Lothar W. Pawliczak
Nachdenken über Exil
Der eigentliche Anlaß des S.Fischer Verlags, Frau Maron rauszuwerfen, war, daß bereits publizierte Texte von ihr zusammengefaßt neu in einer Buchreihe Exil ediert wurden. Ja, einige
dieser Texte, die Zuwendung zu Hunden, zu einfachen Leuten, der Landsitz im Oderbruch
künden von einem Inneren Exil. Wenn jemand deutlich macht, daß es im heutigen Deutschland Gründe für ein Inneres Exil gibt, ist das anscheinend für gewisse Leute ein Grund, denjenigen auszugrenzen.
Exilanten verdienen wohl grundsätzlich Respekt. Sie entziehen sich einer Bedrückung,
brauchen Solidarität (vorausgesetzt, es handelt sich nicht um die Flucht eines Kriminellen vor
der Strafe, eines Betrügers vor seinen Kunden, eines Steuerpflichtigen vor seinem Beitrag zur
Gemeinschaft). Aber nicht alle haben die Kraft und die Mittel, bei Bedrängnis außer Landes
zu gehen, auch ganz persönliche Umstände spielen oft eine Rolle, sich im Fall des Falles eher
ins Innere Exil zurückzuziehen.
Während jeder, der in Deutschlands dunkelsten Jahren ins Ausland entflohen war – entfliehen
konnte, heutzutage respektiert und geachtet ist, sind immer wieder gelegentlich Vorwürfe
gegen den einen oder anderen zu hören, der sich in diesen 12 Jahren ins Innere Exil zurückgezogen hatte. Ich will da nur an einen Fall erinnern, der wohl nur den entsprechenden Fachleuten bekannt ist: Alfred von Martin, der sich als Renaissanceforscher bereits einen Namen gemacht hatte, gab – die schlimme Entwicklung erkennend – 1932 seine Honorarprofessur an
der Universität Göttingen auf, ließ sich dauerhaft von seinen Aufgaben als Direktor des „Soziologischen Seminars“ beurlauben und ging in die Innere Emigration. Nach 1945 wurde ihm
die Rückkehr an die Universität Göttingen verwehrt mit der Begründung, er sei ein unzuverlässiger Kollege gewesen und habe die Fakultät mit seinem Rückzug im Stich gelassen. Man
wird diesen Vorgang nicht recht ohne das Wissen bewerten können, daß Alfred von Martin
einer der wichtigsten Vertreter des kulturhistorisch-soziologischen Ansatzes in der Historiographie war, der von führenden deutschen Historikern entschieden bekämpft wurde, etwa von
Karl Bosl und Otto Brunner, die sich den NAZIS mindestens angedient hatten und nach 1945
in der Bundesrepublik Deutschland rigoros dekretierten, was als Geschichtswissenschaft zu
gelten habe und was nicht. Ich kann die Situation in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre nicht wirklich beurteilen. Da gab es natürlich Leute, die als allzu NAZI-belastet angehalten
waren, zu schweigen. Und das ist auch gut so. Westdeutschland schien mir als Hort der Liberalität und Gedankenfreiheit.
In der DDR war das anders. Hier gab es bemerkenswerter Weise immer innere Emigranten, die Sozialisten waren, die einst als Kommunisten gekämpft und gelitten hatten. John
Heartfield zog sich bald nach seiner Rückkehr in die DDR nach Waldsieversdorf zurück, für
Stefan Heim wurde schließlich Bohnsdorf und die Kirchengemeinde zum Exil. Bert Brecht,
der sich den sozialistischen Regierern andiente, brauchte Bukow als Exilort und schrieb dort
Elegien, die er nur teilweise und redigiert zu Lebzeiten veröffentlichen ließ. Wer Gelegenheit
hatte, mit Fritz Cremer zu sprechen und ihn sogar in seinem Atelier im verbliebenen, traurigen Rest des Hotel Adlon besuchen konnte – es lag im Sperrgebiet an der Mauer und war nur
mit Sondergenehmigung zu betreten –, merkte sehr schnell: Das war sein Exil. Die Strittmatters lebten in einer Art Exil auf dem Schulzenhof. Das Innere Exil Robert Havemanns in
Grünheide wurde von den Machthabern zum Verbannungsort gemacht und sein Haus von der
STASI zum Gefängnis. Als später erneut eine Hetzjagd gegen Abweichler einsetzte, verkaufte
ein Freund, der als Parteisekretär abgesetzt wurde, das vom Vater geerbte Mahagoniboot und
pachtete eine Obstplantage, um von der überleben zu können. Andere Freunde gaben ihr
schönes Wochenendhaus in einer Privilegierten-Kolonie auf und die Familie zog Berlin verlassend in ein entlegenes Bauernhaus. Christa Wolf war zwischen 1968 und 1989 in der DDR
gelegentlich noch zu hören, verschlüsselte ihre Systemkritik aber zunehmend in Mythen.
Auch andere übten sich im zwischen-den-Zeilen-Schreiben und das Publikum lernte, die Lücken zu lesen. Wer es schließlich leid war, wenigstens einen Hofknicks machen zu müssen,
um publizieren zu dürfen, veröffentlichte seine Bücher im Westen und folgte denen irgendwann nach. Günter Kunert, der wohl einzige Existentialist der neueren deutschen Literatur,
warf es nach Kaisborstel, wohl ein Ort innerdeutschen Exils.
Hatten da jene, die mit „Wir-sind-das-Volk!“ die Bedrücker und die Mauer wegposaunten,
was übersehen? Jene, die in wohlsituierter Westlichkeit die Wirklichkeit des realen Sozialismus selbstgefällig nicht zur Kenntnis nahmen, sich einen utopischen Sozialismus erträumten
und dem Kollaps des realen nachtrauernten, wurden schließlich systemmächtiger. Bärbel
Bohley hatte das vorausgesehen und fand im zerfallenen Jugoslawien neue Aufgaben als Migrantin. Daß die Kirche Andersdenkenden auch Obdach verweigert, hatte sie schon erlebt; daß
die aber mit Glockengeläut Systemkritiker zu übertönen sucht und sich mit Meinungsterroristen gemein macht, überstieg wohl doch ihr Vorstellungsvermögen.
Was tut heutzutage jener Mann, der wegen eines Mittagessens mit dem politisch unliebsamen Prof. Meuthen seinen Job verloren hat? Wie lange werden Gemeinden dem vom Fernsehen rausgeworfenen Komiker Uwe Steinle noch Räume vermieten, wann werden auch Gastwirte und deren Angestellte bedroht werden, wo er aufzutreten beabsichtigt? Welche Karriere
können Wissenschaftler in Deutschland noch machen, die den Herren Wieler und Drosten
widersprochen haben? Sind die allesdichtmachen-Künstler nicht längst auf einer schwarzen
Liste – selbst die, die sich nachträglich distanziert haben? Was wird aus den Sportleuten, die
wegen eines unbedacht gewählten dummen Wortes sofort rausgeworfen wurden? Wie kann
man dem „Sprachjakobinat“ (Boris Palmer) entkommen? Wird Christian Thielemann, der als
Chefdirigent mit seinen Musikern in Dresden einfach auch unter Coronabedingungen weiterarbeiten wollte und dem deswegen sein Vertrag nicht verlängert wird, zukünftig noch irgendwo in Deutschland konzertieren können? Wie viele sind schon verstummt? Wer übt sich als
Angestellter oder Beamter bereits in innerer Kündigung? Wie groß ist bereits die Innere
Emigration im gegenwärtigen Deutschland? Aber es gibt wohl schon Leute, die auch gegen
innere Emigranten vorgehen wollen und darüber nachdenken, private Treffen zu überwachen
und ggf. zu verbieten.1 Was ist nach der Wahl im September zu erwarten?
Laßt alle Hoffnung fahren!
Wenn ich es mir finanziell leisten könnte, wäre Bornholm das Exil meiner Wahl.
Lothar W. Pawliczak Exil 13.05.2021
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Der Text erschien zuerst am 13. Mai 2021 als Gastbeitrag im Blog von Vera Lengsfeld.
„Wir werden die Notwendigkeit privater Treffen hinterfragen“ In: zeit.de vom 7. MAI 2021, 14:37;
zuletzt aktualisiert am 11. MAI 2021, 5:19.
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Lothar W. Pawliczak Exil 13.05.2021
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