Strategien der Avantgarde. Kontinuitäten seit 1910
Herausgegeben von Lore Knapp, Sarah Pogoda, Julian Preece
Einleitung
Die Begriffe Tradition und Avantgarde stehen komplementär zueinander,
insofern Avantgarden ästhetische Kontinuitäten aufbrechen. In ihrer Zurückweisung der Tradition finden sie neue Praktiken, die jedoch bald selbst historische Tradierung erleben. Denn mit der Zeit gehen Avantgarden in den Kanon
ein, gegen den sie zunächst antreten (Bourdieu 1992), indem sie die Grenzen
der Kunst herausfordern. Mit Niklas Luhmann, der Avantgarde als eine Kraft
der Kunst beschreibt, die nach der bestmöglichen Erweiterung ihres Systems
strebt, wird die Zurückweisung der Tradition zum (Über-)Lebensprinzip (Luhmann 1995). Statt allerdings das Ende einer übertheoretisierten Konzeptkunst
zu behaupten, wie Paul Mann (1999), leistet der vorliegende Band einen Beitrag dazu, Traditionen der Avantgarde zu beschreiben und dabei grenzüberschreitende Entwicklungen des Neuen zu berücksichtigen. Die Beiträge der
IVG 2021-Sektion Strategien der Avantgarde. Kontinuitäten seit 1900 stellen
sich in einzelnen Fallstudien der Aufgabe, mit einem Avantgarde-Begriff zu
arbeiten, der weder inflationär und somit als präzises begriffliches Werkzeug
untauglich ist, noch sich historisch auf Richtungen wie Dadaismus, Surrealismus, Futurismus oder inzwischen kanonisierte Neo-Avantgarden eingrenzen
lässt. Als Assemblage machen die vorliegenden Beiträge deutlich, dass die
Avantgarde gerade in ihren Kontinuitäten ihre Kraft findet, ja vielleicht sogar
von Traditionen der Avantgarde zu sprechen ist.
Clement Greenberg beobachtet in seinem Aufsatz Avantgarde und Kitsch
(2009) das weltpolitische Geschehen aus dem Zeitgeist New Yorks der 1930er
Jahre heraus. Die Avantgarden seiner Zeit haben für ihn gegenüber den kulturellen Mainstream-Erscheinungen, bzw. gegenüber der allgemeinen Ästhetisierung der Lebenswelt, die er Kitsch nennt, den Vorteil, dass sie politisch
unabhängig agieren. Die Avantgarden seien so autonom, dass Faschismus und
Stalinismus sie nicht propagandistisch infiltrieren könnten. Demian Berger
zeigt nun am Beispiel von Gustav Landauer, wie sich Moderne und Avantgarde um 1900 in ein und demselben theoretischen Ansatz durchdringen,
der unter dem Primat einer politischen Agenda Avantgardistisches mit vormodernen Zügen versetzt. Das sozialistische Harmonieideal Landauers verbietet gewissermaßen jede ästhetische Fragmentarisierung, Akzeleration oder
Zentrifugalisierung. Statt das gesellschaftliche Auseinanderdriften des frühen
20. Jahrhunderts abzubilden, müsse eine politische ästhetische Praxis eine Einheitsutopie offen halten und in der Kunst erfahrbar machen. Damit ist Landauer
für Berger ein Paradebeispiel dafür, wie sich die Avantgarde aus den Paradoxien
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der Moderne hervorbringt. Die historische Verortung Landauers entspricht
Greenberg ebenso wie der bekannten Theorie Peter Bürgers (1974). Die hier
dokumentierte Sektion hingegen versteht die Avantgarde als ein historisch
nicht ungebundenes, aber immer wieder neu begründbares Kunst- und Literaturkonzept, und zwar über die angestrebte Verbindung von Kunst und Leben
hinaus. Roman Kowerts Beitrag befasst sich in diesem Sinne mit Jacques Rancières Position, dass die Avantgarden gar nicht mit dem „ästhetischen Regime
der Kunst“ (Rancière 2016: 41 f., 45 ff.) brechen, sondern es lediglich in einer
weiteren Spielart fortsetzen. Von diesem theoretischen Hintergrund ausgehend
diskutiert Kowert Brechts Werk, dem Rancière auf Grund des für ihn antiegalitären pädagogischen Anspruchs den emanzipatorischen Anspruch der
Avantgarde abspricht, womit Rancière aber – so Kowert – die spezifischen historischen Möglichkeitsbedingungen des epischen Theaters verkenne. Während
Rancière Brecht ein traditionell marxistisches Menschenbild unterstellt, das
den Menschen als ein ohne theoretische Unterweisung zur Veränderung seiner
Welt unfähiges Wesen begreift, widme sich Brechts episches Theater - Marx‘
späterer Position folgend - doch gerade dem veränderlichen und verändernden
Menschen. Kowert begreift Brechts Theater damit als eine politische Avantgarde, die über ein folgenloses „Leben-Werden der Kunst“ hinausgeht. Auch
für Susanna Werger besteht die Avantgarde weniger in ästhetischen Formprinzipien als in einer gemeinsamen Haltung – antagonistisch zu ihrer jeweiligen
Zeit. Eine solche Haltung sei nicht historisch gebunden (Poggioli 1967) und
könne von späteren Künstlern durchaus avantgardistisch aufgefasst werden.
Auch wenn Werger in ihrem Beitrag nicht zurückgeht zum Literaturstreit der
Querelles des Anciens et des Modernes, zeigt sie mit ihrer Gegenüberstellung
von Jakob Lenzʼ Bürgerlichem Trauerspiel Die Soldaten (1776) – einem Werk
des 18. Jahrhunderts – und Bernd Alois Zimmermanns Opernadaption von
1964 Strategien auf, die bereits für den Literaturstreit galten und sich auch für
die Avantgarden als charakteristisch erweisen. Mathias Meert hingegen analysiert vor allem Formprinzipien und beschreibt in seinem Beitrag Parallelen
zwischen Pantomimen und der „Retheatralisierung“ des Theaters durch die
Avantgarde. Er bezieht sich auf Sandra Umathums Feststellung, in der heutigen
Theaterwissenschaft spiele der Begriff der Neo-Avantgarde – insbesondere im
Vergleich zum Konzept des Postdramatischen – eine eher untergeordnete Rolle
und sei heuristisch wenig hilfreich (vgl. Umathum 2014: 31). Bedenkt man
allerdings solche Steigerungsformen des Postdramatischen, wie sie Christoph
Schlingensiefs Aktionstheater in der Fortsetzung seiner anti-narrativen Filme
entwickelt hat, gewinnt der Begriff der Neo-Avantgarde doch wieder an Relevanz. Durch Einverleibungen avantgardistischer Strategien, Ästhetiken und
konkreter Bezüge zu Joseph Beuys, Kurt Kren, Alan Kaprow oder dem Wiener
Aktionismus erweitert Schlingensief das Postdramatische. Ähnlich ist auch
der deutsch-walisische Blog Verifiktion zugleich Austragungsort und Archiv
Einleitung | 305
einer künstlerischen Erforschung von Avantgarde und Neo-Avantgarde, wie
Sarah Pogoda und Lore Knapp in ihrem Beitrag über Fluxus, Dada, Zufall
und das Ineinander von Sprache und Erfahrung in dem Blog darlegen. Anne
Katrin Lorenz wiederum geht in ihrem Beitrag zu Herwarth Waldens Sturm
der Form der Polemik als strategischem Ort der Avantgarde nach. Sie zeigt,
welchen Erkenntnisgewinn die Befragung der Polemik als Avantgarde in sich
birgt, die bei Walden zum Agitationsinstrument und damit zu einem Ort der
Offenbarung und Selbstbestätigung der Avantgarde wird. Waldens Polemiken
zeigen Institutionskritik als eine weitere Kontinuität der Avantgarde. Julian
Preece beschreibt schließlich Bezugnahmen auf historische Avantgarden und
Neo-Avantgarden in autofiktionalen Prosatexten von Chris Kraus um 2000,
etwa auf das Dada-Duo vom Cabaret Voltaire Emmy Hennings und Hugo Ball
sowie auf die Geschwister Alexander und Alexandra Kluge oder die RAF.
Die folgenden Analysen belegen das Erkenntnispotential eines erweiterten Avantgardebegriffs und geben somit Anlass dazu, weitere Erkundungen
auch im größeren historischen Rahmen vorzunehmen.
Lore Knapp, Sarah Pogoda
Literaturverzeichnis
Bourdieu 1992 = Pierre Bourdieu. Les règles de l’art. Genèse et structure du champ
littéraire. Paris.
Bürger 1974 = Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M.
Greenberg 2009 = Clemens Greenberg. Avantgarde und Kitsch (1939). In Ders.
Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Gerti Fietzeck und
Michael Glasmeier. Übers. v. Christoph Hollender. Hamburg, S. 29–55.
Luhmann 1995 = Niklas Luhmann. Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M.
Mann 1999 = Paul Mann. The Afterlife of the Avant- Garde. In Masocriticism.
Albany, New York, S. 1–17.
Poggioli 1967 = Renato Poggioli. „The Avant-Garde and Politics.“ In Yale French
Studies 39, S. 180–187.
Rancière 2016 = Jacques Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien.
Umathum 2014 = Sandra Umathum. „Avantgarde.“ In Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. v. Fischer-Lichte, Erika; Doris Kolesch; Matthias Warstat. Stuttgart,
S. 28–31.