194
4. Fundamentalismus
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
Begriff, Begriffsgeschichte und aktuelle
Forschungskontroversen
Der Begriff ›Fundamentalismus‹ ist im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Gebrauch stark
überdeterminiert, was für seinen Gebrauch als
wissenschaftliches Analysemittel vor allem deswegen hinderlich ist, weil er daneben häufig als
politisches Kampf- und Denunziationswort gebraucht wird, was auf wissenschaftlicher Seite
wiederum vermehrte terminologische Absicherungen nötig macht.
›Fundamentalists‹ wurden – zunächst in einer
wohlwollenden Fremdbezeichnung, die sie bald
übernahmen – seit 1920 eine Reihe protestantischer Theologen der Princeton-Universität und
deren Anhänger genannt. Angesichts der empfundenen Bedrohung christlicher Glaubenssubstanz durch die wachsende Akzeptanz historischkritischer Bibelauslegung hatten sie einen Kanon
von Dogmen aufgestellt, der von dieser Kritik
ausgenommen sein sollte und der unter anderem
die Irrtumslosigkeit der Schrift, die kreationistische Lesart der Schöpfungsgeschichte (im expliziten Widerspruch zur Evolutionstheorie, die seit
dem späten 19. Jahrhundert zunehmende Anerkennung erfahren hatte) sowie die bevorstehende
Wiederkehr Christi umfasste.
Die Übertragung des Begriffs ›Fundamentalismus‹ auf andere Religionen, zunächst auf den Islam, verdankt sich einer historischen Koinzidenz. In den frühen 1980er Jahren erfuhr eine
bereits seit einigen Jahren stattfindende Revitalisierung des christlichen Fundamentalismus erstmals US-weite Aufmerksamkeit, als sie 1981 zum
entscheidenden Faktor für die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA wurde. Dies fiel
zeitlich ungefähr mit mehreren religiös bestimmten Geschehnissen in islamischen Ländern zusammen: der Iranischen Revolution, der Ermordung Anwar al-Sadats in Ägypten durch
Mitglieder der Muslimbruderschaft, der Besetzung der Moschee von Mekka sowie dem Sieg
afghanischer Mudschaheddin über die sowjetische Armee. Umstritten ist hierbei, ob mit der
terminologischen Übertragung auch die tatsäch-
III. Kategorien
liche Entstehung des islamischen Fundamentalismus zeitlich in eins fällt, er somit ein Phänomen
des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts ist.
Karen Armstrong (2004, 149 ff.) argumentiert
überzeugend gegen diese Ansicht, indem sie
nachweist, wie sich Entwicklungslinien, die
bruchlos zum jetzigen islamischen Fundamentalismus führen, schon im Lauf des 19. Jahrhunderts, etwa in Gestalt der Salafiya-Bewegung, formierten.
Seit der Übertragung auf den Islam jedenfalls
ist der Fundamentalismus-Begriff auf Phänomene innerhalb jeder anderen der großen religiösen Traditionen angewendet worden. Im Judentum bezeichnet er programmatisch teils diametral
entgegengesetzte Gruppen, die jedoch ein (radikaler) Bezug zum Problem des Zionismus eint: So
wird er auf die antizionistische Organisation
Neturei Karta ebenso angewendet wie auf die prozionistische Siedlerbewegung Gush Emunim.
Eine zweite wichtige Kontroverse innerhalb
der Forschung besteht im Anschluss an die Frage,
ob ›Fundamentalismus‹ aus inhaltlichen oder
auch aus Gründen der begrifflichen Schärfe nur
auf die monotheistischen Weltreligionen angewendet werden sollte. Hauptsächliches inhaltliches Argument für diese Beschränkung ist die
nur in den monotheistischen Religionen vorfindliche Textbasis, die als Fundament fungieren
kann, bzw. im weiteren Sinne das Vorhandensein
einer Orthodoxie. Dagegen erweitert die umfassendere Fundamentalismus-Definition diese
text- und lehrmäßige Basis zu kulturellen Traditionen im Allgemeinen, die als Fundamente dienen können. Dies hat insbesondere zur Folge,
dass dann hinduistische Gewalt gegen Muslime
in Indien als fundamentalistisch begriffen wird,
obwohl der Hinduismus weder eine einheitliche
Lehre noch allgemeinverbindliche heilige Texte
kennt. Bei engerer Bestimmung des Fundamentalismus-Begriffs gilt diese Gewalt denn auch
allenfalls als ›fundamentalismusähnlich‹ – im
Gegensatz zum ›echten Abrahamitischen Fundamentalismus‹.
Diese Betonung lehr- und textmäßiger Grundlagen ermöglicht es außerdem, im Christentum
nicht nur vom bekannten protestantischen Fundamentalismus in den USA, sondern auch von
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
4. Fundamentalismus
einem katholischen Fundamentalismus zu sprechen. Die hierunter gefassten Phänomene werden in der Forschung eigentlich mit Integrismus
oder Traditionalismus bezeichnet, eignen sich
aber zur Umwidmung eben aufgrund des bei ihnen vorhandenen starken Traditions- bzw. Lehrbezugs. Identifikationspunkt der katholischen
Fundamentalisten ist in den meisten Fällen der
Papst als aktuelles Traditionselement und zugleich als Garant der Orthodoxie. Beide Eigenschaften verbinden sich im Infallibilitätsdogma,
das von den Traditionalisten stark betont wird.
Es lässt sich als funktionales Äquivalent zur
Unfehlbarkeit der biblischen Texte selbst in Detailfragen begreifen, wie sie im protestantischen
Fundamentalismus gelehrt wird. Auch in der
Frage ihrer Entstehung finden sich Parallelen
zwischen katholischem und protestantischem
Fundamentalismus, insofern beide als Reaktionen auf die steigende Akzeptanz der liberalen
Theologie begriffen werden können.
Schließlich – und damit ist die letzte der Erweiterungen erreicht, die die Geschichte des
Fundamentalismus-Begriffs begleiten – werden
seit den 1990er Jahren auch gänzlich unreligiöse
Gruppen oder Positionen als fundamentalistisch
bezeichnet; dies betrifft namentlich politische
Gruppen wie die Scottish National Party und den
Teil von Bündnis 90/ Die Grünen, der sich gegen
eine befürchtete Aufgabe alter Parteiideale angesichts des politischen Einflussgewinns sträubte.
Da in diesen Fällen jedoch ›Fundamentalismus‹
quasi ununterscheidbar von ›Extremismus‹
wird – womit er in der politischen Rhetorik den
mittlerweile obsoleten Kommunismusvorwurf
ersetzt –, ist diese Erweiterung in der Forschung
nicht anerkannt.
Da jede begriffliche Erweiterung Argumente
provozierte, die gegen sie sprachen und so zu
verschiedenen Begriffsdefinitionen Anlass gab,
kann eine Bestimmung des Fundamentalismus
hier nur unter Vorbehalt erfolgen. Charakteristisch für fundamentalistische Bewegungen sind
ihre bloße Reaktivität auf soziale Veränderungen,
eine spezifische Selektivität ihrer Umwelt- und
Selbstwahrnehmung, ein inhärenter Messianismus bzw. Millenarismus und eine manichäischdualistische Weltansicht. Reaktiv ist der Funda-
195
mentalismus mit Bezug auf bestimmte Aspekte
der Moderne, die er als Krise interpretiert. Seine
Selektivität manifestiert sich einerseits als ein
»factualist hermeneutic style« (Ruthven 2004, 84),
der bei Bezug auf heilige Texte als Literalismus,
bei anderen Traditionsbezügen allgemeiner als
Inerrantismus virulent wird. Andererseits nehmen Fundamentalisten in bestimmter Weise
Selektionen in ihrer Umwelt vor, und zwar sowohl hinsichtlich der zu verdammenden als auch
der zu übernehmenden Aspekte der Moderne.
Neben diesen positiven Definitionskomponenten sind zumindest zwei negative Bestimmungen hervorzuheben: Einerseits ist physische
und psychische Gewalt sowohl nach innen wie
nach außen keinesfalls ein konstitutiver Bestandteil des Fundamentalismus schlechthin. Im Gegenteil gab es lange Phasen der Entwicklung fundamentalistischer Bewegungen, in denen sie sich
quietistisch von der Außenwelt absonderten. Andererseits bedeutet seine innere Verwiesenheit
auf Charakteristika der Moderne, dass Fundamentalismus nicht als ein atavistisches Relikt aus
vormodernen Zeiten aufzufassen ist, das lediglich ›auch in der Moderne noch vorkommt‹, sondern substantiell nur unter modernen Bedingungen möglich ist, mithin ein genuin modernes
Phänomen darstellt.
Fundamentalismus und Säkularisierung
Die substantielle Verbundenheit des Fundamentalismus mit der Moderne evoziert die Frage
nach der Beziehung des Fundamentalismus zur
Säkularisierung als einem Hauptelement der
Modernisierung. Um die Fülle der diesbezüglichen Referenzen des Fundamentalismus zu ordnen, ist es nötig, den seinerseits vielfältigen
Begriff der Säkularisierung in seine Bedeutungsebenen zu zerlegen und Phänomene des Fundamentalismus diesen zumindest lose zuzuordnen.
Zwei theoretische Ansätze bieten eine für diesen Zweck hilfreiche Basis, zum einen José Casanovas (1994) Unterscheidung zwischen drei Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffs: zunächst
die Bedeutung der Differenzierung der religiösen
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
196
und anderer gesellschaftlicher Sphären, insbesondere der staatlichen und der wissenschaftlichen – hiermit korrespondieren alle auf staatliche bzw. nationale Identität abzielenden
Merkmale des Fundamentalismus sowie seine
Versuche, die Differenz zur Logik der Wissenschaft zu überwinden; sodann die Bedeutung der
Privatisierung bzw. Individualisierung religiöser
Überzeugungen – damit korrespondieren alle
Aspekte des Fundamentalismus, Gruppenidentitäten zu stiften und zu erhalten sowie (wieder)
öffentlichen Einfluss zu gewinnen; und schließlich die von Casanova zwar kritisch hinterfragte,
von den Fundamentalisten aber angenommene
Dimension des Verfalls der Religion – dieser lassen sich bestimmte Charakteristika der fundamentalistischen Dogmatik beiordnen sowie alle
Aspekte der inneren wie äußeren Gewaltanwendung. Dieser theoretische Ansatz ist um einen
vierten Aspekt der Säkularisierung zu ergänzen,
den Charles Taylor (2009, 14) als die Unmöglichkeit beschrieben hat, unter den Bedingungen der
Moderne nicht mit religiösen Gehalten konfrontiert zu werden, die mit den eigenen im Widerspruch stehen. Daraus ergibt sich eine grundlegende Optionalität des Glaubens auch für
diejenigen, die dem eigenen besonders stark anhängen. Mit diesem Metacharakteristikum der
Säkularisierung korrespondiert die im Fundamentalismus universelle Neigung zur strikt manichäisch-dualistischen Konzeption der Welt
und der eigenen Stellung in ihr.
Fundamentalismus als Reaktion
auf soziale Differenzierungsprozesse
Fundamentalismen stellen Reaktionen auf soziale
Differenzierungsprozesse dar. Die Entwicklung
säkularer staatlicher Autorität bedeutet auf verschiedenen Ebenen oftmals die Beschneidung religiöser Autorität. Dies betrifft einerseits das
staatliche Gewaltmonopol, dessen inhaltliche Bestimmungen im Widerspruch mit religiös begründeten sozialen Normen stehen können. Dieser Zusammenhang zeigt sich deutlich bei der
Entstehung der sogenannten neofundamentalistischen Welle in den USA seit den 1960er Jahren.
III. Kategorien
Hier war es die Inanspruchnahme des Gewaltmonopols durch den säkularen Staat auf verschiedenen Gebieten (Durchsetzung der Evolutionstheorie im Biologieunterricht seit 1963,
Verbot von Schulgebeten im selben Jahr, Straffreiheit der Abtreibung 1973), die zu einer Kollision mit religiösen Überzeugungen und damit
zur Radikalisierung ebenjener führte.
Eine weitere Folge der Ausdifferenzierung autonomer staatlicher Gewalt ist oftmals die Marginalisierung bestehender religiöser Eliten und insofern mit ihr eine Zentralisierung einhergeht,
ebenso die Marginalisierung vormaliger regionaler Eliten. Insbesondere diese Gruppen neigen
zur Idealisierung der (religiös bestimmten) Vergangenheit und bilden so regelmäßig einen Teil
des sozialen Substrats fundamentalistischer Bewegungen. Aufgrund des sozialen Wandels, den
Differenzierungsprozesse dieser Art darstellen,
wird beispielsweise die Frage der sozialen Solidarität für den Einzelnen akut: Wem ist Solidarität
zu zollen, dem entfremdeten Ursprungsmilieu,
dem derzeitigen Milieu oder dem antizipierten
Zielmilieu? Hier bietet der Fundamentalismus
eine funktionale Entlastung durch Rekurs auf
vermeintlich absolute Werte, die sich in einem
statischen Gesellschaftsbild manifestieren. Diese
Verwiesenheit zeigt sich etwa an der biographischen Entwicklung Sayyid Qutbs, einer Gründerfigur des sunnitischen Fundamentalismus,
dessen Position sich signifikant radikalisierte,
nachdem er im forciert säkularen ägyptischen
Staat unter Abdul Nasser inhaftiert und zu
Zwangsarbeit verurteilt worden war.
Allgemein mag in dem Beziehungsgeflecht
zwischen modernem Staat und religiöser Ordnung einer der Gründe für die relativ starke Verbreitung des Fundamentalismus im Islam liegen.
Dessen institutionelle Ordnung formte und festigte sich nämlich während einer Phase historischen Triumphs, so dass sich in ihm kaum (theologische) Mechanismen zum Umgang mit einer
Marginalisierung entwickelten, wie sie etwa die
Ausdifferenzierung staatlicher säkularer Autorität bedeutet. Vor dem Hintergrund dieses Funktionsdefizits ist zum Teil auch die Erbitterung
über die kulturelle Hegemonie des Westens zu
analysieren, die oftmals als Grundpfeiler in den
197
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
4. Fundamentalismus
Begründungen des islamischen Fundamentalismus fungierte und fungiert.
Differenzierungsprozesse wirken als Auslöser
oder Verstärker fundamentalistischer Bewegungen aber nicht nur im staatlich-politischen Bereich, sie finden sich in dieser Funktion auch in
der Beziehung der Religion zur Wissenschaft.
Deren Ausdifferenzierung besteht in der Entwicklung von Zurechnungssystemen auf natürliche Ursachen, mithin in einer bestimmten Form
von Rationalisierung. Der Widerspruch zwischen dieser Eigenrationalität und religiösen
Gehalten zeigt sich idealtypisch am Konflikt
zwischen Evolutionstheorie und verschiedenen
religiösen Schöpfungskonzeptionen und -mythen. Fundamentalistisch ist aber nicht jede religiöse Reaktion auf, nicht einmal jede religiöse
Opposition gegen derlei naturalistische Weltdeutungssysteme. Sondern als fundamentalistisch
lassen sich alle Konzeptionen bezeichnen, die
jene der Wissenschaft eigene Rationalität in religiösen Gehalten vorzufinden und damit Mythos
durch Logos zu ersetzen suchen (Armstrong
2004, passim). Augenfälliges Beispiel hierfür ist
der Kreationismus, der den jeweiligen Schöpfungsmythos nicht nur als realen Vorgang in der
Vergangenheit zu lokalisieren versucht, sondern
ihn als entscheidenden Einflussfaktor in der
Naturgeschichte explizieren will (so etwa die
Bedeutung der Sintflut für die Entstehung der
geologischen Strata und der darin enthaltenen
Fossilablagerungen, wie sie insbesondere im
christlichen Kreationismus betont wird).
Insgesamt lassen sich die angesprochenen
Weisen der Handhabung sozialer Differenzierungsprozesse durch den Fundamentalismus als
Entdifferenzierungen begreifen, also als Versuche
der Integration der Eigenlogiken über die Grenzen ihrer jeweiligen Systeme hinweg. Eine Ausnahme davon stellt der Bezug zur Geschlechterdifferenz dar, die als einzige einem gegenläufigen
Prozess unterliegt: während es gesamtgesellschaftliche Tendenzen zu ihrer Verringerung
gibt, wird sie im Fundamentalismus nicht nur
aufrechterhalten, sondern zu verstärken versucht.
Fundamentalismus und die
Privatisierung der Religion
Eine zweite Dimension der Säkularisierung, die
mit der Ausbildung eigenlogischer staatlicher
Autorität korrespondiert, ist die Privatisierung
religiöser Gehalte. Damit ist sowohl eine Verlagerung religiöser Organisation in den Bereich der
Zivilgesellschaft gemeint, als auch eine Subjektivierung religiöser Überzeugungen angesichts der
Abwesenheit legitimen physischen Zwangs durch
religiöse Gruppen. Viele Aktivitäten der Fundamentalisten haben diese Privatisierung zur Voraussetzung und zugleich zum Gegenstand. Fundamentalisten weisen die freie Bestimmung der
Einzelnen über ihre religiösen Überzeugungen
zurück. Die Wirkungen dieser Opposition sind
in der Organisationsstruktur vieler fundamentalistischer Bewegungen zu beobachten, die man
unter der Bezeichnung counterculture zusammenfassen kann. Zwar ist der Fundamentalismus
prinzipiell weder an eine besondere sozialstrukturelle Konfiguration noch an eine bestimmte
Organisationsform gebunden, doch entwickelten
sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in allen drei
monotheistischen Weltreligionen institutionelle
Strukturen, mittels derer sich fundamentalistische Bewegungen in sehr hohem Maße von der
sie umgebenden Gesellschaft distanzierten. Dies
betrifft die ägyptische Muslimbruderschaft, die
sich angesichts des aggressiven Säkularismus der
Nasser-Regierung, sowie die Neturei Karta in Israel, die sich infolge der wachsenden Dominanz
des von ihnen abgelehnten Zionismus aus der
Gesellschaft zurückzogen. Der bekannteste Vertreter der counterculture ist aber wiederum der
protestantische Fundamentalismus in den USA.
Nach der faktischen Niederlage im bekannten
»Scopes Monkey Trial« 1925 weitete sich das
Netz an fundamentalistischen Bildungs-, Erziehungs- und Gemeindeinstitutionen insbesondere
im Süden der USA aus und entwickelte sich zu
einem relativ abgeschlossenen Milieu für eine
große Zahl von US-Amerikanern, das noch heute
die Basis für kreationistische und allgemein fundamentalistische Überzeugungen stellt.
Im Grad der Abschließung fundamentalistischer Bewegungen von der sie umgebenden ge-
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
198
sellschaftlichen Umwelt bestehen allerdings
große Unterschiede. Es scheint hierbei einen
Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der
Entfremdung von der Gesellschaft und der Radikalität der jeweiligen fundamentalistischen Bewegung zu geben: Der protestantische Fundamentalismus in den USA ist, einzelne extreme,
oftmals rassistische und staatsumstürzlerische
Gruppen ausgenommen, allgemein weniger offensiv als etwa der schiitische, der zur Iranischen
Revolution führte. Das liegt daran, dass die Entfremdung der Fundamentalisten in den USA von
ihrer eigenen Gesellschaft weniger groß ist als die
jener Muslime, die sich angesichts eines forcierten Säkularisierungsprozesses als Opfer westlicher Dominanz begriffen (und in ökonomischer
und kultureller Hinsicht oftmals auch Grund
dazu hatten) – die also die Heimatgesellschaft als
eine kategorial verschiedene Nichtheimat begreifen konnten. Strukturell ähnlich ist die Ausgangslage eines Teils des jüdischen Fundamentalismus, der sich angesichts des Holocaust,
gedeutet als Konsequenz und Endstufe säkulartechnischer Entwicklung, in eine umso größere
Opposition zu jener säkularen Welt begab. In beiden Fällen machten es historische Konstellationen möglich, das Säkulare in einem Ausmaß mit
dem schlechthin Bösen zu identifizieren, wie es
im amerikanischen Protestantismus nie der Fall
war.
Der Zusammenhang zwischen der Art und
dem Grad der Privatisierung, die fundamentalistische Bewegungen durchlaufen einerseits und
der Neigung zu gewaltvollem Verhalten andererseits lässt sich aber noch auf eine andere Weise
erklären, und zwar mit Bezug auf die Gruppenkohäsion der Bewegung selbst. Entscheidend ist,
dass die Devianz von den privatisierten religiösen Gehalten in den meisten Fällen per se keine
negativen Konsequenzen für die Einzelnen hätte,
d. h. säkularistische und selbst atheistische Überzeugungen sind in den meisten säkularisierten
Gesellschaften zumindest rechtlich, zumeist aber
auch konventionell nicht mehr negativ konnotiert. Für fundamentalistische Bewegungen besteht deshalb die Notwendigkeit, Abschließungsmechanismen zu finden, die eine solche Devianz
in ihren eigenen Reihen erschweren. Entgegen
III. Kategorien
der landläufigen Ansicht, fundamentalistische
Gewalt, etwa Terroranschläge, seien ausschließlich als Gewaltakte gegen die als feindlich empfundene Umwelt zu verstehen, haben sie unter
dieser Perspektive eher eine nach innen gerichtete Funktion, indem sie den Mitgliedern der
Gruppe den Preis vor Augen führen, der für eine
Abweichung vom fundamentalistischen Programm gezahlt werden würde und somit den internen Zusammenhalt verstärken.
Fundamentalismus als Reaktion
auf einen angenommenen Verfall
der Religion
Diese Bedeutungsdimension der Säkularisierung
ist im Hinblick auf die Motivationslage der Fundamentalisten schwer von den anderen Ebenen
zu trennen, d. h. für Fundamentalisten sind Differenzierungs- und Privatisierungsprozesse Anzeichen eines Verfalls der Religion. Dennoch lassen
sich zumindest zu analytischen Zwecken einige
Charakteristika fundamentalistischer Bewegungen diesem Bedeutungsgehalt der Säkularisierung beiordnen, namentlich jene, die auf eine
Rückkehr zu einem Zustand vor dem wahrgenommenen Niedergang abzielen. Zunächst ist
festzuhalten, dass Fundamentalismus in den seltensten Fällen als ein Kampf mit einem religionsoder konfessionsexternen Gegner erwächst, sondern regelmäßig aus internen Richtungsstreiten
hervorgeht. Dies ist deutlich bei den US-amerikanischen Fundamentalisten zu erkennen, die
sich in Abgrenzung zur empfundenen dogmatischen Aufweichung der Mainline-Kirchen in den
USA abspalteten, also auf einen empfundenen
Verfall religiöser Orthodoxie innerhalb ihrer eigenen Tradition reagierten. Strukturell ähnlich
liegen die Dinge im islamischen Fundamentalismus, der sich in Anlehnung an die Salafiya-Bewegung entwickelte, einer religiösen Reformbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert, die
eine Rückkehr zum Glauben der »Frommen Altvorderen« (arab. as-salaf as-salih) in einer idealisierten islamischen Ur-Gesellschaft forderte.
Diese typisch fundamentalistischen Bezüge
auf eine als religiös authentischer angesehene
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
4. Fundamentalismus
Vergangenheit angesichts des wahrgenommenen
Verfalls der Religion in der Gegenwart sind Ausgangspunkt für viele Eigenarten der Bewegungen. Hier sind insbesondere der Aspekt der Geschlechterdifferenz von Bedeutung sowie das
familiale Rollenbild, die beide von den Fundamentalisten zugespitzt und dramatisiert werden.
Einerseits bestehen in vielen Fällen dezidiert
frauenfeindliche Tendenzen. Diese können als
symbolische Ersatzhandlungen für die von den
Fundamentalisten angestrebte strukturelle Transformation der geschlechtlichen Rollenverteilung
angesehen werden, deren Vorbild eine angenommene ideale prämoderne Rollenverteilung ist.
Andererseits bestehen in allen fundamentalistischen Bewegungen Tendenzen zur Mobilisierung
und aktiven Partizipation von Frauen. Dabei
zeigt sich die paradoxe Verwiesenheit der Fundamentalisten auf die Moderne, die sie einerseits
bekämpfen, deren Produkt sie aber andererseits
sind. Denn die Begründung für die verhältnismäßig aktive und autonome Rolle, die Frauen
etwa im Rahmen von (gewaltlosen oder gewalttätigen) Protesten spielen, erfolgt in vielen Fällen
gerade mit Verweis auf die als krisenhaft empfundene Ausnahmesituation, in der sich die Fundamentalisten glauben. Die Opposition gegen die
Relativierung fester Geschlechterrollen führt also
geradewegs zu Ansätzen einer solchen Relativierung.
Fundamentalismus und die Optionalität
religiöser Überzeugungen
Getragen von Differenzierungs- und Privatisierungsprozessen und von Fundamentalisten ebenfalls als Verfallserscheinung ihrer Religion wahrgenommen, stellt die potentielle Optionalität von
Religion, also die Wahrnehmung von religiösem
Pluralismus und der Möglichkeit des Wechsels
zwischen Religionen oder der gänzlichen Abwendung von ihnen eine letzte Dimension der
Säkularisierung dar, auf die Fundamentalisten
programmatisch reagieren. Die Fülle dieser Reaktionen kann mit dem Schlagwort des manichäischen Dualismus (Riesebrodt 1990) betitelt werden: Fundamentalisten teilen die (soziale) Welt
199
regelmäßig in ein striktes Gut, auf dessen Seite sie
sich – und unter Umständen wenige andere –
verorten, und ein ebenso eindeutiges Böse, das
normalerweise als gigantische Residualkategorie
für den Rest der wahrgenommenen sozialen Welt
dient.
Der Zusammenhang von Dualismus und Optionalität wird deutlich, wenn man den religiösen
Pluralismus unter Bedingungen der Säkularisierung als rasanten Anstieg der sozialen Komplexität begreift. Anders als unter Bedingungen einer
etwa staatlich garantierten religiösen Homogenität steigt unter religiös pluralistischen Bedingungen der Aufwand der Selbst- und Fremdverortung in einem religiösen Raster exponentiell. Ist
dieses Raster, wie es bei Fundamentalismen der
Fall zu sein pflegt, selbst einer (vermeintlichen)
prämodernen und damit präpluralistischen Periode entnommen, erwächst daraus ein starker
Druck, die soziale Komplexität so weit zu reduzieren, dass sie mit diesen präpluralistischen
Konzepten irgendwie kompatibel werden kann.
Die Entwürfe binärer Schemata stellen unter
diesen Voraussetzungen das Maximum an Reduktionsleistung dar und bilden so den logischen
Endpunkt in der Entwicklung von Fundamentalismen. Im amerikanischen Kreationismus findet
sich die Binarisierung bei der Erklärung der Tatsache, dass die große Mehrheit der Wissenschaftler wie auch ein Gutteil der Bevölkerung von der
Geltung der gegnerischen Evolutionstheorie
überzeugt ist. Die Reduktion findet hier durch
theologische Einhegung der gesamten Umwelt
statt: Die Forscher seien wissentlich und willentlich aus religiösen Gründen der Evolutionstheorie
zugeneigt, da diese sie argumentativ von der
Herrschaft Gottes entbinde. Die Masse der Bevölkerung werde infolge systematisch getäuscht.
Diese Konzeption ermöglicht eine extreme Reduktion von wissenschaftlichen und religiösen
Detailaussagen aus der Umwelt der Fundamentalisten, da das theologische Argument a priori gilt:
Wer aus Gründen gottvergessener Hybris argumentiert, argumentiert per se ungültig. Die z. B.
in den Äußerungen al-Qaidas vorkommende
Rede vom Kreuzzug, den die islamische Welt erleide, ist ein weiteres Beispiel dieser dualistischen
Reduktion. Sie bedeutet nicht nur die Zusam-
© Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annette, Aug 18, 2014, Religion und Säkularisierung : Ein interdisziplinäres Handbuch
J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, ISBN: 9783476053138
200
III. Kategorien
menfassung unterschiedlicher militärischer, kultureller, wirtschaftlicher etc. Aspekte zu einem
homogenen Ganzen sowie die Nivellierung zwischenstaatlicher Unterschiede im so zusammengefassten ›westlichen Kulturkreis‹. Der Rekurs
auf die religiöse Motivation, der in der anachronistischen Verwendung des Kreuzzugsbegriffs
vorliegt, gestattet auch die Homogenisierung der
konzeptuell entgegengesetzten muslimischen
Welt, als deren repräsentativer Vertreter al-Qaida
sich dann präsentieren kann. Durch die Erweiterung des Kreuzzugsmotivs zur »zionistischkreuzfahrerischen Allianz«, wie sie sich etwa in
der Rhetorik Osama bin Ladens fand, werden
diese Dualisierungsprozesse nochmals verstärkt
und erweitert.
Literatur
Armstrong, Karen: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. Berlin
2004.
Bruce, Steve: Fundamentalism. Cambridge 2000.
Casanova, José: Public Religions in the Modern World.
Chicago 1994.
Marty, Martin E./Appleby, R. Scott (Hg.): The Fundamentalism Project: Fundamentalisms Comprehended.
Chicago 1995.
Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Tübingen 1990.
Ruthven, Malise: Fundamentalism. The Search for
Meaning. Oxford 2005.
Six, Clemens/Riesebrodt, Martin/Haas, Siegfried (Hg.):
Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur
Globalisierung. Innsbruck 2005.
Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei
Monotheismen. Frankfurt a. M. 2007.
Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M.
2009.
Tibi, Bassam: Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen
Zeitalter. Frankfurt a. M. 1991.
Tom Kaden
5. Das Heilige
Die Problematisierung des Heiligen ist ein wesentlicher Aspekt des modernen Säkularisierungsprozesses. Dessen Bedeutung wird dabei
nicht auf das ›Absterben‹ von Religion reduziert,
sondern als spannungsgeladene Auseinandersetzung zwischen religiösen und säkularen Deutungsmustern der Wirklichkeit verstanden, in der
beide Seiten nicht allein in einem Ausschließungsverhältnis zueinander stehen, sondern sich auch
wechselseitig beeinflussen und aus der neue »Zwischenpositionen« zwischen dem traditionellen
christlichen Theismus und dem aufklärerischen
Atheismus und Agnostizismus hervorgehen (vgl.
Taylor 2009). Im Zuge dieser Auseinandersetzung
werden die christlichen Geltungsquellen des Heiligen durch die Aufklärung dekonstruiert, wird
seine Erfahrung transzendentalphilosophisch
subjektiviert und lebensphilosophisch individualisiert, erweitert bzw. verlagert sich die Kommunikation übers Heilige vom religiösen auf den künstlerischen und politischen Bereich und wird sein
Bedeutungsgehalt religionswissenschaftlich diskursiviert. Die dadurch initiierte ›Metamorphose‹
des Heiligen prägt das gegenwärtige Verständnis
vom normalsprachlichen Verwendungssinn seines Begriffs (Schlette 2009, 110 ff.).
Christliche Vorstellungen des Heiligen
Im christlichen Verständnis referiert der Begriff
des Heiligen im eigentlichen Sinne allein auf
Gott und seine Eigenschaften. »Heiligkeit ist die
Vollkommenheit, die Gott von der Welt unterscheidet als den einzig wahren Gegenstand der
Anbetung, der Verehrung und der Ehrfurcht«
(Hunsinger 2000, Sp. 1535). Der Zugang zum
Heiligen vollzieht sich christlich daher »als Begegnung mit dem allein heiligen und heiligenden
dreifaltigen Gott« (Laube 1985, 711). Als heilig
gilt in einem abgeleiteten Sinne, was Gott zugehört oder von ihm ausgeht, sein Geist, die Christen, wenn sie Gottes Gnade im Glauben teilhaftig
werden, ihr Lebenswandel (Taeger 2000, Sp.
1532 f.), ferner aber auch Räume und Zeiten, in-