https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1422-4917/a000821 - Monday, December 13, 2021 4:51:52 AM - IP Address:54.88.26.180
Übersichtsarbeit
Entwicklungsstörungen des
Sprechens oder der Sprache
nach ICD-11
Christine M. Freitag1, Michelle Noterdaeme2, Kristin Snippe3, Petra Schulz4, Ziyon Kim1 und
Karoline Teufel1
1
2
3
4
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Autismus-Therapie- und
Forschungszentrum, Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Fachklinik Josefinum Augsburg
Praxis für Logopädie, Berlin
Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Zusammenfassung: Sprach- und Sprechstörungen kommen bei zahlreichen Kindern vor und werden in der ICD-11 analog zur ICD-10 als Entwicklungsstörungen im Kapitel 6 (Psychische, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen) klassifiziert. International sind bislang die ICD-10-Kriterien nicht von allen Professionen, die sich mit Sprach- und Sprechstörungen klinisch oder im Rahmen der Forschung beschäftigen, akzeptiert. Sie werden einerseits als zu wenig differenziert hinsichtlich der unterschiedlichen Sprachkomponenten vonseiten der Linguistik,
Sprachtherapie oder Logopädie erlebt. Zum anderen wird die unklare Abgrenzung organisch bedingter Sprach- und Sprechprobleme von der
Sprachentwicklungsstörung vonseiten der Medizin teilweise kritisch bewertet. In dem vorliegenden Artikel wird deshalb einerseits die Klassifikation von Sprach- und Sprechproblemen und -störungen in der ICD-11 im Vergleich zur ICD-10 vorgenommen. Wesentlich erscheint hier die in
der ICD-11 neu eingeführte Differenzierung in „primäre“ und „sekundäre“ Neuroentwicklungsstörungen. Zum anderen erfolgt aber auch eine
Auseinandersetzung mit dem DSM-5 sowie anderen Klassifikationsvorschlägen vonseiten der englischsprachigen Sprachtherapie (CATALISE-2) und der deutschsprachigen Pädaudiologie („phonologische Wahrnehmungsstörung“) sowie der Vorschlag einer Ergänzung der aktuellen
ICD-11-Klassifikation hinsichtlich konkreter sprachlicher Einschränkungen bei einem Kind mit Sprachentwicklungsstörung, basierend auf einer ausführlichen Diagnostik. Wir hoffen, mit dem Artikel so den Weg für eine berufsübergreifende Klassifikation von Sprach- und Sprechstörungen nach ICD-11 zu bahnen, damit perspektivisch alle Berufsgruppen, die Diagnostik und Therapie der betroffenen Personen anbieten, eine
vergleichbare Terminologie verwenden. Diese vergleichbare Terminologie soll sowohl die klinische Versorgung verbessern als auch die unterschiedlichen Forschungsansätze und -richtungen vergleichbarer machen.
Schlüsselwörter: Sprechen, Sprache, Klassifikation, Sprachstörung, Sprechstörung
Developmental Speech and Language Disorders According to ICD-11
Abstract: In ICD-11, similar to ICD-10, speech and language disorders are classified as neurodevelopmental disorders, which are part of ICD-11
Chapter 6 (Mental, Behavioural and Neurodevelopmental Disorders). The ICD-10 criteria were not well accepted by many professionals in research and clinic who work with children with speech and language disorders. Especially linguists and speech and language therapists see
ICD-10 as too crude and lacking specification of individual language problems. Medical professions in turn criticize the missing aspect of organically caused speech and language problems. This paper presents the classification of speech and language problems or disorders according to ICD-11 compared to ICD-10. One essential aspect lies in the differentiation between “primary” and “secondary” neurodevelopmental disorders. In addition, we compare and discuss other recent classification approaches, such as DSM-5, CATALISE-2, and the classification
“Auditory Processing Disorder” by pediatric audiologists. We present a classification approach based on ICD-11, supplemented by an additional
specification of the respective impaired speech or language area in the individual child and based on a thorough speech and language assessment. We thus hope to pave the path for an interdisciplinary classification of speech and language disorders according to ICD-11, our aim being
to establish a common terminology that can be used by all professions. We expect this common terminology to improve clinical care and to allow for the integration and comparability of speech- and language-related research efforts.
Keywords: speech, language, classification, speech and language disorder
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2021), 49 (6), 468–479
https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000821
© 2021 The Author(s) Distributed as a
Hogrefe OpenMind article under the license
CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
C. M. Freitag et al., Sprech- und Sprachstörungen nach ICD-11
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Einleitung
Sprach- und Sprechstörungen werden in der ICD-11 (letzte Version: https://icd.who.int/browse11/l-m/en) analog
zur ICD-10 als Entwicklungsstörungen (ICD-10: F8)
klassifiziert (Weltgesundheitsorganisation, 1994). In der
ICD-11 werden sie unter den Neuroentwicklungsstörungen („neurodevelopmental disorders“, 061) gelistet. In
das entsprechende Kapitel 06 sind zusätzlich Störungen
wie Intelligenzminderung, Autismus-Spektrum-Störung,
Lernstörungen, motorische Koordinationsstörung, Aufmerksamkeitssdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und die
stereotype Bewegungsstörung eingruppiert.
Um die Logik der Klassifikation von Sprach- und Sprechstörungen sowie die entsprechenden Diagnosekriterien
nach ICD-11 nachvollziehen zu können, ist deshalb ein
Vergleich sowohl mit den allgemeinen Kriterien einer
Neuroentwicklungsstörung als auch mit den Diagnosekriterien der anderen Störungen, die in Kapitel 06 klassifiziert sind, hilfreich.
Die wesentlichen Charakteristika der Neuroentwicklungsstörungen nach ICD-11 sind folgende: Es handelt
sich um Verhaltens- oder kognitive Störungen, die sich im
Laufe der Entwicklung zeigen und zu deutlichen Schwierigkeiten in der Aneignung und in der Anwendung spezifischer intellektueller, motorischer, sprachlicher oder sozialer Funktionen führen. In Abgrenzung zu anderen
psychischen Störungen, wie z. B. Schizophrenie oder bipolare Störung, wird der Entwicklungsaspekt betont, d. h. ein
Beginn in der (frühen) Kindheit ist wesentlich für
Neuroentwicklungsstörungen.
Die Kategorie 6E60 „sekundäre Neuroentwicklungsstörungen“ wird explizit davon abgegrenzt. Letztere sind durch
folgende Aspekte charakterisiert: Syndrome, die zwar Charakteristika von Neuroentwicklungsstörungen, aber nicht
die vollen diagnostischen Kriterien der genuinen Neuroentwicklungsstörungen aufweisen. Die entsprechenden Syndrome müssen eine direkte Konsequenz der zugrunde liegenden organischen Erkrankung sein (z. B. autistische
Verhaltensweisen bei Rett-Syndrom, Aggression und
Selbstverletzung bei Lesch-Nyhan-Syndrom, Sprachentwicklungsprobleme bei Williams-Syndrom). Wenn eine
entsprechende organisch-genetische Diagnose vorliegt und
die Symptome so stark ausgeprägt sind, dass sie behandlungsbedürftig sind, dann soll die Zusatzdiagnose einer sekundären Neuroentwicklungsstörung zusätzlich zu der zugrunde liegenden organischen Erkrankung gestellt werden.
Die o. g. Differenzierung zwischen „primären“ und sekundären Neuroentwicklungsstörungen gilt demnach
auch für die Sprach- und Sprechstörungen. Nach ICD-11
1
469
dürfen als Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der
Sprache also nur Erkrankungen klassifiziert werden, die
einerseits die vollständigen Diagnosekriterien erfüllen
(s. u.) und andererseits nicht ausschließlich durch eine organische Erkrankung einschließlich eines genetischen
Syndroms begründet sind (Tabelle 1). Hinsichtlich der
Klassifikation von Sprach- und Sprechproblemen, die vollständig durch eine organische Erkrankung verursacht sind,
gibt es in der ICD-11 eine eigene Kategorie: 6E60.0 Sekundäres Sprech- oder Sprachsyndrom („secondary
speech or language syndrome“). Die diagnostischen Kriterien lauten entsprechend: Es liegt ein Syndrom vor, bei
dem sich einzelne Aspekte von Sprach- und Sprechstörungen zeigen, die jedoch nicht die vollen diagnostischen Kriterien einer Entwicklungsstörung der Sprache und des
Sprechens erfüllen. Die Symptome sollen eine direkte pathophysiologische Konsequenz der ihnen zugrunde liegenden Gesundheitseinschränkung sein, die ihrerseits nicht
unter den psychischen und Verhaltensstörungen klassifiziert sein darf (ICD-11, Kapitel 06). Ein Hinweis auf beispielhafte mögliche zugrunde liegende Erkrankungen erfolgt hinsichtlich Erkrankungen des Nervensystems,
sensorischer Einschränkungen, Hirnverletzung oder Infektionen. Die Diagnose eines sekundären Sprech- oder
Sprachsyndroms soll dann in Ergänzung zu der diagnostizierten zugrunde liegenden organischen Erkrankung (einschließlich genetischer Syndrome) vergeben werden.
In Tabelle 2 sind in der letzten Zeile 6 zahlreiche Ausschlussdiagnosen der Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache (ICD-11: 6A01) aufgeführt, die einerseits beschreibend sind (wie 6E60.0: Sekundäres
Sprech- oder Sprachsyndrom) und als Zusatzdiagnosen bei
organischen Grunderkrankungen vergeben werden können, andererseits auf eine spezifische Ätiologie von Sprachoder Sprechproblemen hinweisen können, wie z. B. 8A62.2:
Erworbene epileptische Aphasie, AB50-57: Hörstörungen
oder LD2H: syndromische genetische Taubheit.
Im Folgenden vergleichen wir zunächst ICD-11 und ICD10 hinsichtlich der „primären“ Entwicklungsstörungen des
Sprechens und der Sprache. Da die ICD-11 der US-amerikanischen Klassifikation DSM-5 in einigen Punkten ähnlich ist, wird auch die amerikanische Klassifikation DSM-5
erwähnt, um die Leser_innen, die DSM-5 nicht regelhaft
anwenden, entsprechend zu informieren (American Psychiatric Association, 2020). Zusätzlich wird im englischen
Sprachraum derzeit eine davon abgegrenzte Klassifikation
von Sprach- und Sprechstörungen (CATALISE-2) diskutiert, die auch von Linguistinnen im deutschsprachigen
Raum aufgegriffen wurde (Kauschke & Vogt, 2019). Dies
erscheint insbesondere deshalb wichtig, da im klinischen
Die Übersetzungen von englischen ICD-11-Termen in das Deutsche erfolgte durch die Erstautorin. Derzeit ist keine offizielle deutsche Übersetzung der ICD-11 erhältlich.
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Tabelle 1. Allgemeine ICD-11-Kriterien der Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
Bereiche
Einschlusskriterien
Ausschlusskriterien
Entwicklung
Beginn in der frühen kindlichen Entwicklung
Es darf keine Periode mit unauffälligen, altersgemäßen Sprach- oder Sprechfertigkeiten vorliegen
Sprache
Verständnisschwierigkeiten
Produktionsschwierigkeiten
Probleme im funktionellen Einsatz der Sprache
zur Kommunikation
Sprechen
Artikulations- und Redeflussstörung
Altersbezug
Sprach- und Sprechfertigkeiten liegen außerhalb
der normalen Altersvariabilität
Sprach- und Sprechfertigkeiten liegen innerhalb
der normalen Altersvariabilität
Nonverbale Intelligenz
Sprach- oder Sprechfertigkeiten liegen außerhalb
der normalen kognitiven Variabilität
Sprach- oder Sprechfertigkeiten liegen innerhalb
der normalen kognitiven Variabilität
Soziale Hintergründe
Dürfen kein wesentlicher Grund sein
Soziale Deprivation und fehlende Förderung erklärt die Symptome
Kulturelle/regionale/ethnische
Hintergründe
Dürfen kein wesentlicher Grund sein
Zweisprachigkeit, Zweitsprache, Migration und
lokaler Dialekt bzw. (sub)kulturspezifische Ausdrucksweise erklärt die Symptome
Somatische komorbide Störungen
Dürfen die Symptomatik nicht vollständig erklären
Somatische Ursachen (anatomische oder neurologische Befunde) erklären die Symptomatik vollständig
Psychische komorbide Störungen
Dürfen vorkommen
Kein Ausschlussgrund
Bereich in Deutschland zahlreiche Professionen (Logopäd_
innen, Sprachtherapeut_innen, Linguist_innen, Kinderund Jugendpsychiater_innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen, Pädaudiolog_innen, Kinder- und
Jugendärzt_innen) einerseits im Rahmen der Forschung,
andererseits klinisch mit Patient_innen arbeiten, die
Sprach- und Sprechprobleme aufweisen, es aber leider keine professionsübergreifende, von allen anerkannte Klassifikation dieser Symptome und Erkrankungen gibt. Da die
ICD in der deutschen Sozialgesetzgebung das grundlegende Klassifikationssystem darstellt, wird abschließend ein
klinisch-praktisches Vorgehen hinsichtlich der Umsetzung
und Ergänzung der ICD-11-Klassifikation im deutschen
Gesundheits- und Sozialsystem skizziert, das die Abgrenzung „primär“ und „sekundär“ aus der ICD-11 aufgreift.
•
•
Von ICD-10 zu ICD-11
Hinsichtlich der Klassifikation von Sprach- und Sprechstörungen ergeben sich im Vergleich von ICD-10 zu ICD-11
die folgenden wesentlichen Änderungen (siehe Tabelle 2):
• Bei der Oberkategorie der ICD-11 6A01: Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache (ESS) wurde
die Bezeichnung „umschrieben“ gestrichen. Damit wird
dem Umstand Rechnung getragen, dass viele Kinder
•
mit einer ESS zusätzlich auch weitere motorische oder
kognitive Einschränkungen aufweisen.
In der ICD-11 erfolgt eine Differenzierung in Sprechoder Sprachstörungen unter der Kategorie 6A01: Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache
(ESS). Dieser Logik folgt, dass einerseits die Redeflussstörung (6A01.1, d. h. Stottern und Poltern) als Sprechstörung in Ergänzung zur Artikulationsstörung (6A01.0)
klassifiziert wird. Zudem wird die Sprachentwicklungsstörung (6A01.2) von der entwicklungsbedingten Artikulations- und Redeflussstörung getrennt.
Hinsichtlich der Sprachentwicklungsstörung sind in der
ICD-11 nun Spezifizierungen möglich. Neben der Sprachentwicklungsstörung mit rezeptiver und expressiver
(6A01.20) oder vorwiegend expressiver Beeinträchtigung
(6A01.21) sowie anderer unspezifischer Beeinträchtigung
(6A01.23) wird zusätzlich analog zum DSM-5 die neue
Diagnose der sozialen (pragmatischen) Kommunikationsstörung (6A01.22) als weitere Unterkategorie der
Sprachentwicklungsstörung (6A01.2) eingeführt. In der
ICD-10 waren diese Spezifizierungen direkt unter der
Oberkategorie F80: Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache aufgeführt.
In Analogie zur ICD-10 wird auch in der ICD-11 die Kategorie „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung“ (engl. „Auditory Processing Disorder“) nicht
aufgenommen. Diese war als neue ICD-10-Subklassifi-
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Tabelle 2. Klassifikation von Kommunikations-, Sprech- und Sprachstörungen nach ICD-11, ICD-10, DSM-5 und CATALISE-2
ICD-11
ICD-10
DSM-5
CATALISE-2
Kapitel
Neuroentwicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders)
F8: Entwicklungsstörungen
Störungen der neuronalen und mentalen
Entwicklung
Sprach-, Sprech- und
Kommunikationsbedürfnisse (KUSK)
Oberkategorien
6A01: Entwicklungsstörungen des
Sprechens oder der Sprache (ESS)
F80: Umschriebene
Entwicklungsstörungen
des Sprechens und der
Sprache
Kommunikationsstörungen
Sprachstörung und
Sprech-Laut-Störung
(Aussprachestörung)
Kategorien
Sprechen
– 6A01.0: Entwicklungsbedingte
Artikulationsstörung
– 6A01.1: Entwicklungsbedingte
Redeflussstörung
– F80.0: Artikulationsstörung
– F98.5: Stottern
– F98.6: Poltern
– 315.39: Artikulationsstörung
– 315.35: Redeflussstörung mit Beginn in
der Kindheit
Sprache
– 6A01.2: Sprachentwicklungsstörung
– 6A01.Y: Andere spezifische entwicklungsbedingte Sprech- oder
Sprachstörung
– 6A01.Z: Unspezifische entwicklungsbedingte Sprech- oder
Sprachstörung
Weitere Unterkategorien der
Sprachentwicklungsstörung
nach ICD-11:
6A01.2
Sprachbezogene
Ausschlussdiagnosen
(Auswahl) #
– 6A01.20: Sprachentwicklungsstörung mit rezeptiver und expressiver Beeinträchtigung
– 6A01.21: Sprachentwicklungsstörung mit vorwiegend expressiver
Beeinträchtigung
– 6A01.22: Soziale (pragmatische)
Kommunikationsstörung
– 6A01.23: Sprachentwicklungsstörung mit anderer unspezifischer
Beeinträchtigung
– 6E60.0: Sekundäres Sprech- oder
Sprachsyndrom (SSSS)
– 8A62.2 Erworbene epileptische
Aphasie
– AB50-57: Hörstörungen
– AB5Y: Andere spezifische Erkrankungen mit Hörstörungen
– AB5Z: unspezifische Erkrankungen mit Hörstörungen
– AB72: Erkrankungen des akkustischen Nervs
– AB7Y: Andere spezifische Ohrenerkrankung, die nicht anderswo klassifiziert sind
– LD2H Syndromische genetische
Taubheit
– 21: Symptome, Zeichen oder klinische Befunde hinsichtlich der
Sprache oder Stimme (MA 80-82)
– F80.8: sonstige Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
– F80.9: nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung des Sprechens
und der Sprache
– 315.39: Sprachstörung
– 307.8: Nicht näher
bezeichnete Kommunikationsstörung
– 307.9: unspezifische
Kommunikationsstörung
–
–
–
–
Artikulationsstörung
Dysarthrie
Verbale Dyspraxie
Redeflussstörung
– Sprachentwicklungsstörung
– F80.2: rezeptive Sprachstörung
– Phonologische
Störung
– F80.1: expressive
Sprachstörung
– Lexikalische Störung
– Grammatische
Störung
– 315.39: Soziale
(pragmatische) Kommunikationsstörung
– F80.3 Erworbene Aphasie
mit Epilepsie
– Sprachstörung, die
mit anderen Erkrankungen assoziiert ist
– Orofaziale, strukturelle Defizite
– Stimmstörung
Anmerkung: # Diese Diagnosen schließen die Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung aus, gehen jedoch mit Sprach- oder Sprechstörungen
einher.
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472
•
•
kation F80.20 hinsichtlich der Spezifizierung einer rezeptiven Sprachstörung im Jahr 2000 vonseiten der
Deutschen Gesellschaft für Pädaudiologie und Phoniatrie e. V. für Deutschland vorgeschlagen worden (Nickisch et al., 2000) und ist in der (abgelaufenen)
AWMF-S2k-Leitlinie 049-006 zu Sprachentwicklungsstörungen unter Berücksichtigung umschriebener
Sprachentwicklungsstörungen, Diagnostik, sowie in der
AWMF-S1-Leitlinie 049-012 Auditive Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen als nur in Deutschland
verbreitete Diagnose eingeführt worden.
Durch die Trennung der „primären“ Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache (ESS) von
6E60.0: Sekundäres Sprech- oder Sprachsyndrom
(SSSS) sowie der in der ICD-11 gewünschten Differenzierung einer organischen Ursache möglicher Sprachund Sprechprobleme wurde die Diagnose der „Erworbenen epileptischen Aphasie“ logisch dem Kapitel
„Erkrankungen des Nervensystems“ zugeordnet und
unter die Epilepsien aufgenommen.
Dieses Konzept kann auch auf Kinder mit Taubheit
übertragen werden: Wenn ein Kind funktional und altersgemäß Gebärdensprache beherrscht, wird nur die
Taubheit klassifiziert, aber nicht eine ESS oder SSSS.
Hinsichtlich des Detailvergleichs der diagnostischen Kriterien der Sprachstörungen in ICD-11 und ICD-10 ergeben
sich folgende Übereinstimmungen und Unterschiede:
• Sowohl hinsichtlich der rezeptiven und expressiven
Sprachstörung als auch hinsichtlich der alleinigen expressiven Sprachstörung wird eine Diskrepanz zu Alter
und nonverbalen kognitiven Fertigkeiten (nonverbaler
Intelligenzquotient [IQ ]) gefordert, der nach den Forschungskriterien der ICD-10 hinsichtlich des Alters zwei
Standardabweichungen (SD), hinsichtlich des nonverbalen IQs bei 1 SD liegen muss (Remschmidt, Schmidt &
Poustka, 2017). In der ICD-11 wird ein solches „SD-Kriterium“ derzeit nicht explizit definiert, jedoch betont,
dass die sprachlichen Fertigkeiten außerhalb der normalen Variabilität eingeschränkt sein müssen (Tabelle 1).
• In der ICD-11 ist eine Intelligenzminderung (IQ < 70) im
Gegensatz zur ICD-10 kein Ausschlusskriterium mehr
für eine ESS.
• Analog sind in beiden Klassifikationssystemen die psychiatrischen Diagnosen einer Autismus-Spektrum-Störung sowie eines selektiven Mutismus Ausschlusskriterien, ebenso organische Grunderkrankungen des
Nervensystems oder eine Taubheit. Eine Hörstörung ist
in beiden Versionen nicht als Ausschlusskriterium genannt, allerdings entspricht der ICD-11-Logik implizit,
dass bei Sprach- und Sprechproblemen einhergehend
mit einer Hörstörung zunächst geprüft werden muss, ob
diese ausschließlich durch die Hörstörung bedingt sind,
C. M. Freitag et al., Sprech- und Sprachstörungen nach ICD-11
•
•
dann wäre ein SSSS (6E60.0) als Diagnose zu vergeben.
Falls nach erfolgreicher und abgeschlossener Therapie
der zugrunde liegenden Erkrankung (wie z. B. Mittelohrerguss) weiterhin Sprach- oder Sprechprobleme vorhanden sind, kann nach erfolgreicher Behandlung der
Hörstörung die Diagnose einer Unterkategorie der Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache
(6A01) erfolgen.
Analog ist in beiden Klassifikationssystemen erlaubt,
weitere psychiatrische Diagnosen mit Ausnahme einer
Autismus-Spektrum-Störung oder eines selektiven Mutismus zusätzlich zu der Diagnose einer Sprech- oder
Sprachstörung zu vergeben.
Über ICD-10 hinaus ist die soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung analog zu DSM-5 neu in die ICD-11
aufgenommen worden. Sie ist charakterisiert durch eine
primäre Einschränkung der Pragmatik, d. h. einer dauerhaften und deutlichen Einschränkung, Sprache im sozialen Kontext zu verstehen und zu benutzen (z. B. Anpassung der Sprache an implizite Gesprächsregeln, Erkennen
und Korrigieren von Missverständnissen, Umgang mit
sprachlichen Zweideutigkeiten und nichtwörtlichen Ausdrücken). Die Entwicklungs-, Diskrepanz- und weiteren
Ausschlusskriterien, auch hinsichtlich Autismus-Spektrum-Störung und selektivem Mutismus, entsprechen den
anderen Sprachentwicklungsstörungen.
Hinsichtlich des Detailvergleichs der diagnostischen Kriterien der Sprechstörungen in ICD-11 und ICD-10 ergeben
sich ergänzend folgende Unterschiede:
• Vergleichbar zu den Sprachstörungen wird das AltersDiskrepanzkriterium in der ICD-11 für die Artikulations- und die Redeflussstörung zwar gefordert, aber
nicht spezifiziert (ICD-10: 2 SD).
• Nur für die Artikulationsstörung wird auch ein Diskrepanzkriterium zum nonverbalen IQ erwähnt (ICD-10: 1
SD, ICD-11: nicht spezifiziert).
• In der ICD-11 ist eine Intelligenzminderung (IQ < 70) im
Gegensatz zur ICD-10 kein Ausschlusskriterium mehr
für eine Artikulationsstörung; hinsichtlich des Stotterns
und Polterns war dieses Ausschlusskriterium auch in
der ICD-10 nicht gegeben.
• Hinsichtlich der entwicklungsbedingten Artikulationsstörung wird in der ICD-11 spezifisch die Dysarthrie
(MA80.2) abgegrenzt, die jedoch derzeit noch nicht genau definiert ist. In der ICD-10 erfolgte eine Abgrenzung der Artikulationsstörung von einer Apraxie.
Allgemeine Kriterien für Sprech- oder Sprachstörungen,
dass diese früh in der Entwicklung auftreten und über längere Zeit persistieren sowie zu deutlichen Einschränkungen in der Kommunikation und Verständlichkeit führen
müssen, sind in beiden ICD-Versionen vergleichbar; eben-
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so das Kriterium, dass die Sprech- oder Sprachstörung
nicht durch soziale, kulturelle oder andere Umweltvariablen (wie z. B. regionaler Dialekt) sowie eine neurologische
Erkrankung oder eine Hörstörung (s. o.) erklärt werden
kann.
Kritische Bewertung
Aus dem oben Dargestellten ergibt sich, dass die ICD-11
hinsichtlich der Klassifikation in einer Kontinuität mit
ICD-10 und DSM-5 steht. Einige vorgenommene Änderungen sind hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes zu Sprach- und Sprechstörungen sowie hinsichtlich
des klinischen Gebrauchs weiterführend, wie z. B. die
Differenzierung in die (primäre) ESS oder das SSSS bei
neurologischer, sensorischer oder anderer somatischer
Grunderkrankung sowie die Trennung von Sprach- und
Sprechstörungen. In Bezug auf letztere Differenzierung
wäre es allerdings logisch gewesen, neben der Kategorie
Sprachstörung (mit Spezifizierungen) eine Kategorie
Sprechstörung mit den beiden Spezifizierungen (= Unterkategorien) der Artikulations- und der Redeflussstörung
vorzunehmen.
Erfreulich ist, dass Sprach- und Sprechstörungen sich
nicht mehr gegenseitig ausschließen, sondern als komorbide Erkrankungen diagnostiziert werden können; ebenso sind auch die meisten psychischen Störungen als komorbide Diagnosen erlaubt. Die – analog zur ICD-10 – als
Ausschlussdiagnosen einer Sprachstörung aufgeführten
Diagnosen Autismus-Spektrum-Störung und selektiver
Mutismus sind allerdings aufgrund des aktuellen Forschungsstandes nicht nachvollziehbar. Es gibt eine Subgruppe von Kindern und Jugendlichen mit diesen Störungsbildern, die eine über die Diagnosekriterien von
Autismus-Spektrum-Störung oder selektivem Mutismus
hinausgehende zusätzliche Sprachstörung oder eben
auch keine Sprachstörung aufweisen. In der CCC-R, einer Skala, die pragmatische und grammatische Sprachprobleme erfasst, zeigte sich z. B. kein Unterschied in der
Ausprägung sowie der Varianz der grammatischen
Sprachprobleme (die einer expressiven Sprachstörung
entsprechen) zwischen Kindern und Jugendlichen mit
Autismus-Spektrum-Störung oder solchen mit anderen
psychischen Störungen. Hinsichtlich der pragmatischen
Fertigkeiten zeigten sich hingegen deutlich stärkere Einschränkungen bei Autismus-Spektrum-Störung als bei
Kindern und Jugendlichen mit anderen psychischen Störungen (Wellnitz et al., 2021). Daher erscheint es gerechtfertigt, die Diagnosen 6A01.20 (Sprachentwicklungsstörung mit rezeptiver und expressiver Beeinträchtigung)
und 6A01.21 (Sprachentwicklungsstörung mit vorwie-
473
gend expressiver Beeinträchtigung) entgegen ICD-10
und ICD-11 bei Autismus-Spektrum-Störung als komorbide Erkrankungen zu erlauben, die Diagnose 6A01.22
(Soziale [pragmatische] Kommunikationsstörung) jedoch als Differenzialdiagnose zur Autismus-SpektrumStörung abzugrenzen. Ebenso gibt es auch bei Kindern
mit selektivem Mutismus eine Gruppe, die zusätzliche
Sprachstörungen aufweist, die nicht alleine durch den selektiven Mutismus bzw. der selektive Mutismus nicht
ausschließlich durch die Sprachstörung erklärbar ist (Cohan et al., 2008). Es wäre deshalb zu empfehlen, sowohl
eine Autismus-Spektrum-Störung als auch einen selektiven Mutismus als Komorbidität zumindest von 6A01.20
und 6A01.21 zu erlauben. Die diagnostische Validität
der≈sozialen (pragmatischen) Kommunikationsstörung
(Norbury, 2014) sowie die Abgrenzung zur AutismusSpektrum-Störung (Freitag, 2020) ist aktuell weiterhin
Gegenstand der Forschung; hier können noch keine weiterführenden Aussagen getroffen werden.
Sehr begrüßenswert ist die Klassifikation der Redeflussstörungen unter die Sprechstörungen in der ICD-11 und
nicht mehr bei „Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“. Dies entspricht der Erkenntnis, dass Sprechstörungen Entwicklungsstörungen und nicht primär emotionale oder
Verhaltensstörungen sind, auch wenn Letztere als komorbide Diagnosen vorkommen können.
Eine weitere erfreuliche Neuerung in der ICD-11 ist die
differenzialdiagnostische Differenzierungs- und Abgrenzungsmöglichkeit von 6A01 ESS und 6E60.0 SSSS. Dies
bedeutet, dass alle mit einer neurologischen, motorischen und Hörstörungen ausschließlich einhergehenden
Sprach- und Sprechprobleme nicht mehr als 6A01 ESS
klassifiziert werden dürfen, sondern die Diagnose einer
6E60.0 SSSS oder ggf. auch einer anderen spezifischen
neurologischen, motorischen, sensorischen oder somatischen Erkrankung direkt zu geordnet werden müssen.
Diese Differenzierung ist insbesondere hinsichtlich der
notwendigen interdisziplinären diagnostischen Kompetenz sowie der Behandlung der organischen Grunderkrankung wichtig und sinnvoll. Allerdings wird es in der
Praxis teilweise schwierig werden, zu entscheiden, ob
eine 6A01 ESS oder eine 6E60.0 SSSS vorliegt. Als Beispiel seien hier genetische Diagnosen genannt. Sehr viele
Sprach- und Sprechstörungen sind durch genetische Risikofaktoren entweder direkt verursacht oder zumindest in
ihrer Ausprägung beeinflusst (Hildebrand et al., 2020;
Verhoef, Shapland, Fisher, Dale & St Pourcain, 2021). Bei
fortschreitender Forschung werden weitere genetische
Erkrankungen beschrieben werden, die mit Sprach- und
Sprechproblemen einhergehen. Ein anderes Beispiel
wäre das Vorliegen eines Paukenergusses, der zu einer
Hörstörung geführt hat. Solange die Hörstörung anhand
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2021), 49 (6), 468–479
Hogrefe OpenMind article under the license
CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0)
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C. M. Freitag et al., Sprech- und Sprachstörungen nach ICD-11
eines Hörtests noch nachweisbar ist und gleichzeitig eine
Sprech- oder Sprachstörung vorliegt, sollte hier eine
6E60.0 SSSS diagnostiziert werden. Wenn nach Sanierung des Paukenergusses und unauffälligem Hörtest weiterhin eine Sprech- oder Sprachstörung vorliegt, so ist
von einer 6A01 ESS auszugehen und die Diagnose wäre
entsprechend zu ändern und zu spezifizieren.
Um diese teilweise schwierige Differenzierung gut und
transparent beschreiben zu können, wird im nächsten Abschnitt (Klinischer Ausblick) ein Vorschlag gemacht, wie
die Klassifikation von in der frühen kindlichen Entwicklung vorliegenden Sprach- und Sprechproblemen entsprechend des Multiaxialen Klassifikationsschemas vorgenommen werden kann, um diese Klassifikationsschwierigkeiten
zu lösen.
Die wesentlichen Einschränkungen der ICD-11 sind in
der nicht ausreichenden, weder linguistisch noch entwicklungspsychologisch basierten Subdifferenzierung
der 6A01 ESS zu finden. Allerdings können diese Spezifika in die ICD-11-Klassifikation sehr gut integriert werden
(ein Vorschlag findet sich anbei in den Tabellen 3 und 4).
Da im englischen Sprachraum aktuell der Versuch unternommen wird, eine Konsensus-Klassifikation von
Sprachproblemen im Kindesalter insbesondere vonseiten
unterschiedlicher Sprachtherapeut_innen zu etablieren,
die auch im deutschsprachigen Raum (Kauschke & Vogt,
2019) sowie hinsichtlich der Überarbeitung der AWMFS2k-Leitlinie 049-006 diskutiert wird, soll dieser „CATALISE-2“-Vorschlag hier auch erwähnt und in Relation
zur ICD-11 gesetzt und bewertet werden. In dem der CATALISE-2-Klassifikation zugrunde liegenden DELPHIProzess war zunächst das Ziel, Kriterien zu entwickeln,
die es erleichtern können, Kinder zu identifizieren, die
von Sprach- und Sprechtherapie profitieren können. In
der ersten Publikation (Bishop, Snowling, Thompson &
Greenhalgh, 2016) wird explizit darauf hingewiesen,
dass ICD-10- und DSM-5-Kriterien von vielen Sprachtherapeut_innen nicht beachtet oder als unzureichend eingeschätzt werden. Im zweiten Artikel (Bishop, Snowling,
Thompson & Greenhalgh, 2017) wird eine neue Terminologie für die Klassifikation (CATALISE-2) vorgeschlagen
(siehe Tabelle 2). Bei Kindern mit Sprachentwicklungsproblemen soll – nach Ausschluss von sprachlichen Problemen im Rahmen des Zweitspracherwerbs bei unauffälliger muttersprachlicher Entwicklung – demnach nur die
Unterscheidung getroffen werden, ob eine Sprachentwicklungsstörung mit einer somatischen einschließlich
genetischen Grunderkrankung, Autismus-Spektrum-Störung oder Intelligenzminderung einhergeht oder nicht.
Das Diskrepanzkriterium zum nonverbalen IQ , das in
der ICD-11 gefordert wird, wird explizit in dieser Klassifikation abgelehnt. Artikulations- und Redeflussstörungen
werden als mögliche komorbide Störungen der Sprachentwicklungsstörung (ohne somatische Ursache) erwähnt. Ebenso dürfen andere psychische Störungen, wie
die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung
(ADHS), emotionale Störungen oder auch Dyslexie als
komorbide Störungen einer genuinen Sprachentwicklungsstörung klassifiziert werden. Hinsichtlich spezifischer Subgruppen innerhalb der Sprachentwicklungsstörung konnte die Gruppe keinen Konsens erreichen. Es
wird allerdings darauf hingewiesen, dass es Kinder gibt,
die unterschiedliche sprachliche Einschränkungen in den
folgenden Bereichen aufweisen können: Phonologie,
Tabelle 3. Aufeinander aufbauende Sprachkomponenten im Rahmen der Sprachentwicklung
Sprachkomponente
Aspekte
Vorläuferfähigkeiten
Phonetik
Artikulation
Auditorische Perzeption und Aufmerksamkeit, orale
Motorik, Imitation
Phonologie
Lautwahrnehmung, Lautproduktion, Prosodie, phonologische Prozesse
Auditorische Perzeption und Aufmerksamkeit, orale
Motorik, Imitation
Lexikon (lexikalische
Semantik)
Lexikalische Erwerbsmechanismen, aktiver und passiver Wortschatz, Komposition des Lexikons
Phonologie, Konzeptbildung
Morpho-Syntax
Satzbau, Flexion der Verben, Kasus und Singular/Plural
bei Nomen
Phonologie, Konzeptbildung, Lexikon
Satzsemantik
Verständnis von w-Fragen, Mengenausdrücken (jeder,
alle), Pronomen, Negation
Phonologie, Morpho-Syntax, Gedächtnis, Wissensrepräsentation, Kategorisierung, Konzeptbildung, Lernund Denkprozesse, soziale Interaktion
Pragmatik
Sprachhandlungen, Ironie, Argumentationsausdrücke
Syntax, Lexikon, Satzsemantik, nonverbale
Kommunikation, soziale Perzeption, soziale Motivation
und soziale Kognition
(Schulz & Grimm, 2012; Teufel, Wilker, Valerian & Freitag, 2017)
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Tabelle 4. Therapieorientierter Klassifikationsvorschlag nach ICD-11 und dem Multiaxialen Klassifikationsschema
Multiaxiale Klassifikation
(Remschmidt et al., 2017)
ICD-11
Linguistische Feindifferenzierung
Achse I: Psychische Störung
Gesamtes Kapitel 06 (außer 6A00, 6A01, 6A03, 6A04)
möglich: alle komorbiden psychischen Störungen erlaubt
Achse II: Teilleistungsstörung (ICD-11: 6A01, 6A03,
6A04)
Sprechen
– 6A01.0: Entwicklungsbedingte Artikulationsstörung
– 6A01.1: Entwicklungsbedingte Redeflussstörung
Sprache
– 6A01.20: Sprachentwicklungsstörung mit rezeptiver
und expressiver Beeinträchtigung
– 6A01.21: Sprachentwicklungsstörung mit vorwiegend
expressiver Beeinträchtigung
– 6A01.22: Soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung
Achse III: Kognitive Fertigkeiten (ICD-11: 6A00)
Nonverbaler IQ 1 bis 1.5 SD über standardisiert erfassten sprachlichen Fertigkeiten
Achse IV: Somatische
Störung
Internistisch-neurologische Erkrankung kann kodiert
werden, darf aber Symptomatik der Entwicklungsstörung der Sprache und des Sprechens nicht ausschließlich verursachen.
Genetische Befunde, die Sprech- und Sprachstörung
erklären, können hier ebenfalls aufgeführt werden.
Achse V: Psychosoziale
Umstände
Können kodiert werden, dürfen aber Symptomatik der
Entwicklungsstörung der Sprache und des Sprechens
nicht ausschließlich begründen
Achse VI: Globales
Funktionsniveau
Integrierte Betrachtung über Achse I bis Achse V hinweg
Syntax, Wortfindung und Semantik, Pragmatik, verbales
Lernen und Gedächtnis.
Es ist aus der Darstellung deutlich geworden, dass die
CATALISE-2-Klassifikation nicht dem aktuellen Forschungsstand entspricht. Sowohl die entwicklungspsychologische und linguistische Forschung zur Sprachentwicklung als auch die somatische (Pädaudiologie/HNO,
Neurologie) und kinderpsychiatrische Forschung können
zahlreiche neue Erkenntnisse beitragen, die in der CATALISE-2-Klassifikation nicht aufgenommen wurden, da
diese Expertise in dem „Expertenpannel“ nicht vertreten
war. Die Differenzierung zwischen Sprachentwicklungsstörung ohne bisher definierte Ursache und Sprachentwicklungsstörung, die mit anderen Erkrankungen assoziiert ist, ist sehr unspezifisch und führt weder hinsichtlich
der notwendigen Interventionsplanung noch hinsichtlich
der Forschung weiter. Wie oben schon diskutiert, ist davon auszugehen, dass Sprach- und Sprechstörungen zumindest in Ländern mit einem öffentlichen Gesundheitssystem, guter Schwangerschaftsvorsorge und guter
– Artikulationsstörung; ggf. Spezifizierung der nicht
korrekt ausgesprochenen Konsonanten
– Redeflussstörung; ggf. Spezifizierung von pathologischer Atemtechnik und Einschränkungen der
Sprachmotorik und Koordination
– Einschränkung der phonologischen Komponente
– Einschränkungen der morphologisch-syntaktischen Ebene
– Einschränkung der lexikalisch-semantischen
Komponente
– Einschränkungen der satzsemantischen Ebene
– Einschränkungen der pragmatischen Ebene
perinataler Versorgung überwiegend genetisch bedingte
Ursachen haben, einerseits im Sinne einer Vulnerabilität
bei polygenetischem Risiko, andererseits im Sinne einer
direkten Kausalität bei hoch penetranten monogenen Erkrankungen oder Mikrodeletions- oder -duplikationssyndromen (Barnett & van Bon, 2015; Hildebrand et al.,
2020). Hier kann es selbstverständlich im Sinne der gut
belegten Pleiotropie zahlreicher genetischer Risikofaktoren Überlappungen mit Risikogenen für Autismus-Spektrum-Störung, ADHS, Epilepsie, Dyslexie oder Intelligenzminderung geben. Zudem finden sich, wie in der
ICD-11 gut durch die Diagnose 6E60.0 SSSS abgebildet,
Sprach- und Sprechprobleme bei den unterschiedlichsten
Formen von Erkrankungen, die mit Höreinschränkungen
einhergehen, bei neurologischen (einschließlich motorischen) Erkrankungen. Auch das Fehlen des Diskrepanzkriteriums hinsichtlich normaler Alters- und Sprachentwicklungsvariabilität ist ein weiteres deutliches
Zeichen einer fehlenden diagnostischen Validität der
CATALISE-2-Klassifikation.
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Allen derzeit verfügbaren Klassifikationen ist zudem gemeinsam, dass zentrale Befunde der jüngsten internationalen Spracherwerbsforschung bislang nicht hinreichend
Eingang in die Zuordnung zu den jeweiligen Untergruppen
gefunden haben. Hier sei insbesondere auf die folgenden
drei Aspekte hingewiesen, die wichtige Folgen für die Erkennung von Sprachstörungen, die Diagnosestellung sowie
für die zu verordnende Therapie haben: Störungen auf der
Ebene der Satzsemantik, selektive Störungen einzelner
sprachlicher Ebenen und der frühe Zweitspracherwerb.
Satzsemantik
Zwar werden semantische Störungen als Kriterium einer
ESS in zahlreichen Klassifikationen genannt, jedoch sind
hiermit typischerweise Probleme auf lexikalischer Ebene, also hinsichtlich des Wortschatzes, gemeint (Kauschke & Vogt, 2019). Lexikalisch-semantische Störungen
äußern sich in der Produktion durch einen geringeren
Wortschatzumfang oder durch schwächere Leistungen
im Wortabruf; zudem finden sich u. a. Belege für Verstehensprobleme mit bestimmten Verben. Probleme mit der
Bedeutung von Sätzen, also der Satzsemantik, äußern
sich u. a. durch ein inkorrektes Verständnis von bestimmten W-Fragen sowie Sätzen mit Mengenausdrücken und
mit Pronomen (Schulz & Grimm, 2012). Defizite auf der
Ebene der Satzsemantik äußern sich in erster Linie rezeptiv und sind daher ohne systematische Tests schwer erkennbar; sie haben jedoch erhebliche Auswirkungen auf
das Sprachverständnis der Kinder, in Gesprächen und
beim Lesen von Texten.
Selektive Störungen
Das heterogene Störungsbild der Sprachstörungen folgt
nicht nur daraus, dass die Störung prinzipiell alle Bereiche
des Sprachsystems betreffen kann, sondern auch daraus,
dass Teilbereiche jeweils selektiv gestört sein können. So
sind manche Kinder von einer ESS selektiv im Bereich der
Syntax betroffen, andere im Bereich der Phonologie oder
der Pragmatik. Die bestehenden Klassifikationen bilden
diese Möglichkeit einer selektiven Störung – mit Ausnahme der pragmatischen Störung – nicht ab, sodass die Gefahr besteht, dass Kinder, die in ihrer Sprachproduktion
weder phonologisch noch grammatisch, also morpho-syntaktisch, auffällig sind, nicht weiter untersucht werden.
Aus diesem Grund wird als Zusatzspezifizierung einer
ICD-11-Diagnose in Tabelle 4 vorgeschlagen, jeweils die
sprachlichen Bereiche, die eingeschränkt sind und deshalb
besonders gefördert werden müssen, bei einer Diagnosestellung aufzuführen.
C. M. Freitag et al., Sprech- und Sprachstörungen nach ICD-11
Mehrsprachigkeit und Sprachstörung
Mehrsprachige Kinder sind ebenso häufig wie einsprachige Kinder von einer ESS betroffen. Die Aufgabe, Kinder
mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) mit einer ESS von typischen Zweitsprachlerner_innen zu unterscheiden, ist jedoch wegen der Heterogenität innerhalb der Gruppe der
Mehrsprachigen aufgrund von Unterschieden hinsichtlich
der Erwerbsbiografie wesentlich komplexer als für einsprachige Kinder. In Anbetracht des kürzeren Kontakts
mit dem Deutschen und des höheren Alters bei Spracherwerbsbeginn lassen sich die Sprachfähigkeiten von Kindern mit DaZ nicht einfach mit denen monolingualer
Gleichaltriger vergleichen. Bewertet man ein- und mehrsprachige Kinder nach denselben Maßstäben, schneiden
frühe Zweitsprachlerner_innen in der Regel unterdurchschnittlich ab, weil sie die Zweitsprache Deutsch zeitlich
versetzt zur Erstsprache erwerben, obwohl sie sich gemessen an ihrer (naturgemäß kürzeren) Kontaktdauer zur
deutschen Sprache durchaus adäquat entwickelt haben.
Gleichzeitig zeigen viele internationale Befunde, dass sich
anhand der Äußerungen mehrsprachiger Kinder nicht
zweifelsfrei entscheiden lässt, ob sie eine ESS aufweisen
oder nicht (Grimm & Schulz, 2014). Daher ist einerseits
das Ausschlusskriterium der ICD-11 hinsichtlich Zweisprachigkeit etc. (Tabelle 1) zu vage; andererseits spiegelt
der in der deutschsprachigen Diskussion von CATALISE-2
vorgeschlagene Begriff „Umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten“ (Kauschke & Vogt, 2019) das Dilemma wider,
diesen Kindern Unterstützungsbedarf in den Bereichen
Sprache und Kommunikation zuzugestehen, ohne den
Zweitspracherwerb zu pathologisieren. Will man an der
Trennung von Sprachtherapie (die sich an Kinder mit ESS
etc. wendet, von ärztlichem Fachpersonal verordnet und
von Sprachtherapeut_innen etc. durchgeführt wird) und
Sprachförderung (für sich sprachlich typisch entwickelnde
Kinder, initiiert durch Kita oder Schule und durchgeführt
von pädagogischen Fachkräften) festhalten, ist die Berücksichtigung der DaZ-Kinder mit Förderbedarf als
„KUSK“ (Kinder mit Unterstützungsbedarf in den Bereichen Sprache/Kommunikation) in CATALISE-2 kritisch zu
sehen. Da die Erforschung des gestörten kindlichen Zweitspracherwerbs unter Migrationsbedingungen erst in den
letzten rund 10 Jahren intensiviert wurde (siehe www.bisli.org), überrascht der Mangel an geeigneten diagnostischen Verfahren nicht. In der Spracherwerbsforschung
wird argumentiert, dass nur separate DaZ-Normen es erlauben, zuverlässig festzustellen, ob ein DaZ-Kind aufgrund einer ESS eine Therapie benötigt oder ob lediglich
Förderbedarf in der Zweitsprache besteht, der aus der kürzeren Erwerbszeit resultiert, mit der Erwartung, dass die
Kinder rasch Fortschritte machen (Schulz, 2013; Schulz &
Tracy, 2011; Voet Cornelli, Schulz & Tracy, 2013).
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Klinischer Ausblick
Wie ist nun vorzugehen, wenn bei einem Kind der Verdacht auf eine Sprech- oder Sprachstörung vorliegt?
Zunächst muss der Entwicklungsstand der Sprache und
des Sprechens möglichst objektiv beschrieben werden.
Hinsichtlich der Sprachentwicklung gibt es deutschsprachige, normierte Tests für das Kleinkind- und Vorschulalter, wie z. B. den umfassenden Entwicklungstest Bayley-III
(Reuner & Rosenkranz, 2014) oder die Sprachentwicklungstests SETK2 und SETK3-5 (Grimm, 2015, 2016). Wie
oben ausgeführt, sind diese an einsprachigen Kindern normierten Tests für mehrsprachige Kinder jedoch wenig geeignet, da die passende Vergleichsnorm fehlt. Der Sprachtest LiSe-DaZ (Schulz & Tracy, 2011) verfügt über separate
Nomen für einsprachige Kinder und für DaZ-Kinder, ist
allerdings für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung
aufgrund der für die Testung notwendigen nonverbalen
Kommunikations- und symbolischen Fertigkeiten nur bedingt geeignet. Parallel dazu muss das nonverbale Entwicklungsalter anhand entsprechender Entwicklungsoder Intelligenztests bestimmt werden. Darauf basierend
kann die Diskrepanz zwischen Sprachentwicklung und Alter bzw. nonverbaler kognitiver Entwicklung bestimmt
werden. Zur Diagnostik von Sprechstörungen liegt aktuell
leider kein entsprechend normiertes Untersuchungsinstrument vor. Hinsichtlich des Diskrepanzkriteriums bietet
sich an, unabhängig von der nonverbalen Intelligenz dieselben Kriterien zu verwenden, wie sie in den AWMF-S3Leitlinien 028-044 Diagnostik und Behandlung bei der
Lese- und/oder Rechtschreibstörung oder 028-046 Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung vorgeschlagen
werden (je nach klinischer Konstellation 1 oder 1.5 SD; siehe AWMF.org).
Zudem muss parallel (oder bei entsprechenden wegweisenden Symptomen auch als erster Schritt) eine gründliche
internistisch-neurologische sowie pädaudiologische Untersuchung erfolgen, um eine behandelbare somatische Erkrankung auszuschließen. Sollten Dysmorphiezeichen,
eine Intelligenzminderung, Hörstörungen und andere hinsichtlich einer genetischen Grunderkrankung wegweisende Symptome vorliegen, sollte auch eine humangenetische
Abklärung erfolgen. International wird sogar – analog zum
Vorgehen bei Autismus-Spektrum-Störung oder Intelligenzminderung – generell eine humangenetische Abklärung empfohlen, wenn eine ESS vorliegt (Barnett & van
Bon, 2015). Wenn eine somatische Erkrankung vorliegt,
die zu behandlungsbedürftigen Sprach- oder Sprechauffälligkeiten geführt hat, muss ein SSSS (6E60.0) und darf keine ESS (6A01) diagnostiziert werden.
Hinsichtlich der nur in Deutschland von Pädaudiolog_
innen verwendeten Diagnose „Auditive Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörung“ (Nickisch et al., 2000) ist zu
477
betonen, dass diese keine somatische, neurologische, motorische oder sensorische Erkrankung im Sinne der ICD-11
darstellt, da die Phonologie ein genuiner Teil des Sprachsystems ist (siehe Tabelle 3). Somit muss eine Einschränkung der Phonologie, die auf einer entsprechenden neuronalen Verarbeitungsstörung beruht, als genuiner Teil der
Diagnose 6A01.20: Sprachentwicklungsstörung mit rezeptiver und expressiver Beeinträchtigung interpretiert
und entsprechend klassifiziert werden. In Tabelle 4 wird
vorgeschlagen, dass hinsichtlich der linguistisch nicht ausreichend definierten ICD-11-Diagnosen 6A01.20 und
6A01.21 zusätzlich eine linguistische Feindifferenzierung
vorgenommen werden kann, um hier für die Therapie wesentlichen Aspekte mit zu erfassen.
Des Weiteren sollten in jedem Fall orientierend mögliche komorbide psychische Störungen abgeklärt werden,
da bei Kindern mit Sprach- und Sprechstörungen gehäuft
zahlreiche psychische Störungen als komorbide Erkrankungen vorkommen, die ebenfalls so früh wie möglich
therapiert werden sollten, um eine Chronifizierung zu
vermeiden.
Gemäß der Multiaxialen Klassifikation psychischer Störungen (MAS; Remschmidt et al., 2017) können psychische und somatische Erkrankungen parallel zu Teilleistungsstörungen diagnostiziert werden, wenn diese nicht
die Sprach- und Sprechprobleme des Kindes ausreichend
erklären. In Tabelle 4 ist dazu ein entsprechender Vorschlag zu finden. Die ICD-11 selbst kennt den Begriff einer
„Teilleistungsstörung“ nicht, nennt aber das doppelte Diskrepanzkriterium zu Alter und nonverbalem IQ bei den
Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache
(6A01), bei den Lernentwicklungsstörungen („developmental learning disorder“, 6A03), die im Wesentlichen
spezifische Störungen des Lesens, Schreibens und Rechnens abbilden, und der motorischen Koordinationsstörung („developmental motor coordination disorder“,
6A04). Insofern sind bei diesen Diagnosen implizit die
Kriterien einer Teilleistungsstörung gegeben.
Über die ICD-11 hinausgehend schlagen wir – wie oben
begründet – vor, auf der ersten Achse des MAS auch die
Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung oder eines
selektiven Mutismus zu erlauben, wenn diese Diagnosen
die sprachlichen Auffälligkeiten des Kindes nicht vollständig erklären, da dies wesentliche Implikationen für eine
effektive Therapie der Sprach- oder Sprechstörung des
Kindes nach sich zieht. Ebenso sollte die 6A01 (Entwicklungsstörung) klassifiziert werden können, auch wenn ein
genetischer Befund diese erklären kann. Die Diagnose
6E60.0 (Sekundäres Sprach- oder Sprechsyndrom) sollte
immer dann bei genetischen Grunderkrankungen diagnostiziert werden, wenn diese primär zu Hör- oder neurologischen Störungen führen, die ihrerseits die Sprachprobleme des Kindes verursachen. Dies entspricht dem Stand
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der humangenetischen Forschung, die gezeigt hat, dass
die meisten Sprachentwicklungsstörungen sowie die Redeflussstörung überwiegend eine genetische Ätiologie
aufweisen.
Die Möglichkeit, statt einer ESS ein SSSS zu diagnostizieren, erlaubt es, sprachliche Förderung bei entsprechender Notwendigkeit auch Kindern zukommen zu lassen, die
nicht die Diagnosekriterien einer ESS erfüllen.
Forschungsausblick
Aus der obigen Darstellung ist unmittelbar zu entnehmen,
dass es für eine effektive Forschung hinsichtlich Sprachund Sprechstörungen zunächst einer breit abgestimmten
Klassifikation bedarf, die über alle Disziplinen zum einen
akzeptiert und zum anderen angewendet werden sollte.
Die Forschung zu Sprach- und Sprechstörungen ist aufgrund der Komplexität der menschlichen Sprache immer
interdisziplinär und muss sowohl die Entwicklungspsychologie, die Linguistik, die Logopädie, die Humangenetik, die Pädaudiologie als auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie umfassen, um einerseits die
umfassende Diagnostik einschließlich möglicher komorbider psychischer Störungen im notwendigen Maße sicherzustellen und andrerseits um neue Therapien zu entwickeln. Zusammenfassend schreibt die ICD-11 die
Diagnosen und diagnostischen Kriterien von Sprech- oder
Sprachstörungen aus der ICD-10 und dem DSM5 in weiten Teilen fort. Neu ist – analog zum DSM-5 – die Aufnahme der Diagnose 6A01.22: Soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung, deren diagnostische Validität in
Zukunft und Abgrenzung zur Autismus-Spektrum-Störung
noch besser aufgeklärt werden muss (Freitag, 2020). Die
(Weiter-)Entwicklung von geeigneten diagnostischen Instrumenten insbesondere hinsichtlich der Aspekte der linguistischen Feindifferenzierung sowie die Entwicklung
von normierten Instrumenten für Kinder jenseits des Vorschulalters und für Kinder mit DaZ ist ebenfalls essenziell,
um Sprech- und Sprachstörungen korrekt diagnostizieren
zu können.
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Historie
Manuskript eingereicht: 18.03.2021
Nach Revision angenommen: 10.06.2021
Onlineveröffentlichung: 16.07.2021
479
Förderung
Open-Access-Veröffentlichung ermöglicht durch die GoetheUniversität Frankfurt am Main.
Prof. Dr. Christine M. Freitag
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters, Autismus-Therapie- und
Forschungszentrum
Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe-Universität
Deutschordenstr. 50
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Interessenkonflikt
Es bestehen keine Interessenskonflikte.
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2021), 49 (6), 468–479
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