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Geruchloser Tod: Bodenseekrimi der 5 Sinne
Geruchloser Tod: Bodenseekrimi der 5 Sinne
Geruchloser Tod: Bodenseekrimi der 5 Sinne
eBook426 Seiten4 Stunden

Geruchloser Tod: Bodenseekrimi der 5 Sinne

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Über dieses E-Book

Die Pfahlbauten am Bodensee, ein keltisches Hügelgrab
sowie ein Steinkreis in Österreich und mittendrin ein gefährlicher Mörder.

Meersburg - Ravensburg - Unteruhldingen, Oktober 2020:
Nach einem entspannten Sommer, die Corona-Pandemie nimmt Anlauf in die zweite Welle, wird eine Leiche am Bodensee aufgefunden. Der Mann wurde in den Unteruhldinger Pfahlbauten enthauptet und aufgebahrt. Der Fall scheint rasch gelöst. Doch dann taucht ein lange vermisstes Kind wieder auf und die Ereignisse nehmen eine dramatische Wendung.
Hauptkommissarin Becca Brigg und ihr Team, haben in ihrem zweiten spektakulären Fall der 5-Sinne-Bodenseekrimi-Reihe alle Hände voll zu tun. Auch das Privatleben der ehrgeizigen Kommissarin gerät erneut in Schieflage, und Polizeipsychologe Dave Bernstein wird für das gesamte Team zum Fels in der Brandung.

Nach "Blinder Tod" schließt Band 2 "Geruchloser Tod" zeitlich sowie thematisch an den Vorgänger an.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Apr. 2025
ISBN9783384581143
Geruchloser Tod: Bodenseekrimi der 5 Sinne
Autor

Karina Abrolatis

Karina Abrolatis (Pseudonym), gebürtig am Bodensee, arbeite nach erfolgreichem Abschluss der Hochschulreife in der Healthcare-Branche. Ausgestattet mit einem intensiven Faible für nervenkitzelnde Unterhaltung, war der Weg zum Schreiben fesselnder Kriminalliteratur nicht mehr weit. Dem Motto "Reisen in nah und fern erweitert den Horizont" folgend, durchbricht die freiberufliche Autorin mehrmals im Jahr die Grenzen des Bodenseekreises. Mit jeder Reise entdeckt sie neue Inspirationen und Ideen, die ihre Werke bereichern. Besuchen Sie bitte auch Ihre Website unter www.bodenseekrimis.de

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    Buchvorschau

    Geruchloser Tod - Karina Abrolatis

    Prolog Herbst 2017

    Keuchend von der Anstrengung ließ er sich auf die Erde nieder und lehnte sich mit dem Rücken an den eiskalten mannshohen Stein. Trotz der frostigen Temperaturen standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Der Blick des Mannes wanderte zu seiner Last, die er vor sich abgelegt hatte. Die schwarze Polyethylenfolie des Leichensacks war für ihren zierlichen Inhalt eindeutig zu lang. Doch die Anschaffung hatte sich gelohnt: Das wasserdichte, robuste Material und die oben verstärkten Griffe hatten zugelassen, dass er sie über den Boden ziehen konnte, statt sie zu tragen. Sein Rücken würde es ihm danken.

    Allmählich beruhigte sich seine Atmung, und er fühlte das nassgeschwitzte T-Shirt unter seiner dicken Winterjacke auf der Haut kleben. Er würde achtgeben müssen, dass er sich keine Erkältung zuzog. Die Augen des Mannes schweiften über die Umgebung. In seinem Rücken, hinter den Steinen, standen ein paar hohe Nadelbäume, die sich im bräunlich gefärbten Herbstkleid präsentierten. Man konnte den Wind in ihnen rauschen hören. Trotz der Dunkelheit zeichneten sich schemenhaft die Berggipfel um ihn herum ab. Der Anblick ihrer Silhouetten war majestätisch und, wie er fand, äußerst stimmig für das, was er hier tat. Vor drei Tagen war Neumond gewesen, und die schmale Sichel des Mondes spendete wenig Licht. Doch der Himmel war wolkenlos und sternenklar heute Nacht. Welch ein Glück. Sie würde eine leichte Reise in die Anderswelt haben.

    Endlich erhob er sich, bückte sich nach den Tragegriffen und zog den Sack in die Mitte der umgebenden Steine. Das Gras war feucht, als er sich hinkniete und den doppelseitigen Reißverschluss bedächtig aufzog. Er würde sich Zeit lassen. Sie waren völlig alleine hier oben, und die Zeremonie vertrug keine Hast.

    Als er die geöffnete Seite mit einem Ruck zurückschlug, blickte er auf ihren Kopf. Ihr Gesicht war vollständig unter der Frischhaltefolie verborgen, mit der er ihr Haupt umwickelt hatte, um dem Odem des Lebens Einhalt zu gebieten. Er würde sie davon befreien, doch darum würde er sich später kümmern.

    Er war nicht brutal vorgegangen, sondern ganz sanft. Beinahe zärtlich. Sie hatte nicht gelitten. Zumindest nicht im Vergleich, wenn er bedachte, was sie davor alles hatte ertragen müssen. Jetzt hatte sie keine Schmerzen mehr. Er hatte ihr dieses Geschenk gemacht, das Letzte, was er für sie tun konnte. Und er hatte so einiges für sie getan. Seine Opfer und seine Geduld waren nicht belohnt worden, wie er bitter feststellen musste.

    Er hatte sie unwiderruflich verloren.

    Der Mann zog jetzt den schwarzen Sack unter ihr vor. Ihr schmaler Körper war vollkommen unbekleidet. Wie Elfenbein schimmerte die blasse Haut in der Nacht. Er hatte ihren Körper gemocht, und so streichelte er jetzt mit den Fingerspitzen über ihre nackte Brust. Doch der dunkle Hof der Brustwarze würde sich nicht mehr unter seinen Händen aufrichten. Schade, das hatte ihn sehr fasziniert. Bedauernd seufzend riss er sich von dem reizvollen Anblick los, zog ein weißes Nachthemd aus seinem Rucksack und begann, es ihr anzuziehen. Es war nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte, doch was tat man nicht alles.

    Er legte ihren Körper akkurat auf den Rücken, die Glieder gleichmäßig angeordnet. Das Gesicht sollte Richtung Tal blicken, in die Weite hinein.

    So war es vollkommen.

    Behutsam hob er den Kopf an und wickelte bedächtig die Folie ab. Ihre Gesichtshaut, die darunter zum Vorschein kam, war mit tiefen Furchen übersät, die, die einzelnen Folienbahnen hinterlassen hatten. Das würde sich erfahrungsgemäß mit der Zeit geben.

    Das knisternde Knäul der Folie verstaute er in seinem Rucksack und kramte zeitgleich nach dem Kamm, den er extra eingepackt hatte. Konzentriert kämmte er das lange Haar der Toten. Dann schlang er die Haarspitzen ein wenig ineinander, streifte ein Gummiband darüber und schob eine schwarze Rabenfeder hinein. Perfekt.

    Der Mann erhob sich und blickte hinauf zu den Sternen. Einen Moment verharrte er und wünschte der Toten stumm eine gute Reise über den Todesfluss. Heute war Mabon, die Herbsttagundnachtgleiche. Sie würde zügig auf die andere Seite hinüberkommen. Als er die Augen für einen Moment schloss, konnte er spüren, wie die mystische Energie der Steine ihn durchströmte. Ringförmig umgaben die mächtigen Schatten das ehemalige Paar. Deren uralte Kräfte waren hier oben überall präsent und in dieser Nacht besonders intensiv.

    Schließlich wurde es Zeit, dass er aufbrach, denn er würde eineinhalb Stunden mit dem Auto zurück ins Bodensee-Hinterland brauchen. Vor der Morgendämmerung musste er zu Hause sein.

    Sein Sohn wartete.

    Aussichten Sommer 2020

    Das pausbäckige Kind stand am Fenster des vierten Stocks und sah mit zusammengekniffenen Augen gebannt hinunter auf die vorbeifahrenden Autos der zweispurigen Stadtstraße. Die Hitze stieg in schillernden Schlieren aus dem dunklen Asphalt empor, der wie in Erwartung einer Fata Morgana verheißungsvoll in der Sommersonne flimmerte.

    Ben stand täglich dort am Fenster. Sommer wie Winter. Es war sein persönliches Schaufenster in die riesige, bunte Welt. Beinahe schien es so, als sähe der Junge fern. Der braune Fensterrahmen mit dem abgeblätterten Lack wirkte, als schmiegte er sich um ein gewaltiges Display.

    Der Junge war bereits groß genug, um ohne auf einen Hocker klettern zu müssen über die Fensterbrüstung schauen zu können. Meist verbrachte er seine Zeit damit, die Autos, die unten auf der Straße vorüber sausten, zu zählen. Manchmal fuhren die Autos jedoch dermaßen schnell und zahlreich vorbei, dass das Kind mit dem Zählen gar nicht mehr hinterherkam. Dann musste er immer wieder von vorn anfangen: Eins, swei, drei, acht, ölfs, vier-wanzig, fünfundeinzigst, hundertz …

    Aber auch die bunten Farben sowie die verschiedenen Formen der vorbeiflitzenden Karosserien hatten es ihm angetan. Einige Lacke glänzten wie verrückt in der Sonne, andere wiederum erschienen dumpf und unscheinbar. Manche Fahrzeuge waren ganz flach, sodass man dachte, der Fahrer müsste liegen oder zumindest von kleiner Statur sein. Busse indes wirkten irre hoch und viele Menschen fanden Platz darin. Noch viel spannender fand Ben jedoch die Stunden, in denen er sich auf den breiten Parkplatz des gegenüberliegenden mehrstöckigen Gebäudes konzentrierte.

    Er wusste, dass er in einer Stadt lebte, die Ravensburg hieß, und dass das Haus gegenüber zur Stadt gehörte. Jetzt in der gleißenden Sonne glänzte dessen mit unzähligen Fenstern übersäte Front wie ein funkelnder Diamant. Eine Menge Fahrzeuge kamen frühmorgens auf den Parkplatz des mächtigen Hauses gefahren, während Bens Vater nach anstrengender Nachtschicht schlafend im Bett lag und es ganz still in der Wohnung war. Dann stiegen viele Menschen aus ihren Autos, füllten den Parkplatz für eine Weile mit Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, um letztlich schnellen Schrittes im ausladenden Haupteingang zu verschwinden. Sie wurden dabei, so erschien es Ben zumindest immer, von dem großen Gebäude förmlich verschluckt.

    Er hatte einmal im Fernsehen einen riesigen Fisch gesehen, dessen Brut bei drohender Gefahr ins weit geöffnete Maul der Mutter schwamm. Diese schloss ihren Mund, sobald alle ihre Kinder geborgen im Inneren waren. In der Mundhöhle eingeschlossen waren die winzigen Babyfische sicher geschützt vor Fressfeinden. War die Gefahr vorbei, begann der Prozess rückwärts abzulaufen und die Fischmutter spuckte die gesamte Brut wieder hinaus ins offene Wasser, als würde sie denken: Alles Okay, geht doch wieder nach draußen spielen! So erging es, glaubte Ben, auch den Menschen auf dem Parkplatz. Das Gebäude nahm sie morgens auf, behütete sie tagsüber in seinem Inneren und spuckte sie letztlich abends peu à peu wieder aus.

    Viele von ihnen trugen auf dem Weg hinein Taschen bei sich. Mal waren diese größer, mal handelte es sich um zierliche Damenhandtaschen. Dann, gegen späten Nachmittag, kurz bevor Ben gewöhnlich mit seinem Daddy zu Abend aß, kamen eben diese Menschen mit ihren Taschen wieder in kleinen Grüppchen oder einzeln heraus. Sie fuhren mit ihren Wagen in alle Richtungen davon, um am nächsten Tag wiederzukehren. Und der Kreislauf begann von vorn. Lediglich an den Wochenenden pausierte das alltägliche Spektakel.

    Daddy hatte ihm erklärt, dass die Leute in dem Gebäude arbeiteten, auch wenn dem Jungen nicht ganz klar war, was Arbeit eigentlich genau war. Und schließlich sagte Daddy beiläufig, was Ben in absolutes Verzücken versetzte, dass es da drinnen sehr, sehr viele Spielsachen gebe.

    Trugen die Menschen in ihren Taschen etwa Spielzeug aus dem großen Haus heraus, fragte sich der Junge, fasziniert von diesem Gedanken, immer wieder. Oft malte das Kind sich im Geiste aus, wie das Spielzeug aussehen mochte.

    War es eine Puppe, deren Arme man bewegen konnte und die mit ihren Augen plinkerte? Oder war es vielleicht ein Ball? Welche Farbe mochte er haben?

    An seinem vierten Wiegenfest war Ben mit seinem Vater das erste Mal in einem Spielzeugladen gewesen, denn er durfte sich zu seinem Ehrentag etwas wünschen. Sie hatten schon früher Geburtstage gefeiert, hatte Daddy ihm erklärt. Ben konnte sich beim besten Willen nicht an die vorigen Feste erinnern und er besaß auch keine Geschenke von diesen vorangegangenen Geburtstagen.

    Dieses Jahr, meinte sein Vater weiter, handele es sich um einen ganz besonderen Tag, denn Mummy würde endlich wieder mit ihnen zusammenleben. Sie hatten also doppelten Grund zum Feiern. Die Familie war glücklich vereint und deshalb gab es für Ben einen Kuchen mit einer Kerze darauf.

    Und sogar, was es eben vorher nie gegeben hatte, ein Geschenk!

    Es war ein sehr heißer Sommertag, ähnlich wie der heutige, und der Vater war zu Fuß mit dem Sohn zum Spielzeugladen gelaufen. Eine absolute Ausnahme. Ben war, als sie dort ankamen, ganz außer Puste von dem ungewohnt langen Fußmarsch. Normalerweise verbrachte er seine Zeit in seinem Zimmer. Am Fenster.

    Der Junge hatte den ganzen Weg über schon staunend die Umgebung betrachtet und als sein Vater dann die Tür zu dem Laden öffnete, sah er es plötzlich: Bunt gefüllte Regale bis unter die Decke! Dicht an dicht, Spielzeug so weit das Auge reichte!

    Genauso musste es in dem Gebäude aussehen, das er von seinem Zimmer aus sehen konnte, dachte Ben völlig aus dem Häuschen. Er vergaß, überwältigt von dem Anblick, den Mund vor lauter Stauen zuzumachen.

    Ja, fast vergaß er, weiter zu atmen. Und als Daddy dann nach kurzer Zeit meinte, er dürfe sich etwas Kleines aus den Regalen heraussuchen, beeilte sich der aufgeregte Junge, mit dem pummeligen Zeigefinger auf das nächstbeste, nicht zu große Ding zu deuten, das sich rein zufällig in seinem Blickwinkel befand.

    Der Vater wartete nicht gern.

    Es war ein Glücksgriff gewesen, wie Ben am Abend, inzwischen wieder allein in seinem Zimmer, feststellte. Er hatte sein allererstes Geburtstagsgeschenk vor sich auf dem rotschwarzen Teppich liegen. Der Junge kniete ehrfürchtig davor und begutachtete die quietschorangefarbene Verpackung, auf der das Foto eines himmelblauen Autos prangte. In einem Klarsichthüllenkasten, der sich aus der Pappe herausstülpte, befand sich wahrhaftig das abgebildete Auto. Es war aus Metall gefertigt und sah so echt aus wie die Fahrzeuge auf dem Parkplatz von gegenüber, fand Ben. Nur eben deutlich kleiner. Aber das war gut so. Denn sein Zimmer wäre für ein richtiges Auto ja auch viel zu winzig.

    Über drei Wochen sollte es dauern, bis der Junge sich endlich traute, das hellblau lackierte Matchboxauto vorsichtig aus der Klarsichtverpackung zu schälen. Er hatte bis dahin lediglich den puren Anblick seines originalverpackten Schatzes genossen. Er drehte ihn von rechts nach links und fuhr, Motorengebrumm imitierend, mit der rechteckigen Packung über den mit kleinen Karos gemusterten Teppich. Insgeheim fürchtete der Junge, dass das Auto in dem Moment, wo er die Verpackung öffnen würde, wie von Zauberhand verschwände.

    Warum er das dachte, blieb sein Geheimnis.

    Doch manchmal verschwanden Dinge.

    Und auch Menschen verschwanden. Das wusste jeder.

    Sehr zu seiner Erleichterung war es jedoch nicht dazu gekommen, dass sein Geburtstagsgeschenk beim Auspacken spurlos verschwand, denn als Ben endlich den Mut fand, es aus der Klarsichthülle zu befreien, hatte er tatsächlich diesen hellblauen Wagen in seiner kleinen Hand. Der Junge strich sachte mit dem Finger die Konturen nach und fühlte das kühle, schwere Metall. Überglücklich untersuchte er erneut seinen Schatz und drehte vorsichtig an dessen schwarzen Reifen. Schließlich setzte Ben den blauen Flitzer auf den Boden, um ihn leicht darüber zu rollen. Mit der Zeit wich er immer geschickter den kleinen Karomustern auf der bedruckten Auslegeware aus und er stellte sich vor, die Karos darauf wären Bäume, Straßen oder andere Hindernisse, die es zu umfahren galt.

    Über zwei Jahre waren seither vergangen und immer noch verspürte Ben dieses Glücksgefühl, wenn er mit dem Auto spielte. Es war sein erstes und einziges Spielzeug, denn an seinem fünften Geburtstag war Bens Mutter erneut krank, sodass außer einem Stück gekauften Kuchen nichts Besonderes stattfand. Sie besaßen nicht viel Geld. Am späten Nachmittag, wenn Bens Vater von der Arbeit nach Hause kam, unterbrach das für wenige Stunden die Einsamkeit des Jungen. Dann half er, das Essen zuzubereiten und den Tisch zu decken und der Vater erzählte ihm, was er bei der heutigen Arbeit erlebt hatte. Daddy kam oft verärgert oder zumindest gereizt nach Hause, sodass Ben glaubte, dass es wohl nur sehr wenig wirklich nette Menschen in der Welt da draußen gab.

    Während Mummy, wenn sie denn konnte, die Küche aufräumte, kam das Schönste des ganzen Tages: Daddy las ihm etwas aus einem der Bücher im Wohnzimmerregal vor. Meistens handelten die Romane von Menschen, die lange vor ihnen gelebt hatten. Sie lasen öfters aus Daddys Lieblingsbuch, auch wenn Ben vieles nicht verstand, was darin stand. Es handelte von einem Kreis mit riesengroßen Steinen, der seit tausenden von Jahren ein verborgenes Rätsel hütete. Bisher war es jedoch niemandem gelungen, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Der Steinkreis stand in einem anderen Land, wo Menschen lebten, die eine andere Sprache sprachen. Es gab sogar einige große Fotos dieser Steine in dem Buch. Dennoch konnte der Junge nicht so ganz begreifen, was daran so ungewöhnlich war. Das waren doch nur Steine. Er würde das eines Tages verstehen, wenn er erst älter würde, erklärte sein Vater dann immer wieder mantraartig.

    Am Wochenende, wenn Bens Vater etwas mehr Zeit für ihn erübrigen konnte, sahen sie ab und zu gemeinsam einen Film an, was Ben insgeheim noch schöner fand als Vorlesen. Manchmal durchforschten sie auch zusammen den Weltatlas. Das war ein sehr großes Buch mit vielen Bildern, in dem man die ganze Erde anschauen konnte. Sein Vater erzählte dann, wie es in diesen Ländern aussah und wer dort lebte. Der Junge wusste manchmal nicht so recht, ob es diese Leute da draußen wirklich alle gab oder ob sie eine freie Erfindung seines Daddys waren. Denn vorstellen konnte er sich diese Masse an Leben, die es da draußen geben sollte, beim besten Willen nicht.

    Danach ging es allabendlich ins Badezimmer. Ganz früh hatte er gelernt, dass es wichtig war, sauber zu sein, damit man für andere Menschen nicht schlecht roch. Niemand mochte müffelnde Mitmenschen, hatte Daddy erklärt. Und während Ben nach dem abendlichen Ritual des Zähneputzens in seinen Schlafanzug schlüpfte und Mummy im verschlossenen Erwachsenenzimmer verschwand, machte sich der Vater fertig für die Nachtschicht. Er würde erst frühmorgens wieder nach Hause kommen, um dann todmüde ins Bett zu fallen.

    Ben versuchte deshalb, allmorgendlich ganz leise zu sein, um ihn nicht aufzuwecken. So verbrachte er den Vormittag hauptsächlich am Fenster, um die Autos auf dem Parkplatz zu beobachten. Zur Mittagszeit, nach einem gemeinsamen Imbiss, verließ sein Vater dann erneut die Wohnung, um zu seiner zweiten Arbeit zu gehen. Das Leben war teuer und von einem Job allein, hatte Daddy ihm erklärt, konnte keiner mehr Miete, Kleidung und Essen für eine ganze Familie bezahlen. Darum arbeitete sein Vater sehr viel. Eigentlich fast immer.

    Im nächsten Jahr würde Ben in die Schule gehen und mit anderen Kindern zusammen lernen, hatte Daddy ihm gesagt. Dann wäre er nicht mehr allein. So richtig freuen konnte sich Ben allerdings darüber nicht. Ja, der Junge fürchtete sich sogar davor. Würden diese Kinder nett sein? Und was, wenn nicht? Doch sein Vater war überzeugt, dass das ganz toll werden würde. Seine Eltern würden ihn gemeinsam dort hinbringen, hatte Daddy versprochen, um ihm die Aussicht auf Schule schmackhafter zu machen. Jeder eine Hand haltend und Ben in der Mitte! Die Vorstellung, zwischen Mummy und Daddy draußen umherzulaufen, war es wert, alle Befürchtungen hinunterzuschlucken, fand der Junge.

    Das wäre etwas ganz Besonderes.

    Ganz bald wäre es so weit. Daran glaubte er fest.

    Bald …

    Kopflos Monate später - Montag, der 26. Oktober 2020

    »Ich bin nicht meine Schwester, verdammt noch mal!«, brüllte Kriminalhauptkommissarin Becca Brigg zornig im Hinausgehen über ihre Schulter. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Gato Macho, der sie wie üblich nach draußen begleitet hatte, sprang erschrocken mit einem gewaltigen Satz ins nahestehende Gebüsch. Sein ebenholzschwarzer Schwanz verschwand dabei lautlos im dichten Grün.

    Wutentbrannt ließ sich die Kommissarin auf den Fahrersitz ihres Wagens fallen, um augenblicklich die Autotür mit den entgleisten Emotionen zu konfrontieren. Diese schloss sich mit einem ordentlichen Wumms, bevor die aufgebrachte Mittvierzigerin Kies aufspritzend vom Hof schoss. Die dreihundertfünfzig PS des silberfarbenen Hybrid-Fahrzeugs machten sich einmal mehr bezahlt, stellte sie dabei befriedigt fest.

    Runde fünfzehn Kilometer später, kurz bevor Becca Briggs Wagen aus den ländlichen Gefilden im Deggenhausertal auf die belebte B33 bei Hefigkofen bog, hatte sich der Puls der Ermittlerin allmählich wieder beruhigt. Nur ihre Gedanken kreisten noch wild um den Streit. Mistkerl! Was glaubte der eigentlich, wer er war?

    Dem analytischen Verstand der Kommissarin war allerdings bereits seit Wochen mit wachsender Ohnmacht klar, dass sie nicht ganz unschuldig an der Misere war, in der sich das Paar augenblicklich befand. Sie hatten sich vor Monaten alle beide kopflos und völlig überhastet in diese Beziehung gestürzt. Der gemeinsame Verlust von Taja, die daraus resultierende Trauer, aber auch Wut und Einsamkeit hatten sie wie unter Zwang stehend zusammengeführt. Zwei Ertrinkende im gleichen Meer, die sich aneinanderklammerten.

    Eine ungesunde Konstellation, wie sich langfristig herausstellte.

    Ein kurzer Blick aus ihren dunklen Augen in den Rückspiegel ließ Becca die noch immer vor Zorn zu einer schmalen Linie zusammengepressten Lippen bewusst entspannen.

    Lächeln, Becca. Das bringt dich runter. Konzentriere dich auf den Tag, der vor dir liegt. Ihr ebenmäßiges, durchaus ansprechendes Gesicht mit den halblangen dunkelbraunen Haaren erschien im Rückspiegel. Die Nase war vielleicht etwas zu klein geraten und der Wirbel am Scheitel machte eine ordentliche Frisur unmöglich. Klar, es gab schönere Frauen, aber Becca Brigg konnte sich immer noch sehen lassen. Auch die sportliche Figur unterstrich ihre attraktive Erscheinung.

    Es würde andere Männer für sie geben.

    Als die Kommissarin eine halbe Stunde später in den Innenhof des Ravensburger Polizeipräsidiums einbog, seufzte sie resigniert. Dann fasste sie einen Entschluss, bevor sie den Motor abwürgte: Heute Abend würde das schon viel zu lange hinausgezögerte Gespräch mit Aage endlich stattfinden müssen. Sie würden sich endgültig trennen und den erst kürzlich gemeinsam renovierten Hof, auch wenn sie mächtig Arbeit und Herzblut darin investiert hatten, verkaufen. Mitsamt den beiden liebgewonnenen Pferden fügte sie im Stillen bedauernd hinzu. Dennoch, lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende.

    Fertig. Basta!

    Hauptkommissarin Becca Brigg straffte energisch die Schultern und ging tief luftholend, aber durchaus entschlossen auf den Haupteingang des Präsidiums zu. Sie würde sich auf die Arbeit konzentrieren. Das half meistens. Das optisch ohnehin nicht gerade attraktive Gebäude der Polizei in Ravensburg wurde, dem Corona-Virus sei Dank, seit diesem Mai durch einen vorgelagerten, eckigen und vor allem hässlich anmutenden Stahlcontainer verschandelt. Reichten vor Ausbruch der Pandemie ein Fingerprintsensor und der dazugehörige Retinascanner am Eingang, um dem Thema Sicherheit hinreichend Genüge zu tun, so kam inzwischen ohne einen tagesaktuellen Coronatest keiner mehr ins Haus hinein. Selbst das sicherheitsinterne Präsidiumsrelikt in Gestalt von Pförtner Walter Mayer war hinter einer Glasscheibe geschützt. Nach mehr oder weniger ungeschützten Diensteinsätzen war ein Containerbesuch mittlerweile ebenso zur Pflicht für die Beamten geworden. Ein ungeliebtes Thema, mit dem sich ein Teil der Belegschaft vernunftsgetreu und ins Schicksal ergebend arrangierte. Ein anderer, kleinerer Anteil des Präsidiumspersonals, zu denen beispielsweise SpuSileiter Uwe Link zählte, brodelte ähnlich einem bald ausbrechenden Vulkan zornig vor sich hin. Die Protesthandlungen der Unzufriedenen erstreckten sich über tägliche Schimpftiraden bis hin zu eingereichten offiziellen Beschwerden beim Innenministerium. Um die Pflicht, jeden Tag einen zertifizierten Anti-Corona-Test über sich ergehen zu lassen, kam jedoch bislang inklusive Reinigungspersonal und Besucher keiner der Polizeiangestellten herum.

    Hauptkommissarin Becca Brigg hatte sich angewöhnt, den täglichen Routine-Test erst nach Feierabend im heimeligen Testzelt von Wittenhofen, ihrem Wohnort im Deggenhausertal, durchführen zu lassen. Denn immerhin war es nicht vorgeschrieben, zu welcher Tageszeit der Test zu erfolgen hatte. In dem idyllisch ländlichen Bodenseehinterland entstanden seltener Wartezeiten, im Vergleich zum Container vorm Präsidium. Zudem lud ein Besuch in der Wittenhofener Teststation zu dem einen oder anderen Schwatz mit Nachbarn ein, die man dort zufällig antraf. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Testergebnis kam bequem fünfzehn Minuten später via E-Mail, wenn die Kommissarin meist bereits gemütlich auf dem eigenen Sofa saß und aus bauchigen Schwenkern einen dunkelroten After-Work-Rioja genoss.

    Im Gegensatz dazu hing man im Präsidium besonders morgens vor Dienstbeginn schon mal bis zu einer halben Stunde mit anderen wartenden Kollegen zusammen herum, bis das Test-Ergebnis endlich geliefert wurde und man den Arbeitsplatz betreten durfte.

    Ätzend, auf diese Art, einen Arbeitstag in der Frühe zu beginnen, befand Becca Brigg. Heute musste sie allerdings ausnahmsweise da durch, weil die Gewitterwolken zwischen ihr und Aage sich das ganze Wochenende über heftig entluden und keinen Raum für einen Gang zum Wittenhofener Testzelt gelassen hatten.

    Im Container war es mollig warm, wie die Ermittlerin beim Betreten feststellte. Immerhin etwas. Das Thermometer draußen zeigte heute Morgen kalte vier Grad über Null an. Am Eingang des viereckigen Blechmonsters waren drei einfache Stühle aufgestellt, denen sich ein hoher, funktionell wirkender Tresen inklusive Lesegerät und Testutensilien anschloss. Becca Brigg hielt zur Identifikation ihren Dienstausweis unter einen Scanner. Ein Mittdreißiger, der, der Kommissarin bislang unbekannt war, blinzelte sie mit wunderbar hellgrünen Augen über den Rand seines farblich stimmigen Mundschutzes an. Er wedelte fragend mit dem Abstrichstäbchen in der Hand vor ihrem Gesicht herum:

    »Nase oder Rachen?«

    Die Kommissarin sank ergeben auf einen der Stühle, zog kommentarlos ihre Maske herunter und öffnete weit ihren Mund. Es ist doch immer wieder ein erhebendes Gefühl, diesen leichten Brechreiz zu verspüren, den der raue Watteträger beim Abtasten der oberen weichen Gaumenhaut verursacht, dachte sie sarkastisch.

    Der junge Mann fuhrwerkte indes stoisch routiniert in ihrer Mundhöhle herum und zählte dabei gemächlich die Sekunden bis zehn. Anschließend machte es sich die Kommissarin, so gut es eben ging, auf der hinter dem Tresen stehenden Wartebank bequem. Ein ihr unbekannter Kollege aus einer anderen Abteilung wartete zeitgleich auf sein Testergebnis. Er nickte ihr abwesend zu, ohne wirklich Notiz von ihr zu nehmen, um sich dann erneut in die Akte zu vertiefen, die auf seinem Schoß lag.

    Becca Brigg fummelte ihr Smartphone aus der Jackentasche und checkte die seit gestern angestauten Mails in ihrem Account. Zwischen der Werbung einer Eventagentur, die zum Kauf einer regionalen Konzertkarte animierte, und dem täglichen Newsletter der Zeitung SeeTageblatt stach der Kommissarin eine Nachricht ihrer Hausbank ins Auge.

    Der Kredit für den Hof. Nicht das jetzt auch noch.

    Es schien nicht annähernd klar, wie sie bei einer Trennung von Aage mit dem Schuldenberg umgehen sollte, auf dem sie saß. Sie konnten nur hoffen, einen solventen Käufer dafür zu finden. Eilig, um sich von der privaten Misere abzulenken, öffnete die Kommissarin den Newsletter des SeeTageblatts. Die eindringliche Warnung der deutschen Kanzlerin vor wenigen Wochen habe sich leider bestätigt, schrieb die Presse heute. Eine zweite Welle sei jetzt, Ende Oktober, in vollem Gange. Deutschland habe, so wurde kritisch angemerkt, in den vergangenen sorglos gelebten Sommermonaten seinen Vorsprung in der Pandemiebekämpfung im Vergleich zu anderen Ländern gründlich verspielt.

    Ein weiterer Artikel im Newsletter beschäftigte sich mit der coronabedingten Verschiebung der Landesgartenschau in Überlingen um ein volles Jahr. Dauerkarten würden auch für 2021 ihre Gültigkeit behalten und der Oberbürgermeister sei zuversichtlich, dass man im darauffolgenden Jahr das Großereignis gebührend begehen könne. Die Pflanzungen seien bis dahin durch die Verzögerung noch prächtiger als ohnehin schon, frohlockte der Politiker, die Not zur Tugend machend. Der damit verbundene finanzielle Verlust für die Stadt ließe sich mit etwas Glück und sonnigem Wetter aufholen, so die weitere Zuversicht des OB.

    Die komplette Berichterstattung der Zeitung schien wieder einmal hauptsächlich aus Corona-Nachrichten zu bestehen, stellte die Kommissarin missmutig fest. Ihr war zwar einerseits bewusst, dass diese Pandemie in ihren Folgen ernst zu nehmen war, und zumindest theoretisch stand sie hinter der aktuellen Politiklinie. Leider waren Theorie und Praxis oft nicht kompatibel und so war Becca Brigg zeitweise von unlogisch erscheinenden Regeln, unsinnigen Einzelanweisungen oder des überpräsenten Themas im Allgemeinen schlichtweg genervt.

    »Frau Hauptkommissarin?«

    Die sympathischen grünen Augen des Testhelfers sahen Becca offen an und unterbrachen ihre Gedankengänge. Der junge Mann drückte der Kommissarin ihre schriftliche Coronatest-Bescheinigung für den Tag inklusive Negativ-Stempel in die Hand.

    Endlich konnte sie in den Arbeitstag starten.

    Die Ermittlerin betrat direkt vom Container aus das Polizeigebäude und winkte auf dem Weg in den Fahrstuhl Pförtner Mayer zu, an dem sie zwangsweise vorbeimusste und der glücklicherweise in diesem Augenblick hinter seiner Glasscheibe durch ein Telefonat abgelenkt war. Der vierundsechzig Lenze zählende Empfangschef des Präsidiums neigte nämlich zu Klatsch und Tratsch, sodass er mit Vorliebe die an ihm vorübergehenden Mitmenschen in Gespräche verwickelte. Das trotz des Telefonates übliche »Guade Morge, Frau Brigg« des badischen Urgesteins verschluckte die sich schließende Aufzugtür.

    Kurz darauf kam Becca im Großraumbüro des ersten Stocks an, in dem seit Januar dieses Jahres das Kriminalkommissariat 1 untergebracht war.

    »Hi, Becca«, empfing Polizeisekretärin Ayla Schneider-Demir die Teamchefin. »Du sollst gleich mal bei Dave Bernstein durchläuten. Es

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