4) Am Ende des 11 Jahrhunderts erst
benutzte Vscslav von Polock den Kult, um seine Unabhängigkeit zu zeigen. Die Argumente Poppcs lassen
sich jedoch nur aufrcchtcrhalten, wenn nachgcwiescn wird, daß die Benutzung oder Nichtbcnutzung der
Namen, wie er voraussetzt, tatsächlich einen Hinweis auf den Kult der Bruder geben, was fraglich ist.
Gail Lenhoff weist in ihrer soziokulturellen Studie "The Martyred Princes Boris and Gleb", in der sic alle
Textsorten« dīc mit Boris und Gleb in Verbindung stehen, aufzählt (S. 63). darauf hin. daß die ältesten im
Gottesdienst eingesetzten Hymnen auf 1020 oder 1070 datiert werden. Sie zeigt mit ihrer genauen
Textanalyse (S. 63ff ). daß scl>on die Novgorodcr Służba von 1158 nicht mehr so fonnalisicrt 1st wie die
Texte aus dem 11 Jahrhundert, sondern Wert und größeres Pathos auf die Passion der Heiligen legt. Dies
zeigt, daß eine Popularisierung des Kultes eingesetzt hatte Vgl S. 67: "The Novgorodian copy illustrates
a marked change in the cult of Boris and Gleb Their passion is evoked with greater pathos. At the same
time, their connection to Kiev and their status as pnnccs is beginning to come to the foreground " LcnhofT
(S. 53f.) favorisiert die These, daß der Kult durch Jaroslav und zu seiner Zeit entstanden ist. Aus der
Tatsache, daß die Furstenfamilie die Namen erst um 1070 wieder gebrauchten, schließt sie (S. 48), daß der
Kult sich erst in der Unterschicht ausbrcitctc und der Status der Heiligen als fürstliche Patrone der Rus'
erst später durch die Fürstenfamilien, die am Ende des 11 Jahrhunderts ihren Hcrrschaftsantritt durch
Rehquientranslationcn markierten (S 53f), entwickelt wurde Dies laßt sich auch durch die
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Eine genaue Datierung des Skazanie ist umstritten Poppe folgert daraus, daß Ilarion die
Bruder im Slovo nicht erwähnt, daß der Kult erst nach Jaroslavs Tod 1054 aufgekommen i s t93
Er datiert das Skazanie auf 1068-1072, evtl 1117, und bringt es mit den politischen Ereignissen
um Izjaslav JaroslavoviČ 1068/69 in Verbindung 94
Lenhoff vergleicht das Skazanie mit dem recht genau zu datierenden Ctenie Nestors 95 Das
Ctenie w urde etwa 1072-1091 für die Mönche des Kiever Höhlenklosters verfaßt und weist die
homiletische Absicht auf, die Klosterbrüder daran zu erinnern, daß Boris und Gleb ein Teil der
christlichen Geschichte Kievs sind und nicht ein Teil einer bestimmten Kiever Sippe Dementsprechend ist im Ctenie Syjatopolk auf das vorbildliche monastische Leben, das Boris und Gleb
fuhren, neidisch und läßt sie deshalb töten 96 In der Lobrede stimmen Ctenie und Skazanie
inhaltlich und strukturell überein 97 Das Skazanie muß aber nach Lenhoff ein fhiherer Text sein
als das Ctenie, weil es monastische Frömmigkeit und heidnische Bräuche synkretistisch mischt,
während das Ctenie das Christentum als gegebene Größe nim m t98 A uf die Synkretismen von
Christentum und Heidentum im Skazanie verweist auch Toporov 99 Man kann also davon
ausgehen, daß das Skazanie vor 1072 geschrieben wurde, jedoch eher in der ersten Hälfte des
11 Jahrhunderts, weil zu diesem Zeitpunkt das Christentum in der Rus' noch jung und nicht
sehr gefestigt war. Daß Boris und Gleb in Ilarions Slovo nicht erwähnt werden, kann nicht als
Grund fiir eine spätere Datierung des Skazanie gesehen werden. Ilarions Zielsetzung des Slovo
war die Lobrede au f den Großfürsten Vladimir und die Rechtfertigung seines Sohnes Jaroslav
als Großfürst von Kiev, nicht die Darstellung der Geschichte der Dynastie
Der Synkretismus des Skazanie wird in der Klage des Gleb deutlich. Während er von den
Mördern umstellt ist, wendet er sich an sie mit den Worten:
93
94
95
%
97
98
99
Hymnographie belegen, vgl. S. 124: *,The first office (attributed to Metropolitan John) was composed in
Kiev ׳by Greek monks who drew heavily on hymns praising pairs of saints with healing powers. A later,
fuller Kievan ofTice was adapted for Novgorodian use. Here, many local references to VySgorod, the place
where the saints' relics were kept, have been eliminated in favor of other, penitential motifs. Later services
adjusted to the changing role of the princes as patrons, first of Jaroslav's dynasty, then o f individual
princes in North and Northeast Rus', and eventually to the patrons of the imperial Muscovite State The
intermediate services also reflect the elevation of the saints' feast to a middle status and new liturgical
rules which called for more hymns "
Poppe. О vremeni zaroždenija kul’ta Borisa i Gleba. S. 9; vgl. Dmitriev, Skazanie, S. 400
Poppe. О vremeni zaroždenija kul'ta Borisa i Gleba. S. 16; vgl. Dmitriev, Skazanie. S. 403
Vgl. zu diesem Text Lenhoff, The Marty red Princes Boris and Gleb. S. 88-100; Tvorogov. Nestor, S. 274278
Lenhoff, The Martyred Princes Boris and Gleb, S. 92f.
Lenhoff. The Martyred Princes Boris and Gleb. S. 97
Lenhoff, The Martyred Princes Boris and Gleb, S 98
Toporov, Ideja syjatosti v Drevnej Rusi. S. 63
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"Не дѣитс мене, братия моя милая и драгая! Не дѣитс мене, »и ничто же
вы зъла сътворивъш а! Не брезѣте, братие и господье, не брезѣте! Кую обиду
сътворихъ брату моему и вамъ, брагис и господье мои? ... Не пожьн-те мене
отъ ж и ти я не съзьрѣла, не пожьнѣте класа, не уж е сьзьрѣвъш а, нъ млеко
безълобия носяіца! Не норѣжете лозы не до коньца въздрасты иа, а плодъ
имущ а!
М олю
вы
ся
и м илъ
вы
ся дѣю.
Убоитеся
рекъш ааго усты
апостольскы : Не дѣти бывайте умы, зълобиемь ж е младеньствуите, а умы
съвьрш ени
бывайте.
Азъ,
братие,
и
зълобием ь
и
въздрастъмь
ещ е
младеиьствую . Се нѣсть убийство, нъ сырорѣзанис!" (292)
"Laßt ab von mir. liebe, teure Bruder! Laßt ab von mir, ich habe cuch nichts Böses getan, laßt ab von
mir. liebe Brüder und Herren, verschont mich! Welches Unrecht habe ich meinem Bruder oder euch zugefügt, meine Brüder und Нсгтсп? Sollte ich aber unrecht getan haben, so fuhrt mich zu eurem Fürsten,
zu meinem Bruder und Herrn. Habt Mitleid mit meiner Jugend, erbarmt euch, meine Herren! Ihr sollt
meine Gebieter und ich will euer Knecht sein. Reißt mich nicht aus meinem jungen Leben, wie ihr die
unreife Ähre nicht vom Halm reißt, die noch die Milch der Unschuld trägt. Schneidet nicht ein Reis ab.
das noch nicht emporgewachsen ist und Frucht trägt. Ich flehe euch an und bitte euch von ganzem Her•
zen, fürchtet die Worte des Apostels, der sagt: ,Seid nicht unvernünftig wie die Kinder, gleicht ihr doch
an Bosheit und Unreife den Kindern * Das 1st kein ehrenhaftes Töten, sondern ein Abschlachtcn.” (S.
104Г)101
Diese Argumentationsweise ist nicht ausschließlich christlich Das Zitat aus 1 Kor 13,11,
ö tc fin n v vr!7uoç, èXáXouv <bç vr!n 10ç, étppóvouv (bç vrjnioç, £Хоу1£0ѵт|ѵ <bç vr\moç. ö tc
yiyo va áv fjp , х а т л р у л х а Tà то Ь vtļniou, "da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind
und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge, da ich aber ein Mann ward, tat ich
ab, was kindisch w ar, ״ist nur sehr assoziativ mit der Thematik des Jünglings, der vor der Zeit
sterben soll, verbunden Seine Argumentation, warum man ihn nicht toten soll, ist aus der Welt
des Ackerbaus genommen Das noch nicht Ausgereifte abzuschneiden, wäre Verschwendung
So ist auch der Mord an ihm Verschwendung seiner Jugend, nicht Mord, sondern Schlachten
vor der Zeit. A uf Ikonen der Brüder wird Gleb zumeist in grüner Kleidung dargestellt, auf der
pflanzenähnliche Ornamente zu sehen sind Auch die Darstellung der Brüder auf Pferden,
100 Der Text des Skazanie folgt dem Abdruck in: Pamjatniki literatury Drevnej Rusi. Xl~na£alo XII veka.
Moskva 1978, S. 278-303, die Seitenangaben stehen in Klammem im Text.
101 Die Übersetzung folgt: Die Erzählung vom Leiden der beiden heiligen Märtyrer Boris und Gleb und ihre
Lobpreisung, in: GrasshofT. Helmut / Müller, Klaus / Sturm. Gottfried (Hrsg.): O Bojan, du Nachtigall der
alten Zeit. Sieben Jahrhunderte allrussische Literatur, Frankfurt am Main 1965, S 93-114; die
Seitenangaben stehen in Klammem im Text Fehlen Seitenangaben, so stammt die Übersetzung von mir,
CS
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welche im urslavischen Fruchtbarkeitsritus eine große Rolle spielen,102 stellt sie in Zusammenhang mit Aufwachsen und Fruchtbarkeit. Die Darstellung Glebs spielt hier auf die heidnische
Bedeutung des W ortes *svçt an, Anschwellung, Angefiilltheit mit Saft und Kraft. Prallheit, und
Reife der Frucht. Der Mord an Gleb ist nach Toporov metaphorisch der Mord am heidnischen
Konzept der Heiligkeit und macht ihn zum neuen, christlichen Heiligen 103 Allerdings tragen
sowohl die Darstellung im Narrativ wie auch die ikonographische Darstellung Glebs dazu bei,
den heidnischen Gedanken bis in die Moskoviter Zeit und darüber hinaus mitzutransponieren
Das heidnische Konzept wird im Mord an Gleb im christlichen aufgehoben
Wie das Exordium deutlich macht, liegt die Aussage des Skazanie darin, daß das Volk der
Gerechten gesegnet sein wird und ihre Sippe im Segen bleiben wird.
"Господи, благослови, отьчс.
Родъ
правы ихъ
благословиться,
־речс
пророкъ,
- и
сѣмя
ихъ
въ
благословлении будеть." (278)
"Herr. Valer, segne uns!
Das Gcschlccht der Gerechten wird gesegnet sein, sagt der Prophet, und ihr Samen wird im Segen
sein."
Der biblical thematic clue, den das Exordium angibt, ist eine Umstellung des 2 Verses von
Psalm 112: Des Same wird gewaltig sein auf Erden; das Geschlecht der Frommen wird gesegnet sein. Die Nachricht, die durch das biblische Thema transportiert wird, wird durch die folgende Erzählung erklärt und zum Leitmotiv des Skazanie Zwar geht es vordergründig um die
Heiligkeit Boris' und Glebs, doch steht ihre Heiligkeit metonymisch fur die Heiligkeit der
Dynastie Jaroslavs des Weisen, desjenigen, der den Mord an Boris und Gleb rächt und eine
politische Ordnung auf Grundlage der Prinzipien von christlicher Aufrichtigkeit errichtet Die
Jaroslav-Episode erweitert das Skazanie um die neue semantische Ebene des Triumphs des
wahren Geschlechtes, dessen Same ewig sein wird 104
102 Toporov, Ideja svjatosti v Drevnej Rusi. S. 63; zum slavischen Fruchtbarkeitsritus s. Katćić, Radoslav:
Hoditi ־roditi. Spuren der Texte eines urslavischen Fnichtbarkeitsritus, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch
33 (1987). S. 23-44 und ders.: Weiteres zur Rekonstruktion der Texte eines urslavischen
Fruchtbarkeitsritus, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 35 (1989), S. 57-98
103 Toporov, Ideja svjatosti v Drevnej Rusi. S. 63
104 Picchio. The Function of Biblical Thcmatic Clues, S 15, vgl. S. 16: "The leit-motif of this work, which is
meant to convey a political message, may be summarized as follows: the upright 'seed' of Jaroslav the
Wise be blessed, and the wretched 'root' of Syjatopolk be removed from the land of the living It is the
structurally marked initial clue that lays stress on the scriptural justification of a political thesis which
probably dev eloped in Jaroslav’s Kiev to assert the sacred mission of the ruling dynasty ."
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Die Heiligkeit Boris' und Glebs wird durch ihre Abbildlichkeit begründet Dabei beginnt der
Text mit einer Einordnung des Geschehens in das geschichtliche Geschehen seiner Zeit (278),
um dann die Geschichte npo rjadu ", der Reihe nach, zu erzählen
"Сицс убо бы сть м алъм ь ирсж е сихъ. Сущю сам одрьж ьцю вьсеи Русьскѣи
зем ли Володимиру сыну С вятославлю , вънуку ж е Игореву, иж е и святы имь
кры цением ь вьею просвѣти сию землю Русьску. П рочая ж е его добродѣтели
инде съкаж ем ъ, нынѣ ж е нѣсть время. А о сихъ по ряду сице есть: сь убо
Володимиръ имѣяш с сы новъ 12 не отъ единоя ж ены , нъ отъ раснъ матеръ
ихъ.
Въ нихъ ж е
бяш с старѣи
Выш еславъ, а по
немь
И зяславъ, 3 ־
С вятопълкъ, иж е и убийство се зълое изъобрѣть. Сего мати преж е бѣ
чьрницею , гръкы ни сущи, и поялъ ю бѣ Я ропълкъ, б рать Володимирь, и
ростригь
ю красоты
дѣла
лица
ся.
И зача о т ь нея сего С вятоплъка
оканьнааго. Володимиръ ж е, ноганъи ещ е, убивъ Я ропълка и п оятъ ж ену его
непраздьну суіцю. О ть нея ж е родися сии оканьны и С вятопълкъ, и бы сть отъ
дъвою отьцю и брату сущю. Тѣмь ж е и не лю бляаш е его В олодимиръ, акы не
отъ себе ему сущю. Л отъ Рогнѣди 4 сыны имѣяше: И зяслава, и М ьстислава, и
Я рослава, и Всеволода, а о ть иноя Святослава и М ьстислава, а о т ь българы нѣ
Бориса и Глѣба. И посаж а вся по роснамъ зем лям ъ въ кн яж ен и и , иж е инъдс
съ каж ем ъ , сихъ ж е съповѣмы убо, о нихъ ж е и повѣесть си есть." (278)
"Das Folgende begab sich nicht lange vor unserer Zeit, nämlich als Wladimir, ein Sohn Swjatoslaws
und Enkel Igors, in Rußland herrschte und durch die heilige Taufe das ganze russisclic Land crleuchtele Von seinen übrigen großen Taten werden wir an anderer Stelle berichten. Es ist jetzt nicht die Zeit
dazu, sondern jetzt soll der Reihe nach folgendes erzählt werden: Wladimir liattc zwölf Söhne, aber
nicht von einer Frau, sic luittcn vielmehr verschiedene Mütter Der älteste von ihnen war Wyschcslaw,
nach ihm kam Isjaslaw und als dritter Swjatopolk. Dieser ersann einen heimtückischen Mord. Seine
Mutter, eine Griechin, war früher Nonne gewesen. Jaropolk. Wladimirs Bruder, hatte sic zur Frau
genommen und sic um der Schönheit ihres Antlitzes willen entweiht; sic empfing von ihm den Swjatopol к Wladimir aber, der damals noch Heide war. erschlug Jaropolk und nahm sich dessen Weib, das
schwanger war. Sic brachtc den vermaledeiten Swjatopolk zur Welt Dieser hatte also zwei Väter, die
Brüder waren. Wladimir liebte ihn deshalb auch nicht, denn er war ja nicht sein eigen Fleisch und Blut
Von Rogneda hatte er noch vier andere Söhne: Isjaslaw, Mstislaw, Jarosław und Wsewolod, von einer
Tschechin Wyschcslaw, von einer weiteren Frau Swjatoslaw und Mstisław und von einer Bulgarin Boris
und Gleb. Sie alle setzte er in verschiedenen Fürstentümern als Herrscher ein, wovon an anderer Stelle
zu berichten sein wird." (94)
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Nach späteren Hagiographen entstammt dieses Erzählen po rjadu ihrem Bemühen, das
Geschehen in der besten Reihenfolge zu erzählen, unbekannte Dinge zu erklären und Teile
einzufugen, die von den Zuhörern erwartet werden 105 Ursprünglich "Ordnung ״bedeutend,
wird der Term inus/x? rjadu in vormongolischer Zeit als "in guter Ordnung** und auf autoritariven Schriften ruhend gebraucht
Der Terminus wird nie im Zusammenhang mit Chroniken
gebraucht, die schon chronologisch organisiert sind, sondern im Zusammenhang mit Viten, in
denen viel unterschiedliches Material unter einem Gesichtspunkt organisiert werden muß.
Außerdem bedeutet, eine Erzählung/к? rjadu zu erzählen, in Bezug auf Lk. 1,1-3 die außertextuelle göttliche Wahrheit wiederzugeben 107 Beginnt nun das Skazanie, die Geschichte po
rjadu wiederzugeben, so bedeutet dies nicht, obwohl man anfangs davon ausgehen könnte, daß
die Fabel in ihrer chronologischen Reihenfolge wiedergegeben wird, sondern daß sie so wiedergegeben wird, daß sich die göttliche Ordnung in der Reihenfolge widerspiegelt
Dies läßt sich mit den Erzählungen von der Ermordung Boris' und der Ermordung Glebs
verdeutlichen Zwar finden beide Ereignisse im Skazanie in chronologischer Reihenfolge statt,
doch ist die Erzählung von der Ermordung Glebs im Text als Abbild der Ermordung Boris*
konzipiert Beide Brüder erhalten von Svjatopolk eine Nachricht, sie sollten nach VySgorod
kommen, beide sehen ihre Ermordung voraus und beschließen in einem inneren Monolog, sich
nicht zu widersetzen. Beide Brüder denken an den jeweils anderen in biblischen Ausdrücken.
Boris denkt an Gleb als jüngeren Bruder Benjamin, Gleb betet zu Gott und Boris, seinem
Bruder und Herrn, der schon unter den Heiligen weilt. Beide Brüder machen sich au f den Weg
und werden an einem Fluß (Boris) bzw. auf einem Fluß (Gleb) von den M ördern umzingelt. In
einem letzten Gebet verzeihen sie Svjatopolk, beweinen ihr Schicksal und nehmen es als von
Gott gegeben an Nach ihrer Ermordung werden sie in VySgorod beigesetzt. Diese Doppelungen machen deutlich, daß innerhalb des linearen Textaufbaus die Zeit aufgehoben wird, indem
sich in Glebs Schicksal das des Boris wiederholt Gleb wird intratextuell zum Abbild des Boris
Als Gründe für die Heiligsprechung Boris' und Glebs werden normalerweise angesehen: ihr
freiwilliges O pfer,108 ihr Märtyrertum für den Glauben,109 die Wunder, die sie gewirkt haben,110
105 LcnhofT, The Martyred Princes Bons and Gleb, S. 91: "... to narrate the events in the best sequence (po
rjadu), clarify obscure places, and fill in 'missing' parts "
106 LenhofT, The Ordering of Old Russian Narrative. S. 415f.
107 Lcnhoff. The Ordering of Old Russian Narrative, S. 422f.
108 Vgl. Toporov, Idcja syjalosti v Drevncj Rusi. S. 65; Obolensky. Popular Religion in Medieval Russia, S.
47.
109 Vgl. Floija. Vaclavska legenda, S. 80; Ingham. The Martyred Prince. S. 33; Ingham. The Sovereign as
Martyr, S. 1.
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106
die imitatio Christim nicht im Leben, sondern im Tode Unter imitatio Christi wird im Falle
von Boris und Gleb verstanden, daß sie sich dem leidenden Christus angleichen und widerstandslos ermorden lassen Eine Analyse des Skazatue zeigt jedoch, daß ihre Leidensgeschichte
als Abbild der Passion Christi erzählt wird 112
Nachdem Boris sich in sein Schicksal ergeben hat, spricht er wie Christus in Gethsemane
״Воля твоя да будеть, господи мои." (280)113 "Dein Wille geschehe, mein Herr ״Ebenso
zieht er sich in die Einsamkeit zurück, um zu beten Dieses Gebet des Boris ist allerdings keines, das darum bittet, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen Vielmehr nimmt er sein Märtyrertum an und erkennt, daß er unter den Heiligen Gottes leben wird
"И бяаш е въ ды іь суботьиыи. Въ тузѣ и печали, удручьнъмь сьрдьцьмь и
вълѣзъ
въ
ш атьръ
свои,
илакаінеся
съкруш снъмъ сьрдьцьмь, а душ сю
радосты ю ю , ж алосты ю гласъ испущаашс: С льзъ моихъ не прсзьри, владыко,
да яко ж е уповаю на тя, тако да с твоими рабы прииму часть и ж ребии съ
вьсѣми святы им и твоим и, яко ты сси богъ милостивъ, и тебе славу въсылаемъ
въ вѣкы. А минь." (284)
"Es war an einem Samstag. Bekümmert, traurig und betrübt begab er sich in sein Zelt und weinte;
das Herz wollte ihm brechen, und Kummer lastete auf seiner Seele. Mit lauter Stimme flehte er: ,Verachte meine Tränen nicht, Herr. Laß mich fest auf dich hoffen und mich mit deinen Knechten und mil
alten Heiligen meinen Teil und mein Los empfangen, denn du bist gnädig. Gott, und dir bringen wir
Ehre dar in alle Ewigkeit. Amen.*" (98)
Die Eucharistie, der Boris daraufhin beiwohnt, ist die Wiederholung des letzten Abendmahles Christi.114
Der Ausdruck, Gott solle seinen Geist annehmen, wird von Boris auch im nächsten Gebet
gebraucht "Тѣмь, влады ко, душ а моя въ руку твоею въину, яко закона твоего не
110 Vgl. Ingham. Czech Hagiography in Kiev, S. І67Г; Lenhoff. The Martyred Princes Boris and Gleb, S. 48,
Poppe. О vrcmcni zaroźdenija kul’ta Borisa i Gleba. S. 16; Sciacca. In Imitation of Christ. Zum
Zusammenhang zwischen Wundem und Heiligsprechung vgl Golubin&kij. Istonja kanonizacii, S 26;
Soldat. The Absence of Miracles, S. 33f.
111 Vgl. Podskalsky. Christentum und theologische Literatur, S. 110; Obolensky. Popular Religion in
Medieval Russia, S. 47.
112 So auch Sciaccia. In Imitation of Christ. S. 257
113 Vgl Lk 22,42: X£yü)v. ж ітер, eî ßoüXn л а pévryxc тоОто t ò norfļpiov йл* £цо0. nXfjv p.f| t ò
fio Ç àXXá t ò oòv ytvtoOo). "und sprach: Vater, willst du. so nimm diesen Kelch von mir, doch nicht
mein, sondern dein Wille geschehe.“ Zu Christus in Gethsemane vgl. Mt. 26,36-46, Mk. 32-42; Lk. 40-46,
Jh 18.1, 12.27: 18.11 Den vielen Lukas-Zitaten nach zu urteilen scheint cs allerdings, als habe der
anonyme Autor des Skazanie nur das Lukasevangelium benutzt
114 Ingham. The Martyred Prince, S. 38
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забы хъ. Яко господсви годѣ - бы сть.” (286) "D eshalb, Herr, ist m eine Seele im m erdar
in d ein er Ila n d , d en n ich habe dein G esetz nicht vergessen. Der Wille des Herrn
geschehe." (99) Schließlich gebraucht er ihn in der Sterbeszene, die die Sterbeszene Christi
wiederholt Boris spricht ein letztes Gebet, wird von einer Lanze durchbohrt und betet einen
Lobgesang au f sein eigenes Opfer
,,И без милости ирободсно бы сть чьсты ю с и м ногом илостивое тѣло святаго
и б л аж ен ааго Христова страстотьрньца Бориса. Насунуш а копии оканьнии
(...)
И възьрѣвъ на небо съ сльзами и горѣ въздъхнувъ н ач ать м олитися сицим и
глаголы : Господи бож е мои многом илоствы и и м илостивы и и прсмилостивс!
Слава
ти,
яко
съподобилъ мя
сси
убѣжати отъ прельсти
ж и ти я
сего
льстьнааго! Слава ти, преіцедрыи ж иводавьче яко сподоби м я труда святы ихъ
мученикъ! (...) Въмѣниша мя, яко овьна на сънѣдь, (...)
Н ъ ты , господи, виж ь и суди м еж ю мною и м еж ю братъм ь м оим ь и не
постави имъ, господи, грѣха сего, нъ приими въ м иръ душ ю мою. А минь."
(286-288)
"Ohne Gnade wurde der teure und erbarmenswerte Körper des heiligen Boris, des seligen Märtyrers
in Christo, durchbohrt. (... Sic] stießen ihm ihre Lanzen in den Leib.
Unter Tränen schautc er г и т Himmel, seufzte bitterlich und betete: ,Herr, mein gnädigster, allergnädigster Gott! Ehre sei dir, daß du mich aus der Verlockung dieses eitlen Lebens erlöst hast! Ehre sei
dir, du freigebiger Lebensspender, daß du mich der Leiden der Heiligen und Märtyrer für würdig befunden hast!' {...] ln den Augen der Menschen gleiche ich einem Lamm, das zum Mahl bestimmt ist. (...)
Blicke. Herr, auf uns. und urteile über mich und meinen Bruder. Behalte ihm diese Sünde nicht und
nimm meine Seele in deinen Frieden auf Amen.*" (S. 100Г)
Der Tod des Boris durch die Lanze läßt den Analogieschluß zu, daß er als Abbild des Kreuzestodes Christi (Jh 19,33) beschrieben wird Im Gegensatz zu Christus lebt Boris zwar, als er
von der Lanze durchbohrt wird, doch kennzeichnet er sein Opfer durch die Rezitation des
Karfreitagspsalms als Wiederholung des Opfertodes Christi 115 Die letzten W orte des Boris
sind die Worte des Protomärtyrers Stephanus aus Apg. 7,58-59:
115 So auch Ingham. The Martyred Prince. S. 38. der außerdem S. 44 darauf hinweist, daß Boris sein Opfer
durch die Rezitation der Karfrcitagspsalmcn als Opfer Chnsti kennzeichnet
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x a i £X10oß0Xouv tò v Здёсраѵоѵ ёліхаХ ощ еѵоѵ x a i Хсуоѵта: хиріг Чг!аог),
ô ë ^ ai t ò nvcv\xá pou. Qziç Ôè x à убѵ ата fxpaÇ ev <pcovfļ \1cyákr\: x u p u :,ןifļ a n ļarļg
aÙTOïç таш т!ѵ тт!ѵ áp ap T Íav . x a i тоѵгго cbicbv £хо1рг|Ѳл.
"und steinigten den Stephanus, der anrief und sprach: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! Er kniete
aber nieder und schrie laut: Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht! Und als er das gesagt hatte,
entschlief er."
Stephanos' W orte sind allerdings in der Apostelgeschichte bereits Zitate, die Stephanos zum
t ypos Christi machen, denn er wiederholt Christi Sterbeworte nach Lk 23,34 ò ôè 'It! 0 ouç
lïzyzw: ж іт с р , ütpeç a irro lç, ou yà p o tô ao iv ті лою иоіѵ, *,Jesus aber sprach Vater, vergib
ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!", und Lk 23,46: x a i <p0)vr!aaç (po>vfļ peyáXfl ò
*It1cto0ç сілсѵ: лсітер, etç X^P^ç o o u л а р ат іѲ ср а і tò n v eú fiá цоѵ. тоггго ôè еілшѵ
é|ÍK vcuaEv. "Und Jesus rief laut und sprach Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände 1
Und als er das gesagt, verschied er " Allerdings ist der Angeredete ein anderer Während sich
Stephanos an Christus als seinen Herrn wendet, wendet sich Christus an Gott direkt. Die
Lukas-Zitate machen Boris nicht zum Abbild des Stephanos, sondern zum Abbild Christi Sein
Tod, den er im Gegensatz zu Stephanos nicht durch Steinigung findet, sondern durch Lanzenstiche, verweist ebenfalls auf den Tod Christi Außerdem verweist das Stechen mit den Lanzen
auf die Vorbereitung der Gaben in der Prothesis der orthodoxen Liturgie, der Boris gerade
beigewohnt hat In der Prothesis werden fünf Prosphoren auf die Patene au f dem Rustaltar
links vom Altarraum gelegt Die Prosphoren sind beim Backen schon mit dem Christusmonogramm und dem Kreuz versehen worden Nachdem der Priester mit der Lanze dreimal das
Kreuzzeichen über der ersten Prosphore gemacht hat, ist das Siegel zum Lamm geworden, das
in d er W a n d lu n g zum Leib Christi w ird D an ach w ird die L a n ze in b e stim m te r Reihenfolge in
das Lamm gestoßen und das Lamm herausgelöst Dieses wird nun in die rechte Seite gestoßen,
w orauf die Mischung von Wasser und Wein erfolgt Während dieser Handlungen werden Jes
53,7-8, Jh 1,2 und Jh 19,34-35 gesprochen 116 Die Eucharistie ist das Abbild des Goigathaopfers 117 In ihr wird die Heilszeit virulent, die durch Christi Tod und Auferstehung gewährleistet
ist.
Der Gedanke, Christus in der Passion mit dem Lamm zu verbinden, entstammt Jh 1,29+36
mit Bezug auf Jes 42,lff, Jes 53,7+4+12 In diesen Versen ist vom Gottesknecht die Rede,
der die Sünden trägt, was von Johannes geringfügig umformuliert wurde. Des weiteren bezieht
116 Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche. S. 336
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sich Johannes au f das Passahlamm (Ex 12).118 In der Darstellung des Gekreuzigten verkörpert
das Lamm dementsprechend das freiwillige Opfer Christi als Sühne der Sünde der Welt (vgl
Jes 53, Jer. 11,19) und den Sieg Christi über den Tod Die Schlachtung des Lammes mit der
Lanze in der Proskomidie wird zuerst in der Ostkirche praktiziert und gelangt erst im 7 Jahr־
hundert als Agtrns dei, als Begleitgesang zum Brotbrechen, in den W esten 119
Indem in Boris die tägliche Liturgie der Schlachtung des Lammes vollzogen wird, wird er
zum Abbild Christi und trägt als Lamm die Sünden der W e lt 120 Die Welt, deren Sünden Boris
trägt, ist die Kiever Rus1, die er dadurch rettet Dies wird am Ende des Textes deutlich, als
Boris und Gleb als Herrscher über alle Herrscher und als Wehr und Waffen des russischen
Landes gelobt werden, die das Land vor dem Teufel beschützen .121
"По истинѣ вы цесаря цссарсм ъ и князя кънязсм ъ, ибо ваю пособисм ь и
эащ иш снисм ь князи наш и противу въстаю щ ая дьрж авы ю побѣж аю ть, и ваю
номоихию хвалятьзя. Вы 60 тѣм ъ и нам ъ оруж ие, зем ля Русьскыя забрала и
утвьрж енис и меча обоюду остра, има ж е дрьзость поганьскую н и зъ лагасм ъ и
дияволя ш атан ия въ земли попираем ъ.н (298)
"Wahrhaftig! Ihr seid Kaiser den Kaisern und Fürsten den Fürsten, denn durch euren Beistand und
Schutz liabcn unsere Herrscher dank ihrer Macht über die gesiegt, welche sich wider sic erhoben, und
durch eure Hilfe wird ihnen Ruhm zuteil. Dadurch seid ihr auch uns Wehr und Waffe Ihr seid den rus•
sischcn Landen Schutz und Festung, eure Schwerter sind scharf, und mit ihnen werden wir den Übennut
der Heiden besiegen und die Vermessenheit des Teufels zertreten." (112)
Das Martyrium des Gleb wird im folgenden analog zu dem des Boris beschrieben Gleb wird
von Svjatopolk im Namen Vladimirs gerufen, macht sich nach Vyšgorod auf und wird von
Jaroslav gewarnt (290) Als er ahnt, daß auch er von Svjatopolk getötet werden wird, betet er
zu Gott und Boris, seinem Bruder und Herrn, was Boris schon als Heiligen etabliert Wie Boris
bedauert er, daß er seinen Bruder nicht mehr Wiedersehen wird Gleichzeitig erkennt er jedoch.
117
118
119
120
Onasch, Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche. S. 337
Beutler. Lamm Gottes. Sp. 623
Kunzler, Lamm, Sp. 622
Die Analogie des Lammes ist in Boris' Fall sicher. Allerdings nimmt er sein freiwilliges Opfer nicht als
Lamm, sondern als Schaf, овьна. an und stellt sich damit nicht nur in die chiisilichc Tradition, sondern
auch in die heidnische, in der das Schaf als Opfertier verwendet wird, ln der alttcstamcniarischcn
Tradition ist das Schaf als Opfertier das Passahlamm oder das Opfer für die Sünden. Als Widder dient es
als Sündcnbock. Zur alttcstamcntarischcn Tradition s Sciaccia. In Imitation of Christ. S. 254Г; Toporov,
Ovca, in: Mify narodov mira, Bd 2, S. 237Г. auch zuraußerbiblischen Tradition
121 Sciaccia. In Imitation of Christ. S. 257 nennt cs sogar "the salvation of a people through ritual murder"
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daß Boris bereits im Himmel weilt, denn er nennt sein Antlitz " ангельское”, "engelsgleich",
und wünscht sich, mit ihm gestorben zu sein
”Увы мнѣ! Уне бы съ тобою умрети ми, неж е уединсну и усирену отъ тебе
въ семь ж итии пожити. Азъ мнѣхъ въбързѣ узьрѣти лице твое ангельское, ти
се селика туга състижс мя и унылъ быхъ съ тобою умрсти, господине мои!"
(290)
*,Weh mir! Lieber stürbe ich mii dir, als einsam und ohne dich auf dieser Welt zu leben Ich hoffte,
dein cngclreines Antlitz zu crblickcn, nun aber liat mich dieses Leid heimgesucht. Lieber wäre ich mit
dir gestorben, mein Herr!" (103)
Gleb begibt sich auf ein Schiff auf dem Fluß Smjadina. Dort wird er von den Mördern
umzingelt und versucht sie mit Verweis auf seine Jugend dazu zu bewegen, ihn zu verschonen
Als dies nichts fruchtet, spricht er ein Gebet, in dem er für seine Familie betet und Syjatopolk
als seinem älteren Bruder vergibt, wie auch Christus und Boris vor ihrem Tode den Sündern
vergeben haben
"Онъ ж е видѣвъ, яко не вънемлють словссъ его, начать глаголати сице:
Спасися, милыи мои отьче и господине Василис, спасися, маги и госпоже
моя, спасися и ты, брате Борисе, старѣишино уности мося, спасися и ты,
брате и поспѣшитслю Ярославе, спасися и ты, брате и враж е Святопълчс,
спасстеся и вы, братис и дружино, вьси спасстеся! Уже не им ам ъ васъ видѣти
въ ж итии семь, заие разлучаемъ еемь отъ васъ съ нужею. И глаголааш с
плачася: Насилие, Василис, отьче мои и господине! П риклони ухо твое и
услыш и гласъ мои, и призьри и вижь приклю чьш аяся чаду твоему, како без
вины закаласм ъ еемь. Увы мнѣ, увы мнѣ! Слыши небо и вънуши земле. И ты,
Борисе брате, услыши гласа моего. Отьца моего Василия призъвахъ и не
послуша мене, то ни ты не хочеши мене послушати? Вижь скьрбь сьрдьца
моего и язву душа мося, вижь течение сльзъ моихъ, яко рѣку! И никто ж е не
вънемлеть ми, нъ ты убо помяни мя о мнѣ къ обьщ ему владыцѣ, яко имѣя
дьрзновение и престоя у престола его." (292*294)
"Als er sah. daß sie nicht auf seine Worte hörten, sprach er: 'Möge deine Seele gerettet werden, mein
lieber Vater und Herr Wassili, möget ihr gerettet werden, meine liebe Mutter und du. mein Bruder
Boris, der du mir, dem Jüngeren. Vorbild warst. mOgc deine Seele gerettet werden, mein Bruder Jaroslaw, der du mir immer ein liebevoller Freund warst, mögest auch du. mein Bruder und Widersacher
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Swjatopolk. geredet werden, und mögen auch eure Seelen, meine Gefährten und Gefolgsleute, mögen
euer aller Seelen Heil finden. In diesem Leben werde ich euch nicht Wiedersehen, denn man nimmt
mich gewaltsam von euch.' Klagend fuhr er fort: ,Wassili. Wassili, mein Vater! Höre mich an und vernimm meine Worte: Blicke herab und siehe, was deinem Kind geschieht! Schuldlos werde ich hingeschlachtet! Weh mir, weh mir! Höre mich. Himmel, vernimm mich. Erde! Auch du. mein Bruder Boris,
höre meine Stimme! Deinen Vater Wassili habe ich im Gebet angerufen, aber er hat mich nicht erhört
Willst du mich nicht erhören? Sieh das Leid meines Herzens und die Qual meiner Seele, sich den Strom
meiner Tränen, der mächtig dahinfließt! Niemand hört mein Rehen! Du aber gedenke meiner und halte
Fürbitte für mich bei unser aller Herrn, der du dich dessen unterfangen darfst und vor seinem Thron
stehst * 1 0 5 ) )־
Indem er Vladimir mit seinem Taufnamen Vasilij anredet, reiht er ihn in die Reihe der Heiligen ein Boris und Gleb übernehmen als christliche Heilige die Funktion der heidnischen Fürsten, die Rus* vor Unheil zu schützen.
Gleb stirbt den Opfertod als Lamm Gottes Daß er von seinem Koch erstochen wird, hat
wohl mit der Assoziation des Schlachtens und Nahmngszubereitens zu tun Glebs Tod wird
jedoch im Text explizit als "яко апія" (294), "wie ein Lamm", bezeichnet Eine weitere Erklärung des Todes Glebs ist nicht nötig, weil der Ausdruck Lamm auf die Apostrophierung des
Boris als Schaf und damit auf seinen Opfertod verw eist 123 Also ist auch Gleb den Opfertod
Christi gestorben und wird zu seinem Abbild, während Boris schon intratextuell Urbild Glebs
ist.
"П оваръ ж е глѣбовъ, именьмь Търчинъ, изьмъ ножь и имъ блаж сн ааго и
закла и яко агня непорочыю и безлобиво, мѣсяца септября въ 5 льнь. въ
нонеделникъ." (294)
"Glebs Koch, mit Namen Tortschin, zog sein Messer und schlachtete den Seligen wie ein unschuldiges Lamm ab; cs war im Monat September, am fünften Tage, einem Montag." (106)
Diese Abbildlichkeit von Boris und Gleb geht über eine reine imitatio Christi, die dazu dienen soll, die Brüder als M ärtyrer zu etablieren, weit hinaus 123 Norman Ingham bemerkt zwar,
122 Die Metaphorik wird nonnalerweise als Deutung der Jugend Glebs gesehen wenn Gleb Lamm ist, ist
Boris schon Schaf. Seine Jugend macht Gleb auch zum Abbild Benjamins, des jüngsten Sohnes Jakobs, als
welchen Boris ihn bezeichnet Gleichzeitig ist seine Jugend im Zusammenhang mit der paganen
Fnichtbarkeitsgläubigkeit zu sehen, die in Gleb synkrctistisch in das Christentum gerettet wird.
123 So Sciaccia. In Imitation of Christ. S. 258f V the essence of all early Christian martyrdom was the
explicit connection of the death o f the saint with Christ's passion " Vgl Ingham. The Martyred Prince. S.
44. Im übrigen ist die imitatio oder Nachfolge Christi keine Voraussetzung für Heiligkeit Unter Nachfolge
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daß die Passion der Brüder das Bild von der Unschuld der Ermordeten und der Ungerechtigkeit ihres Todes in einer Kette von Präfigurationen angefangen von Abel bis zu Christus transportiert, sieht dieses Bild jedoch nur im Zusammenhang mit der Funktion des Skazanie als
Mahnung, dem älteren Bruder zu gehorchen und so die Ordnung in der Dynastie aufrechtzuerhalten 124 Daß das Skazanie versucht, die Passion der Brüder analog zur Passion Christi darzustellen, w ertet er zwar später als "iconic principle" des Martyriums, schließt daraus jedoch
nicht darauf, daß Boris und Gleb nicht nur als imitatores Christi gesehen werden können,
deren Tod dem Christi ähnlich ist, sondern auch als imagines Christi Erst als Ikonen oder
Abbilder Christi entfaltet sich die Funktion Boris' und Glebs als Beschützer des russischen
Landes, die als Abbilder Christi an erster Stelle der Hierarchie der Kiever Rus' stehen, weil sie
erst als Abbilder zu einer Ontologisierung der Dynastie beitragen
Boris* Gedenken an die Passion des tschechischen Märtyrers Václav (284) bestätigt die Abbildhaftigkeit der Brüder noch einmal Auf diese Verbindung zwischen der Ermordung des
tschechischen Fürsten Václav (Wenzel) durch seinen Bruder und seine Heiligsprechung und
der Erzählung von Boris und Gleb ist schon oft verwiesen worden, allerdings wurde eher unter
philologischem Aspekt untersucht, inwieweit die Vaclavlegende als Vorlage flir das Skazanie
gedient haben könnte .125 Der Inhalt wurde unter dem Aspekt des Fürsten als eines
rechtschaffenen Mannes, der unschuldig ermordet wurde, untersucht 126 Ingham schließt aus
den Ähnlichkeiten auf eine slavische Tradition von Märtyrerherrschem, die schließlich in den
christlichen Weg von Widerstandslosigkeit und Bruderliebe mit einem Ideal von politischer
Moralhaftigkeit mündete 127 Als politische Funktion der Erzählung von Boris und Gleb gilt
daher die Festigung des Seniorats
124
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127
128
t 0ר
Christ! wird vielmehr in der patnstischen und mittelalterlichen Literatur die Nachahmung des Lebens
Christi im asketischen Sinne verstanden In der Väterzeit bedeutete Nachfolge Christi, den Tod Christi zu
sterben, um Märtyrer zu werden, eine Wallfahrt zu unternehmen oder in Armut und Demut zu leben. S.
Fcifcl, Nachfolge Christi, Sp 611. Den Tod Christi zu sterben als Voraussetzung Шг die Verehrung als
Märtyrer bedeutet, wie Christus von den Römern oder anderen Ungläubigen getötet zu werden und ist als
höherwertig anzusehen als die Askese Auf keinen Fall ist mit imitatio oder Nachfolge Chnsti das
Durchleben der gesamten Passion Chnsti gemeint, wie ingliam cs andcutct Im Skazanie wird durch
Urbild und Abbild argumentiert Das Abbild als Synekdoche enthält das gesamte Urbild mit all seinen
Implikationen
Ingham, The Sovereign as Martyr, S 12, in The Martyred Prince, S. 38+44 spricht er schon von einem
"iconic principle".
S. u.a. und mit weiterfuhrender Literatur: Floqa. Václavska legenda; Ingham, Czech Hagiography in
Kiev, Ingham. The Martyred Prince; Ingham. The Sovereign as Martyr, Licha&v, Dmitrij SergecviC
Nekotorye voprosy ideologii fcodalov v literature XIOCIII vekov, in: TODRL 10 (1954), S 87-90
Ingham. The Martyred Prince. S. 40 T h e theme of righteousness and innocent death is one of the most
important connecting links between the tradition of Wenceslas and that of Boris and Gleb."
Ingham. The Sovereign as Martyr. S. 12. vgl Flórja. Václavska legenda. S 85
Flórja. Václavska legenda. S. 80Г, 87f.
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Im Falle Václavs wird aus dem Märtyrerkult im 10 und 11 Jahrhundert der Kult des heiligen Kriegers, schließlich des Patrons des tschechischen Landes Auch seine Ikonographie ist
der von Boris und Gleb ähnlich 129
Die Václavlegende bietet ein beträchtliches Inventar von topoi, die zur Ausdeutung von
Boris' und Glebs Schicksal herangezogen wurden Wie Boris und Gleb durchlebt Václav die
Passion Christi, die im Text auch typologisch als solche gedeutet wird Václav wird verraten,
wie die Juden und Judas Christus verraten haben
"Разгрдѣвьш е ж е се чеш ьки моужи дьѣвлоу влѣзьш оу вь срьдьцс ихь,
ѣ к о ж е и прѣс вь срьдьцс Июдѣ предатела господьна, вьст&ше на господа
своего Вещ сслава, ѣ ко ж е Июдѣи на Христа г о с п о д а . (29)
"Ѣ кож е 60 и прѣс сьнидош с зе Ж идове на Христа м ислещ и, так о ти зали
врази саш адш и се свѣть с т в о р и т е , како би оубили господа своего, кнеза
Всшсслава."(31-33)
"Es wurde aber den tschechischen Männern vom Teufel ins Herz gelegt, wie auch schon vor ihnen
das Herz des Judas, des Verräters des Herrn, sich gegen ihren Herrn Václav aufzulchncn. wie Judas
gegen den Herrn Christus."
"Wie aber auch vorher die Juden gegen Christus aufzusichen gedachten, so traten auch diese ans
Licht, und ermordeten ihren Herren, den Fürsten Václav."
Die ausführliche Behandlung dieses Verrats ist wohl der antijüdischen Polemik geschuldet.
Auch Václav stirbt wie Christus 131
"Всш сславь ж е абие испоусти доухь свои, реки: вь роуцѣ твои, господи,
предаю доухь мои." (33)
"Václav aber, als er seine Seele aushauchtc. sagte: In deine Hände. Herr, befehle ich meinen Geist."
Am dritten Tage (!) nach Vaclavs Tod geschieht das erste Wunder
129 Floija. Václavska legenda. S. 89
130 Die Václavlegcnde wird zitiert nach der Ausgabe von Pastmek. FrantiSck Slovanská legenda о sv.
Václavu. podle rukopisu charvatsko-hlaholského a rumjancevského vydal, pfekladcm a poznámkami,
jakoż i úvodem opatfil. Praha 1908. Alle Seitenangaben stehen in Klammem im Text
131 Ingham. The Martyred Prince. S. 43, weist darauf hin, daß ein tschechisches Martyrologium Václav
tatsächlich wegen der Ähnlichkeit seiner Passion mit der Passion Christi als christlichen Märtyrer auffaßt.
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"П огребощ е ж е частьно тѣло Вещеславлс, добраго и ираведнаго богочьтаца
и христолю бца. Доуш а ж е его вьыидс кь богоу, емоуж с и слоужи зь
говорением ь и са страхомь: Крьв ж е его до три дьни не рачи в зем лю ити.
Трети ж е дань вьсѣмь видсщ имь, урѣки вьзиде надь иимь, ѣко дивити се
вьсѣмь." (35-36)
"Es wurde aber der wertvolle Körper Vaclavs, des guten und rechtschaffenen Goitcskindcs und
Christusliebendcn. begraben Seine Seele aber ging ein zu Gott, und ihm dient sic mit Worten und mit
Furcht: Sein Blut aber wollte drei Tage lang nicht in die Erde eindiingcn Am dritten Tage aber sahen
alle, wie es über ihm aufstieg, und sie waren alle erstaunt.я
Bereits in der Vaclavlegende stützt sich also die Heiligkeit des Fürsten darauf, daß sein
Martyrium Abbild des Martyriums Christi ist Und bereits im Falle Vaclavs handelt es sich um
kein echtes Martyrium für den Glauben mehr Seine Abbildlichkeit von Christus legitimiert ihn
als christlichen Herrscher Boris und Gleb durchleben beide die passio Christi, und ihr Opfer
wird als Kreuzestod des Lammes gedeutet Gleb wird zusätzlich durch seine intratextuelle
Abbildlichkeit von Boris zu Tagen, die diesen bereits im Text zum Urbild macht Es geht in
beiden Fällen darum, das Land als Reich Gottes auf Erden darzustellen 132 Im Falle von Boris
und Gleb wird außerdem die religiöse Sehnsucht nach einem heiligen Brüderpaar befriedigt 135
Gleichzeitig geht der slavische Ahnenkult mit seiner Suche nach Schutz durch die Ahnen in
synkretistischer Weise in den Heiligenkult ein und wird flir die politische Ideologie der Kiever
Rus' fruchtbar gemacht
Das Weltbild, das im Skazanie aufgebaut wird, unterscheidet sich insofern von dem. das im
Slovo aufgebaut wird, als daß das Skazanie zwei Fürsten an die Spitze der Hierarchie setzt
Doch hat dies nicht viel zu bedeuten, zerstören doch schon das apostolische Ulaubensbekenntnis, dessen älteste Formel vom Ende des 2. Jahrhunderts stammt ,134 schließlich das Nicanokonstantinopolitanische Glaubensbekenntnis von 325 die Einheit der neuplatonischen Hypostasen, indem sie dem Vater den Sohn an die rechte Seite setzen 135 Im übrigen ist Boris dem Gleb
als sein intratextuelles Urbild hierarchisch übergeordnet
132 Toporov geht in seiner Behandlung des Ska2cmie implizit davon aus. daß die Rus* sich zur Zeit der
Entstehung des Ska2anie und wahrscheinlich auch später als Teil der christlichen Heilszeit, der sfera
blagodati, wahrgenommen hat. S. Toporov. Ideja svja tosti v Drevnej Rusi. S. 66
133 Toporov׳, Ideja svjatosti v Drevnej Rusi, S. 63
134 Denzinger, D l, S. 2; vgl. Irenaeus. Adversus haeretices in: PG 7.549A. 855B. 924B.
135 Gleichzeitig kann man von einer Wahrung der Symmetrie dadurch sprechen, daß in der Ostkirche auch
der Heilige Geist vom Vater ausgeht und nicht vom Sohn. Es wird sich jedoch im folgenden zeigen, daß
der Aufbau eines intratextucllcn Abbildes für den Umgang mit dem Urbild-Abbild-Dcnken in der Rus*
konstitutiv wird
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D er durch Slovo und Skazanie manifestierte Zustand des Heils, in dem sich die Kiever Rus'
befindet, und der durch die Heiligen der Fürstendynastie gewährleistet wird, wird von Vladimir
Vsevolodovič Monomach, der 1113-1125 Großfürst in Kiev war, au f politischer Ebene umgesetzt Nach LichaČev wirkte Vladimir Monomach den zentrifugalen Kräften in der Kiever Rus',
die sie immer mehr in Einzelfurstentümer aufsplittem ließen, durch Verträge entgegen, die die
Fürsten gegen Angriffe von außen verbünden 136 A uf der ideologischen Ebene schwor er die
Teilfursten der Rus' auf die großfürstliche Dynastie ein, indem er sie ihre Abstammung von
dieser Dynastie ableiten ließ 137 Diese Ableitung wird durch die Chronistik gefestigt und ist bis
heute nicht ernsthaft in Frage gestellt worden
Der als Poučeme Vladimira Monomacha bekannte Text 131 besteht aus drei Teilen, die vom
Autor Vladimir Monomach nach 1117 zusammengefaßt wurden Der vorliegende Text ging in
dieser Form 1177 in die Chronik ein 139 Der erste Teil des Textes, das eigentliche Poučenie,
das als Vermächtnis Vladimir Monomachs an seine Nachfolger gesehen werden kann, wurde
etwa 1099 geschrieben Der zweite Teil, eine Art Autobiographie, die Letopis' zizni, entstand
etwa 1117 Der letzte Teil, Pis'mo к Oļegu Svjatoslaviču, wurde 1096 geschrieben 140 Alle drei
Texte variieren über das eine Thema, daß man seine Brüder nicht töten und den älteren gehörchen soll und daß man den Brüdern ihr Land nicht nehmen, sondern sich mit ihnen gegen die
Feinde von außen, die Heiden, verbünden soll. Das Poučenie beginnt mit zwei thematic clues.
Der erste ist ein Beispiel aus dem profanen Leben, der zweite biblisch im Sinne Picchios
Im ersten Falle wird Vladimir Monomach gebeten, mit auf einen Kriegszug gegen zwei
Brüder zu gehen, um diesen ihren Herrschaftsbereich zu nehmen
"Усрѣтоша 60 мя слы от братья моея на Болзѣ, рѣша: 'П отъсн и ся к нам , да
вы ж ен см ъ Ростиславыча и волость ихъ отъим см ; иж е ли не поидеш и с нами.
136 Lichačev, Vladimir Vsevolodovič Monomach, S. 99
137 LichaČev, Vladimir V s e v o lo d o v ič Monomach. S. 99, geht davon aus, daß Vladimir Monomach die
Abstammung der Fürsten direkt von Rjurik propagierte In Slovo und Skazanie wird jedoch Vladimir
Svjatoslavič als Stammvater der Dynastie angesehen, da durch ihn auch das Christentum in der Rus' mit
den Fürsten verbunden wird In allen beiden Fällen wird außerdem die Abstammung Vladimirs von Rjurik
nicht deutlich gemacht, sondern nur sein Vater. Svjatoslav, und sein Großvater, Igor', genannt, wie auch
Vladimir Monomach im Poučenie, S. 394, nur seinen Vater nennt Vgl. Prochorov, К istori!
rodovosoznanija. S. ISOf.
138 Es wird im folgenden kurz Poučeme genannt und zitiert nach: Poučenie Vladimira Monomacha, in:
Pamjatniki literatury1 Drevnej Rusi. Načalo russkoj literatury, XI-načaI0 XII veka. Moskva 1978, S. 394413. Die Seitenangaben stehen in Klammem im Text
139 LichaČev, Vladimir Vsevolodovič Monomach, S. 100
140 LichaČev, Vladimir Vsevolodovič Monomach. S. tOOf.
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то мы собѣ будем, а ты собѣ'. И рѣхъ: 'А щ е вы ся и гнѣваетс, не могу вы я
ити, ни креста нсрсступити' . 392) )״
"An der Wolga begegneten mir einmal Boten meiner Brüder, die sagten: ,Eile zu uns, damit wir die
beiden Söhne Rostislaws vertreiben und ihnen ihr Gebiet wegnehmen. Wenn du nicht mit uns in den
Kampf ziehen willst, dann werden wir fur uns leben, und auch du wirst allein bleiben '
Aber ich antwortete ihnen: ,Wenn ihr mir auch zürnt, ich kann nicht mit euch in den Kampf ziehen
und den Eid brechen
(382)H1
Die Absage an den Brudermord wird durch eine Kompilation von Bibelsprüchen, die groß־
tenteils den Psalmen entnommen sind, kommentiert. Der biblical (hematic dite variiert über
das Thema, daß G ott den Gerechten gibt, die Sünder aber z e rtritt 142 (392-394) Das folgende
Basileios-Zitat143 faßt die beiden thematic clues noch einmal eindeutig im Sinne eines Syllogismus zusammen: man soll den Älteren gehorchen.
"Я кож е 60 Василий учаш е, собрав ту унош а, душ а чисты, нескверньни.
телсси худу, кротку бссѣду и в мѣру слово господне: 'Я ди и питыо бссъ плища
велика
бы ти,
при
старых
молчати,
прсмудрыхъ
слуш ати,
старѣйш имъ
покарятися, с точны м и и менш иими лю бовь имѣти; без луки бесѣдуюшс, а
много разумѣти; и сверѣновати словомь, ни хулити бесѣдою, не обило
смѣятися, срам лятися старьйш их' ( )и144( 3 9 4 3 9 6 )־
"Ebenso lehne Basileios. Jünglinge um sich geschart, sich eine reine und makellose Seele und einen
schlanken Leib zu bewahren, sanfte Reden zu fuhren und Gottes Won zu beachtcn: 'Das Essen und
Trinken soll ohne großen Lärm vor sich gelten, in Gcgcnwan von Älteren Itat Schweigen zu herrschen,
auf die Weisen soll man hören, den Älteren gehorchen, mit Gleichgestellten und Geringeren in Freundschaft leben, oline Arglist plaudern, aber vieles bedenken, nicht init Worten tobeu. in der Rede nichi
schmähen, nicht im Übermaß lachen und vor Älteren Scheu empfinden ' ( ) 3 8 3 ) ״f)
141 Die Übersetzung folgt: Die Belehrung Wladimir Monomachs, in: Grasshoff, Helmut / Müller, Klaus /
Sturm. Gottfried (Hrsg.): O Bojan, du Nachtigall der alten Zeit Sieben Jahrhunderte allrussische
Literatur, Frankfurt am Main 1975, S. 381-394, die Seitenangaben stehen in Klammern im Text
142 Die folgenden Passagen werden nicht weiter zitiert, weil sie das gleiche Thema haben. Sic zitieren Ps
42.6.12. Ps 37, Ps. 43.5.Ps. 124.2*3, Ps 56,2t, Ps 58,2f., Ps. 59.2-4, Ps 30,6, Ps. 63,4, Ps 64.3, Ps
24.4Г, Ps. 34.2. Vgl den Kommentar zum Poućente Vladimira Monomacha in: Rauchspur der Tauben. S
451. Ich danke Gottfried Sturm fur den Hinweis.
143 Vgl. hierzu Müller, Ludolf: Noch einmal zu Vladimir Monomachs Zitat aus einer asketischen Rede
Basilius des Großen, in: Russia Mcdiaevalis 4 (1979), S. 16-24. wo er als Quelle des Zitates eine Vita aus
dem 11. Jahrhundert nennt.
144 Nach dem Kommentar aus den PLDR 1. S. 460, ist die Stelle einem "poućenie" Basileios des Großen
entnommen, das im Izbomik !076 stand.
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Die Letopis ' žizni des Vladimir Monomach klingt wie ein Reise* oder Kriegszugsbericht
Nach eigener Aussage unternahm der Großfürst 83 große Kriegszüge und unzählige kleine
(406). Interessant ist hier die Begebenheit, in der Vladimir als Fürst von Čemigov von Oleg
angegriffen wird, der sich mit den Polovcem verbündet hat
"И потом О легь на мя придс с П оловьчьскою зем лею к Чернигову, и
би ш ася друж ина моя с нимь 8 дний о малу греблю, и не вдадуче внити имъ
въ острогъ; съж аливъси хрестьяных душь и селъ горящ их и манасты рь, и
рѣхъ: ״Не хвалитися поганы м!'. И вдахъ брату отца его мѣсто, а сам ъ идох на
отц я своего мѣсто П ереяславлю . И выидохом на святаго Бориса день ис
Ч ернигова (.404) "() ״
"Darauf каш Oleg mit dem Polowzcrheer gegen mich vor Tschcmigow gezogen. Meine Drushina
kämpfte mit ihm acht Tage lang um einen kleinen Erdwall und ließ seine Leute nicht in die äußeren
Befestigungsanlagen eindringen Es jammerten mich die christlichen Seelen, die brennenden Dörfer und
Klöster, und ich rief aus: 'Dessen sollen sich die Heiden nicht rühmen dürfen!* Und ich übergab Oleg
den Thron seines Vaters, ich selbst aber ging nach Perejaslawl. zum Sitz meines Vaters. Wir verließen
Tschcmigow am Tage des heiligen Boris [...]” (391)
Ehe daß sich die christlichen Fürsten mit den Heiden verbünden, dadurch christliche Seelen
leiden müssen und die Heiden über sie triumphieren, verzichtet Vladimir au f den Thron in
Čemigov und übergibt ihn dem Oleg, dem er als Vatererbe 145 zusteht, und begibt sich nach
Perejaslavl', das sein Vater innehatte Die Datumsangabe enthält den Hinweis auf das Skazanie
о Borise i Glebe am Tag des Boris übergab Vladimir Monomach die Stadt an Oleg Mit der
Übergabe der Stadt an den V etter 146 handelt Vladimir Monomach als Abbild des Boris, der
Reich und Leben dem älteren Bruder übergab und deutet seine militärische Niederlage und
seine Kapitulation christlich um.
Der Brief an Oleg Syjatoslaviò beginnt mit einem klassischen biblical (hematic clue, der im
Hauptteil ausgeflihrt wird, und der im Schluß noch einmal zusammengefaßt wird Tenor des
Briefes ist, daß man sein eigen Fleisch und Blut nicht toten soll.
145 Vgl. hierzu Lichačev, Vladimir Vsevolodovič Monomach, S. 99
146 Russisch "brat"
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"М олвить 60 иже: 'Б ога лю блю , а брата своего не лю блю , лож ь есть'. (1 Jh
4,20) И пакы: ׳Аш е не отпустите нрегрѣш ений брату, ни вам отпустить отець
ваш ь небесны й׳.( ״Mt 6,15, Мк 11,26) (410)
"Denn zu sprechen: Meli liebe Gott, aber meinen Bruder liebe ich nicht, ist eine Lüge.* Und wcilcr:
,Wenn ihr dem sündigen Bruder nicht vergebt, wird auch Euch der Vater im Himmel nicht vergeben' "
Das Beispiel, das Vladimir Monomach dem Oleg zum Nachdenken gibt, hat Anklänge an
die zu früh geschnittene Frucht und das Opferlamm des Skazanie о Borise i Glebe.
"Зри, брате, отца паю: что взяста, или чим има порты? но токм о ож с еста
створила душ и своей. Но да сими словесы, иославш с бяш с переди, брат, ко
мнѣ варити мене. Егда ж е у б и т а дѣтя мое и твое пред тобою , и бяш с тсбѣ,
узрѣвш е кровь его и тѣло увянувшю, яко цвѣту нову процветш ю , якож с
агньцю заколену, и реши бяш с, стоящ е над ним, вникнуіци въ помыслы души
своей: 'Увы мнѣ! что створихъ? И пож давъ его безумья, свѣта сего мечетнаго
кривости ради налѣзох грѣх собѣ, отцю и матери слезы' . 410) )״
"Sieh, Vetter, auf unsere Väter: was haben sic erbeutet und was war ihnen zur Kleidung9 Aber was
haben sie für ihre Seele getan? Auf diese Worte, die du mir früher gesandt hast. Vetter, antworte ich
Wenn man aber ein Kind erschlüge, meines oder deines, vor dir, würdest du nicht, wenn du sein Blut
und seinen Körper gesehen littest, gcschnittcn wie eine zum ersten Male erblühte Blume, ähnlich einem
erschlagenen Lamm, sagen, über ihm stellend, diese Gedanken in deiner Seele denkend '0 weh mir,
was habe ich getan? Und. indem ich diesen Wahnsinn abgewartet habe, habe ich beim Aufblitzen der
Schwcrtklingc Sünde auf mich geladen, dem Vater und der Mutter (abcrļ Tränen'."
In der Ermahnung, nicht das Blut des eigenen Geschlechts zu vergießen, wird mit den Ausdrücken des Pflanzenabschneidens und des Lammschlachtens auf das Beispiel des heiligen Gleb
hingewiesen W er einen solchen Mord zuläßt, lädt Sünde auf sich und gibt den Eltern Grund zu
trauern Beides sollte man ob der Verwandtschaft unterlassen Den rein ethischen Wert seiner
Aussage bekräftigt Vladimir Monomach in der Schlußpassage des Briefes, in der er behauptet,
selbst keinen unmittelbaren Nutzen von seiner Belehrung zu haben, er jedoch durch göttliche
Erleuchtung dazu genötigt zu sein, nach ihr zu handeln (412)
Das Poučenie belehrt die Zeitgenossen und Nachfolger Vladimir Monomachs im Fürsten*
stand darüber, wie sie sich zu verhalten haben Sie sollen nicht das Blut von Christen, und
schon gar nicht das ihrer Bruder, bzw ihrer Verwandten überhaupt vergießen und ihre Herrschaft nicht antasten, da auch ihnen die Herrschaft von G ott gegeben ist Im Gegenteil, sie
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sollen sich in Frieden leben lassen und sich gegen die Feinde, die von außen kommen, die
"Heiden", verbünden Das Mittel, die Fürsten gemeinsam handeln zu lassen, ist flir Vladimir
M onomach ihre gemeinsame Abstammung Nur wenn sie alle von einem Ahnherrn abstammen,
haben sie einen Grund, nicht gegeneinander vorzugehen und einander zu unterstützen Diese
Dynastie wird durch Boris und Gleb als Abbilder Christi aufgewertet und stellvertretend geheiligt, die Fürsten erhalten Anteil am Göttlichen im Sinne von
Im folgenden werden
praktisch alle Fürsten der Kiever Rus' zu Heiligen, ohne daß sie ein heiligmäßiges Leben
geführt hätten Das Bild der Rus', das Vladimir Monomach hier aufbaut, ist das eines Verbandes von Herrschern, die durch Blutsbande und Seniorat miteinander verbunden sind, die jedoch
alle der einen, geheiligten Dynastie angehóren, deren Ahnherr Vladimir Svjatoslavič das Christentum in die Rus' gebracht und diese dadurch geheiligt hat
Heiliges Ixtnd
Die Heiligkeit Rußlands wird schon durch llarions Beschreibung von Kiev als Abbild des
himmlischen Jerusalem im Siovo о zakone i biagodati impliziert 147 Die Rus' wird heilig, weil
sie in der Heilszeit existiert, in der die Gnade auf der Erde offenbart wurde Diese Heilszeit
wird im Siovo durch die Verschränkungen der Urbilder und Abbilder evoziert
Im Zuge dieses Verfahrens wird das Volk der Rus* zum Abbild des Volkes Israel. Während
die Juden jedoch als sein countertype funktionieren, geht das Charisma der Auserwähltheit auf
das Volk in der Rus' über. Als auserwähltes Volk wird es zum heiligen Volk der Getauften.
Im Skazanie o slayjanskoj pis'mennosti14* wird die Bekehrung der Rus' durch G ottes Ratschluß kurz und als bekannte Tatsache zusammengefaßt, während es im Text vorrangig darum
geht, den im 14 /15 Jahrhundert aufkommenden Versuchen, die Rus' in die kyrillo-methodianisehe Tradition einzubinden, entgegenzuwirken 149 Statt dessen wird darauf verwiesen, daß die
Rus' von Gott selbst Glauben und Schrift erhalten hat 150 und daß Vladimir Svjatoslavič als
147 Stovo 192a.4-5+I92a,6. Döpmann, Der Einfluß der Kirche auf die moskowitische Staatsidee. S. 919Г, hält
cs für ausgemacht, daß Ilarion hier auf den Ausdruck "Svjataja Rus"* hinaus will. Dies scheint jcdoch ein
Rezeptionsfehlcr zu sein. Der Ausdruck "Svjataja Rus"* wird nach Čiževskij, Das heilige Rußland. S. 70,
erst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gebraucht. Im Gegensatz zu Čiževskijs Annahme, daß ein
Konzept von der Heiligkeit Rußlands vorher nicht existierte, hat die vorliegende Arbeit gezeigt, daß die
Heiligung des Landes schon in Kiever Zeit betrieben wurde
148 Zu Stemma und Textkritik vgl. MareS, Skazanie o slayjanskoj pis'mennosti. S. 174
149 Goldblatt. On "Rus'skymi pismeny", S. 223Г
150 Goldblau. On "Rus'skymi pismeny", S. 321
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Zweiter Mose Gesetz und Schrift zu den Russen gebracht h a t 151 In diesem Text aus dem 14
Jahrhundert wird die Bekanntheit des Kiever Konzeptes, daß die Rus' von G ott selbt durch
Vladimir Svjatoslavič bekehrt wurde, belegt
исж с боуди вѣдомо всѣми языки и всѣми людми, яко роускіи язы къ ни
шткоуд уже п р и вѣры сел святыл и грамота роускал никим ж с явлена, но
токм о самѣмъ богомъ вседержитслемъ, отцем ъ и сы номъ и святы м ъ духомъ.
Владимиру духъ святыи вдохноу вѣру придти, a крещ еніе о л ъ грскъ и прочіи
нарлдъ цьрковныи. (...) се ж е того чюлнее и дивнѣл яко единому Владимеру
даетъ б огь принести в роускую землю вѣру и крщ еніс, и грамоту и книги
обрѣтены (...) и приш едъ крести всл люди роуски земли, штолс чю до, яко
вторыи Иерусалимъ на земли
АВНСА, о і і ъ
ависа
Кисвъ,
и
вторым Моисей В ладим еръ
стѣнныи законъ в Иерусалимъ внссс оллучаю іцс о л ъ идолъ, а сей
чсстноую вѣру и крсш сж с святое, (...) сей ж е Владимеръ вѣрою и креш сн ісм ъ
всю землю роускую ириведъ ко прсчистѣй троицы , ко отцу и сыну и святом у
духу, и добродѣтелію получи ж изнь вѣчную. и люди томоу ж е наоучивъ введе
в царство нсбѣсное ."152
"Es ist aber allem Volke und allen Mcnschcn bekannt, daß das russische Volk nicht irgendwoher
seinen Glauben bekam und daß diese heilige russische Schrift nicht irgendwoher kam, sondern von
Gott, dem Allhcrrscher, selbst, dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist Vladimir erschien der
heilige Geist, damit er den Glauben annahm, und die Taufe von den Griechen und später die kirchlichen
Ränge. (...) Dieses ist wunderbar und wundervoll, wie allein Vladimir von Gott gegeben wurde, im rus•
sischen Land Glauben und Taufe, und die Schrift und die Bücher zu finden. | .. ] Und cs gingen, um sich
taufen zu lassen, alle Mcnschcn des russischen lin d es wegen des Wunders, dnß dns /weite Jerusalem
auf der Erde in Kiev erschien und der zweite Moses. Vladimir, erschien, jener brachte die Gesetzestafeln
nach Jerusalem, um sic von der Götzcnanbetcrei zu befreien, allein dieser brachte den reinen Glauben
und die heilige Taufe. |...J So führte also Vladimir das ganze russische Land zu Glauben und Taufe zur
heiligen Dreieinigkeit, wie zu Vater und Sohn und heiligem Geist, und erhielt zur Wohltat das ewige
Leben und lehrte sein Volk so. ins Himmelreich cinzugchcn."
A uf die Auserwähltheit der Rus* wird hier dadurch hingewiesen, daß sie mit dem auserwählten Volk und ihr Land mit Jerusalem verglichen wird Durch die Taufe ist das Volk zum
151 Goldblatt. On "Rus'skyini pismeny", S. 322
152 Skazanie 0 slavjanskich knigach. pcrcncscnnoc na počvu russkuju. in: Codex Slovcnicus Rerum
Grammaticarum Edidit V. Jagič Nachdruck des Scparatdrucks Berlin 1896, München 1968 (“ Slavische
Propyläen; 25), S. 20-31. hier. S. 20ff.
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heiligen Volk geworden Der Großfürst Vladimir wird zum erwählten Instrument der Gnade
Gottes in der Rus \ 153 der in einem "wundervollen Wunder" von Gott dazu gebracht wurde, das
russische Volk zu taufen Der hier gebrauchte Ausdruck чюднее и дивнѣл geht auf das Slovo
о zakone blagodati zurück, wenn angesichts der wundersamen Taufe des russischen Volkes
ausgerufen wird: "д и вн о ч ю д о \ "wundersames Wunder"( 188b,22-l89a, 1).154
Die Herrschaft in der Kiever Rus' wird zum Abbild der areopagitischen himmlischen Hierarchie mit dem christusabbildlichen Fürsten an der Spitze Sie hat damit Anteil am himmlischen
Urbild im Sinne von 6 ц о 1а>|1 а . Die Christusabbildlichkeit wird im folgenden zur Heiligung der
gesamten Dynastie eingesetzt
Das Verhalten des Vladimir Monomach, der das Vatererbe des anderen anerkennt, um
Blutvergießen zu vermeiden und die Einheit der Rus' gegen die Heiden zu verteidigen, zeigt
exemplarisch das Verantwortungsgefühl der Fürsten flir die Rus' Die Zusammenfassung der
russischen Fürsten unter eine Dynastie von Heiligen kann in diesem Sinne nicht als Zentralisie*
rungsversuch gewertet werden, sondern dient dazu, die Fürsten an ihre Verantwortung für die
Herrschaft des Heiligen in der Rus* zu erinnern
Dies zeigt, daß das Selbstverständnis der Fürsten als Mitglieder der Dynastie Vladimirs des
Heiligen von einer Verantwortung fur das ganze Land geprägt war, nicht nur für eine einzelne
Stadt, z.B. Kiev Mit diesem Selbstverständnis und Verantwortungsgefühl korrespondiert
wiederum das Bewußtsein vom heiligen Land und vom auserwählten Volk. Typologisch gesprochen werden alle Fürsten der Kiever Rus* zu Allotypen von Vladimir dem Heiligen
153 Goldblatt. On "Rus'skymi pismeny", S. 326; Goldblatt weist in FN 54 daraufhin, daß auch Picchio. The
Function o f Biblical Thematic Clues, diese Funktion Vladimirs herausgearbeitet hat.
154 Soldat, The Absence of Miracles, S. 39
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Ein altrussisches B auprogram m
Der Aufbau der Herrschaft Jaroslav VladimiroviČs ging mit einem Bauprogramm in Kiev einher, das spätestens seit W erner Philipps Artikel "Die religiöse Begründung der altrussischen
Haupstadt", au f den ich weiter unten näher eingehen werde, im Zusammenhang mit dem Aufbau eines Staatswesens rund um Kiev als Hauptstadt gesehen wird. Der Ausbau Kievs unter
Jaroslavs wird als visuelle Darstellung seiner Herrschaftsauffassung gesehen, die von allen
anderen Großfürsten bis hin zu den Moskauer Zaren imitiert wurde, um die Hauptstadtfunktion
zu übertragen, das Charisma der Hauptstadt zu evozieren und schließlich die Nachfolgelinie
von Kiev an aufrechtzuerhalten .1 Die Beschreibung des Ausbaus wird sowohl von Ilarion im
Slovo als auch von der Povest1vremewiych lei geliefert
"добръ ж е зѣло и вѣрснъ послухь сы нъ твои retoprïM. его ж е сътвори
господь намѣстника по тебѣ. твосм ж владычьствж. не руш ащ а твоих оуставъ.
нъ оутверж аю щ а. ни оумаллю щ а тво ему благовѣрію положенТа. но паче
прилагаю іца. не сказаш а нъ оучинлю щ а. иж е недоконьчанал твоа наконьча.
акы солом онъ дадвы два. иж е дсомъ б о ж ж великыи с в а т ы и его прѣм ж дрости
създа. на свлтость и сосуіценіе граду твоему, ю ж е съ.
красотою
всакою
оукраси. златом ъ и сребромъ. и кам еш ем ъ драгы им ъ. и съсжды честны им и.
іа ж с
цьркви дивна и славна вѣсмъ (іжругъниимъ странам ъ.
іа к о
ж е ина не
(обрлщетсл въ всемь полж нощ и земнѣѣмь. сото въстока до запада, и славны й
градъ твои кыевъ. величьствомъ
іа к о
и
скорѣи
градъ.
свлтыи
всеславніи
вѣнцсмь о б л о ж и л ъ . прѣдалъ лю ди твоа
на
помощ ь
христіаном ъ
богородици. си ж е и цьрковъ на великы ихъ вратѣхъ създа. въ
има
сватѢи
исрвааго
господьскааго праздьника. свАтааго благовещ еніа. да еж е цѣлованіе архаггелъ
дасть девици. бж деть и граду семоу. къ сонои 60 . радуисл ш брадована господь
с тобою , къ градоу ж е. радуисл благоверны й граде господь с тобокх" (Slovo
191b,15-192b,7)
"Sehr gut und cin Glaubcnsbczcugcr ist dein Sohn Georgij. Ihn aber machie Gott zu deinem
Nachfolger in deiner H errsdiafl Er hat das von dir Aufgcbauie nicht zerstört, sondern gestärkt. Er
verkleinerte nicht die Summe des von deiner Frömmigkeit Hinterlegten, sondern fügte ihm viel mehr
hinzu. Er bestraf) nicht, sondern stellt die Ordnung wieder her. Was du nicht beendet hast, beendet er
wie Salomo das Werk Davids. Er baute das Haus Gottes, seiner großen und heiligen Weisheit zur
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Heiligung und Verschönerung der Stadt. Und er verschönerte sie mit allen Schätzen, Gold und Silber,
und wertvollen Steinen und wertvollen Gefäßen So schmückte er auch die wunderbare und in allen
umgebenden Städten berühmte Kiche, keine andere ist so geschmückt in allen anderen Wcltgcgcnden
vom Osten bis zum Westen wie deine Stadt Kiev. Sie ist von einem großen Kranz umgeben, der dein
Volk und deine Iteilige, vielgerühmte Stadt beschützt
Schnell hilft den Christen die heilige
Gottesmutter Für sie aber ist auch die Kirche auf den großen Toren gebaut, im Namen des ersten
Hcrrcnfcstcs, der heiligen Verkündigung, in der der Kuß des Erzengels der Jungfrau verkündet, daß sic
seine Stadt werden wird. Zu ihr aber (sagte er): Freue dich. Gesegnete, Gott ist mit dir Und zur Stadt:
Freue dich, rechtgläubige Stadt, Gott ist mit Dir "
Als der von G ott eingesetzte Nachfolger Vladimirs setzte Jaroslav dessen Werk fort und
vollendete es: "иж е недоконьчанал твоа наконьча", "das nicht vollendete wird durch dich
vollendet.” Das typologische Beispiel, auf das verwiesen wird, ist das des David und des
Salomo 2 ־wie Salomo das Werk des David vollendete, so vollendete Jaroslav das Werk Vladimirs Die Gemeinsamkeit zwischen Jaroslav und Salomon besteht hier in der Bautätigkeit,
genauer: im Tempelbau 3 Im Text selbst geht es um den Bau der Stadt Kiev, die als mit Gold,
Silber und wertvollen Steinen geschmückt beschrieben wird 4 Der Ruhm der wunderbaren
Stadt Kiev ist über die ganze Welt verbreitet. Der Kranz, den sie trägt, kann sowohl als Siegeroder Märtyrerkranz gedeutet werden als auch, wie Müller dies tut, als Metapher flir die Befestigungsanlage der Stadt .5 Die besonders genannten Gebäude sind die Kathedrale der hl.
Sophia, "иже дсомъ бож іи великы и
1
2
3
4
5
сваты и
его прѣмждрости", das H aus G ottes und
Zur Infragestellung dieser Zielsetzung s. Keenan, On Soinc Mythical Beliefs, S 20, und seinen
Widerspruch gegen diesen seit dem 18 Jahrhundert gängigen topos der Forschung ebd S. 2 Iff.
Das Königtum Israels mit dem von Gott gesalbten König (Messias) wird als Fortführung des Sinaibundes
gedeutet, als Bund zwischen der Davidsdynastic und Gott. Die Israel eigentlich fremde Institution des
Königtums wird so zu einem neuen Akt der Heilsgcschichtc. S. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen.
Bd 1, S. 307f.
Vgl. hierzu Stökl, Der zweite Salomon. Stökl meint jedoch, daß das erste erwähnte typologische Beispiel
für einen zweiten Salomon Andrej Bogoljubskij nach PSRL 1, Sp. 367-699 und PSRL 2, Sp 580-85 sei.
und nicht Jaroslav Vladimirovič im Slavo. Eliade. Kosmos und Geschichte, S. 19fT, stellt den Tempclbau
als Kosmogonic dar: "Vor allem der Tempel ־als heiliger On par excellence - hatte ein himmlisches
Urbild. Auf dem Berg Sinai zeigt Jahwe Mose die ,Gestalt' des Heiligtums, das dieser ihm bauen soll
'Genau nach dem Muster der Wohnstätte und aller ihrer Gegenstände, die ich dir zeige, sollt ihr es
hersteilen' (Exodus 25,9) *Sieh zu. daß du ihn nach dem Muster ausfuhrst, das du auf dem Berg gesehen
Iiast* (ebd. 25,40). Und als David seinem Sohn Salomo die Pläne fur die Baulichkeiten des Tempels, des
Tabernakels und allen Zubehörs übergibt, versichert er ihn: ,AH das legte er dar in einer Schrift aus der
Hand des Herrn, die über ihm ruhte, und erörterte alle Arbeiten, die der Plan vorsah’ (Chronik 28,19).
Also hat er das himmlische Urbild g eseh en E b d ., S. 19Í
Nach Franklin, Perceptions and Descriptions of Art, S. 672. wird dieser Ausdruck später zu einem topos
Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 171
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seiner heiligen W eisheit“, und die Kirche der Gottesmutter auf den großen Toren, die dem
ersten Herrenfeste, der Verkündigung ,6 geweiht ist
Als M otivation des Städtebaus wird zweimal die Heiligung der Stadt genannt Die Sophienkathedrale wird errichtet ״на свлтость и (осущеніс граду твоему", Hzur Heiligung und
Verschönerung deiner Stadt ." Am Ende der Passage wird die Stadt personifiziert und direkt
angesprochen "радуисл благоверны й граде господь с тобою " "Freue dich, rechtgläubige
Stadt, der Herr ist mit dir HDiese Personifikation ist zweideutig Vordergründig scheint es sich
um eine Fortsetzung des vorhergehenden Themas des Märtyrerkranzes der Stadt zu handeln
Durch die Anrede der Stadt mit dem Englischen Gruß wird sie jedoch nicht irgendeine Person
und nicht irgendeine Märtyrer-Heilige, sondern zur Gottesmutter, aus deren Schoß der Heiland
hervorgeht 7 Diese Verkörperung oder Ver-Körperlichung ist zunächst allegorisch zu verstehen; Stadt und G ottesm utter werden in eines gedacht, die Stadt ist geheiligt, weil die Gottesmutter geheiligt und gebenedeit ist Nimmt man jedoch die Ver-Körperlichung wörtlich, so
wird die Stadt als ganzer, von der Mauer umgebener Bau-Körper zum Körper der Gottesmutter und bringt den Heiland hervor Mit anderen Worten: Gottes Sohn kommt aus Kiev Diese
Ver-Körperlichung der Stadt ist die Konsequenz aus der Argumentation des Textes Der
Großfürst Vladimir ist das Abbild Christi, Jaroslav Vladimirovič ist sein intratextuelles Abbild
Der aus dem Stadt-Körper hervorgegangene Christus ist der abbildliche Großfürst
Das Slovo argumentiert, Kiev sei geheiligt, weil in der Stadt bestimmte Bauwerke errichtet
wurden: die Sophienkathedrale, der Wall um die Stadt und die Verkündigungskirche auf den
großen Toren. Anders klingt dies zunächst im Chronikbericht der Povest ' vremetmych let über
die von Jaroslav Vladimirovič errichteten Gebäude.
"В лѣто 6545. Зал о ж и Ярославъ городъ всликый кы евъ, у него ж е града
суть З л атая врата; залож и ж е и церковь святы я С оф ья, м итронолью , и
посем ъ церковь на Золоты хъ воротѣхъ святое Богородицѣ Благовѣіценье,
поссмъ святаго Гсоргія м апасты рь и святы я Ирины. И при сем ъ нача вѣра
хрестьянская плодитися и разиіиряти, и черноризьци почаш а м нож и ти ся, и
м анасты рсвс починаху бы ти ."8
**Im Jahre 6545 baute Jaroslav die große Stadt Kiev, und in seiner Stadt das Goldene Tor Er baute
auch die Kirche der heiligen Sophia, die Metropolitankirche. und dann die Kirche der heiligen
6
7
8
Vgl. Müller. Des Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 172
Vgl. hierzu weiter unten: Die Gottesmutter ist auch Metapher für das himmlische Jerusalem
PSRL 1 sub 6545 (1037). S. 65
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Verkündigung der Gottesmutter auf dem Goldenen Tor, dann die Klöster des heiligen Georg und der
heiligen Irina. Und da begann der christliche Glaube Frucht zu tragen und sich zu \־c rbre1ten. und die
Mönche vermehrten sich und cs wurden Klöster gegründet.*'
Auch der Chronikbericht hebt die beiden Kirchen, die Sophienkathedrale und die Verkündigungskirche au f dem goldenen Tor, hervor Er ergänzt sie jedoch noch um die Kloster des Hl
Georg und der Hl Irina, die man als Patronatsklöster für Jaroslav und seine Frau Ingigerd/lrina
ansehen kann 9 Außerdem werden weitere Klöster genannt, die in Kiev gebaut wurden, und die
im Zusammenhang mit der Vermehrung des Mönchtums stehen, die also mithin für eine
Zunahme heiligmäßigen Lebens in Kiev sprechen Auch die Ausschmückung der Sophienkathedrale mit Silber und Gold wird im Chronikeintrag erwähnt
"Я рославъ ж е се, яко ж с рскохомъ, лю бимъ бѣ книгамъ, и многы написавъ
п олож и въ церкви святой Софьи, ю ж с созда самъ украси ю златом ъ и
сребром ъ и съсуды церковны м и, въ ней ж е обычныя иѣсни Богу въздають, въ
годы обы чн ы я. И ины церкви стабляш с по градомъ и по мѣстомъ, поставляя
попы и дая имъ от имѣнья своего урокъ, веля имъ учити люди, понеж е тѣмъ
есть поручено Богомъ, и приходити часто къ церквамъ; и ум нож иш ася
просвутсри и лю дье хрестяньстии. Радоваш еся Ярославъ, видя множ ьство
церквы й и лю ди хрсстьяны , зѣло; а врагъ сѣтоваш сться, побѣж асмъ новыми
лю дьм и хрестьяньскы м и.10״
"Jaroslav aber, wie schon gesagt, liebte die Bücher und ließ viele schreiben und in die Kirche der
heiligen Slophia stellen, die er auch selbst ausschmückcn ließ mit Gold und Silber und mit Kirchcngerät
ln ihr werden Gott die gebotenen Gesänge dargebraehl zur gebotenen Zeit Und andere Kirchen baute er
in der Stadt und den Dörfern, sct/tc Priester ein und gab ihnen von seiner Habe, befahl ihnen, die
Menschen zu unterrichten, wie ihnen von Gott aufgetragen wurde, und ging oft in die Kirchen Und cs
wuchs die Zahl der Presbyter und der Christen. Jaroslav freute sich, als er die Menge der Kirchen und
Christen sah; der Feind aber klagt, besiegt von den neuen Christen.**
Der Schlußsatz läßt Jaroslav als Antithese zum Teufel ־врагъ - wie Gott auf sein vollbrachtes Werk sehen Durch den Kirchenbau, die Einsetzung der Priester und die Belehrung
des Volkes ist die Rus' ein wahrhaft christliches Land geworden
9
10
Archäologische Daten sprechen allerdings nur von Kirchen, vgl. Toloćko, Drcvnij Kiev, S. 70
PSRL 1 sub 6545 (1037). S 66
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Marilyn Nelsons Exegese des Chronikeintrags deckt sich in vielem mit dem über die DarStellung Kievs im Siovo Gesagten. Sie weist auf die alttestamentarische Typologie hin, die der
Text aufbaut: Antityp Jaroslavs sei Salomon, der nach Eph. 2,12-13 den Tempel als Zeichen
fiir das Israel des Fleisches baute, während Jaroslav die christliche Kirche flir das Israel des
Geistes erbaute:
,,The New Israel, whose covenant and symbol are spiritual, includes the Gentile convert in its mystical community, which is the new temple, the resurrected Christ. Thus the
mission to the Slavs demonstrates the fulfillment o f the divine plan: the promise o f Solomon's temple is fulfilled in the founding o f Kiev and its new spiritual community.**"
Sowohl Vladimir als auch David haben Söhne, die Tempel bauen 12 "In this adapted exegesis Vladimir represents a New Testament Russian David by bringing a whole nation to Christianity. For the religious-historical purposes o f the Primary Chronicle, this is a supreme example
o f fulfillment H ״Jaroslav und Salomo, die beide den Beinamen ״der Weise*' bekommen
haben ,14 bauen beide das heiligste religiöse Zentrum ihres Volkes "Jaroslav is the Christian
parallel to Solomon, the narration presents Kiev as the analogic Christian fulfillment o f Jerusalem "l5 Der Bau der Stadt Jaroslavs wird von Nelson mit dem Tempelbau in Jerusalem
gleichgesetzt Die neutestamentarische Kirche verstehe sich als mystischer Körper Christi Die
Verkündigung symbolisiere den Eintritt Christi durch goldene Tore. Das Goldene Tor, das im
Osten des Jerusalemer Tempels liegt (Ez. 40-48), sei das Symbol der Gottesm utter, die in der
Liturgie der entsprechenden Festtage als Tempel flir Christus bezeichnet w erde .16
Die Gemeinsamkeiten der in Slavo о zakone i biagodati und Povest' vremennych let
erwähnten Realia lassen nicht auf eine quellenmäßige Abhängigkeit des einen Textes vom
anderen schließen ,17 da sich beide auf Gebäude beziehen, die in Kiev tatsächlich existierten
Daß gerade diese Gebäude hervorgehoben wurden, liegt eher daran, daß sie die ersten Steinbauten in der Stadt sind und unter Jaroslav Vladimirovič errichtet wurden.
11
12
13
14
15
16
17
Nelson. Structure and Exegesis. S. 147
Nelson, Structure and Exegesis, S. 149
Nelson, Structure and Exegesis. S. 149
Nelson. Structure and Exegesis, S. 153, Anm 23.
Nelson. Structure and Exegesis, S. 150; vgl. S. 147: "Central to the symbolism of Solomon is the role as
builder of the Jerusalem temple, which ultimately made the city a spiritual center o f the Old Testament
world."
Nelson, Structure and Exegesis. S. 147ff
So argumentiert Müller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede. S. 169.
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Im Allgemeinen geht man davon aus, daß Jaroslav schon 1017 mit dem Bau begonnen hat
und daß er 1037 abgeschlossen wurde 18 Dies wird sowohl von Thietmar von M erseburg 19 als
auch durch ein Graffiti belegt, das schon 1032 in der Sophienkathedrale angebracht wurde .20
Der Ausbau Kievs war wohl vor allem verteidigungs* und staatspolitisch motiviert Da Kiev
1016 von den Pečenegen eingenommen worden war, war der Bau einer Verteidigungsanlage in
Gestalt eines hohen Walles zwangsläufig 21 Die Befestigung hob Kiev Toločko zufolge außerdem als Hauptstadt der Rus’ hervor .22
Kiev liegt im Übergang zweier Landschaften, des Waldgebietes im Norden und der südlichen Waldsteppe. Die Grenze des Kiever Gebietes ist der Dnepr, der außerdem die Grundvoraussetzungen für die Besiedelung bot, da er als Wasserweg viele Gebiete miteinander verband
Kiev selbst liegt auf der einzigen Erhöhung im Dneprbecken, einem rechts am Ufer gelegenen
Plateau, das durch natürliche Barrieren vor Eindringlingen geschützt wird und das zudem
durch die Anlage von Befestigungen, gorodišča, auf den umliegenden Hügeln weiter befestigt
wurde 23
Die Stadt Kiev lag im 11- 12 Jahrhundert auf einer Fläche von etwa 360-380 ha und hatte
etwa 45.000 E inw ohner 24 Kiev ist im 11 und 12. Jahrhundert Metropole 25 bzw Hauptstadt
der Kiever Rus' als Sitz des Großfürsten als oberstem Repräsentanten des Staates, Sitz der
zentralen Büchersammlungen, wahrscheinlich auch Sitz eines zentralen Archivs, und zog darüber hinaus Menschen an, in ihm zu wohnen 26 Diese zentrale oder zentralisierende Funktion
Kievs in der Rus’ läßt sich mit dem von Winfried Eberhard fur die mittelosteuropäischen
M etropolen des Mittelalters festgemachten Prinzip der ethnisch-sprachlichen und politischregionalen Pluralität vergleichen Als Anziehungspunkt flir varägische Kaufleute, byzantinische
M issio n a re u n d K u n sth a n d w e rk e r - d ie S tcin k ath cd ralcn in K iev w u rd en u n te r d e r A ufsicht
18 Toločko. Drevnij Kiev. S. 78; vgl. Toločko. Istorićna topogrāfijā siarodavnogo Kicva. S. 205
19 Toločko. Drevnij Kiev, S. 71.
20 Toločko, Drevnij Kiev, S. 78
21 Toločko. Drevnij Kiev, S. 74
22 Toločko. Drevnij Kiev, S. 77. wobei er nicht deutlich macht, was eine Befestigungsanlage mit der
Hauptstadtfunktion zu tun hat.
23 Toločko, Istorićna topogrāfijā siarodavnogo Kieva, S. 200f.
24 Nicht 100.000, wie fälschlicherweise auch angenommen wird. Zum Vergleich: Novgorod hatte im 12
Jahrhundert 20.000 Einwohner, London 30.000, im 14 Jahrhunden 40 000. die Hansestädte hatten nie
mehr als 20-22.000 Einwohner. Kiev kann also als Großstadt im europäischen Vergleich angesehen
werden.
25 Vgl. Engel/Lambrecht, Hauptstadt, S. 141: 1349 wird Prag als metropolis regni Bohemie bezeichnet, weil
es einen Erzbischofsitz bekommen hat.
26 Definitionen nach Engcl/Latnbrccht. Hauptstadt. S. 16
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von byzantinischen Handwerkern gebaut
-, nicht zuletzt durch sein Judenviertel,
sowie als
Ausgangspunkt der Außen- und Heiratspolitik Jaroslav Vladimirovičs ist Kiev wirtschaftlicher,
politischer, kirchlicher und künstlerischer Mittelpunkt der Rus'29 und ein Ort der Vermittlung
und der Integration unterschiedlicher Kulturen, was auch in den in Kapitel 3 angesprochenen
religiösen Synkretismen zum Ausdruck kommt So zeigt sich, daß ein neuzeitlicher Begriff wie
"Metropole" eine Stadt in der Kiever Rus' des Mittelalters als Hauptstadt charakterisieren
kann 50
In seinem bereits erwähnten Aufsatz "Die religiöse Begründung der altrussischen Hauptstadt" macht Philipp auf die Hauptstadtfunktion Kievs und seine charismatische Bedeutung in
der Rus' aufmerksam
Der Bau der Neu- oder Oberstadt Kievs, im folgenden VySgorod
genannt, sollte die Stadt Byzanz ähnlich machen Die Sophienkathedrale in Kiev wurde nach
dem Typ der Hagia Sophia in Konstantinopel gebaut, die Georgs- und Irenenkirche entsprachen gleichnamigen Kirchen in Byzanz, das Goldene Tor in Kiev hatte sein Vorbild im Goldenen Tor von Konstantinopel, das ebenfalls von einer Marienkirche gekrönt w ar .31 Dieser Kirche mißt Philipp eine besondere Bedeutung zu:
HDer Beiname Jerusalemkirche (der Marienkirche auf dem Goldenen T or in Konstantinopel, C.S.) deutet auf das Vorbild von Byzanz hin, auf das Goldene T or in Jerusalem,
das Tor, durch das eine Straße zum Tempel fuhrt, und 'das nur flir die Zwecke des Tem*
peldienstes geöffnet gewesen zu sein scheint' Das Goldene T or der Stadtmauer und die
Schöne Pforte des Tempels fließen in der Vorstellung zusammen [.. ] Da nach Hesekiel
44,1-3 nur der Gott Israels das Tor durchschreitet, wird es auch geistlich als der Schoß
Marias verstanden. Das Tor in der Stadtmauer Jerusalems ist wahrscheinlich kurze Zeit
nach dem Tor in Konstantinopel entstanden, aber durch die Verbindung mit der Tempelpforte mit einer sehr viel älteren Bedeutung versehen Konstantinopel verstand sich als
ein Abbild Jerusalems [ ..] Das Goldene Tor in Kiev ist somit ein Glied in einer langen
27
28
29
30
31
Brunov, Gcschichte der allrussischen Baukunst, S. 12
Vgl. Birnbaum, Jewish Life and Anti-Jewish Sentiments; ders. Aspects of the Slavic Middle Ages. S. 59130; 181-252. In sowjetischen Texten wird dieses Viertel bezeichnenderweise verschwiegen.
Diese Definitionen nach Eberhard, Metropolenbildung im Östlichen Mitteleuropa, S. 280;
Engel/Lambrecht. Hauptstadt. S. 11.
Zu diesem Schluß kommt auch Eberhard, Metropolenbildung im östlichen Mitteleuropa, S. 282. allerdings
nicht fur Kiev, das als osteuropäische Metropole im vorliegenden Sammclband nicht berücksichtigt wurde
Philipp. Die religiöse Begründung der altmssischcn Hauptstadt. S. 375f.
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Bautradition, die bezweckt, Abbilder von dem einen Urbild, Jerusalem, zu schaffen, das
seinerseits Abbild des himmlischen Jerusalem ist."32
Das städtebauliche Programm, das von Jaroslav in Kiev in Gang gesetzt wurde, der Bau der
Sophienkathedrale, des Goldenen Tores mit der Torkirche und der Kirchen der heiligen Georg
und Irene, wird von Philipp als willentlicher Ausdruck des Urbild-Abbild-Denkens gedeutet
"Es handelt sich hier nicht nur um bloßes städtebauliches Nachahmen, sondern um das
Bemühen, das uns im ostkirchlichen Kulturkreis aus der Ikonenmalerei wohl am vertrautesten ist, gerade durch das Beibehalten von Einzelheiten das getreue Abbild eines
Urbildes zu schaffen Jaroslav beabsichtigte nicht nur seine Residenz ebenso großartig
wie die Kaiserstadl zu gestalten, sondern Kiev sollte das Abbild vom Urbild Byzanz,
sozusagen seine Ikone sein und damit dessen Wesen und geistigen Gehalt annehmen, wie
einst die Mächtigkeit Jerusalems auf Byzanz, sollte nun die Mächtigkeit der Kaiserstadt
auf die neue Residenz in einer fromm-magischen Weise übertragen werden Möglicherweise existierten noch andere profane oder sakrale Bauten, die sich als Ausdruck eines
Angleichungsstrebens im genannten Sinne deuten ließen."33
Im Zusammenhang mit Jerusalem, im Anschluß an Gal 4,26 die Mutter der Städte, sieht
Philipp auch die Bezeichnung Kievs als "Mutter der russischen Städte " 34
Im Vergleich mit dem weiteren Städtebau in der Kiever Rus* sieht Philipp eine translatio der
Hauptstadtfunktion von Kiev nach Vladimir durch den Bau einer Neustadt durch Andrej
Bogoljubskij, der ein goldenes Tor mit einer Maricnkirchc und eine zentrale Kathedrale nach
einem Kiever Prototyp bauen ließ. Mit der Zerstörung Kievs 1168 durch Andrej Bogoljubskijs
Družina, dem Bau Bogoljubcvos in Vladimir und dem Raub der byzantinischen Ikone der
32
33
34
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S 377f.
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt, S. 378Г.
Philipp. Die religiöse Begründung der altrussischen Hauptsladt. S. 379. Dieser Ausdruck wird auch von
Stuppcrich in seinem Aufsatz "Kiev - das zweite Jerusalem" angeführt Stuppcrich geht jedoch deduktiv
von der Rede aus. die Feofan Prokopovič zum Empfang Peters I. am 4.7 1706 in Kiev hielt. Feofan
bezeichnet Kiev in dieser Rede als außergewöhnliche Stadt der otćina des Zaren, "die Mutter der
russischen Städte, die darum auch das zweite Jerusalem genannt zu werden pflegt." ebd.. S. 33S.
Ausgehend hiervon geht Stuppcrich im folgenden der Frage nach, ob dieser Ausdruck Berechtigung liai
und komm! zu dem Schluß, daß Kiev durchaus in seiner religiösen Bedeutung Jerusalem und
Konstantinopel ebenbürtig war. Allerdings ist seine Vorgchensweise sehr affirmativ Ich versuche im
Gegensatz hierzu zu zeigen, daß die Bedeutung Kievs als himmlisches Jerusalem schon ini 11
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G ottesm utter Umilenie, der späteren " Vladimirskaja", aus Kiev sei die Kiever Periode der russischen Geschichte abgeschlossen und die Vladimirer Periode beginne 33 Die translatio der
Hauptstadt nach Moskau fand im Rahmen des Vladimirer Großfurstentum s statt .36 Der
Uspenskij sobor des Moskauer Kreml' sei nach dem Vorbild der Vladimirer Mariä-Entschlafungskathedrale gebaut ,37 und auch die Überführung der Ikone der G ottesm utter Umilenie
1395 spricht nach Philipp dafür, daß Moskau zur Hauptstadt der Rus* werden sollte 38 Die
Abbildlichkeit der Großfurstensitze voneinander berechtigt nach Philipp die Epocheneinteilung
der altrussischen Geschichte in eine Kiever, eine Vladimirer und eine M oskauer P erio d e 39
Diese religiöse Begründung einer altrussischen Hauptstadt und die damit verbundene
translatio sowohl der Hauptstadtfunktion als auch des religiösen Charismas funktionieren nur,
wenn man die von Philipp schon erwähnten Ausnahmen nicht mit berücksichtigt So beschreibt
Philipp selbst, daß der Uspenskij sobor in Vladimir gerade nicht nach dem Vorbild der Kiever
Sophienkathedrale gebaut wurde und auch nicht der Sophia geweiht wurde, sondern nach dem
Vorbild des Uspenskij sobor im Kiever Höhlenkloster, das sich im 12. Jahrhundert noch
außerhalb Kievs befand Außerdem war diese Kirche auch Vorbild für den schon unter Vladi
35
36
37
38
39
Jahrhundert bewußt angelegt wurde, und da/и benutzt wurde, die Rus' und ihre Herrscher zu heiligen und
sic zum auscrwähltcn Volk Gottes zu machen
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt, S. 389f. Die Kontinuität der
Herrschafisabfolge von Kiev über Vladimir nach Moskau ist in der allrussischen Chronistik in der Ende
des 14. Jahrhunderts kompilierten Trotckaja letopis' als einzigem Text überliefert worden. Diese Chronik
wurde später von Karamzin extensiv in der Istorija Gosudarst\fa Rosstjskago zitiert Die einzige
Handschrift der Trotckaja letopis ״ist beim Brand Moskaus 1812 zerstört worden. Vgl. Pelcnski, The
Origins of the Muscovite Ecclesiastical Claims to the Kievan Inhentance. S. 109-111 Philipp findet also
gleichsam weitere Beweise fur die in der Trotckaja letopis' und in der Istorija Gosudarst\׳a Rossijskago
postulierte Kontinuität
Noch 1432 wurde der Großfürst von Moskau in Vladimir als Großfürst von Vladimir inthronisiert.
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S. 383
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt, S. 384, so auch Brunov, Geschichte der
allrussischen Baukunst. S. 97ff
Vgl. Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S. 385, der diese Vorstellung noch
auf die von Moskau als dem Dritten Rom ausweitet: "Moskau ist also in seinem Kernstück, in seiner
Mariä-Entschlafungskirchc und ihrer Ikone, gedacht als Abbild und Erneuerung von Vladimir Dieser
Bezug wird freilich gewissermaßen aufgehoben durch den direkten Rückgriff auf Byzanz, der in der Kopie
der byzantinischen Kaiscnvürdc in der Zarenwürde und des Patriarcliats von Konstantinopel im
Patriarchat von Moskau gipfelt Mit der Vorstellung von ,Dritten Rom* knüpft Moskau auch jetzt
keineswegs an das antike Rom an. sondern meint den christlichen Gehalt Konstantinopcls."
Die gesamte These wird noch einmal in Philipp. Ansätze zum geschichtlichen und politischen Denken. S.
159f., perpetuiert.
"Die Hauptstadt konnte zur Pcriodenbezcichnung werden, da sic die weltliche und geistliche Grundlage
der Zeit zu repräsentieren trachtete. Eine solche Gliederung nach der Hauptstadt hat sich wohl kaum ftr
einen anderen europäischen Geschichtsvcrlauf eingebürgert Da die altrussische Epoche insgesamt
christlich-orthodox fundiert war, konnte cs sich nur um ein Wiederholen der Residenz, um ihr
erneuerndes, in der gleichen Frömmigkeit wurzelndes Abbilden handeln: auch wird von hier aus
verständlich, daß gleichzeitig auf Byzanz und Jerusalem Bezug genommen werden konnte." Philipp. Die
religiöse Begründung der altrussischen Hauptstadt. S. 386f.
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mir Monomach errichteten Uspenskij sobor in Rostov .40 Philipp verweist außerdem auf den
Üspenskij sobor in Zvenigorod, der 1399-1400 erbaut wurde, und auf Tver*, wo im 15 Jahrhundert eine Einzug-in-Jerusalem-Kirche auf dem Stadttor errichtet w u rd e 41 Diese Bauten
kann man nicht mit der Regionalisierung der Herrschaft nach dem Tod Jaroslavs erklären Die
Wiederholung des Bauprogramms, das nach Philipp für Hauptstädte vorgesehen ist, in Städten,
die weder M etropoliten- oder Patriarchen- noch Großfurstensitze waren, bringt Philipps These
von der translatio der Hauptstadtfunktion durch die Imitation von Bauten schon in seinem
eigenen Text ins Wanken. Vor allem die augenfällige Nicht-Wiederholung der Kiever Sophienkathedrale, die man im Lichte seiner Theorie nicht mit einem Niedergang der Baukunst erklären sollte ,42 läßt sich nicht mit einer Wiederholung der Jerusalemer Koimesis-Kathedrale der
Gottesm utter in Beziehung setzen, da diese kein Vorbild in Kiev hat Der erste und offensichtliehe Bruch mit der Hauptstadttradition findet also schon bei der Errichtung des ersten Abbildes in Vladimir statt. Ich möchte nicht in Zweifel ziehen, daß die von Philipp aufgezeigten
Wiederholungen durch Urbild und Abbild motiviert sind. Ich ziehe allerdings in Zweifel, daß
die Abbildlichkeit der Kirchen- und Befestigungsbauten auf eine translatio der Hauptstadtfunktion und damit einen rein politischen Akt zurückzuflihren ist und denke, daß sie eine völlig
andere Funktion hatte
Das Kiever Bauprogramm
Die Sophienkathedrale von Kiev war 43 eine funfschiffige Kreuzkuppelkirche im Stile der Konstantinopoler Kunst In Konstantinopel schuf die Kunst den urbanen Raum aus der N atur Die
Kathedralen der Stadt wurden zu Steigerungen und Höhepunkten des Raumcrlcbnisscs 44 Die
Sophienkathedrale in Kiev hatte einen Umgang und eine Empore, die den inneren und äußeren
Raum aufteilten und den Innenraum pyramidal in Form eines gleichschenkligen Dreieckes
gestalteten, eine Bauweise, die in Rußland nie wieder so erreicht w u rd e 45 Da die Kirche als
40
41
42
43
44
45
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S. 381
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S. 385f.
Die "Vergröberung" und "Primitivität” der Kiever Baukunst des 12. Jahrhunderts lag nach Brunov.
Geschichte der allrussischen Baukunst. S. 26, an materiellen Schwierigkeiten und am niedrigen
kulturellen Niveau
Sic ist im 18. Jahrhundert im Stile des russischen Barock umgebaut worden, so daß man sich auf
Rekonstruktionen verlassen muß
Brunov, Geschichte der altrussischcn Baukunst. S. 10Г Zum Vergleich der Kiever Sophienkathcdralc mit
der Konslantinopolcr Kunst vgl. ebd.. S. lOft
Brunov, Geschichte der altrussischcn Baukunst. S. 15; S. 16 entwickelt Brunov seine These, daß die
Baukörper in Altrußland bis ins 16 und 17 Jahrhundert hinein "organisch an wach sen" und nach oben
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M etropolitankirche gedacht war, schloß sich an die westliche, sie umgebende M auer der H of
des M etropoliten an, der einen direkten Zugang zur Kirche hatte .46 Die Sophienkathedrale
diente als zentraler Versammlungs- und Repräsentationsort. Sie war Versammlungsort der
Bischöfe und des vede, Empfangshalle und Begräbnisort der Großfürsten 47
Die Befestigung Kievs durch einen Wall und einen Palisadenzaun im 11. und 12. Jahrhundert ist nach Toločko unikal fìir die Kiever Rus' Von den im Wall angebrachten drei Toren
wird vor allem das sogenannte "Goldene" oder "Große" Tor in den oben zitierten Quellentexten beschrieben. Es war das Haupt- und Paradetor Vyšgorods, mit einem Durchgang von 6,5
m zwischen zwei 25 m langen Steinmauern Das obere Stockwerk schloß mit einer Plattform
ab, die als Verteidigungsturm diente A uf ihr befand sich außerdem die Mariä-VerkündigungsKirche. Seinen Namen hatte das Tor vom Goldenen Tor in Konstantinopel, das ebenfalls als
Paradetor d ie n te 48
Die in der Chronik erwähnte Georgs- und die Irenenkathedrale vervollständigten das
Ensemble Gerade die beiden letzteren Kirchenbauten lassen einen Vergleich Kievs mit Konstantinopel zu Der von Toločko abgebildete vergleichende Plan von Kiev und Konstantinopel
zeigt ,49 daß die fünf in der Pavest' vremennych let erwähnten Gebäude auch in Konstantinopel
standen, und läßt den Schluß zu, daß durch den Bau Vyšgorods tatsächlich ein Abbild Konstantinopels geschaffen werden sollte. Vyšgorod sollte ähnlich repräsentativ als Herrschersitz
der Kiever Rus' sein wie Konstantinopel als Sitz des byzantinischen Kaisers
46
47
48
49
streben. Ioannisjan, Architektur und Architektur-Dekoration. S. 314, nimmt die Pyrairudalfonn zum
Zeichen dafür, daß mit der Kiever Sophicnkathedralc ein neuer Kirchentyp gescliaffen wurde.
Toločko, Drevnij Kiev, S. 69Г
Toločko. Drevnij Kiev. S 69
Toločko. Drevnij Kiev, S. 66
Toločko. Drevnij Kiev, S. 91Г; Toločko selbst bestreitet jedoch die Vergleichbarkeit Kievs und
Konstantinopcls im Text im Gegensatz zum abgedmekten Plan: "Мы уже отмечали, что сравнение
Киева с крупнейшими городами Византии, а также некоторыми западноевропейскими,
унаследовавшими от античности все традиции, является исторически неоправданным. Слишком
рагіичными было их происхождение и культурно—историческое развитие. Согласно заключению
исследователей, такие города, как Константинополь и Фессалоники, имевшие во времена расцвета
соответственно 500 и 200 тыс. человек, были огромными даже по византийским масштабам. Оба они
расположены в исключительно удобных географических местах, на важных артериях
международной торговли и берут свое начало еще с элленистических времен. Большому количеству
населения соответствовали и их огромные размеры. Так, площадь Константинополя (без
агломерации) почти в 10 раз превышала размеры основного городского ядра древнего Киева. В
последние века (ХІѴ-ХѴ) существования Византийской империи количество населения
Константинополя н Фессалоник значительно сократилось и равнялось 30—40 тыс человек.
Древний Киев XI—XII вв. следует сравнивать не с ними, а с городами славянского и. может быть,
западноевропейского средневекового мира." Toločko übersieht hier allerdings konzeptionelle
Ähnlichkeiten. Ansonsten läuft seine Argumentation am Ende auf einen modernen Anti-Byzantinismus
hinaus und ist. indem auf eine Vergleichbarkeit mit dem Westen im Gegensatz zum Osten hingewiesen
wird, sowjetisch geprägt
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ln Berestovo, einem Vorort von Kiev, entstand in der Mitte des 11 Jahrhunderts die Kievo-
pečerskaja lavra, das Höhlenkloster Der Klosterkomplex war ab 1051 mit einer Holzpalisade
eingefaßt, am Ende des 12. Jahrhunderts wurde diese durch eine 2,2 m hohe und 135 m lange
Steinmauer ersetzt 1073 wurde der Uspenskij sobor des Höhlenklosters begonnen, der 1078
geweiht wurde. Die Kathedrale des Höhlenklosters wurde von byzantinischen Baumeistern
gebaut und ist eine dreischiffige Kreuzkuppelkirche mit Narthex, in deren Inneren der Hauptkuppelraum vorherrscht50 Die Torkirche über dem Hauptportal wiederholt nach Brunov wahrscheinlich das Goldene Tor in Kiev mit seinen Prätexten51 Um 1108 baute man eine Trapez-
naja cerkov\ eine Kirche, die gleichzeitig als Refektorium der Mönche diente, und in die Palisade ein heiliges Tor mit einer Dreieinigkeitskirche
Die Geschichte des Baus des Uspensktj sobor des Höhlenklosters wird im Paterikon des
Klosters unter dem Titel "Slovo о prišestvii master cerkovnych ot carjagrada к Antoniju i
Feodosiju1,52 ausführlich berichtet:
"П риидош а от Ц аряграда мастери четыре церковнии, мужие богати велми,
въ псчеру къ великому Л нтонию и Ф еодосию, глаголюаа: "Гдѣ хоіцета начати
церковь?" Она ж е к ним рѣста: "Идѣ ж е господь мѣсго наречеть." Сии ж е
рѣста: " А т е смерть собѣ проповѣдасте, мѣста ли не назиам ѣнавш е, толикос
злато вдавш е намъ?" Антоний ж е и Ф еодосис, призвавіпе всю братию , и
въиросиста грскъ глаголю щ е: ״С каж ите истинну, что сс бысть?"
Сии ж е мастери рѣста: "Нам
с іія щ и м ъ
в домѣхъ своих, рано, въеходящу
солнцу, приидош а къ ком уж до нас благообразии скопци, глаголю щ е: "Зовсть
иы ц а р и ц а В л а х с р н у " . І І и м ь ж е идущими, и о я х о м ъ с ъ с о б о ю другы и ю ж икы
своя, и обрѣтохомся равно приш едш е вси, и стязавш еся, сдину рѣчь царицину
слы ш авш е, и едини зватаеве б ы т а у нас. И видѣхом царицю и м нож ество
вой о ней, поклонихом ся ей, и та рече к намъ: "Хощу церковь възградити
ссбѣ въ Руси, въ Кисвѣ, велю ж е вамъ, да возмѣте злата себѣ на три лѣта".
50
Brunov, Geschichte der altrussischcn Baukunst. S. 20-22. Hier auch die kunsthistorischc Einordnung der
Kirche, die für den weiteren Verlauf der Argumentation hier irrelevant ist.
51 Brunov. Gcschichte der altrussischen Baukunst. S. 23, die barocken Dekorationen der Torkirchc. die heute
noch zu sehen sind, stammen aus dem 17. Jahrhundert
52 Der Kievo-pečerskij paterik wird zitiert nach: Paterik pećerskyj, iže 0 sozdanii ccrkvi, da razumejut' v"si,
jako samogo gospoda promyslom i volcju i ego prcćistya matere molitvoju i choteniem' $"zdasja i s"vr״$isja
bogolepnaa. nebesi podobnaja. vclikaa сегкѵі bogorodićina, archimandritia vseja ruskya zemija. eie est'
lavra svjatago i velikago otca našego Feodosia, in: Pamjatniki literatur)' drevnej Rusi. XII vek, Moskva
1980, S. 412-623; im folgenden stehen die Seitenangaben im fortlaufenden Text.
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Мы
же
поклонивш еся
рѣхомъ:
"О
госпож е
царице,
въ
чю жу
страну
отсы лавш и нас, къ кому тамо ириидем?" Она ж е речс: "Сею посы лаю ко
А нтонию и Феодосию". Мы ж е рѣхомъ: ИТ 0 что, госпож е, на три лѣта злата
даеш и нам ъ, сима прикаж еш и о насъ, что есть на пищу нам ъ вся потребная,
сама ж е вѣси, чимъ нас дарствовати". Ц арица ж е рече: "Сии А нтоний, точию
благословивъ, отходить свѣта сего на вѣчный, а сий Ф еодосий, во 2-ос лѣто по
нсмъ идсть къ господу. Вы ж е възмѣтс до избы тка ваш его злата, а еж е
почтити вас, тако не можеть никто же: дам ъ вамъ, еж е ухо не слы ш а и на
сердце человѣку не взыде. При иду ж е и сама видѣти церкве и в ней хощу
ж и ти и. Вдасть ж е намъ мощи святы хъ мученикъ: А ртемиа и П олискта,
Л еонтиа, А какиа, Арефы, Якова, Ф еодора, рекш и намъ: ,,Сиа п олож и те въ
основании״. Възяхом ж е злато и лиш е потребы. И рече къ намъ: "И зы дитс
наасно и видѣтс всличьство". И видѣхомъ церковъ на въздусѣ, и въш едш е,
поклонихомся ей и въпросихомъ: "О госпоже, каково имя церкви?" Она ж е
рече, яко имя себѣ хощу нарещи. Мы ж е не смѣхомъ ся въспросити, како ти
имя. Си ж е рече: "Богородичина будеть церкви" и дасть нам ъ сию икону: "Та
намѣстнаа, рече, да будеть". Ей ж е ноклонивш еся, изыдохом въ дом ы своа,
носящ е сию икону, ю ж е приахом от рукы царицину"." (418-420)
"Es kamen aus Zargrad vier Kirchenbaumcistcr, sehr reiche Männer, in die Höhle zum großen
Antoni und zu Feodossi und fragten: 'Wo wollt ihr die Kirche errichten?* Die beiden antworteten ihnen:
,An dem Platz, den der Herr bestimmen wird.' Jene aber sprachen: 'Wie ist das möglich: Ihr habt uns euren Tod voraussagend ־so viel Gold gegeben und den Platz nicht bestimmt?* Da riefen Antoni und
Feodossi alle Brüder zusammen, befragten die Griechen und sprachen: 'Sagt die Wahrheit, wie ist das
gewesen?* Die Baumeister berichteten folgendes: 'Als wir in unseren Häusern schliefen, kamen am frühen Morgen bei Sonnenaufgang zu jedem von uns Verschnittene von schöner Gestalt und sprachen: 'Die
Kaiserin ruft euch in die Blachemcn '
Wir gingen und nahmen unsere Freunde und Verwandten mit und trafen alle zur gleichen Zeit ein.
wir stellten fest, daß jeder von uns die gleiche Botscliaft der Kaiserin erhalten hatte und daß dieselben
Gesandten bei jedem von uns gewesen sind. Da sahen wir die Kaiserin und eine große Zahl von Kriegern bei ihr; wir verneigten uns vor ihr, und sic sprach zu uns: 'Ich will mir in der Rus. in Kiew, eine
Kirche bauen Ich gebiete euch, daß ihr Gold für drei Jahre mit euch nehmt ' Wir verneigten uns und
sprachen ,O Herrin. 0 Kaiserin, du sendest uns in ein fremdes Land! Zu wem werden wir dort kommen?* Sie antwortete: 'Zu diesen beiden. Antoni und Feodossi. sende ich euch.1 Wir aber sprachen:
'Warum. Herrin, gibst du uns fur drei Jahre Gold? Du weisest diese an, daß wir das Notwendige an Nahrung von ihnen bekommen sollen Doch du wirst selbst wissen, was du uns gibst * Da sagte die Kaiserin:
1Dieser Antoni wird, sobald er euch gesegnet hat. für immer aus dieser Welt scheiden: dieser Feodossi
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aber wird etwa zwei Jahre nach ihm zu Gott cingehen. Ihr aber soll( Gold im Überfluß mitnehmen. Was
euer Ansehen angcht. so kann euch niemand so ehren wie ich. Ich werde euch geben, was kein Ohr
gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist. Ich werde auch selbst kommen, um die Kirche
zu sehen, und ich werde darin meine Wohnstait haben.1 Und sic gab uns Reliquien der heiligen
Märtyrer, des Artcinios und Polycuktos. Leonuos, Akakios. Arethas, Jakobos und Theodoros. und sprach
zu uns: 'Diese legt in das Fundament ' Da nahmen wir das Gold, mehr, als notwendig gewesen wäre.' Sie
aber sagte zu uns: ,Nun gehet nach draußen und sehet die Größe ļder Kirche].' Und wir erblicktcn eine
Kirche in den Lüften, kehrten zurück, verneigten uns vor ihr und fragten: 'Hemn, wie ist der Name der
Kirche? Sic aber erwiderte, daß sic ihr ihren Namen geben wolle. Wir wagten es nicht, sie zu fragen:
'Wie lautet dein Name?* Und sie sprach: 'Es wird eine Kirche der Gottesmutter sein' und gab uns diese
Ikone und sagte: 'Diese sei die Ortsikone ' Wir verneigten uns vor ihr und gingen fort in unsere Häuser
und trugen die Ikone, die wir aus der Hand der Kaiserin empfangen hatten, mit uns '"5’ (S. 34flf.)
Nach der Rede der "Kaiserin", die natürlich die Gottesmutter ist. erhalten die Baumeister
den A uftrag von ihr, die Kirche der Gottesmutter im Höhlenkloster zu bauen, im Beisein von
Antonij und Feodosij. Diese beiden erkennen, daß es die Gottesmutter war, die den Baumeistern den Auftrag gegeben hat. Antonij aber erprobt Gottes Willen noch einmal, um sicher zu
gehen, daß er den richtigen Ort wählt Der alttestamentarische Typos flir Antonijs Vorgehen ist
Gideons Erprobung von Gottes Willen, bevor er Israel vor den Midianitern errettet (Richter
6,36-40).54
Т р ѣ ц и ж е съ страхом поклониш ася святы м и рѣша: Т д ѣ мѣсто таковое да
видимъ?" А нтоний ж е речс: "3 дни пребудемъ м олящ еся, и господь яви т
намъ". И в тую нощ ь, м оляш уся ему, и явися ему господь глаголя: "О брѣлъ
сси благодать предо мною". А нтоний ж е речс: ״Господи, ащ е обрѣтох
благодать пред тобою , да будеть по всей земли роса, а на мѣсте, иде ж е
волиш и освятити, да будеть суша". Заутра ж е обрѣтош а сухо мѣсто, идѣ ж е
иы нѣ церкви есть, а по всей зем ли роса, Въ другую ж е нощ ь, тако ж е
пом олився, рсче: ״Да будеть по вссй зем ли суша, а на мѣстѣ святѣмъ роса". И
ш едш е, обрѣтош а тако. Въ третий ж е день, ставш е на мѣстѣ том , пом олы и сся
и благословивъ мѣсто, и измѣриш а златы м ъ поясом ъ широту и долготу. И
въздвигь руцѣ на небо А нтоний, рече великым гласом: "П ослуш ай мене,
53
Die Übersetzung wird zitiert nach: Das Väterbuch des Kiewer Höhlenklosters, hrsg von Dietrich
Frevdank und Gottfried Sturm unter Mitarbeit von Jutta Hamcy, Leipzig 1988. die Seitenangaben stehen
in Klammem im Text.
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господи, днесь, послушай мснс огнемъ, да разумѣють вси, яко ты сси хотяй
сему". И абие спаде огнь съ небесс и пож ьж с вся древа и терние, и росу
полиза, долину створи, яко же ръвомъ подобно. Сущии ж е съ святы м и от
страха падош а яко мертвии. И оттуду начатокъ тоя бож ествсны а цсркве."
(420-422)
*,Die Griechen jedoch verneigten sich vor den Heiligen in Furcht und sprachen: ,Wo ist der Ort. daß
wir ihn schauen.' Antoni aber antwortete: *Drei Tage wollen wir im Gebet ѵегішггеп. dann wird der Herr
ihn uns weisen!' Und in derselben Nacht, während er betete, erschien ihm der Herr und sprach: 'Du hast
Gnade vor mir gefunden.* Antoni erwiderte: *Wenn ich, Herr, vor dir Gnade gefunden habe, so sei Tau
auf dem ganzen Boden, aber an der Stelle, die du zu heiligen gedenkst, sei cs trocken ' Am anderen
Morgen fanden sic den Platz trocken, wo heute die Kirche steht. Und überall sonst auf dem Boden war
Tau. In der zweiten Nacht betete er abermals und sprach: ,Es sei überall auf der Erde trocken, am heili*
gen Ort jedoch Tau.' Und sic gingen und fanden es so. Am dritten Tag stellten sic sich auf diesen Platz,
beteten und segneten den Ort und maßen ihn mit dem goldenen Gürtel der Breite und der Länge nach
aus. Antoni erhob die Hände gen Himmel und sprach mit laute Stimme: *Erhöre mich. Herr! Erhöre
mich heute durch ein Feuer [־Zeichen], damit alle verstehe, daß du es bist, der diesen [Platz] wünscht.*
Und sogleich fiel Feuer vom Himmel und verbrannte alle Bäume und das Domengestrüpp und leckte
den Tau auf und schuf eine Vertiefung, die einer Grube ähnelte. Und alle, die mit den Heiligen waren,
fielen in Furcht nieder, als wären sie tot Und so nahm diese Kirche ihren Anfang " (37f.)
Die Kirche der Gottesmutter des Höhlenklosters wird durch ein zweimaliges W under von
ihr und Gott selbst in Auftrag gegeben. Während Gott nach dem Urbild der Gideonserzählung
seinen Willen kundtut und den Ort des Baus bestimmt, bestimmt die Gottesm utter den Bau, die
Reliquien, die das Fundament der Kirche bilden sollen, und gibt ihre Ikone, ein acheiropoieton ,
das in der Kirche aufgestellt werden soll Der heilige Ursprung von Kirche und Ikone wird im
Paterikon noch einmal explizit klargestellt
"Сея ж е зиж итель, и хитрець, и худож никъ, и творсць * богъ, иж е огнем ъ
божества своего попали вѣщи тлѣнны а, дрѣвеса ж е и горы и путь равнаа дому
матсре своея, на прснсссние рабом своим. Разумѣйте, братис, основание и
начало ся: отець свы ш е благословил росою и столпом огнен ы м ъ и о б л ак о м ъ
свѣтлымъ; сы нъ мѣру даровалъ своего поаса, ещ е 60 и дрѣво бяш е сущ еством
видимо,
но
бож исю
силою
одѣано
есть;
святы й
же
духъ
огнем
невсщ ественым яму ископа на водружение коренис, и на семъ кам ени
54
Auf diesen Text wird auch in der Povest' vremennych let sub 6596 (988) und im Siovo о zakone 1
biagodati, I74ff., verwiesen.
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съгради господь ц ерковь сию, и врата адова не удолѣють ей. Ч то ж е и
богородица: на 3 лѣта злата дасть мастеръм и своего пречестнаго образа
икону даровавш и
и ту намѣстницу
постави, от нса
же
чю деса
многа
сътворяю тся." (424)
"Ihr |dcr Kirche] Erbauer aber, Architekt, Künstler und Schöpfer ist Gott selbst, der mit seinem
göttlichen Feuer Vergängliches - Bäume und Höhen - in Flammen aufgehen ließ und den Weg zum
Haus seiner Mutter ebnete, daß sie dorthin von seinen Knechten übergefuhrt werde. Begreift, Brüder,
ihre (der Kirche] Gründung und ihren Anfang: Der Vater sandte von oben seinen Segen mit dem Tau.
mit der Feucrsäulc und mit der hellen Wolke. Der Sohn schenkte das Maß mit seinem Gürtel; obwohl
das Holz seinem Wesen nach erkennbar war, wurde es doch mit Gottes Kraft versehen Der Heilige
Geist aber hob mit geistlichem Feuer die Baugrube ftlr die Errichtung des Fundaments aus Der Herr
erbaute auf einem solchen Felsen diese Kirche. Und die Pforten der Hölle sollen sic nicht überwältigen
Die Gottesmutter gar Itat den Baumeistern fur drei Jahre Gold gegeben und ihr verehrungswürdiges Bild
geschenkt und cs zurOrtsikonc bestellt. Von ihr gehen viele Wunder aus." (41)
Der Schreiber des Paterikons läßt keinen Zweifel an der Deutung dieser Erzählung aufkommen Die Kirche der Gottesm utter des Höhlenklosters ist heilig, weil sie von der Trinität
und der G ottesm utter nicht nur gewünscht, sondern in Auftrag gegeben und realisiert wurde
Der Text des Paterikons wurde im ersten Drittel des 13 Jahrhunderts, also noch vor dem
Tatareneinfall, zusammengestellt, die älteste Handschrift stammt aus dem Jahre 1406.55 Die
Legenden um die Gottesm utter und ihre Kirche, die das Paterikon enthält, sind also etwa im
12. Jahrhundert entstanden, in einer Zeit, in der Kiev schon nicht mehr der unumstrittene Herrschaftsmittelpunkt der Rus' war Die Mönche des Höhlenklosters schafften es, ihre Kirche mit
einer solchen Aura der Heiligkeit zu umgeben, daß sie als Vorbild flir den Bau des Uspenskij
sobor in Vladimir 1158-61 genommen wurde
Das himmlische Jerusalem
Die oben beschriebenen Kennzeichen der Kirchen-, Stadt- und Klosterbauten, die Kirche an
sich, der sie umgebende Wall mit dem Tor, gelten in der ostkirchlichen Ikonographie als Zeichen flir das himmlische Jerusalem 56 Seine Ikonographie geht auf die Vision in der OfFenbarung des Johannes zurück:
55
Ol'Sevskaja. Patcrik Kievo-PeCcrskij. S. 308
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K a i elôov o ù p av ò v xaivòv x a i yr\v x a 1vr!v. ó y à p л р ап о д o u p av ò ç x a i ף
лрогл! yfj <5слт1ХѲаѵ x a i f! Ø dX aaoa огж Sotiv Sti . x a í тт!ѵ л0Х1ѵ тт!ѵ á y ía v
Ч ероиоаХ лц xatvfļv cíôov x a T a ß a iv o w a v èx той o u p a v o v à nò той Ѳеоѵ
fļт 0 lц a 0 ^1 ćv ףv (bç ѵйцфтіѵ Х£Х001ілц£ѵт|ѵ тф àv õ p í aurf1ç. х а і і1 х о ш а qxovf1ç
lieyáXriç èx той Ѳрбѵои Xcyoѵощ.
lôoù f| o ^ v f ) тог) Ѳеог) !ictò tgöv йѵѲрсолшѵ, х аі (1:עף>מ0 מאдет’ а гто ѵ , x ai
aírroi Xaoi aïrrou Soovrai, x a i avrròç ò 0eòç jie t’ aínibv S arai aim òv 0eóç. (Ofïb
21 , ־ ו3(
"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde
verging, und das Meer ist nicht mehr Und ich. Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von
Gott aus dem Himmel herabgefahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. Und hörte eine
große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da. die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei
ihnen wohnen, und sic werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, mit ihnen, wird ihr Gott sein.”
Das himmlische Jerusalem, aus dem Himmel herabgefahren, erscheint als die Hypostase des
neuen Himmels und der neuen Erde. Im Gegensatz zum Abbild schafft es nicht mehr nur
Transparenz zur göttlichen Sphäre, sondern es existiert als Urbild in der neuen Welt und erfüllt
so die ontologische Sehnsucht danach, daß das Heilige auf die Erde kommt Es wurde von
Gott in aeterno gleichzeitig mit dem Paradies geschaffen. Sowohl die reale Stadt Jerusalem als
auch der Tempel in der Stadt sind seine Abbilder In der jüdischen Apokalypse des Baruch
wird das himmlische Jerusalem zum von Gott geoffenbarten Urbild, auf das sich die Hoffnungen der Juden richten konnten, nachdem die Stadt Jerusalem zerstört worden war Das Abbild
in der Welt ist zwar verletzlich, das Urbild jedoch unzerstörbar, da es außerhalb der Zeit
steht .57 Dem Menschen wird verheißen, daß Gott selbst bei ihm im himmlischen Jerusalem sein
wird
x a i ànfjvcyxèv це év лѵсщ аті £лі ôpoç
\ić y a
x a i inI>1ļX0v, x a i £ôa£év piot *rfjv
л0Х1ѵ Tfļv áy íav *крогхгаХтш xaTaßaivowav èx тог) оираѵоО <3arò той Ѳеог)
£хогюаѵ тт!ѵ óó£av тог) Ѳеои, ò фшатлр aùrfiç бцоіод ХіѲф тщ ю т& пр cbç Х(Ѳф
láoTiiÒi xpixjraXXíÇovTi. S xow a tcTxoç дёуа x a i ín|n!Xóv, Sxouaa лѵХшѵа^
ôíóôcxa x a i èm toiç лиХахлѵ àyyéXouç ôíóôexa x ai оѵ 0цата ёліуеурацц^ѵа, ä
èoTiv т а 0ѵ0цата тшѵ ÔíoÔcxa (риХшѵ ulœv 4apaf!X. й л 0 àvaToXffè лиХшѵед Tpetç
56
57
Eliade, Das Heilige und das Profane. S. 56-57
Eliade, Das Heilige und das Profane. S. 56. Vgl. ders.. Kosmos und Geschichte, S. 20ff: auch Platos
Pofiteia hatte ein himmlisches Urbild.
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xaì ànò
ßoppä
лиХшѵсд t p e î ç x a ì à j i ò
nuX&veç T p c lç . x a ì t ò
ôcóôcxa ò v ó jia ía
t c T x o ç t r\ç
v ó to u
лиХатгд x p c l ç x a ì <3a 1 ò 0шцб>ѵ
nóXrooç £ x w v ѲедеХЁоид ô c o ô e x a x a i t n * a írrõ à v
тшѵ ô í ò ô e x a йл0ат0Х0)ѵ т о й à p v t o u .
K a i ò Х аХ іоѵ д е т ' è д о г ) e ix e v д £ т р о ѵ x á X a ! i 0 v x p w o v v , ï v a д Е т р л а ц r f ļ v л 0 Х1ѵ
x a i T o u ç л u X ô v a ç a u r r j ç x a ì t ò t c î x o ç a i r r f ļ g . x a ì fļ n ó X iç т с т р б у с о ѵ о д х с і т а і x a ì
t ò L irjx o ç a i m f e ö a o v x a ì t ò л Х < іто д . x a ì ё ц і т р т і а с ѵ тт!ѵ л 0 Х1ѵ т ф x a X á j i q ) i n i
o r a õ í c o v ò a > Ô € x a x iX iá ò c o v , t ò 1í í 1 x o ç x a i т о л Х й т о д x a i t ò і31|ю ç a t m j ę T o a èo T Ív .
x a i è fi^ T p rç o c v t ò
tc íx o ç a ír r n ç éxaT Ò v T e a a c p á x o v ra T e o a á p o v лщ € > ѵ д^троѵ
å v ø p t i w i o v , ô č c t t iv à y y é X o u .. O ffb . 2 1 , 1 0 — 17)
*,Und führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die große Stadt, das
heilige Jerusalem, hemiedergefahren aus dein Himmel von Gott, die hatte die Herrliclikeit Gottes. Und
ihr Licht war glcich dem allcredclsten Stein, einem !teilen Jaspis. Und sic hatte eine große und hohe
Mauer, und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen darauf geschreiben, nämlich
der zwölf Geschlechter der Kinder Israel. Vom Morgen drei Tore, von Mitternacht drei Tore, vom
Mittag drei Tore, vom Abend drei Tore. Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen
die Namen der zwölf Apostel des Lammes Und der mit mir redete, hatte ein goldenes Rohr, daß er die
Stadt messen sollte und ihre Tore und Mauer. Und die Stadt liegt viereckig, und ihre Länge ist so groß
als die Breite und die Höhe der Stadt sind glcich. Und er maß ihre Mauer. Hundcrtundvierundvierzig
Ellen, nach Menschnmaß. das der Engel hai."
Im Westen beziehen sich Darstellungen des himmlischen Jerusalem auf diese Passage. Es
wird als ummauerter Garten mit zw ölf Toren dargestellt Ein im Garten entspringender Fluß ist
eine Allusion auf den Strom lebendigen Wassers aus Offb. 22,1, der in der Stadt entspringt,
f
und der gemeinhin als Paradiesstrom gedeutet wird
Q
In dieser Darstellung fallen das himmli-
sehe Jeru salem u n d d a s P arad ie s zu sam m en , A n fan g und E n d e d e r H c ilsg c sc h ic h tc g e h e n in
eines
59
Im Osten haben die Kloslermauem neben ihrer praktischen Wehrfunktion eine Funktion als
Abbild der Mauern des himmlischen Jerusalem der Offenbarung, die Torkirche außerdem
Abbild des historischen Jerusalem, sowohl des Salomonischen Tempels als auch der christlichen Gebäudekomplexe 60 Die Ummauerung ist im Normalfall nicht Kennzeichen des himmli-
58
59
60
Lidov. Obraz nebesnogo Icmsahma. S. 15f.
Auf den Zusammenfall von irdischem und himmlischem Jerusalem und dem Paradies in der allrussischen
Pilgcrlitcratur macht Roždestvenskaja. Obraz svjatoj zemli v drevncrusskoj literatury aufmerksam, wenn
sic auch (S. 12) den Zusammenfall von himmlischem Jerusalem und Paradies daran festmacht, daß
Jerusalem, bzw. Golgata, als Begräbnisort Adams bezeichnet wird.
Die Bauten Konstantins in Jerusalem wurden von Eusebius von Kaisareia in VC Ul,25 als Neues
Jerusalem gedeutet, s. Lidov, Obraz nebesnogo Ierusalima. S. 18
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sehen Jerusalem in bildlichen Darstellungen Vielmehr wird das Kirchengebäude als Abbild des
himmlischen Jerusalem gesehen 61 Im Osten ist das himmlische Jerusalem nicht die Illustration
eines konkreten Textes, sondern Metapher und Symbol, das als Sakralgebäude, auch dargestellt als Schloß, Stadt oder Himmlische Tore, vorgestellt wird Dieses Sakralgebäude ist der
Ort ununterbrochenen Gottesdienstes 62 und nicht mit einer bestimmten Kirche verbunden 6*
Das Sujet des himmlischen Jerusalem wurde in der ostkirchlichen Kunst verstärkt nach dem
Bilderstreit entwickelt. Es wurde entweder als Stadt mit einer Kirche dargestellt64 oder als
Stadt mit einer Torkirche 65 Vor allem auf Ikonen der Gottesmutter tauchen Gebäude auf, die
das himmlische Jerusalem darstellen 66 Dies bezieht sich darauf, daß auch die Gottesmutter
allegorisch als Gefäß Gottes und himmlisches Jerusalem gedeutet wurde, wie es auch Ilarion im
Slovo in Bezug au f Kiev und die Gottesmutter tut Im 11 -15 Jahrhundert wird das himmlische
Jerusalem als Kirche vermehrt auf Bildern dargestellt, ab Ende des 13. Jahrhunderts kommen
Stadtmauern dazu Schließlich wurde das Sujet des himmlischen Jerusalem mit dem des Paradiesgartens verbunden 67 Nach Lidov kulminiert die Darstellung des himmlischen Jerusalem in
der Ikone "O tebe raduetsja" im 15 16 ־Jahrhundert, die Liturgie, bildende Kunst und Hymnographie verbindet, und deren Entwicklung gerade in die Zeit fällt, in der sich die Vorherrschaft
Moskaus herausbildet und Moskau beginnt, sich als zweites Jerusalem darzustellen
4L О
Brunov sieht den Stil des Uspenskij Sobor im Moskauer Kreml’ als Weiterfuhrung einer
Stiltradition, die mit dem Uspenskij Sobor des Höhlenklosters beginnt und über eine zunehmende Betonung der Vertikalen in die Zeltkirchen des 16. und 17. Jahrhunderts mündet. Für
meine Fragestellung ist jedoch weniger die Entwicklung der Bautradition interessant als die
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Vgl. zu Darstellungen des hiiiuulischcn Jerusalem וווder Kirchcndckoration, auf Liturgiegcrätcn und auf
Pilgerandenken aus dem heiligen Land, die alle die Kirchenform haben: Todić. Tema Sionskoj cerkvi v
chramovoj dckoracii XIII-XIV w ., Ryndina. Drcvnerusskie palomničeskie relikvii. Sinerhgova,
lerusalimy как liturgićeskie sosudy
Vgl. Faenscns Darstellung der Bedeutung des Sobor Vasilija blažennogo auf dem Roten Platz in Moskau:
die neun Kapellen der Kathedrale dienen dazu, die neun Gottesdienste des Tages alle gleichzeitig
zelebrieren zu lassen. Facnscn/Ivanov, Allrussische Baukunst. S. 53. So wird die Zeit in der Kirche selbst
durch das gleichzeitige Feiern der Liturgie aufgehoben und eine kumulative heilige Zeit
herauibcschworcn Vgl. dagegen Fliers Interpretation der Kathedrale im Zeichcn des Sieges über Kazan'
und Astrachan' und im Zusammcnliang mit der Verehrung der Ikone der Gottesmutter "Pokrov״: Flier,
Michael S.: Filling in the Blanks. The Church of the Intercession and the Architectonics of Medieval
Muscovite Ritual, in: Harvard Ukrainian Studies 19 (1995). S. 120-139.
Lidov, Obraz ncbcsnogo Iemsalima. S. 17
Damit steht die Darstellung im Osten gegen Oflb 21.22. die ausdrücklich betont, daß sich kein Sakralbau
im Himmlischen Jerusalem befindet, da Gott selbst der Tempel ist.
Lidov. Obraz ncbcsnogo Iemsalima. S 17
Lidov, Obraz ncbcsnogo Iemsalima, S 18
Lidov, Obraz nebesnogo Iemsalima. S. 19ff
Lidov, Obraz nebesnogo Iemsalima. S 22f
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gleichbleibenden Merkmale, die Wiederholungen und strukturellen Ähnlichkeiten
Daher
möchte ich in der folgenden Analyse die Diachronie nur am Rande berücksichtigen und stattdessen au f die Similarität der einzelnen Stilmerkmale verschiedener Epochen eingehen
Als Bindeglied zwischen der Kiever und Moskauer Kunst gilt der 1399 entstandenen
Uspenskij sobor in Zvenigorod 69 Er stehe, so Brunov, am Anfang einer Kette von baulichen
Wiederholungen der M oskauer Periode, in der bewußt die Bauformen von Vladimir-Suzdal'
wiederholt wurden, womit Brunov die These von der Kontinuität Kiev - Vladimir - Moskau
stützt.
Die typischen Merkmale dieses Baustils im Inneren der Kathedrale sind eine Empore, die die
drei westlichen Kompartimente einnimmt, und kreuzförmige Pfeiler Im Äußeren sind es die
Gliederung der Baumassen zur Kubusform, die Verteilung der Fenster auf die oberen Teile der
Seitenwände, perspektivische Portale, an die Apsiden angelehnte Halbsäulen und die Gliederung der Außenwände durch einen auf ihrer Mittelhöhe laufenden Fries 70 Diesen Merkmalen
entsprechen zum Beispiel folgende Kirchen: der Uspenskij sobor in Čemigov (12. Jh .),71 der
Borisoglebskij sobor in Čemigov (12. Jh .),72 Spas na Nerli in Vladimir/Bogoljubovo (1165),73
der Uspenskij sobor von Vladimir ( 1 185-89),74 Cerkov ׳roždenija bogomaiert, Suzdal* (122225/1528-30),75 der Uspenskij sobor in Moskau (1475-79),76 der Uspenskij sobor in Rostov
■ ך
(Anfang 16 Jh.),
ч п
die Borisogiebskaja cerkov ״in Suzdal' (1152),
der Demetrievskij sobor in
Vladimir (1194-1197),79 Uspenskij sobor im Kiever Höhlenkloster (1078),80 der Michailovskij
sobor in Kiev (1108-1113/14),81 der Troickij sobor in Sergiev Possad (1476),82 der Sofijskij
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Brunov, Gcschichtc der altrussischcn Baukunst. $. 81: *Eine Reihe von Merkmalen beweist, daß gerade
sic das erste Glied einer Entwicklung ist. die späterhin deutlich wahrnehmbar auf die offizielle Kunst der
Hauptstadt einwirkt.
Die Ähnlichkeit der Kathedrale von Svcnigorod mit den Bauten von Vladimir-Susdalj. besonders mit der
Dcmetriuskathcdralc von Vladimir .... spricht daiììr. daß wir in ihr eine beabsichtigte Wiederholung der
Demetriuskathedrale, der Palastkirchc der Großfürsten von Vladimir, vor uns haben Der Geist der
Moskauer Kultur, die in allen kulturellen Dingen regste Verbindung mit der Tradition von Vladimir
suchte, steht mit dieser Tatsache in vollem Einklang."
Bninov, Geschichte der allrussischen Baukunst, S. 81
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb. 45. Aus technischen Gründen verzichte ich auf Abbildungen
und verweise auf einige allgemein zugängliche Bildbände.
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb. 42
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb. 51
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb. 66
Faensen/Ivanov. Allrussische Baukunst. Abb 67
Faensen/h'anov, Altrussische Baukunst. Abb. 165
Faensen/Ivanov. Allrussische Baukunst. Abb 211
Faensen/Ivanov, A llrussisch Baukunst. Abb. 336
Faensen/Ivanov, Altrussische Baukunst. Abb 339
LichaČev u.a., Rußland. Abb. 52
Licha&v u.a.. Rußland. Abb 53
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sobor in Vologda (1568-1570),83 der Uspenskij sobor in Sergiev Possad (1559-1589),84 der
Pokrovskij sobor des Pokrovskij monastyr1 in Suzdal' (1510-1514),85 der Troickij sobor des
Ipat'evskij monastyr ׳in Kostroma (1650-1652).86
Die bauliche Ähnlichkeit der Kathedralen korreliert weder mit den Heiligen, denen sie
geweiht sind, noch den Zeiten, zu denen sie gebaut wurden Der Stil existiert vom 11 bis ins
16., teilweise ins 17. Jahrhundert Auch die Bauorte sind nicht immer als Hauptstädte oder gar
Rivalen von Hauptstädten gekennzeichnet, auch Klosterkirchen perpetuieren den Stil Der
Augenschein widerspricht also Philipps These, mit der baulichen Wiederholung werde die
Hauptstadtfunktion übertragen Ebenso uneindeutig ist der Bau von Torkirchen, der in Moskau
beim Ausbau zur Hauptstadt gar nicht mehr perpetuiert wird Torkirchen kommen vor allem in
Klöstern vor, seltener in Städten.
Klöster sind allgemein immer dort anzutreffen, wo ein bestimmtes Ethos einer Gemeinschaft
eine von der Gesellschaft abgeschiedene Lebensform fordert. Im Christentum wurde die Klostergründung erst auf der 4. ökumenischen Synode 451 reglementiert und von der Genehmigung des zuständigen Bischofs, dessen Jurisdiktion das Kloster dann unterstand, abhängig
gemacht .87 Der Klosterbau richtete sich nach den Notwendigkeiten des monastischen Lebens,
war meistens befestigt und enthielt eine Hauptkirche, um die Wirtschaftsgebäude, Friedhof und
_
AA
Gärten angeordnet wurden
In Rußland haben Klöster zudem mehrere Nebenkirchen neben
АЛ
der Hauptkirche und steinerne Torkirchen über dem Haupteingangstor in der Klostermauer.
Die Nebenkirchen hatten unterschiedliche Funktionen als Brunnen- und Taufkapellen, Reliquien- oder Sepulchralheiligtümer Die Torkirchen sind eine Synthese aus Tor-, Turm-,
Zentral- und Kuppelkirchenbau, die nebst ihrer Wehrfunktion vom Goldenen Tor in Kiev
ü b ern o m m en w u rd e n
Beispiele für Torkirchen in Klöstern sind u.a die 1106-8 gebaute Dreieinigkeits-Torkirche
des Höhlenklosters in Kiev,90 die Nikolaus-Torkirche des Höhlenklosters in Pskov von 1565,91
die Mariä-Reinigungs-Torkirche des Boris-und-Gleb-Klosters in Borisoglebsk ,92 die Torkirche
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Lichačcv u.a., Rußland, S. 332
Lichačev u.a., Rußland, S. 427
Zolotoe kol'co, Abb. 10
Zolotoe kol'co. Abb. 63
Zolotoe kol'co. Abb. 120
Onascli. Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche, S. 217
LCI 2, Sp. 539ff.
Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche, S. 217
Faenscn/Ivanov, Altrussische Baukunst. Abb 38
Facnscn/Ivanov, Allrussische Baukunst, Abb. 151
Faensen/lvanov, Allrussische Baukunst. Abb. 254
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des Erzengel-Michael-Klosters in Jur'ev Polskoj,93 das Heilige Tor mit Verkündigungstorkirche
im Pokrovskij monastyr ׳in Suzdal’,94 oder die heilige Pforte des Sabbas-Storoševskij-Klosters
von 1650-1654 95 Die Torkirchen der Klöster sind Abbilder des Eingangs von Jerusalem, die
die Klöster zu Abbildern des himmlischen Jerusalem machen sollten, und symbolisieren den
_
/у•
Eingang zum himmlischen Jerusalem.
Interessant ist jedoch, daß nicht nur kirchliche Bau-
werke wie Klöster Torkirchen haben, sondern auch die weltlichen Befestigungsanlagen und
Residenzstädte, wie VySgorod, Bogoljubovo ,97 Suzdal'98 oder Rostov 99 Das interessanteste
Beispiel für eine Torkirche ist die 1653-56/80 erbaute Zwölf-Apostel-Kirche im Patriarchenpalast des Moskauer Kreml', die völlig frei auf dem Kathedralenplatz steht, ohne daß das Tor
Teil einer Mauer wäre 100
Die Torkirchen der Klöster sind an die historische Stadt Jerusalem angelehnt, um Abbilder
des himmlischen Jerusalem zu erzeugen Der Klosterbau hatte somit zunächst den Zweck, die
Mönchsgemeinschaft in einen sakralen, endzeitlichen Raum zu versetzen, so geschehen im
Kiever Höhlenkloster und in anderen Klöstern Die Intention des Torkirchenbaus in Städten
und Festungen ist auf den ersten Blick nicht so eindeutig, da in ihnen keine auf heiligmäßiges
Leben eingeschworene Gemeinschaft lebte, sondern Laien Da es jedoch nur schwache Ansätze
einer Laien-Spiritualität in der Rus' gab, drängt sich die Idee von der Rus* als einer Art überdi*
mensioniertem Kloster auf
Schon Konstantinopel hatte den Anspruch, ein Abbild des himmlischen Jerusalem zu sein
Der Ausbau Kievs mit Sophienkathedrale, Goldenem Tor mit Verkündigungskathedrale, Wall
und den Kirchen der Heiligen Georg und Irene kann als Versuch gedeutet werden, beide Funktionen Konstantinopels, sowohl die Abbildlichkeit vom himmlischen Jerusalem als auch die
Funktion als Haupt- oder Residenzstadt zu übernehmen
Kiev als reales Abbild einer Residenzstadt übernimmt auf diese Weise zunächst die profane
Funktion als Hauptstadt eines Reiches, wobei wie im Falle Konstantinopels als Abbild des
himmlischen Jerusalem auch die Abbildlichkeit Kievs vom himmlischen Jerusalem schon mitge*
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Zolotoc kol’co. Abb 52
Zolotoc kol'co, Abb 60
Lichaćev, Die Kunst Rußlands. S. 186
Facnscn, Kirchen und Klöster, S. 49
Goldenes Tor, 1164, mit Gewandlcgungskirchc, in: Facnscn/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb. 49
Heiliges Tor mit Mariä-Verkündigungs-Kathedrale. in: Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. Abb 210
Kreml', Torkirche des Johannes des Evangelisten, um 1683, in: Facnsen/Ivanov, Allrussische Baukunst.
Abb 253
100 Moskau. Zwölf-Apostel-Torkirchc im Patriarchcnpalast. 1653-56/80, in: Faensenflvanov, Allrussische
Baukunst. Abb. 238. Das Schema des Kreml* des 15 -17 Jahrhunderts, ebenda. S. 405, zeigt die
Unabhängigkeit des Patriarchenpalastcs von einer Mauer noch einmal deutlich.
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dacht ist Eigentlich wird jedoch die sakrale Funktion des Abbildes des himmlischen Jerusalem
in Kiev vom Höhlenkloster besetzt. Erst Bogoljubovo/Vladimir scheint eine Synthese beider
Funktionen zu sein. Bogoljubovo ist zur Hälfte Residenzstadt, zur anderen Hälfte Kloster
Auch der Name der Stadt, der auch Beiname des Großfürsten Andrej war, deutet auf diese
letztere Funktion als klösterliches Abbild des himmlischen Jerusalem hin Hierfür spricht auch
die explizite Zunutzemachung des Uspenskij sobor des Höhlenklosters, dessen Heiligkeit
aufgrund seiner Baugeschichte die der Kiever Sophienkathedrale übertriffi 101 Interessant ist
hieran, daß die Abbildlichkeit an den äußerlichen Merkmalen wie der Kubusform, der Verteilung der Fenster in der oberen Hälfte der Fassade, die perspektivischen Portale, die an die
Apsiden angelehnten Säulen und die Gliederung der Außenwände durch ein au f Mittelhöhe
laufendes Fries festgemacht wurde, so daß diese Merkmale distinktiv nicht nur für die Kirchenbauten der Kiever, sondern auch der Moskauer Periode wurden Die Wesensähnlichkeit beruht
im wesentlichen auf der Funktion des Gebäudes als Kirche Die Merkmale der Bauten sind
über mindestens fünf Jahrhunderte beibehalten worden, was die Schwierigkeiten des Laien bei
der Unterscheidung der Bauten und die relative Unbeweglichkeit der kunsthistorischen Entwicklung über diesen Zeitraum erklärt.
Das Bauprogramm der gesamten Kiever Rus* und das der M oskoviter Rus' nach dem Mongolensturm lassen darauf schließen, daß es gerade durch die Funktion der Kirchen, Klöster und
Städte als Abbilder des himmlischen Jerusalem motiviert war.
Die Darstellung des himmlischen Jerusalem in der Baukunst ist eng mit der Darstellung in
der bildenden Kunst und mit dem Text der Offenbarung verbunden Während jede Kirche ein
Abbild des himmlischen Jerusalem sein kann, werden in den beschriebenen Fällen der Kirche
noch andere Zeichcn mit hinzugegeben, die Mauer, das Bild der Stadt, Turme, himmlische
Tore bzw. Torkirchen und Paradiesgärten Schließlich wird das Bild der G ottesm utter mit den
Sakralbauten verbunden ,102 was eine Erklärung dafür ist, daß überdurchschnittlich viele der
oben als Beispiele angeführten Kirchen der Gottesmutter geweiht sind 103
101 Auch Stökl, Die politische Religiosität des Mittelalters. S. 404ff., weist darauf hin, daß Andrej seine
Herrschaft in religiös-kirchlicher Hinsicht untermauern wollte. Stökl sieht allerdings nicht, daß dies über
Urbild und Abbild gcschah.
102 Lidov, Obraz nebesnogo lerusalima. S. 22
103 Eine Ursache für die Verehrung der Gottesmutter in Rußland liegt im altslavischen Mutlcrkult Dies spielt
jedoch im Rahmen dieser Arbeit keine Rolle. Verwiesen sei auf die Aufsätze von Dittrich, Z. R.: Zur
religiösen Ur- und Frühgeschichte der Slaven, in: Jahrbücher für osteuropäische Geschichte 6 (1961), S.
481-510; Smolitsch, Igor: Die Verehrung der Gottesmutter in der russischen Frömmigkeit und
Volksreligion, in: Kyrios 5 (1940/41), S. 149-213; Hubbs. J.: Mother Russia. The Femmine Myth in
Russian Culture. Bloomington, Ind. 1988
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Die kubische Form der Kirchen erklärt sich aus der Illustration der Schrift: Offb 21,16 beschreibt die Stadt als TCTpáyovoç хсТтаі x a i
tò
^î1xoç a\rrf1ç öoov
tò л
А-ó t o ç ,
"viereckig
und quadratisch" Die im Siovo hervorgehobene Ausschmückung von Kirche und Stadt mit
wertvollen Steinen ist eine Allusion auf Offb. 21,18-21, die das himmlische Jerusalem als mit
allerlei Edelsteinen ausgeschmuckt beschreibt 104
Hier erklärt sich der eklatante Unterschied zwischen Siovo о zakone i biagodati und
Chronikeintrag. Beide Texte rekurrieren auf das urbild-abbildliche Prinzip Der Chronikeintrag
benutzt es jedoch, um implizit auf das Urbild Konstantinopels als Residenz- und Hauptstadt
aufmerksam zu machen, weshalb er auch den Bau der Klöster für die Heiligen Georg und Irene
beschreibt105 In der Povest ׳vremennych let geht es um reale Städte, deren die eine, Kiev, die
andere, Konstantinopel, typologisch ubertriffi Die Beschreibung des Bauprogrammes dient
hier der Darstellung der legitimen Vorherrschaft der russischen Hauptstadt nicht im sakralen,
sondern im profanen, historisch-realen Raum
Das Slow beschreibt dagegen die Stadt VySgorod mit den Attributen eines Klosters und
damit des himmlischen Jerusalem, läßt alle Verweise au f die reale Stadt Konstantinopel aus,106
und beschreibt die Stadt nach dem Text der Offenbarung. Deshalb wird auch von der
errichteten Kirche nicht explizit als Sophienkathedrale gesprochen, sondern vom "Haus Gottes
und seiner heiligen Weisheit", "дшмъ бож іи всликы и
сваты и
его прѣмждрости" Und
deshalb ist der letzte Satz der zitierten Passage, in dem der Englische Gruß an die Stadt
104 xai f! èvôojjirçaiç той icTxouç afrrifc racuiiç xaì f) л0Хц xpu°fov xaGapòv бцоюѵ OáXq) хаО арф. oi
ѲсцІХіоі той xa'xouç xfjç n ó te o ç яаѵгі XfOtp тіціф хсхоо^цЛ чм . 6 ѲсцІХіо^ Ô лршто^ Taomç, ô
fteÚTCpoç ойлфіроо, ô Tpíioç ха *хгФо)Ѵ. à xtrapTOç оцбраубо^, ô л^цлт0£ oapÕóvu£, à fxxoç,
oápôiov, ô
xPUOóXíÒoç, ó 0700Ç p^puXXoç, 6 Cvaroç xcwiáÇiov, ò Ôéxaxoç хР*т0лрато$, 6
tvbéxaroç OáxivOoç, ô ÔwWxaxoç 6 ^£61xnoç. xai oi 6<í>&cxa nuXõvcç àüôcxa царуарГтои. ávà. clę
fxaaroç T Ô v ли&сЬѵшѵ fļv
£vòç ц п р у с ф ^ о и ха* f! лХатсіа rfy;
xpuoíov xaOapôv tbç
OaXoç Òtauyi^ç. (Offb. 21,18-21) Und der Bau ihrer Mauer war von Jaspis und die Stadl von Iautcrm
Golde, glcich dem reinen Glase Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit
allerlei Edelgcstein. Der erste Grund war ein Jaspis, der andere ein Saphir, der dritte ein Chalzedonier, der
vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der scchstc ein Sarder, der siebente ein Chrysolith, der achte
ein Berili, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein
Amethyst Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, und ein jeglich Tor war von einer Perle, und die
Gassen der Stadt waren lauteres Gold wie ein durchscheinend Glas.
10$ Wobei übrigens immer noch die Möglichkeit bleibt, daß cs sich wirklich nur um Patronatskirchen des
Großiiirstcn und scinci Frau liandeltc und wir im Nachhinein eine Intention annchmcn. die so gar nicht
bestanden hat. Für die obige Deutung einer bewußten Imitation spricht allerdings die Diskrepanz zwischen
dem Chronikeintrag "Klöster" und der Tatsache, daß es nur Kirchen waren, die gebaut wurden. Die
Chronik deutet mit dem Eintrag als Klostcrbauten direkt auf Konstantinopel hin und interpretiert so das
Bauprogramm im Sinne der Hcrrschaftslcgitimation. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die
Topographie Konstantinopels in der Kiever Rus* so populär war, daß ein solchcr Schluß tatsächlich
zulässig ist. Der Reisebericht des Dobrynja JadrejkoviC von etwa 1200 enthält z.B. eine sehr gute
Beschreibung Konstantinopels. in der auch von den Klöstern die Rede ist. Vgl Putc$cstvie novgorodskago
archiepiskopa v Car״grad v koncc 12 stoletija. Sankt Peterburg 1872, S. 55ff.
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gerichtet wird, ״радуисл благоверный граде господь с тобою ”, keinesfalls rhetorisch oder
metaphorisch zu verstehen. Die Stadt Kiev wird zum Abbild des himmlischen Jerusalem und
der G ottesm utter als Gefäß der Menschwerdung, denn die Texte von Siovo, Offenbarung und
Bauprogramm stimmen überein, und daraus erklärt sich das religiöse Charisma der realen
Stadt Das Lob VySgorods im Slovo setzt fort, was im Lob Vladimir Svjatoslavičs als Abbild
Christi begonnen wurde Wenn der Herrscher der Rus' Abbild Christi ist, dann muß seine
Hauptstadt das himmlische Jerusalem und der Schoß der Gottesmutter sein ln Vyšgorod lebt
der Großfürst nun als G ott mit seinem auserwählten V olk.107 Im nächsten Schritt wird dann die
gesamte Kiever Rus' zum Reich Gottes, denn sie wird vom himmlischen Jerusalem aus regiert
Durch die Abbildlichkeit werden die eigentlich profane Residenzstadt und der Herrscher
bewußt sakralisiert
Die Anlage des Höhlenklosters mit Uspenskij sobor, Wall und Ummauerung und Torkirche
ist ebenfalls als irdisches Abbild des himmlischen Jerusalem geplant Mit ihm beginnt ein sich
fortsetzender Trend in Altrußland: sowohl die Klosteranlage, die Mauer mit dem Tor und die
Torkirche, als auch die Hauptkathedrale sind Abbilder des himmlischen Jerusalem Während
die Offenbarung betont, daß kein Tempel in der Stadt vorhanden ist, wird in Rußland mit der
Hauptkathedrale ein Abbild des himmlischen Jerusalem erbaut, ebenso wie mit der Torkirche
und der Ummauerung. Hinzu kommen zumeist noch mehrere andere Kirchen, die ebenfalls als
Abbilder des himmlischen Jerusalem zu verstehen sind. Innerhalb des Klosters werden also
ebenso wie innerhalb eines Textes Abbilder implementiert; die unterschiedlichen Kirchen und
Kapellen kann man als intratextuelle Abbilder deuten, die die Funktion haben, die Heiligkeit
der Abbildlichkeit vom himmlischen Jerusalem in der Rus' festzuschreiben und das Land zu
heiligen
So kann die Errichtung der Erzengel-Michael-Kathedrale im M oskauer Kreml' als
gleichwertiges religiöses Zentrum und Begräbnisort der Großfürsten als Errichtung eines
intratextuellen Abbildes des himmlischen Jerusalem im Moskauer Kreml’ gedeutet werden 108
Vor diesem Hintergrund nimmt sich die Errichtung der Zwölf-Apostel-Kirche a u f einem nicht
funktionalen Tor im Patriarchenpalast des Kreml' weniger seltsam aus. Sie dient der
106 Die Stadt wird allerdings kurz vorher im Vladimir-Konsiantins-Vergleich genannt
107 Vgl. zu dieser Interpretation auch Brunov, Geschichte der allrussischen Baukunst, S. 99f.
108 Vgl hierzu Brunov, Geschichte der altrussischen Baukunst. S. 109 und unten. Kap 6
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Vervollständigung des Abbildes und somit der Heiligung des Kirchenensembles im Kreml* als
Abbild des himmlischen Jerusalem,109 von dem aus der Moskauer Großfürst regiert
Eben diese Funktion kann man den diversen Abbildern des Uspenskij sobor des Kiever
Höhlenklosters, ob mit oder ohne Kloster, mit oder ohne Torkirche, mit oder ohne Kreml’
zuschreiben Das im 11. Jahrhundert einsetzende Bauprogramm zielt nicht so sehr darauf, eine
repräsentative und legitimierende Hauptstadt oder Residenzstadt, die gleichzeitig Abbild der
realen Stadt Konstantinopel und des himmlischen Jerusalem istf zu schaffen, sondern in
diversen Gegenden der Kiever Rus* diverse Abbilder des himmlischen Jerusalem zu schaffen 110
Hier nun beginnt eine gegenseitige Beeinflussung von Herrscher und Herrschaftssitz ist der
Herrschaftssitz, z.В Čemigov, Abbild des himmlischen Jerusalem, so muß auch der Herrscher
darin - unabhängig davon, ob er nun Großfürst ist oder “nur ״Fürst - Abbild Christi sein, der
darin herrscht, und umgekehrt
Die Herrschaft wird druch die Abbildlichkeit von der
Herrschaft Christi am Ende der Zeiten legitimiert
Historisch gesehen kann man sogar von einem Höhepunkt dieses abbildschaffenden
Prozesses zur Zeit der Sammlung der russischen Lande und der Konsolidierung der
M oskoviter Rus* im 16 und 17 Jahrhundert sprechen Getreu dem typologischen Übertreffen
des Urbildes durch das Abbild haben wir es hier mit einer bewußten Abbildschaffüng durch
Bauten zu tun. Die M oskoviter Baumeister werden zwar aus Italien geholt, müssen aber nach
dem Vorbild der Vladimirer Kirchen bauen und werden zum Studium direkt dorthin geschickt
Die entstandenen Kirchen und Klöster weisen auf den ersten Blick gerade keine auf einen
oberitalienischen Einfluß schließenden Stilmerkmale a u f 111
Interessant ist, daß es offensichtlich gleich ist, ob nur eine Kirche als Abbild gebaut wird,
o d e r o b ein K lo ste r, ein К г с т Г m it K irchcn u n d T o rk irc h c g eb au t w erden. Sic alle sind
Abbilder des himmlischen Jerusalem Die Kiever und schließlich die Moskoviter Rus' wird zu
einem gigantischen Abbild des himmlischen Jerusalem, der Wohnung G ottes mit seinem
109 Spätestens hier stellt sich die Frage, inwieweit das Bauprogramm tatsächlich noch typologisch motiviert
war. die Torkirche als typos gilt, und nicht vielmehr nur noch als automatisiener topos.
ПО Faenscn. Kirchen und Klöster, S. 203Í, bezeichnet die Wiederholungen in den Bauten des 13 und 14
Jahrhunderts als "Historismus" und widerspricht sich gleichzeitig dadurch, daß die Wiederholungen eine
"unmittelbare Fortführung einer noch bestehenden Tradition" seien. Der Begriff "Historismus" beinhaltet
jedoch eine dem Urbild-Abbild-Denken entgegengesetzte Linearität der zeitlichen Abfolge Die
Wiederholungen in den Moskoviter Bauten, die als Abbilder von Vladimircr/Kiever Bauten intendiert
sind, dienen gerade der Aufhebung der Historizität und der Zeit und der Evokation eines außcrzcitlichen
Urbildes.
111 Vgl. hierzu unten, Kap. 6 und Keenan. On Some Mythical Beliefs, S. 31, der darauf hinweist, daß der
Ausbau Moskaus auf Betreiben der aus Italien gekommenen Begleitung der Sofija Palaiolog vonstatten
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heiligen Volk. Somit repräsentiert das Bauprogramm das im Slovo angelegte und im Skazanie
о Borise i Glebe präsente Weltbild. Die Kiever Rus' stellt sich als W ohnung G ottes dar, das
Volk der Rus' ist Gottes heiliges Volk, seine Herrscher sind Abbilder der Himmlischen
Hierarchie, die als Abbild Christi an der Spitze der weltlichen Hierarchie stehen. Die
Christusabbildlichkeit des Großfürsten ist mit Boris und Gleb und den anderen heiligen Fürsten
an die Dynastie der Rjurikiden gebunden worden, als deren Legitimation nicht nur der Kult der
Heiligen, sondern auch das Bauprogramm des himmlischen Jerusalem gelten kann
ging und daß den Moskoviter weisgemacht wurde, die neuen Bauten entstünden im byzantinischen Stil,
während er doch obcritalienisch war.
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Virtuelle Herrschaft
Die M ongolenzeit1 wird gemeinhin als Bruch2 in der Geschichte Rußlands angesehen, der flir
die "Rückständigkeit" oder das "Asiatische ״Rußlands verantwortlich ist.3 Der Mongolensturm
war angeblich flir den Niedergang bestimmter Handwerkstechniken verantwortlich, die erst
später wieder entwickelt wurden, er führte zu einem Kollaps des Wirtschaftskreislaufs, und zu
einer zeitweisen Unterbrechung der Handelsverbindungen. Außerdem habe die Herrschaft der
Mongolen einen Abbruch der Beziehungen zum Ausland bedeutet4 Zwischenzeitlich wurde die
Mongolenherrschaft flir alles Negative verantwortlich gemacht, das man in Rußland zu finden
glaubt, der Einfluß der Mongolen auf das altrussische Staatswesen wird als politisch, sozial,
intellektuell und ökonomisch verheerend angesehen, ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält.
Donald Ostrowski wies kürzlich darauf hin, daß es natürlich im Laufe der etwa 250jährigen
Beziehungen zwischen der Rus* und den Mongolen Einflüsse jeglicher Art gegeben hat, und
weist hartnäckige Vorurteile zurück Er zeigte, daß das moskovitische Militär in Bezug auf
Waffen, Strategie und Taktik das mongolische Heer kopierte, eine Tatsache, die seine Schlagkräftigkeit begründete, und daß die Zweiteilung der Administration in einen militärischen und
1
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Sekundärliteratur und Quellen schwanken zwischen den Ausdrücken "Mongolen" oder "Tataren". Die
allrussischen Quellen benutzen den Ausdruck "Tataren" sowohl für die Steppenvölker als auch für die
Mongolen im Besonderen Die Mongolen wiederum distanzierten sich von den Tataren, einem
Stcppcnvolk. das an der Grenze zu China in ihrer Nachbarschaft lebte, weil die Tataren Dschingis Chans
Vater Yisögü getötet liattcn. In der Forschung wird wohl auch aus diesen Gründen der Ausdruck
"Mongolen" in letzter Zeit wieder bevorzugt. Vgl. Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. xiiif. Zu
einem Überblick über die Mongolcnzcit s. Concrmann. Stephan / Kusber, Jan (Hrsg.): Die Mongolen in
Asien und Europa. Frankfurt am Main - Berlin - Bern - New York - Paris ־Wien 1997 (» Kieler
Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte; 4); Fennell, John L. I.: The Crisis of
Medieval Russia, 1200-1304, London 1983. Halpenn, Charles. Russia and the Golden Horde. The Mongol
Impact on Medieval Russian History. Bloomington. Ind 1987; Kargalov, V.V.: Mongolo-tatarskoe
naScstvic na Rus’. Moskva 1966; Kargalov, V.V.: VnešnepolitiČeskie faktory razvitija feodal'noj Rusi.
Feodal'naja Rus' i kočevniki. Moskva 1967; Nitsche. Peter: Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus
(1240-1538), in: Hcllmann. Manfred (Hrsg.): Handbuch der Gcschichtc Rußlands, Band 1: Bis 1613. Von
der Kiever Rcichsbildung bis zum Moskauer Zartum. 1 Halbband, Stuttgart 1987, Seiten 534-715;
Ostrowski. Donald: Muscovy and the Mongols. Cross-Cultural Influences on the Steppe Frontier. 13041589, Cambridge 1998, Ruß. Hartmut: Das Reich von Kiev, in: Hcllmann. Manfred (Hrsg.): Handbuch der
Gcschichtc Rußlands. Band 1: Bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum. 1.
Halbband. Stuttgart 1987, Seiten 199-430; Saunders. J. J.: The History of the Mongol Conquest. London Henley - Boston 1971; Spuler, Bertold: Die goldene Horde. Die Mongolen in Rußland 1223-1503, Leipzig
1943; Tataro-mongoly v Azii i Evrope. Moskva 1970; Vernadsky. G.: The Mongols and Russia. New
Haven 1953.
Vgl. zu Brüchen in der russischen Kultur Lotman/Uspenskij. Zur Rolle dualistischer Modelle, die die
Mongolcnzeit nicht behandeln, was wohl der sowjetischen Ideologie geschuldet ist.
Zur Diskussion dieser Wertungen vgl. Ostrowski. The Mongol Origins of Muscovite Political Institutions;
Klug. Wie entstand und was war die Moskauer Autokratie?, S. 91-95 und ders.. Das "asiatische" Rußland.
S. 267Г
Nitsche. Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus. S. 570f.
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einen zivilen Zweig über die Mongolen aus China in die Rus’ eingefìihrt wurde Dagegen
zeigen sich keine mongolischen Einflüsse in der Separation von Frauen der höheren Gesell•
schaftsschichten in abgeschlossenen Gebäuden (terem) oder im vielbeschworenen "Despotismus" der Autokratie der Zaren 5
Die in der Forschung immer angeführten wirtschaftlichen Folgen des "Mongolenjochs" hält
Ostrowski nach genauer Analyse von Handel und Handelsrouten fur übertrieben und nur auf
die zweite Hälfte des 13 Jahrhunderts beschränkt
"Following the apparent economic Stagnation o f the second half o f the thirteenth
century, northern Rus’ in general, and northeastern Rus’ in particular, displayed vital
signs o f recovery in the early fourteenth century, followed by a flourishing economy from
the mid-fourteenth century on This economic revival was based primarily on commercial
activity, and resulted in the acquisition o f wealth not only by the grand princely court and
the Church but also by merchants, craftsmen, and artists.
W e cannot say that the Mongol conquest cut Muscovy or northeastern Rus’ o ff from
Catholic Europe because that area had no direct contact with Catholic Europe anyway
Novgorod and Pskov maintained their contact with the rest o f Europe, but mainly for
commercial reasons. Little cultural influence from Catholic Europe penetrated through to
northeastern Rus’ even before the Mongols. Instead, the Mongol conquest, which ineluded R us’ in the Mongol world Empire, opened up northeastern Rus’ to influences
from China and the Dar al-hlåm that it would not have known otherwise "6
Dic M ongolen machten sich das bestehende politische System der Fürstenherrschaft in ver־
schiedenen Städten zunutze, indem sie Fürsten einsetzten und bestätigten, die sie in ihrem
Namen administrativ herrschen ließen 7 Gegenüber der orthodoxen Kirche verhielten sie sich
ihrer schamanischen Religion wegen tolerant und behielten diese Toleranz auch bei, nachdem
sie sich Anfang des 14 Jahrhunderts zum Islam bekehrt hatten.8 Ausschlaggebend fiir die Toleranz der Kirche gegenüber wird außerdem die Tatsache gewesen sein, daß sie als einzige über
eine die gesamte Kiever Rus' umfassende administrative Organisation verfugte, die sich die
Mongolen zunutze machen konnten. Ziel der mongolischen Herrschaft war die Erhebung von
5
6
7
Ostrowski, Muscovy and the Mongols. S. 131
Ostrowski. Muscovy and the Mongols, S 13 If
Nitschc. Die Mongolcn7.cn und der Aufstieg Moskaus. S. 558-565
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Tribut und die Ausweitung des Handels,9 nicht die völlige politische und religiöse Unterwerfung der beherrschten Völker Die Möglichkeit für die Bevölkerung der Rus1, sich unter der
Fremdherrschaft durch nicht-orthodoxe Herrscher in ihrer historischen Kontinuität einzurichten, war demnach ebenso gegeben wie die Möglichkeit einer mongolischen Sozialisation
Mich interessiert die Art, wie die geschichtliche Katastrophe der Fremdherrschaft in der
Rus' gedeutet und welcher Platz die Fürsten in ihr hatten Dies soll anhand der kurz nach dem
Tatareneinfall entstandenen Viten der Fürsten Michail von Čemigov und Aleksandr Nevskij
untersucht werden.
Der Fürst Michail Vsevolodovič von Čemigov und sein Bojar Feodor wurden 1246 auf
Befehl des Mongolenchans Batu hingerichtet Über diese Hinrichtung wird nicht nur in den
Chroniken berichtet Da sie von Ungläubigen hingerichtet wurden, brachten Michail und Feodor die Voraussetzungen dafür mit, als Märtyrer verehrt zu werden Als solche wurden sie
beide 1270 kanonisiert Die meisten Erzählungen über ihren Tod sind als Viten zu verstehen 10
Martin Dimnik stellt in seiner Biographie Michails von Čemigov nicht dessen M ärtyrertum,
sondern dessen weltliche Herrschaft in den Vordergrund. Er meint, daß man dem Fürstentum
von Čemigov in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit widmete, obwohl es sich um das
größte Fürstentum in der Süd-West-Rus' handelte und der Fürst von Čemigov Anrecht auf die
Großfurstenwürde von Kiev hatte.11
Das 140 km von Kiev entfernte Čemigov war zur Zeit Michails schon etw a 1200 Jahre lang
besiedelt 12 Es stellte einen genauso großen und genauso prosperierenden Handelsstützpunkt
dar wie das benachbarte Kiev 13 In der 1. Hälfte des 13 Jahrhunderts nahm Čemigov eine
Fläche von etwa 200 ha ein und hatte 25000 Einwohner, die bis nach London Handel trieben.14
Neben dieser ökonomischen Bedeutung der Stadt und ihrer Region, die sich immer weiter nach
Norden und Süden ausdehnte,15 gehörte Čemigov zu den bedeutendsten Fürstensitzen der
Rus'. Die meisten Großfürsten von Kiev hatten zuerst den Fürstenthron von Perejaslavl', dann
den von Čemigov und schließlich den von Kiev inne Aus dieser Folge der Fürstensitze leiteten
Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine "Thronfolgereger Perejaslavl'-Čemigov-Kiev ab
Diese Regel wurde jedoch nie explizit in den Quellen aufgestellt und muß daher bezweifelt
8
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11
12
13
14
Spuler, Die goldene Horde, S. 223-232
Ostrowski, Muscovy and the Mongols. S. 117
Dmitriev, Skazanie o ubicnii, S. 413
Vgl. hierzu Dimnik, The Dy nasty of Chernigov, S. 1-34 und die Karte 5, S. 432.
Dimnik. The Dynasty of Chernigov, S. 6
Vgl. hierzu Blankoff, Čemigov, rivale de Kiev?
Kovalenko. Osnovnye etapy razvitija drevnego Čemigova, S. 32
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werden 16 Wenn der Fürst von Čemigov Großfürst von Kiev wurde, behielt er in der Regel die
Fürstenwürde von Čemigov bei und setzten in Čemigov einen Voevoden ein.17
Michail Vsevolodovič war nicht nur Fürst von Čemigov, sondem auch Fürst von Novgorod, von den N ovgorodem selbst berufen 18 1235 eroberte er außerdem den Thron von Kiev 19
Mit diesen Besitzungen war Michail der mächtigste Fürst in der Rus*20
Die Erzählungen vom Tod des Michail von Čemigov und seines Bojaren Feodor sind in sehr
vielen Handschriften erhalten 21 Die beiden Heiligen erfreuten sich großer Beliebtheit bis in die
M oskauer Zeit und darüber hinaus 22 Die Vita der beiden Märtyrer liegt in fünf Redaktionen
vor, darunter eine Redaktion durch Pachomij Logofet im 14 Jahrhundert, die in die Stepenmja
buga einging 2* Die älteste, sogenannte Rostov-Redaktion, ist wahrscheinlich 1270, aber nicht
später als 1271 in Rostov entstanden 24 Ich werde mich im wesentlichen auf diese Redaktion
beziehen, die dem Ereignis des Mongolensturms und des Todes der beiden Märtyrer zeitlich
am nächsten steht, und auf die Sujetähnlichkeiten in den folgenden Redaktionen verweisen, um
auf die Sinnkontinuität zu verweisen, die die Darstellung der Rostov-Redaktion bis in die
M oskauer Zeit hinein begründet
Wahrscheinlich am 20. September25 1246 wurden Michail Vsevolodovič von Čemigov und
sein Bojar Feodor im Sitz des Mongolenchans Batu auf dessen Befehl hin hingerichtet Als
Grund wird angegeben, sie hätten sich geweigert, die heidnischen Riten der Mongolen nachzuvollziehen. Im Text verweigern sich die beiden Märtyrer nicht gemeinsam, sondem nacheinander. Zuerst wird von Michail verlangt, ein Reinigungsritual zwischen zwei Feuern zu vollziehen, sich dann vor dem Idol der Sonne zu verbeugen und von den Geschenken für Batu einige
als Opfer in die Feuer zu werfen
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Vgl. Dimnik, The Dynasty of Čemigov, Karte 3.
Vgl. Lind, The "Brotherhood" of Rus', S. 71
Toločko, Kiev i Čemigov, S. 18
Vgl. Dimnik, Mikhail, Prince of Chernigov, S. 14-51.
Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov, S. 76. Die Tatsache, daß Michail es nicht fur nötig hielt, seine
Residenz von Čemigov nach Kiev zu verlegen, weist darauf hin, daß Kiev eine wesentlich geringere
Bedeutung als Haupt- und Residenzstadt zukommt, als im Gefolge der Geschichtswissenschaft des 18
Jahrhunderts gemeinhin angenommen wird; eine Tatsache, die Dimnik übrigens auch nicht realisiert.
Dimnik, Mikhail. Prince of Chernigov, S. 138
Dmitriev, Skazanie o ubienii, S. 413+416, nennt keine genauen Zahlen von erhaltenen Handschriften und
weist daraufhin, daß cs noch keine kritischen Editionen der unterschiedlichen Redaktionen gibt.
Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov, S 144Г
Dmitriev*, Skazanie o ubienii. S. 425, Dimnik. Mikhail. Prince of Chernigov, S. 152
Die Fürstin Maria, auf die im Text verwiesen wird, ist 1271 gestorben, der Text stellt sie jedoch als lebend
dar. Dmitriev, Skazanie 0 ubienii, S. 413
Dies ist der Tag. an dem die beiden Märtyrer im Heiligenkalender der Orthodoxen Kirche stehen, es kann
sowohl der Todestag als auch ein nachträglich als passend empfundener Tag sein.
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"и н а ч а т а ы лстити веллчс ити сквозѣ огнь и кланлтисл слъньцю идолом ъ
и прельстиш а многи славою п у сто тн о ю мира сего, а иж е нринош ахоу къ
цесарю дары ." (50-51)26
"Und inan begann ihn zu versuchen und befahl ihm, zwischen den Fcucm entlang zu gelten und sich
vor dem Bild der Sonne zu verneigen, und versuchte ihn mit dein eitlen Ruhm dieser Welt, und von den
Gcschenken für den Zaren zu opfern.''
Der Fürst Michail verweigert dieses Ritual mit dem Hinweis au f seinen christlichen Glauben,
den er gleichzeitig bekennt, indem er ein kurzes Glaubensbekenntnis spricht Er ist jedoch
bereit, sich vor Batu zu verbeugen, weil diesem von Gott die Herrrschaft über die Rus' gegeben
wurde
"михаило ж е речс не створю азъ не иду сквозѣ огнь не кланлю сл твари но
кланАЮСА отьцю и сыну и евлтому духу, а цесарю ваш ему кланлюсА понеж е
поручи !ему богь цесарство свѣта сего." (51)
"Michail aber sagte: ,Ich werde das nicht tun, daß ich zwischen den Fcucm hergehe, und mich nicht
vor dem Gcscliaffcnen verbeugen, sondern ich verbeuge mich vor dem Vater und dem Sohn und den!
Heiligen Geist. Vor eurem Zaren aber werde ich mich verbeugen, weil ihm von Gott das Reich in dieser
Welt gegeben worden ist’.״
Der Verweis des Michail, er werde sich vor Batu verbeugen, zeigt sein Handeln nach dem
Vorbild und Gebot Christi. Gefragt, ob man dem Kaiser Zins zahlen solle, verweist Christus
darauf, daß man dem Kaiser geben solle, was ihm gehöre (Mt 22,17-21). Diese Stelle des
Evangeliums wird im Römerbrief (13,1-7) noch einmal aufgegriffen Da die Obrigkeit von Gott
eingesetzt ist, hat man dieser auch zu gehorchen:
П а о а 1|шхг| è£ o w £ atç lOTcpexoúoaiç ітотаооёоѲ а). où y à p fem v tĶ ovoia et ןif)
im ò Ѳсог), a l ö t o w a i ím ò Ѳеои тстаѵц^ѵаі ctoCv. ф оте ó áv rtT ao aó fiev o ç ןךד
è | 01 xjíç Tfļ той Ѳсои біатауг! йѵѲ^оттіхеѵ, ol ò t àv0ecrrr|xÓT£ç é a v ro lç х р щ а
Хгщфоѵтаі. (Röm 13,1-2)
26
Das Skazanie o blag. knjaze Michaile Čemigovskom i bojarinc ego Feodore. Rostovskaja redakcija wird
zitiert nach: Serebijanskij. N. I.: Drcvncmsskija knjažeskija žitija. Obzor redakeij i teksty, in: Ćtenija v
imperatorskom obSčestve Istorii i Drevnostej Rossijskich pri moskov'skom universitetc; Moskv׳a 3 (1915).
II: Izsledovanija. Seiten 50-51. Die Abkürzungen wurden von mir aufgelöst; die Seitenzahlen folgen der
Ausgabe nach Serebijanskij und stehen im Text in Klammem.
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"Jedermann sci untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat Denn es isi keine Obrigkeit ohne
von Gott: wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der
widerstrebet Gottes Ordnung, die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen "
Mit seinem Zugeständnis handelt Michail also christlich. Nach dem Matthäusevangelium
wird auch Christus von der Obrigkeit versucht, widersteht jedoch der Versuchung, den König
Herodes zu verachten. (Mt. 22,18) Man muß im Gegenteil die Herrschenden achten, weil sie
von G ott eingesetzt sind. Deshalb ist Michail dazu bereit, sich vor Batu zu verbeugen, vor den
Götzenbildern aber nicht Gleichzeitig schränkt er dieses Zugeständnis wieder ein, indem er
betont, G ott habe dem Batu die Herrschaft Uber diese Welt, "цссарство свѣта cero", gegeben Die Herrschaft der Mongolen wird durch diese Worte flir die Zuhörer der Vita stark
eingegrenzt In dieser, irdischen, Welt, ist Batu der Herrscher, dem als solchem Ehre und
Gehorsam gebühren Es existiert aber noch jene Welt der intelligiblen Urbilder, nach denen
Michail handelt, und in dieser Welt ist Christus der Herrscher, dem die Ehre gebührt, Batu ist
in ihr nicht zugelassen, da er Heide ist und auf seinen heidnischen Ritualen besteht Dieser
Ausschluß des Herrschers der Mongolen aus der wahren Welt ist für die christlichen Zuhörer
des Textes bestimmt Innerhalb des Textes wird sie von den Mongolen nicht wahrgenommen
Für sie zählt die Verweigerung der rituellen Handlung, und diese läßt sie gemäß den Genreerfordemissen der Märtyrervita handeln
и11ѣкто ж е оугь велм ож ь цесарл того глаголемый іелдсга. повслѣ мучити
различн ы м и
муками, и посемь повслѣ честную æ ro главу сотърѣзати
и
предасть душ ю в руцѣ господови новосущ ныи мученикъ." (51)
"Einer von den Beamten des Zaren, den man Eldcga nannte, befahl, ihn mit zahlreichen Martern zu
quälen, und danach befahl er. seinen reinen Kopf abzuschncidcn Und cs gab seine Seele in die Hände
des Herr der ncugeschafTcne Märtyrer."
Der Ausdruck, die Seele in die Hände des Herrn zu geben, ist sowohl ein biblischer Verweis
au f den Protom ärtyrer Stephanos, der flir seinen Glauben gesteinigt wurde, als auch ein Verweis au f den Tod von Boris und Gleb Daß Michail nicht Abbild des Stephanos, sondern nach
dem Urbild von Boris und Gleb Abbild Christi ist, wird im folgenden aus dem Bekenntnis
seines Bojaren Feodor deutlich.27
27
So auch Ziolkowski. The Thcmatic Evolution. S. 801: "By linking the prince with these archetypal
martyrs, Fedor further legitimizes his status as a revered martyr "
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"боллринъ ж е кгго феодоръ. видѣ господина своего преобидѣвш а славу сию
суетную, и т ь так о ж е оукори вѣру ихъ. и ха с дерзновеникгмь исповѣда и рече
Михаиле ащ е тѣломь оггьіде ояъселе то молитвою пособита ми с братом а си
борисом ь и глѣбомь."(51)
"Sein Bojar Feodor aber sah. daß sein Herr den eitlen Ruhm (dieser Well] überwunden haue und
lehnte ebenfalls ihren Glauben ab. Und so bekannte er sich mit Kühnheit und sagte: *Michail, der du im
Körper von uns gegangen bist, nimm dieses Gebet an zusammen mit deinen Brüdern Bons und Gleb'."
Indem er den gleichen Tod erleidet, wird Feodor zum Abbild Michails.
"и того тако ж е мучивше честную Его главу аугьрѣзаша. телеси ж е іею
повергош а. а душ а ихъ взідоша на небеса." (51)
"Und nachdem sic ihn gemartert hatten, schnitten sie seinen reien Kopf ab Körperlich wurde ihnen
das angetan, aber ihre Seelen gehen in die Himmel ein."
Der Tod Feodors hat auf der Sujetebene die Funktion, Michails Tod im Text zum Urbild zu
machen So perpetuiert die Vita des Michail von Čemigov das urbild-abbildliche Prinzip des
Skazanie о Borise i Glebe und fuhrt den von den Heiden erschlagenen Fürsten Michail als
Abbild Christi ein. Die Christusabbildlichkeit, die hier flir Michail auf der Strukturebene
geschaffen wird, ist in allen weiteren Redaktionen präsent und wird durch weitere typologische
Verweise unterstützt.
Die nächstjüngere Redaktion aus dem 14 /15. Jahrhundert schmückt die Erzählung zwar mit
wesentlich mehr historischen Details aus, ändert jedoch nichts an der Nachfolgestruktur. Feodor ist auch in dieser Redaktion intratcxtuellcs Abbild Michails. Gleichzeitig erscheint er als
Mahner, der Michail auf den rechtgläubigen Weg hinweist. Michail dagegen ist nicht nur Glaubensbekenner, er wird durch den Beamten Eldega im Namen Batus in Versuchung geführt:
"Елдега ж а приѣхавъ, речс ему: Т а к о глаголеть цесарь: П очто повеление
мое преобидѣл еси - богомь моимъ не поклонился еси? И отселе едино от
двою избери собѣ: или богомь моимь поклониш ися и ж и въ будеш и и
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к н яж ен и е свое все приим еш и, ащ е ли не поклониш ися богомь, то злою
см ертью у м р еш и '."28 (232)
"Eldcga каш und sagte ihm: *So spneht der Zar: Obwohl du meiner Befehlgewalt unterstellt bis(,
verbeugst du dich nicht vor meinem Gott? Nun wähle eine der beiden Möglichkeiten: entweder du
verbeust dich vor meinem Gott und bleibst am Leben und erhältst deine Fürstcnhcrrschaft. oder du
verbeugst dich nicht vor dem Gott und stirbst einen bösen Tod' N
Michails Absage in dieser Redaktion ist ähnlich der in der Rostov-Redaktion Er ist bereit,
sich vor dem Chan zu verbeugen, getreu dem biblischen Motto, dem Kaiser zu geben, was des
Kaisers ist.29 Er wird aber nicht seinen Glauben verleugnen
״Тогда отвѣіца М ихаилъ: 'Тобѣ, цесарю , кланяю ся понеж е богь поручил ти
есть царство свѣта сего. А ему ж е вслиш и п о к л о н и т с я не поклонюс я' . 232) )״
'Da antwortete Michail: 'Vor dir, Zar. verbeuge ich mich, weil Gott dir die Herrschaft über das
diesseitige Reich gegeben hat Doch vor dem, vor dem du mir befohlen hast mich 7.u verbeugen,
verbeuge ich mich mehr."
Daraufhin bedroht ihn Eldega direkt mit dem Tode, doch auch dem widersteht er mit Hinweis auf den M ärtyrertod
"Рече ему Елдсга: ׳М ихаиле, вѣдая буди - мертвъ еси!' М ихаилъ ж е отвѣш а
ему: 'А зъ того хоіцю, еж е ми за Христа моего пострадати и за православную
вѣру пролияти кровь свою' . 232) )״
"Eldega sagte ihm: *Michail, sei gewiß, du wirst tot sein!* Michail aber antwortete ihm 'Das will
ich, daß ich für meinen Christus leide und für den rechten Glauben mein Blut vergieße."
Schließlich bedrängt ihn auch sein Enkel Boris, der Fürst von Rostov, dem Befehl des
Chans nachzukommen
иТогда
глагола ему
внукъ его
Борись, князь ростовский, с
плачем ъ
м ногим ъ: 'Господине отче, поклонися!' Т ако же и бояре глаголаху: 'Вси за тя
28
29
Das Skazanie ob ubienii v orde knjazja Michaiła Cemigovskogo i ego bojarina Feodora wird /útién nach
Pamjatniki literatury Drcvnej Rusi ХІП vek, Moskva 1981, S. 228-235; die Seitenzahlen stehen im Text
in Klammem
Vgl Ziolkowski. The Thematic Evolution, S. 800
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гіриимемъ опитемью со всею властию своею '. Тогда глагола имъ М ихаилъ:
'Н е хощ ю токм о именемь христьянъ зватися, a дѣла поганы х твори ти Ѵ (232)
"Da sagte ihm sein Enkel Boris, der Fürst von Rostov, mii viel Weinen: ,Herr. Valer, verbeuge dich!'
So aber redeten die Bojaren: 'Du kannst eine Buße auf dich nehmen mit all deiner Macht (die erhalten
bleibt).1 Da sagte ihnen Michail: 'Ich möchte nicht dem Namen nach Christ genannt werden und die
Sache der Heiden tun'."
Nach der Intervention Feodors weist Michail auch Boris' Rat, nachzugeben, von sich und
wird hingerichtet (234) Die dreimalige Versuchung Michails, seinen Glauben zu verleugnen,
indem er ein heidnisches Ritual vollzieht, einmal durch Eldega, zweimal durch seinen eigenen
Enkel Boris und seine Bojaren,50 ist kein retardierendes Moment, dazu ist sie entschieden zu
kurz. Vielmehr verweist sie typologisch auf die Versuchung Christi durch den Teufel (Mt. 4,1־
11, Lk. 4,1-13).31 Auch Christus wird dreimal versucht, seine Macht zu mißbrauchen, widersteht dem Teufel dreimal und wird schließlich von den Ungläubigen hingerichtet
An Feodor schließlich wiederholt sich das Bild Michails. Feodor wird die Großflirstenwürde
angeboten, wenn er die heidnischen Rituale vollzieht Nachdem man auch ihn gemartert hat,
wird er geköpft.
”Тогда убийци приѣхаш а, скочиш а с конь и, яш а М ихаила и растягош а за
руцѣ, почаш а бити руками по сердцю. По семь повергош а его ниць на зем лю
и бияхуть и пятами. Сему ж е надолзѣ бывшю. Нѣкто, бы въ п реж е христьянъ
и
послѣди
же
отвсрж сся
вѣры
христьянския
и
бы сть
поганъ
законопреступник, именсмъ Д оманъ, сий, отрѣза главу святому мученику
М ихаилу и отверж е ю проч. П отомъ глаголаш а Ф еодорови: Т ы поклонисся
богомь наш им ъ и приумеши все княж ение князя своего'. И глагола имъ
Ф еодоръ: 'К н яж ен и я не хочю а богомь ваш им ъ не кланяю ся, но хощ ю
пострадати за Христа, яко ж е и князь мой! ׳Тогда н а ч а т а Ф еодора мучити
яко ж е и преж е М ихаила, послѣ ж е честную его главу урѣзаш а." (234)
"Dann kamen die Mörder, sprangen von ihren Pferden, griffen den Micliail und banden ihm die
Hände und begannen ihn mit den Händen in das Her/ zu schlagcn. Danach legten sic ihn mit dem
30
31
Boris. Fürst von Rostov; kann hier als Negativbeispiel fungieren, weil dieser Text nicht, wie die Rostov•
Redaktion, zur Translatio der Reliquien der Märtyrer in eine eigens für sie errichtete Kirche geschrieben
wurde. Vgl. Dimnik. Mikhail. Prince of Chernigov, S. 152.
Das gleiche Sujet wird noch einmal in einer Mirakelcrzählung in der Stepennaja kniga venvendet. Als
Jüngling leidet Michail an einer Krankheit, die er nur vom Styliten in Perejaslavl' heilen lassen kann. Auf
dem Weg dorthin wird er wie Christus dreimal vom Satan versucht. Vgl. PSRL 31. S. 65; Dimnik.
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Gcsicht auf den Boden und traten ihn mit den Füßen. Dies geschah lange. Einer, der früher ein Christ
war und sich vom christlichen Glauben losgesagt hatte und ein verbrecherischer Heide geworden war.
mit Namen Doman. schnitt den Kopf des heiligen Märtyrers Michail ab und schleuderte ihn hinter sich.
Danach sagte man zu Feodor: 'Nun verbeuge dich vor unserem Gott und übernehme die ganze
Herrschaft deines Fürsten ' Und Fcodor sagte ihnen ,Ich will die Fürstenhcrrschaft nicht und werde
mich vor eurem Gott nicht verbeugen, sondern ich will tur Christus leiden wie auch schon mein Fürst.'
Da begann man auch Feodor zu martern wie schon vorher den Michail, danach aber wurde sein reiner
Kopf abgeschnittcn. *
Sowohl Michails als auch Feodors Martyrium sind ein Akt, dem Satan in Gestalt der Mongolen zu widersagen Das Schriftzitat macht deutlich, daß die Herrschaft der Mongolen nur
von dieser Welt ist, nicht aber von jener göttlichen Welt Die folgenden Redaktionen der Vita
wiederholen die Themen der ersten beiden Redaktionen und verschränken sie ineinander Die
Redaktion des Bischofs Ioann stellt die Rus' als in Sünde verfallen dar Nur durch Michails Tod
kann sie sich moralisch wieder regenerieren Analog zu Lots Flucht aus Sodom und Gomorrha
gewinnt Michail seine Seele, indem er sein Leben verliert32 Die Pachomij-Redaktion33 schließlieh bezeichnet Michail als ”Abkommen von Jaroslav Vladimirovič, der die Rus' taufte", der
sowohl aufgrund seiner Abstammung als auch als exemplarischer Christ das Heil gew innt34
In der Zeit der Fremdherrschaft und der Konfrontation mit fremden Sitten und einer fremden Religion sorgt gerade das Beispiel Michails von Čemigov und seines Bojaren Feodor
dafür, daß der Heilszustand in der Rus' wieder hergestellt wird Wie andere Städte der Rus'
war Kiev von den Mongolen aufgrund des Widerstandes, der ihnen entgegengebracht worden
war, völlig zerstört worden.35 Michail von Čemigov und Feodor liefern in Konfrontation mit
der nicht-christlichen Herrschaft ein neues Paar von Heiligen, die als Abbilder Christi fungieren
können und die die Verbindung zum himmlischen Reich wiederherstellen Die Reliquien von
Boris und Gleb sind nach der Zerstörung Kievs nicht mehr wiedergefunden worden. Es mußte
jedoch wieder ein Paar von Heiligen sein, die die Ordnung der Hierarchie des Reiches wiederherstellten Ansonsten besteht kein zwingender Grund fur die Anwesenheit des Feodor im
32
33
34
35
Ziolkowski, The Thematic Evolution. S. $05
Vgl. zur Bearbeitung der wichtigsten Heiligenviten durch Pachomij Logofet Lenhoff. Early Russian
Hagiography, S. 9.
Ziolkowski, The Thematic Evolution, S. 806Г
Rüß. Das Reich von Kiev, S. 354Г Ausgrabungen wie Augcnzeugenbcrichtc belegen, daß die Mongolen
Straße um Straße und Haus um Haus erobern mußten Vgl Karger, ArcheologiĆeskie issledovanija
drcvncgo Kicva. S. 167-191, mit Fotomatena! der Ausgrabungen
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Text. Seine Heiligkeit ist ebenso auf die intratextuelle Abbildlichkeit von Michail zurückzuflihren wie auf die intertextuelle Abbildlichkeit des Textes vom Skazanie о Borise i Glebe.
Die Kanonisierung Michails und Feodors unter diesem Gesichtspunkt läßt sich nicht nur
daraus erklären, daß Michails Töchter, Maria, Fürstin von Rostov, und Efrosinja, Nonne in
Suzdal’, sie propagierten36 Sie läßt sich außerdem als subversiver Akt deuten, der auf dem im
Text unausgesprochenen Weltbild der Kiever Rus* basiert, nach dem der Großfürst Abbild
Christi und somit prädestiniert ist, durch die бцоиоца das Heil des Landes zu gewährleisten.
Bertold Spuler ist der Meinung, die Enthauptung Michails sei auf ein Mißverständnis seinerseits zunickzufuhren, kein Mißverständnis der Mongolen und erst recht kein Angriff auf seinen
christlichen Glauben
"Wenn man die Hinrichtung des Fürsten Michail von Čemigov auf Bātūs Geheiß am
20 September 1246 vielfach auf religiöse Gründe zurückgefuhrt hat, weil er die Verehrung mongolischer Kultgegenstände abgelehnt habe, so ist das eine Verkennung des Tatbestandes und widerspricht der mongolischen Duldsamkeit in diesen Fragen vollkommen.
Michails Hinrichtung erfolgte nur aus staatspolitischen Gründen, weil der Großfürst die
dem Groß-Chan zustehende Ehrenbezeugungen verweigerte Die religiöse Toleranz der
Mongolen wird übrigens selbst von russischen Chroniken gerade flir die damalige Zeit
ausdrücklich festgestellt Die Franziskaner bestätigen, daß man sich an Stelle eines Niederwerfens vor der Herrscherbüste bei Christen auch mit einem Verneigen des Kopfes
begnügte. Ebenso forderte man von Daniil von Galič und seinem Bruder Jaroslav nur die
dem Groß-Chan zustehende Reverenz; ,abergläubische Bräuche' erließ man ihnen Mit
dem Vorstehenden ist keineswegs gesagt, daß Michail nicht subjektiv durchaus christlieher Glaubenszeuge war. Er hielt die Handlungen der Ehrerbietung, die man von ihm
verlangte, fur Ausdrucksformen der heidnischen Religion und also mit seinem Gewissen
nicht vereinbar Daß er dabei, objektiv gesehen, im Irrtum war, und einen staatspolitisehen Akt mit einem religiösen verwechselte, ist ihm nicht zu Bewußtsein gekommen Л47
Nicht in der religiösen Intoleranz der Mongolen liegt der Grund flir Michails Tod, sondern
in seinem Unvermögen, Politik und Religion zu trennen und die religiöse Toleranz der Mongolen zu erkennen Die Viten- und Chroniktexte bestehen jedoch gerade auf der Verneinung
36
37
Dimnik, Mikhail, Prince of Chernigov, S. 141
Spuler, Die goldene Horde, S. 226f.
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der religiösen Geste, während sie mit Verweis auf Christus den Mongolenherrschern die Ehre
durchaus zuerkennen Hier differenziert Michail sehr wohl zwischen Politik und Religion
Dimnik hält die religiösen Bräuche flir einen Vorwand flir die Mongolen, sich ihres politischen
Gegenspielers in der Rus* zu entledigen, und fuhrt hierfür folgende Gründe an: Erstens war er
als Großfürst von Kiev, auch wenn er die Verteidigung der Stadt nicht selbst geleitet hatte,38
der mächtigste Gegner der Mongolen Zweitens war er einer der Fürsten der Rus', die noch
nicht mit den M ongolen kooperierten; er empfing die erste Mongolendelegation mit den Übergabebedingungen gar nicht erst und ließ die zweite hinrichten. Drittens versuchte er, sich gegen
die Mongolen mit dem ungarischen König Béla IV zu verbünden Und viertens war er der
einzige wichtige Fürst der Rus', der sich Batu noch nicht unterworfen h a tte 39
"His (Mikhail's) procrastination was unlikely to foster unquestioning trust on the part
o f the Khan Consequently, when he arrived in Saray in 1246, he was not given a yarlyk
even for Chernigov his patrimony Instead, he was executed in retribution for all his acts
o f defiance to the invaders [....] Even though the Tatars camouflaged Mikhail's death
behind a facade o f religious controversy, Baty's motive for liquidating the grand prince o f
Kiev was, without doubt, political.1,40
Die politische Dimension von Michails Tod lag darin, daß die Mongolen in ihm ihren wichtigsten und mächtigsten Opponenten und als Großfürsten von Kiev den Mittelpunkt der Kiever
Rus* ausschalteten Hierzu benutzten sie ihre religiösen Bräuche, von denen sie wußten, daß
Michail sie nicht vollziehen würde.41 Mit der Heiligsprechung Michails wurde der politische
A kt d e r H in ric h tu n g in einen S ieg u m g cw an d clt, ähnlich d e r U m d c u tu n g d es K re u z e s to d e s
Christi durch die ersten Christen. Für die religiöse Toleranz der Mongolen ebenso wie flir ihr
38
Die Verteidigung Kievs wurde im Auftrag Daniils von Galić von dessen Vocvodcn Dmitrij geleitet, Rüß,
Das Rcich von Kiev, S. 354
39 Dimnik, Mikhail, Prince of Chernigov. S. 134f.
40 Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov, S. 135
41 Dimnik. Mikhail. Prince o f Chernigov, S. І40Г, bemerkt dazu "The peers of Mikhail Vsevolodovich must
Ішѵе looked upon his execution as the ultimate failure which could befall a prince, but the Orthodox
Church in Rus' regarded it as a victory over paganism, a triumph which won for him a martyr’s crown and
eternal salvation. Had he not died defending the faith, later generations would have remembered him
merely as the grand prince who defended Rus* at the lime of the Tatar invasion in 1237/8. But. by the fact
that he was beheaded because, as an Orthodox Christian, he refused to bow to a golden idol o f Chingis
Khan, he became the first martyr of Kievan Rus', this distinction won for him universal renown. He was a
perdurable reminder to the faithful of Tatar ty ranny; more important, he was a paragon of Orthodoxy in
the face of pagan persecution." Außerdem, so Dimnik. ebenda, FN 1, war Michail der erste wirkliche
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Unverständnis dem christlichen Heiligenkult gegenüber spricht, daß sie den Kult zuließen Der
Großfürst der Kiever Rus', von dem die Mongolen politisch und militärisch nichts mehr zu
befurchten hatten, wurde als Heiliger zum Garanten der Kontinuität sowohl der Großfürstenwürde als auch der Heiligkeit der Kiever Rus', die durch den Einfall der Ungläubigen gestört
worden war Die Kanonisierung Michails kann also als Wiederherstellung des Reiches Gottes
in der Kiever Rus’ gesehen werden. Ich glaube deshalb nicht, wie Dimnik es im Schlußwort
seiner Biographie Michails von Čemigov andeutet, daß seine mangelhaften politischen Qualitäten zugunsten seines christlichen Glaubenszeugnisses vergessen wurden.42 Im Gegenteil wird
die Heiligkeit Michails gerade dadurch motiviert, daß er Großfürst von Kiev und der mächtigste Opponent der Tataren in seiner Zeit war Nur aufgrund dieser Qualität konnte er auch
christlicher Heiliger werden Durch seine Heiligkeit als Märtyrer fur den Glauben schimmert
also immer noch seine Fürstenherrschaft durch und wird dadurch im Gedächtnis behalten. Der
Bojar Feodor ist intra- und intertextuelles Zeichen flir die christusabbildliche Fürstenwürde
Michails.
Die unterschiedlichen, politisch motivierten Reliquientranslationen machen dies deutlich
Die Reliquien von Michail und Feodor wurden sofort nach ihrem Tode von Sarai nach Čemigov gebracht In der südlichen Rus', in Čemigov, Perejaslavl', in Kiev und auch Novgorod, in
GaliČ und PeremySr wurden Michail und Feodor bald schon als Heilige v ereh rt43 Bereits vor
1270 wurde in Rostov auf Anweisung der Fürstin Maria eine Kirche zu Ehren der Märtyrer
geweiht und die Reliquien darin bestattet. Die zu diesem Zweck geschriebene Rostov-Edition
der Vita benutzte Chronik- und Augenzeugenberichte,44 und diente dem Zweck, den Märtyrer-
M ärtyrer für den G lauben in der Rus', da m an sich bei Boris und Gleb tnit dein K onzept der
42
43
44
*strastoterpey" behelfen mußte.
Ich zitiere die Passage aus Dimnik, Mikhail, Prince of Chernigov, S. 154f. ganz, um Dimniks
Argumentation deutlich zu machen: ״The people of Rus' and Muscovy, especially during the period of
Tatar occupation, were not interested in preserving the memory of the grand prince's militant stand
against Khan Baty. of his defiance of the invaders or of his refusal to accept their overlordship until the
last possible moment. Instead, the people were inspired by the martyr, so much so that he became the
paragon of all believing Christians showing them how to become champions of their faith in the face of
oppression Significantly, devotion 10 this defender of the faith did not wane after the Muscovites
successfully cast off the Tatar yoke. Rather, his cult appears to liavc been revitalized during the middle of
the sixteenth century when it received ofTicial approbation from both ecclesiastical and secular authorities;
it remained an inherent component of the Orthodox religious tradition up to the beginning of the twentieth
centuiy. Ironically, therefore, the last grand prince of Kiev who, due to his execution, was judged to be a
failure by his contemporaries, became a victorious champion of the Orthodox faith not only through the
difficult Centuries of the Tatar yoke, but into the twentieth century as well.” Dem gegenüber steht
Toloćkos Urteil, der Michail die persönliche Regierungsfähigkeil abspricht, weil er vor den Tataren aus
Kiev floh und die Verteidigung seinen Voevoden überließ. S. Toločko. Kiev i Čemigov, S. 19.
Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov. S. 142
Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov, S. 152
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tod Michails und seine Verehrung umzudeuten in eine Abbildlichkeit Michails von Christus
nach dem Vorbild der Heiligen Boris und Gleb Michail und Feodor wurden, so zeigen die
weiteren Vitenredaktionen, auch weiterhin verehrt Außerdem wurden sie zu Urbildern fiir
andere M ärtyrer der Tatarenzeit wie Roman Ol'goviČ von Rjazan' und Michail JaroslaviČ von
Tver1.45
Michail und Feodor gehörten zu denjenigen russischen Heiligen, die Ivan IV in der gesamten orthodoxen Kirche verehren lassen wollte, zu welchem Zwecke er einen entsprechenden
Brief an den Patriarchen in Konstantinopel sandte.46 Um 1570 ließ er außerdem die Reliquien
in einer eigenen Kathedrale im Moskauer Kreml' als Zeichen fiir seinen Sieg Uber das Mongolenchanat von Kazan’ beisetzen47 1681-1683 wurden die Reliquien kurzzeitig in der ErzengelMichael-Kathedrale aufbew ahrt48 Am 25.8 1770 wurden sie in den Sretenskij sobor überfuhrt
Am 21 11.1774 wurden sie von Katharina II. in die Erzengel-Michael-Kathedrale im Kreml’
gebracht. Katharina stiftete einen Silberschrein fiir die Reliquien als Dank fiir das Eingreifen
der Heiligen in den Frieden mit den Türken.49
Michail und Feodor sind also im kollektiven Gedächtnis der Rus' und des russischen Imperiums präsent, wenn es um die Opposition gegen die Ungläubigen in Gestalt der Mongolen oder
von Muslimen geht Ihr Bild ist eingängiger und stringenter als das des Großfürsten Aleksandr
Nevskij, der ebenfalls mit der Opposition gegen die Ungläubigen verbunden ist, jedoch kein
Märtyrer war und real-historisch eine wesentlich ambivalentere Figur abgab als Michail von
Čemigov
Der N ovgoroder Fürst Aleksandr JaroslaviČ, Sieger über Schweden, Deutsche und Litauer,
d.h. nach orthodoxem Verständnis Ungläubige, die die Gegend um Novgorod zu erobern
su ch tcn , in trig ie rte bei d en M o n g o le n g e g e n seinen B ru d e r A ndrej und erhielt so d ie G ro ß fu r-
stenw ürde50 E r wird in seiner Vita typologisch als alttestamentarischer Herrscher d argestellt51
Durch biblische Typologie wird Aleksandr zum himmlischen Herrscher nach Ofifb 19,11-16 52
45
46
47
48
49
50
51
52
Dimnik. Mikhail, Princc of Chernigov, S. 150Г
Dimnik, Mikhail, Princc of Chernigov, S. 142
Dimnik. Mikhail, Prince of Chernigov, S. 143f. Ivan IV. hatte die Tataren in den 1550er Jahren bei
Kazan' und Astrachan geschlagen.
Dimnik. Mikhail, Princc of Chernigov, S. 143, FN 11
Dimnik. Mikhail. Prince of Chernigov, S. 144
Vgl. hierzu Nitsche. Die Mongolenzeit, S. 560ff.
Ochotnikova, Povcst' o iitii Aleksandra Ncvskogo, S. 355, zit. Eremin, I. P Żitic Aleksandra Ncvskogo.
S. 355.
Rowland. Biblical Military Imagery, S. 191 Ebd., S. 194f. zeigt er, wie das Thema in der Moskovitcr Rus‘
weiten erfolgt wurde.
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Die Wiederholungen in seinem Žitie finden auf der Ebene der Fabel statt; die herausragendsten
Taten sind seine Schlachten gegen die Ungläubigen 53
Das Žitie Aleksandra Nevskago, bzw. die Povest ׳о žitii i о chrabrosti blagovernogo i veli-
kogo knjazja Aleksandra, liegt in 10 unterschiedlichen Redaktionen vor 54 Die ältesten Redaktionen aus den 80er Jahren des 13. Jahrhunderts und aus den 40er Jahren des 15 Jahrhunderts
sind in 73 Handschriften erhalten, davon 13 der ersten Redaktion.55 Ich benutze den Text der
ersten Redaktion aus den 80er Jahren, weil dieser den Ereignissen am nächsten ist und er
deshalb als Selbstbeschreibung flir die Mongolenzeit gelten kann w Die große Zeitspanne
zwischen dem Erscheinen der ersten und der zweiten Redaktion macht deutlich, daß der Kult
Aleksandr Nevskijs erst im 15. Jahrhundert wirklich populär wurde, in einer Zeit, in der Auseinandersetzungen mit den Litauern vorherrschten Dem zufolge wird Aleksandr im 15 Jahrhundert eher als der Sieger über die "Lateiner" verehrt, dieser Tatsache sind auch die antilateinischen Ressentiments in der Vita geschuldet. Dies erklärt auch, warum seine Vita im 13.
Jahrhundert weniger populär war als die des Michail von Čemigov Beide Heilige verbindet
jedoch der Kampf gegen die Ungläubigen, zu denen im Verständnis der Orthodoxen auch die
katholischen Christen des Westens gehörten. Die Typologie Aleksandrs ist auf alttestamentarisehe Prototypen wie Samson, Salomon, Joseph und David, die Prototypen Christi, zurückzu־
fuhren.57 Seine Heiligkeit gründet sich darauf, daß er Großfürst von Kiev war 58
Wie auch die Heerführer des Alten Testamentes nimmt Aleksandr in der Schilderung der
Vita nicht selbst an den Schlachten teil. In den drei im Żitie dargestellten Schlachten wird nur
einmal auf direkte Taten des Fürsten Bezug genommen: im Kampf gegen die Schweden an der
Neva (1240) erschlägt Aleksandr eine große Menge von Feinden und drückt dem König mit
seiner Lanze ein Zeichcn ins Gesicht
53
54
55
56
57
58
Philipp. Über das Verhältnis des "Slovo 0 pogibeli russkoj zcmli" zum "Žitie Aleksandra Nevskogo", S. 7,
merkt an, daß das Żitie einen typologischen Weclisel einleitet. Die Heiligkeit der Fürsten Altnißlands
erwachse fortan auch aus ihrem weltlichen Tun. Allerdings kann man Aleksandrs Schlachten gegen die
Schweden und die Ordensritter sowohl als weltliche als auch als kirchliche Taten anschcn. Im folgenden
wird gezeigt werden, wie die Schlachten im Żitie sakralisicrt und ihrer weltlichen Bedeutung enthoben
werden
Vgl. zu den unterschiedlichen Redaktionen Ochotnikova. Povest' о Žitii Aleksandra Ncvskogo.
Ochotnikova, Povest' o żitii Aleksandra Nevskogo, S. 357Г
Das Żitie Aleksandra Nevskogo wird zitiert nach Pamjatniki literatury drevnej Rusi XIII vek, Moskva
1981, S. 426-439; alle Seitenangaben stehen im Text in Klammem.
Ochotnikova, Povest' о Žitii Aleksandra Nevskogo. S. 355
Lammich. Fürstenbiographien des 13. Jahrhunderts. $. 6
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"О тголѣ потщ ався насха на ня въ 6 час дне, и бысть сѣча велика над
Р и м лян м , и изби их м нож ество бесчислено, и самому королю възлож и печать
на лиц е остры м ь своимь коиисм ь.” (430)
"Und er iraf eilends Anstalten, um gegen scchs Uhr morgens wider die Feinde in den Kampf zu
ziehen. Es gab ein großes Gemetzel unter den Römischen; Alexander Jaroslawitsch erschlug eine
zahllose Menge von ihnen und druckte sogar dem König mit seiner spitzen Lanze ein Siegel ins
Gesicht
(119)
Damit verfährt Aleksandr nicht nur wie Gott, der ein Zeichen an Kain machte (Gen 4,15), er
wird außerdem zum Priester, der mit der Lanze die Schlachtung des Lammes vomimmt. Wie
David dem Goliath (1 Sam 17,49) steht er außerdem einer Übermacht gegenüber (428), und
wie die Philister das Land der Israeliten erobern wollten, so wollen die Schweden das
Novgoroder Land erobern Indem Aleksandr den König der Schweden im Gesicht durch ein
Siegel zeichnet, wird er zum siegreichen typos Davids Der Rest des Kampfes wird nicht mehr
von Aleksandr selbst bestritten, sondern von seinem Heer (430).
In der Beschreibung der Schlacht am Peipussee tritt Aleksandr gar nicht als handelnde
Person auf, sondem es siegt das Heer mit übernatürlicher Hilfe Die Siege Aleksandrs werden
zu den Siegen G ottes über die Ungläubigen, der sein auserwähltes Volk schützt, weswegen
Aleksandrs Anwesenheit auf dem Schlachtfeld nicht hervorgehoben w ird 60 Auch in den
alttestamentarischen Allusionen, die im Text genannt werden, Moses Sieg über Amalek (Ex
17,8-16) (432) und Josuas Sieg über die Stadt Ai (Jos 8,18-26) (434), nehmen die Feldherren
nicht direkt an der Schlacht teil, sondern stehen etwas entfernt und halten die Hände (Mose)
bzw
die Lanze (Josua) erhoben, um dadurch den Sieg zu garantieren
Die befreite
Bevölkerung Pskovs lobt Aleksandr als typos Davids
"И яко ж е ириближ ися князь къ граду Пскову, игумсни ж е и Попове и весь
н арод срѣтош а и пред градомъ съ кресты, подаю ш е хвалу богови и славу
59
60
Die Übersetzung wird zitiert aus: Die Vita des Fürsten Alexander Newski, in: Grass ho fi. Helmut / Müller.
Klaus / Sturm. Gottfried (Hrsg.): O Bojan, du Nachtigall der allen Zeit. Sieben Jahrhunderte allrussische
Literatur, Frankfurt am Main 1975, Seilen 115-125, die Seitenangaben stehen in Klammem im Text. Die
Übersetzung benutzt eine in Details, v a in der Schreibweise von Namen, abweichende Redaktion des
Zitte als Vorlage.
Lammich. Fürstenbiographien des 13 Jahrhunderts, S 264, hebt außerdem hervor, daß der Vergleich von
Aleksandrs Stimme mit dem Sellali der Posaune die alttcstamcntarischcn Stellen evozicri, in denen die
Stimme Gottes zum Sieg ertönt. "Nimmt man all diese Bedeutungen (des Homschalles) zusammen, so
entsteht vor uns eine erliabene. majestätische Hcrrscherpersönlichkeit. die eine geradezu göttliche
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господигу кн язю Александру, поющс пѣснь: 'П особивы й, господи, кротком у
Д авы ду побѣдити ииоплемсньникы и вѣрному князю
наш ем у оруж ием ь
крестны м и свободи градъ Псков от иноязы чникъ рукою А лександровою ׳."
(434)
"Als sich der Großfürst Alexander Jaroslawitsch der Stadt Pskov näherte, kamen ihm vor der Stadt
die Äbte mit Kreuzen, die Popen in ihren Meßgewändern und viel Volks entgegen, die Gott priesen und
ihres Herrschers, des Großfürsten Alexander Jaroslawitsch, Ruhm besangen: 'Herr, der du dem
sanftmütigen David geholfen hast, die Fremdstämmigen zu besiegen, du hast auch unserem frommen
Fürsten Alexander geholfen, durch seine Umsicht mit gesegneten Waffen die Stadt Pskow von den
Fremdlingen zu befreien'." (122)
Die Erzählung über die Schlacht gegen die Litauer fällt im Lichte der vorangegangenen
Schlachtenerzählungen sehr knapp aus. weil schon vorher alles gesagt wurde
"В то ж е время умнож ися язы ка литовьскаго и н а ч а т а пакостити волости
А лександрове. Он ж е выездя и избиваш е я. Единою клю чися ему вы ехати, и
побѣди 7 ратий единѣмъ выездомъ и м нож ество князей их изби, a обѣхъ
рукама и зы м а, слугы ж е его, ругаюіцеся, вязахуть их къ хвостом ъ коней
своихъ. И н а ч а т а оттолѣ блюсти имени его." (434)
"Zu ebendieser Zeit hatte das Volk der Litauer an Zahl zugenommen und begann dem Land
Alexanders Schaden zuzufügen. Mit einem Reiterhecr warf er sie nieder Allein in einem Treffen schlug
er vernichtend sieben Heerhaufen. Eine große Anzahl Fürsten und Heerführer lötete er. andere nahm er
eigenhändig gefangen, und sein Gefolge band sic unter Spottredcn an die Schwänze der Pferde. Da
begannen jene seinen Namen zu fürchten." (122)
In der Schlacht gegen die Schweden an der Neva stehen Aleksandr au f sein Gebet hin die
Heiligen Boris und Gleb bei. Diese Textstelle stellt die genealogische Verbindung Aleksandrs
zum Geschlecht Vladimirs her
"И поиде (А лександръ) на ня въ день въскрссениа, иуля въ 15, им ѣ яш е ж е
вѣру велику к ъ святы м а мученикома Борису и Глѣбу.
И бѣ нѣкто муж ь старѣйш ина в земли И ж ерстей, им енем ъ П елугий,
поручено ж е бысть ему страж а н о т н а я морская. [...] Увѣдавъ силу ратны х,
иде противу кн язя А лександра, да скаж еть ему стане. С тоящ ю ж е ему при
Ehrfurcht gebietende Position einnimmt." Daraus allerdings zu schließen, daß Aleksandrs Herrschaft
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край моря и стрсж аш с обою пути, и пребысть всю нощ ь въ бдѣнии. И яко же
нача въеходити солнце, слы ш а ш ю м ъ страш снъ по морю и вилѣ насадъ сдинъ
гребуіць по морю , и посреди насада стоящ а святая мученика Бориса и Глѣбъ
въ одеж дах чръвлены х, и бѣста рукы дръж ащ а на рамѣх. Грсбци ж е сѣдяху,
акы мглою одѣани. Речс Борись: , Брате Глѣбе, вели грести, да помож ем ь
сроднику своему князю Александру'.** (428-430)
"Und er traf auf dic Feinde an dem Sonntag, |dcm 15. Juli, dem Tag des) heiligen Fürsten Wladimir,
der einst das russische Land taufen ließ. Er setzte all sein Vertrauen in die heiligen Märtyrer Boris und
Gleb
Es lebte damals ein Mann mit Namen Bcglussitsch, der war Ältester im Ishorskcr Land Ihm war die
Morgenwache am Meere übertragen worden (...] Er schaute die Streitmacht der Feinde, die gegen den
Fürsten Alexander Jaroslawitsch zogen, damit er diesem das warägische Heer und dessen Lage anzcigc
Während er nach beiden Seiten Ausschau hielt - er hatte die ganze Nacht wachend verbracht -, vernahm
er bei Sonnenaufgang einen schrecklichen Lärm auf dein Meer und sah ein Schiff, das über das Meer
gerudert wurde: und in dem Schiff standen Boris und Gleb in roten Gewändern und hatten einander die
Arme um die Schultern gelegt Die Ruderer aber waren wie in einen Nebel gehüllt Bons sprach zu
Gleb: 'Bruder Gleb. gib den Befehl zum Rudern, damit wir unserem Anverwandten, dem Großfürsten
Alexander Jaroslawitsch helfen!"* (1 18f.)
Die direkte Hilfe in der Schlacht an der Neva wird jedoch nicht von Boris und Gleb geleistet, sondern vom Erzengel des Herrn, der die Feinde persönlich erschlägt Diese Tatsache
wird als typologisches, schon einmal am Volk Israel geschehenes Wunder (2. Kön 19,35-36)
im Žitie hervorgehoben.
"Бысть ж е в то время чюдо дивно, яко ж е во древьняя дни при Езскии
цесари. Еда приде С анахирим ъ Асурийскый цесарь на И ерусалимъ, хотя
плѣнити град святы й Ерусалимъ, внезапу изидс ангслъ господень, изби и от
полка Асурийска 185 ты сящ ь, и, въетавш е утро, обрѣтош ася трупья мертвы
вся. Тако ж е бы сть при побѣдѣ Алсксандровѣ, егда побѣди короля, об ъ оігь
полъ рѣки
И ж ж еры , иде ж е на бѣ проходно полку О лсксандрову, здѣ
обрѣтош а много м нож ъство избьеных от ангела господня. О стан окъ ж е их
побѣж е, и трупиа м ертны х своих нам еташ а корабля и потопиш а в мори.
К нязь ж е А лсксаидръ возвратися с побѣдою, хваля и славя имя своего
творц а.” (430-432)
anerkannt und gefürchtet war und sein Wort größte Autorität im Volk besaß, ist etwas naiv
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"Es geschah aber zu jener Zeit ein großes Wunder, ebenso wie einstmals zu Lebzeiten des Königs
Hiskia, als Sanherib. der König von Assyrien, gen Jerusalem gezogen war, um die Heilige Stadt zu
erobern: da war plötzlich der Engel des Herrn erschienen und hatte 180 600 Mann vom assyrischen
Heer erschlagen, und als sie am anderen Morgen aufstanden. fanden sic die Leichen der Getöteten
Ebenso war es auch beim Sieg des Fürsten Alexander Jaroslawitsch. nachdem er den König geschlagen
hatte. Zu beiden Seiten der Ishora. dort, wo sic fiir Alexanders Krieger unpassierbar war. lagen die
Leichen all derer, die der Erzengel Gottes gelötet hatte; die überlebenden flohen, die Leichen der
Erschlagenen aber warf man auf die Schiffe und versenkte sie im Meer Fürs! Alexander Jaroslawitsch
kehrte als Sieger heim " (120)
Die Hilfeleistung durch den Erzengel in 2. Kön 19 ist Prototyp fur die Wiederkunft Christi
an der Spitze des himmlischen Heeres (Offb 19,11-16, s.u. Kap 6.1). Durch diese Verbindung
wird der Sieg über die Lateiner zum eschatologischen Endsieg des heiligen Volkes des himmlisehen Jerusalem, der Großfürst und sein Heer werden zu Abbildern der alttestamentarischen
und neutestamentarischen Gesandten Gottes und seines himmlischen Heeres. In diesen Abbildern ist die historische Zeit aufgehoben und in die Heilszeit übergegangen, in der Gott selbst
seinem auserwählten Volk zu Hilfe kommt Dieses Bild wird im 15 und 16 Jahrhundert virulent, als die Russen tatsächlich wieder mit Lateinern, nämlich den Litauern, kämpften, was die
Popularität der Vita in dieser Zeit erklärt Typologisch gesehen werden die Litauer in dieser
Zeit zu Abbildern des apokalyptischen Tieres.
Für die 13 Handschriften des 13. Jahrhunderts gilt, daß hier versucht wird, den Kampf mit
den Lateinern als eschatologischen Endkampf umzudeuten Die Opposition, die im Zitte Alek-
sandra Nevskago aufgebaut wird, ist wie auch im Skazanie über Michail von Černigov "rechtgläubig" vs. "ungläubig" Nur hat sich der Opponent von Osten nach W esten verschoben Dies
steht durchaus im Zeichen von Aleksandrs Politik, der sich mit den Mongolen gegen die
Litauer verbündete Dementsprechend sind die Mongolen und der Chan Batu im Žitie positiv
dargestellt, empfangen Aleksandr und entlassen ihn mit großen Ehren, nachdem sie sich davon
überzeugt haben, daß Aleksandr seinem guten Ruf entspricht (434-436). Die katholischen
Christen werden dagegen als die Versucher Aleksandrs dargestellt
"Нѣкогда ж е приидош а къ нему послы от папы из великого Рима, ркуще:
'П апа н аш ь тако глаголет: 'С лы ш ахом тя князя честна и дивна, и зем ля твоя
велика. Сего ради прислахом к тобѣ двою надесятъ кординалу два хы треш а А галдада и Гѣмонта, да послуш асш и учения ихъ о законѣ бож ииѴ
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Князь ж е А л е к с а н д р а здумавъ съ мудрсци своими, въсииса к нему и рече:
'О т Адама до потопа, а от патопа до разделения язы къ, от разьмѣшсниа
язы къ до начяла А враам ля, от Авраама до нроитиа И исраиля сквозс море, от
исхода сы новъ И исраилевъ до умергвия Д авыда царя, от. начала царства
С оломоня до Августа и до Христова рож ества, от рожества Христова до
страсти и воскресения, от въскрсссния ж е его и на небеса възшествиа и до
царства К онстантинова, от начала царства Константинова до псрваго збора и
седмаго - зи вся добрѣ съвѣдасмь, а от вас учения не пр ие мл е м436) ".)׳
"Einst kamen Boten vom Papst aus dem großen Rom, die /um Fürsten Alexander Jaroslawitsch
sprachen
,Der Papst läßt dir sagen: ,Wir haben vernommen, daß du ein rechtschafTener und
angesehener Fürst bist, und dein Land 1st groß und berühmt. Deshalb habe ich die beiden erfahrensten
unter den zwölf Kardinalen - Gald und Gemont - zu dir gesandt, damit du ihre Lehre vom Gesetz
Gottes hörest'.* Der Großfürst Alexander Jaroslawitsch beriet sich mit seinen Ratgebern und schricb dem
Papst als Antwort: 'Von Adam bis zur Sintflut, bis zur Verwirrung der Sprachen und bis zum Beginn
der Zeit Abrahams, von Agraham bis zum Zug Israels durch das Rote Meer, vom Auszug der Kinder
Israels bs /um Tod des Königs David, vom Beginn der Herrscliaft Salomos bis zu Augustus und zu
Christi gebun. bis zu seinem Martyrium und seiner Auferstehung, von seiner Auferstehung und
Himmelfahrt bis zur Herrscliaft Konstantins des Neuen, vom ersten Konzil bis hin zum siebenten - das
alles kennen wir gut: und von euch »,erden wir keine Lehre annchmen.'" (124)
Die Aufforderung, auf die Lehren der Gesandten des Papstes zu hören, wird von Alexander
als die Aufforderung verstanden, den eigenen Glauben zu verleugnen Wie schon Michail von
Čemigov wird Aleksandr zum Glaubenszeugen, indem er mit Verweis darauf, daß er die Heilsgeschichte von Anfang bis zum Ende kenne, die Lehren der Katholiken nicht hören will
Das Gebet, das Aleksandr vor der ersten Schlacht betet, macht deutlich, wodurch die
himmlische Unterstützung, die ihm gewährt wird, motiviert ist. Aggressoren sind in G ottes
erwähltes Land eingefallen und haben die göttliche Ordnung zerstört 61
״А лександръ ж е, слы ш ав словеса сии, разгорѣся ссрдцсмъ, и внидс в
церковъ святы я С оф иа, и, над на колѣну, пред олътарсмъ, нача м олитися съ
слезами:
'Б о ж е
хвалны й,
праведный,
бож е
великый,
крѣпкы й,
бож е
иревѣчный, основавы й небо и зем лю и полож ивы предѣлы язы ком , повслѣ
ж ити не прѣступаю ш е в чю жую часть'. Въсприимъ ж е пророческую иѣснь.
61
Lammich. Fürstenbiographien des 13. Jahrhunderts. S 265Г
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рече: 'Суди, господи, обидящ им мя и возбрани борю щ им ся со мною, приими
оруж ие и щ и ть, стани в помощ ь м н ѣ '.и (428)
"Als Fürst Alexander Jaroslawitsch diese Worte vernahm, empörte er sich in seinem Herzen, ging in
die Kirche der Heiligen Sophia, fiel vor dem Altar auf die Knie und betete unter Tränen zu Gott: 'Erhabener und gerechter Gott, mächtiger und großer Gott, ewiger Gott, der du Himmel und Erde, das Meer
und die Flüsse erschaffen hast, du hast den Völkern Grenzen gesetzt und ihnen geboten zu leben, ohne
fremdes Land zu betreten.' Und er gedachte des Psalmenliedcs und sagte: 'Richte. 0 Herr, und entscheide
über meinen Streit, richte. 0 Herr, die mich kränken, wehre denen, die gegen mich bekämpfen, nimm
Waffe und Schild und stelle dich mir hilfreich an die Seite' " (117)
Die göttliche Ordnung wird in den Schlachten Aleksandrs durch Gott selbst wiederhergestellt, indem er seinen erwählten Heerführer an die Spitze seines auserwählten Volkes stellt. Im
Żitie Aleksandra Nevskago wird die Rus’ durch biblische Typologie zum Abbild des auserwählten Volkes G ottes des Alten und des Neuen Testamentes.
Lammich meint, daß in einer Zeit, in der das Land durch Verwandtenkriege zerrüttet war,
ein solches Zurückweichen auf Gott als den allein Zuständigen ein äußerst brisantes Politikum
darstelle.62 Daß Gott die Ordnung in der Rus' persönlich wiederherstellt, ist jedoch konsequent,
wenn man bedenkt, daß sie sein auserwähltes Volk ist, das mit ihm im himmlischen Jerusalem
wohnt
Die Vita Aleksandr Nevskijs etabliert das russische Volk als das auserwählte Volk Gottes
am Anfang und Ende der Heilszeit, das von ihm selbst in den siegreichen Kampf mit den
Ungläubigen geführt wird. Der heilige Großfürst ist, wie Lammich nachgewiesen hat, am Ende
des 13. Jahrhunderts zum topos geworden Aleksandr ist zunächst heilig, weil er Großfürst ist,
und seine Vita macht den Kampf Aleksandrs gegen die Lateiner zum apokalyptischen Kampf
der Endzeit. Dieser Kampf wird zur Rettung des rechten Glaubens in der Rus* geführt, der
Voraussetzung für ihr Heil ist. Die erste Redaktion des Żitie kann man außerdem in dem Sinne
deuten, daß die Lateiner ein Substitut für die Mongolen darstellen, da in beiden Fällen gegen
Ungläubige gekämpft wird Der Kampf gegen die Mongolen wird auf der textuellen Ebene
gewonnen, während er in der historischen Zeit verloren wurde In historischer Zeit kann Alexander als Großfürst seine Macht nur aufgrund eines Vasallenverhältnisses behalten und muß als
Gegenleistung dafür u.a. Novgorod opfern und unter die Herrschaft der Horde stellen. A uf der
Ebene des Textes ist Aleksandr der Heerführer Gottes und Anführer des himmlischen Heeres
62
Lammich, Fürstenbiographien des 13. Jahrhunderts. S. 268
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Der Erhalt des heiligen Großfürsten der Rus' funktioniert nicht Uber das Źiiie Aleksandra
Nevskago, sondern über den Kult des Michail von Čemigov. Seine Vita macht ihn zum Märtyrer fiir den Glauben, obwohl bekannt war, daß er aus politischen Gründen hingerichtet wurde,
weil er der mächtigste Opponent des Chans war und die Anerkennung der Oberherrschaft der
Mongolen verweigerte 63 Sehr wahrscheinlich war diese Tatsache auch ein Grund für seine
Kanonisierung Es zeigt sich hier wieder, daß Kiev als Großfurstensitz nicht die Rolle spielte,
die ihm gemeinhin zugeordnet wird Michail regierte als Großfürst weiter, ohne daß ihn die
Einnahme Kievs durch die Mongolen besonders in seiner Herrschaft beeinträchtigt hätte Er
verließ die Stadt sogar und ließ ihre Verteidigung durch einen Voevoden organisieren Auch
die Beibehaltung des Epithetons "Cernigovskij", obwohl Michail den Großfurstentitel inne
hatte, der laut Philipp längst nach Vladimir ubergegangen war,64 legt diese Annahme nahe
Die Kanonisierung Michails kann als ein subversiver Akt unter Ausnutzung der religiösen
Toleranz der Mongolen gegen ihre Herrschaft angesehen werden Der aus politischen Gründen
Hingerichtete wird zum Märtyrer fiir den Glauben und somit zum Kultobjekt in der gesamten
Rus'
In den Viten wird Michail zum Abbild Christi Er handelt als Versuchter wie Christus und
wird intratextuell als Urbild festgelegt, indem ihm der Bojar Feodor als Abbild folgt Feodor als
Abbild Michails/Christi kann deshalb als der eigentliche Märtyrer angesehen werden, weil er
wirklich in der Nachfolge Christi steht Im Text setzt er die Marker, die daraufhinweisen, daß
sich in Michail und Feodor das Urbild von Boris und Gleb wiederholt Durch das intratextuelle
Abbild wird Michail um so mehr zum Abbild Christi Seine Vita setzt die Etablierung der
heiligen Fürstendynastie fort, die im Skazanie о Borise i Glebe begonnen hat Erst vor diesem
Hintergrund konnte auch Aleksandr Nevskij im 13 Jahrhundert allein aus dem Grunde kanonisiert werden, weil er Großfürst war
Das nach dem Mongolensturm etablierte Herrschaftsbild ist allerdings in einer anderen
Sphäre angesiedelt, als es im 11 Jahrhundert war Während Ilarion und auch der Schreiber des
Skazanie noch auf eine reale Stadt Kiev als himmlisches Jerusalem und Sitz des Großfürsten als
Abbild Christi und au f eine reale Fürstenherrschaft rekurrieren konnten, war die Fürstenherrschaft der Mongolenzeit eine Herrschaft von des Chans Gnaden Der Großfürst war politisch
von der Bestätigung durch den Chan oder sogar den Großchan abhängig Er war zunächst
63
Dimnik. Mikhail. Pnncc of Chernigov, macht diese Auffassung von Michail am Chromkmatenal
überdeutlich. Seine Stellung war so bekannt, daß man sie in der Vita nicht mehr eigens hervorheben
mußte
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wirtschaftlich durch die Zerstörungen in Folge der Eroberungen und die Tributzahlungen an
die Mongolen geschwächt, jedoch auch dann noch von ihnen abhängig, als er Anfang des 14
Jahrhunderts die Tributzahlungen selbst einfordern und an die Mongolen weiterleiten durfte
Die realpolitische Macht und die reale Herrschaft lagen nicht bei den Großfürsten oder Fürsten
der Rus', sondern beim Chan der Mongolen In dieser Situation behalf man sich zur WiederherStellung der durch die Ungläubigen zerstörten alten Ordnung von dem vom christusgleichen
Herrscher im himmlischen Jerusalem beherrschten Volk in der einzigen öffentlichen Sphäre, die
von den M ongolen unangetastet blieb, in der Kirche. Dies erklärt die langanhaltende Populari־
tat des Kultes des Michail von Čemigov und seines Bojaren Feodor A uf die offenkundige
Dissoziation von "Herrschaft" und "Heil" in der Mongolenzeit wird mit der Virtualisierung der
Fürstenherrschaft reagiert: Das Heil bleibt in den Selbstbeschreibungen der Zeit an die Fürstenherrschaft gebunden; ihre politische Abhängigkeit von den Mongolen wird ausgeblendet
Die Kanonisierung Michails als "Michail von Čemigov" zeigt außerdem, daß im 13 Jahrhundert Kiev nicht das Zentrum der Rus* war Die Großfürstenwürde wurde nicht mehr direkt
an den Ort Kiev gebunden, sondern an das Charisma des Titels, bzw. seines Trägers Dies
erklärt auch, warum es nicht mehr darauf ankam, Kiev wieder aufzubauen In der Folge des
Ausbaus von Kiev war die gesamte Rus' mit Abbildern des himmlischen Jerusalem ausgestattet
worden, so daß man auf dieses eine nicht mehr ausschließlich angewiesen war Deshalb konnte
der Großfürst ohne weiteres seinen Sitz von Kiev nach Vladimir oder nach Moskau verlegen
Die Bezeichnung Michails als "von Čemigov" hat jedoch im Gegensatz zu seiner bis ins
frühe 20 Jahrhundert währenden Popularität zu seiner Marginalisierung in der Forschung
geführt, die bestrebt ist, die Geschichte einer "Kiever Rus'" und einer "Moskoviter Rus'" zu
schreiben Schon bei der Analyse des Poučenie Vladimira Monomacha zeigte sich jedoch, daß
der Ort, an dem der Fürst seinen Sitz nahm, unwichtig war im Vergleich zu seiner Zugehörigkeit zu einer heiligen Dynastie und seiner Verantwortung für das Volk in der Rus*. Die Heiligkeit der Fürstendynastie wurde in erster Linie durch die Heiligen Boris und Gleb, später durch
die kanonisierten Fürsten gewährleistet, weshalb beide Fürstenviten auf diese beiden Heiligen
verweisen.
Indem der christusabbildliche Großfürst von seinem weltlichen Thron auf einen kirchlichen
Thron transferiert wurde, blieb auch in der Mongolenzeit der ontologisch-religiöse Urzustand
der Rus' als Abbild des himmlischen Jerusalem erhalten Dieser Zustand wurde im Kultus
64
Philipp. Die religiöse Begründung der allrussischen Hauptstadt. S. 383
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perpetuiert und erhielt dadurch eine ontologische Realität, die ihn über die historische Realität
emporhob Daß die auf diese Weise etablierte Herrschaft nicht mehr real, sondern nur noch
virtuell war, ist eine rückblickend zu machende Feststellung Der Mensch in der Mongolenzeit
selbst brauchte die heiligen Großfürsten, um die Verbindung zur intelligiblen Welt aufrechtzu־
erhalten und sich gerade in der Zeit der realen Fremdherrschaft virtuell als in der himmlischen
Sphäre befindlich fühlen zu können. Es wurde also durch den Kult von Michail und Feodor
eine virtuelle Herrschaftsform errichtet, die die reale Herrschaft der Mongolen im sakralen
Raum konterkarierte
Exkurs: Der Ikonostas als intratextuelles Abbild
Der Kultus der Heiligen wurde in der relativen Zurückgezogenheit des Kirchenbaues als Abbild
des himmlischen Jerusalem praktiziert und konnte nicht als offener Widerstand gegen die
Mongolenherrschaft von diesen interpretiert werden Der Ruckzug in das Kircheninnere erklärt
auch, warum die Höhepunkte der bildenden Kunst, Ikonenmalerei und Ikonostas in die Zeit der
Mongolenherrschaft fallen
Die Analyse der Vita des Fürsten Michail von Čemigov und des Bojaren Feodor hat
gezeigt, daß die Urbildlichkeit des Fürsten auf der Sujetebene abhängig von einem intratextuellen Abbild ist Dieses intratextuelle Abbild existiert sowohl im Skazanie о Borise i Glebe
als auch im Falle von Vladimir Svjatoslavič und Jaroslav Vladimirovič im Siovo о zakone i
biagodati Auch das Bauprogramm von der Kiever bis in die Moskoviter Zeit weist daraufhin,
daß die Heiligkeit des erschaffenen Weltbildes durch ein oder mehrere intratextuelle Abbilder
in Form von Kirchenbauten mehr noch als durch intertextucllc Urbilder crrcicht wurde 65
Als Beispiel für den in der Mongolenzeit erfolgten Rückzug in den Kultus kann auch die
Entwicklung des Ikonostas im 13 und 14 Jahrhundert gelten Ursprünglich aus dem drei bis
fünf Ikonen umfassenden Deesis-Rang auf der Altarschranke bestehend, wurden der Trennwand zwischen Kirchenraum und Altarraum in Rußland bis zu vier Range hinzugefügt Drei
Türen, die während der Liturgie in bestimmter Reihenfolge durchschritten werden, fuhren in
Prothesis, Diakonikon und zum A ltar66
65
66
Stökl, Die politische Religiosità! des Mittelalters, S. 410, sieht im Umzug des Metropoliten von Kiev nach
Vladimir die Verwirklichung der politischen und religiösen Ziele Andrej Bogoljubskijs Hierbei
berücksichtigt er jedoch nicht, daß Andrej vom Patriarchen in Konstantinopel die Einsetzung eines
/weiten Metropoliten erbat.
Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst. S. 57
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Während der unterste Rang des Ikonostas in Abhängigkeit von den Kirchenpatronaten relativ frei gestaltet werden kann, sind die anderen Ränge festgelegt Der oberste oder erste Rang
enthält die Dreieinigkeit, flankiert von den Vorvätern Darunter steht das Bild der Gottesmutter des Zeichens inmitten der Christus weissagenden Propheten 67 Der dritte oder Deesis-Rang
enthält das ursprünglich griechische Motiv des Pantokrators, flankiert von der flirbittenden
Gottesm utter und dem flirbittenden Johannes dem Täufer Der Aufbau und die Gruppierung
des Ikonostas um die Deesisgruppe weist nach Faensen auf den zentralen Charakter in, den das
Fürbittmotiv in der Mongolenzeit erlangte.
Das Mosaik- und Freskenprogramm der Kiever Sophienkathedrale beruhte auf einem
byzantinischen Vorbild In Reaktion auf die weitestgehende Verdrängung von bildlichen DarStellungen und sogar von Heiligen und deren Kult durch die Ikonoklasten wurde nach dem
Bilderstreit ein Bildprogramm entworfen, das für ganz Byzanz in seiner Deutung als Abbild der
himmlischen Hierarchie Allgemeingut wurde, und das in den Kirchen der Kiever Rus' Ubernommen wurde 69
Das Programm ist vertikal als Abbild der himmlischen und der kirchlichen Hierarchien
angelegt70 und funktioniert damit analog zum pyramidalen Aufbau des Kircheninneren und zum
durch die Kuppeln und Fenster einfallenden Licht In der Hauptkuppel ist der thronende Pantokrator zu sehen, umgeben von Erzengeln und den Aposteln. Die Apostel stehen als Gründer
der Kirche da Ihnen folgen die Propheten, die sie vorausgesagt haben, die Erzväter, die sie
vorgebildet haben, und schließlich auf der Vierung der Kuppel die Evangelisten als Bezeuger
und Verkünder der Kirche. Heilige, Märtyrer, Hierarchen und Engel befinden sich als Stütze
der Kirche auf den Säulen. Von den monumentalen Darstellungen in der Hauptkuppel werden
die Darstellungen aus der Heilsgeschichte, Festtagsbilder, schließlich auch profane Darstellungen, immer kleiner und verzweigter dargestellt In der Apsis herrscht das Bild der Gottesm utter
Orans vor 71
Sowohl der große Steinbau der Sopienkathedrale, der fiir seine Zeit einzigartig in der Rus’
war, als auch die Innenausstattung durch Mosaiken, in denen der Goldton als Zeichen des
67
68
69
70
71
Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst. S. 58
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. S. 63
Onasch. Identity Models. S. 178Г; vgl. Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst. S. 56.
Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst, S.61; Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst. S. 61, vgl. Onasch.
Identity Models. S. І79Г
Onasch. Lexikon Liturgie und Kunst. S 60-62. vgl. Faensen/Ivanov, Altnissische Baukunst. S 55;
Faensen. Kirchen und Klöster, S. 25, zum Bildprogramm der Sophtcnkathcdralc auch S. 40ÍT
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himmlischen Lichtes72 vorherrschte, müssen die Zeitgenossen entsprechend beeindruckt haben.
Die Sophienkathedrale war nicht nur Metropolitankirche, sondern wurde auch vom Großfursten zu repräsentativen Zwecken und als Gerichtssaal genutzt In dieser Nutzung wird die
staatliche Macht mit dem Charisma des Göttlichen umgeben
Der Ikonostas greift alle Themen des Bildprogrammes der Kirchen wieder auf und erscheint
so als Abbild der himmlischen Hierarchie nicht mehr in der vertikalen Blickrichtung des Kirchenbesuchers, sondern in der horizontalen, auf den Altarraum gerichteten Blickrichtung73 Als
Abbild der himmlischen Hierarchie ist er genauso Abbild des vertikalen Bildprogrammes der
K irche74 Es ist das intratextuelle Abbild des Bildprogrammes, das offenbar notwendig wird,
um den Kirchenraum als ontologisch bedeutsamen, mehr Heiligkeit akkumulierenden Sakralraum weiter hervorzuheben Daß der Ikonostas bald die Funktion des Bildprogrammes selbst
übernahm, bezeugt die Abwesenheit des Bildprogramms in den jüngeren Steinkirchen Rußlands Ein intratextuelles Abbild wird offenbar nicht mehr als notwendig angesehen
72
73
74
Vgl. dazu Onasch. Ikonenmalerei. S. 49.
Faensen/Ivanov, Allrussische Baukunst, S. 66, sprechen sogar von einer Verdrängung des vertikalen
Bildprogrammes durch den Ikonostas in Moskau seit dem 15. Jahrhundert.
Brunov, Gcschichtc der altrussischen Baukunst. S. 88. nennt die zweimalige Existenz des
Bildprogrammes in der Kirche einen *Wettstreit zwischen Malerei und Architektur" und sicht einen
Gegensatz zwischen dem Ikonostas und dem System der Pfeiler und Gewölbe Allerdings ist der Ikonostas
für ihn Ausdruck des Stils der organisch anwachsenden Massen, wodurch er ihn auch für seine
Ausgangsthese fruchtbar maciién kann
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6
Das heilige R ußland
»
Die zentrale Stellung Moskaus als Metonymie für das ganze russische R eich1 ist durch die
Geschichtsschreibung seit dem 18 Jahrhundert determiniert, deren Sicht fast unwidersprochen bis in das 20. Jahrhundert hinein übernommen wurde,2 obwohl natürlich schon der
zeitgenössische Ausdruck "Moskovien" für eine Berechtigung des Ausdrucks "M oskoviter
Rus"* spricht Die politische Dominanz des Großfürsten von Moskau über die sogenannten
"russischen Kernlande" läßt sich erst seit dem Ende des 15 Jahrhunderts festmachen Die
Entstehung eines Moskauer Staates, der den Kern des späteren russischen Imperiums werden
sollte, ist ebensowenig festzustellen wie der Beginn des Kiever Staatswesens, als dessen Erbe
Moskau gelten soll Während man sich im Falle Kievs mit dem (fälschlicherweise) au f das
Jahr 988 angesetzten Datum der Taufe flir den Beginn behilft, ist ihr Ende nicht eindeutig
markiert, ebensowenig wie eine Kiever Staatlichkeit an sich determiniert war Es hilft hier
wenig, sich auf eine "feudale Zersplitterung der Herrschaft” im 12 Jahrhundert zuruckzuziehen, oder die Eroberung Kievs durch die Mongolen 1242 als Endpunkt der Kiever Staatlichkeit anzusehen, weil der Aufstieg Moskaus definitiv nicht im 13. Jahrhundert stattfand, man
aber die M ongolenzeit normalerweise mit zur russischen Geschichte zählt Der Aufstieg Moskaus begann im 14 Jahrhundert und erfolgte wahrscheinlich weder zwangsläufig,3 noch in
dem Bewußtsein, daß hier ein staatliches oder nationales Erbe Kievs angetreten wurde. Auch
hat das Wissen von dem Kiever Erbe nicht zu dem Bestreben geführt, die "russischen Lande"
zu sammeln und eine geographische wie politische nationale Einheit wieder herzustellen, wie
Keenan erfolgreich gezeigt h a t4 Wovon man allerdings ausgehen kann, ist eine gewisse kulturelle Einheit in dem Gebiet der im 13. Jahrhundert Kiev und Moskau umfassenden russisehen Kernlande, die auf einer Zugehörigkeit zur gleichen Dynastie und zum Einflußbereich
des orthodoxen Christentums und der Kiever Kirchenleitung beruhte Gerade letztere Verbindung wurde durch den Mongolensturm nicht unterbrochen
1
2
3
4
Nach Raba. The Moscow Kremlin. S. 6. wird Moskau mit dem Herrscher eng verbunden, was sich darin
äußert, daß die Abwesenheit des Herrschers von Moskau in Momenten politischer Krisen /иг Panik unter
der Bevölkerung des Landes führte: *The ruler of the Moscow grand principality guaranteed and
personified the real importance of the capital as an economic, strategic, and territorial center This state of
affairs led to the basic significance of the Moscow Kremlül as the focal point of political power in the state.
The permanent ruler's residence featured as a stable factor in political life and as a point of aspiration and
concentration for all active political forces of the state
Vgl. hierzu Keenan, On Some Mythical Beliefs, S. 32fif.
Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus. S. 573, bemerkt, daß auch ein Aufstieg Tver's nichts
Wesentliches an der russischen Geschichte und Kultur geändert hätte.
Keenan. On Some Mythical Beliefs. S. 21
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Ostrowski macht fiir den Aufstieg Moskaus mehr oder weniger den ökonomischen Zufall
verantwortlich. Da die Mongolen bei ihren Eroberungen von Handelsinteressen geleitet wurden, unternahmen sie alles, um die eroberten Gebiete so schnell wie möglich wieder florieren
zu lassen. Ostrowski meint, daß fiir diesen Fall eine Art Marshall-Plan existierte, wofür
spricht, daß sich bestimmte Städte wie Chvarezm, Samarkand, Tabriz oder Buchara sehr
schnell nach der Eroberung wieder erholten Die Seidenstraße, die sich in Buchara in einen
nördlich und einen südlich vom Kaspischen Meer verlaufenden Weg teilte, wurde von zwei
M ongolenchanaten kontrolliert Das Ilchanat kontrollierte hierbei die südliche Route über
Merv, Nišapur, Raj, Tabriz und Trapezunt über das Schwarze Meer nach Konstantinopel Die
nördliche Route der Seidenstraße, über Urgendj über Chiva nach Sarai und von dort über den
Don nach Tana, zur Halbinsel Krim und über das Schwarze Meer nach Konstantinopel, wurde
von der Goldenen Horde kontrolliert und begünstigte sowohl die schnelle ökonomische
Erholung von während der Eroberung zerstörten Städten als auch die Blüte der neuen Handelszentren wie Sarai, die Krim und Kaflfa Sarai als Hauptstadt der Horde wurde zum Zentrum des Ost-W est wie des Nord-Süd-Handels, als die Mongolen die alte Nord-Süd-Handelsroute von Kiev über den Dnepr nach Osten verlegten und sie von Sarai über die Volga nach
Novgorod fuhren ließen. Aus der Verlegung der nördlichen Handelsroute resultierte der ökonomische Aufstieg der nordöstlichen Städte der Rus' wie auch die Tatsache, daß sich Kiev nur
langsam von der Eroberung erholte.5 Sie machte Moskau zu einem Handelszentrum, in dem
im 16. Jahrhundert riesige Mengen an Waren - Augenzeugen berichten von 40.000 Pferden
au f einmal - umgeschlagen wurden,6 was die Kirchen und die Großfürsten, wie aus Chronikberichten hervorgeht, sehr reich machte, und den Aufstieg Moskaus und seines Großfürsten
schon am Anfang des 14 Jahrhunderts förderte und die spätere Imperiumsbildung überhaupt
erst erm öglichte.7 Vielleicht ist sogar die Klosterbewegung, die man sonst eher unter dem
Aspekt der Stadtflucht betrachtete, dieser Tatsache geschuldet
Über das Ende der Mongolenherrschaft über Moskovien besteht nur insofern ein Konsens,
als daß man es au f das Ende des 15 oder den Anfang des 16 Jahrhunderts datieren kann Das
5
6
7
8
Ostrowski, Muscovy and (he Mongols. S. 109fif. Vgl S. 112: "It was this northern shift of trade in Rus' that
bcfittct Muscovy and northeastern Rus' economically, and was so detrimental to Kiev as a center of trade ״
Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 124 zit. Giles Fletcher: Of the Russe commonwealth, in: Berry ,
Lloyd E. / Crummey, Robert O. (Hrsg.): Rude and Barbarous Kingdom. Russia in the Accounts of
Sixteenth Century English Voyagers. Madison 1968, S. 109-246, hier: S. 197
Zum ökonomischen Aufstieg s. ausführlich Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 12 Iff
Zur Bedeutung der Klostcrbcwcgung s. Bushkovitch. Religion and Society in Russia. S. 1 Iff. Seebohm.
Ratio und Charisma, S. 86ff. Bushkovitch. Religion and Society in Russia. S. 14, sieht den Niedergang des
Klostcnvcsens im Fehlen von charismatischen Heiligen als Klostergründem ab 1550 begründe!
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"Stehen an der Ugra" im Jahre 1480,9 das gemeinhin als Unabhängigkeitsschlacht angesehen
wird, hatte nur eine Reduktion der Tributzahlungen von 7000 au f 1000 Rubel zur Folge, nicht
aber die Unabhängigkeit des Moskauer Zartums, die auch nie als solche erklärt worden i s t 10
Wenn man post festum die Unabhängigkeit Moskaus auf die zweite Hälfte des 15 Jahrhunderts festlegt und außerdem mit dem Fall Konstantinopels 1453 an die Türken verbindet, so
hat dies seine Gründe in den zumeist kirchlichen Quellen zu dieser Zeit, die nach 1448 eine
konsequent anti-mongolische Tendenz annehmen, während sie vorher die M ongolen kaum,
die mongolische Oberhoheit überhaupt nicht erwähnten Diese hing direkt mit der byzantinisehen Mongolenpolitik und dem seit 1252 existierenden Bündnis zwischen der Horde und
Byzanz zusammen, die von der russischen Kirche durchgehend mitgetragen w urde.11 Das
änderte sich 1448 mit der Wahl des Metropoliten Isidor, die man als einen Versuch der Autokephalie deuten kann, da er die Florentiner Kirchenunion nicht mitgeschlossen hatte Zwar
wurde zu diesem Zeitpunkt die kirchliche Jurisdiktion des Konstantinopoler Patriarchen nicht
in Frage gestellt, doch erhielten die ab 1448 geschriebenen Texte eine contra-mongolische
Emphase, und zwar vor allem aufgrund der geringen politischen Bedeutung, die sowohl dem
byzantinischen Kaiser als auch der Goldenen Horde zu diesem Zeitpunkt noch zukam. Man
kann also mit Ostrowski sagen, daß die russische Kirche ab der Mitte des 15 Jahrhunderts
eine eigene Mongolenpolitik vertrat.12
Kreml', Kirche. Ritual
Der Bau neuer staatlicher Repräsentationsgebäude im Moskauer Kreml' unter Ivan III. am
Ende des 15. Jahrhunderts kann als Zeichen flir die wiedererrungene Souveränität und Identi־
tat der Staatselite gedeutet werden u Der Kreml' wird zum Abbild des himmlischen Jerusalem
9
10
11
12
13
Zu einer Einschätzung des Stehens an der Ugra als Ende der MongolenherTschaft s. Kusber, Ende und
Auswirkungen der Mongolenherrschaft, S. 207ÍT Zur Rezeption Ivans III. und des Endes der
Mongolenherrschaft in der Historienmalerei des 19. Jh. sei auf den sehr interessanten Aufsatz von Ulrike
Schmiegclt verwiesen: Schmiegelt, Ulrike: Varianten über eine Legende Die "Abschüttelung des
Tatarcnjochs" durch Ivan III. in populären Bildwerken des 19. Jahrhunderts, in: Hubner, Eckhard / Kusber,
Jan (Hrsg.): Zwischen Christianisierung und Europäisiemng. Beitrage zur Geschichte Osteuropas in
Mittclaltcr und früher NeuzciL Festschrift fur Peter Nitsche zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1998 (= Quellen
und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; 51), S. 137-162. Zur literarischen Bearbeitung in der
"Povest* о Ternir Aksake" s. Ebbinghaus, Reception and Ideology, S. 74ff, außerdem meine Analyse des
"Posianie na Ugru" des Vassian Ryło weiter unten
Ostrowski, Muscovy and the Mongols, S. 165f.
Ostrowski, Muscovy and the Mongols. S. 145, vgl. S. I38Í
Ostrowski, Muscovy and Üie Mongols, S. 141, vgl. auch Lilie, Byzanz, S. 234-237.
Raba. The Moscow Kremlin, S. 6f.
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ausgebaut und demonstriert dadurch eine Kontinuität sowohl im Herrschaftsanspruch als auch
in der Legitimationsstrategie, die tatsächlich bis in die Kiever Zeit zurückreicht
Die weißen Mauern des Moskauer Kreml' waren in den Jahren 1445 und 1473 durch
Brände, im Jahr 1451 durch einen M ongolenangriff weitestgehend zerstört worden 14 Der
W iederaufbau in den 1480er Jahren war jedoch nicht wirklich nötig, weil es keine echte
Bedrohung innerhalb des Reiches fur Moskau mehr gab Um so erstaunlicher ist die Größe
der wiederaufgebauten Mauern, die mit einer Höhe von 10,6-16,45 m und einer Dicke von
3,35-4,55 m die höchsten im gesamten Staat waren Joel Raba nimmt an, daß die Mauern
nicht primär der Verteidigung dienten, sondern symbolisch die Ausdehnung der großfurstlichen M acht vom Kreml' aus in die Umgebung ausdrücken sollten1’ und von der Bevölkerung
auch so verstanden wurden 16
Der Ausbau des M oskauer Kreml' wurde zum bewußten Ausdruck der Überlegenheit des
M oskauer Großfürsten über die anderen Fürsten seiner Zeit. Im Glockenturm des Kreml' wurden die Večeglocken der unterworfenen Städte aufgehängt, und in den Kirchen des Kreml*
ihre Ikonen aufgehängt. Diese Konzentration förderte die Einigung des Staates17 und war
gleichzeitig Ausdruck der Oberhoheit Moskaus, weil die Glocken des Kreml* nun läuteten,
wenn M oskau Gefahr drohte
Ivan III ließ au f dem zentralen Platz des К гетГ, dessen Gelände schon unter Ivan I Kalita
1fi
erweitert worden war, zwei steinerne Kathedralen errichten, den schon erwähnten Neubau
des Uspenskij sobor durch Aristotele Fioravanti und den ArchcuigeVskij sobor, dem Erzengel
Michael geweiht, in dem die Gebeine der Kiever und Moskauer Fürsten, darunter die des Michail von Čem igov, sowie der Fürsten der Teilflirstentümer in hierarchischer Ordnung bestattet w urden,19 au f der linken Seite nahe am Hochaltar die Moskauer Großfürsten, am Südende schließlich Ivans Vater und Großvater Schließlich wurden auch die ehemaligen Feinde
14
15
16
17
18
19
Raba, The Moscow Kremlin, S. I3f.
Raba. The Moscow Kremlin. S. 18; Raba schließt jedoch eine Verlcidigungswirkung der К г с т Г т а и е т
nicht aus Im Gegensatz dazu schildcm Facnsen/lvanov, Allrussische Baukunst, S. 406f. ausführlich die
Verteidigungsstraiegien. die mit dem Bau der Mauern einhergingen, einschließlich der Verbindung von
MaucrhOhc und Reichweite der Waffen. Ob die К г с т Г т а и е т nun primär der Verteidigung oder der
Repräsentation dienten, ist für die vorliegende Untersuchung allerdings irrelevant, weil hier nur ihr
symbolischer Ausdruck interessiert. Sic stehen für die Mauern des himmlischen Jerusalem und sind
deshalb im Sinne der unähnlichen Ähnlichkeit wichtig für die Abbildlichkeii des Kreml', jedoch nicht für
die Verteidigung des Staates
Raba. The Moscow1Kremlin. S. 16ff
Raba. The Moscow Kremlin. S. 34f.
Facnsen/lvanov, Altrussische Baukunst. S. 404
Zur kunsthistorischcn Beschreibung und Einordnung des Archartgel'skij sobor vgl. Facnsen/lvanov,
Allrussische Baukunst. S. 418-422.
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der M oskauer Großfürsten, die Fürsten von Galič, im ArchcoigeVskij sobor bestattet, um so
die Hierarchie zu komplettieren und letztendlich die Einheit des Staates zu proklamieren 20
A uf der Seite des Kathedralplatzes wurde der Facettenpalast als repräsentativer Empfangsraum errichtet Der Gesamtkomplex des Kreml' und seiner Neubauten diente der Darstellung
der Verschränkung von kirchlicher und weltlicher Macht, die dem Besucher des К гетГ wir־
kungsvoll vor Augen gestellt werden sollte. Der Mittelpunkt der Bauten au f dem Kathedralplatz war die Gruppe der zentralen Staatsgebäude, die den Platz zusammen mit dem großfürstlichen Palast flankierten Besucher, die vom Haupteingang, dem St Frol-Tor kamen,
sahen vor sich den Uspenskij sobor und auf der linken Seite den Facettenpalast mit der repräsentativen Treppe. Besucher, die vom St Nikolaus-Tor kamen, sahen den ArchangeVskij
sobor im Süden des Platzes neben der Schatzkammer, der Oružejfiaja palata ”In other
words, ״schreibt Raba, "the central secular buildings erected at the end o f the fifteenth century
filled in the space between existing and renovated central ecclesiastical buildings The new set
o f structures was designed not only to impress people but also to serve as a stage for state
functions and ceremonies."2I Der Kathedralplatz wurde als Bühne für die großen
Staatszeremonien gebraucht und wurde z.В bis zum Ende des Zarenreiches von den Prozessionen zur Zarenkrönung durchschritten 22
Mit dem Bau der Kathedralen und des Facettenpalastes wurden die Funktionen des neuen
Moskauer Staates ausgedrückt Der Uspenskij sobor diente den Staatszeremonien, der Facettenpalast war das Zentrum der diplomatischen Empfänge, der ArchangeVskij sobor schließlich
der nationale Schrein der russischen Großfürsten Zudem waren die neuen Gebäude alle mit
den alten Gebäuden verbunden, so daß man von einer baulich ausgedrückten Kontinuität
sprechen kann 23
Der Ausbau des Moskauer Kreml* erinnert stark an das oben beschriebene Bauprogramm
der Kiever Zeit Die Mauern stellen die Mauern des himmlischen Jerusalem dar, die beiden
Kirchen sind Abbilder des himmlischen Jerusalem, wobei der Archangel'skij sobor als intratextuelles Abbild des Uspenskij sobor dient Der Bau der Zwölf-Apostel-Kirche des Patriarchenpalastes 1653-1656 kann als nachträgliche Hinzufügung der "vergessenen" Torkirche
gesehen werden und so als Korrektur des Bildes durch den Patriarchen Nikon 24 Um 1500 ist
der Ausbau des Moskauer Kreml' zum himmlischen Jerusalem abgeschlossen In ihm findet
20
21
22
23
24
Raba, The Moscow Kremlin. S. 40
Raba, The Moscow Kremlin, S. 35
Raba, The Moscow Kremlin, S. 35
Raba. The Moscow Kremlin, S. 40
Zur Baugeschichte der Zwölf-Apostel-Kirche und des Fairiarchenpalastes vgl. Faensen/Ivanov,
Allrussische Baukunst, S. 463Г Zu Nikons Zeichenverständnis in diesem Zusammenhang s.u.
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sich die russische Staatsverwaltung wieder, im Hofzeremoniell wird die Bedeutung des Großfürsten verdeutlicht. Im ArchcuigeTskij sobor wird schließlich au f die Heiligkeit der Dynastie
hingewiesen, indem die Wandmalereien um die Sarkophage der Fürsten die heiligen Fürsten
der Rjurikidendynastie darstellen. In der hierarchischen Ordnung der Fürstensarkophage kann
man außerdem den Versuch einer Darstellung der irdischen Hierarchie als Abbild der himmlisehen erkennen, die durch die Abbilder der Heiligen ergänzt und erläutert wird Verkürzt
gesagt, diente der Ausbau des Kreml' der Heiligung des Herrschers, sollte er doch auch seinen
Platz unter den Fürsten im Archangel'sktj sobor einnehmen
Raba gibt zw ar an, daß der Bau nach einem Plan ausgeflihrt wurde, schließt jedoch seine
Untersuchung damit, daß der Plan noch keinen Inhalt h a tte 25 Implizit meint er, daß erst das
Ideologem von Moskau als dem ,,dritten Rom" diese Lücke sc h lo ß 26 Wenn man davon
absieht, daß es absurd ist, daß in Moskau eine Form gebaut wurde, deren Inhalt erst knapp 50
Jahre später dazu erfunden worden sein soll, gilt es außerdem gilt in der Forschung heute als
erwiesen, daß "Moskau - 3. Rom ״keine Herrschaftsideologie des Moskauer Reiches im 16
und 17. Jahrhundert repräsentiert Diese Annahme beruhte, wie Andreas Ebbinghaus jüngst
noch einmal zusamm engefaßt hat, au f Mißinterpretationen der Texte des Starec Filofej So
ging es Filofej im B rief an Vasilij III. nicht darum, eine Theorie zu formulieren,27 sondern
darum, den Zaren davon abzuhalten, den Kirchen- und Klostergrund in Pskov zu säkularisieren, wie es vorher schon in Novgorod geschehen war Im B rief an M isjur'-M unechin28 wurde
der hochmütige Herrscher, der politische Entscheidungen aufgrund von Astrologie fällt, kritisiert. In diesem Zusammenhang bringt Filofej das Beispiel von den gefallenen Reichen der
25
26
27
28
"Connections made herc between historical fact and artistic and architectural features attest, perhaps in a
rather surprising way, to the high degree of consciousness o f the forms and features of a modem state that
existed in Russia as и entered the European modem age. (...) While it is, therefore, possible and appropriate
to speak of the conscious shaping of the framework of the Russian state at the dawn of the modem age. no
possibility o f filling in the framework with concrete shaped content existed at that lim e" Raba. The
Moscow Kremlin. S. 48..
Raba. The Moscow Kremlin. S. 7. Im Gegensatz hier/и kommt er später zu dem Schuß, daß die Idee von
Moskau als dem neuen Israel im 16. Jahrhundert vor der des "dritten Rom" stand Raba, Moscow ־the
Third Rome or the New Jerusalem?, S. 307.
Als Theorie wurde Moskau als Drittes Rom erst im 20. Jahrhundert formuliert. Daß es sich hartnäckig als
eine Legende in der Literatur hält, liegt wahrscheinlich an seiner Handlichkeit Rowland. Moscow - The
Third Rome or the New Israel, schreibt (S. 591), neben Ivan dem Schrecklichcn gehöre Moskau als Drittes
Rom zu den einzigen Ideen, die die Öffentlichkeit über Rußland kennt. In diesem Zusammenhang wird die
Sowjetunion als wahrhafter Erbe des Staates Ivans des "Schrecklichen" (s. dazu weiter unten, Kap. 6.4.2)
gesehen und eine Kongruenz zwischen Drittem Rom und Dritter Internationale unterstellt. Pointiert kommt
dies in einer Wertung Dölgers von 1937 zum Ausdruck: "Auch Moskau als drittes Rom ist versunken und
heute bemühen sich von dort aus dunkle Mächte. eine Weltherrschaft ihrer ganz anders gearteten Gedanken
zur Vorbereitung neuer Weltmachtansprilche über die Erde zu verbreiten." Dölger. Rom in der
Gedankenwelt der Byzantiner, S. 114.
Dieses Sendschreiben ist nach Gol'dbcrg. Tri "poslanija Filofeja", s. 91 f. das einzige echte Sendschreiben,
während die anderen beiden als Fälschungen zu qualifizieren sind. S. auch Scheidcggcr, Endzeit, S. 118־
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Griechen und der Römer, die Gott fiir ihren Abfall vom Glauben bestraft hat Es geht ihm also
nicht darum, Moskau als das dritte Rom zu legitimieren, sondern das letzte christliche Reich
zu retten, um einen letztlich eschatologischen Gedanken 29
Von einem Urbild können beliebig viele Abbilder existieren, und jedes Abbild ist wesensähnlich mit dem Urbild Einem vierten, fünften oder hundertsten Rom stünde also nichts im
Wege, und in Petersburgs gibt es wesentliche Anklänge an R o m 30 Natürlich widersprechen
sich beide Konzepte nicht wirklich. Auch Byzanz war Abbild des himmlischen Jerusalem und
neues R o m 31 Es ist jedoch fraglich, ob den Moskovitern des 16. Jahrhunderts die Bedeutung
des antiken römischen Staates als Beherrscher der Welt als Konzept so nachahmenswert
erschien Der in der Formulierung ”neues Jerusalem” oder ”neues Israel” angelegte Zirkelschluß verweist dagegen au f den in der Offenbarung beschriebenen Endzeitpunkt der Welt, an
dem Anfang und Ende zusammenfallen. (Vgl Oflfb 1,8, 211,6, 22,13) Ein Abbild des siegreichen himmlischen Jerusalem und seines heiligen Volkes hat eine höhere ontologische
Qualität als ein Abbild des untergegangenen, heidnischen und weltlichen römischen Reiches,
dessen byzantinischer Nachfolger außerdem in den Augen der Russen 1438/39 mit der Fiorentiner Union vom wahren Glauben abgefallen w a r 32
Der bewußte Um- und Ausbau des Moskauer Kreml* zum himmlischen Jerusalem repräsentiert das Weltbild, das in der Rus' schon Kiever Zeit geprägt wurde. Der Herrscher der Rus'
wird zum Herrscher über das auserwählte Volk Gottes. Das M oskauer Bauprogramm ist
genauso planvoll wie da» Kiever, von der gleichen Intention erfüllt und durch das gleiche
Verfahren strukturiert
Die Änderung der Einstellung gerade kirchlicher Texte zu den Mongolen, während sich in
der Herrschaftsauffassung der Großfürsten nichts änderte, läßt sich exem plarisch an dem
Sendschreiben feststellen, das der Erzbischof von Rostov, Vassian Rylo, 1480 an Ivan III an
die Ugra schickte Das Geschehen an sich war mehr oder weniger ein normaler Akt der Steppendiplomatie, in dem sich zwei Heere an den Ufern eines Flusses gegenüberstehen und unter
vielen Täuschungsmanövern neue Verträge aushandeln Im Posianie na Ugru wird dieses
diplomatische Ereignis in eine große Konfrontation zwischen muslimischer Unterdrückung
29
30
31
32
Ebbinghaus, Reception and Ideology, S. 69ff, vgl. auch Rowland. Moscow - The Third Rome or the New
Israel, S. 591+613, Hellmann. Moskau und Byzanz, S. 343Í; Nitsche, "Nicht an die Griechen glaube
ich...", S. 94; Goldfrank. Who Put the Snakes on the Icon, S. 198; zur Geschichte der Rezeption der Rom•
Theorie Bushkovitch. The Formation of a National Consciousness, S. 36Iff. Ostrowski. Muscovy and the
Mongols, S. 228, weist daraufhin, daß in keinem der drei Schreiben Moskau als drittes Rom benannt wird,
sondern nur der Herrschaftsbereich des Fürsten oder Zaren.
Uspenskij, Semiotik der Gcschichtc, S. 116-123
Rowland, Moscow - Third Rome or New Israel?, S. 613
So auch Hellmann. Moskau und Byzanz, S. 34Iff.
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und moskovitischer Unabhängigkeit umgewandelt, die nur durch einen Sieg zugunsten der
M oskoviter unter dem Schutz Gottes gelöst werden kann. Nur durch die Intention, den Großfürsten eine W arnung vor Kooperation mit den Mongolen zukommen zu lassen, erklärt sich
außerdem, daß dieses Schreiben mit seinen offenen und kritischen Untertönen in die offizielle
Chronistik eingegangen i s t 33
Das Posianie na Ugru erscheint zuerst in der Ustjuger Chronik und der kurzen Kirilobelozersker Chronik und nur in der Chronistik des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit
den Ereignissen um 1480 34 Der terminus ante quem seines Entstehens ist 1481, das Todesjahr
Vassian Rylos 35 Die Autorschaft Vassian Rylos kann aufgrund der Genrebesonderheiten als
gesichert angesehen werden. Der Text beginnt und endet mit dem typischen Formular des
Bittschreibens an den Zaren ( čelobit'e)*6 und ist deshalb untypisch für einen Chronikeintrag
"Благовѣрном у
и христолю бивому, благородному и Богом
вѣнчаному.
Богом утвсрж сном у, въ благочестии всса вссленны а концих въсиавш сму,
наипаче ж е во царих прссвѣтлѣйш сму и преславному государю великому
кн язю
Ивану
Васильевичи)
всея
Руси,
богом олецъ
твой,
господине,
архиеп и скоп ъ Васьянт» ростовскый, благословляю и челом бью ." (З86)37
"Dem rechtgläubigen und christusliebcndcn, wohlgeborcncn und von Gott gekrönten, von Gott
gerechtfertigten, in Frömmigkeit über alle Enden des Erdkreises scheinenden, selbst unter den Zaren
hervorstrahlenden und gelobten Herren, dem großen Fürsten Ivan Vasil'evič der ganzen Rus', dein Pilger,
Нсгт, der Erzbischof Vasian von Rostov, segnet und schlägt mit dem K o p f
Dem Zaren wird zunächst die Hilfe Gottes zugesichert, der ihm helfen wird, wie er auch
David und Konstantin geholfen hat (386). Die nun folgende Passage über den Herrscher als
Gutem Hirten folgt dem Johannesevangelium (Jh. 10). Sie ist Ermahnung und Zusage
zugleich und dient außerdem der Rechtfertigung der Taten des Herrschers als gottgewollt
"Т окм о м уж айся и крепися, о духовный сыну, яко ж е добры й воинъ
Х ристов, по евангельском у великому господню словсси: ׳Ты сси пастырь
добры й, душ у свою полагает за овца. А наим никъ нѣсть, иж е пасты рь, ему ж е
не суть овца своя; видит волка грядуш а, и оставляет обца, и бѣгаеть; и волкъ
33
34
35
36
37
Ostrowski, Muscovy and the Mongols, S. 166
L u rt, Vassian Rvlo, S. 124; vgl. PSRL 4. S 517-423; PSRL 6, S. 225-230; PSRL 8. S 207-213; PSRL 20.
S. 340-344; PSRL 26, 266*273.
Lur*e, Vassian Rylo, S. 125
Vgl. zur Form von Bittschriften Scheidegger, Endzcit. S. III.
Der Text folgt Posianie na Ugni Vassiana Rylo, in: Biblioteka literatury Drevnej nisi, tom 7: Vtoraja
poiovina XV veka. Sankt-Pcteiburg 1999, Seiten 386-399; die Seitenangaben stehen in Klammem im Text
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расхитит и распудить. А наимник ж е беж ить, яко н аи м н икъ есть, и не радит о
о вц ах ׳. Ты ж е убо, государю, духовный сыну, не яко наим ник, но яко
истинны й пастырь, подщ ися избавити врученно тсбѣ от Бога словесное ти
стадо духовных овець от грядущ аго волка. А Господь Б о гь укрепить тя и
п о м о ж ет ти, и все твое христолю бивое воинство. Взем Бога на пом ощ ь и
пречистую его матерь, и святых его, и святительское благословение, и
всенародная молитва, крѣпко вооружився силою честнаго креста, исходиш и
противу оному окаанном у мыслсному волку, еж е глаголю
страш ливом у
А хмату, хотя изхитити из уст его словесное стадо Христовых овець. 388) )״
"Fasse nur Mut und stärke dich, 0 geistlicher Sohn, wie ein guter Krieger Christi, nach dem großen
evangelischen Herrenwort: ,Du bist der gute Hirte, der seine Seele für die Schafe gibt. Der Tagelöhner
aber ist. wenn er Hirte ist. nicht besorgt um seine Schafe Er sieht den Wolf nahen und verläßt die Schafe
und flieht; und der Wolf OUlt unter sic und reißt sie. Der Tagelöhner aber flieht und kümmert sich nicht
um die Schafe * Du aber, Herrscher, geistlicher Sohn, bist nicht wie der Tagelöhner, sondern wie ein
wirklicher Hirte, du sorgst dich darum, die dir von Gott gegebene menschliche Herde der geistlichen
Scliafe vor dem cinfallenden Wolf zu retten. Und der Herr Gott stärkt dich und hilft dir und allen deinen
christuslicbendcn Kriegern. Wir rufen Gott um Hilfe und seine reine Mutter und seine Heiligen und den
Segen der Heiligen und das Gebet des ganzen Volkes, daß du stark bewaffnet wirst mit der Kraft des
reinen Kreuzes und auszichst gegen den einen verfluchten gedanklichen Wolf, wie ich den schrecklichen
Achmed nenne, damit du aus seinen Fängen die wirkliche Herde der Christlichen Schafe errettest.'׳
Das Bild von der Herrschaft in der Rus' ist das von Gottes Volk, das von dem Herrscher als
dem Hirten, der im neutestamentarischen Prätext als Christus gedeutet wird, vor dem W olf in
Gestalt der Ungläubigen geschützt wird. Dem Zaren wird nun unterstellt, daß er sich vor
seiner Hirtenpflicht drückt.
"П риидс ж е убо въ слухы наш я, яко преж нии твои развратници не
престаю т, ш епчущ е
въ ухо твое льстивая словеса, и совсщ аю т ти
не
противитися сопостатом, но отступити и предати на расхищ ение волком
словесное стадо Христовых овець. [ .] И что убо совѣщ аю т ти льстивии сии
ж е лж еим енитии, м нящ сся быти христиане, но токм о еж е повергш е щ иты
своя, ним ала съпротивлы иеся окаанны м сим сы роядцом , предав христианство
и свое отечьство, яко бѣгуном скы татися по иным странам.
П ом ы сли убо, о велеумный государю, от каковы славы
и в каково
бсзчестис сводят твое величество! И толиким тм ам народа погы бш им и
церквам
Бож ьим
разорсны м
и осквернсным, и кто кам еносердечен
не
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въсплачется о сещ погыбсли! Убойся ж е и ты, о пастырю , не от твоих ли рук
тѣх кровь взы щ ет погубив вручсное ти от Бога стадо." (388-390)
"Es ist uns jcdocli zu Ohren bekommen, daß deine früheren Ratgeber nicht aufhören. dir Lügenworte
ins Ohr zu flüstern und dir zu raten, dich nicht dem Gegenspieler zu stellen, sondern aufzugeben und die
menschliche Herde der christlichen Schafc dem Einfall des Wolfes zu überlassen. (...) Nur diese Betniger
und Lügner, die keine Christen sein können, sondern jetzt ihr wahres Gesicht zeigen, beraten dich. Wenn
du dich aber diesem verfluchten Rohflcischesscr nicht entgegenstellsL betrügst du das Christentum und
dein Vaterland, wirst du dich wie ein Flüchtling in fremden Ländern verstecken müssen.
Bedenke aber, о kluger Herrscher, von welchem Ruhm und von welcher Ehre sie deine Hoheit
femhalten! Und wie viele Zchntausendc aus dem Volk sind gestorben und Kirchen Gottes sind zerstört
und entweiht worden, und wer ist solchen versteinerten Herzens, daß er nicht weint über ihren Untergang!
Erschreckst nicht auch du dich. 0 Hirte, darüber, daß von deinen Händen ihr Blut vergossen werden kann
und du die dir von Gott gegebene Herde sterben lassen könntcsT
Schließlich wird der Zar aufgefordert, gegen die üblichen Gepflogenheiten die Schlacht
gegen Achmed zu eröffnen. Die Argumente, die Vassian dazu benutzt, sind nicht mehr typologisch oder metaphorisch, sondern genealogisch
"И зыди убо скоро, въ срѣтенис ему изыди, взем Бога на пом ощ ь и
пречистую Богородицю, наш его христианства пом онш ицю и заступницу, и
всѣх святы хъ его. И поревнуй преже бывшим прародителем твоим , великим
князем , не точию обороняху Русскую землю от поганых, но и ины а страны
приимаху под себе, еж е глаголю Игоря, и Святослава, и Владимсра, иж е на
греческих царих дань имали, потом ж е и Владимира М анамаха, како и
колико бися къ окаанны ми половци за Русскую землю , и инеи м нози иж е
паче нас вѣси." (390-392)
"Ziehe aber schnell hinaus, um sie zu treffen ziehe aus. rufe Gott an um Hilfe und seine reine
Gottesmutter, die Helferin unseres Christentums und Fürsprechcrin, und alle seine Heiligen. Und folge
nach deinen früheren Ahnen, den großen Fürsten, die nicht nur das russische Land vor den Heiden
bewahrt haben, sondern sich auch andere Länder untertan gemacht haben, die ich da nenne: Igor und
Svjatoslav und Vladimir, die sogar von den griechischen Zaren Tribut bekamen, dann auch noch Vladimir
Monomach. wie und wie oft er sich schug mit den verfluchten Polovcem um das russische Land, und
noch viele andere, die du besser als wir kennst "
Die genealogische Abfolge geht nicht auf Rjurik zurück, sondern wie im Slovo о zakone /
hlagodati auf Igor’, Svjatoslav und schließlich Vladimir Aus dieser Reihenfolge kann man
darauf schließen, daß der Text sich hier auf das Slovo bezieht, während die Allusion au f
Johannes 10 noch christliches Allgemeingut ist und nicht unbedingt aus der Molitva stammen
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muß. deren Grundtenor sie jedoch aufnimmt. Die Abfolge Igor1, Svjatoslav, Vladimir ist flir
das Siovo verbürgt, und sie werden als Eroberer genannt, die sogar von den griechischen
Zaren Tribut verlangt haben Schließlich wird noch Dmitrij Donskoj genannt als Beispiel flir
einen Sieger über die Mongolen (392)
Die Aufgabe, die der Text allerdings zu lösen hat, ist die eschatologische Umdeutung der
Mongolenherrschaft von der Strafe Gottes "um unserer Sünden willen" in das "Tatarenjoch",
das mit G ottes Hilfe abgeworfen werden wird. Dies geschieht zunächst durch den Verweis
darauf, daß Gott denen, die ihre Sünden bekennen, vergibt, danach mit dem Verweis auf die
Funktion des russischen Volkes als heiliges Volk und Abbild Israels, die bereits im Gleichnis
vom Guten Hirten angeklungen ist
"Я ко ж е благоразумный разбойник на крестѣ не в долзѣ времени, но
сдинѣм
словом
спасенъ
бысть,
истинно,
всѣм
ссрдцсмъ
нозна
свое
согрѣш снис к Творцу бозиий: 'П ом яни мя, Господи, егда приидеш и во
царствии сии'. Но милостивый и щедрый Господь не токм о согрѣш сниа
прости ему, но и раю наслѣдника сотвори его. Сицсвому поревнуй покаанию ,
истинное 60 покаяние * прсстати от грѣха. Аще убо сице покаемся, и тако ж е
помилует ны милосердый Господь, и не токмо свободит и избавит, яко ж е
дрсвлс израильских людей от лютаго и гордаго ф араона, нас же, новаго
И зраиля, христианских людей, от сего новаго фараона, поганого И змаилова
сына А хмета, но нам и их поработит." (394-396)
"Wie aber der kluge Verbrecher am Kreuz nicht in langer Zeit sondern mit einem Wort gerettet
wurde, weit er wirklich, mit ganzem Herzen seine Sünden bekannte und zum Schöpfer aufscluic ‘Denk
an mich, Herr, wenn du in dein Reich einziehen wirst.' Aber der barmherzige und großzügige Herr vergab
ihm nicht nur die Sünden, sondern machte ihn auch /uni Erben des Paradieses Jenem eifere nach in der
Reue, die wahre Reue aber ist, der Sünde femzubleiben. Wcn.1 wir aber so bereuen, und uns der
bermhcr/igc H cn vergibt, und nicht nur befreit und errettet, wie einst die Israeliten vor dem schrecklichen
und bösen Pharao, er jetzt uns, das neue Israel, die Christen, von diesem neuen Pharao, dem verfluchten
Ismaelssoīm Achmct, sondern übergibt sie un$.N
Dies ist tatsächlich die zentrale Stelle der Argumentation, die auch in kurzen Zusammenfassungen zum *stojanie na
in denen der ganze Brief nicht zitiert wird, noch angeführt
38
wird. Gott errettet sein Volk in der Rus* nach dem typos Israels, das er aus Ägypten geführt
hat. Das Volk der Rus' ist dementsprechend das Volk des Neuen Israel. Es folgen Beispiele
38
Lw*e. Novonajdcnnvj rasskaz, S. 292
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des Alten Bundes, um zu zeigen, daß Gott schon einmal sein Volk befreit hat, nachdem es
bereut hatte Seine Strafe der Fremdherrschaft ist also nicht ewig.
"Н ы нѣ ж е той ж е Господь, ащ е покаемся вседуш свно престати от грѣха и
возставит нам Господь тебе, государя наш его, яко ж е дрѣвле М оисиа и Исуса
и инхы , свободивш их И зраиля. Тебе ж е подасть нам Господь свободителя
новому И зраилю , христоим сниты м лю дсм, от сего окааннаго, хвалящ егося на
ны, новаго ф араона, поганаго А хмата." (396)
"Heute aber gibt uns der glcichc Gott, da wir mit ganzer Seele bereuen und uns von der Sünde
lossagen, gibt uns Gott dich, unseren Herrscher, wie er damals Moses und Jesus und andere gegeben hat.
um Israel zu befreien. Dich aber hat uns Gott als Befreier dem neuen Israel gegeben, den nach Christus
benannten Menschen, von diesem verfluchten, bei uns eingefallenen neuen Pharao, dem Heiden
Achmed."
Der Vergleich Achmeds mit dem Pharao verweist nicht mehr a u f die Schuld, sondern auf
Gottes Verheißung, der sein Volk aus Ägypten in das Gelobte Land fuhren wird (Ex 9) Dies
wird - wiederum wie im Slovo о zakone i blagodati - an Jesaja 45 festgemacht, und zwar mit
den Versen 1-2:
״Т ако глаголет Господь: ׳A 3 воздвигох тя, царя правды, призвав, призвах тя
правдою и приях тя за руку десную, и укрѣпих тя, да послуш аю т тсбѣ язы ци.
И крѣпость царем разрушу, отворю ти двери и гради не затворятся. A 3 пред
тобою пойду и горы поравнаю , и двери мѣдныа сокруш у, и затворы ж слѣзны а
сл о м аю '. Се твердое, и честное, и крѣпкос царство дасть Господь Б о гь в руцѣ
твои. Богом утверж лены й государю, и сы новом ъ сы новъ твоих в род и род в
вѢки . 3 9 6 - 3 9 8 ) )״
"So spricht der H err 'Ich führe dich. Zar der Wahrheit, den ich gerufen habe, ich habe dich in
Wahrheit gemfen und dich an der rechten Hand genommen und dich gestärkt, damit dir die Heiden
gehorchen Und die Festung zerstöre ich den Zaren, ich schließe die Türen auf. und die Städte bleiben
nicht verschlossen. Ich gehe vor dir her und ebne die Berge ein, und die bronzenen Tore zerstöre ich, und
eisernen Riegel zerbreche ich.' Dieses starke und reine und feste Königreich gibt der Herr Gott in deine
Hände, von Gott gerechtfertigter Herrscher, und den Söhnen deiner Söhne von Geschlecht zu Geschlecht
in Ewigkeit."
Im Vcrglcich dazu Luther: "So spricht der Herr zu seinem Gesalbten, dem Kores, den ich bei seiner
rechten Hand ergreife, daß ich die Heiden vor ihm unterwerfe, und den Königen das Schwert abgürte, auf
daß vor ihm die Türen geöffnet werden und die Tore nicht verschlossen bleiben: Ich will vor dir her
gehen und die Höcker eben machen und die ehemen Riegel zerbrechen "
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Vassian versichert den Zaren noch einmal der Hilfe der heiligen Metropoliten Petr, Aleksij,
lona und Leontios und der heiligen Klostergründer Sergij, Varlaam und Kirill und aller Heiligen, rühmt schon einmal seinen Sieg und endet mit einem Segenswort (398)
Das Posianie na Ugru spielt einen alltäglichen diplomatischen Zwischenfall so hoch, daß
er in späterer Zeit als Beendigung der Mongolenherrschaft angesehen werden konnte. Es tut
dies im W esentlichen durch die Verdammung der Mongolen als Ungläubige und durch die
Postulierung des Volkes der Rus' als Gottes auserwählten Volk und Abbild Israels Diese
Formulierungen könnten sinngemäß ebenso wie die Benutzung des Gleichnisses vom Guten
Hirten aus der Molitva Ilarions genommen worden sein Das fast wörtliche Zitat der Ahnenreihe von Igor*, Svjatoslav und Vladimir läßt jedoch ebenso wie die Verwendung des Zitates
aus Jesaja 45 im Hinweis auf den von Gott gesandten Retter den Schluß zu, daß Vassian Rylo
den gesamten Text des Slovo bekannt gewesen ist, wenngleich er ihn wohl nicht als schriftliche Vorlage benutzt hat Seine Ausdeutung des russischen Volkes als Herde des Guten Hirten
und Abbild Israels geht bei weitem über die gängige Ausdeutung der eucharistischen Gemeinschafi als Volk Gottes hinaus und korrespondiert mit meiner Analyse der urbild-abbildlichen
Strukturen des Slovo Es weist somit au f eine gedankliche Kontinuität von der Kiever in die
Moskoviter Zeit hin, die sich außerdem in der Auffassung des Herrschers als Gesandter Gottes, Abbild Christi und Gesandter Gottes festmachen lä ß t 39 Als solchen mußte den Herrschem in als Bittschriften getarnten Mahnschreiben von Seiten der Kirche der Weg gewiesen
werden, auf dem sie das Volk zum Heil zu fuhren hatten
Die oben geschilderten Auffassungen passen wiederum zu Nancy Kollmans Ergebnissen
über die rituellen Pilgerfahrten und Prozessionen der Moskauer Herrscher, die unter Ivan III.
aufkamen und auch von Ivan IV unternommen wurden Die Pilgerfahrten hatten nicht die
Funktion der persönlichen geistigen Reinigung, sondern wurden bewußt unternommen, um
au f den heiligen Status des russischen Landes hinzuweisen In Ritualen, Prozessionen und a u f
Pilgerfahrten wurde die moskovitische Ideologie zum Ausdruck gebracht .40
Die jährlichen Pilgerfahrten von der Hauptstadt zu den Großklöstem stellten ein rituelles
Abschreiten des Landes dar, in deren Verlauf die Rus' zum heiligen Land wird und ihr Herrscher zum Hirten des heiligen V olkes 41 Dieser Prozeß, der von Kollman in der unten abgebildeten Karte verdeutlicht wird, zeigt, daß der vom Zentrum Moskau nach außen führende,
39
40
41
Es sei denn, man weicht von der Datierung des Slovo auf 1049 ab und durchbricht den wissenschaftlichen
Konsens in der Richtung, daß man es analog /иг Datierung der ersten vollständigen Handschrift auf das 14.
Jahrhundert datiert. Das möchte ich hier jedoch nicht vorschlagen, da ich die Argumente zur Datierung des
Slovo, u.a. die Nennung der Fürsten Irina, die 1051 gestorben ist, einleuchtend finde
Kollman. Pilgrimage. Procession and Symbolic Space. S. 178
Kollman, Pilgrimage, Procession and Symbolic Space. S. 178
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zentrifugale Prozeß, der mit der Klostergründung einherging, von den Moskauer Herrschern
in diesen Pilgerfahrten anerkannt und nachvollzogen wurde und daß außerdem die Zentralisierung des M oskauer Staates nicht so weit fortgeschritten war, wie zu Sowjetzeiten ange•
nommen wurde.
Rußland im 16. Jahrhundert. Städte. Klöster und Pilgerwege, nach Kollmann. Pilgrimage. Procession and
Symbolic Spacc. S. 169
Nicht nur heiligt der Herrscher durch die rituellen Pilgerfahrten das Land, in Prozessionen
und Hofiritualen wird außerdem die soziale Hierarchie geheiligt, indem au f ihre Abbildlichkeit
hingewiesen wird. Pilgerfahrten, Rituale und Prozessionen trugen dazu bei, das H errschafts־
bild sowohl innerhalb der Elite als auch außerhalb im Volke weiter zu festigen Das Bild vom
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M oskauer Herrscher, der als Abbild Christi das heilige Volk als guter Hirte regiert, wurde so
ins Land hinausgetragen und zem entiert 42
Unter Ivan IV. kam im Anschluß an den Sieg über die Mongolen des Chanats von Kazan'
(1552) ein neues Ikonensujet auf, das Thema der ״Gesegnet sei das Heer des himmlischen
Herrschers" oder “Streitbare Kirche” Das Sujet beruht au f zwei Bibelstellen, Dan 12 und
Offb. 19. In Daniels Vision fuhrt der Erzengel Michael in den letzten Tagen die himmlischen
Heerscharen gegen einen ungenannten König im Norden. In der Offenbarung ist es Christus
selbst, der die Armee der Märtyrer gegen die Kräfte des Bösen fuhrt :43
( 1 1 ) K ai clöov
tó v
oùpavòv fļvec1)y^vov, x a i tôoù
ïju io ç
X cuxòç
xai ô
хаѲтіцсѵод èv’aìrròv хаЛоицсѵод nioròç xai àXr!0ivóç, xai èv ôixaioaúvp xpívci
x a i лоХсдеТ. (14) Kai та отратсицата èv тф оираѵф f!xoXoú0c1 аѵтф è<p* Тллоі^
Xcuxolç, èvôeôujxèvoi ßuooivov teuxòv xaØapåv. (16) xai
tm
tò v
èxci
èni
tò
liiámov xai
i^pòv aùrou бѵо^іа уеурацц^ѵоѵ: BaaiAcuç ßaaiXiov x a i xúpioç xupUov.
(Оfib 19)
*4 11) Und ich sali den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß Treu
und Wahrhaftig, und er richtet und streitet mit Gerechtigkeit. (14) Und ihm folgte nach das Heer im
Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer und reiner Leinwand. (16) Und liat einen Namen geschrieben auf seinem Kleid und auf seiner Hüflc also: Ein König aller Könige und ein Негт aller Herren.N
Das Sujet der Ikonen stellt Ivan IV dar, der dem Erzengel Michael folgt. Beide fuhren das
siegreiche himmlische Heer aus Kazan'/Sodom/Jericho zurück nach Moskau, das als himmlisches Jerusalem dargestellt ist .44 In ihm befinden sich die Gottesmutter mit dem Christuskind,
eine allegorische Darstellung des himmlischen Jerusalem als Schoß der G ottesm utter Vom
himmlischen Jerusalem her bringen Engel Märtyrerkronen zum Heer Das Heer kommt in drei
Reihen geritten, in der typischen Form, die das Moskoviter Heer im 16. Jahrhundert einnahm 45 In der mittleren Reihe sind Konstantin der Große, Vladimir der Heilige und Boris und
42
43
44
45
Kollman, Pilgrimage. Procession and Symbolic Space. S. 179+181. Der Textzusammenhang hier kann
außerdem die Frage bejahen, die Kollman am Ende ihrer Analyse stellt, nämlich ob die rituellen Reisen
tatsächlich als Heiligung des Raumes verstanden wurden. Im Kontext dieser Arbeit besteht daran kein
Zweifel.
Rowland. Biblical Military Imagen, S. 186
Rowland, Biblical Military Imageiy, S. 187, vgl. Flier. Breaking the Code. S. 239.
Rowland. Biblical Military Imagen, S. 187
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Gleb abgebildet Dies korrespondiert mit der genealogischen Ableitung, die Ivan IV im ersten B rief an Kurbskij v om im m t 46
Das M oskauer Heer wird als das himmlische Heer dargestellt und zum Heer Israels bzw
zu dem erwählten Volk Gottes in typologische Beziehung gesetzt 47 Das reale Ereignis wird
zum siegreichen Endkam pf des Christentums gegen die Ungläubigen, das den Ur- und Endzustand, symbolisiert im himmlischen Jerusalem, wieder herstellt
Der Herrscher wird Abbild
des von G ott auserwählten Heerführers des alten Testamentes, der sein Heer ausschickt, um
sein Volk zu verteidigen, wie dies schon fiir Aleksandr Nevskij der Fall w a r 49
Ein w eiteres Zeichen dafür, daß hier Ivan IV. als himmlischer Heerführer dargestellt werden soll, liegt in dem Verweis auf den Text der Offenbarung, "König der Könige" Das Gebet
"König der Könige" als Zitat aus Oflfb 17,4 und 19,16 war das zentrale Gebet während der
Krönungszeremonie Ivans IV. zum Zaren, der dadurch zur Wiederkunft Christi und den
himmlischen Heerscharen in Beziehung gesetzt wurde Der "König der Könige" verband die
Zeit des Alten Testamentes, die Moskauer Gegenwart und das Ende der Zeiten der Offenbarung typologisch miteinander Christus als Anführer der himmlischen Heerscharen war präfiguriert von David und in der Gegenwart repräsentiert durch den Moskauer Zaren 50
Die Ikone ist sehr groß, 144x396 cm, und ein Einzelstück, das zunächst im Uspenskij
sobor aufgestellt wurde und zu einem nicht bekannten Zeitpunkt im Kreml’ verwahrt wurde 51
Antonova macht Sujetähnlichkeiten zu anderen zeitgenössisschen Ikonen fest, ohne daß das
gesam te Sujet noch einmal wiederholt worden wäre 52 Die Assoziation des M oskauer Zaren
mit dem Anführer der himmlischen Heerscharen und damit der Hinweis auf seine Abbildlichkeit von Christus wird auch in der Repräsentation des Zaren und seines Hofes bei zwei
Ritualen der orthodoxen Kirche, der W asserweihe und der Palmsonntagsprozession, deutlich
Das hervorstechendste Merkmal dieser beiden Rituale ist, daß der Zar an ihnen aktiv teil
46
47
48
49
50
51
52
Zur unterschiedlichen Identifizierung der dargcstclltcn Heiligen vgl. Rowland. Biblical Military Imagery,
S. 187Г
Rowland. Biblical Military Imagery, S. 188
Vgl. hierzu die Argumentation von Rowland. Biblical Military Imagery, S. 189: "The use that Muscovites
made of these images depended on what we might call a typological sense o f time, a view that may seem
alien to us but would have been perfectly natural to anyone reared in an Orthodox liturgical culture. The
same cosmic event - the struggle of God's forces against the forces o f evil, surely one of the major
preoccupations of the Muscovite historical imagination - was imagined as occurring many times: in the
Old Testament, in Byzantium and Kiev, in the sixteenth-century ,present.* and at the Apocalypse. One
version of this struggle was understood as implying the others Given this typological sense o f time, a
military serviceman fighting in Kazan' or Livonia could easily imagine himself as pari of a cosmic struggle
lasting from the Old Testament to the Apocalypse M
Rowland. Biblical Military Imagery, S. 191
Rowland. Biblical Military Imagery, S. 190
Antonova/Mneva. Katalog drevnerusskoj živopisi. t. 2. S. 130
Antonova/Mncva. Katalog drevnerusskoj ?.ivopisi. I. 2, S. I30ÍT
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nahm. Ein weiteres Zeichen fur ihre Wichtigkeit als Darstellung der M oskauer Herrschaft ist,
daß die ausländischen Gesandten zu diesen Ritualen eingeladen wurden, weshalb überhaupt
eine Beschreibung existiert .53 Der Stratordienst des Zaren bei der Palmsonntagsprozession
wird gemeinhin als ein Akt der Unterordnung des Staates unter die Kirche verstanden .54
Michael Flier hat kürzlich nachgewiesen, daß er als eine Art podvig , ein topos der Demut des
Zaren verstanden werden kann und die Synthese von Staat und Kirche darstellt .55
Die Prozession ist Teil der Liturgie am Palmsonntag Metropolit und Zar verlassen den
Uspenskij sobor, ziehen in einer Prozession über den Kathedralplatz des Kreml' oder den
Roten Platz, dann wieder in den Uspenskij sobor und beenden dort den G ottesdienst 56
Während der Prozession reitet der Metropolit auf einem als Esel maskierten Pferd in Imitation
Christi, der in Jerusalem einzieht. A uf Bäumen sitzen Knaben und singen Hosianna, andere
Knaben werfen Zweige und Kleidung auf den Weg zum Empfang des Herrn in der heiligen
Stadt Das Sujet der Prozession ist der orthodoxen Palmsonntagsikone entnommen, die wiederum a u f dem apokryphen Nikodemusevangelium beruht Die Prozession stellt ein tableau
vivre57 der Ikone dar und auch wieder nicht. Das als Esel maskierte Pferd, das mit Sicherheit
ein Schimmel war, weist au f das weiße Pferd Christi bei seiner zweiten W iederkunft hin. So
schließen sich Anfangs- und Endpunkt der Heilsgeschichte in dieser Prozession.
Die einzige nicht aus dem Sujet der Palmsonntagsikone stammende Handlung ist die des
Zaren, der das Pferd des Metropoliten/Christi am Zügel fuhrt Da der Zar au f der Erde steht
und der M etropolit oben au f dem Pferd sitzt, wurde diese Handlung von den ausländischen
Beobachtern, die sie schriftlich und bildlich überlieferten, als Unterordnung des Zaren, der
den Staat symbolisiert, unter die Kirche, die der Metropolit symbolisiert, verstanden 58 Flier
weist dagegen nach, daß es sich bei der Handlung des Zaren im moskovitischen Verständnis
um einen podvig handelt und daß der Zar hier als Abbild Christi handelte, der sich selbst
erniedrigte, indem er die Taufe von Johannes entgegennahm (Mt. 3,13 ־I7)59 und indem er in
Jerusalem au f einem Esel einzog (Mt. 21,1 60,(9 ־anstatt auf einem Pferd 61 Mit dieser Deutung
53
54
55
56
57
58
59
60
61
Flier, Breaking the Code. S. 213
Bushkovitch, The Epipliany Ceremony, S. 3; vgl. Ostrogorsky, Georg: Zum Stratordienst des Herrschers in
der byzantinisch-slavischen Welt, in: Byzanz und die Welt der Slaven, Darmstadt 1974, S. 101-121,
Crummcy, Robert O. Court Spectacles in Seventeenth-Century Russia. Illusion and Reality', in: Waugh,
Daniel C. (Hrsg.): Essays in Honor of A. A. Zinun, Columbus. OH 1985, S. 130-158, hier: S. 134.
Flier, Breaking the Code, S. 229
Flier, Breaking the Code. S. 214ff.
Flier, Breaking the Code, S. 232ff.
Flier, Breaking the Code. S. 228
Vgl. Mk. 1,9-11; Lk. 3,21-22, Jh. 1.29-34
Vgl Mk. 11,1-10; Lk. 19,28-39; Jh. 12.2-19.
Flier, Breaking the Code. S. 230
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des Verhaltens des Zaren korrespondiert die Tatsache, daß der Zar, indem er das Pferd des
M etropoliten fuhrt, die Prozession anflihrt und an ihrer Spitze geht Er lenkt somit semiotisch
gesehen die Prozession Es handelt sich also auch nicht, wie Flier meint, um eine Unterordnung des Zaren unter Christus in Form des Metropoliten ,62 sondern um die Umkehrung des
Aktes der Erniedrigung, bzw die Versinnbildlichung der Christusabbildlichkeit des Herrschers, der die Prozession au f ihrem Weg fuhrt Der Weg, den die Prozession nimmt, weist
a u f die Abbildlichkeit des Landes vom himmlischen Jerusalem und damit daraufhin, daß der
Text der Prozession als Text der Offenbarung des Johannes und nicht nur als Text des Palmsonntagsvangeliums verstanden werden sollte Die Prozession zieht in Jerusalem ein, indem
sie zwei nur augenscheinlich gegensätzliche Bewegungen vollzieht Sie zieht aus der Kirche
in den Kreml' und aus dem Kreml' au f den Roten Platz hinaus in Jerusalem ein Dann kehrt
sie um und zieht in den Kreml' in das himmlische Jerusalem ein - evtl auch noch in a u f dem
Weg liegende Kirchen -, zieht in den Uspenskij sobor hinein und beendet die Liturgie Beide
Gänge, das Hinausgehen und das Hineingehen sind Abbilder des Einzugs in Jerusalem
Eine weitere Prozession zur Heiligung des Landes als himmlischem Jerusalem ist das
Epiphaniasritual der Wasserweihe Am 6 Januar zogen der Zar, der Metropolit und alle Mitglieder ihrer Höfe in einer Prozession in die Kirche, um die Liturgie zu halten, aus der Kirche
und dem Kreml' hinaus au f den zugefrorenen Fluß Hier wurde das W asser in einem eigens
vorbereiteten Eisloch, Iordan ׳genannt, gesegnet Der Metropolit besprengte den Zaren und
dann seine Adeligen mit dem Wasser, das Volk kam heran, trank das Wasser und brachte
Kranke, die geheilt werden sollten, es wurde g etau ft und schließlich tranken auch die Pferde
das Wasser. Am Ende des Rituals stand ein zeremonielles Mahl im Z arenpalast 63
Bushkovitch versucht aus den unterschiedlichen Plätzen, die Zar und Metropolit während
des Rituals einnahmen - teils saßen sie auf Thronen, teils standen sie -, unterschiedliche Entwicklungsstufen des Rituals und des Verhältnisses von Zar/Staat und M etropolit/Kirche zu
extrahieren 64 Eine solche Analyse macht jedoch den gleichen Fehler, den ausländische
Zeitgenossen bei der Beschreibung des Palmsonntagsrituals machten und begnügt sich mit der
Zuweisung von Hoch/Niedrig aufgrund von Unterschieden in der Art und Weise des Sitzens
oder des "Dienstes", den der Zar versieht Der fiir das westliche, schon säkulare Denken der
frühen Neuzeit charakteristische Gedanke eines Antagonismus zwischen Staat und K irche
triff jedoch, wie bereits bei der (Fehl-)Interpretation des "Stratordienstes" bei der Palm sonn
62
63
64
Flier, Breaking the Code. S. 230
Bushkovitch. The Epiphany Ceremony, S. I
Bushkovitch, The Epiphany Ceremony, bes. S. 8*10+15
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tagsprozession gezeigt wurde, nicht auf das orthodoxe Verständnis zu Da in jedem Fall,
unabhängig davon, ob er oder das jeweilige Kirchenoberhaupt au f dem Thron sitzt oder davor
steht, der Z ar mit W asser besprengt wird und er sich damit wiederum einem podvig nach dem
Urbild der Taufe Christi unterzieht, soll dieser Akt im folgenden genauer analysiert werden
Indem sich der Zar mit Wasser besprengen läßt, zeigt er sich als Abbild Christi vor seinem
V o lk 65
Der Fluß M oskva wird gesegnet und durch rituelle Anrufung zum Jordan, wie auch die
Bezeichnung des Loches im Eis als Iordan ' nahelegt Die Situation, die hier heraufbeschworen wird, ist extrem durchlässig flir die unmittelbare Nähe des Göttlichen, weil sich in ihr die
Himmel auftaten und Christus als Sohn Gottes offenbart wurde
x a ì tòoù г |ѵ с ф х Ѳ л о а ѵ
01 o ù p a v o t,
x a i elô ev t ò л ѵ с и ц а т о г ) Ѳ е о и x a T a ß a l v o v
(b ac i n c p t a r c p à v x a i è p x ó ^ c v o v f r i'a ir r ò v . x a ì tõ o u <pa)vfļ è x тсЬѵ o ù p a v û v
^у о ш а.
oírróç é a riv ò u ló ç \10v ò àycmriTÓç״£ѵ ф c u ô ó x i 10a (Mt 3 ,1 6 -1 7 )
"Und da Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser; und siche, da tat sich der Himmel
auf über ihm. Und er sah den Geist Gottes glcich als eine Taube herabfahren und über ihn kommen. Und
siche, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Des ist mein lieber Sohn, an wclchcin ich Wohlgefallen
habe."
Dies ist auch der Grund, aus dem sich das Volk die Heilung der Kranken verspricht: die
Heilszeit ist da Bushkovitch weist auf ähnliche Rituale der W asserweihe am Johannistag,
dem 24 Juni, hin, die in Verbindung mit den slavischen Fruchtbarkeitsmythen standen und
die auch die svjatk1 , die kamevalsähnlichen Tage um die Jahreswende, beendeten 66 Dies wird
auch der Grund sein, weshalb die Pferde des Zaren und mancherorts das Vieh das gesegnete
Wasser trinken sollten
Weshalb dieses Ritual ausgerechnet am Epiphaniastag stattfinden mußte, wird deutlich,
wenn man das gemeinsame Dritte von Epiphanias und Taufe sucht. Die Epiphanie Christi
findet im Gegensatz zur Intimität der Geburt in der Öffentlichkeit und vor den Völkern der
Welt, fiir die metonymisch die Weisen aus dem Morgenland stehen, statt (Mt. 2,1-12) Ebenso
findet die Taufe Christi vor dem Volk am Jordan statt In beiden Fällen wird der Retter den
Völkern präsentiert. Durch das Besprengen mit Wasser wird der Zar zum Abbild dieses Retters Das Evozieren der Taufe macht außerdem den Himmel durchlässig, so daß das Heilige
au f die Erde kommt Der Fluß Moskva wird zum Abbild des Flusses Jordan und zum heiligen
65
66
Das sieht auch Bushkovitch, The Epiphany Ceremony. S. 6.
Bushkovitch. The Epiphany Ceremony, S. I2ff
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Fluß, der durch das Heilige Land fließt Die Segnung des Flusses an einer Stelle des Landes
sorgt dafür, daß das gesegnete Wasser nach dem Emanationsprinzip durch das ganze Land
Hießt und es heiligt Somit wird der Fluß zum Abbild der Paradiesströme, die durch das
himmlische Jerusalem fließen
Interessant ist hier das Phänomen der Entgrenzung der heiligen Räume, die immer größer
werden: zuerst der Gottesdienst in der Kirche, dann die Segnung des fließenden Wassers in
dem Eisloch au f der Moskva, also noch innerhalb der Stadt Moskau, und schließlich das Herausfließen des Wassers, das das ganze Land an dem Augenblick der Heiligkeit teilnehmen
läßt Nicht-heiliges Land existiert in diesem Moment in der Rus' nicht
Die Teilnahme des Herrschers an den Ritualen in Moskau deutet auf seine exponierte
Stellung als das Abbild Christi in der R us\ als der Beherrscher des himmlischen Jerusalem
Gleichzeitig aber finden die beschriebenen Rituale in der ganzen Rus' zur selben Zeit statt und
tragen so auch ohne die Anwesenheit des christusabbildlichen Herrschers zur Verabbildlichung des Landes vom himmlischen Jerusalem bei 67
Der Herrscher ist in beiden Ritualen der erste unter seinen Adeligen und verkörpert damit
/в
die Spitze der Hierarchie,
die das Abbild der himmlischen Hierarchie darstellt Als solcher
ist er zwar der erste, gibt jedoch seine Heiligkeit nach dem Emanationsprinzip weiter
Die hier beschriebenen Rituale dienen der Heiligung des Landes und machen es zum
Abbild des himmlischen Jerusalem Nimmt der Herrscher an den Ritualen teil, so dienen sie
auch dazu, ihn als Abbild Christi darzustellerv Diese Darstellung ist nicht durch den Herrscher selbst motiviert, sondern er wird durch die Kirche so dargestellt
Die Herrscher der Kiever und der Moskoviter Rus' machten sich diese Darstellung zunutze
und verstärkten sie noch dadurch, daß sie Mitglieder ihrer Familien als Heilige verehren ließen 69 Sie ließen außerdem die anderen Fürsten an dieser Heiligung teilhaben, indem sie sich
alle als von Vladimir Svjatoslavič abstammend darstellte Die Grablege der Fürsten im
Archangel'skij sobor zeugt von dieser Familienauflfassung Die Fürsten liegen als Abbilder
der himmlischen Hierarchie in der Kathedrale und haben so Anteil am Heiligen im Sinne der
damascenischen б ц о к о ц а.
Die Moskoviter Herrscher ließen ihre Ahnen nicht offiziell kanonisieren, doch forderten
sie deren Verehrung durch die Herstellung von Ikonen und Viten. Lenhoff weist darauf hin.
67
68
69
Flier. Breaking the Code, S. 224ff, Bushkovitch. The Epiphany Ceremony, S. Uff., der diese Rituale
jcdoch marginalisiert weil der Zar nicht daran teilnimmt
Bushkovitch. The Epiphany Ceremony, S. 4
Die Stepennaja kniga nennt fast alle Fürsten “blatennyj", "selig" Darauf weist LcnhofT. Unofficial
Veneration, S. 393+414 hin
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daß die Gründe, die für die Verehrung von Dmitrij Donskoj oder Ivan I Kalita angegeben
werden, für eine Kanonisierung genaugenommen nicht ausreichten 70 Es reichte jedoch offensichtlich, daß sie Mitglieder der Herrscherdynastie und Abbilder Christi waren, auf eine
Kanonisierung in einem offiziellen Akt konnte man so auch verzichten
Die Abbildlichkeit der Herrscher von Christus wurde im 15 und 16 Jahrhundert von den
Herrschergattinnen zur Mythenbildung benutzt, um ihren eigenen Einfluß zu stärken und
ihren Söhnen die Thronfolge zu sichern Mit Sophia Palaiolog, der Gattin Ivans III. angefangen, stilisierten sie durch biblisch-typologische Anspielungen au f Tüchern, die sie vor allem
der Troickaja iavra spendeten, ihre Söhne als durch göttliche Intervention, bzw die Intervention des heiligen Sergij Radonežskij empfangen Die biblischen Urbilder, die die Herrschergattinnen benutzten, sind u a Abraham und Sara, Johannes mit Elisabeth und Zacharias.
Maria mit Anna und Joachim und schließlich die Gottesmutter se lb st 71 Von Sophia heißt es,
daß sie, um nach der Geburt mehrerer Töchter einen Sohn zu erbitten, allein und zu Fuß eine
Wallfahrt zum Kloster des heiligen Sergij unternahm A uf dem Weg erschien ihr der Heilige
und überreichte ihr einen Sohn. Sie setzte ihren Weg fort, betete vor dem Schrein des Heiligen und wurde schwanger Als sie nach Moskau zurückgekehrt war, gebar sie nach der entsprechenden Zeit einen Sohn 72 Die Anspielung auf die Empfängnis der Gottesmutter ist hier
überdeutlich Auch Ivan IV wurde durch die Interzession des heiligen Sergij empfangen, und
Ivans Frau Anastasija empfing ebenfalls auf diese W eise .73 Die Stilisierung der Zarinnen bzw
Frauen der Großfürsten zu Abbildern der Gottesmutter ist im Zusam m enhang mit der
Christusabbildlichkeit des Großfürsten besonderes signifikant und ist eine Konsequenz aus
ihr, die die Stellung der Frauen bei Hofe stärkte .74
Mit Urbild und Abbild übernimmt die Moskoviter Rus' das Verfahren zur Legitimation der
Herrschaft der Großfürsten und setzt das aus der Kiever Rus' transportierte Bild von der Rus'
als dem himmlischen Jerusalem, in dem der Großfürst als Abbild Christi über das erwählte
Volk Gottes herrscht, zur eigenen Herrschaftslegitimation ein
70
71
72
73
74
Lenhoff. Unofficial Veneration, S. 414f.
Thyrét. "Blessed is the Tsantsa’s Womb“, S. 485
Thyrćt. "Blessed is the Tsantsa's Womb", S. 488; vgl. Stepennaja krnga, PSRL 21.2. S. 554.
Thyrct, "Blessed is the Tsantsa's Womb", S. 490f.
Thyrct. "Blessed is the Tsantsa's Womb", S. 495f.
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Weltlicher und sakraler Raum
Im Lichte der Abbildlichkeit der Herrschaft Moskoviens von der himmlischen Hierarchie
wird die Klosterkonzeption des Iosif Volockij 75 (1439/40-1515) verständlich, der in der nach
seiner Klostergrundung in Volokolamsk aufgestellten Klosterregel die Monchsgesellschaft
hierarchisch als Abbild der staatlichen Hierarchie des Moskauer Großfürsten fo rm te 76 Diese
Formung läßt sich, wie unten deutlich wird, zum einen nachträglich feststellen, zum anderen
war sie von losif bewußt intendiert, der in Rechtfertigung z В des Rates der Mönche auf das
Beispiel des Staates verwies 77 Diese Tatsache ist nur au f den ersten Blick ein Paradox, da die
Klostergemeinschaft 1>er se nach himmlischen Urbildern funktioniert, ein Abbild des himmlisehen Jerusalem ist und insofern von der himmlischen Hierarchie bewohnt sein muß losif
Volockijs Auffassung vom Kloster als Abbild der staatlichen Hierarchie wirft ein bezeichnendes Licht auf sein Herrschaftskonzept, auf das im folgenden eingegangen wird
Heiliggesprochen als Klostergründer, ist losif vor allem bekannt, weil er sich intensiv mit
den Themen seiner Zeit auseinandersetzte und ein reiches Schrifttum hinterlassen hat
Die
Schriften befassen sich vor allem mit zwei Themenkomplexen, zum einen der Klosterreform,
zum anderen mit der Bekämpfung der Häresie der Novgoroder "Judaisierenden" 79
Iosifs Verweise au f die svjatye pisanija , die "heiligen Schriften" schließen nicht nur die
ihm bekannten Bücher des Alten und des Neuen Testamentes, sondern die gesamte schriftliMA
che Tradition der orthodoxen Kirche ein
Die Tradition sieht er, darin ganz der hergebrach-
ten Meinung entsprechend, immer nur als Explikation dessen, was im Neuen Testament schon
angelegt w a r 81 So geht es ihm mit dem Zitieren und Erläutern der "heiligen Schriften” nicht
darum, neue Aussagen zu machen, sondern das Althergebrachte noch einmal zu erklären
75
76
77
78
79
80
81
82
Die Biographie losif Volockijs. mit weltlichem Namen loann Sanin. wird gemeinhin aus den drei
existierenden Viten extrahiert und an Sclbstaussagen in den Schriften verifiziert S /иг Biographie
Goldfrank. The Monastic Rule. S. 1-17, Döpmann. Der Einfluß der Kirche auf die moskowittsche
Staatsidcc. va. S. 35-38, Lur*c, losif Volockij, S 434-436; Sccbohm. Ratio und Charisma. S 233
Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 294
Goldfrank. The Monastic Rule, S. 33
Zu den Schriften und ihren Veröffentlichungen s. Lur*e. losif Volockij, S 438, sowie Goldfrank. The
Monastic Rule, S. 5 If, FN 1, /и г Quellenkritik Sccbohm. Ratio und Charisma. S. 255ff
Zur Häresie der Judaisicrcndcn s. Seebohin, Ratio und Charisma. Kazakova, N. A. / Jur*e. Ja. S
Antifcodal'nyc crctičcskie dv 1£en1ja na Rusi ХІѴ-naćala XVI veka, Moskva - Leningrad 1955 Der jüngste
mir bekannte Text ist: Michclis. Cesare de 11 domenicano, l'inquisizione e l'eresia det "giudaiz/anti", in
Russica Romana 1 (1994), S 29-49
Śpidlik. Joseph de Volokolamsk. S. 142, weist darauf hin, daß zu den "heiligen Schriften" bei losif auch
Laienschriftsteller und Kaiser gehörten, die eigentlich keine Theologen waren
Sccbohm, Ratio und Charisma. S. 486
Daß losif dabei mit seinen Quellen sehr frei umging, bemerkt Goldfrank. Old and New Perspectives. S.
298: T o defend his Rule, Iosif falsified patnstic sources, mystified the concept of 'tradition* {predante).
and gave a tendentious account of Russian monastic histoņ "
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Indiz flir die für sein kulturelles Umfeld beachtliche Bildung losifs ist seine Zitierweise,
die d arau f schließen läßt, daß er einen Großteil seiner Quellen aus dem Gedächtnis zitiert.
84
Er war damit so gebildet, wie ein foiižnik seiner Zeit sein konnte. Zu seinen am häufigsten
benutzten Quellen gehörten die Lestvica des Johannes Klimakos, Gregor von Nazianz und
Johannes Chrysostomos.
a
Areopagita
Besonders stützt er sich auf die Hierarchienlehre des Dionysios
/
0 ך
und die Bilderlehre des Johannes Damascenos,
in der Begründung der
M önchsregel a u f Basileios den Großen und Nikon Č em ogorec 88 Alle Texte lagen ihm
anscheinend in russischer bzw kirchenslavischer Übersetzung vor 89
Im Zusam m enhang mit der Klosterreform geht es nur vordergründig darum, Mißstände
und M ißbrauch mit den Privilegien der Klöster in der Rus' zu unterbinden und eine verbindliche Ordnung herzustellen.
ЛА
losif Volockij schrieb für sein in der Nähe von Volock/Volokolamsk
gegründetes Kloster
%
zwei Typika mit Regeln flir das Leben der Mönche Das ältere und kürzere Typikon entstand
83
84
85
86
87
88
89
90
Seebohm, Ratio und Charisma. S. 500 Die Viten weisen nur darauf hin. daß losif die Liturgie auswendig
singen konnte
Seebohm. Ratio und Charisma. S. 233
Seebohm. Ratio und Charisma. S. 500-505; Špidlik. Joseph de Volokolamsk, S. 94, Goldfrank liat fast
sämtliche Quellen des erweiterten Typikons nachweiscn können und legt sie in The Monastic Rule, S. 25•
29 dar.
Seebohm. Ratio und Charisma. S. 248
Seebohm. Ratio und Charisma, S. 502; Goldfrank. The Monastic Rule. S. 29
Goldfrank, Tlie Monastic Rule. S. 26
Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf den Bildungsstand und •horizont losifs. Es zeigt nämlicli. daß er,
wie seine Zeitgenossen, keine Fremdsprachen konnte. Des weiteren sei darauf hingewiesen, daß losif
praktisch keine Reisen unternommen hat. die über das Kemgebiet der Moskoviter Rus* hinausftiluien
Seine weiteste Reise ging zum Kmll-Kloster am Weißen See. Spidlik. Joseph de Volokolamsk, S. 145Г,
kommt nach einer Analyse seiner Typika zu einem vernichtenden Urteil über losifs geistige Fähigkeiten,
das jedoch nicht seiner Zeit entspricht und deshalb relativiert werden sollte: "La bonne volonte de Joseph,
sa sincérité ne peuvent être mises ne doute mais le législateur fut un homme de son siècle et de plus, à
travers son intelligence et son érudition se glisse une certaine simplicité de jugement. Il se fait disciple des
Ecritures, se fie à elles comme elles sont écrites, sans les altérer ni rien y changer, mais il sait bien pourtant
que la lettre tue et que l'esprit vivifie. Son erreur est de ne pas être parvenu à toujours harmoniser ces deux
principes et parfois, la lettre l'emporte sur l'esprit. Que panni ses disciples se trouvent quelques esprits
simples, peu instruits et la voie est ouverte au formalisme naif qui. avec les Vieux-Croyants aboutira à
d'incompréhensibles exagérations.
Engregant les Ecritures, Joseph. ־comme il le reconnaît lui-même, égrenait le ,sable de la mer* et ne
pouvait évidemment retenir ni même distinguer tous les divers courants de la spiritualité orientale St.
Basile est son maître, mais la pensée de ce maitre est réduite, appavric, simplifiée par le disciple qui ne voit
qu'une seule tradition lá où il en existe déjà plusieurs, riches et anciennes."
Die Bezeichnung des Ortes in der Nähe des Klosters ist eigentlich Volok lamskij. Volok ist ein Ort. an dem
die Boote aus dem Fluß geholt und von dem aus sic über Land gezogen werden "Lamskij" ist der
eigentliche Name des Ortes. Je nachdem, welche dieser Ortsbezeichnungen bevorzugt wird, wird losif der
Beiname "Volockij" oder "Volokolamskij" gegeben; Seebohm bevorzugt losifs weltlichen Familiennamen
"Sanin" und benutzt inkonsequenterweise den Mönchsnamcn ־Io sif Das Kloster heißt normalerweise
־Volokolamsk"
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etwa 1504 91 Das jüngere oder erweiterte Typikon von 1514 oder 15 1592 ist überschrieben mit
Duchovnaja gramota und stellt eine Art Testament dar,93 in dem die Klosterregeln noch einmal mit Exkurs au f Zitate der "heiligen Schriften" behandelt werden 94
Es wird angenommen, daß die Ordnung, die losif fiir das Kloster in Volokolamsk95 aufgestellt hat, die Grundlage fiir die von ihm intendierte Klosterreform darstellt 96 Man kann aus
den Typika au f die Mißstände in den Klöstern schließen, die darin bestanden, daß die Mönche
Essen in ihren Zellen hatten und einnahmen, die Gottesdienste nicht regelmäßig besuchten, zu
spät kamen oder früher gingen, daß die Fasten nicht eingehalten wurden, Frauen und Knaben
im Kloster waren,97 die Mönche betrunken waren oder miteinander redend durch das Kloster
streiften
O ft
Man kann aus dem Beharren auf der Beseitigung dieser Mißstande, die größten-
teils in zu viel persönlicher Freiheit der Mönche bestanden, außerdem auf Iosifs Auffassung
von einem gut geführten Kloster schließen, die vor allem in der Festschreibung des Einzelnen
auf bestimmten Plätzen im Gesamtsystem bestand, wie im folgenden noch deutlich wird
Nach Goldfrank wollte losif mit dem jüngeren Typikon nachweisen, daß seine Art der Klo־
sterfuhrung mit der russischen monastischen Tradition übereinstim m te99 Außerdem sieht er
91
92
93
94
95
%
97
98
99
Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 280; das kürzere Typikon wurde veröffentlicht unter dem Titel
Kniga losif Volockij monastyrskaja staraja. in: Lur’c, Ja. S. / Zimin, A. A. Poslanija losifa Volockogo.
Moskva - Leningrad 1959, S. 296-319.
Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 281
Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 281 ; Śpidlik, Joseph de Volokolamsk, S 96; Sccbohm, Ratio und
Charisma. S. 240, weist darauf hin. daß der Text nur in der später von einem Schiller hmzugefiigten
Vorrede Testament" genannt wird. Man kann aber daraus, daß er kurz vor Iosifs Tod geschrieben wurde,
und aus der allgemeinen Tendenz schließen, daß es sich beim jüngeren Typikon um eine Sichcrstcllung des
status quo über den Tod des Sclircibcrs hinaus liandelt
Die bis jetzt in sowjetischer Zeit veröffentlichten Texte losif Volockijs werfen ein bezeichnendes Licht auf
den sowjetischen und post-sowjetischen Umgang mit Texten und Autor. Zwar wird auf die eigenständige
und "scholastische" Argumentationsweise losifs hingewiesen und wird er wahlweise als "Publizist" oder
"Autor" bezeichnet, so vor allem von Lur״e im Siovar' Kmtmkov 1 kminosti drevnej Rusi Gleichzeitig
spricht ihm jedoch die Publikationspraxis die gebräuchlichen aukionalcn Privilegien ab. Denn es wurden in
historisch-philologischcr Weise nicht die Texte von letzter Hand ediert sondern die zugrundeliegenden
einzelnen Sendschreiben Ich gehe im folgenden davon aus. daß die von losif am Ende seines Lebens - er
war fast 70 Jahre alt. als er deii Prosvetitel ״schrieb ־aus seinen eigenen und fremden Texten kompilierten
Texte, der Prosvetitel ׳und das erweiterte Typikon, von ihm als eine Art Zusammenfassung seines Werkes
und Testament intendiert waren und untersuche deshalb nur diese Texte als auktoriale. von letzter Hand
geschriebene und dadurch autorisierte Texte.
losifs Sendschreiben und andere frühere Texte w׳urdcn in folgenden Bänden ediert Lur׳e. Ja. S. / Zimin. A
A.: Poslanija losifa Volockogo. Moskva * Leningrad 1959 und Кагакоѵа, N A. / Lur'e. Ja. S.
Antifcodal'nyc crctičeskic dviženija na Rusi. ХІѴ-naćala XVI veka, Moskva - Leningrad 1955.
Zur Klostcrgeschichtc vgl. Steindorff. Das Spcisungsbuch von Volokolamsk, S. XI-XIV, Jakovleva,
Ekaterina M. (Hrsg.): losifo-Volokolamskij monastyr PosvjaSčaetsja 400-lctiju proslavlcnija
prepodobnogo losifa Volockogo, Moskva 1991, Lejkin. Aleksej S.: Volokolamsk 850 let. Moskva 1985
Döpmann, Der Einfluß der Kirche auf die moskowitische Staatsidee. S. 39; Sccbohm. Ratio und Charisma,
s. 238
Hier ging es ihm nicht darum, daß Bartlose im Kloster nicht erlaubt waren, sondern daß die Mónche durch
Frauen und Knaben zur Unzucht verleitet werden konnten
Vgl. Goldfrank. The Monastic Rule, S. 40
Goldfrank. Old and New Perspectives. S 299
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die Schaffung des Typikons im Zusammenhang mit einem erneuten Versuch losifs, die Häresie zu bekäm pfen .100
losif lag mit dem Schreiben der Typika und damit dem verbindlichen Festlegen der Klosterordnung im Trend seiner Zeit und konnte sich auf einige andere Typika beziehen 101 Gerade in diesem Zusammenhang ist auffällig, wie wenig losifs Typikon der allgemeinen Form
entspricht Es fehlt jede Bezugnahme auf das Kloster von Volokolamsk und seine Gründung
sowie seinen Gründer und dessen geistlichen Werdegang Es gibt keinen topos in Form eines
Sündenbekenntnisses und keine Betonung der eigenen Unwürdigkeit Es werden weder VorSchriften über die praktische Durchflíhrung der Regel gemacht noch Sanktionen gegen Verstoße aufgefiihrt Es wird keine äußere Ordnung des Gottesdienstes festgelegt und nicht auf
ein liturgisches Typikon verwiesen. Es wird nichts über die Aufteilung der Ämter im Kloster
gesagt. Es werden keine Angaben über die Bezüge des Klosters zur Außenwelt g e m ach t 102
Stattdessen gerät losifs Typikon zu einer Weltordnung im Kleinen, und daher kann man das
Typikon als Versuch sehen, das durch die Häresie der Novgoroder "Judaisierenden" erschüttene Weltbild wieder zu festigen. Dazu verteidigt losif das Althergebrachte gegen alle vermeintlichen Neuerungen, indem er auf seine Abbildlichkeit verweist 105
Die eigentliche Klosterordnung kann nur ungefähr aus dem Text erschlossen werden
Hierbei zeigen sich folgende Charakteristika des Klosters von Volokolamsk: Dem Kloster
steht zwar der Abt vor, ihm steht jedoch ein Rat von zwölf Mönchen bei Der Klostervorstand
ist also Christus und den Aposteln und seinen anderen Prototypen nachgebildet Der Igumen
ist außerdem der Beichtvater aller Mönche im Kloster Daneben gab es den Cellerar (keiar*)
und den Schatzmeister (<kaznačej), denen wiederum Stellvertreter, der podkelar'nik und der
menšij kaznačej unterstanden, weiterhin der Chormeister (ustavščik), verschiedene Aufseher
(irtadzirateli), ein Vigilant ( budil'nik), ein Sakristan (ponomar), ein Mundschenk (čašnik)y und
andere Offizielle, die flir die Ordnung im Refektorium zu sorgen hatten (bol'šie služebniki). In
der W irtschaftsführung gab es Schließer Çključniki), den Stallmeister (konjuiij)t Büttel
(poselskie) und Richter (sud'ja) flir die Aufsicht über die dem Kloster angehörigen D ö rfe r 104
100
101
102
103
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Seebohm. Ratio und Charisma, S. 239; Goldfrank. The Monastic Rule. S 6
Seebohm. Ratio und Charisma, S. 239
Es geht hier nicht dämm, die Kontroverse zwischen losif Volockij und den Judaisierendcn wieder
aufzurollen, sondern um losifs Auffassung von der Herrschaft in der Rus'. Die lange Zeit gängige
Interpretation des Typikons im Lichte der Kontroverse zwischen losif Volockij als Vertreter des
Koinobitcntums und des Klosterbesitzes und Nil Sorskij als Vertreter des Anachorctentums und der
Besitzlosigkeit ist kürzlich von Daniel Rowland entscheidend relativiert worden Vgl. Rowland. Did
Muscovite Literary Ideology Place Limit on the Power of the Tsar?. S. 126ff.
104 Goldfrank, The Monastic Rule. S. 32
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Der Klostervorstand mit Igumen und Rat, die sich gegenseitig bei der Regierung unterstützen und denen wahrscheinlich je nach Auftragslage wechselnde Offizielle zur Seite standen,
hat ein ganz reales Urbild in der Regierung des Großfürsten von Moskau 105 Der Klosterrat ist
äquivalent der Bojarenduma Und wie der igumen aus dem Rat und von dem Rat gewählt
wird, so wurde der Großfürst aus der Bojarenduma gewählt und befand sich in Abhängigkeit
von der Duma insofern, als daß er sich mit ihr beraten mußte, auch wenn ihm automatische
M achtbefugnisse zukam en .106 Im Moskauer Kreml' hat es je nach Erfordernis unterschiedliche Ämter {ukazy) gegeben, denen jeweils ein Beamter (d j’a k ) Vorstand Auch dies ist eine
Äquivalenz
zum
Klosterleben.
Die
Ämterhierarchie
der
weltlichen
Herrschaft,
das
mestnićeshw-System war ebenso durchlässig wie die Klosterhierarchie .107 Gleichzeitig weist
das mestniöestvo-System , obwohl es den im Laufe der Zeit Änderungen unterworfen war,
Tendenzen der Festschreibung des Einzelnen in der Hierarchie a u f 108
Der wesentliche Unterschied des älteren zum neueren Typikon liegt darin begründet, daß
im neueren Typikon die M önche in drei Hierarchien eingeteilt werden, die den Hierarchien
• «ѴЛ
des Dionysios Areopagita nachempfünden sind
Diese Einteilung der M önche kann man
daraus erschließen, daß bei der Festlegung der Kleidung, die einem jeden Mönch gegeben
werden soll und bei der Einteilung des Essens, das ein jeder Mönch bekommen soll, die drei
Ränge der Mönche unterschiedlich bedacht werden
"П рьвое убо устроеніе, ілкоже глаголю ть святіи отци: едінъ видъ всегда отъ
обрѣтаю щ ихся
браш ен ъ ,110 се 60 по обымяю
наш ся зем ля
и мѣстнаго
раствореніа сдінъ есть видъ, еда бы ваю ть па трапезѣ три ѣствы или двѣ: онъ
ж е едино отъ сихъ, которую изволить, ь\с*гь съ хлѣбомъ или с колачсм ъ, ни
сдін агож с ош аяти ся ілко зла. Едіігь ж е видь всегда вкуш ати св я ііи отци
прѣдаш я того ради, понеж е нем ощ но есть нам ъ всегда отъ всѣхъ вкуш ати и
не н асы щ ати ся, понѣ тако стремленіе ж елан іем ъ отсѣчстъ и уекый путь
105 Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 294
106 Dic mir bekannten Arbeiten über die Moskovitcr Rus' beschränken sich gemeinhin auf die Darstellung der
Politik und geben keine Darstellung des Regienmgssvstcins Ich kann also nur ungefähr auf Äquivalenzen
hinweisen. Verwiesen sei hier zum Verhältnis von Zar und Duma auf Rüß. Негтеп und Diener, S 409-439
107 Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 294, vgl. ebd. FN 66
108 Zum mestničestvo vgl. Rüß. Herren und Diener, S. 390-408; die Plätze der Einzelnen wurden in Büchern
festgcschricben. die leider verbrannt sind.
109 Ansonsten machen die Textvergleiche in Goldfrank. The Monastic Rule, deutlich, daß das ältere Typikon
fast wörtlich in das neue übernommen worden ist und sein Tex! etwa 1/3 des neueren Typikons ausmacht
S. Goldfrank, Old and New Perspectives. S. 282
110 Quelle nicht bekannt. Goldfrank. The Monastic Rule. S. 87, FN 39
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постны й
ирискорбьны й
пойдем ъ,111
вводящ ий
в
ж ивотъ
чистоты ,
и
бож сствен аго свѣта просвѣщеніе пріимемъ, иредѣлъ въздръж аніа хранящ и
отъ святы хъ отсцъ иреданы й; се есть еж е пріимати пищу и нитіе, и ещ е малу
ж елан ію
сущу сея ош аятися, и сицево пощ сніе съ см иреніем ъ, ілкож е
зл аты м а крилом а душу на небо възводить. и царству небесному сподобить.
Второе устроеніе: егда бы ваю ть на трапезѣ три ѣствы; онъ ж е двѣ ѣствы съ
колачем ъ, третію ю ж е не
іа с т ь , т о ч і ю
ж е вся по благословенно настоителеву,
и тако отвращ атися по малу сытости чрева,
іа к о ж с
въ
святѣй Лѣствици
рсчено есть: отсѣци убо прѣжде м астящ ая, таж е раж дизаю щ ая, потом ъ ж е и
услаж аю щ ая; и въздръж и чрево, дондеж е тебе не обладаетъ, и тогда хощ еш и
и съ
срам ом ъ
въздръж атися.112 И сего
ради
дльж ни
есмы
не
токм о
въздръж аніе тѣлесное имѣти, но и съкруш еніе и смирсніе сердца, и тако
получим ъ вѣчныхъ благь. Третіе устроеніе: ащ е ли кто не имать нроизволеніа
еж е прьваго и втораго устроеніа дръж ати, тъй да доводится трапезою , ілкоже
обы чай им ать манасты рьскы й, развѣе ж е того ничтож е ілсги, н иж е нити и не
пресьщ атися. И ащ е eie нспоколѣбимо съблю демъ и ничим ъж с иеповредно, и
того ради милости сподобимся отъ Господа Бога, ілко хранители отечьекы хъ
прѣданій, и своя воля не имѣя, но путемъ шествуя ащ е и послѣдним ъ, но
обаче ащ е съ см ирсніисм ъ шествуеть, достигнеть къ врата вѣчныхъ б л а гь .113 ״
(518*519)
"Der erste Ráng. wic die heiligen Väter sagen: immer eine Art von dem, was an Gerichten da ist. dem
Brauch unseres Landes und dein örtlichen Klima entsprechend eine A rt und wenn cs auf dein Tisch drei
oder zwei Gerichte gibt: er ißt nur eines von denen, das er auswählt entweder mit Schwarzbrot oder
Weißbrot und hält nicht eines davon für schlecht. Immer eine Art zu essen w׳urde von den heiligen
Vätern darum überliefert, weil es uns nicht möglich ist, immer von allem zu essen und nicht satt zu werden. und weil es eine Art 1st. den Wunsch abzusclmeiden, und wir den engen und Icidvollcn Weg des
Faslens bcsclireiten. der zur Reinheit des Körpers fuhrt und wir die Grenzen befolgen, die uns von den
heiligen Vätern überliefert sind; das heißt. wenn man Essen und Trinken annimmt und wenn man noch
ein bißchen mehr wünscht davon Abstand zu nehmen, und solcherart das Fasten mit Demut (anzunehmen
und) wie mit goldenen Flügeln wird die Seele zum Himmel hinauffahren und macht sich dem Himmelreich ähnlich. Der zweite Rang: wenn auf dem Tisch drei Gerichte stehen, ißt er zwei Gerichte mil Weißbrot, das dritte aber ißt er nicht, dieses alles aber mit dein Segen des Vorstehers, und so wird er ein wenig
das Verlangen des Fleisches beschneiden, wie es in der heiligen Leiter gesagt ist: Sclmcidc jedoch zuerst
111 Johannes Klimakos, Lcstvica 14.29, vgl. PG 88, S. 869AB. M t 7,13-14; Goldfrank. The Monastic Rule. S
88. FN 41.
112 Jolianncs Klimakos, Lcstvica. 14.12.17, PG 88. S. 865BC; Goldfrank, The Monastic Rule. S. 88. FN 44.
113 Das erweiterte Typikon wird zitiert nach Duchovnaja gramota prepodobnago igumena losifa. in: Velikija
minei četii. mesjae sentjabr׳. vol. 1, St. Pcterburg 1868. cols. 499-610; die Spaltenangaben stehen im Text.
Ich benutze außerdem den Kommentar von Goldfranks Übersetzung des Typikons und habe die
Tcxtkommcntare in den Text der VMČ mit Verweis auf die Stelle bei Goldfrank eingefugt
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das Fette ab, dann das Erhitzte, dann aber auch das Gewürzte; und enrage den Magen, danut er dich nicht
überkoinmt. und dann wirst du das Verlangen mit Scham aushalten. Und deshalb sollen wir nicht nur das
körperliche Aushalten haben. sondern auch ZurückJialtung und Demut des Herzens, und so erhalten wir
die ewige Gnade. Der dritte Rang: wenn aber einer nicht den Willen besitzt, es zu halten wie der erste und
der zweite Rang, der soll sich satt essen am Tisch, wie der inonastische Brauch gehalten wird, oder er soll
nichts davon essen, nichts trinken und sich nicht begnügen Und wenn wir dies unablässig verfolgen und
in nichts abwcichen. so werden wir deshalb der Gnade unseres Herrn Gottes würdig sein als die Bewahrer
der väterlichen Gebote, und nicht unseren Willen haben, sondern den Weg gehen und ihm folgen, aber
ihn mit der Demut folgen, die fuhrt zu den Toren der ewigen Gnade."
Die M önche sind nach asketischen Prinzipien in die drei Ränge eingeteilt, je nach ihrem
Vermögen. Sollte also ein M önch nicht sehr streng fasten können, wird er einem der unteren
Ränge zugeteilt, die mehr essen dürfen IM Ebenso ist es mit der Kleidung Der erste Rang
erhält am wenigsten, der dritte Rang mehr (624-525)
Der erste Rang, der von allem weniger erhält, lebt asketischer Er ist entsprechend dem
Prinzip der Emanation auch der Erkenntnis des Göttlichen näher, weil im monastischen Ideal
das asketische Tun zur begrifflosen Vereinigung mit Gott fu h rt 115 Deshalb heißt es von dem
Mönch des ersten Ranges, der sich in seiner Bekleidung auf das Allernötigste beschränkt,
auch
״Т аковы й есть съвръш снъ Х ристовъ ученикъ, и подобникъ и ревнитель
святы м ь, иж е зиму ж е и студень и наготу и бѣду и труды и нуж да Христа
ради
пострада, и его
ради тѣсны м ъ путем ъ ш ествова,
въводящ им ъ
въ
ж и в о тъ ,116 и тъй съ дръзновеніем ъ речетъ Христови: се мы оставихом ъ вся, и
въ слѣлъ тебе и дохом ъ .1*7 К ъ нему ж е Владыка речетъ: ащ е кто мнѣ служ ить,
мнѣ да нослѣдствуетъ: идѣже ссмь азъ, ту и слуга мой будсть.118" (524)
"Solcherart ist er vollendet als Schüler Christi, und ein Ähnlicher und Gleicher den Heiligen, wenn er
den Winter und die Kälte und die Blöße und die Armut und die Arbeit und die Not um Christi Willen
erleidet, und um seinetwillen dem engen Weg folgt, der zum Leben führt, und dieses mit Tapferkeit zu
Christus sagt: dies alles haben wir fortgeworfen und sind deinen Spuren gefolgt. Zu dem aber sagt der
Нсгт: Wer mir dient, der folgt mir nach: wo immer ich bin, wird auch mein Diener sein."
114 Gleichzeitig wird jedoch im folgenden die Strenge des Fastens reglementiert Nichts essen dürfen die
Mönche nicht; wenn sie ein Gericht nicht essen, so sollen sic cs durch ein anderes substituieren, jedoch so.
daß für sie nichts extra aufgetragen werden muß.S. Siovo II, Nr. 32-35.
115 Seebohm. Ratio und Charisma. S. 485
116 Mt. 7,14; Goldfrank. The Monastic Rule, S. 97, FN 32
117 Mt. 19,27; Goldfrank. The Monastic Rule. S. 97, FN 33
118 Jh 12.26; Goldfrank. The Monastic Rule. S. 97, FN 34
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Döpm ann irrt deshalb, wenn er schreibt, daß den oberen Klassen Erleichterung gewährt
wurde, um mehr Adelige und Besitzende zum Eintritt in den Mönchsstand zu bewegen, da
diese w iederum die Hierarchie des Klosters und der Kirche stellen sollte 119 Dies setzte voraus, daß die M önche des ersten Ranges der niedrigsten Stufe angehörten und sich zum dritten
Rang hin "hocharbeiten" müßten, was jedoch dem areopagitisehen Hierarchiengedanken
zuwiderläuft Es ist vielmehr anzunehmen, daß sich die Führungselite des Klosters aus dem
I
ersten Rang rekrutieren sollte, weil dieser der göttlichen Erkenntnis näher ist
Die Einteilung der Mönche in Ränge ist also nur vordergründig pragmatisch 121 Sie dient
vielm ehr dazu, in der Mönchsgemeinschaft ein Abbild der himmlischen Hierarchie zu schaffen N ur vor diesem Gedankenhintergrund wird der Text des Typikons verständlich und wird
deutlich, warum lo sif schon zu Anfang darauf verweist, daß es den Mönchen angemessen ist,
in guter Ordnung am Gottesdienst teilzunehmen.
"И тако приш сдъш с въ божествсную церковь, ілкоже в сам ом ъ небеси съ
вы ш ним и силам и ставш с, и не точію тѣлссное благообразіе показати, но и
умъ весь събра и съ сердечьны мъ чювьствомъ, и не ш егчю іце, ни глум ящ еся,
ниж е суетная глаголю щ е: но сътисни свои ручѣ, и съсдини свои нозѣ, и очи
см ѣж и, и умъ събери; мы сль ж е своя и сердце възми на небо, и тако къ Богу
съ слезам и и стьнаніем ъ милость призывая, и да никакож с изы деш и когда
отъ събраніа безъ великіа нужда. 506) )״
"Und inan soll so in dic Kirche Gottes gehen und im Himmel selbst mit den höheren Kräften stehen
und nicht selbst körperliches gutes Aussehen zeigen, sondem auch den Geist fest versammeln und mit
dem Herzen fühlen, und nicht flüstern, nicht abschweifen und auch nichts Weltliches sprechen, sondern
die Hände Zusammenlegen, und die Füße zusammenstellen, und die Augen schließen, und den Geist versammeln, seine Gedanken aber und sein Herz wende man zum Himmel und rufe so zu Gott mit Tranen
und mit Weinen um Gnade, und man soll übcrliaupt nicht irgendwann die Versammlung verlassen ohne
große Not."
119 Döpmann, Der Einfluß der Kirche auf die moskowitischc Staatsidee. S. 42f.
120 So auch Goldfrank. The Monastic Rule. S. 33: "A few (of the persons who served the council] were of the
high nobility, though such origin did not assure one an automatic place on the council, and a few appear to
have risen from the lower classes. The iniüal selection process is not apparent from the text of the Rule, but
it assumes a functioning body with the power to coopt new members."
121 Zum Pragmatischen und Äußerlichen der Typika s. Döpmann, Der Einfluß der Kirche auf die
moskowitischc Staatsidcc. S. 50-52 und Seebohm. Ratio und Charisma. S. 2?7f., der die Ausführlichkeit
des jüngeren Typikons darauf zurückfthrt. daß nach der Begeisterung des Neubeginns jüngere
Generationen in der Klostertiierarchie nachnickten und die Größe des Klosters Funktionsteilung nötig
machte. Diese Funktionalität der Klosterordnung mag durchaus richtig sein. Sie erklärt jedoch die Form
des Textes nicht, der ja. wie gesagt, keine Ordnung aufstellt, sondern bestimmte Unordnungen beseitigen
will.
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Wenn die Mönche das irdische Abbild der himmlischen Hierarchie sind, so haben sie sich
auch dementsprechend zu verhalten Da die Liturgie auf der Erde Abbild der himmlischen
Liturgie ist, können die Mönche diese bei richtiger Geisteshaltung perzipieren, und, so sie in
guter Ordnung stehen, Teil von ihr werden Deshalb legt lo sif im folgenden so viel Wert darauf, daß die Mönche ihren zugewiesenen Platz in der Kirche nicht zu spät einnehmen und
nicht zu früh verlassen, sondern als Gemeinschaft die Hierarchie in realiter abbilden
Seebohm spricht in diesem Zusammenhang davon, daß losif auf einer gewissen "Exterritorialität des sakralen Raumes gegenüber der W elt " 122 bestehe Das Kloster war der historischen
Welt enthoben und in die sakrale Welt eingebunden
"Durch die Beanspruchung einer ,sakralen Exterritorialität' des Besitzes war das
Mönchtum und die Kirche weit mehr als eine religiöse Organisation, die Rückhalt in
feudalem Besitz hatte Es tritt dem besitzenden weltlichen Stande nun auch juristisch
und ökonomisch als der hierarchisch höhere, engelgleiche Stand gegenüber, dessen
Besitztitel unmittelbar durch die himmlische Hierarchie gedeckt werden Eigentlich
bleibt ihm nur ein ebenbürtiger Partner: der Autokrator, der seine Macht unmittelbar
von Gott hat ."123
Somit haben die Mönche als Abbild der himmlischen Hierarchie auch Verantwortung flir
die irdische Welt Gleichzeitig werden sie durch das Typikon angehalten, im Kloster selbst
noch einmal ein intratextuelles Abbild zu schaffen.
"П одобаетъ вѣдати, ілко по последней молитвѣ о ть церкви исходящ им ъ
братіамъ, приходити въ трапезу ілсти вкуиѣ с настоятелсм ъ, за еж е иоспѣвати
къ благословенно, и сѣдѣти ком уж до на свосмъ мѣстѣ съ благоговѣніем и
м лъчанісм ъ по чину. М ногу ж е опаству подобаетъ быти, и ж е не проглаголати
ником уж до
отцем ъ ,124
отіиодъ,
lako
кромѣ стиха
и чтеніа.
Глаголю ть
60 святіи
отци
святы й ж рьтвеникъ и братия трапеза въ врѣмя обѣда равна
суть .125 Сего ради, ілкоже въ бож ествснѣй церкви пѣти, тако и на грапезѣ съ
м лъчаніем ъ подобаетъ ідсти и съ м олитвою и внимати сущ ему ту чтенію ."
(513)
122
123
124
125
Sccbohm. Ratio und Charisma. S. 243
Seebohm. Ratio und Charisma, S. 250
Statt "o/cem" muß stehen "0 5em"
Tiipikon. 43v, Nikon. Taktikon. 1,6; Goldfrank, The Monastic Rule, S. 82, FN 2
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"Es geziem( sich zu wissen, wie nach dem letzten Gebet die Brüder aus der Kirche gehen, um in das
Refektorium zu gehen und zusammen mit dem Vorsteher zu essen, sich zu beeilen zum Segen, und sich
hinzusetzen, jeder an seinen Platz, mit dem Segen und mit Schweigen nach dem Rang Große Aufmerksamkeit ist gefordert, und cs soll nicht zu irgendjemandem gesprochen werden, außer den Versen und
Lesungen Es sagen aber die heiligen Väter darüber, daß der heilige Opfcrtisch und der Tisch der Brüder
zur Zeit des Mahles gleich sind. Darum wollen wir, wie wir in der göttlichen Kirche singen, so auch am
Tisch mit Schweigen wie cs sich geziemt essen und mit Gebet und mit aufmerksamem Geist die Lesung
hören ״
Die M önche im Refektorium sind das Abbild der Eucharistiegemeinschaft, die sie während
der Liturgie eingenommen haben Das Typikon ist weniger dazu da, eine Ordnung aufzustellen, sondern hat vielmehr die Aufgabe, eine Ordnung zu erhalten, damit das Heilige im Kloster au f der Erde anwesend bleibt
Das Verständnis vom Mönchtum, wie es sich in der Klosterordnung des lo sif Volockij darstellt, ist nicht so sehr pragmatisch als vielmehr vom Urbild-Abbild-Denken geprägt Der
abbildschaffende Prozeß ist hier vielschichtig. Die nach dem Urbild der weltlichen Regierung
des M oskauer Großfürsten modellierte Klosterfuhrung macht den Staat zum himmlischen
Urbild Die Abbildung der Hierarchien in der Klosterordnung macht das Kloster zum Abbild
der areopagitischen himmlischen Hierarchie Die Ränge der Adeligen in realiter werden
idealiter zum Abbild eben dieser himmlischen Hierarchie Indem lo sif in der Klostergemeinschaft ein Abbild sowohl der himmlischen Hierarchie als auch der Staatsgemeinschaft schafft,
zeigt sich, daß er sie als geheiligt und abbildlich auffaßt Deshalb kann er die Mönche im
Typikon als "Kinder Israels" (609, nach Ex. 31,16) bezeichnen .126
Dieses Verständnis der Klostergemeinschaft wirft ein neues Licht a u f lo sif Volockijs kirchenpolitisches Handeln, wie es gemeinhin in der Literatur zu seinen Schriften beschrieben
wird. Sind die Mönche des Klosters Abbilder der himmlischen Hierarchie, so ist es nur vernünftig, daß möglichst viele Mönche des Volokolamsk-Klosters auch in der Kirchenhierarchie aufsteigen. Dieses Bestreben hat Döpmann
nachgewiesen, und gemeinhin wird es dazu
11c
benutzt, die russische Kirche im 16. Jahrhundert als "josephitisch" zu bezeichnen
Sind die Mönche des Volokolamsk-Klosters Abbild der Staatshierarchie, so ist auch verständlich, daß sie bestrebt sind, möglichst viele Adelige und Fürsten in ihre Reihen zu
bekommen Zum einen werden die Adeligen durch ihre Zugehörigkeit zur M önchsgemein
126 Vgl. Goldfrank, The Monastic Rule. S. 195, FN 4
127 Döpmann, Der Einfluß der Kirche auf die ■noskow itischc Staatsidee. S. 42f.
128 Döpmann. Der Einfluß der Kirche auf die moskowitische Staaisidee, S. 148; Spidlik. Joseph de
Volokolamsk. S. 145; Buslikovitch. Religion and Society in Russia, S. 15
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schaft in einen heiligen Stand erhoben. Zum anderen sind die Fürsten selbst, da sie sich aus
der Dynastie Vladimirs herleiten, wieder per se Heilige und dienen dadurch dem Ansehen des
Klosters Sie tragen so zu einer Synthese von staatlicher und kirchlicher Macht bei, die von
lo sif als so real verstanden wird, daß er versucht, die Mönche durch das Typikon in dieser
Ordnung festzuschreiben
Das Selbstverständnis des Klosters als Abbild der Staatshierarchie macht außerdem verständlich, warum lo sif das Kloster der direkten Jurisdiktion des Moskauer Großfürsten unterstellte, da dieser nach seiner Auffassung auch der Herr der Kirche war Somit konnte die Kir״
che den Zaren zwar belehren, ihm jedoch nicht befehlen, was er zu tun und zu lassen h a tte 129
Gleichzeitig ist losifs Klostermanagement und sein Beharren auf den Klosterbesitz aus dieser Auffassung des Mönchtums verständlich. Der Besitz nützt den karitativen Aufgaben des
Klosters 130 und läßt möglichst viele Menschen und Ländereien an seiner Heiligkeit teilhaben,
weil sie unter der Jurisdiktion des Klosters, bzw seines Abtes stehen Außerdem ist eine reiche Ausstattung der Klosterkirchen dazu da, Abbilder des Heiligen au f der Erde zu schaffen
Die Klostertypika des lo sif Volockij dienen also nur bedingt der - von losif subjektiv so
gesehenen - Klosterreform oder Erneuerung koinobitischen Lebens .131 Sie sind sind dazu da,
die M önche an ihre Abbildhaftigkeit und damit ihre Bedeutung flir die Heiligung der Rus' zu
erinnern und sie dazu anzuhalten, diese zu behalten Den Typika liegt damit ein einheitliches
Weltbild zugrunde, vor dessen Hintergrund sie gelesen werden können Diesem W eltbild ist
es auch zu verdanken, daß das Kloster von Volokolamsk schließlich dem Großfürsten von
M oskau als oberstem weltlichen Herrscher und Spitze der Hierarchie unterstellt wird
Weltliche Herrschaft als Göttliche: das Herrschaftskonzept des Prosvetitel'
Da das Herrschaftskonzept des lo sif Volockij als exemplarisch für seine Zeit gilt, soll im folgenden darauf eingegangen werden, obwohl es keine direkte Herrschaftslegitimation über
Urbild und Abbild darstellt Besonders prononciert wird losifs Herrschaftskonzept in seinem
129 Zu diesem Schluß kommt Seebohm. Ratio und Charisma. S. 509: "Folgt der weltliche Herr nicht, so hat die
Kirchc zu bitten."
130 Goldfrank. Old and New Perspectives. S. 294; hierzu gehörte auch die Übernahme von
Mcmorialgottcsdicnsten, flir die wiederum Land und anderes gespendet wurde. Vgl. hierzu die detaillierte
Studie von Steindorff. der sich intensiv mit den Akten des Volokolamsk-Klosters im 16. und 17.
Jahrhundert auscinandergesetzt hat: Steindorff. Memoria in Altrußland, und ders (Hrsg.): Das
Speisungsbuch von Volokolamsk
131 Goldfrank. The Monastic Rule. S. x, macht sogar Andeutungen, daß man losifs "Reform" mit der der
Zisterzienser vergleichen kann, was jedoch auch den Herausgebern der Reihe, in der sein Buch erschien,
geschuldet sein kann
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Spätwerk, der Kniga о novgorodskich eretikov, die ab dem 17 Jahrhundert "Prosvetitei*, zu
deutsch "Aufklärer", genannt wurde, dargestellt. Der Prosvetitei1, der über 500 Druckseiten
stark ist, liegt in einer kürzeren Redaktion von 1502-1504 und einer längeren, 16 Siova
umfassenden, Redaktion von 1510-11 v o r 132 Er ist in 97 Handschriften erhalten, von denen
nur 37 die kürzere Redaktion enthalten 133 Die Tatsache, daß ein so umfangreiches Buch in so
vielen Handschriften vorliegt, läßt auf seine Popularität und die Konsensfähigkeit seines
Inhaltes schließen
Die Kompilation des Prosvetitei9war von lo sif im wesentlichen dazu gedacht, die Häresie
der Judaisierenden endgültig zu bekämpfen 134 Er wird dabei zu einer Apologie der orthodoxen Tradition, die ein allumfassendes Weltbild determiniert, dessen Rettung lo sif unternimmt ,135 indem er gegen die vermeintlichen Häretiker vorgeht, die Weltbild und Tradition in
Frage stellen Die Funktion des Prosvetitei' geht dabei über die des Typikons, das eine FestSchreibung der Ordnung zur Wahrung der Tradition ist, insofern hinaus, als daß er die Ordnung nun auch durch die Tradition legitimiert. Beide Schriften können als das Vermächtnis
des losif Volockij angesehen werden, bei der Erstellung der erweiterten Redaktion w ar lo sif
über 70 Jahre alt, und bald darauf starb er Iosifs Auffassung von den "heiligen Schriften"
wird bei den dem Prosvetitei9zugrundeliegenden Quellen sehr deutlich Nachdem er sie einmal geschrieben hatte, reiht losif seine eigenen Schriften ebenfalls in das Paradigma der "heiligen Schriften" ein Sie werden im Prosvetitei ׳wieder aufgenommen und ergänzt, um in der
Abwehr der Häretiker daraufhinzuwirken, daß die Heilsgeschichte sich vollenden könne .136
Dieser Umgang mit den eigenen Schriften gehört zu den Annahmen, die mein weiteres
Herangehen an den Text des Prosvetitei9bestimmen. Sie impliziert, daß dem gesamten Buch
ein einheitlicher Gedanke und eine einheitliche W eltauffassung zugrunde liegt und daß es
eine Erläuterung der in den Text kompilierten Sendschreiben, die in der Sekundärliteratur
gemeinhin als die "originalen Quellen" zitiert werden ,137 darstellt Ich werde also im folgenden nicht, oder nur beiläufig in der Erläuterung der Forschungslage, au f die zeitlichen Unterschiede der "Quellentexte" und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Verhaltenswei-
132
133
134
135
136
137
Szettel. Joseph Volotsky's Political Ideas.
Szettel. Joseph Volotsky’s Political Ideas.
Szettel. Joseph Volotsky's Political Ideas.
Seebohm. Ratio und Charisma. S. 252
Seebohm, Ratio und Charisma. S. 273ff
Szettel, Joseph Volotsky's Political Ideas.
S. 26; vgl. Lur׳e. losif Volockij. S. 435+457
S. 26. FN 22
S. 26
S. 26; Lur'e, losif Volockij, S 435
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sen Iosifs eingehen 138 Und ich werde nur auf die erweiterte Redaktion des Prosvetitel' eingehen, weil er die Quelle von letzter Hand darstellt
Eine weitere Grundannahme ist. daß der Text aufgrund der einheitlichen Intention seines
Autors keine Inkongruenzen enthält. losif Volockij war einer der gelehrtesten Kirchenmänner
seiner Zeit, der im Kloster aufwuchs. ein sehr gutes Gedächtnis hatte und sehr belesen in der
orthodoxen Tradition war, außerdem einen regen Briefwechsel geführt hat und als Verfasser
religiöser Traktate schon vor der Abfassung von Typikon und ProsvetiteV in Erscheinung
getreten ist. Auch die Tatsache, daß das Typikon nicht der allgemeinen Form entspricht, kann
nicht gegen diese Annahme sprechen, weil es gar nicht die Funktion eines Typikons hatte,
sondern, wie oben gezeigt wurde, apologetisch intendiert war Man kann also davon ausgehen. daß lo sif beim Schreiben des Prosvetitel ׳keine Widersprüche unterlaufen sind 139 Diese
Annahme steht bewußt entgegengesetzt zur bisherigen Forschungslage zur Herrschaftstheorie,
in der gem einhin davon ausgegangen wird, daß die Herrscherkonzeption der Slova 7 und 16
widersprüchlich ist Wie diese angebliche Widersprüchlichkeit im Text aufgehoben wird,
wird deutlich, wenn man die, von der Forschung gewöhnlich aus ohne Rücksicht auf ihren
Kontext zitierten Textstellen vom Herrscher als Tyrannen einerseits und vom mit göttlicher
Macht ausgestatteten Herrscher andererseits im Zusammenhang des Prosvetitel' liest
Der Prosvetitel ׳ili obličenie eresi židovstvujuščich140 ist in 16 Slova eingeteilt Das 7 und
das 16. Slovo sind Zusammenfassungen der jew eils vorhergehenden Slova , in denen deren
Thematik noch einmal dargestellt und endgültig beschrieben wird In Slovo 1-6 und 7 geht es
darum, wie sich ein Christenmensch zu verhalten hat, in Slovo 8-15 und 16 darum, wie sich
die Staatsmacht gegenüber den Häretikern zu verhalten hat. Slovo 7 rechtfertigt den zivilen
Ungehorsam gegenüber dem ungerechten Herrscher, Slovo 16 argumentiert, daß der Herrscher seiner M acht nach Gott ähnlich ist Der in der Forschung konstatierte Widerspruch wird
darin gesehen, daß man gegen einen Herrscher mit göttlicher Macht, sei er gut oder schlecht,
nicht aufbegehren könne, und daß Slovo 7 insofern dem in Slovo 16 aufgestellten Herrschaftskonzept zuwiderläuft Die Ansätze zur Klärung dieser Aussagen sind unterschiedlich Szeftel
138 Vgl. hierzu die Analyse der angeblichen ”Inkonsistenzen” in losifs Denken durch Sccbohm, Ratio und
Charisma, S. 234ff, der zu dem Schluß kommt, daß sich in losifs Auffassung in den 90er Jahren gegenüber
späteren Zeiten nichts wesentliches geändert hat Döpmann. Der Einfluß der Kirche auf die nioskowitischc
Staatsidcc. geht dagegen wie Lur’c, losif Volockij. von zwei SchaiTcnsphascn im Gesamtwerk losif
Volockijs aus, wobei beide nicht begründen, wodurch der Wechsel in losifs Auffassungen motiviert sein
sollte
139 So auch Rowland. Did Muscovite Literary Ideology Place Limits on the Power of the Tsar?, S. 127,
Ostrowski. Muscxny and the Mongols. S. 206.
140 Ich zitiere den ProsvetiteV nach: Prosvetitel' ili oblićenic cresi židovstvujuščich Tvorcnie prepodobnago
otca naśego losifa. igumena Volockago. Kazan* *1896. Alle Seitenangaben stellen im Fließtext
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und Lur'e gehen davon aus, daß ein klarer Widerspruch in der Konzeption losifs vorliegt, der
dadurch zu erklären ist, daß dem 7 Slovo ein Text aus den 90er Jahren des 15 Jahrhunderts
zugrunde liegt, dem 16 jedoch eine Konzeption, die nach 1503 entstanden i s t 141 Andere werfen losif Opportunism us vor und beschuldigen ihn, über Gehorsam zu schreiben, wenn er des
Herrschers guten W illen brauchte, und über Widerstand, wenn er gegenüber dem Herrscher
etwas durchsetzen wollte 142 RaefT versucht, eine Synthese herzustellen und verweist darauf,
daß nur ein passiver Widerstand gegen den ungerechten Herrscher gerechtfertigt w ird.143
Döpmann erklärt den Widerspruch durch einen lateinischen Einfluß durch den Gennadij־
Kreis, der nach 1503 wieder abgenommen habe 144
Wenn die oben genannten Autoren von der ״Theorie des zivilen Ungehorsam s145 ״sprechen, so beziehen sie sich auf eine Äußerung über den Herrscher aus dem 7 Slow , in dem der
ungerechte Herrscher als Teufel oder Henker bezeichnet wird, dem man den Gehorsam verweigern kann, auch wenn es das Leben kostet Ostrowski zeigt, daß diese These in ÜbereinStimmung mit der byzantinischen politischen Theorie steht und daß sie gerade nicht au f lateinischen Einfluß zurückzuflihren i s t 146 Er macht vier Positionen für Ratgeber gegenüber dem
Herrscher in der byzantinischen politischen Theorie fest unkritischer Gehorsam, Kritik und
Gehorsam, Kritik und passiver Gehorsam, sowie Kritik und aktiver W iderstand, in Abhängigkeit vom Benehmen des Herrschers Ostrowski fuhrt aus, daß im Falle einer absoluten Diskrepanz zwischen Kirche und Herrscher die Kirche den Herrscher für illegitim und zum
Tyrannen und Henker erklären und ihm mit aktivem Widerstand begegnen konnte. Damit
schlägt er implizit vor, daß losifs Ausführungen für diesen Fall bestimmt sind 147 Dies erklärt
jedoch immer noch nicht den scheinbaren Widerspruch in den Aussagen, den ich im folgenden aufzulösen gedenke. In der Überschrift des 7. Slow steht nämlich nichts von einer Theorie des Ungehorsams
"Слово 7:
С к а з а т с < מбож сствены хъ писаніи, каксо и которыл ралъ виры нодобаеть
христіаікомъ поклонлтисл
и
почитати Бож сствены л иконы , и честны й и
ж ивотворліціи кресть Христовъ, и святое Еуангсліе и прятнал БожТа тайны , и
141
142
143
144
Szcftel. Joseph Volotsky's Political Ideas. S. 2 8 t; Lur'e. Ideologićcskaja borba. S. 475-477
Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 205f.
RacfT, An Early Theorist of Absolutism. S. 87f.
Döpmann. Der Einfluß der Kirche auf die moskowitischc Staatsidee. S. 98: dagegen Seebohm. Ratio und
Charisma. S. 505ff; Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 215f.
145 Raeff. An Early Theorist of Absolutism. S. 89
146 Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 216
147 Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 204f
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осущ ены л съсоуды, внихж е Бож сствснаа таиньства съверш аю ть, и чсстныл
С ваты хъ
м ощ и,
и
Бож ествены л
церкви;
п о к л аіи ти сл другь дроугоу, и како подобаетъ
ещ е
же
и
поклопатиса
кака)
подобаетъ
и служ ити Царю
или килзю , и како подобаетъ Господоу Богоу нынѣ (!) покланлтисл и Тому
едином у слоуж ити." (254)
"Siovo 7: Erzählung über dic göttlichen Schriften, wic und wodurch cs den Christen geziemt sich zu
verbeugen und die göttlichen Ikonen zu verehren, und das reine und lebensspendende Kreuz Christi, und
das heilige Evangelium und die Gott gefälligen Geheimnisse, und die wesenhaften Geräte, in denen sich
die göttlichen Geheimnisse vollziehen, und die reinen Reliquien der Heiligen und die göttliche Kirche;
und noch davon wie cs sich geziemt, sich voreinander zu verbeugen und wie es sich geziemt, sich vor
dem Zaren oder Fürsten zu verbeugen und ihm zu dienen, und wie es sich geziemt, sich vor Gott dem
Herm heute zu verbeugen und diesem allein zu dienen.”
Nach dieser Formulierung geht es nicht um eine theoretische Rechtfertigung absolutist!scher Zarenm acht, sondern darum, wie man sich gegenüber Gleichen und Ungleichen, in diesem Falle den Oberen, und zwar Zaren und Fürsten, zu verhalten hat Nach Iosifs Argumentation geziem t es einem Christenmenschen, den Vater (2 54f), den Sohn und den Geist
(256ff ), die Ikonen, die heiligen Schriften und anderen liturgischen Geräte (258f. ), ebenso die
Gottesmutter, die Propheten und die Heiligen (259fif.) zu verehren, weil die Verehrung, die
dem
Abbild entgegengebracht wird, auf das Urbild übergeht, ״на
первообразное
прѣходитъ"(255). Nach dem gleichen Prinzip haben die Menschen auch miteinander umzugehen, und dieser Umgang ist folglich auch mit den Oberen zu pflegen
"Р ц см ж е убо и (!) семъ, како подобаетъ покланлтисл другь другу, и како
подобаетъ поклонлтисл, или служ ити. Царю, или кнлзю , или властелину, и
как о подобаетъ нынѣ Господу Богу покланлтисА и Тому Единому послуж ити.
Зри о п асн о ! егда убо другь другу иоклонлемсл, того ради поклонлем сл, ілко
искони Б о гь человѣка п ообразу Своему сътвори." (283)
"Wir reden aber davon, wie cs sich geziemt sich voreinander zu verbeugen, und wie es sich geziemt,
sich vor dem Zaren oder den Fürsten oder den Mächtigen zu verbeugen bzw ihnen zu dienen, und wie es
sich heute geziemt, sich vor Gott dem Herrn zu verbeugen und ihm allein zu dienen. Merke auf? Wenn
wir uns aber voreinander verbeugen, so verbeugen wir uns deshalb, weil Gott den Menschen nach seinem
Abbild geschaffen hat "
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Den M enschen geziemt es, ehrerbietig zueinander zu sein, weil man im anderen das Abbild
Iifi
Gottes ehrt. Als Abbild Gottes muß man auch die Herrscher ehren
"Е гдаж е убо Царю, или кнлзю, или властелину поклонлешисА, и служ ити,
или (AK0 се есть благооугодно Богови, еж е въздавати властем ъ покорсш е и
послуш аніе: (они 60 имѣють (0 насъ понеченіе и п р о м ы ш л с н і е . " (286)
"Wenn wir uns aber vor dem Zaren oder Fürsten oder Mächtigen verneigen und ihnen dienen, oder
wie dies Gott wohlgefällig ist, wenn man der Macht Unterwerfung und Gehorsam entgegenbringt: sie
aber haben über uns die Fürsorge und Vormundschaft "
Diese Argumentation wird gestützt von Exodus 22,27: "Den Göttern sollst du nicht fluchen
und den Obersten in deinem Volk sollst du nicht lästern״, und den Brief des Paulus an die
Epheser, in dem daraufhingew iesen wird, daß die Knechte ihrem Herrn gehorsam sein sollen
(Eph. 6,5) Außerdem steht im 1 Petrusbrief an die Christen unter der Herrschaft von Heiden
׳УлотбултЕ náafl àv 6 pwt£vT! xríoei ôià tòv xupiov, clic ßaoiXci cbç
илер^хоѵи» сТтс луецбоіѵ (bç 01 ’ аОтои лецлоц^ѵоід dç èxõtxT1ü 1v хахолоішѵ
f лаіѵоѵ õè йуаѲолоіФѵ.
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фіцоиѵ Tf!v Ttøv йфрбѵшѵ йѵѲрсЬлшѵ àyvoxríav, (bç èXcúôcpoi x a i nfļ (bç
èmxáXuLALia fxovrcç tí1ç xaxíaç ׳rf|v éXcuôepíav àXX* (bç Ѳсог) ôoûXoi. OI оіх^таі
штотаообдсѵоі év лаѵті cpófkp toïç ôccmôxaiç, ou nóvov xolç àyaôoîç xai
ёлиг1хёо 1ѵ 0 ХХ0 хш то^охоХ ю ^. (1. Petr. 2,13-16, 18)
"Seid untenan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem Könige, als dem Obersten, oder den Hauptlcutcn. als die von ihm gesandt sind zur Rache über die Übeltäter und zu Lobe der
Frommen. Denn das ist der Wille Gottes, daß ihr mit Wohltun verstopfet die Unwissenheit der tönchtcn
Menschen, als die Freien, und nicht, als hättet ilir die Freiheit zum Deckel der Bosheit, sondern als die
Kncchte Gottes. Dir Knechte, seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und
gelinden, sondern auch den wunderlichen "
Da man nicht nur guten Herrschern untertan ist, folgert losif:
״Сего ради подобаеть тѣм ъ поклонлтиса и служ ити тѣлеснѣ, а не душ евнѣ,
и въздавати
имъ
Царьскую
честь, а
не
Бож сственую ,
ілкож е
Господь
148 Seebohm. Ratio und Charisma, S. 504, vermutet, daß dieser Konzeption der dritte Bilderlogos des
Johannes Damasccnos zugrunde liegt.
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глаголсть: въздадите кесарева кесареви, a Б ож іа Богови (Мф. 22,21).м> Аще
сице поклонлеш исА и служ иш и, нѣ ти на пагубу душ и, но паче о т
наоучиш исл
боідтисА
Бога:
Царь 60 Бож іи
слуга есть (Рим.
сего
13,4), къ
человѣком ъ мы слитію и казино.286-287) )״
"Darum geziem( es sich, sich vor ilmen zu verbeugen und ihnen körperlich zu dienen, aber nicht
gcisilich. und ihnen die kaiserliche Ehre zu erweisen, aber nicht die göttliche, wie der Нсгт gesagt hat:
Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist. Wenn du also so dich verbeugst und
dienst, so ist dies nicht zum Verhängnis der Seele, sondern vielmehr lernst du, Gott zu fürchten: Denn der
Zar ist der Diener Gottes, den Menschen zur Umkehr und zur Strafe [eingesetzt]
W ie im Žitie des Michail von Černigov wird auch hier au f Mt 22,21 verwiesen und gefolgert, daß auch der schlechte Herrscher von Gott eingesetzt ist, mit Verweis a u f Rom 13, 1-7,
besonders 4: "Ѳсой y à p ô táx o v ó ç čcrrīv ooi elç
epoßou. o ù y à p etxfl
tò
T f!v i i á x a i p a v
tò
áyaO óv. t à v ò è
tò
x a x ò v notrjç,
<popeI. ѲсоО y à p ô táx o v ó ç è a n v ?xôtxoç elç òpyfjv тф
x a x ò v л р б о о о ѵ тГ , "denn sie [die Obrigkeit] ist Gottes Dienerin dir zugut Tust du aber
Böses, so fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst, sie ist Gottes Dienerin, eine
Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut " Dieser Herrscher ist den Menschen zur Strafe
eingesetzt. Auch im Žitie des Michail von Černigov wird darauf hingewiesen, daß Gott die
Mongolen "um unserer Sünden W illen ״über die Rus' eingesetzt hatte, wie der topos der
kirchlichen Schriften über die Mongolenzeit lautet Im Zusammenhang mit Beispielen für das
benehmen von schlechten Herrschern folgt der Ausdruck "mućiteł*\ ”Henker", der zwar im
Textzusam menhang herausragend, aber folgerichtig ist.
"А щ е ли ж е есть царь надъ человѣки царьствуа, надъ собою ж е имать
царьствую щ а ־скверны а страсти и грѣхи, срсбролю біе ж е и гнѣвъ, лукавьство
и неправду, гордость и ідрость, злѣиш иж е всѣхъ, невѣріс и хулу, таковы и царь
не БожТи слуга, но діаволь, и не царь, но мучитель. Таковаго царл лукавьства
его ради, не нарече царсм ъ Господь наш ь Исусъ Христосъ, но лисом ъ: ш едш е,
рече, рцѣте лису тому." (287)
"Wenn aber ein Kaiser, der über die Menschen herrscht, über sich selbst hinaus herrschen will - mit
abscheulichen Leiden und Sünden, sogar Habgier und Wut. Hinterlist und Unwahrheit. Stolz und Zorn,
böser als alle, mit Unglauben und Frevel, solch ein Kaiser 1st kein Diener Gottes, sondern ein Teufel, kein
Zar. sondem ein Henker. Einen solchen Kaiser nennt unser Herr Jesus Christus aufgrund seiner Hinterlist
nicht Kaiser, sondem Fuchs: Geht, sagte er, sagt jenem Fuchs."
149 Die Bibel verweise wurden von den Herausgebern eingefögt
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Der Ausdruck mučiteP ist in diesem Zusammenhang deshalb irreführend, weil er normaIerweise mit dem Ausdruck "Tyrann" übersetzt wird und damit bei westlichen Lesern einen
negativen H errscher und die gesamte westliche Widerstands- und Tyrannenmordstheorie, die
seit dem M ittelalter etabliert worden ist, evoziert Er verweist jedoch intratextuell au f die
Losung, die es flir eine solche Herrschaft im Einvernehmen mit der Schrift nur geben kann
Die ungenannte Opposition zu diesem Ausdruck ist mučenik, "Märtyrer" Der Ausdruck
mučitel' kann entsprechend dem Märtyrertum mit "Henker" übersetzt werden A uf das Märtyrertum verweisen die folgenden Sätze Einen Fuchs nennt Christus nach Lk. 13,32 den König
Herodes, von dem Pharisäer ihn warnen, daß er ihn töten wolle. Obwohl Herodes ein rechtmäßiger Herrscher ist, ist er nicht gut Trotzdem flieht Christus nicht vor ihm, sondern läßt
ihm sagen, daß er bereit ist, das Martyrium auf sich zu nehmen An dieser Stelle folgt im
Evangelium die Jerusalemklage Christi (Lk 13,34f), in der wiederum die Andeutung von der
Rettung am Ende der Zeit gemacht wird. Der Ausdruck lisica, der ansonsten im Textzusammenhang komisch wirkt, ruft den biblischen Prätext auf und verweist darauf, daß Christus
dem schlechten Herrscher zum Trotz weiter seinen Weg ging und Teufel austrieb und Kranke
heilte, um am dritten Tage das Martyrium zu erleiden Dieses ist jedoch die Voraussetzung fur
die Rettung durch die Auferstehung losif fuhrt außerdem zwei weitere Zitate an, um zu zeigen, daß der schlechte Herrscher nicht vom Menschen, sondern von Gott bestraft wird.
"И П ророкъ глаголеть: царь шплазивъ погыбнеть, путТе 60 его тем ни суть.
Тріе ж е отроци нетокмо не покориш асл повелѣнію Н авьходоносора царл. но
и врага безаконна нарскош а его и мерзкаго ш тъетупника, и лукавнѣиш а паче
всса
зс м л а
.
И ты убо таковаго царл или
и лукавьство приводлщ а
та,
к н а за
да не послуш асш и, на нечестіе
аіце мучить, ащ е смѣртйо ирѣтить." (287)
"Und der Prophet sagt: der abtrünnige Herrscher stirb(, denn seine Wege sind finster Die drei
Jünglinge aber unterwarfen sich nicht nur nicht dem Befehl des Königs Nebukadnezar, sondern nannten
ihn gar einen gesetzlosen Feind und einen elenden Verbrecher, und den Hinterlistigsten im ganzen Lande
Und einem solchen Zaren oder Fürsten sollst du nicht gehorchen um seiner Unreinheit und Hinterlist
willen, ob er henkt, ob er mit dem Tode droht "
Das Prophetenzitat ist eine Fälschung, die jedoch noch einmal dezidiert auf das Ende eines
schlechten Herrschers hinweist, das in der Hand Gottes liegt Schließlich verweist lo sif a u f
das Ende des Nebukadnezar als Verwirrter in der Wüste (Dan. 4.22-29)150 und leitet mit den
150 Auf diese Stelle гскиттісп auch Ilarion im Siovo о zakone i biagodati 189b, 2-14. Sie scheint Teil der
alttestameniansehen Erzählungen am Ende des kirchcnslavischen Psalters gewesen zu sein.
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drei Jünglingen im Feuerofen (Dan 3) über zum Martyrium, das man erleiden kann, wenn
man dem schlechten Herrscher ermahnt und ihm den Gehorsam verweigert Hier nun wird die
Opposition zu mučiteV explizit genannt
,׳Сему свѣдетсльствоую ть Пророци и А постоли, и вси мучсници, иж е штъ
нечестивы хъ царей убіени бы ш а и повелѣнію ихъ не покориш асл. Сицс
подобаеть служ ити ц арсм ъ и кнлземъ!" (287-288)
"Davon aber zeugen die Propheten und Apostel und alle Märtyrer, die vom ungerechten Kaiser
ermordet worden sind und ihren Befehlen nicht gehorcht haben. So geziemt cs sich, den Zaren und
Fürsten zu dienen!"
Die Passage schließt gerade nicht mit der Erlaubnis, einem schlechten Herrscher Widerstand zu leisten , 151 sondern damit, daß es sich geziemt, den Herrscher zu ermahnen und ihm
zu dienen, wovon auch die Propheten, Apostel und Märtyrer zeugen Die Bestrafung des ungerechten Herrschers wird Gott überlassen ,152 Gehorsamsverweigerung fuhrt zum Märtyrertum Die Em phase liegt hier jedoch anders, als das moderne Empfinden es haben will Wer
unter dem schlechten Herrscher den Tod erleidet, wird nicht bestraft, sondern da rf Märtyrer
sein Das Untertansein fuhrt also in beiden Fällen zum Heil Ist man dem guten Herrscher
untertan, so bringt man ihm Ehre entgegen und ehrt in ihm das Urbild: Gott. Ist man dem
schlechten Herrscher untertan und ermahnt ihn, im Sinne Gottes zu handeln, so darf man den
M ärtyrertod erleiden und wird somit erhöht
Die Ausführungen losifs über das Benehmen dem Guten und dem schlechten Herrscher
gegenüber laufen also nicht auf aktiven Widerstand gegen die Obrigkeit hinaus und unterscheiden sich in diesem Punkt von der oben von Ostrowski festgemachten byzantinischen
politischen Theorie Sie erlauben zwar den Tadel und die Befehlsverweigerung, doch hat sich
der Untertan der Macht der Obrigkeit in jedem Falle zu unterwerfen und ihr Urteil anzunehmen, mag es nun gut oder schlecht sein Der eschatologische Ausweg aus diesem Dilemma
fuhrt über das Märtyrertum Wer dem schlechten Herrscher nicht gehorcht, kann von ihm zum
M ärtyrer gem acht werden und ist so noch seines Heils gewiß. Mit dieser Erklärung befindet
sich lo sif Volockij voll und ganz im Paradigma der christlichen W iderstandslehre, wie sie
151 Diese Sichtwcisc hat sich in der Forschung so festgesetzt, daß Daniel Rowland dem Ausdruck mučiteV gar
eine neue Wortbedeutung mitgeben konnte. Vgl. Rowland, Biblical Military Imagery, S. 189f.; T h e
recurrent theme o f a battle against *tyrants' brings up an interesting linguistic point: the Slavic word
muchiteV signified both one who torments martyrs (mucheniki) and a tyrant, an illegitimate. Godless ruler."
Dies schließt er auch in Did Muscovite Literary Ideology Placc Limits on the Power o f the Tsar? Vgl
Ostrowski, Muscovy and the Mongols. S. 204f
152 So auch Seebohm. Ratio und Cliarisma, S. 509
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sich in den ersten Jahrhunderten des Christentums herausgebildet hat, das die beiden Reiche
klar trennte und deshalb erklären mußte, wie ein Christ sich gegenüber einem sündhaften und
verbrecherischen Herrscher zu verhalten hat, wenn er seines Heils nicht verlustig gehen
wollte. Christus tadelte nur den Machtmißbrauch (Jh. 19,11), und Paulus lehnte jeglichen
Widerstand als Widersetzlichkeit gegen Gott ab (Rom
13) Persönlich erlittenes Unrecht
wurde mit asketischer Haltung wie Demut, Sanftmut und Verzeihung bis zur Kreuzesnachfolge vergolten (1. Petr 2,15) Diese urchristlichen Texte werden von lo sif zitiert und in seine
Argumentation mit einbezogen Bei sündhaften Befehlen muß Gott mehr gehorcht werden als
den Menschen, muß zurechtgewiesen werden und Widerstand bis zum Martyrium geleistet
werden (Apg. 5,9; Hebr 12,14; Gal 2,11) Auch die Kirchenväter billigten mit Ausnahme
von Origenes keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt .153 Die Erläuterung im 7. Slovo darüber, wie man sich den Mächtigen gegenüber zu verhalten hat und sein persönliches Heil
gegenüber sündhaften Herrschern wahren kann, sind also konform mit der Tradition der Kirche seit ihren Anfängen, die losif im Prosvetitel' sammelt, um den Häretikern den rechten
Glauben gegenüberzustellen
Im 16 Slovo geht es schließlich darum, wie sich der Herrscher gegenüber den Häretikern
zu verhalten hat, um die Rechtgläubigkeit und damit das Heil fiir seine Untertanen zu erhalten. Dies wird schon in der Überschrift gesagt
״Слово 16:
На ересь новогородскихъ срстиковъ, глаголю іцихъ, íako еретицы
или
аугьстунницы, о своихъ срссѣхъ и о ш тъвсрж ь ніихъ егда обличени и осуж ени
будутъ, и аіце начнуть калтисл, иодобаегь пріимати ихъ покалш а, и милости
сиодобити. Здѣж е имать свидѣтсльство шть бож ествсны хъ писаіии: ащ е
ерстикъ или сотъступникъ не своею волею, но обличенъ бысть и осуж енъ,
начисть
калтисл,
таковое
покалніс
не
прілтно
бываетъ:
татіе
60
и
разбойницы , и убіицы и гробокопатели, и иніи злодѣе, егда обличени будутъ і
осужени, тогда каютсл. Но н еп ри тн о бывасть покалш е ихъ. (527) ״
״Slovo 16: Gegen die Häresie der Novgorodcr Häretiker, die sagen, wenn Häretiker oder Verbrecher
ihrer Häresie und Entrechtungen überführt und verurteilt werden, und wenn sie beginnen zu bereuen,
geziemt es sich, ihre Reue anzunchmcn und Gnade zu walten. Hier gibt es das Zeugnis aus den göttlichen
Schriften: Wenn ein Häretiker oder Verbrecher nicht aus eigenem Willen, sondern überführt und
verurteilt wurde, und beginnt zu bereuen, so ist eine solche Reue nicht anzunchmen: Verbrecher aber und
153 Angermair/Wcinkauff. Widcrstandsrecht, S. 670ff.
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Räuber, und Mörder und Grabschänder, und andere Bösewichter, wenn sie überfuhrt werden und
verurteilt, dann bereuen sie. Aber ihre Reue wird nicht angenommen werden."
Diejenigen Häretiker, die ihre Sünden beichten und bereuen, können auch von ihnen losgesprochen werden. Wenn sie jedoch erst auf Nachfrage zugeben, daß sie gesündigt haben, sollen sie bestraft werden wie Adam und Kain. (530f.) Wenn sie nicht zugeben, daß sie gesündigt haben oder dies nur aufgrund von Strafandrohung tun, bereuen sie nicht wirklich und
müssen deshalb nach den Anordnungen der ökumenischen Konzile, die aufgezählt werden,
bestraft werden (5 3 2 f) Wenn sie nämlich nicht bestraft werden, sondern man sie wirken läßt,
dann wird das russische Reich ebenso untergehen wie vor ihm das armenische, das athiopisehe und das römische. (545) Eine besondere Bedeutung kommt deshalb den Taten des Herrschers zu, der dafür zu sorgen hat, daß in seinem Reich die Häresie nicht fo rtb esteh t 154 Um
dem Nachdruck zu verleihen, wird ein Wort des Kaisers Konstantin zitiert, das eine Ermahnung des Herrschers darstellt
"Тѣмж е разумѣйтс царіс и к іи зи , и бойтссл страха В ы ш н а г о : ваш его 60
ради спасешА наиисахъ вамъ, да, БожТю волю сотворш с, иріимѣте а т > него
милость: васъ 60 Б о гь вьссбе мѣсто посади на престолѣ своемъ. Сего ради
подобаетъ ц арем ж е и кнлзем ъ велко тщ аніе to благочестіи имѣти и соуіцихъ
подъ нимъ оггь трсволнсніл спасати душ евнаго и тѣлсснаго." (547)
"Darum aber bedenkt euch. Zaren und Fürsten, und fürchtct euch vor dem Zorn des Höchsten: um
eurer Rettung willen ist euch vorgcschncbcn. wenn ihr nur gut Gotes Willen erfüllet, erhaltet ihr von ihm
Gnade: euch aber hat Gott an seiner Stelle auf seinen Thron gcsct2 t. Darum geziemt es sich den Zaren
und den Fürsten, alle Sorge über die Frömmigkeit zu haben und ihre Untergebenen vor geistlicher und
körperlicher Unruhe zu retten."
Wie es Aufgabe der Sonne ist, die Erde zu bescheinen, so ist es Aufgabe des Herrschers,
über seine Untertanen zu wachen. Denn seine Macht ist ihm von Gott gegeben (547) Um die
Person und die Macht des Herrschers zu klassifizieren, greift losif a u f Agapetus, einen
154 Auch Seebohm. Raüo und Chansma, S. 237, weist darauf hin. daß losif auch in den 90er Jahren nicht in
genereller Opposition zum Großfürsten stand und daß seine Opposition nicht dem Großfürsten als
Autokrator galt, sondern der Häresie, die der Autokrator duldete. Diese Haltung Iosifs zeigt sich hier
analog zum Typikon Weder im Kloster noch im Staat sollen Unruhe herrschen, damit die Verbindung
durch бцоіш ца zu den Urbildern aufrcchterhaltcn wird, bzw damit das Heil auf der Erde erhalten bleibt.
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byzantinischen Schriftsteller des 6 . Jahrhunderts, zurück, der schon Justinians Macht theologisch gerechtfertigt h a t 155
״Ц арь оубо естествомъ подобенъ есть всѣмъ человѣком ъ, властію ж е
п од об ен ъ есть выш нему Богу. [...] Но, ілкоже Б огь хощ етъ
спасти, так о ж с и царь все подроучное емоу да хранить йя־ь
душ свнаго и тѣлеснаго,
іа к о
вса
человѣки
в с а к зго
вреда
да, Бож ію волю сотворш с, п р и м е т е штъ Бога
со б есп л о тн ы м и силами происноущнос радованіе,
(а к о ж с
сам ъ обѣш алъ вы
есть: да идѣж е Азъ боуду, тоу и слуга мой. и воцаритесл с ним ъ и вшвѣки
срадуетесл." (547)
"Der Zar ist aber seinem Wesen nach dem Menschen gleich, seiner Macht aber ist er dem höchsten
Gotte gleich. |...] Da aber Gott alle Menschen retten will, so muß auch der Zar alles itun Übergebene vor
jeglichem geistlichen und körperlichen Ungemach bewahren, wie er ja. um Gottes Willen zu erfüllen, von
Gott mit körperlosen Kräften ausgesiattet worden ist. wie cs euch selbst versprochen wurde: ja. ich werde
sein, und du bist mein Diener. Und ihr herrscht mit ihm und freut euch in Ewigkeit."
Jeder Herrscher hat sich um die körperliche und seelische Unversehrtheit und Rettung seiner Untertanen zu kümmern, weil er an Gottes Stelle steht, dem die Rettung der Menschen am
Herzen liegt. Es ist diese pastorale Aufgabe, die die Herrscher gegen die Häretiker handeln
lassen muß, und es ist zu deren und der rechtgläubigen Untertanen Bestem. Den Herrschern,
die ihre Untertanen quälen und die sich nicht um ihr Wohlergehen kümmern, wird mit Gottes
Strafgericht gedroht Sie werden als erster vor Gottes Gericht gestellt, weil sie zw ar ihrer
Macht nach göttlich, ihrem Wesen nach aber menschlich sind. Die Verantwortung der Mensehen wird mit ihrer Abbildlichkeit begründet
"Die Antwort [auf die Frage, warum ein Christ verpflichtet ist, dem anderen Ehre
entgegenzubringen] ergibt sich aus dem Prinzip der Ikone: Die Proskynese muß erwiesen werden, weil Gott den Menschen, d.h. nach dem ersten Logos seine dem Übersinn155 Auf die Tatsache, daß losif hier Agapctus zitiert hat zuerst Ihor Ševčenko hingewiesen. Er hat auch
konkrete Textvcrgleiche angestellt ln der vorliegenden Analyse ist das Zitat jedoch nicht so selir
alleinstehend wichtig, sondern im weiteren Textzusammenhang des Prosvetitel'. Deshalb sei hier nur auf
die Beiträge verwiesen: ševčenko. Ihor: A Neglected Byzantine Source of Muscovite Political Ideology,
in: Harvard Slavic Studies 2 (1954), S. 141-179, und Ševčenko. Ihor: Agapetus East and West. The Fate of
a Byzantine "Mirror of Princes", in: Revue des Études Sud-Est Européennes 16 (1978). S. 3-44. Der
Verweis auf Agapctus ist im Anschluß an Ševčenko in der Sekundärliteratur beinahe zu einem topos
geworden, dem ich mich hier angeschlosscn habe. Es verweisen darauf: Döpmann, Der Einfluß der Kirche
auf die moskowitischc Staatsidec. S. 135f.; Lur'e, losif Volockij, S. 436; Seebohm. Ratio und Cliarisma. S.
298f., Špidlik. Joseph de Volokolamsk, S. 143; Szeftel, Joseph Volotsky's Political Ideas. S 21f. Zur
Verbreitung des Agapetus-Zitats vgl. Uspenskij. Semiotik der Gcschichtc, S 133-138.
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lichen zugehörige Seele, nach seinem Bilde schuf Entsprechend gilt die Proskynese
nicht dem M enschen als Körper [...] sondern geht letztlich au f das göttliche Urbild über,
lo sif fugt eine Konsequenz von erheblicher praktischer Bedeutung zu: Der Mensch, der
sich von Gott abwendet, der Häretiker, stellt sich unter die Macht des Teufels, den er
nun repräsentiert. Er hat deshalb keinen Anspruch au f Proskynese und jede Gemeinschaft mit ihm ist verboten
[...] In einem nächsten Schritt überträgt der Abt das Ikonenschema a u f die Interpretation legitimer und illegitimer weltlicher Herrschaft. Ähnlich wie der Mensch in und
durch seine Gottebenbildlichkeit über die körperliche Welt herrscht, hat der über Mensehen körperlich, nicht geistlich herrschende Zar als Diener Gottes seine Macht von
Gott empfangen und so sind ihm entsprechende Ehren zu erweisen. Wird ein Zar allerdings aus einem Diener Gottes zu einem Diener des Teufels, d h versinkt er in Sünde
und Häresie, dann verliert er den Anspruch auf Gehorsam und zarische Ehren Vergleicht man diese Vorstellung von der Legitimation weltlicher Macht mit den Ausftihrungen, die Josif Sanin später im Anschluß an Agapet in seinen Briefen an Vassilij III
und Jurij Ivanovič macht, so läßt sich eine Akzentverschiebung in praktischer politischer Hinsicht nicht übersehen Das Recht auf Gehorsamsverweigerung bis zum Martyrium in passivem Widerstand gegenüber einem Herrscher, der zum Teufelsdiener
wurde, wird nicht mehr erörtert An seine Stelle tritt die durch zahlreiche Beispiele
belegte These, daß Reiche, deren an sich rechtgläubige Herrscher Häresien nicht konsequent verfolgen, dem Irrglauben verfallen und zu Grunde gehen Die Formulierungen
aber, mit denen Josif im Anschluß an Agapet die Stellung und die Aufgaben beschreibt,
fugen sich dem im Prosvetitel' vorgezeichneten Denkschema durchaus ein: Den Herrschem, - Zaren aber auch Fürsten -, ist ihre Macht von Gott gegeben Er hat sie auf
Erden erwählt und sie an seiner Stelle au f seinen Thron erhoben Der Herrscher repräsentiert Gott in beiden Aspekten göttlicher Herrschaft. Er repräsentiert Gott gegenüber
Verbrechern und gegenüber Häretikern A uf der anderen Seite 'verähnlicht' er sich Gott
durch nichts so sehr wie durch Milde und Gerechtigkeit gegenüber gehorsam en und
gläubigen Untertanen [ ..] man hat hier, nun auf den Herrscher angewendet, die Auslegung [...], die sich au f die sittliche Gottverähnlichung des Menschen bezieht.156״
156 Secbohm. Ratio und Charisma. S. 498Г
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Es liegt Iosif also fern, im letzten Kapitel des Prosvetitei' eine Herrschaftstheorie zu schaffen 157 Er hat vielmehr bereits im 7 Siovo gezeigt, daß de Herrschaftsordnung von Gott
festgelegt ist und daß man in ihr unter allen Umständen zum Heil kommt, weil dies das Ziel
Gottes mit den M enschen ist, wenn man sich nur an die heiligen Schriften hält und nach ihnen
handelt. Es klingt hier ein impliziter V orwurf an die Häretiker an, die diese Schriften und
Traditionen in Frage stellen und sich somit gegen die von Gott aufgestellte Ordnung stellen
An diesem Punkt kann auch die Rückbindung an die Klosterordnung als intratextuellem
Abbild der göttlichen und weltlichen Herrschaft innerhalb der Rus' stattfinden, die mit allen
Mitteln versucht, die Menschen im Kloster in der von Gott bestimmten Ordnung festzuschreiben, um ihre Abbildlichkeit zu erhalten, wie wiederum essentiell flir ihr Heil ist Das letzte
Kapitel ist noch einmal die Aufforderung an die Herrscher, Gottes Werk zur Rettung der
Menschen aufgrund ihres Mandats zu vollenden und gegen die Häretiker mit aller Schärfe
vorzugehen, weil sie die Ordnung zu zerstören drohen Bei einer Zerstörung der Ordnung
gingen die M enschen ihrer Rettung verlustig, weshalb sie um jeden Preis verhindert werden
sollte
losif Volockij beschreibt also im Prosvetitei' den status quo einer von Gott eingesetzten
Ordnung auf der Erde, die durch ihre Abbildlichkeit von der göttlichen Ordnung legitimiert
wird und die auf jeden Fall durch göttlichen Ratschluß schon vor der Zeit errettet werden soll.
Er beschreibt des weiteren die Handlungsmöglichkeiten der Menschen innerhalb dieser Ordnung, die durch die Überlieferungen der heiligen Schriften determiniert und deshalb - ihnen
allen zur Rettung - stark eingeschränkt sind Es ist gerade dieses pastorale Verständnis von
der Einsetzung der Ordnung zum Heil der Menschen, das lo sif treibt, diesen eher Unterordnung und Märtyrertum anzuempfehlen als Widerstand gegen die Herrschaft, und das ihn den
Herrscher zum Gericht mit den Häretikern antreiben läßt, für deren Verbrechen ihm schier die
W orte fehlen Hier handelt er gemäß den vorher von ihm selbst aufgestellten Richtlinien und
ermahnt die Herrscher, indem er sie an ihr Mandat vor Gott und an ihre Abbildlichkeit von
ihm erinnert. Die Herrscher müssen sich um die Errettung ihrer Untertanen sorgen, weil ihre
Macht der göttlichen ähnlich ist. Sie handeln ihrem Mandat gemäß an Gottes Stelle zur Rettung der Menschen Sie müssen sich außerdem um ihre eigene Rettung sorgen, weil sie ihrem
Wesen nach allen Menschen ähnlich, also wiederum Abbilder Gottes sind Beide Arten der
Rettung und ihre Rechtfertigungen bedingen einander, beide sind au f die Abbildlichkeit der
Herrscher zunickzuftihren. Indem losif sie den Herrschern vor Augen fuhrt, ermahnt er sie
157 Vgl. Rowland. Did Muscovite Literary Ideolog) Place Limits on the Power of the Tsar?. S. 127.
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zum Handeln ihrer Abbildlichkeit gemäß Letztendlich geht es losif um die Rettung der Mensehen durch die Rettung der gottgewollten Weltordnung, die er zu retten versucht, indem er
sie beschreibt
Es ist die im ProsvetiteV festgeschriebene Weltordnung, au f die sich Ivan IV in seiner
I
Regierungszeit beruf und die ihn zu seinen Handlungen treibt
Die Annahme dieser Ord-
nung durch Ivan wird im Briefwechsel mit Kurbskij und in der Einführung der Opričnina
deutlich, weshalb diese beiden Punkt hier noch erläutert werden sollen
Ivan IV Vasil’evič (1530-1584), Groznyj genannt ,159 ist der erste M oskauer Zar, der als
solcher gekrönt wurde In ihm und in seiner Zeit kulminiert das Bild von der Rus' als Abbild
des himmlischen Jerusalem und des auserwählten Volkes Gottes auf vielfältige Weise. losif
Volockijs Definition des Herrscheramtes im 16. Slovo war Ivan im W ortlaut bekannt, da sie
bei seiner Zarenkrönung vom Metropoliten Makarij benutzt worden w a r 160 Er rekurriert darau f in dem Brief, den er an Andrej Kurbskij, seinen nach Litauen geflohenen Bojaren,
schreibt, und in dem er sich flir seine Handlungen während der Opričnina 161 rechtfertigt. Es
wird im folgenden gezeigt werden, daß Ivan bewußt typologisch handelte Schon im ersten
B rief an Kurbskij entwirft Ivan, wie Priscilla Hunt zeigen konnte, eine ganze M ythologie des
Zartums
״Thus Ivan's interpretations o f him self and his actions from the beginning to the end
o f the Oprichnina represent a coherent system analogous to the Wisdom interpretation
o f the tsar's *two bodies' in Christ. His first Epistle to Kurbskii at the beginning o f the
period portrays his ,strength in weakness' and includes intimations o f the paradigm o f
Holy Folly which, together with his identification with the Archangel Michael, justified
his actions. His ability to adapt his personal mythology o f his duality in Christ to his
circumstances, and to use it to justify both the creation and dismantling o f the Oprich-
158 Dies deutet schon RacfT. An Early Theorist of Absolutism, S. 89, in Bezug auf den 2. Brief Ivan Kurbskijs
an, ohne jcdoch näher darauf cinzugehen.
159 Zur Biographic s. Skrynnikow. Ruslan G : Iwan der Schreckliche und seine Z eit München 1992; Dvorkin,
Alexander: Ivan the Terrible as a Religious Type. A Study of the Background Genesis and Development
of the Theocratic Idea of the First Russian Tsar and His Attempts to Establish "Free Autocracy" in Russia.
Erlangen 1992 ( - Oikonomia. Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie, 3 1).
160 Bushkovitch. The Epiphany Ceremony, S. 8, FN 10, zit. Zimin, A.A : I. S. Peresvetov i ego sovremenniki,
Moskva 1958. S. 77-79.
161 ״Opričnina" ist eigenüich das Teilfìirstentum Ivans, auf das er sich nach seiner Abdankung zurück/og, um
dort einen eigenen Verwaltungsapparat und ein eigenes Heer in Opposition zum restlichen Land der Rus',
der “ZemSčina", aufzustellcn. Der Ausdruck steht jedoch auch für die Zeit des Tenors. 1565-1572. in der
das Heer der Opričnina, die Oprićmki, in die Zemščma einfiel, um deren Bewohner zu bestrafen
"Opričnina" steht normalcrwcisc sowohl für das Territorium als auch für die Zeit des Terrors Zum Tenor
der Oprtčnina vgl. Skry nnikow, Iwan der Schreckliche. S 70-261
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nina indicates its compensation for his paranoia In response to criticism, he justified
him self by interpreting him self as a heightened form o f the organic unity o f the state, as
a part equal to and condensing the energy o f the whole In so doing, he proved him self a
master mythmaker, defining his own sacredness by analogy to the higher paradigms o f
Christian myth elaborated by his official ideologists to express the messianic concept o f
state and tsar ."162
W ährend Hunt jedoch davon ausgeht, daß es sich hierbei um eine "persönliche Mythologie” handelt, in der Ivan die Zeichen seiner Zeit kreativ umsetzte ,163 möchte ich im folgenden
anhand der beiden ersten Briefe zeigen, daß sich sowohl Kurbskij als auch Ivan in den hier
schon vorher beschriebenen Koordinaten bewegen, und sich in der Herrschaftstheorie darauf
beziehen, daß der Herrscher von Gott eingesetzt ist, zwei Naturen hat und über das auserwählte Volk herrscht, daß es sich bei Ivans Herrschaftsauffassung also nicht um persönliche
Mythologie, sondern um die Auffassung seiner Zeit handelt, nach der sein Verhalten zu verstehen ist
Der Briefwechsel zwischen Ivan IV und dem Bojaren Andrej M ichajlovič Kurbskij ist erst
in Handschriften des 17 bis 18 Jahrhunderts erhalten, eine Tatsache, die dazu beigetragen
hat, ihn als Fälschung zu klassifizieren 164 Die Keenan-Kontroverse ist noch lange nicht abge•
schlossen, doch hat sie sich als extrem fruchtbar sowohl fiir die Forschungen zu Kurbskij als
auch für die zu Ivan IV erwiesen .165 Ein Resultat dieser Kontroverse ist, daß man inzwischen
von einer erwiesenen Echtheit der ersten beiden Briefe ausgeht ,166 die im folgenden erläutert
werden sollten Die ersten Briefe wurden 1564 geschrieben
162 Huni. Ivan IV*s Personal Mythology, S. 806
163 Hunt, Ivan IV*s Personal Mythology, S. 806; "White Ivan IV*s personal mythology o f kingship was
creative and even innovative, it was in keeping with the spirit of his time and revealed him to be a man of
his age."
164 Fennell. The Correspondence, S. x-xi. zählt 13 Manuskripte aus dem 17. Jahrhundert auf. Zur Diskussion
um die Fälschung des Briefwechsels vgl. Kccnan. Edward L.: Kurbskii - Groznyï Apocrypha The
Scvcntccnth-Ccntuiy Genesis of the "Correspondence’' Attributed to Prince A. M. Kurbskii and Tsar Ivan
IV., Cambridge. M ass. 1971; s. dagegen Skrynmkov, Ruslan G.: Percpiska Groznogo i Kurbskogo
Paradoksy Edvarda Kinana. Leningrad 1973. Vgl Schcidcgger, Endzeit. S. 90ff zur Fälschungsdebatte
165 S. Waugh, Daniel Clarke: The Correspondence Concerning the "Correspondence", in: Harvard Ukrainian
Studies 19 (1995). S. 23-65; Halpenn, Edward Kccnan and the Kurbskii-Groznyj Correspondence; Kccnan.
Response to Halpeno. Auerbach. Inge: Kurbskij-Groznyj Apokrypha und kein Ende?
166 Halpcrín. Edward Kccnan and the Kurbskii-Groznyj Correspondence. S. 362f.; Hunt. Ivan IV s Personal
Mythology. S. 774. Sollte sich herausstcllen. daß die Briefe doch Fälschungen aus dem 17. Jahrhundert
sind, so hat dies für die hier geführte Analyse keine Bewandtnis. sondern zeigt nur. daß das Gedankengut
des Pros\>etiteV auch im 17. Jahrhundert im kulturellen Bewußtsein vorhanden war.
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Andrej MichajloviČ Kurbskij, ein Bojar und Feldherr des Zaren, war vor der Verfolgung
durch Ivan nach Litauen geflüchtet .167 Von dort aus schrieb er ungefähr 1564 einen B rief an
den Zaren, in dem er ihn bezichtigt, an ihm und anderen unrecht gehandelt zu haben Kurbskij
bezieht sich in diesem B rief au f lo sif Volockijs Konzept des schlechten Herrschers, wie es im
7. Siovo des Prosvetitei' erläutert wurde. Er erkennt zwar in seiner Anrede Ivan als von Gott
eingesetzten Herrscher an, fugt jedoch hinzu, daß es "um unserer Sünden willen" geschehen
ist
"Ц арю , о т бога пренрославленному, паче ж е во православии прссветлу
явивш уся, ны не ж е грех ради наш их сопротив сим обретеся." (9 )168
"An den Zaren, der von Gott erhöht und einst durch seine Rechtgläubigkeit hell erstrahlte, der sielt
aber jetzt, um unserer Sünden willen, als das Gegenteil davon erweist." (362)169
Dadurch, daß er behauptet, Ivan sei "um unserer Sünden willen" von Gott über das russisehe Volk eingesetzt, setzt er Ivan mit den Mongolenherrschern gleich, während das russische
Volk immer noch Abbild des Volkes Israel ist, das unter dem Herrscher leidet So lautet sein
erster direkter V orw urf an Ivan:
"П ро что, царю , силны х во И зраили побил еси и воевод, от бога данны х ти,
различны м см ертем предал еси и победоносную, святую кровь их во церквах
бо ж и и х во влады чны х торж ествах пролиял сси, и м ученическими их кровьм и
праги
церковны е обагрил еси, и на доброхотны х твоих и душ у за тя
полагаю щ их
неслы ханы е
мучения
и
гонения
и
смерти
умы слил
еси,
изм енам и и чародействы и иными неподобны ми оболгая православны х и
тщ ася со усердием свет во тьму прелагати и сладкое горько прозы вати?" (9)
"Weshalb hast Du. Zar, die Mächtigen Israels umgcbracht und die Dir von Gott gegebenen
Wojcwoden mannigfachen Todesarten überantwortet? Weshalb hast Du ihr heiliges Siegerblut in den
Gotteshäusern während der feierlichen Gottesdienste vergossen und die Kirchenschwellen mit ihrem
Märtyrerblut getränkt9 Weshalb hast Du gegen die Dir willfährigen, die ihr Leben für Dich hingeben.
Martem ohnegleichen, Verfolgungen und Todesqualen ersonnen? Weshalb beschuldigst Du wider
167 Lur*e, Ivan IV Vasil'evič Groznyj, S. 373; vgl. zu Kurbskijs Flucht Skrynmkow, Iwan der Schreckliche, S.
93-104; Aucrbach, Identity in Exile, S. 11-17
168 Ich zitiere den Briefwechsel nach: Percpiska Ivana Groznovo s Andreem Kuibskim. tekst podgotovili Ja. S.
Lur'e i Ju. D. Rykov, Leningrad 1979. Alle Seitenangaben stehen im Text.
169 Die Übersetzung folgt: Der Briefwechsel des Fürsten Andrej Kurbskij mit Iwan Grosny, in: Grasshoff.
Helmut / Müller, Klaus / Sturm, Gottfried (Hrsg.): O Bojan, du Nachtigall der alten Zeit. Sieben
Jahrhunderte altrussische Literatur, Frankfurt am Main 1975, S. 362-378; die Seitenangaben der
Übersetzung stehen in Klammem im Text. Wo keine Angaben stehen, haben die Herausgeber den Text
gekürzt, und die Übersetzung stammt von mir
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besseres Wissen die Rechtgläubigen des Verrats, der Hexerei und anderer Vergehen und trachtest eifrig
danach, Licht in Finsternis zu verkehren und Süßes bitter zu nennen?” (363)
Ivan wird von Kurbskij beschuldigt, nicht als rechtmäßiger Herrscher zu handeln, weil er
seine Untertanen dem Tod überantwortet und ihr Blut vergießen läßt. Indem er diese Toten als
M ärtyrer bezeichnet, spricht Kurbskij das Urteil über Ivan, der ein schlechter, den M enschen
um ihrer Sünden willen eingesetzter Herrscher ist, den lo sif Volockij zufolge Gottes Strafgerieht ereilen wird. Dieses Strafgericht droht Kurbskij dem Ivan an und benutzt auch den gleichen Ausdruck wie losif, wenn er Ivan einen mučiteV nennt. Auch hier kann mučiteV nicht mit
"Tyrann ״gleichgesetzt werden, weil es im Kontext um das Schaffen von M ärtyrern unter
Gottes auserwähltem Volk geht
"Али бссмертен, царю , м ниш ися, и в небытную ересь прельщ ен, аки не
хотя уже прсдстати неумытному судие богоначальному Исусу, хотящ ем у
судити вселснней в правду, паче ж е ирегордым мучителе, и не обинуяся
истязати их и до влас прегреш ения, яко ж е словеса глаголю т?" (9)
"Bildest Du Dir ein, Zar, Du seist unsterblich? Oder wurdest Du zu dieser Ketzerei ohncglciclien
verleitet und willst nun nicht vor den unbestechlichen Richter Jesus, den Sohn Gottes, treten, der wahrlich
die ganze Welt, besonders die so hochmütigen Peiniger richten und von ihnen ohne Umschweife bis auf
die Haare der Versündigung Rechenschaft fordern wird, wie cs geschrieben steht?" (363)
Die Antwort Ivans auf das Schreiben Kurbskijs ist wesentlich länger als dieses Neben
Ausfällen ad hominem geht Ivan detailliert auf die Vorwürfe Kurbskijs ein und entkräftet sie.
Dabei schreibt er auch, wie er seine Herrschaft betrachtet Wie alle Herrscher in der Rus' sieht
auch Ivan sich in direkter Folgelinie von Konstantin dem Großen und Vladimir dem Heiligen
"Bor наш Троица, иж е преж де век сый и ныне есть. О тец и С ы н и Святы й
дух, ниж е начала имеет, ниж е конца, о нем ж е ж ивем и дви ж ем ся, им ж е
царис величаю тся и силнии пиш ут правду; иж е дана бы сть единороднаго
слова бож и я Исус Христом, богом наш им, победоносная хоруговь крест
честный,
и
николи
же
победима
есть,
первому
во
благочестии
царю
Констянтину и всем православным царем и содерж итслсм православия. [.. ]
Сего
убо
православия
истиннаго
Росийскаго
царствия
сам одерж авство
бож иим изволением почен от великаго князя Владимира, просветивш аго
Рускую землю святым крещ ением, и великого князя Владимира М ономаха,
иж е от грек высокодостойнейш ую честь приимш у, и храбраго великого
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государя А лександра Н евского, иж е над безбож ны м и немцы белию победу
показавш аго, и хвалам достойнаго великого государя Д им итрия, иж е за
Д оном над безбож н ы м и агаряны велию победу показавш аго [...]12) )״
"Unser drciciniger G ott der ewig war und ist. Vater, Sohn und Heiliger Geist, der weder Anfang noch
Ende h a t in dem wir leben und wandeln, von dem die Zaren ihre Macht erhalten und in dessen Namen
die Mächtigen Recht sprechen! Das siegreiche und unbesiegbare Banner des eingeborenen Wortes Gottes
- das heilige Kreuz - wurde von Jesus Christus, unserem Herrn, dem ersten gottcsfurchtigen Kaiser,
Konstantin, gegeben sowie allen rechtgläubigen Zaren und Beschützern der Rcchtgläubigkeit (...) Nach
Gottes Rat und Willen nalim im Russischen Reich die Herrschaft der wahren Rcchtgläubigkeit ihren
Anfang bei dem großen Zaren Wladimir, der durch die heilige Taufe das ganze russische Land
erleuchtete, und bei dem großen Zaren Wladimir Monomach, der von den Griechen allerhochwürdigstc
Ehre empfing, und bei dem tapferen und großen Herrscher Alexander Newski, der die gottlosen
Deutschen besiegte, und bei dem ruhmeswürdigen und großen Herrscher Dimitri, der am Don über die
gottlosen Söhne der Hagar einen entscheidenden Sieg errang." (366f.)
Indem Ivan gerade die "Vorfahren" aufzählt, die gegen die Ungläubigen gekämpft haben,
weist er schon am Anfang des Briefes den Vorwurf zurück, er sei mit den Fremdherrschern
gleichzusetzen, die "um unserer Sünden willen" eingesetzt wurden Er sieht sich im Gegenteil
als rechtgläubigen Herrscher über Gottes Volk, der die Aufgaben zu belohnen und zu bestrafen hat. A uf diese Aufgaben beruft sich Ivan im Laufe des Schreibens immer wieder (36,
39flf, usw.), und weist daraufhin, daß er die von Kurbskij erwähnten Opfer nicht unrechtmäßig ermordet, sondern rechtmäßig bestraft hat
"А сильных есми во И зраили не побили, и не всм, кто есть сильнейш ий во
И зраили,
понеж е
60 Русская зем ля
правится
бож иим
м илосердием ,
и
пречисты е богородицы милостию , и всех святы х м олитвам и, и родителей
наш их влагословснием , и последи нами, своими государи, а не судьям и и
воеводы, ниж е ипаты и стратиги. Н иж е воевод своих различны м и см сртьм и
разторгли есм я, - а з
бож ею пом ощ ию имеем у себе воевод м н ож ество и
опричь вас, изм енников. А ж аловати есмя своих холопей вольны, а и казнити
вольны ж е есми были.
[...] А мук и гонения и смертей многообразны х ни на кого не ум ы сливали
есм я; а еж е о изменах и чародействе воспомянул еси, - ино таких собак везде
казн ят." (26)
"Die Mächtigen Israels haben Wir nicht umgcbracht auch wissen Wir nicht, wer der Mächtigste von
Israel ist Das russische Land wird regiert von der Barmherzigkeit Gottes, von der Gnade der
Allcrreinsten Gottesmutter, von der Füibttc aller Heiligen, von dem Segen Unserer Eltern und schließlich
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von Uns, dieses Landes Herrscher, aber nicht von den Richtern und Wojewoden. von den Würdenträgern
und Fcldherm. Wir haben unsere Wojewoden nicht durch mannigfache Todesarten ausgerottet; vielmehr
stehen Uns durch Gottes Hilfe auch ohne Hure Verräter eine große Anzahl Wojewoden zu Gebote. Und cs
liegt in Unserer Hand, Unsere Knechte zu belohnen, aber auch, sie zu bestrafen (...)
Gegen niemanden haben Wir Mattem. Verfolgungen und Todesqualen ersonnen Da Du aber Vcnat
und Hexerei erwähnst - nun. solche Hunde werden überall hingcrichtct “ (3700
W enn Ivan seine Untertanen rechtmäßig bestraft hat, können sie keine M ärtyrer sein Es ist
also nicht er, der die Tatsachen verdreht, sondem Kurbskij In diesem Sinne ist auch der Abschnitt zu verstehen, in dem Ivan Kurbskij anklagt, sich seiner gerechten Strafe entzogen zu
haben
״Ты ж е, тела ради, душу погубил сси, и славы
ради м им отскущ ия,
нетленную славу презрел еси, и на человека возъярився, на вога возстал сси.
Разумей ж е, бедник, от каковы я высоты и в какову пропасть душ ею и телом
сш ел еси! Збы сться на тебе рсченнос: И ж е имея м нится, взято будет от
н его 170. Се твое блаточестие, еж е самолю бия ради погубил ся сси, а не бога
ради? Могут ж е разумсти и там о сущии и разум имущ е, твой злобны й яд, яко
славы ради сея маловременны е ж изни скоротекущ аго веку и богатства ради,
сие сотворил еси, а не от смерти бегая. А т е праведен и благочестив сси, по
твоем у глаголу, почто убоялся сси нсповинныя смерти, еж е несть см ерть, но
приобретение?14) )״
"Du aber hast des Leibes wegen Deine Seele zugrunde gerichtet und um vergänglichen Ruhmes willen
den unvergänglichen Ruhm verachtet; indem Du gegen einen Menschen wütetest, hast Du Dich gegen
Gott aufgclchnt. Begreife. Elender, von welcher Höhe und in welchen Abgrund Du mit Leib und Seele
gestürzt bist! Auf Dich tnffî das Wort zu. ,Und wer etwas zu besitzen meint dem wird es wcggcnomincn.*
Ist das Deine Frömmigkeit, daß Du Dich um der Eigenliebe willen und nicht um Gottes willen zugrunde
gerichtet hast? Wenn die Menschen jenes Landes Verstand besitzen, werden sic Deine frevelliafte Tat
begreifen, daß Du nämlich aus dem Streben nach vergänglichem Ruhm und Reichtum so gehandelt liast
und nicht, um den! Tod zu entfliehen. Wenn Du. wie Du selber sagst, gerecht und fromm bist, weshalb
hast Du Dich dann vor einem unschuldigen Tod gefürchtet, der gar kein Tod ist. sondern ein Gewinn?”
(367Г)
Während der letzte Satz heutigen Lesern zynisch vorkommt, ist er im Kontext konsequent
Wenn Kurbskij der Meinung ist, daß Ivan als unrechtmäßiger Herrscher die von ihm Getöteten zu Märtyrern macht, dann hätte er in der Rus' bleiben und den M ärtyrertod erleiden kön-
170 Mt 25,29
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nen. Da er aber geflohen ist, hat er sich selbst ins Unrecht gesetzt und Ivan als rechtmäßigen
Herrscher angesehen Mehr noch, er hat sich gegen Gottes Willen aufgelehnt, weil er dem von
Gon eingesetzten Herrscher keinen Gehorsam entgegenbringt Hunt sieht schon in der Tatsache von Kurbskijs Flucht nach Litauen eine Anklage an Ivan und meint, daß Ivan sich dagegen verbal zur W ehr setzt .171 Gegen Kurbskijs Anklage setzt Ivan sein Selbstbild als Herrscher. Er ist der gute Herrscher, dessen Aufgabe es ist, zu strafen und zu belohnen Wenn er
einen Fehler gemacht haben sollte, so liegt dies in seiner menschlichen Natur, nicht jedoch in
seiner von Gott eingesetzten Macht Die Rechtfertigung Ivans gegen Kurbskijs Anklagen liegt
also in der Rechtfertigung seiner Legitimität als von Gott eingesetzt
"Н е токм о сия не подобает подовластным наш им , но и нам , царем,
неприлично есть нарицатися предстатели: аіце убо и перфиру носим, златом и
бисером
украш енну,
но обачс тленны
есми
и человеческою
нем оіцию
облож ен и ." (36)
"Безсм ертен
же
бы ти
не
мню ся,
понеж е
смерть
А дамский
грех,
обш сдатсльны й долг всем человеком; ащ е 60 и перф иру ношу, но об ач с всм
се, яко по всему нсмощ ию подобно всем человеком, облож ен еем ь по
естеству, а не яко ж е вы мудръствусте, выше естества велите бы ти м и, - от
ереси ж е всякой. 39*38) 172) ״
"Es geziemt sich dieses nicht nur für unsere Macht, sondern cs 1st auch für uns, die Zaren,
unschicklich, sich Vorsteher zu nennen, wenn wir auch Purpur tragen, mit Gold und Perlen geschmückt
sind, so sind wir doch vergänglich und menschlichen Unzulänglichkeiten unterworfen [ | Ich glaube
aber nicht, daß ich unsterblich bin, da doch der Tod um der Sünde Adams willen aller Menschen
Schuldigkeit ist; und wvnn ich auch den Purpur trage, weiß ich trotzdem, daß ich meiner
IJn/ul.Inglichkcit nach allen M cnschcn glcich bin. daß ich untergeben bin dem W esen nach, und nicht,
wie ihr cs wagt zu sagen, meine, daß ich über dem Wesen stehe - vor lauter Häresie ״
Indem Kurbskij dem Herrscher Fehler gemäß der menschlichen Natur abspricht, begeht er
die ikonoklastische Häresie, derer Ivan ihn anklagt .173 Ivan dagegen beharrt au f seiner
171 Hunt, Ivan IV’s Personal Mythology ־of Kingship. S. 794
172 Hunt. Ivan I V s Personal Mythology of Kingship. S. 796, FN 83 merkt an, daß dieser Ausdruck nach
ševčenko. A Neglected Byzantine Source. S. 168, von Agapetus stammt. Dies zeigt, daß die Annahme.
Iosif Volockijs im Pros\etitel' angelegtes Herrschafìskonzept sei auch hier vorhanden, auch textuell
belegbar ist.
173 Vgl. Hunt. Ivan IV s Personal Mythology of Kingship. S. 795: "Ivan's accusing Kurbskii of the same sins
which Kurbskii attributed to Ivan derived from the tsar's personal vision of their mutual interdependence
for salvation | ״.| Ultimately, the tsar accused Kurbskii o f being an 'icoloclasi heretic' because he believed
thai Kurbskii denied his former sovereign as the image of God on cartlu and because he refused to
participate in the creation of a community in Christ " Hunt bezieht sich hier auf S 13 der Pcrepiska Zum
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m enschlichen Natur, gemäß derer er der Sünde Adams verfallen ist und Fehler machen
kann .174 Insofern läßt sich aus Ivans Beharren auf seiner menschlichen N atur und Kurbskijs
Vorwurf, wie ein Gott zu handeln, folgern, daß es aufgrund seiner Christusabbildlichkeit eindeutig w ar, daß er wie Christus zwei Naturen hat, eine göttliche und eine menschliche. Worauf er nun hinweisen muß ist, daß es sich nicht nur um eine göttliche N atur handelt Diese
Formel korrespondiert außerdem mit dem schon von losif Volockij bei Agapetus entnommenen Satz, nach dem der Herrscher seiner Macht nach Gott, seiner N atur nach jedoch den Mensehen gleich ist Als Mensch ist er im Jüngsten Gericht vor Gott verantwortlich, als Herrscher
ist er flir seine Untertanen mit verantwortlich.
"A 3
же
верую
Страш ну
спасову
судищу
хотящ им
прияти
душ ам
человеческим с тслеси, с ними ж е содеяш е, кож до противу делом его, вси
вкруге во едином лице неразлучении надвое: царис и худейш ая чадь яко
брати я истязуеми будут, кож до противу делу своему." (39)
"Ich aber glaube, daß das Jüngste Gericht des Heilands die Seelen der Menschen mit ihrem Körper
nehmen will, und mit ihnen verfährt jeder gegen seine Sache, alle die im Umkreis sind mit einem Antlitz,
unteilbar in zwei Teile: Zaren und schwache Kinder werden wie Brüder zur Rechenschaft gezogen
werden, ein jeder gegen seine Sache "
Kurbskij und Ivan haben beide das gleiche Herrschaftskonzept. Der Herrscher in der Rus 1
ist von Gott eingesetzt, das Volk in der Rus' ist Gottes Volk, wer immer es auch regiert. Beiden geht es in den den Schreiben vorausgegangenen Handlungen darum, dieses Weltbild, das
flir sie die rechtgläubige Wahrheit repräsentiert, zu erhalten. Beide tun dies durch kalkuliertes
oppositionelles Verhalten. Während für Kurbskij die Konsequenz aus seinen Anklagen tatsächlich darin bestünde, wie Ivan anmerkt, zum Märtyrer im eigenen Land zu werden, verläßt
er die Rus 1 und gibt damit ihren Status der "sakralen Exterritorialität" und Exklusivität au f Er
unterstellt sich als Rechtgläubiger lieber in realiter einem ungläubigen Herrscher, von dem er
außerdem nicht Märtyrertum, sondern Belohnung erwartet, wie er am Ende seines Briefes
schreibt
Zusammenhang von Naturcnlchre und Ikonokiasmus vgl. Soldat, Die Entstehung des Bilderstreites, S.
190f.
174 Daß der Verweis auf die menschliche Natur auch eine billige Entschuldigung fur Tenor ist, steht auf einem
anderen Blatt
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"П исано в Вольмере, граде государя моего Августа Ж и д и м он та короля, от
него ж е надсю ся много пож алован и утеш ен быти ото всех скорбей моих
м илостию его государьскою , паче ж е богу ми помогаю щ у. 1 1 ) )״
"Geschrieben in Wolmar, der Stadt meines Gebieters, des Königs Sigismund August, bei dem ich
nach all diesen Kränkungen von seiner Hcrrschcrgnade und mehr noch durch Gottes Hilfe große
Belohnung und Trost erhoffe." (365)
Kurbskij rettet sein Leben durch kalkuliertes Antiverhalten Dieses Antiverhalten wird von
Ivan angeklagt Ivan dagegen klagt die Existenz seiner Wahrheit während der Opričnina
durch kalkuliertes Antiverhalten ein
Antiverhalten und Typologie
Es wurde bereits gezeigt, daß sich das Bild der Rus 1 als auserwähltes Volk Gottes, das durch
seine Herrscher von Gott selbst regiert wird, nicht nur in schriftlichen Texten, sondern auch in
rituellen Handlungen und au f Ikonen wiederholt Bei all diesen rituellen W iederholungen gibt
es starke typologische Bezüge, die darauf hinaus laufen, daß die Zeit des auserwahlten Volkes, Israel, mit der Zeit der Wiederkunft Christi und des Erscheinens des himmlischen Jerusalem, in eins gedacht wird Für die Rus' heißt dies, daß sie Anfangs- und Endpunkt der historischen Heilszeit ist und sich in einer mythischen Zeit befindet Bei einem Teil der bisher
analysierten Texte konnte gezeigt werden, daß dieses Bewußtsein dem kulturellen Gedächtnis
so inhärent war, daß nur noch am äußeren Erscheinungsbild korrigiert werden mußte
Das Antiverhalten Ivan Groznyjs ist unterschiedlich beurteilt worden LichaČev sieht Ivan
Groznyjs Texte im Zusammenhang mit dem Antiverhaltcn in der Lachwclt des alten Rußland 175 Pančenko wertet sein Verhalten als Narrentum in Christo und als Schauspiel 176
Uspenskij bringt das Antiverhalten in Altrußland und die Umstülpung der Welt mit AntiMaterialien in einen Zusammenhang mit dem altslavischen Totenkult und der Vorstellung
vom Jenseits als linker oder verkehrter W e lt 177 Erschwerend kommt hinzu, daß die
Geschichte der Оpričnina in der Stalinzeit immer wieder dazu diente, um Stalins Terror ein
Urbild zu geben und ihn zu rechtfertigen
I 9ל
Da eine genaue Analyse des Verhaltens Ivans IV
175 Licha£cv/Pan£cnko, Die Lachwclt des alten Rußland. S. 29-39
176 Lichačev/Pančenko. Die Lachwclt des alten Rußland. S. 96fT; vgl die Einleitung von Lachmann. ebd., S.
XII Dagegen die Rezension von Lotman/Uspcnskij, ebd. S. I94f. Sie weisen darauf hm. daß der Tenor
Ivans nicht lustig war und stellen auf S I98f sein Verhalten als blasphemisch dar
177 Uspenskij. Semiotik der Geschichtc. S. 267-280
178 Choroškevič. Die Opričnina und der Charakter des russischen Staates. S. 85-88
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während der Opričnina eine eigene Arbeit erforderte, möchte ich hier einfach einen weiteren
Aspekt des Antiverhaltens hinzufiigen, der im Zusammenhang mit biblischer Typologie steht,
und a u f den Hunt bereits hingewiesen hat, ohne jedoch auf die typologischen Aspekte einzugehen
Die von Ivan IV inszenierte Opričnina paßt sich in das typologische Bild vom erwählten
Volk ein. Ivan begann den Terror der Opričnina in einer Zeit, als er glaubte, daß der au f seiner Abbildlichkeit vom himmlischen Heerführer und eschatologischen Christus der Offenbarung basierende V ertrag von seinen Bojaren aufgekündigt worden war Sie benahmen sich
ihm gegenüber nicht so, wie es ihm zukam Im Falle Kurbskijs hieß das* daß er sich seiner
gerechten Strafe entzog Im folgenden begann Ivan, sich nicht mehr als Abbild Christi zu verhalten, sondern typologisch gesehen als sein countertype. Er handelte als Narr in Christo , in
einer invertierten Form der H eilig k eit 179 Ivan verließ das Land, das er regieren sollte, und
schuf mit der Opričnina ein neues Territorium Damit tat er das gleiche wie Kurbskij vor ihm.
Er verließ das sakrale Territorium und begann, eine karnevaleske Gegenhierarchie aufzubauen 180 Die Oprićniki lebten in einer Art Mönchsgemeinschaft und trugen die Kleidung von
Mönchen Wenn sie auszogen, waren sie mit Hundeköpfen versehen, dem Symbol des Unrei■A l
nen
Der Terror, den die Oprićniki über die Rus' brachten, war der Terror des Antichrist.
Indem jedoch Ivan als Antichrist agierte, stellte er sich als countertype zu Christus dar Damit
wies er au f seine eigentliche Christusabbildlichkeit als Herrscher hin. Die karnevaleske
Gegenwelt, die Ivan in der Opričnina aufbaute ist jedoch keine Antiwelt, die außerhalb der
Welt steht.
Die Welt der Opričnina ist als countertype der Welt der Zemščina zu sehen
__
Beide Welten befinden sich in einem einheitlichen Typolog.
1
Als alttestamentarischer Herrscher und Abbild des Erzengels Michael schickte Ivan die
Oprićniki als das himmlische Heer aus, um Strafe über sein Volk zu bringen. A uf diese
Tatsache weist das Epitheton groznyj hin, mit dem die Zeitgenossen Ivan belegt haben. Da er
sowohl menschliche als auch göttliche Natur hatte war, vereinigte der Zar die O ppositionen
179 Hunt, Ivan IV s Personal Mythology of Kingship, S. 795
180 Huni. Ivan IV s Personal Mythology o f Kingship. S. 797; vgl Lachmann, Einleitung zu;
Lichačev/Pančcnko, Dic LachweU des alten Rußland, S. XIII
181 Hunt. Ivan IV s Personal Mythology of Kingship. S. 800Г
182 Im Ggs. zur Definition von Lichačcv/Pančcnko. Dic Lachwcit des Alten Rußland. S. 13f. vgl die
Einleitung von Lachmann, ebd., S. IXf.. Bachtut Rabelais und seine Welt, S. 312. weist der Opnćmno
einen destabilisierenden Charakter zu.
183 Die von Ostrowski. Muscovy and the Mongols, S. 192ft, vorgenommcnc Klassifizierung der OpričninaOrganisation als mongolisch und ihren Zusammenhang mit der Heirat von Ivan und Marija Temijukovna.
einer Mongolentochter, ist in diesem Falle nicht widersprüchlich, da Ostrowski selbst den ersten Teil
seines Buches darauf verwendet zu zeigen, daß die Moskauer staatliche Verwaltung der der Mongolen
nachgebildct war. Es fällt also nur die von Ostrowski hier angenommene Opposition Christlich•
Mongolisch zusammen, während die von Christ*Anüchrist bleibt.
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von Demut und Strenge in sich (smiremiaja groza) In Moskau diente groznyj dazu, die Attribute der Göttlichkeit des Zaren auszudrücken Groznyj war der Zar auch, weil groznyj der
Gott Zebaoth und der Erzengel Michael waren. Die Ikone HHerr der Heerscharen” zeigt Ivan,
der sich mit seiner Armee vom Erzengel Michael, dem schrecklichen {groznyj) Heerführer der
Himmlischen Heerscharen, leiten läßt Das Epitheton groznyj verweist also auf die Göttlichkeit der Herrschaft Ivans
Sein Verhalten vor und während der Opričnina zeigt, daß Ivan
das Herrschaftskonzept in der Rus' und das mit ihm einhergehende urbild-abbildliche Denken
so verinnerlicht hatte, daß er in der Opričnina nur noch typologisch handeln konnte und seinen eigenen countertype als Antichrist aufstellte, um auf seine Abbildlichkeit von Christus
und die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft und aller seiner Handlungen hinzuweisen Dementsprechend mußte die Opričnina ihr Ende finden, als Moskau selbst von den Mongolen
bedroht wurde und das vom Zaren verlassene Land drohte, in die Hände der von Gott
gesandten Ungläubigen zu fallen Die neue Ordnung, die Ivan in Moskau unter dem christianisierten Mongolen Simeon Bekbulatovič aufstellte, ist eine gegentypische Handlung und
Unterwerfung unter den Zorn Gottes, nachdem die Opričnina den Zweck, das Land zu reinigen, nicht erfüllt hat
*,This Tatar in Ivan's service was a symbolic 'arm o f Satan', just as the Tatars had
been demonic servants o f God chastising Russia for her sins Christianized but still
Tatar, he was an avenging 'angel' in the disguise o f the fallen one, a sacred devil set
upon the 'devils' o f the Oprichnina who had lost their sacredness As such, Bekbulatovich manifested the power o f the archangel in the degraded form characteristic o f
Holy Folly just as the Oprichniki earlier had done The tsar was the higher power
behind the Archangel-Bekbulatovich, analogous to the transcendent W ord, but he
enacted a kind o f kenosis: evincing the humility of the Fool, he presented him self as a
mere man, an ordinary noble and obedient slave of Bekbulatovich The latter's punishm ents and changes served Ivan's hither justice which derived from his Christ-like
humility before the Land Together in folly, he and Bekbulatovich symbolized the tw o
sides o f the tsar’s human/divine nature as an interdependent 'system' for healing the
community through the Wisdom o f the World His use o f a Tatar to dismantle the
Oprichnina once it had become a source o f internal pollution was a symbolic closure o f
the official and personal systems that justified his violence " 185
184 Hunt, Ivan IV s Personal Mythology of Kingship. S. 783Г
185 Hunt. Ivan IV s Personal Mythology of Kingship, S. 805
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Ivan baute mit der Opričnina eine typologische Gegenwelt auf, die der countertype der
Welt, der Zemščina, war. Es ist bezeichnend, daß er seine Gegner aus der Zemščina nach
Kazan' verbannte 186 Kazan' als ehemaliger Sitz der Mongolen stellt ein in diesem System
nicht existierendes, unheiliges Territorium dar, ähnlich dem Litauen, in das Kurbskij
geflüchtet ist. Kazan' ist eine Nicht-Welt, während Opričnina und Zemščina typologisch
gesehen die Kehrseiten derselben Medaille zeigen und typos des heiligen Landes bleiben
186 Skiynnikow, Iwan der Schreckliche. S. 114ff.
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7
Z u sam m en fassu n g und Ausblick
Die platonische und neoplatonische Philosophie gehen von einer Trennung von wahrnehmbarer
und intelligibler Welt aus. Den in der intelligiblen Welt präexistenten Urbildern wird aufgrund
ihrer Nähe zum Einen Prinzip eine höhere ontologische Qualität zugeordnet Plotin erklärt
durch das Emanationsprinzip den Weg, den die Urbilder in ihrer Manifestation in den Abbildem der wahrnehmbaren Welt nehmen Hieraus erklärt er auch die Anteilhabe der wahmehmbaren Welt an den intelligiblen Urbildern
W ährend es der Philosophie um die Menschenbildung durch den Aufstieg zu den Urbildern
und zum Einen und um ihre Erkenntnis in der Ekstase ging, kehrte die christliche Theologie
diesen W eg um Die Abbilder wurden zu Offenbarungen der Urbilder durch die Gnade G ottes
Die ontologische Qualität der Urbilder wird in der wahrnehmbaren Welt erfahrbar, weshalb der
Aufstieg zu den Urbildern nicht mehr unbedingt notwendig ist und nur noch in der Vergleichsweise unpopulären christlichen Mystik verfolgt wird.1 Statt dessen wurden die christlichen
Offenbarungen der heiligen Schriften an die Urbilder gekoppelt, so daß schließlich mit den
Bilderkategorien des Johannes Damascenos die Abbilder in der wahrnehmbaren Welt eine ontologische Qualität im Sinne des Christentums als Hierophanien erhielten, denen gemäß der
Heiligen Schrift ihre Urbilder zugeordnet wurden Da der Ritus der Kirche sein Urbild in der
intelligiblen Welt besaß, wurde er dazu benutzt, die historische Zeit aufzuheben und in eine
Heilszeit zu überfuhren Gleichzeitig wurde die historische Zeit selbst geheiligt, weil sich in ihr
immer neue Abbilder des Heiligen manifestieren konnten
Indem im Slovo о zakone i blagodati die alttestamentarische und die neutestamentarische
Heilszeit miteinander verschränkt werden, wird die innerbiblische typologische Ausdeutung
gleichsam aufgehoben, und beide Zeiten fallen zusammen in eine Zeit, die man als die Heilszeit,
in der sich G ott au f Erden zeigte, begreifen kann Die Geschehnisse dieser Zeit und die Berufling des Nachgeborenen zum Erben durch die Gnade Gottes werden zum Urbild flir die Taufe
der Kiever Rus' Diese wird so dargestellt ־und später, wie das Skazanie o sła\>janskich
biigach deutlich macht, auch so rezipiert -, daß die Rus* von Gott selbst bekehrt wurde. Sein
W erkzeug war dabei der Großfürst Vladimir Svjatoslavič, der nach dem Urbild Christi und mit
dessen Worten befahl, die Rus* taufen zu lassen Vladimir wird dadurch zum areopagitischen
tepápxnç, und in dieser Funktion zum Abbild Christi Intratextuell wird Jaroslav Vladimirovič
1
Angenendt. Heilige und Reliquien. S. 40-47
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zum Abbild Vladimirs aufgebaut und erhält dadurch Anteil an dessen Ruhm wie auch an saner
ontologischen Q ualität2
Die Christusabbildlichkeit des Großfürsten wird im Skazanie о Borise i Glebe und durch die
dynastische Politik Vladimir Monomachs an die gesamte Fürstendynastie gebunden Sie dient
der Heiligung der Dynastie und ist daher fiir die Bestrebungen verantwortlich, die Fürsten der
Kiever und M oskauer Zeit nach Möglichkeit zu kanonisieren oder sie ohne Erhebung der Reliquien, ״inoffiziell", als Heilige zu verehren. Gerade im Falle der Fürsten ist jedoch eine Kanonisierung nicht immer nötig. In Kiever Zeit wird durch die Bindung des Heiligenkultes an die
Fürstendynastie ein Synkretismus von christlicher Verehrung und heidnischem slavischem
Ahnenkult geschaffen, der den Schutz des Landes durch die Ahnen vermittels ihrer Kanomsierung als christliche Heilige gewährleistete und in der Person des Gleb außerdem die heidnisehen Fruchtbarkeitsriten und -symbole bewahrte
Vladimir Monomach gelang es, die Fürsten der Kiever Rus' durch Verträge aneinander zu
binden und sie so gegen die Angriffe der Polovcer zu einigen. Das Credo des Briefes an Oleg
Syjatoslavič im Poučenie Vladimira Monomacha ist die Bruderliebe Im Verweis auf Boris und
Gleb und den gemeinsamen Ursprung der Fürsten der Rus' in der Dynastie Vladimir Svjatoslaviös gelingt es ihm, Verantwortungsbewußtsein fur ihr Herrschaftsgebiet zu formen Boris und
Gleb werden zu Urbildern fiir die Bruderliebe unter den Fürsten und zu Mahnern, nicht um der
Herrschaft über eine Stadt willen gegen seine Angehörigen zu ziehen
Die Auffassung von der Fürstenwürde, die dem Poučenie Vladimira Monomacha zugrundeliegt, ist die von der Verantwortung fiir das ganze Land ohne Rücksicht auf den Sitz des
jeweiligen Fürsten. Mit der Übernahme des in Kiev sowohl in Vyšgorod als auch im Höhlenkloster begonnenen Bauprogramms durch andere Städte und Klöster wird diese Dezentralisierung in Artefakten in der ganzen Rus' augenfällig. Nicht nur in Kiev existiert ein Abbild des
2
Diese Christusabbildlichkeit ist theologisch insofern problematisch, als daß sie ״wie übrigens der gesamte
Heiligenkult der Kirche bis ins Mittelalter - die Exklusivität Christi in Frage stellt. Auch die erste
Bildcrkatcgoric des Johannes Damasccnos. nach der jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist
und damit aufgrund des arcopagitischcn Prinzips der unähnlichen Ähnlichkeit eine göttliche Natur in sich
trägt, vermag zwar den Vorwurf einer häretischen Vergöttlichung des Großfürsten zu entkräften, kann
aber dann dessen Sonderstellung nicht befriedigend erklären. Die Theologie behilft sich mit der Lehre,
daß Gott Mensch wurde, damit der Mensch vergöttlicht werden kann Indem der Mensch sein göttliches
Wesen erkennt, erkennt er auch Gott. Während in der Erhebung Vladimirs zum Abbild Chnsti sicherlich
auch ein gewisser Synkretismus von Christentum und heidischcm Ahnenkult eine Rolle spielt, gilt es zu
bedenken, daß Wcscnsähnlichkcii eben gerade keine Wesensgleichheit bedeutet und Vladimir als Heiliger
und Abbild Christi das Potential jedes Menschen, sein göttliches Wesen zu erkennen, lediglich in
besonderem Maße realisiert • ein Gedanke, der durch die areopagitische Hierarchienlehre gestützt wird
Im übrigen sollte man auch die Gottesabbildlichkeit nicht mit der Christusabbildlichkeit identifizieren nicht umsonst hat die Trinität drei Hypostasen
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himmlischen Jerusalem, sondern die gesamte Rus* wird mit Abbildern des himmlischen Jerusalem überzogen Diese haben im Sinne von ó!10 ía)|1 a Anteil am Heil des himmlischen Urbildes,
tragen so zur Ontologisierung der Rus1 bei, und machen das in der Rus* lebende Volk zum
Abbild des himmlischen Volkes Die Fürsten der Rus' sind als Angehörige der Dynastie Vladimirs in jedem dieser Abbilder des himmlischen Jerusalem Herrscher und damit auch Abbilder
Christi auf E rd e n 3 Hier zeigt sich auch, daß in der späten Kiever Zeit eine Veränderung des
nationalen Bewußtseins stattgefunden hat, das von einem Personenverbandsstaat hin zu einem
geographisch gebundenen Staatswesen führte, ohne daß es in irgendeiner Weise zentralistisch
regiert wurde.4 Von einer - gar ״feudalen” - Zersplitterung kann also keine Rede sein Viel*
mehr führte die Auffassung von den heiligen Fürsten zu einer Virtualisierung der Fürstenherr־
schaft in den ersten Jahren nach der Eroberung durch die Mongolen, die sich v.a am Kult des
Michail von Čemigov festmachen läßt Seine Kanonisierung ist nicht allein auf sein Martyrium
flir den christlichen Glauben zurückzufuhren Die dreimalige Versuchung, von der seine Viten
berichten, machen ihn zum Abbild Christi. Außerdem wird ihm mit seinem Bojaren Feodor ein
intratextuelles Abbild mitgegeben, durch das seine Heiligkeit mit der von Boris und Gleb in
Beziehung gesetzt wird und Michail überdies als neues Urbild etabliert wird. Michail und Feodor werden zu intertextuellen Abbildern von Boris und Gleb und halten so die Verbindung zur
heiligen Dynastie aufrecht
Im Zusammenhang mit den Städten, Klöstern und Kirchen als Abbilder des himmlischen
Jerusalem in der Rus* stellt sich hier die Frage des Textrahmens. Durch das Schaffen von
immer mehr Abbildern wird die Grenze des Textes, der Stadt oder der Kirche so amorph, daß
sie nicht mehr real erfaßt werden kann Genauso amorph wird der Herrschaftsbereich der heiligen Fürsten, der von Abbild zu Abbild weitergegeben wird, und dem keine realen Grenzen
mehr gesetzt werden können Dem abbildschaffenden Prozeß ist es geschuldet, daß der reale
Ort der Herrschaft nicht eindeutig lokalisierbar ist. Dies hat zur Folge, daß der Übergang von
einer Kiever zu einer Moskoviter Rus* nicht zufriedenstellend verfolgt werden kann, da die
Herrschaft in der Rus* nicht an einen geographisch lokalisierbaren Ort als Abbild des
himmlischen Jerusalem, sondern direkt an das Urbild des himmlischen Jerusalem gebunden
war Hieraus ergibt sich wiederum, daß die Fürsten fast beliebig ausgetauscht werden konnten.
3
4
Vor diesem Bild der Herrschaft bliebe als Forschungsdesiderat die Klärung der Frage, wie die
Fürstcnherrschaft tatsächlich beschaffen war und welche Aufgaben den Fürsten neben der Kriegführung
tatsächlich zufielcn
So auch Korpela, Beiträge zur Bevölkerungsgeschichte, S. 121.
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solange sie nur die Bedingung der Zugehörigkeit zur Dynastie erfüllten, wie das Beispiel Novgorod zeigt.
Die Heiligsprechung des Aleksandr Nevskij ist nicht nur ein Beispiel dafür, daß zur Haligkeit die Zugehörigkeit zur Fürstendynastie gehörte Die Vita zeigt außerdem, daß die KataStrophe des M ongolensturms in der Rus' genau so gedeutet wurde, wie Eliade dies am Beispiel
der historischen Katastrophen des Judentums für eine Religion, die auf der Heiligung der
Geschichte durch historische Theophanien basiert, z e ig t5 Wie die Propheten die Niederlagen
der Juden als ,,Zorn Jahwes", als negative Hierophanien deuteten, so wurde auch der Mongolensturm als Zorn G ottes "um unserer Sünden willen" gedeutet Als negative Theophanie
erhielt er so eine eschatologische Bedeutung Aleksandr Nevskij und sein Heer werden in der
Vita zum Abbild des alttestamentarischen Heeres der Juden A uf Gottes Hilfe nach dem Urbild
des Volkes Israel, das um seiner Sünden willen bestraft worden und dem trotzdem vergeben
worden ist, wird auch durch Vassian Rylo in seiner Ausdeutung des "Stehens an der Ugra"
rekurriert Das Heer der Russen, die den Ungläubigen gegenüberstehen, wird zum auserwähl*
ten Volk G ottes, dem sein auserwählter Heerführer voranschreitet In der Vita werden außerdem die Siege über die aus orthodoxer Sicht ungläubigen Lateiner in dieser Weise umgedeutet
und die Niederlage gegen die Mongolen damit in gewisser Weise kompensiert Der wichtigste
Punkt im Żitie Aleksanda Nevskogo ist jedoch, daß es nicht beim alttestamentarischen Urbild
bleibt, sondern daß auch die Schilderung der Wiederkunft Christi in der Offenbarung des Johannes den Schlachtenerzählungen zugrundeliegt A uf textueller Ebene wird hier eine Verbindung zwischen dem auserwählten Volk am Anfang und am prophezeiten Ende der jüdischchristlichen Heilsgeschichte geschaffen, die die Rus' mit ihren heiligen Fürsten zum Abbild beider Heere macht, die zu Allotypen der Rus* werden und sie an der Heilszeit am Anfang und
Ende der Geschichte partizipieren läßt Die realen Umstände der Fremdherrschaft werden
zugunsten der Teilhabe an der eschatologischen Heilszeit des Sieges über das Böse und die
Ungläubigen ausgeblendet6 Diese Tatsache fuhrt zur Kreation einer virtuellen Vergangenheit,
die zum Beispiel in den untersuchten Viten den Zweck hat, eine Herrschaft zu erhalten, die als
schon gar nicht mehr unabhängig existiert, und die dazu führte, daß in der offiziellen Chronistik
die Mongolenherrschaft weitestgehend ausgeblendet w u rd e 7
5
6
7
vgl. Eliade. Kosmos und Gcschichte. S. 117ff
Auch das ist ein Mechanismus, den Eliadc in Kap 3.3 von Kosmos und Geschichte an verschiedenen
Beispielen darstell(
Ostrowski. Muscovy and the Mongols. S. 144
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Der Bau des ArchangeVskij sobor im Moskauer Kreml' schafft eine nationale Grablege nicht
nur fiir die M oskauer Fürsten, sondern fiir alle Fürsten der russischen Kernlande, inklusive der
ihnen feindlich gesinnten Fürsten von GaliČ Die posthume Versammlung der Fürsten findet
zeitgleich zur Förderung der inoffiziellen Kulte der Ahnen der Moskauer Großfürsten statt, so
daß die Stepeimaja buga carskogo rodoslovija des 16. Jahrhunderts schließlich alle Fürsten
"heilig" oder zumindest "selig" (blazennyj) nennt Gleichzeitig kann der Rückzug in die Intimität des Kultes aufgegeben werden zugunsten einer Propagandierung der Abbildlichkeit des
Herrschers von Christus in der Palmsonntagsprozession und in der Wasserweihe zu Epiphanias. In ihnen stellten sich Herrscher, H of und Kirche nicht nur dem Volk als Abbilder der
himmlischen Hierarchie dar, sondern auch den ausländischen Gesandten in Moskovien, die
diese Selbstdarstellung jedoch falsch interpretierten, da sich ihrem Denken die Abbildlichkeit
der Hierarchie nicht erschloß Es ist diese Abbildlichkeit, durch die sich die herrschende Hierarchie, sowohl der Zar als auch seine Bojaren, legitimieren, und es ist eine Anerkennung dieser
Legitimation, die losif Volockij dazu veranlaßt, die Klostergemeinschaft zum Abbild der Staatliehen Hierarchie zu formen Indem er die Ordnung der Welt durch Verweise au f die heiligen
Schriften und den Beweis ihrer Abbildlichkeit festschreibt, handelt er in einem pastoralen Ver־
ständnis zur Bewahrung der persönlichen Heils jedes einzelnen Angehörigen des heiligen Voikes. Nur so sind sein scharfes Vorgehen gegen die Häretiker und die untypische Form der Klosterordnung zu verstehen.
In den beiden Hofritualen unterzieht sich der Herrscher als Abbild Christi einem podvig. Im
Ritual der Wasserweihe, das zur Heiligung im ganzen Land am selben Tag stattfand, unterzog
er sich wie Christus der Taufe im Jordan, zu dessen Abbild die Moskva wird, und evoziert so
die Schwellensituation der geöffneten Himmel.8 Gleichzeitig weist er dezidiert auf seine
Christusabbildlichkeit hin. In der Palmsonntagsprozession wird außerdem durch den Ritt des
Patriarchen auf einem Schimmel auf das Urbild der Wiederkunft Christi in der Offenbarung
verwiesen Das als Esel maskierte Pferd ist Metapher fiir die ójioícoiia der beiden Bilder, des
Einzugs Christi in das historische Jerusalem und seines Einzuges in das himmlische Jerusalem
der Endzeit. Nach der Einnahme Kazan's wird auch das siegreiche russische Heer als Abbild
des Einzuges Christi dargestellt
8
Dies ist nicht als Wiedertaufe zu verstehen, weil liier das Urbild ntuell wiederhol! und damit das
Geschehen der Heilszeit memoriert wird. Außerdem fand die rituelle Taufe nur durch Besprengen mit
Wasser, nicht durch das im orthodoxen Taufritual obligatorische Untertauchen statt.
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Die Christusabbildlichkeit wird in Moskoviter Zeit zum integralen Bestandteil der Herrschaft in der Rus*. Die Frauen der Herrscher machen sie sich in ihrer Rolle als Gebärerinnen der
Thronfolger zunutze und stilisieren sich zu Abbildern der Gottesmutter Im Verhalten Ivan
Groznyjs zeigt sich, daß er dieses Herrschaftsbild fast schon au f häretische Weise verinnerlicht
hatte. Er führte die Opričnina ein, als er meinte, seine Bojaren sähen in ihm nicht mehr das
Abbild Christi. Um au f seine Abbildlichkeit hinzuweisen, benahm er sich wie sein eigener
countertype, als Antichrist Ivan wie auch sein Kritiker Kurbskij erkennen beide die Abbildlichkeit der Rus’ vom heiligen Volk Gottes an In ihren Briefen bewegen sie sich völlig im Koordinatensystem der Herrschaftstheorie losif Volockijs Demzufolge ist es Ivan wichtig, drauf hinzuweisen, daß er ein gerechter, von Gott eingesetzter Herrscher ist, der seine Untertanen zu
Recht ermordet, weil er sie auf den rechten Weg zurückfuhren will, da er als Herrscher als
erster vor G ott flir sie verantwortlich ist Deshalb besteht er darauf, seine Untertanen gerecht
bestraft zu haben und sie nicht zu Märtyrern im Sinne des 7. Siovo des Prosvetitei ׳gemacht zu
haben. Er weist Kurbskij sogar nach, daß dieser Ivans Rechte als Herrscher eigentlich anerkennt, weil er sich sonst nicht seiner gerechten Strafe hätte entziehen müssen
Letztendlich fuhren alle Abbilder auf ein einziges Urbild zu, die Herrschaft G ottes über sein
auserwähltes Volk Ivan versucht sich gegen die historischen Realitäten der Herrschaft dadurch
zu wehren, daß er typologisch nach diesem Urbild handelt. Weder er noch Kurbskij können
dieses Weltbild wirklich verlassen, weil sie die sakrale Exterritorialität der Rus' nicht wirklich
verlassen können. In dieser Tatsache liegt die scheinbare geographische Entgrenzung der Rus'
begründet ־das einzige ontologisch wahrhaftig existierende Land der Welt kennt keine
Grenzen
Es zeigt sich jedoch auch, daß sich die Rus' nicht als Zentralstaat und in diesem Sinne autokratischer Staat begreift.9 Hieraus resultieren die Schwierigkeiten, die Struktur des "Kiever
Zentralstaates” oder den Beginn der "Moskauer Autokratie" zu bestimmen Im Bewußtsein der
Rus' waren Kiev wie M oskau Abbilder des himmlischen Jerusalem. Die Herrschaft in AJtrußland legitimiert sich nicht über alttestamentarische Vorbilder nach dem Vorbild des Israel des
Alten B undes,10 sondern nach dem Urbild des eschatologischen heiligen Volkes des himmli-
9
10
So auch Rowland. Did Muscovite Literary Ideolog)' Place Limits on the Power of the Tsar?, S. 128
Vgl. Rowland. Moscow - Third Rome or New ׳Jerusalem. S. 612: "Muscovy's vision of itself as a chosen
people in Old Testament terms, a religious and political community under the hand of God I ״.)"; Raba.
The Biblical Traditions. S. 19: ",Jews* as a pan of a positive Biblical Tradition appear now only in the
form of 'Izraletskii rod' to whom Moscow state and society bear resemblance. The emergence o f Muscovite
state ideolog)’ on the one hand, and contacts with the Holy Land and the Christian East on the other, lead
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sehen Jerusalem Die eigentliche Herrschaft im himmlischen Jerusalem als Urbild der Rus' ist
somit einer wahren Erkenntnis entrückt Es kommt darauf an, die Abbilder dieser Herrschaft zu
schaffen, die nach dem Analogieprinzip Ähnlichkeit aufweisen müssen. Die Herrschaftslegitimation in der Rus* ist in einem ständigen abbildschaffenden Prozeß, dem èiÔonoÍEiv des Dionysius Areopagita, begriffen, Aus dieser Tatsache resultieren auch die Schwierigkeiten einer
Periodisierung der russischen Geschichte, will man von ihren Selbstbeschreibungen ausgehen.
Die von Ostrowski postulierte Schaffung einer virtuellen Vergangenheit ist gerade in den
Selbstbeschreibungen ein immerwährender Prozeß, der, wie wir sehen konnten, diskursiven
Veränderungen unterworfen ist, doch auf ein erstaunlich konstantes Weltbild zurückgeht, das
man im wesentlichen auf das 21 Kapitel der Offenbarung des Johannes und seine innerbiblisehen Urbilder zuruckflihren kann Dieser Tatsache ist die kleine Zahl von offensichtlichen
Neuerungen in kulturellen Phänomenen geschuldet, z.B. in der Ikonenmalerei und der Baukunst Die im Gefolge der Sofia Palaiolog nach Moskau gekommenen Baumeister mußten den
Moskovitem ihren Stil als "byzantinisch" verkaufen und gerade nicht als oberitalienisch, damit
sie in das Traditionsbewußtsein des Großfürsten und seines Hofes paßten.11 Es erklärt sich
durch den immerwährenden Rekurs auf die Abbildlichkeit vom himmlischen Jerusalem mit all
seinen Implikationen auch die Popularität der Geschichtsauffassung der Troickaja letopis ' für
die Historiker des 18. bis 20. Jahrhundert, stellt sie doch den Antritt des Kiever Erbes in Moskau als bewußten Prozeß dar und erklärt so, warum es nach dem "Bruch” des "Tatarenjochs"
so wenige kulturelle Unterschiede gab 12 Eine Geschichte im modernen Sinn existiert in der
Rus' nicht, weil sie permanent damit beschäftigt ist, die Geschichte zu heiligen und au f eine
christliche Heilszeit zurückzufuhren, in der das primordiale Paradies mit der Heilszeit des
Wandeins des Gottessohns auf Erden und seiner Wiederkunft am Ende der Tage im himmlisehen Jerusalem zusammenfallen. Überspitzt ausgedrückt, befanden sich die Herrscher der Rus*
und ihr Volk permanent am Ende der Zeiten. Daher erklärt sich auch die Aversion, etw as neues
zu beginnen - es lohnte sowieso nicht mehr
Der abbildschaffende Prozeß dient der Evokation dieser eschatologischen Heilszeit Der
Text der Offenbarung wird somit, entgegen der gängigen Meinung, nur im W esten habe die
Apokalypse Endzeitvisionen hervorgebracht, zum zentralen Text im Bewußtsein der Rus'. Nur
11
12
to the enliancemcnt of the belief about 'New Israel' - the Russian people and the Russian land." Aber Raba
scheint es mehr darauf anzukommen, den Moskovitem Antisemitismus zu unterstellen
Keenan. On Some Mythical Beliefs, S. 31
Keenan. On Some Mythical Beliefs. S. 32
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ging es in ihr nicht um die Schrecken des Gerichtes und die Zeichen für das Ende, sondern um
das in der Vision vom himmlischen Jerusalem verheißene Heil für das auserwählte Volk
In dem Bewußtsein, das auserwählte Volk Gottes zu sein, liegt die Grundlage für das
"Nationalbewußtsein", das man in der Rus' im Gegensatz zum Westen, wo ein Nationalbe־
wußtsein erst mit der Romantik aufkam, schon für das Mittelalter konstatieren kann. Nur hat
dieses Bewußstein nichts mit dem Zugehörigkeitsgefuhl zu einer Nation zu tun, die idealiter
über eine gemeinsame Sprache verfugt, sondern begründet sich über das Selbstverständnis als
Abbild des einen Urbildes
Vom Urbild־Abbild־Denken geprägtes Verhalten läßt sich auch für die neuere russische
Kultur feststellen Petr I. ließ sich bewußt zum Antichristen stilisieren, aber nicht um blasphe־
misch, sondern um als countertype zu handeln und auf seine Stellung hinzuweisen. Dies zeigt
sich u.a. darin, daß er zwar zu Anfang seiner Regierung am Ritual der Wasserweihe teilnahm,
später jedoch zur gleichen Zeit in der Stadt Moskau svjatki, kamevalisiertes Antiverhalten
abhielt.13 Auch hier handelte er als countertype, stellte also die Abbildlichkeit des Zaren von
Christus nicht in Frage. Er schloß sich sogar dem abbildschaffenden Prozeß an, indem er mit
St. Petersburg ein Abbild des himmlischen Jerusalem bauen ließ, das im 18. Jahrhundert als
solches in der Panegyrik besungen wurde Das Ritual der Wasserweihe wurde nach Petr I. von
allen Herrschern bis zu Nikołaj II mitvollzogen.14
Wie wenig sich in manchen Belangen am typologischen Denken in Rußland bis ins 20 Jahr־
hundert geändert hat, läßt sich paradigmatisch an den Bestattungen an der Kreml'mauer zu
Sowjetzeiten aufzeigen Die Bestattung Lenins im Mausoleum außerhalb des Kreml' macht ihn
zum countertype des im Kreml' herrschenden Stalin, der sich von ihm gleichsam negativ
legitimieren ließ. Die Bestattung Stalins im gleichen Mausoleum ist folgerichtig als Schaffung
eines Allotypen fur den folgenden Herrscher zu verstehen, wie auch alle weiteren an der
Kreml'mauer bestatteten Generalsekretäre der KPdSU zu Allotypen des jeweilig amtierenden
werden und ihn so legitimieren Die an der Kreml'mauer bestatteten Kommunisten werden zum
countertype der im Archatigel'skij sobor bestatteten heiligen Fürsten.15 Die kommunistische
Herrschaft wird also mit typologischen Mitteln gleichsam negativ göttlich legitimiert und
schließ sich so an ein altrussisches Paradigma an
13
14
15
Bushkovitch, The Epiphany Ceremony, S. 15
Bushkovitch, The Epiphany Ceremony, S. 16f.
Die Verlegung der Hauptstadt war weniger emblema tisch intendiert als von den Kriegsereignissen
erzwungen: die Art der Bestattung ergab sich jedoch zwangsläufig aus der Topographie Moskaus und den
damit verbundenen typologischen Vorstellungen.
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D ie W e l t d e r S l a v e n
Sammelbände • С борники
Herausgegeben von Peter Rehder und Igor Smimov
Bd 1
Anton P. Cechov
Philosophische und religiöse Dimensionen
im Leben und im Werk
Vorträge des Zweiten Internationalen Čechov־Sympos1ums
Badenweiter. 20.-24. Oktober 1994
Herausgegeben von Vladimir B. Kataev, Rolf-Dieter Kluge, Regine Nohejl
1997. Hardcover. XXII. 641 S. 140.- DM. (ISBN 3-87690-675-X)
B d.2+4+8
Beiträge der Europäischen Slavistischen Linguistik
(POLYSLAV) Band 1-3
Herausgegeben von Katharina Böttger, Markus Giger und Björn Wiemer
Bd. 1: 1998. Hardcover. X. 212 S. 86.- DM. (ISBN 3 87690-705-5)
Bd. 2: 1999. Hardcover. VIII. 320 S. 112.- DM. (ISBN 3-87690-738*I)
Bd. 3: 2000. Hardcover. X. 232 S. 94.- DM. (ISBN 3-87690-773-X)
Bd. 3
Lebenskunst - Kunstleben
Жизнетворчество в русской культуре XVIII-XX вв.
Herausgegeben von Schamma Schahadat
1998. Hardcover. 229 S. 86.- DM. (ISBN 3-87690*706-3)
Bd 5
Festschrift
für Klaus Trost zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von E. Hansack, W. Koschmal, N. Nübler, R. Večerka
1999. Hardcover. 355 S. 120.- DM. (ISBN 3-87690-739.X)
Bd 6
Poetik der Metadiskursivität
Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von
Vladimir Sorokin
Herausgegeben von Dagmar Burkhart
1999. Hardcover. 244 S.
Bd. 7
DM (ISBN 3-87690-74S-4)
Kapitel zur Poetik Karel Hynek Mâchas
Die tschechische Romantik im europäischen Kontext
Beitr. zum Int. Bohém. Mácha-Symposium an der Universität Potsdam 2 ! .—22.1.1995
Herausgegeben von Herta Schmid
in Zusammenarbeit mit dem ustav pro českou literaturu Akademie Véd Ceské Republiky
und unter Mitwirkung von Holt Meyer und Irina Wutsdorff
2000. Hardcover. 307 S. 120.- DM. (ISBN 3-87690-756-X)
Bd 9
Hypertext Отчаяние / Сверхтекст Despair
Studien zu Vladimir Nabokovs Roman-Rätsel
Herausgegeben von Igor Smimov
Intemetredaktion: Harry Raiser, Natalja Sander. Lora Schlothauer
Hardcover. 279 S. 98. ־DM. (ISBN 3-87690-777-2)
V e r la g
O tto
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Sla v istisc h e B eiträg e
Herausgegeben von Peter Rehder
358. Fenner, Ingrid: Zur Poetik des Lyrikers Konstantin M. Fofanov. 1998. XII, 232 S. 44.- DM.
(3-87690-696-2)
359. Fischer, Christine: M usik und Dichtung. Das musikalische Element in der Lyrik Pasternaks.
1998. 358 S. 52.- DM. (3-87690-697-0)
360. Huber, Katja: ״Aélita“ - als morgen gestern heute war. Die Zukunftsmodellierung in Jakov
Protazanovs Film. 1998. 129 S. 26.- DM. (3-87690-698-2)
361. Lindseth, Martina: Null-subject properties o f Slavic languages. With special reference to Russian, Czech and Serbian. 1998. VIII, 207 S. 42.- DM. (3-87690-699-7)
362. М аляр, Т .Н ., О. H. С еливерстова: П ространственно-дистанционны е предлоги и наречия в русском и английском язы ках. 1998. 345 S. 48. ־DM. (3-87690-708-Х)
363. Seitz, Elisabeth: Primus Trüber - Schöpfer der slovenischen Schriftsprache? Versuch einer
Antwort unter besonderer Berücksichtigung seines Satzbaus. 1998. 300 S. 46.- DM. (387690-709-8)
364. Ш м игер, Роланд: Н естрам ски говор. Д опринос іу ж н о с л о в е н с в д д и а л е к т о л о г и и .
1998.492 S. 60.- DM. (3-87690-710-1)
365. Dem jjanow, Assinja: Eine semantische Analyse der Perfektivierungsprafìgierung im Russisehen. Fallstudie pere: 1998.183 S. 36.- DM. (3-87690-711-X)
366. Hubenschmid, Markus: Text und Handlungsrepräsentation. Ein Analysemodell politischer Reden am Beispiel V.l. Lenins. 1998. X. 244 S. 44.- DM. (3-87690-712-8)
367. Russische zeitgenössische Schriftsteller in Deutschland. Ein Nachschlagewerk. Herausgegeben von Elena Tichom irova unter Mitwirkung von Ute Scholz. 1998. 190 S. 36.- DM. (387690-713-6)
368. Zink, Andrea: Andrej Belyjs Rezeption der Philosophie Kants, Nietzsches und der Neukantianer. 1998. 387 S. 50.- DM. (3-87690-714-4)
369. Korom, Marija: Kroatisch für die M ittelstufe. Lese- und Übungstexte. 1998. IV, 216 S. 34.DM. (3-87690-715-2) (Studienhilfen. 8.)
370. Trunte, Nikolaos H.: Славенскій ю зыкъ. Ein praktisches Lehrbuch des Kirchenslavischen in
30 Lektionen. Zugleich eine Einführung in die slavische Philologie. Band 2: Mittel- und
Neukirchenslavisch. 1998. XXX, 520 S. 56.- DM. (3-87690-716-0) (Studienhilfen. 9.)
371. Vojvodik, Josef: Symbolismus im Spannungsfeld zwischen ästhetischer und eschatologischer
Existenz. Motivische Semantik im lyrischen W erk von O tokar Bfezina. 1998. 357 S. 58.DM. (3-87690-717-9)
372. Frei, Bohumil Jiü: Tschechisch gründlich und systematisch. Ein Lehrbuch. Band II. 1998.552
S. 46.- DM. (3-87690-718-7) (Studienhilfen. 10.)
373. Kessler, Stephan: Erzähltechniken und Informationsvergabe in Vasilij Aksenovs Oiog , Zolotaja naša lelezka und Poiski ianra. 1998. 509 S. 66. ־DM. (3-87690-719-5)
374. Drubek-Meyer, Natascha: G ogol’s eloquentia corporis. Einverleibung, Identität und die Grenzen der Figuration. 1998. 362 S. 58.- DM. (3-87690-725-X)
375. Slavistische Linguistik 1997. Referate des XXIII. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens,
Blaubeuren 26.-28.8.1997. Herausgegeben von Tilman Berger und Jochen Raecke. 1998.
325 S. 54. ־DM. (3-87690-726-8)
*
376. Kakridis, Yannis: Wortbildung und Kategorisierung am Beispiel der desubstantivischen Wortbildung des Russischen. 1999. 218 S. 46.- DM. (3-87690-727-6)
377. Marzari, Robert: Die Entwicklung des historiographischen Stils im Vergleich zum literarischen
bei Lomonosov, Karamzin und PuSkin. 1999. 195 S. 42.- DM. (3-87690-728-4)
378. Д уличенко, А лександр Д.: Э тносоциолингвистика «П ерестройки» в СССР. А нтология запечатленного времени. 1999. VIII, 583 S. 96.- DM. (3-87690-729-2)
379. Kratochvil, Alexander: Mykola ChvyFovyj. Eine Studie zu Leben und Werk. 1999. VI, 244 S.
48.- DM. (3-87690-736-5)
380. Slavistische Linguistik 1998. Referate des XXIV. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens,
Wien 15.-18.9.98. Herausgegeben von Renate Rathmayr und W olfgang W eitlaner. 1999.
325 S. 52. ־DM. (3-87690-737-3)
381. Dobrowlanska-Sobczak, M onika Joanna: Das Spiel mit dem Zuschauer. Die Bedeutungsgenerierung im polnischen Bildertheater am Beispiel von ״Szczelina“ Leszek Mądziks, ״RepliCornelia Soldat - 9783954790388
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