155
2021
4 192310 616005 0 0 1 5 5
Mathieu Kleyebe
Abonnenc
Silvia Franceschini
Photo Archive
Pierre Bourdieu
Ines Schaber
Jean-Paul Kelly
Jacob Korczynski
A / D / LUX
16, – €
CH
18, – sFr
Ausstellungen / Exhibitions
Investigative Commons
dien in 3-D-Modelle ein. Sie verwendet ein In- An einer der jüngsten Investigationen, Pegasus
strumentarium architektonischer Methoden und (2021), ist auch Laura Poitras beteiligt. Sie bil(bild-)forensischer Technologien, um mit kom- det die Schnittstelle zur Einzelausstellung CirHKW – Haus der Kulturen der Welt, Berlin,
9. 6. – 8. 8. 2021
binatorisch angelegten Auswertungsverfahren cles in der n.b.k: Dort wird Poitras’ Arbeit Terfotografischer und filmischer Bilder militärische ror Contagion (2021) präsentiert, die jüngst
oder polizeiliche Einsätze minutiös zu (re-)kon- öffentlich gemachte Ermittlungen zum israeliLaura Poitras: Circles
struieren. Das folgt einem Verständnis der Com- schen Cyberwaffenhersteller NSO Group domons als gemeinschaftlicher Organisation für kumentiert. Dessen Malware Pegasus wurde ofn.b.k. – Neuer Berliner Kunstverein, Berlin,
die Nutzung von Gemeingütern und Ressourcen. fensichtlich genutzt, um Journalist*innen und
18. 6. – 8. 8. 2021
Wirkungsvoll zeigt diese Ästhetisierung von Re- Menschenrechtsaktivist*innen weltweit auszuvon Mira Anneli Naß
cherchen, wie zivilgesellschaftliche Bild- und spionieren. In 25 Minuten sehen wir Mitschnitte
Technologieaneignung sowie Vermittlung heute von Zoom-Meetings, Interviews mit BetroffeSymptomatisch für das Feld zeitgenössischer aussehen können: Die Cases sollen dazu dienen, nen und Hintergrundinformationen. Im als Black
politischer Kunst sind formalästhetische, in- sich gegen eine als verschleiernd denunzierte Box gestalteten Raum wird auch Profiting from
haltliche und personelle Überschneidungen staatliche und unternehmerische Informations- Surveillance (2021) gezeigt, eine »Untersuzwischen Kunst, Aktivismus, Journalismus und politik zu wenden und Verantwortlichkeiten vor chung« FAs zur Struktur des TechnologieunterRecht. Auffällige Wechselwirkungen machen es Gericht einzufordern.
nehmens. Durch die rasche Aneinanderreihung
zunehmend schwieriger und auch fragwürdiger,
zwischen ihren Diskursen und Recherchepraktiken zu differenzieren. Diese Ununterscheidbarkeit ist einem Trend hin zur investigativen Ästhetik geschuldet. Mit ihr soll der Bildinhalt durch
die Bildform zum Ausdruck gelangen. Zwei Ausstellungen führen eindrucksvoll vor, was eine interdisziplinäre Arbeit an soziopolitischen Themenfeldern mit ästhetischen Mitteln leisten
kann, verdeutlichen aber auch die Grenzen und
Problematiken solcher Haltungen.
Investigative Commons ist Auftakt eines Zusammenschlusses. Ausstellung und Diskursprogramm im HKW verdeutlichen ein dichtes Netzwerk internationaler Akteur*innen:
das Forschungskollektiv Forensic Architecture
(FA)/ FORENSIS, das European Center for
Constitutional and Human Rights (ECCHR),
das HKW, die Filmemacherin Laura Poitras /
Praxis Film, die NGO Mnemonic sowie das internationale Recherchekollektiv Bellingcat. Die
Künstler*innen, Jurist*innen, Aktivist*innen
Forensic Architecture, Harness, 2021. 3-D-Modell zur Rekonstruktion eines Metallgeschirrs, das zum
und Journalist*innen arbeiten in kollaborativen,
Transport eines Kanisters verwendet wurde, der jenen ähnelt, die zuvor mit Chlorgasangriffen in Syrien
medienbasierten Forschungsprojekten zu Fällen
in Verbindung gebracht wurden.
von Menschenrechtsverletzungen.
Im Foyer erschließt sich eine atmosphärische In der 2018 unter anderem mit dem ECCHR vermeintlicher Fakten und Dokumente zielt das
Rauminstallation. Das Ausstellungsdisplay will veröffentlichten Investigation zum Brand in enorm dichte Informationsvideo weniger auf
die Multiperspektivität des Projekts und seine einer Textilfabrik in Pakistan, durch den 260 Aufklärung denn auf Überwältigung. Listen to
Vielstimmigkeit betonen. In dynamisch erfahr- Arbeiter*innen ums Leben kamen, sieht das so the Hacks: Data Sonification (2021) ist die audiobaren Stationen implementiert die Organisati- aus: Die forensische Untersuchung verdeutlicht visuelle Animation einer von FA entwickelten
onsstruktur Monitore und Audiomaterial, 3-D- mittels Bildmontage und 3-D-Modell, dass un- digitalen Plattform. Anhand von Datenpunkten
Modelle, Schautafeln, auf Tischen ausgelegtes zureichende Brandschutzmaßnahmen zum Un- dokumentierte sie Aktivitäten der NSO Group,
Bildmaterial, Dokumente und Zeitleisten. Die glück führten. Die Erkenntnisse wurden vor dem auf deren Basis Brian Eno ein Audiostück komdiagrammatische Anordnung loser Themenfel- Landgericht Dortmund eingereicht, wo eine ponierte. Trotz dieser formalen Abstraktion erder (Forensis, investigative Ästhetik, das Ge- Klage gegen das von der Textilfabrik belieferte zeugt ihr mystischer Klangteppich ein latent pameingut der Daten, offene Verifizierung, Anti- deutsche Bekleidungskaufhaus KiK verhandelt ranoisches Environment und evoziert eine komEpistemologie, sensorische Umweltforschung) wurde. So wichtig und notwendig solche Fak- merzielle Verschwörungskultur (Spionagefilme,
suggeriert die Verräumlichung eines Hyper- tenchecks sind: In ihrem Anliegen, (juristische) True Crime etc.). Auch deshalb liegt die Stärke
image. Das Display will weniger die Einzelexpo- Evidenzen zu schaffen, greift das Kollektiv eine der Ausstellung in ihrem Anfang: Die Bilddonate als ihren Dialog untereinander hervorheben. binäre Logik von Schuld und Unschuld auf. Sol- kumente der Werkserie Anarchist (2016) stamDas Konzept vernetzter Bilder ist Grundlage der che Individualisierungen gesellschaftlicher Ver- men aus geheimdienstlichen Dateien, geleakt
elf unter der Leitung FAs entstandenen video in- hältnisse lassen staatliche und ökonomische Dis- vom Whistleblower Edward Snowden. Sechs
vestigations. In der Ausstellung fungieren sie positive unhinterfragt. Im Falle der Tragödie in grellbunte Tintenstrahldrucke auf Alu-Dibond
als Knotenpunkte: kriminalistische (Bild-)Re- der Textilfabrik impliziert dies letztlich ein class zeigen Visualisierungen von Datensignalen in
cherchen zur Verstrickung des deutschen Ver- shaming, ohne die Kritik an einem Kapitalver- unterschiedlichen Stadien ihres Entschlüssefassungsschutzes in den Mord an Halit Yozgat hältnis mit Verwertungszwang, Profitlogik oder lungsprozesses. Einem aufklärerischen Gestus
durch den NSU, zu Pushback-Praktiken an den Lohnarbeitssystemen mitzudenken. Zugleich gleich kommen sie aus der schwarzen Wand.
europäischen Außengrenzen, zu unterlassener irritiert die unkritische Adaption eines techno- Die dreiteilige, mit dem Künstler Sean Vegezzi
Hilfeleistung bei in Seenot geratenen geflüchte- kratischen Wissenschafts- und positivistischen konzipierte Videoinstallation Edgelands (seit
ten Menschen auf dem Mittelmeer oder zu inter- Bildverständnisses. Im postulierten Anspruch, 2021) zeigt New Yorker Orte staatlicher Macht:
nationalen Fällen von Polizeigewalt. Die kurzen neue (visuelle) Modelle der Wahrheitsfindung ein futuristisches Gefängnisschiff im East RiErmittlungsvideos folgen einem Muster: Betont und öffentlichkeitswirksame Gegennarrative zu ver; ein inoffizieller Außenposten des NYPD;
nüchtern setzt die Forschungsagentur Überwa- etablieren, wird eine den Bildern vermeintlich eine Massenbegräbnisstätte auf Hart Island, wo
chungs-Footage wie Satelliten- und Drohnen- zugrundeliegende Realität letztlich stärker inaufnahmen sowie Bildmaterial aus sozialen Me- frage gestellt als die Bilder selbst.
65
Straftäter*innen Tote begraben. Die (Drohnen-)
Kamera tastet die festungsartige Außenseite des
Schiffes ab, kreist über der Insel, beobachtet unscheinbare Gebäudekomplexe von Hausdächern
aus. Anstatt ein visuelles Realitätsvokabular zu
affirmieren und damit die herrschende Ordnung
zu reproduzieren, machen Poitras und Vegezzi
Laura Poitras, Sean Vegezzi, Still aus: Edgelands.
VCBC, seit 2021. 4K-Video (Farbe, Ton), 11́.
standardisierte Wahrnehmungsweisen in ihrer
Ambivalenz sichtbar. So stellen sie Mediendramaturgien subtil zur Disposition und ermöglichen Einblicke in das Funktionieren von Blickregimen. Eine Ästhetik des Geheimen in der Rätselhaftigkeit ihres Eigensinns zu zeigen, ohne sie
gleich lösen zu wollen, ist die emanzipatorische
Qualität dieser investigativen Werkserien.
zem Hintergrund erwidern sie deren Blick und
beantworten das unausgesprochene Begehren
nach einer »difference ripe for consumption«
(konsumreife Differenz) mit ihrem Recht, opak
zu bleiben. Das »Wir« und das »Ich«, die sich
in ihrer Entgegnung (nicht) zu erkennen geben,
wenden sich gegen die objektivierende Macht
von Diskursen in der Dritten Person und unterminieren die Autorität faktischer Vereindeutigung in einem Nebeneinander von Stimmen,
Stimmungen und Registern.
Eine Reihe von Arbeiten spielt mit der Metapher vom Kunstfeld als Spielfeld. Die neu für
die Ausstellung entwickelte Installation Playing
Field (2021) etwa, ein bodenfüllender Teppich,
der die Arbeiten im zentralen Ausstellungsraum
auch konzeptuell aufeinander bezieht, suggeriert
mit ihrer intensiven Regenbogenfarbigkeit eine
Programmatik unbedingter Inklusion, während
Kreis- und Seitenlinien diskret, aber nachdrücklich an deren institutionelle Regulierung erinnern. Die Formen von Sehen und Sichtbarkeit,
die inner- und außerhalb dieses Feldes möglich
sind, nimmt die Ausstellung zum Anlass, die
Bedingungen des Sichtbarwerdens zu befragen:
Wie verschiebt sich unsere Wahrnehmung, wenn
wir die Nichtverfügbarkeit von Bildern als Nor-
Mira Anneli Naß ist Kunst- und Fotohistorikerin. Als
wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet sie an der Universität Bremen (DE).
Vika Kirchenbauer: Feelings that Move
Nowhere
Katrin Mundt (Bochum, DE) ist Kuratorin, Autorin
und Übersetzerin und seit 2018 Ko-Leiterin des European Media Art Festival (EMAF) in Osnabrück (DE).
Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 29. 5. – 5. 9. 2021
Stefan Panhans / Andrea Winkler: The
Pow(d)er of I Am Klick Klick Klick Klick
and a very very bad bad musical!
von Katrin Mundt
Vika Kirchenbauers erste institutionelle Einzelausstellung, die einen umfassenden Überblick über filmische und installative Arbeiten
der letzten zehn Jahre gewährt, empfängt uns
mit einem ebenso dezidierten wie hintergründigen »Willkommen«. Stellvertretend ausgesprochen wird es von Ashkan Sepahvand, Gastkurator am Schwulen Museum* in Berlin. Auf
seine Einladung, sich mit den Archivbeständen des Museums künstlerisch auseinanderzusetzen, antwortete Kirchenbauer mit ihrem Video Welcome Address (2017), in dem sie ihrem
Auftraggeber eine Textcollage in den Mund legt,
die nicht nur die Institution Museum und deren
autoethnografische Ambitionen, sondern auch
Sepahvands Identität als Einsatz im Spiel um
Aufmerksamkeit beleuchtet – um schließlich in
den seicht-exotistischen Lyrics von Enyas »Orinoco Flow« auszuklingen. Aus der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Künstlerin, Kurator
und Institution, die hier sichtbar wird, entwickelt
Kirchenbauer die unbequeme und für die gesamte Ausstellung programmatische Frage, wer
hier eigentlich wen ausstellt und um welchen
(auch wortwörtlich gemeinten) Preis.
Lenkt Welcome Address den Blick auf die
Funktionsweise des institutionellen Backstage,
macht die Videoarbeit You Are Boring! (2015)
die Bühne selbst zum Thema: Eine Abfolge lebender Bilder in 3-D rückt jene queeren Körper,
die seit einiger Zeit für den Kitzel des Authentischen in der Erlebnisökonomie des Kunstbetriebs einzustehen haben, in ungewohnte Nähe zu
den Betrachter*innen. Freigestellt vor schwar-
menschlichen Wahrnehmen, Erinnern und Benennen entziehen und findet für sie spekulative
Übersetzungen, die sich zwischen wissenschaftlicher Abstraktion und sinnlichem Selbstversuch bewegen. UV-Aufnahmen rücken Körper
in intime Nähe, ihre Oberflächen aber bleiben
intransparent. Unsichtbare Mikrowellen ermöglichen eine neu gegenderte Semiotics of the Kitchen. Tradierte Rituale beschwören einen kollektiven Körper, der als Bild die Spuren erlebter
Gewalt überschreibt. Schwarzbild erzählt von
der Wirkungsmacht des Unsichtbaren, das in
unserer Erfahrung des Selbst nachlebt.
Konsequent führt The Capacity for Adequate
Anger (2021) diese Auseinandersetzung in Überlegungen zur Lesbarkeit von Gender und Klasse
fort. Die Künstlerin untersucht Bilder, Orte und
Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend auf
Symptome sich wandelnder Selbstentwürfe, erlittener Verletzungen und missglückter Distanzierungen und fragt nach deren Nachwirken in
Gefühlen wie Scham, Neid und Verunsicherung.
Anime-Sequenzen illustrieren stellvertretend
und in stummer Überzeichnung diese feelings
that move nowhere. Bilder vom Ausstellungsaufbau im Kunstverein erzählen von der Verstrickung in jene Ökonomie der Aufmerksamkeit,
die das künstlerische Werk valorisiert, während
sie die Arbeit daran, die oft die Arbeit anderer
ist, ausblendet. Wie ist eine Kritik an Ungleichheiten denkbar, die den eigenen Erfolg erst ermöglichen? Kirchenbauers Arbeiten geben nicht
vor, diese Widersprüche aufzulösen. Vielmehr
eröffnen sie ein Spielfeld, auf dem wir zu Mitwirkenden werden an einer Politik der Körper
und Empfindungen.
HMKV – Hartware MedienKunstVerein,
Dortmund, 15. 5. – 5. 9. 2021
von Sabine Maria Schmidt
Vika Kirchenbauer, Untitled Sequence of Gaps,
2020, und Playing Field, 2021. Installationsansicht im Kunstverein für die Rheinlande und
Westfalen, Düsseldorf 2021. Foto: Mareike
Tocha.
malfall annehmen, beziehungsweise die Parameter der menschlichen Sinneswahrnehmung
als Ausnahme? Darauf antwortet unter anderem
eine Lichtarbeit, die Kirchenbauer für das Foyer des Kunstvereins entwickelt hat (Spectral
Sensitivity, 2021), die unsere Sinneswahrnehmung temporär neu justiert. Eine türkisfarbene
Transparentfolie auf der Glasfassade des Kunstvereins filtert das Licht und transformiert unsere
Erfahrung von Innen- und Außenraum, während
im Foyer Infrarotlicht, dessen Wellen für das
menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind, unsere Seherfahrung zum desorientierenden NichtEreignis macht und die Möglichkeit eines anderen Blicks andeutet.
Bereits in ihrer Videoarbeit Untitled Sequence
of Gaps (2020) hat sich Kirchenbauer den Grenzen des Sag- und Sichtbaren genähert. Dort sucht
sie nach Bildern für Phänomene, die sich dem
Bereits in früheren Videoarbeiten und Installationen haben sich Stefan Panhans und Andrea
Winkler den Höhenflügen und Untiefen neoliberaler Selbstermächtigung und masochistischer Selbstoptimierungsideologien gewidmet.
Der Titel dieser wort- und werkgewaltigen Einzelausstellung nimmt Bezug auf die Rhetorik
US-amerikanischer Führungspersönlichkeiten
evangelikal-protestantischer Großkirchen. Was
bei Joel Osteen, dem Fernsehprediger und Autor
des 2016 erschienenen Bestsellers The Power of
I Am. Two Words That Will Change Your Life Today als Lebenshilfe getarnt ist, ist radikalisierte
und letztlich perfide Erfolgstheologie. Die Überzeugung, dass Wohlstand, Vermögen, Erfolg und
Gesundheit als Gottesbeweis gelten und nur Verdienst eigener Anstrengungen sind, ist auch ein
Kompass, dem aktuell Corona-Leugner*innen,
Reichsbürger*innen, Homöopath*innen und andere Verschwörungserzähler*innen folgen. Die
Künstler*innen dazu im aktuellen HMKV Ausstellungsmagazin: »Von der Kraft des Ichs zum
Staub des Egos ist es nur ein kleiner Schritt;
power und powder trennt nur ein kleiner Buchstabe.« (S. 6) Die Pulverisierung von Vorstellungen von Gemeinschaft und Gemeinwohl wird
dabei in Kauf genommen.
Sechs Installationen, darunter drei neu produzierte Videoarbeiten, sind in der Ausstellung
versammelt. Zur Schau steht ein Parcours voller Referenzkaskaden; eine permanente Kampfzone gesprochener Worte und überraschender
Textmontagen. Es geht in der Ausstellung um
so ziemlich alles, was man zu Lockdown- und
Homeoffice-Zeiten digital konsumieren und reflektieren konnte: Serien-Bingen, die Kommunikation mit künstlichen Intelligenzen, Alltagsrassismus, Celebrity-Kult und Rollenklischees, der
prekäre Status von Kulturarbeiter*innen, Computerspiele, postdigitale Feedbackschleifen zwischen Mensch und virtueller Welt, die Verheißungen des Postpaketversand-Onlinekonsums
und neue Statussymbole wie den Elektro-SUV.
Diese als multifunktionaler Schutzraum gepriesene Vereinzelungsmaschine ist nicht zuletzt ein
vielschichtiges Symbol einer zunehmend singulären Interessen verpflichteten Okkupation des
öffentlichen Raums.
Der SUV, ein »Erlkönig«, wie man getarnte
Prototypen von Autos nennt, wird zum »goldenen Ring« eines neuen Musicals, besungen von
drei Hip-Pop-Walküren. DEFENDER (2021), so
der Titel, könnte nicht nur als Anti-, sondern auch
als absurdes Comedy-Musical durchgehen. Das
Mysterium des Inneren dieser Luxusstatue, in
dem »ich weiß nicht wie viele TerraTETRAbites
an songs und films und series […] da mit eingebaut« sind, bleibt zumindest verschlossen. Meist
wird nur schnell durchs Auto hindurchgeklettert.
Für ihre Arbeiten suchen sich die beiden
Künstler*innen professionelle Kollaborateure.
Der Sound zweier neuer Filme, Border Control (2021) und DEFENDER, stammt von Thies
Mynther, selbst »ständig auf der Suche nach
Soundtracks für eine bessere Zukunft«. Lilli
Thalgott, erprobte Kamerafrau der Arbeiten von
Stefan Panhans, setzt die immer wieder kreisenden Bemühungen der Protagonistinnen berückend nah ins Bild. Die nun in DEFENDER
auch als Musicalstars zu entdeckenden Schauspielerinnen sind Lisa-Marie Janke, Olivia
Hyunsin Kim und Anne Ratte-Polle. Bisweilen
bestückt mit Marie-Antoinette-Perücken und
Sportrequisiten sind ihre Rollen – Opfer, Verstreute, Schutzsuchende oder Wächterinne –
nicht immer klar. Auf ihren Rücken der seit Lieferando allerorten präsente Wolt-Lieferrucksack.
Ihr Schauspiel ist brillant.
Panhans und Winkler beziehen sich mit ihrem
Stück auf das Genre des nur wenig bekannten
»Industrial Musicals«, das meist als Corporate
In-House Show zur Mitarbeiter*innen-Motivation entwickelt wurde. Das Künstler*innenduo
war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten selbst in ei-
Stefan Panhans / Andrea
Winkler: The Pow(d)er
of I Am Klick Klick
Klick Klick and a very
very bad bad musical!
HMKV Ausstellungsmagazin 2021/2.
Hrsg. von Inke Arns.
Mit Textbeiträgen der Herausgeberin und
Tom McCarthy, Martin Herbert (ger./eng.).
Verlag Kettler, Dortmund 2021.
160 Seiten, 17 × 24 cm, zahlreiche SW- und
Farbabbildungen.
€ 10,– (HMKV) / € 18,–
ISBN 978-3-86206-908-8
Kostenfreier Download
Stefan Panhans / Andrea Winkler, If You Tell Me When Your Birthday Is (Machinima Version), 2020.
Installationsansicht im HMKV, Dortmund 2021. Foto: Jannis Wiebusch.
nem Essener Corporate-Stipendium der E.ON
Stiftung (vorher Innogy-Stiftung, vorher RWEStiftung). So war es auch ein Glücksfall, dass
mitten in der Pandemie, die vielerorts die Filmbranche gänzlich zum Erliegen brachte, zwei
neue Filme gedreht werden konnten. DEFENDER entstand in einem Dortmunder Parkhaus. –
Ein Carpark als Film-Location und Ausstellungsort hat Tradition. Hier wird er zu einem Ort
des Stillstands und der ausgebremsten Energie,
zum mehrdeutigen Co-Working-Space. Die Heroinen erhalten verschlüsselte Anweisungen von
oben, Sprechakte als Collage aus Liedfragmenten, SUV-Werbung und vielen Phrasen unserer
Zeit. Das »Musical« von Panhans und Winkler
könnte es durchaus ins »wirkliche« Theater
schaffen, ein perfekt inszenierbares Kammerstück. So ist auch der Ausstellungsraum im
HMKV zu einer großen Bühnenlandschaft gestaltet. Gamer-Stühle, Gymnastik-Accessoires,
riesige Lounge- und Chillzone-Versatzstücke,
Anti-Rutschmatten, Fitnessgeräte, westenartige
Stoffcollagen, Körperkonturen aus Daunenstoff;
für die meisten der Skulpturen zeichnet Andrea
Winkler verantwortlich. Die Betrachter*innen
tauchen derart gleich mit in die Bühnenbilder ein.
Warten und Hoffen, sich dennoch auf etwas
Zukünftiges vorbereiten, was voraussichtlich
nie eintreten wird, sind Motive, die viele Arbeiten miteinander verbinden. Die ZweikanalVideoinstallation Border Control reinszeniert
die Dramaturgien von Grenzkontrollen. Als ein
»Tanz des Unmöglichen« erweist sich die Arbeit Freeroam À Rebours, Mod#I.1 – Installation
Version (2017/2021), ein Ballett wieder zu
Fleisch gewordener Avatare. Bei »Freeroam«
handelt es sich um einen Modus ohne Storyline,
der von Hardcore-Spieler*innen des Computerspiels Grand Theft Auto entwickelt wurde. In einer Art Meta-Hack haben Panhans und Winkler
in Zusammenarbeit mit der Choreografin Miriam
Zeugner die virtuelle oder digitale Welt dieser
Räume ins Analoge überführt: Im Video stellen
Performer*innen Bewegungen, Gesten und Abfolgen aus der Spielwelt nach. Absurde Sprechund Bewegungsfolgen prägen auch die virtuelle
Welt von If You Tell Me When Your Birthday Is
(Machinima Version) (2020). Für ihre virtuellen Szenarien plündern Panhans und Winkler
Gemäuer, Möbel, Prozac-Pillen, SVGA-Adapter, Weinstöcke, Baumstämme und ins Unendliche ragende Wendeltreppen – also Hintergründe,
die sie den Spiel-Engines Unity oder Display.land entliehen haben. In dieser von Regularien
befreiten Welt neoliberaler Codierungen irren
zwei Cowboys herum, Figurinen für einen abstrusen Chatbot-Dialog. »Es gibt zwei Arten von
Wissen: das Wissen, das wir von den Sinnen her
erlernen und das Wissen, das wahr und a priori
ist«, sagt eine Stimme, worauf die andere antwortet: »Und was weißt du über AI-unterstütztes Smart-Investment-Managing?« – Man muss
diese Spiele wieder nach Hause bringen, um aufzuzeigen, wie unsere Welt in ihnen gespiegelt ist.
Panhans und Winkler sollte man auf jeden Fall
diesbezüglich folgen.
Sabine Maria Schmidt ist promovierte Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin. Sie lebt in Düsseldorf
(DE) und Chemnitz (DE), wo sie seit 2019 als Kuratorin
an den Kunstsammlungen Chemnitz tätig ist.
Ins Bewusstsein gepikst
RAY 2021: Ideologien
Verschiedene Orte, Frankfurt am Main und
Rhein-Main-Gebiet, 3. 6. – 12. 9. 2021
von Paul Mellenthin
Es gibt im Norden Berlins einen Park, der immer
leer ist. Das hat einen guten Grund, denn wer
ein Picknick auf einer der zahlreichen Wiesen
ausbreitet, wird von einem Schwarm angriffsbereiter Wespen vertrieben. Vor einigen Jahren,
kurze Zeit, nachdem Akinbode Akinbiyi den Ort
in einem Bild festgehalten hatte, verlief ich mich
dorthin. Überall sah man gepflegtes Grün, breite
Gehwege, Bänke und sogar einen Kiosk. Hier
stand alles für Gäste bereit. Die Leere strahlte
eine trügerische Ruhe aus. Aber Akinbiyis Fotografie ist nicht leer. Im Bildvordergrund, auf dem
Betonboden, aus dem sporadisch Nadelbäume
herausragen, sehen wir einige hundert Kiefernzapfen. Wie tote Insektenkörper liegen sie auf
dem Platz verstreut, um beim Darübergehen geräuschvoll zu zerbersten.
Beim Betrachten der Fotografien wird unweigerlich die Erinnerung lebendig. Man hört
das Krachen der Kiefernzapfen und das Surren der Wespenflügel. Die Zapfen rufen plötzlich die lange zurückliegenden Stiche wach, die
Idylle, die Einfältigkeit, den Trugschluss. Hatte
Akinbiyi, für den Berlin zum Zeitpunkt der Auf67