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Fundamentalismus und Säkularisierung

Die substantielle Verbundenheit des Fundamentalismus mit der Moderne evoziert die Frage nach der Beziehung des Fundamentalismus zur Säkularisierung als einem Hauptelement der Modernisierung.

194 4. Fundamentalismus © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 Begriff, Begriffsgeschichte und aktuelle Forschungskontroversen Der Begriff ›Fundamentalismus‹ ist im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Gebrauch stark überdeterminiert, was für seinen Gebrauch als wissenschaftliches Analysemittel vor allem deswegen hinderlich ist, weil er daneben häufig als politisches Kampf- und Denunziationswort gebraucht wird, was auf wissenschaftlicher Seite wiederum vermehrte terminologische Absicherungen nötig macht. ›Fundamentalists‹ wurden – zunächst in einer wohlwollenden Fremdbezeichnung, die sie bald übernahmen – seit 1920 eine Reihe protestantischer Theologen der Princeton-Universität und deren Anhänger genannt. Angesichts der empfundenen Bedrohung christlicher Glaubenssubstanz durch die wachsende Akzeptanz historischkritischer Bibelauslegung hatten sie einen Kanon von Dogmen aufgestellt, der von dieser Kritik ausgenommen sein sollte und der unter anderem die Irrtumslosigkeit der Schrift, die kreationistische Lesart der Schöpfungsgeschichte (im expliziten Widerspruch zur Evolutionstheorie, die seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmende Anerkennung erfahren hatte) sowie die bevorstehende Wiederkehr Christi umfasste. Die Übertragung des Begriffs ›Fundamentalismus‹ auf andere Religionen, zunächst auf den Islam, verdankt sich einer historischen Koinzidenz. In den frühen 1980er Jahren erfuhr eine bereits seit einigen Jahren stattfindende Revitalisierung des christlichen Fundamentalismus erstmals US-weite Aufmerksamkeit, als sie 1981 zum entscheidenden Faktor für die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA wurde. Dies fiel zeitlich ungefähr mit mehreren religiös bestimmten Geschehnissen in islamischen Ländern zusammen: der Iranischen Revolution, der Ermordung Anwar al-Sadats in Ägypten durch Mitglieder der Muslimbruderschaft, der Besetzung der Moschee von Mekka sowie dem Sieg afghanischer Mudschaheddin über die sowjetische Armee. Umstritten ist hierbei, ob mit der terminologischen Übertragung auch die tatsäch- III. Kategorien liche Entstehung des islamischen Fundamentalismus zeitlich in eins fällt, er somit ein Phänomen des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts ist. Karen Armstrong (2004, 149 ff.) argumentiert überzeugend gegen diese Ansicht, indem sie nachweist, wie sich Entwicklungslinien, die bruchlos zum jetzigen islamischen Fundamentalismus führen, schon im Lauf des 19. Jahrhunderts, etwa in Gestalt der Salafiya-Bewegung, formierten. Seit der Übertragung auf den Islam jedenfalls ist der Fundamentalismus-Begriff auf Phänomene innerhalb jeder anderen der großen religiösen Traditionen angewendet worden. Im Judentum bezeichnet er programmatisch teils diametral entgegengesetzte Gruppen, die jedoch ein (radikaler) Bezug zum Problem des Zionismus eint: So wird er auf die antizionistische Organisation Neturei Karta ebenso angewendet wie auf die prozionistische Siedlerbewegung Gush Emunim. Eine zweite wichtige Kontroverse innerhalb der Forschung besteht im Anschluss an die Frage, ob ›Fundamentalismus‹ aus inhaltlichen oder auch aus Gründen der begrifflichen Schärfe nur auf die monotheistischen Weltreligionen angewendet werden sollte. Hauptsächliches inhaltliches Argument für diese Beschränkung ist die nur in den monotheistischen Religionen vorfindliche Textbasis, die als Fundament fungieren kann, bzw. im weiteren Sinne das Vorhandensein einer Orthodoxie. Dagegen erweitert die umfassendere Fundamentalismus-Definition diese text- und lehrmäßige Basis zu kulturellen Traditionen im Allgemeinen, die als Fundamente dienen können. Dies hat insbesondere zur Folge, dass dann hinduistische Gewalt gegen Muslime in Indien als fundamentalistisch begriffen wird, obwohl der Hinduismus weder eine einheitliche Lehre noch allgemeinverbindliche heilige Texte kennt. Bei engerer Bestimmung des Fundamentalismus-Begriffs gilt diese Gewalt denn auch allenfalls als ›fundamentalismusähnlich‹ – im Gegensatz zum ›echten Abrahamitischen Fundamentalismus‹. Diese Betonung lehr- und textmäßiger Grundlagen ermöglicht es außerdem, im Christentum nicht nur vom bekannten protestantischen Fundamentalismus in den USA, sondern auch von © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 4. Fundamentalismus einem katholischen Fundamentalismus zu sprechen. Die hierunter gefassten Phänomene werden in der Forschung eigentlich mit Integrismus oder Traditionalismus bezeichnet, eignen sich aber zur Umwidmung eben aufgrund des bei ihnen vorhandenen starken Traditions- bzw. Lehrbezugs. Identifikationspunkt der katholischen Fundamentalisten ist in den meisten Fällen der Papst als aktuelles Traditionselement und zugleich als Garant der Orthodoxie. Beide Eigenschaften verbinden sich im Infallibilitätsdogma, das von den Traditionalisten stark betont wird. Es lässt sich als funktionales Äquivalent zur Unfehlbarkeit der biblischen Texte selbst in Detailfragen begreifen, wie sie im protestantischen Fundamentalismus gelehrt wird. Auch in der Frage ihrer Entstehung finden sich Parallelen zwischen katholischem und protestantischem Fundamentalismus, insofern beide als Reaktionen auf die steigende Akzeptanz der liberalen Theologie begriffen werden können. Schließlich – und damit ist die letzte der Erweiterungen erreicht, die die Geschichte des Fundamentalismus-Begriffs begleiten – werden seit den 1990er Jahren auch gänzlich unreligiöse Gruppen oder Positionen als fundamentalistisch bezeichnet; dies betrifft namentlich politische Gruppen wie die Scottish National Party und den Teil von Bündnis 90/ Die Grünen, der sich gegen eine befürchtete Aufgabe alter Parteiideale angesichts des politischen Einflussgewinns sträubte. Da in diesen Fällen jedoch ›Fundamentalismus‹ quasi ununterscheidbar von ›Extremismus‹ wird – womit er in der politischen Rhetorik den mittlerweile obsoleten Kommunismusvorwurf ersetzt –, ist diese Erweiterung in der Forschung nicht anerkannt. Da jede begriffliche Erweiterung Argumente provozierte, die gegen sie sprachen und so zu verschiedenen Begriffsdefinitionen Anlass gab, kann eine Bestimmung des Fundamentalismus hier nur unter Vorbehalt erfolgen. Charakteristisch für fundamentalistische Bewegungen sind ihre bloße Reaktivität auf soziale Veränderungen, eine spezifische Selektivität ihrer Umwelt- und Selbstwahrnehmung, ein inhärenter Messianismus bzw. Millenarismus und eine manichäischdualistische Weltansicht. Reaktiv ist der Funda- 195 mentalismus mit Bezug auf bestimmte Aspekte der Moderne, die er als Krise interpretiert. Seine Selektivität manifestiert sich einerseits als ein »factualist hermeneutic style« (Ruthven 2004, 84), der bei Bezug auf heilige Texte als Literalismus, bei anderen Traditionsbezügen allgemeiner als Inerrantismus virulent wird. Andererseits nehmen Fundamentalisten in bestimmter Weise Selektionen in ihrer Umwelt vor, und zwar sowohl hinsichtlich der zu verdammenden als auch der zu übernehmenden Aspekte der Moderne. Neben diesen positiven Definitionskomponenten sind zumindest zwei negative Bestimmungen hervorzuheben: Einerseits ist physische und psychische Gewalt sowohl nach innen wie nach außen keinesfalls ein konstitutiver Bestandteil des Fundamentalismus schlechthin. Im Gegenteil gab es lange Phasen der Entwicklung fundamentalistischer Bewegungen, in denen sie sich quietistisch von der Außenwelt absonderten. Andererseits bedeutet seine innere Verwiesenheit auf Charakteristika der Moderne, dass Fundamentalismus nicht als ein atavistisches Relikt aus vormodernen Zeiten aufzufassen ist, das lediglich ›auch in der Moderne noch vorkommt‹, sondern substantiell nur unter modernen Bedingungen möglich ist, mithin ein genuin modernes Phänomen darstellt. Fundamentalismus und Säkularisierung Die substantielle Verbundenheit des Fundamentalismus mit der Moderne evoziert die Frage nach der Beziehung des Fundamentalismus zur Säkularisierung als einem Hauptelement der Modernisierung. Um die Fülle der diesbezüglichen Referenzen des Fundamentalismus zu ordnen, ist es nötig, den seinerseits vielfältigen Begriff der Säkularisierung in seine Bedeutungsebenen zu zerlegen und Phänomene des Fundamentalismus diesen zumindest lose zuzuordnen. Zwei theoretische Ansätze bieten eine für diesen Zweck hilfreiche Basis, zum einen José Casanovas (1994) Unterscheidung zwischen drei Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffs: zunächst die Bedeutung der Differenzierung der religiösen © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 196 und anderer gesellschaftlicher Sphären, insbesondere der staatlichen und der wissenschaftlichen – hiermit korrespondieren alle auf staatliche bzw. nationale Identität abzielenden Merkmale des Fundamentalismus sowie seine Versuche, die Differenz zur Logik der Wissenschaft zu überwinden; sodann die Bedeutung der Privatisierung bzw. Individualisierung religiöser Überzeugungen – damit korrespondieren alle Aspekte des Fundamentalismus, Gruppenidentitäten zu stiften und zu erhalten sowie (wieder) öffentlichen Einfluss zu gewinnen; und schließlich die von Casanova zwar kritisch hinterfragte, von den Fundamentalisten aber angenommene Dimension des Verfalls der Religion – dieser lassen sich bestimmte Charakteristika der fundamentalistischen Dogmatik beiordnen sowie alle Aspekte der inneren wie äußeren Gewaltanwendung. Dieser theoretische Ansatz ist um einen vierten Aspekt der Säkularisierung zu ergänzen, den Charles Taylor (2009, 14) als die Unmöglichkeit beschrieben hat, unter den Bedingungen der Moderne nicht mit religiösen Gehalten konfrontiert zu werden, die mit den eigenen im Widerspruch stehen. Daraus ergibt sich eine grundlegende Optionalität des Glaubens auch für diejenigen, die dem eigenen besonders stark anhängen. Mit diesem Metacharakteristikum der Säkularisierung korrespondiert die im Fundamentalismus universelle Neigung zur strikt manichäisch-dualistischen Konzeption der Welt und der eigenen Stellung in ihr. Fundamentalismus als Reaktion auf soziale Differenzierungsprozesse Fundamentalismen stellen Reaktionen auf soziale Differenzierungsprozesse dar. Die Entwicklung säkularer staatlicher Autorität bedeutet auf verschiedenen Ebenen oftmals die Beschneidung religiöser Autorität. Dies betrifft einerseits das staatliche Gewaltmonopol, dessen inhaltliche Bestimmungen im Widerspruch mit religiös begründeten sozialen Normen stehen können. Dieser Zusammenhang zeigt sich deutlich bei der Entstehung der sogenannten neofundamentalistischen Welle in den USA seit den 1960er Jahren. III. Kategorien Hier war es die Inanspruchnahme des Gewaltmonopols durch den säkularen Staat auf verschiedenen Gebieten (Durchsetzung der Evolutionstheorie im Biologieunterricht seit 1963, Verbot von Schulgebeten im selben Jahr, Straffreiheit der Abtreibung 1973), die zu einer Kollision mit religiösen Überzeugungen und damit zur Radikalisierung ebenjener führte. Eine weitere Folge der Ausdifferenzierung autonomer staatlicher Gewalt ist oftmals die Marginalisierung bestehender religiöser Eliten und insofern mit ihr eine Zentralisierung einhergeht, ebenso die Marginalisierung vormaliger regionaler Eliten. Insbesondere diese Gruppen neigen zur Idealisierung der (religiös bestimmten) Vergangenheit und bilden so regelmäßig einen Teil des sozialen Substrats fundamentalistischer Bewegungen. Aufgrund des sozialen Wandels, den Differenzierungsprozesse dieser Art darstellen, wird beispielsweise die Frage der sozialen Solidarität für den Einzelnen akut: Wem ist Solidarität zu zollen, dem entfremdeten Ursprungsmilieu, dem derzeitigen Milieu oder dem antizipierten Zielmilieu? Hier bietet der Fundamentalismus eine funktionale Entlastung durch Rekurs auf vermeintlich absolute Werte, die sich in einem statischen Gesellschaftsbild manifestieren. Diese Verwiesenheit zeigt sich etwa an der biographischen Entwicklung Sayyid Qutbs, einer Gründerfigur des sunnitischen Fundamentalismus, dessen Position sich signifikant radikalisierte, nachdem er im forciert säkularen ägyptischen Staat unter Abdul Nasser inhaftiert und zu Zwangsarbeit verurteilt worden war. Allgemein mag in dem Beziehungsgeflecht zwischen modernem Staat und religiöser Ordnung einer der Gründe für die relativ starke Verbreitung des Fundamentalismus im Islam liegen. Dessen institutionelle Ordnung formte und festigte sich nämlich während einer Phase historischen Triumphs, so dass sich in ihm kaum (theologische) Mechanismen zum Umgang mit einer Marginalisierung entwickelten, wie sie etwa die Ausdifferenzierung staatlicher säkularer Autorität bedeutet. Vor dem Hintergrund dieses Funktionsdefizits ist zum Teil auch die Erbitterung über die kulturelle Hegemonie des Westens zu analysieren, die oftmals als Grundpfeiler in den 197 © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 4. Fundamentalismus Begründungen des islamischen Fundamentalismus fungierte und fungiert. Differenzierungsprozesse wirken als Auslöser oder Verstärker fundamentalistischer Bewegungen aber nicht nur im staatlich-politischen Bereich, sie finden sich in dieser Funktion auch in der Beziehung der Religion zur Wissenschaft. Deren Ausdifferenzierung besteht in der Entwicklung von Zurechnungssystemen auf natürliche Ursachen, mithin in einer bestimmten Form von Rationalisierung. Der Widerspruch zwischen dieser Eigenrationalität und religiösen Gehalten zeigt sich idealtypisch am Konflikt zwischen Evolutionstheorie und verschiedenen religiösen Schöpfungskonzeptionen und -mythen. Fundamentalistisch ist aber nicht jede religiöse Reaktion auf, nicht einmal jede religiöse Opposition gegen derlei naturalistische Weltdeutungssysteme. Sondern als fundamentalistisch lassen sich alle Konzeptionen bezeichnen, die jene der Wissenschaft eigene Rationalität in religiösen Gehalten vorzufinden und damit Mythos durch Logos zu ersetzen suchen (Armstrong 2004, passim). Augenfälliges Beispiel hierfür ist der Kreationismus, der den jeweiligen Schöpfungsmythos nicht nur als realen Vorgang in der Vergangenheit zu lokalisieren versucht, sondern ihn als entscheidenden Einflussfaktor in der Naturgeschichte explizieren will (so etwa die Bedeutung der Sintflut für die Entstehung der geologischen Strata und der darin enthaltenen Fossilablagerungen, wie sie insbesondere im christlichen Kreationismus betont wird). Insgesamt lassen sich die angesprochenen Weisen der Handhabung sozialer Differenzierungsprozesse durch den Fundamentalismus als Entdifferenzierungen begreifen, also als Versuche der Integration der Eigenlogiken über die Grenzen ihrer jeweiligen Systeme hinweg. Eine Ausnahme davon stellt der Bezug zur Geschlechterdifferenz dar, die als einzige einem gegenläufigen Prozess unterliegt: während es gesamtgesellschaftliche Tendenzen zu ihrer Verringerung gibt, wird sie im Fundamentalismus nicht nur aufrechterhalten, sondern zu verstärken versucht. Fundamentalismus und die Privatisierung der Religion Eine zweite Dimension der Säkularisierung, die mit der Ausbildung eigenlogischer staatlicher Autorität korrespondiert, ist die Privatisierung religiöser Gehalte. Damit ist sowohl eine Verlagerung religiöser Organisation in den Bereich der Zivilgesellschaft gemeint, als auch eine Subjektivierung religiöser Überzeugungen angesichts der Abwesenheit legitimen physischen Zwangs durch religiöse Gruppen. Viele Aktivitäten der Fundamentalisten haben diese Privatisierung zur Voraussetzung und zugleich zum Gegenstand. Fundamentalisten weisen die freie Bestimmung der Einzelnen über ihre religiösen Überzeugungen zurück. Die Wirkungen dieser Opposition sind in der Organisationsstruktur vieler fundamentalistischer Bewegungen zu beobachten, die man unter der Bezeichnung counterculture zusammenfassen kann. Zwar ist der Fundamentalismus prinzipiell weder an eine besondere sozialstrukturelle Konfiguration noch an eine bestimmte Organisationsform gebunden, doch entwickelten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in allen drei monotheistischen Weltreligionen institutionelle Strukturen, mittels derer sich fundamentalistische Bewegungen in sehr hohem Maße von der sie umgebenden Gesellschaft distanzierten. Dies betrifft die ägyptische Muslimbruderschaft, die sich angesichts des aggressiven Säkularismus der Nasser-Regierung, sowie die Neturei Karta in Israel, die sich infolge der wachsenden Dominanz des von ihnen abgelehnten Zionismus aus der Gesellschaft zurückzogen. Der bekannteste Vertreter der counterculture ist aber wiederum der protestantische Fundamentalismus in den USA. Nach der faktischen Niederlage im bekannten »Scopes Monkey Trial« 1925 weitete sich das Netz an fundamentalistischen Bildungs-, Erziehungs- und Gemeindeinstitutionen insbesondere im Süden der USA aus und entwickelte sich zu einem relativ abgeschlossenen Milieu für eine große Zahl von US-Amerikanern, das noch heute die Basis für kreationistische und allgemein fundamentalistische Überzeugungen stellt. Im Grad der Abschließung fundamentalistischer Bewegungen von der sie umgebenden ge- © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 198 sellschaftlichen Umwelt bestehen allerdings große Unterschiede. Es scheint hierbei einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Entfremdung von der Gesellschaft und der Radikalität der jeweiligen fundamentalistischen Bewegung zu geben: Der protestantische Fundamentalismus in den USA ist, einzelne extreme, oftmals rassistische und staatsumstürzlerische Gruppen ausgenommen, allgemein weniger offensiv als etwa der schiitische, der zur Iranischen Revolution führte. Das liegt daran, dass die Entfremdung der Fundamentalisten in den USA von ihrer eigenen Gesellschaft weniger groß ist als die jener Muslime, die sich angesichts eines forcierten Säkularisierungsprozesses als Opfer westlicher Dominanz begriffen (und in ökonomischer und kultureller Hinsicht oftmals auch Grund dazu hatten) – die also die Heimatgesellschaft als eine kategorial verschiedene Nichtheimat begreifen konnten. Strukturell ähnlich ist die Ausgangslage eines Teils des jüdischen Fundamentalismus, der sich angesichts des Holocaust, gedeutet als Konsequenz und Endstufe säkulartechnischer Entwicklung, in eine umso größere Opposition zu jener säkularen Welt begab. In beiden Fällen machten es historische Konstellationen möglich, das Säkulare in einem Ausmaß mit dem schlechthin Bösen zu identifizieren, wie es im amerikanischen Protestantismus nie der Fall war. Der Zusammenhang zwischen der Art und dem Grad der Privatisierung, die fundamentalistische Bewegungen durchlaufen einerseits und der Neigung zu gewaltvollem Verhalten andererseits lässt sich aber noch auf eine andere Weise erklären, und zwar mit Bezug auf die Gruppenkohäsion der Bewegung selbst. Entscheidend ist, dass die Devianz von den privatisierten religiösen Gehalten in den meisten Fällen per se keine negativen Konsequenzen für die Einzelnen hätte, d. h. säkularistische und selbst atheistische Überzeugungen sind in den meisten säkularisierten Gesellschaften zumindest rechtlich, zumeist aber auch konventionell nicht mehr negativ konnotiert. Für fundamentalistische Bewegungen besteht deshalb die Notwendigkeit, Abschließungsmechanismen zu finden, die eine solche Devianz in ihren eigenen Reihen erschweren. Entgegen III. Kategorien der landläufigen Ansicht, fundamentalistische Gewalt, etwa Terroranschläge, seien ausschließlich als Gewaltakte gegen die als feindlich empfundene Umwelt zu verstehen, haben sie unter dieser Perspektive eher eine nach innen gerichtete Funktion, indem sie den Mitgliedern der Gruppe den Preis vor Augen führen, der für eine Abweichung vom fundamentalistischen Programm gezahlt werden würde und somit den internen Zusammenhalt verstärken. Fundamentalismus als Reaktion auf einen angenommenen Verfall der Religion Diese Bedeutungsdimension der Säkularisierung ist im Hinblick auf die Motivationslage der Fundamentalisten schwer von den anderen Ebenen zu trennen, d. h. für Fundamentalisten sind Differenzierungs- und Privatisierungsprozesse Anzeichen eines Verfalls der Religion. Dennoch lassen sich zumindest zu analytischen Zwecken einige Charakteristika fundamentalistischer Bewegungen diesem Bedeutungsgehalt der Säkularisierung beiordnen, namentlich jene, die auf eine Rückkehr zu einem Zustand vor dem wahrgenommenen Niedergang abzielen. Zunächst ist festzuhalten, dass Fundamentalismus in den seltensten Fällen als ein Kampf mit einem religionsoder konfessionsexternen Gegner erwächst, sondern regelmäßig aus internen Richtungsstreiten hervorgeht. Dies ist deutlich bei den US-amerikanischen Fundamentalisten zu erkennen, die sich in Abgrenzung zur empfundenen dogmatischen Aufweichung der Mainline-Kirchen in den USA abspalteten, also auf einen empfundenen Verfall religiöser Orthodoxie innerhalb ihrer eigenen Tradition reagierten. Strukturell ähnlich liegen die Dinge im islamischen Fundamentalismus, der sich in Anlehnung an die Salafiya-Bewegung entwickelte, einer religiösen Reformbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert, die eine Rückkehr zum Glauben der »Frommen Altvorderen« (arab. as-salaf as-salih) in einer idealisierten islamischen Ur-Gesellschaft forderte. Diese typisch fundamentalistischen Bezüge auf eine als religiös authentischer angesehene © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 4. Fundamentalismus Vergangenheit angesichts des wahrgenommenen Verfalls der Religion in der Gegenwart sind Ausgangspunkt für viele Eigenarten der Bewegungen. Hier sind insbesondere der Aspekt der Geschlechterdifferenz von Bedeutung sowie das familiale Rollenbild, die beide von den Fundamentalisten zugespitzt und dramatisiert werden. Einerseits bestehen in vielen Fällen dezidiert frauenfeindliche Tendenzen. Diese können als symbolische Ersatzhandlungen für die von den Fundamentalisten angestrebte strukturelle Transformation der geschlechtlichen Rollenverteilung angesehen werden, deren Vorbild eine angenommene ideale prämoderne Rollenverteilung ist. Andererseits bestehen in allen fundamentalistischen Bewegungen Tendenzen zur Mobilisierung und aktiven Partizipation von Frauen. Dabei zeigt sich die paradoxe Verwiesenheit der Fundamentalisten auf die Moderne, die sie einerseits bekämpfen, deren Produkt sie aber andererseits sind. Denn die Begründung für die verhältnismäßig aktive und autonome Rolle, die Frauen etwa im Rahmen von (gewaltlosen oder gewalttätigen) Protesten spielen, erfolgt in vielen Fällen gerade mit Verweis auf die als krisenhaft empfundene Ausnahmesituation, in der sich die Fundamentalisten glauben. Die Opposition gegen die Relativierung fester Geschlechterrollen führt also geradewegs zu Ansätzen einer solchen Relativierung. Fundamentalismus und die Optionalität religiöser Überzeugungen Getragen von Differenzierungs- und Privatisierungsprozessen und von Fundamentalisten ebenfalls als Verfallserscheinung ihrer Religion wahrgenommen, stellt die potentielle Optionalität von Religion, also die Wahrnehmung von religiösem Pluralismus und der Möglichkeit des Wechsels zwischen Religionen oder der gänzlichen Abwendung von ihnen eine letzte Dimension der Säkularisierung dar, auf die Fundamentalisten programmatisch reagieren. Die Fülle dieser Reaktionen kann mit dem Schlagwort des manichäischen Dualismus (Riesebrodt 1990) betitelt werden: Fundamentalisten teilen die (soziale) Welt 199 regelmäßig in ein striktes Gut, auf dessen Seite sie sich – und unter Umständen wenige andere – verorten, und ein ebenso eindeutiges Böse, das normalerweise als gigantische Residualkategorie für den Rest der wahrgenommenen sozialen Welt dient. Der Zusammenhang von Dualismus und Optionalität wird deutlich, wenn man den religiösen Pluralismus unter Bedingungen der Säkularisierung als rasanten Anstieg der sozialen Komplexität begreift. Anders als unter Bedingungen einer etwa staatlich garantierten religiösen Homogenität steigt unter religiös pluralistischen Bedingungen der Aufwand der Selbst- und Fremdverortung in einem religiösen Raster exponentiell. Ist dieses Raster, wie es bei Fundamentalismen der Fall zu sein pflegt, selbst einer (vermeintlichen) prämodernen und damit präpluralistischen Periode entnommen, erwächst daraus ein starker Druck, die soziale Komplexität so weit zu reduzieren, dass sie mit diesen präpluralistischen Konzepten irgendwie kompatibel werden kann. Die Entwürfe binärer Schemata stellen unter diesen Voraussetzungen das Maximum an Reduktionsleistung dar und bilden so den logischen Endpunkt in der Entwicklung von Fundamentalismen. Im amerikanischen Kreationismus findet sich die Binarisierung bei der Erklärung der Tatsache, dass die große Mehrheit der Wissenschaftler wie auch ein Gutteil der Bevölkerung von der Geltung der gegnerischen Evolutionstheorie überzeugt ist. Die Reduktion findet hier durch theologische Einhegung der gesamten Umwelt statt: Die Forscher seien wissentlich und willentlich aus religiösen Gründen der Evolutionstheorie zugeneigt, da diese sie argumentativ von der Herrschaft Gottes entbinde. Die Masse der Bevölkerung werde infolge systematisch getäuscht. Diese Konzeption ermöglicht eine extreme Reduktion von wissenschaftlichen und religiösen Detailaussagen aus der Umwelt der Fundamentalisten, da das theologische Argument a priori gilt: Wer aus Gründen gottvergessener Hybris argumentiert, argumentiert per se ungültig. Die z. B. in den Äußerungen al-Qaidas vorkommende Rede vom Kreuzzug, den die islamische Welt erleide, ist ein weiteres Beispiel dieser dualistischen Reduktion. Sie bedeutet nicht nur die Zusam- © Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138 200 III. Kategorien menfassung unterschiedlicher militärischer, kultureller, wirtschaftlicher etc. Aspekte zu einem homogenen Ganzen sowie die Nivellierung zwischenstaatlicher Unterschiede im so zusammengefassten ›westlichen Kulturkreis‹. Der Rekurs auf die religiöse Motivation, der in der anachronistischen Verwendung des Kreuzzugsbegriffs vorliegt, gestattet auch die Homogenisierung der konzeptuell entgegengesetzten muslimischen Welt, als deren repräsentativer Vertreter al-Qaida sich dann präsentieren kann. Durch die Erweiterung des Kreuzzugsmotivs zur »zionistischkreuzfahrerischen Allianz«, wie sie sich etwa in der Rhetorik Osama bin Ladens fand, werden diese Dualisierungsprozesse nochmals verstärkt und erweitert. Literatur Armstrong, Karen: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. Berlin 2004. Bruce, Steve: Fundamentalism. Cambridge 2000. Casanova, José: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994. Marty, Martin E./Appleby, R. Scott (Hg.): The Fundamentalism Project: Fundamentalisms Comprehended. Chicago 1995. Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Tübingen 1990. Ruthven, Malise: Fundamentalism. The Search for Meaning. Oxford 2005. Six, Clemens/Riesebrodt, Martin/Haas, Siegfried (Hg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Innsbruck 2005. Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Frankfurt a. M. 2007. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2009. Tibi, Bassam: Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. Frankfurt a. M. 1991. Tom Kaden 5. Das Heilige Die Problematisierung des Heiligen ist ein wesentlicher Aspekt des modernen Säkularisierungsprozesses. Dessen Bedeutung wird dabei nicht auf das ›Absterben‹ von Religion reduziert, sondern als spannungsgeladene Auseinandersetzung zwischen religiösen und säkularen Deutungsmustern der Wirklichkeit verstanden, in der beide Seiten nicht allein in einem Ausschließungsverhältnis zueinander stehen, sondern sich auch wechselseitig beeinflussen und aus der neue »Zwischenpositionen« zwischen dem traditionellen christlichen Theismus und dem aufklärerischen Atheismus und Agnostizismus hervorgehen (vgl. Taylor 2009). Im Zuge dieser Auseinandersetzung werden die christlichen Geltungsquellen des Heiligen durch die Aufklärung dekonstruiert, wird seine Erfahrung transzendentalphilosophisch subjektiviert und lebensphilosophisch individualisiert, erweitert bzw. verlagert sich die Kommunikation übers Heilige vom religiösen auf den künstlerischen und politischen Bereich und wird sein Bedeutungsgehalt religionswissenschaftlich diskursiviert. Die dadurch initiierte ›Metamorphose‹ des Heiligen prägt das gegenwärtige Verständnis vom normalsprachlichen Verwendungssinn seines Begriffs (Schlette 2009, 110 ff.). Christliche Vorstellungen des Heiligen Im christlichen Verständnis referiert der Begriff des Heiligen im eigentlichen Sinne allein auf Gott und seine Eigenschaften. »Heiligkeit ist die Vollkommenheit, die Gott von der Welt unterscheidet als den einzig wahren Gegenstand der Anbetung, der Verehrung und der Ehrfurcht« (Hunsinger 2000, Sp. 1535). Der Zugang zum Heiligen vollzieht sich christlich daher »als Begegnung mit dem allein heiligen und heiligenden dreifaltigen Gott« (Laube 1985, 711). Als heilig gilt in einem abgeleiteten Sinne, was Gott zugehört oder von ihm ausgeht, sein Geist, die Christen, wenn sie Gottes Gnade im Glauben teilhaftig werden, ihr Lebenswandel (Taeger 2000, Sp. 1532 f.), ferner aber auch Räume und Zeiten, in-