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Zur Diskussion
Antisemitismus im
Rechtspopulismus
Israel, Antisemitismus, Umgang mit NS nach 1945,
Erinnerungskulturen/Geschichtskultur
Dr. phil. Sebastian Winkler ist Lehrbeauftragter an der International
Psychoanalytic Universtiy (IPU) in Berlin. Seine Dissertation aus dem
Jahre 2012 schrieb er über „Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in
der SS-Zeitung Das Schwarze Korps. Eine psychoanalytische Studie“.
Von Sebastian Winter
Antisemitische Äußerungen von AfD-, Pegida- oder IBProtagonist_innen zu finden, ist keine besondere Schwierigkeit.
Oftmals werden sie in der kritischen Öffentlichkeit benutzt, um
insbesondere der AfD nachzuweisen, dass sie dem
nationalsozialistischen Ungeist verhaftet bleibe. Die Partei
selbst wiederum bemüht sich – wenig entschlossen – diese
Äußerungen als Einzelfälle darzustellen und manchmal auch zu
sanktionieren (vgl. z.B. Soldt 2018). In diesem Aufsatz soll es
darum gehen, das hinter diesen ‚Einzelfällen‘ liegende Muster
zu beschreiben und zu untersuchen, wie dieses mit den
breiteren, politische Lager überlappenden, Diskursen über die
nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands
zusammenhängt. Es wird die These entwickelt, dass die
Tabuisierung, auf welcher die Kommunikationslatenz des
Antisemitismus (Bergmann & Erb 1986) als Bestandteil der
kulturellen Atmosphäre der Bundesrepublik jahrzehntelang
beruhte und die das offene Wiederanknüpfen an die völkischantisemitische Ideologie des Nationalsozialismus im politischen
Raum verhinderte, mittlerweile an Kraft verliert und dass dies
durch die Art der ‚Vergangenheitsaufarbeitung‘ mitverursacht
ist.
Pro-israelische und antisemitische Haltungen
in der extremen Rechten
Die aktuelle extreme Rechte in Deutschland besteht keineswegs
nur aus ‚Ewiggestrigen‘, die dafür kämpfen, den
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Nationalsozialismus wiederaufleben zu lassen. Die
vergangenheitspolitischen Diskurse sind nicht spurlos an ihr
vorbeigegangen. Ellen Kositza, wichtige Publizistin der Neuen
Rechten, nennt Sophie Scholl ihr „Herzensvorbild“ (Kositza
2017), auf Pegida-Kundgebungen ist die als Symbol des
deutschen Widerstands vom 20. Juli 1944 bekannte ‚WirmerFlagge‘ sehr beliebt, vereinzelt wehen dort auch Israel-Fahnen
und Frauke Petry, damals noch Bundessprecherin der AfD, sah
im Sommer 2017 in einem Interview mit der Jüdischen
Rundschau ihre Partei fest an der Seite des jüdischen Staates:
„Ich glaube persönlich […], dass ein gutes Verhältnis zu Israel
für Deutschland essentiell ist und das nicht nur aus
Verantwortung für die Geschichte, sondern generell, weil Israel
einer der wenigen Staaten außerhalb Europas ist, der eine
demokratische Gesellschaftsordnung hat.
[…] Deutschland müsste sich deutlicher gegen einen Boykott
positionieren. […] Ich denke […], wenn man das Existenzrecht
Israels bejaht, was wir als AfD tun, und Israel schützen will,
kommt man nicht umhin, die Selbstverteidigung Israels
gegenüber den ‚Palästinensern‘ und terroristischen Angriffen zu
verteidigen.“ (Petry 2016)
Im Streit um den Ausschluss der AfD aus dem Rat der Stiftung
niedersächsische Gedenkstättengerieren sich die
Parteivertreter_innen als seriös und verantwortungsbewusst
der deutschen Geschichte gegenüber – „die Begründung, man
wolle keine Holocaustleugner im Rat sitzen habe, ziehe nicht:
‚Wo sitzen hier Holocaust-Leugner?‘“ (AfD-Geschäftsführer
Klaus Wiechmann, zit. nach HAZ 16.03.2018)
Doch nach Petrys Entmachtung und ihrem Austritt aus der AfD
im September 2017 befindet sich der sogenannte völkische
Flügel um den Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn
Höcke auf der Siegerspur. Der ehemalige Geschichtslehrer
Höcke redet nicht mehr von „Verantwortung für die
Geschichte“, sondern polemisiert gegen das Berliner Denkmal
für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas als „Denkmal
der Schande“, provoziert medienwirksam seinen Rauswurf aus
der Gedenkstätte Buchenwald (Thüringer Allgemeine 2017) und
sieht die verurteilte Holocaustleugnerin Ursula HaverbeckWetzel als Opfer einer „Meinungsdelikte“ verfolgenden Justiz
(Höcke 2016). Eine Gruppe innerhalb der Partei um den
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ehemaligen Maoisten und jetzigen AfDler Wolfgang Gedeon,
dessen offen amerika- und israelfeindliche Broschüre
"Grundlagen einer neuen Politik“ Höcke auf Facebook
nachdrücklich begrüßt und zur Lektüre empfohlen hat (Höcke
2015a), versucht, die AfD – ganz im Gegensatz zu Petrys
Bekenntnis – mit der Warnung „Wird die AfD eine zionistische
Partei?“ (Gedeon 2017) zu einer Unterstützungserklärung der
Israel-Boykott-Kampagne ‚BDS‘ zu bringen (AfD 2017: 131).
Was verbindet diese beiden, scheinbar entgegengesetzten Lager,
die sich immerhin in derselben Partei finden? Ein
Erklärungsversuch besagt, dass die Pro-Israel-Haltung in der
AfD eigentlich einer muslim_innenfeindlichen Haltung
entstammt, in welcher man sich mit dem vom islamistischen
Terror bedrohten jüdischen Staat einig wähnt. Die
unterschiedlichen Positionen entsprächen demnach nur
verschiedenen Gewichtungen von juden_jüdinnen- und
muslim_innenfeindlichen Ressentiments. Das Problem bei
dieser Erklärung ist allerdings das Absehen von der
unterschiedlichen ideologischen Struktur der rassistischen
Muslim_innenfeindschaft und des gegen halluzinierte ‚Herren
der Welt‘ gerichteten Antisemitismus. Beide Formen des Hasses
sind Teil eines identitätsstiftenden „Syndroms
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2012),
aber erfüllen innerhalb dieses Syndroms unterschiedliche
Funktionen.
Wolfram Stender hat bereits vor mehreren Jahren anhand der
Analyse von Interviews mit Lehrer_innen einen anderen
Erklärungsvorschlag zum Verhältnis von
Muslim_innenfeindschaft und Antisemitismus gemacht: Die
Muslim_innenfeindschaft, die ‚den Muslimen‘ Antisemitismus
(und Sexismus, Homophobie etc.) vorwirft, ist demnach
Ergebnis einer schuldabwehrenden Projektion der eigenen, als
‚schändlich‘ empfundenen nationalen Vergangenheit (vgl.
Follert & Stender 2010; Lohl 2017). Es entsteht das entlastende
Gefühl, an ‚den Muslimen‘ jetzt ‚die Nazis‘ zu bekämpfen. Der
Clou ist, dass nach der moralischen, ‚antifaschistischen‘
Reinwaschung dann im zweiten Schritt eine (vor sich selbst und
anderen) unverdächtige Wiederaneignung des zuvor projektiv
Erledigten möglich wird – zunächst rassistisch
muslim_innenfeindlich, später aber auch selbst antisemitisch.
Höcke und Petry haben dies in verteilten Rollen vorgeführt. Die
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Annahme, antisemitismuskritische und proisraelische
Verlautbarungen der AfD sowie deren Versuch jüdische
Fürsprecher_innen zu finden, seien bloß taktische Maßnahmen,
für „eine moralische Immunisierung der eigenen Politik gegen
Kritik“, mittels derer man sich auch „der NS-Vergangenheit
entledigen könne“ (Grimm & Kahmann 2017: 54), trifft die
diskursive Oberfläche dieser Dynamik, berücksichtigt aber zu
wenig deren affektiven Gehalt. Im dritten Schritt können sich
dann Bündnisse zwischen Rechtsextremist_innen und
Islamist_innen bilden, zentriert um den gemeinsamen Feind:
die westlich-liberale Zersetzung von Ordnung und Identität
(vgl. Culina & Fedders 2016: 79ff.; Grigat 2017: 19; Salzborn
2017: 87ff.; Weiss 2017: 221ff.).[2]
Schuldabwehr, Schuldanerkennung und der
deutsche Stolz
Der Dreischritt von muslim_innenfeindlicher Projektion der
deutschen Vergangenheit, entlasteter und unerkannter
Anknüpfung an diese und Sympathieentwicklung für
Islamist_innen ist keine Erfindung der extremen Rechten,
sondern eine Variante dessen, was Ilka Quindeau als aktuell
weit verbreiteten ‚Schuldanerkennungsantisemitismus‘
beschreibt (Quindeau 1997: 163): Jahrzehntelang hatte
demnach zunächst ein mehr oder weniger unterschwelliger
‚Schuldabwehrantisemitismus‘ die hegemoniale Mentalität in
der Bundesrepublik geprägt, der – häufig mittels Täter-OpferUmkehrungen und der Projektion der eigenen Vergangenheit
auf Jüdinnen_Juden bzw. Israel – den nationalsozialistischen
Verbrechen zu entkommen und zugleich (unerkannt) am
Antisemitismus festzuhalten versuchte. Jüdinnen_Juden
erschienen dann als die neuen Nazis (vgl. Salzborn 2014:
123ff.): Das ließ sich links und rechts, positiv und negativ
wertend bewerkstelligen: Ende der 1960er Jahre schwärmte die
Springer-Presse vom ‚Wüstenfuchs...‘, nicht Rommel, sondern
‚...Dajan‘, dem israelischen General. Und in den Neuen Sozialen
Bewegungen wurde sich gleichzeitig über die angeblichen
‚Nazimethoden‘ des israelischen Militärs empört.
Aus den Ausläufern des letzteren Milieus in Kirchen,
Gewerkschaften und im Umfeld der jungen Grünen bildeten
sich in den 1980ern die Geschichtswerkstätten, die als
Graswurzelbewegung vor Ort die „vergessenen
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Konzentrationslager“ (Garbe 1983) aufspürten, die
Nazivergangenheit von lokalen Honoratioren recherchierten
und mit dem Finger auf untergründige Kontinuitäten wiesen
(vgl. Schwarzer 2015). Allmählich, überraschend und oft
stockend wurden Elemente dieser Haltung vom Störfaktor
nationaler Identität zu einem Teil dieser und der
Schuldabwehrantisemitimus entwickelte sich weiter zum
Schuldanerkennungsantisemitismus. Richtungweisend hierfür
war die viel gerühmte Rede von Bundespräsident Richard von
Weizsäcker am 8. Mai 1985, in welcher er den Untergang des
Nationalsozialismus als „Befreiung“ fasst und sich zu der
„schweren Erbschaft“ auf den Schultern der Deutschen bekennt.
In dieser Rede gab der ehemalige Hauptmann der Wehrmacht
die Losung aus: „Das Geheimnis der Erlösung heißt
Erinnerung“. Er münzte die chassidische Lehre auf das
deutsche Volk, dessen 40-jährigen Leidensweg nach 1945 er mit
den Entbehrungen der Jüdinnen und Juden nach ihrem Auszug
aus Ägypten und auf der Wanderung durch die Wüste verglich.
Neben dieser neuen Variante der Täter-Opferumkehr bleibt die
demonstrierte Schuldanerkennung oberflächlich: Schuld an den
Verbrechen und vor allem an der daraus folgenden Last auf
deutschen Schultern habe eigentlich jemand anderes –
Kernstück von Weizsäckers Rede ist die Beschreibung, wie
Hitler Deutschland geschändet habe:
„Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime
viele Völker gequält und geschändet. Am Ende blieb nur noch
ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu
werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer wieder hat Hitler
ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei,
in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen.“
(Weizsäcker 1985)
Im Zentrum von Weizsäckers Rede steht letztlich nicht die
Schuld, die nur eine individuelle sein kann, sondern die
nationale Schande, die durch das Bekenntnis zu ihr
überwunden werden soll. Dieser Weg war erfolgreich.
Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich ein Foto seines
Vaters in Wehrmachtsuniform mit Hakenkreuz am Stahlhelm
auf den Schreibtisch im Kanzleramt stellte, führte in seiner
Regierungserklärung 13 Jahre nach Weizsäckers Rede aus:
„Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein einer
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erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch
niemandem unterlegen fühlen muß, die sich der Geschichte und
ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich
damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt. […] Kein
anderes Datum symbolisiert Stolz und Schmerz, Freude und
Schande in der Geschichte unserer Nation so sehr wie dieser 9.
November.“ (zit. nach Bundestag 1998: 17)
Aus der nationalen Schande sei also gelernt worden, nun
besonders ehrenwert zu sein: erwachsen, selbstbewusst,
friedliebend und ausgeglichen. Cornelia Siebeck erkennt in der
Tendenz seit der Weizsäcker-Rede ein
„postnationalsozialistisches Erlösungsversprechen“: Zwar wird
sich erinnert, der dadurch erzeugte Bruch in der deutschen
Identität aber sogleich wieder geschlossen (Siebeck 2015a: 34).
Hin und wieder noch nervten ‚Moralapostel‘ mit ihrer
„Moralkeule Auschwitz“ (Martin Walser) – doch dem neuen
deutschen Selbstbewusstsein konnte dies nicht mehr viel
anhaben: ‚Es muss doch mal gut sein, wir haben alles
aufgearbeitet und jetzt ist Zeit für was Neues‘. Vorschnelle
Vorstöße auch antisemitische Ressentiments wieder offen im
politischen Raum zu äußern, wie es bspw. der frühere CDU- und
jetzige AfD-Abgeordnete Martin Hohmann 2003 mit seiner
Rede zum Tag der deutschen Einheit über das jüdische
‚Tätervolk‘ versuchte, wurden freilich noch abgewehrt (vgl.
Hohmann 2003). Die gesundete deutsche Identität zeichnete
sich – vordergründig –durch eine neue Unbedarftheit aus.
Schamlos konnten 2006 zur Fußball-WM der Männer wieder
Deutschlandfahnen geschwungen werden – ein ‚fröhlicher
Party-Patriotismus‘. Doch schon damals stellte eine
Forschungsgruppe der Universität Bielefeld fest, dass die
Verbreitung rassistischer Einstellungen während des
‚Sommermärchens‘ zugenommen habe (Becker et al. 2007), und
Dagmar Schediwy untersuchte das neue nationale Wir-Gefühl –
„Vorbei sind die Zeiten der Selbst-Zerknirschung, ab sofort ist
nationales Selbstbewusstsein angesagt.“ – hinsichtlich der mit
ihm einhergehenden konservativen Geschlechterstereotype und
den Exklusionen aus der Nation (Schediwy 2008: 79, 94ff.). Viel
Aufmerksamkeit fanden diese Studien nicht.
2015 wurde wieder Schwarz-Rot-Gold geschwenkt – diesmal bei
den Aufmärschen von Rechtspopulist_innen. Die AfD wehrt,
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anders als noch die neo-nazistische NPD, die staatstragende
‚Erinnerung ist Erlösung‘-Entwicklung nicht einfach reaktionär
ab, sondern dreht sie noch eine Windung weiter: Die gelungene
‚Aufarbeitung‘ erlaube endlich wirklich einen Schlussstrich zu
ziehen, sich dann auch wieder dem Rest der deutschen
Geschichte zu widmen und die geschändete Identität endgültig
zu heilen. Björn Höcke schmäht die Weizsäcker-Rede, die ihren
Dienst getan hat, als „Rede gegen das eigene Volk“, aus der AfD
nehmen die Stimmen zu, die sich für ein Zurückfahren der
Erinnerungspolitik und der Gedenkstättenarbeit aussprechen,
und die aus dem Schuldabwehrantisemitimus bekannte, nie
verschwundene (‚linke‘) Verteufelung Israels gewinnt in diesem
Kontext ebenso neue Kraft wie antisemitische,
größenwahnsinnige Verschwörungstheorien: Letztlich seien die
nach Europa migrierenden ‚Muslime‘ auch nur Opfer eines
sinisteren (jüdischen) Plans, die Nationalstaaten zu
destabilisieren und eine ‚Neue Weltordnung‘ zu errichten (vgl.
Culina & Fedders 2016: 56ff., 77ff.):
„Ich will keine Verschwörungstheorien nähren, aber an
mancher Verschwörungstheorie ist doch ein Kern an Wahrheit
zu finden. Und ich habe so die dunkle Vermutung, dass die
Flüchtlingsströme, die jetzt in unser Land und nach Europa
geleitet werden, dass diese Flüchtlingsströme vielleicht doch als
Migrationswaffe eingesetzt werden, um etwas zu erreichen, was
die Destabilisierung Europas genannt werden kann, liebe
Freunde. Und welche Rolle Frau Merkel dabei spielt, […] das
kann nur vermutet werden. Es gibt aber in meinen Augen
eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist:
Frau Merkel hat ihren Verstand verloren. Und die zweite
Möglichkeit ist, das ist so unglaublich wenn es so wäre, aber es
ist tatsächlich eine realistische Möglichkeit in meinen Augen:
Die zweite Möglichkeit ist, dass sie in einen großen, großen
geopolitischen Plan eingeweiht ist und diesen Plan willentlich
durchführt.“ (Höcke 2015b)
Mahnmal der Schande
Die erinnerungskulturelle nationale Erlösung und
Normalisierung schien Anfang des 21. Jahrhunderts
aufgegangen zu sein. KZ-Gedenkstätten sind zu etwas
geworden, das nicht mehr peinlich berührt, sondern das im
Gegenteil zufrieden und stolz auf das Geleistete vorgezeigt wird.
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Aus dem peinlichen Schmutzfleck der ‚dunklen Zeit‘ ist eine
moralisch besonders strahlende Stelle geworden. Aus
Mahnsteinen wurden Schlusssteine eines scheinbar stabilen
und vorbildlich gelungenen Gedenkkulturgebäudes und das
Unheimliche wurde zur, heutigen
Mediennutzungsgewohnheiten angepassten, aufbereiteten
Geschichte: „Das Grauen erscheint als konsumierbarer
Ausstellungsinhalt“ (Garbe 2015: 484), während die
Gedenkstätten dabei zugleich und unvermeidlich ihren
„gegenwartskritischen und widerspenstigen Charakter“ verloren
und von einer bürgerschaftlich-politischen Intervention zu
einer Angelegenheit von Expert_innen und Orten nationaler
Selbstvergewisserung wurden (Siebeck 2015b). Den Höhepunkt
dieser Entwicklung, das Stelenfeld in Berlin, nannte Schröder
einen „Ort, wo man gerne hingeht“. Und der in der
Gedenkstättenarbeit engagierte Historiker Eberhard Jäckel ließ
sich dazu hinreißen, seiner Begeisterung mit den Worten
Ausdruck zu verleihen: „In anderen Ländern beneiden manche
die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht
gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals
und das feiern wir“ (zit. nach Breuer 2015: 46).
Als Höcke das Berliner Stelenfeld 12 Jahre nach seiner
Einweihung ein „Mahnmal der Schande“ nannte, schlug ihm in
der demokratischen Öffentlichkeit eine erregte
parteiübergreifende Empörung entgegen. Die Demonstration
der gelungenen ‚Aufarbeitung‘ sei alles andere als eine nationale
Schande, im Gegenteil:
„Das Holocaust-Mahnmal ist eine Ehre für Deutschland, weil
hier allen Leugnern des Holocaust die Wucht der historischen
Fakten entgegengehalten wird - eine Voraussetzung dafür, dass
auch die guten Seiten der deutschen Geschichte zu ihrem Recht
kommen können. Nein, das Holocaust-Mahnmal ist keine
Schande für Deutschland, wohl aber ist Björn Höcke eine
Schande für dieses Land, für die deutsche Politik und für die
AfD.“ (Passauer Neue Presse, 19.01.2017, zit. nach Focus Online
2017)
Sowohl die Rede Höckes als auch diese Erwiderungen drehten
sich um die Schande Deutschlands. Dessen Ehre zu bewahren
oder wiederherzustellen, um auch die ‚guten Seiten‘ zu ihrem
Recht kommen lassen zu können, ist über die Parteigrenzen
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hinweg Konsens. Sind aber die Gedenkstätten eine Schande
oder eine Ehre für Deutschland? Der Nationalsozialismus habe
Schande über Deutschland gebracht, diese Schande
offenzulegen, zu sühnen und anzuerkennen gereiche
Deutschland aber wieder zur Ehre, so dass man dann auch
wieder an seine ‚guten Seiten‘ erinnern könne: Die Differenz
zwischen den AfD-Äußerungen und denen in der
demokratischen Öffentlichkeit liegt lediglich darin, ob die AfD
mit dem schändlichen Nationalsozialismus assoziiert wird oder
nicht.
Völkisches Gemüt
Im Nationalsozialismus hatte die völkische Stimmung ihren
euphorischen Höhepunkt gefunden und war gesellschaftlich
normal und selbstverständlich gewesen: Eherne
identitätsstiftende Ordnungen, in denen jede_r seinen_ihren
Platz als Teil des großen Ganzen fand, kitschige Idyllen und
vorwärtsstürmende, kämpfende Bewegung, pathetisch
zelebriertes Heil und die große mörderische Reinigung von
allem Bösen und Zersetzenden – „kollektiven Narzißmus“ hat
Theodor W. Adorno diese Atmosphäre der unterwürfigen
Auflösung der Einzelnen im Volk, was als heroische
Selbstwerdung und authentisches Leben erlebt wird, genannt
(Adorno 1959: 563). Die Ehre der Volksgemeinschaft stand weit
über der Bedeutung ihrer einzelnen Zellen, die ihm bloß keine
Schande machen durften: ‚Meine Ehre heißt Treue‘. Nach der
vernichtenden Niederlage der Wehrmacht hätte diese Haltung
als imaginäre erkannt, zusammenbrechen und Zerknirschtheit,
Schuldgefühlen und Depressionen Platz machen müssen. Dies
geschah nicht. Stattdessen verbreitete sich nach einer kurzen
Phase der akuten Vergeltungsangst (‚Die werden uns antun, was
wir ihnen angetan haben‘) und einer Suizid- und
Kindermordwelle (‚Wenn wir den Endkampf verlieren, ist die
Welt nicht mehr lebenswert‘) eine Atmosphäre der
Entwirklichung des Vergangenen: Niemand war dabei gewesen,
manisch wurde der Wiederaufbau betrieben (vgl. Mitscherlich &
Mitscherlich, 1967). Adorno hat dies genau beobachtet, und
über den Mangel an Selbstzweifeln und Reue geschrieben, dies
lasse
„nur eine Folgerung offen: daß insgeheim, unbewußt schwelend
und darum besonders mächtig, jene Identifikationen und der
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kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern
fortbestehen. Die Niederlage hat man innerlich so wenig ganz
ratifiziert wie nach 1918. […] Sozialpsychologisch wäre daran
die Erwartung anzuschließen, daß der beschädigte kollektive
Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden“ (Adorno 1959:
564)
Der im Nationalsozialismus erlebte kollektive Narzissmus,
dessen vollständige Desavouierung nie ganz anerkannt wurde,
lebt in den deutschen Mentalitäten versteckt weiter und harrt
seiner Wiederkunft. Er wurde, wie Markus Brunner schreibt,
„kryptisiert“ (Brunner 2011), also innerpsychisch abgespalten
und so bewahrt: Der ‚innere Reichsparteitag‘. Die
Bewusstwerdung der kollektiven Kränkung wurde abgewehrt:
Nicht gegen die alliierten Armeen hatte man trotz aller
Anstrengung schmählich versagt, sondern Hitler hat
Deutschland verraten und geschändet und niemand war
begeistert dabei gewesen – das Volk als ein von ihm besudeltes
Opfer. Während die kollektiv narzisstische Gestimmtheit so
unterschwellig und gedämpft aufrechterhalten werden konnte,
demokratisierten sich die öffentlichen Institutionen und
Diskurse teilweise und beruhten dabei immer auf dem Tabu,
das Kryptisierte zu berühren oder gar auszusprechen.
Jan Lohl hat detailliert beschrieben, wie es unbenannt als
„Phantom“ an die Nachkommen weitergegeben wurde und wird
– unklare, unheimliche, verbotene Lücken in der
Familiengeschichte, die dunkle Ahnung, dass da etwas war und
ist, das nicht angerührt werden darf. Ein „narzisstisches
Berührungstabu“ umgibt diese „Gefühlserbschaft“ – ein
Faszinosum von Schrecken, Scham und
grenzenüberschreitender Verheißung (Lohl 2010: 150ff., 193ff.).
Kinder, Enkel_innen und Urenkel_innen haben in den
folgenden Jahrzehnten immer wieder versucht, die Phantome
zu übersetzen und etwas Eigenes daraus zu machen. Und nicht
nur die leiblichen Nachkommen von Nazis: Jede_r in der
heutigen Migrationsgesellschaft ist dazu gezwungen, die_der
sich deutsch fühlen und dazu gehören will. Die Krypta ist in die
Symbole der Nation eingegangen. Vor wenigen Jahren schienen
die dunklen Ecken mit den Leichen im Keller dann allerdings
endlich ausgeleuchtet, die Nazi-Phantome ausgetrieben und die
Besudelung abgewaschen – ‚Erlösung durch Erinnerung‘. Das
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Tabuisierte jedoch fand neue, überraschende Wege: Das
demonstrative Selbstbekenntnis, verbunden mit dem Bild der
moralisch geläuterten Nation, trug bei zur „Restitution des
beschädigten kollektiven Narzissmus. Schuldbekenntnis und
Erlösungserwartung gehen Hand in Hand.“ (Stender 2015: 8)
Die Hoffnung, einen gezähmten, „inklusiven Patriotismus“, der
nicht mehr völkisch, sondern republikanisch und multiethnisch
orientiert wäre, gegen den „Nationalismus der Rechten“
mobilisieren zu können (Mounk 2018), ist trügerisch: In
Deutschland hat eben dieser ‚weltoffene Patriotismus‘ als erster
Anlauf die kryptisierte Erinnerung an das Völkische geweckt
und wird nun die Geister, die er rief, nicht wieder los. Das
Erinnern an die Exzesse des völkischen Nationalgefühls hat
dessen Erneuerung erlaubt. Die „Gelassenheit im Umgang mit
der NS-Geschichte“, wie sie Mitte der 1980er Jahre
Rechtskonservative noch vergeblich gegen Weizsäckers Vorstoß
gefordert hatten (vgl. Perels 1995), greift nun wirklich Raum
und der hemmende ‚Schuldkult‘ wird für beendet erklärt.
Quellen
AfD (2017). Vorläufiges Antragsbuch zum 8. Bundesparteitag in
Hannover. https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites
/111/2017/12/Vorl
%C3%A4ufiges_Antragsbuch_01122017_v1.pdf(14.03.2018).
Bundestag (1998): Plenarprotokoll, Bonn, Dienstag, den 10.
November 1998, http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14
/14003.pdf (06.07.2017).
Gedeon, Wolfgang (2017): Wird die AfD eine zionistische
Partei? http://www.wolfgang-gedeon.de/2017/01/afd-einezionistische-partei/ (16.03.2018).
Focus Online (2017): So kommentiert Deutschland: HöckeRede. „Björn Höcke ist eine Schande für dieses Land, die
deutsche Politik und die AfD“. https://www.focus.de/politik
/deutschland/so-kommentiert-deutschland-hoecke-redebjoern-hoecke-ist-eine-schande-fuer-dieses-land-die-deutschepolitik-und-die-afd_id_6516637.html (17.03.2018).
Höcke, Björn (2015a): Lektüreempfehlung: „Grundlagen einer
neuen Politik – Über Nationalismus, Geopolitik, Identität und
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die Gefahr einer Notstandsdiktatur“ von Dr. Wolfgang Gedeon.
https://web.facebook.com/Bjoern.Hoecke.AfD/photos
/a.1424703574437591.1073741828.1424631334444815
/1639745522933394/?_rdc=1&_rdr (16.03.2018).
Höcke, Björn (2015b): Rede in Gera am 30.10.2015.
https://www.youtube.com/watch?v=HjWo8Bmy2_k
(19.03.2018).
Höcke, Björn (2016): Rede in Gera am 18.10.2016.
https://www.youtube.com/watch?v=jkn3Ugy8D_k
(16.03.2018).
Hohmann, Martin (2003). Der Wortlaut der Rede von MdB
Martin Hohmann zum Nationalfeiertag. heise-online
(31.10.2003). https://www.heise.de/tp/features/Der-Wortlautder-Rede-von-MdB-Martin-Hohmann-zum-Nationalfeiertag3431873.html (22.5.2018)
Kositza, Ellen (2017): „Gleichheit ist langweilig“. Interview mit
Ellen Kositza. Der Freitag, https://www.freitag.de/autoren
/michael-angele/die-rechte-in-der-richte (16.03.2018).
Petry, Frauke (2016): Frauke Petry zu ihrem Besuch in Israel.
Interview mit Frauke Petry. Jüdische Rundschau.
http://juedischerundschau.de/interviewreihe-parteien-vor-derbundestagswahl-teil-2-frauke-petry-zu-ihrem-besuch-in-israel
%E2%80%A8ein-gespraech-der-juedischen-rundschau-mitder-afd-parteivorsitzenden-135910819/ (16.03.2018).
Weizsäcker, Richard v. (1985). Rede zur Gedenkveranstaltung
im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag
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http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden
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ist schrecklich!“ Das KZ Hannover-Limmer der Continental AG
in den Berichten ehemaliger Häftlinge (noch nicht erschienen).
[1]Dieser Text ist in Teilen eine umgearbeitete und aktualisierte
Version des Aufsatzes „Ehre und Schande Deutschlands. Zum
Umgang der AfD mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“
(Winter 2017). Einige Formulierungen stammen auch aus dem
demnächst erscheinenden Buch „‚Ich kann mich sehr gut
erinnern, es ist schrecklich!‘Das KZ Hannover-Limmer der
Continental AG in den Berichten ehemaliger Häftlinge“ (Winter
2018).
[2]Ein wegen der Vorbereitung eines Anschlags im Februar
2017 festgenommener Islamist in Northeim bei Göttingen war
wenige Jahre zuvor noch ein explizit muslim_innenfeindlicher
Rechtsextremist (Diehl 2017).
23 Mai 2018 - 09:38
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