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200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 1 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 2 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 3 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 4 13.10.20 15:20 REVOLUTIONEN UND RENOVATIONEN DIE BEWEGTE GESCHICHTE DES VOLKSHAUS/ HOTEL BERN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 5 1890–2020 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 6 13.10.20 15:20 VON DER RENAISSANCE EINES GROSSEN HAUSES Im Berner Volkshaus machten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts illustre Köpfe Weltgeschichte. Heute wird das Hotel Bern neu geboren, als Ort der Begegnung und des freien Wortes, radikal dem 21. Jahrhundert zugewandt. 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 7 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 8 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 9 «WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN» S. 11 I. WIE ALLES BEGANN Was ist ein Volkshaus? Die Entstehung der Berner Arbeiterbewegung Das alte Volkshaus Wachsende Ambitionen: Der Weg zum Neubau von 1914 S. 23 S. 30 S. 31 S. 38 S. 45 II. EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND Weltgeschichte im Volkshaus Die sozialistischen Frauen öffnen den Weg Weltpolitik auf dem Dorfe Gewerkschaften, über die Fronten hinweg Wie sich die Arbeiterbewegung spaltet Hunger und Willkür Der Kampf der Frauen gegen die Teuerung Im Oltener Aktionskomitee Die Armee gegen das Volk Der Landesstreik S. 55 S. 58 S. 61 S. 65 S. 67 S. 67 S. 70 S. 73 S. 76 S. 76 S. 78 III. VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS Eine Schlägerei im Volkshaus Das Haus der gelebten internationalen Solidarität Knapp am Bankrott vorbei S. 85 S. 94 S. 98 S. 105 IV. VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN Am Marshallplan scheiden sich die Lager Von der Migration lernen Arthur Steiner, der Mann, der Gewerkschaften und Volkshaus regierte «Revolverküche» statt Arbeiterbildung Der Neuanlauf mit der Gleichstellung S. 109 V. DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE In 7 Stuben hocken Der Saal-Streit mit den «68ern» Der grosse Umbau S. 131 S. 134 S. 139 S. 145 VI. GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE «Das Volkshaus/Hotel Bern ist ein Teil von uns – und wir von ihm» S. 159 S. 161 ANHANG S. 181 S. 113 S. 115 S. 116 S. 120 S. 125 13.10.20 15:20 ABB. 1 Das Gemälde «Der Redner» des Berner Malers Eduard Boss. Die Hauptfigur soll gemäss mündlichen Überlieferungen vom «Weberpfarrer» Howard Eugster (1861–1932) inspiriert sein. Der Gewerkschafter, Nationalrat und Appenzeller Regierungsrat Eugster kämpfte u. a. für die Revision des Fabrikgesetzes. 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 10 13.10.20 15:20 Wo sich Geschichte und Gastfreundschaft Guten Morgen sagen: Verwaltungsratspräsident Corrado Pardini über die Renaissance eines grossen Hauses mit hundertjähriger Historie, über Beton und Biederkeit und den starken Eigensinn eines Ortes der Begegnung: «WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN» Lenin hat hier mit Clara Zetkin über die Weltrevolution gestritten. Kluge Köpfe versuchten in diesen Räumen, dem Völkerschlachten des 1. Weltkriegs ein Ende zu setzen. 1918 riefen wütende Arbeiterinnen und Arbeiter im Grossen Saal um ein Haar die Schweizer Revolution aus. In den 1930er-Jahren holten sich Stahlruten schwingende Faschisten im Volkshaus-Restaurant blutige Nasen. In der Neuzeit waren in diesem Haus Bundesrätinnen und internationale Staatsgäste untergebracht. Das konnten Sie nicht ahnen, als Sie beschlossen, in unserem behaglichen, neu gestalteten First-Class-Haus in der betulichen Hauptstadt der Schweiz einzukehren. Wahrscheinlich hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie sich auf historischem Boden betten. Das Hotel Bern war das Volkshaus. Und wird es gerade wieder. Hier wurde und wird Geschichte geschrieben. Die grosse vom Weltentumult und vom Ringen um die Emanzipation des Menschen. Die kleine von täglichen Nöten, den Freuden gelebter Solidarität und vom ruhigen Gang der Dinge. WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 11 11 13.10.20 15:20 ABB. 2 Dieses Steinrelief weist seit 106 Jahren den Weg. EIN WEITER BLICK VORAUS Manche erspüren etwas davon, wenn sie auf unserer Dachterrasse den weit greifenden Blick auf das Bundeshaus (Sitz der Regierung und des Parlamentes), auf das reformierte Münster, die Universität, den Zytgloggeturm (das Wahrzeichen von Bern) und die weiss bleckende Alpendreifalt Eiger-Mönch-Jungfrau geniessen: Die Berner Arbeitervereine haben ihr Haus des Volkes zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitten ins Herz bürgerlicher Herrlichkeit gepflanzt, als mächtige Wortmeldung einer aufsteigenden Klasse. Sie tat mit diesem Bau kund, die Geschicke der Nation fortan mitbestimmen zu wollen. Es war ein in Beton gegossenes Ausrufezeichen einer kühnen Moderne in einer alten Stadt aus Sandstein. 12 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 12 WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 13.10.20 15:20 In den Nachbarpalästen war die erste Bundesverfassung geschrieben und das erste Parlament einberufen worden, und dort hatte das Bürgertum beschlossen, die feudale Ordnung des Adels mit einem kurzen Bürgerkrieg («Sonderbundskrieg» 1847) zu beenden, in zeitlichem Einklang mit den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Deutschland. Die Köpfe der Arbeiterbewegung jener Zeit waren sich dieser Kontinuitäten bewusst, daraus leiteten sie ihren politischen Anspruch ab. Das Volkshaus eröffnete zwei Monate nach Beginn des 1. Weltkriegs. Die Gewerkschaften hatten das enorme Projekt mit einer waghalsigen Finanzkonstruktion auf die Beine gestellt. Warum ich Sie mit diesen alten Geschichten belästige, statt einfach die Annehmlichkeiten der neuen Zimmer im «Hotel Bern» zu loben, die zentrale Lage oder den vorzüglichen Service? Weil das eine mit dem anderen zusammenhängt. Besonders bei uns. «Ein gutes Hotel ist das Kondensat ungezählter Lebensgeschichten, auch der flüchtig vorüberziehenden.» Als wir vor einer Weile in frohem Kreis bei einer Fischsuppe sassen, empfahl uns Freund Hans ein preisgünstiges Hotel im Pariser SaintGermain-Quartier mit den Worten: «Das ‹Louisiane› hat Talent.» Eigentlich ist Talent lebendigen Wesen vorbehalten, und doch verstanden alle am Tisch, was dieser Satz meinte. Ein Hotel mit starker Persönlichkeit. Ein Ort, der seine eigene Geschichte atmet, die Geschichte des Quartiers, der Stadt, auch wenn man sein Zimmer bloss für ein paar Stunden Schlaf aufsucht. Hans hat in jener Pariser Herberge ein paar Monate lang gelebt, er hat auch mal Botengänge in die umliegenden Buchhandlungen für einen älteren ägyptischen Dauergast gemacht, der die Rückkehr des Boten jeweils zum Anlass nahm, vor einer Schar junger Verehrerinnen oder vor der Rezeptionistin die wilden Begebenheiten in der Existenzialisten-Szene und den Jazzklubs zum Besten zu geben. Hans wurde selbst ein klein wenig Teil dieser Geschichte. Das «Louisiane» hatte sehr gute Betten, aber keine Fernseher. Geht das? Eine Wohltat, sagt Hans, das brodelnde Leben war gleich hinter der Zimmertür. WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 13 13 13.10.20 15:20 [OBEN] Die neue ABB. 3 Attika-Bar und ihre Terrasse mit dem atemberaubenden Panorama ist ein Must in Bern. [RECHTS] Blick aus ABB. 4 der Bar auf die Berner Alpen mit Eiger (links), Mönch und Jungfrau. 14 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 14 WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 13.10.20 15:20 Ein gutes Hotel, das wussten wir, als wir den Umbau anpackten, ist ein Kondensat von ungezählten Lebensgeschichten, selbst den flüchtig vorüberziehenden. Hotels sind Orte kleiner Freiheiten. Manchmal auch grosser Lebensentscheide. Man ist aus der eigenen biografischen Zeit genommen, in der Fremde, aber umsorgt und geschützt, der Alltag ist in Klammer gesetzt. Nun scheint alles möglich, das Foyer wird zum Vestibül einer weiten offenen Welt. Das Buch unseres Hauses ist reich an solchen Geheimnissen. «Hotels sind Orte kleiner Freiheiten. Manchmal auch grosser Lebensentscheide.» INTRIGEN, BÜNDNISSE, VERRAT Regelmässige Gäste, wie die zahlreichen Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die hier zwölf oder mehr Wochen im Jahr verbringen, haben Spuren hinterlassen. Nicht nur, weil in Restaurant und Sälen Intrigen gesponnen, Bündnisse geschmiedet und alte Allianzen gebrochen, die Welt auseinandergenommen und neu zusammengesetzt wird. Manches, was hier gedacht wurde, ist heute konkrete Politik. Manche Brandrede hallt lange nach. Einiges davon erzählen wir auf den folgenden Seiten. Das Private und das Öffentliche sagen sich hier Guten Abend. Gloria und Arthur Pereira, die seit drei Jahrzehnten im Hotel Bern arbeiten, erinnern sich, wie die unkonventionelle Genfer Sozialdemokratin, Aussenministerin und Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey zum Jahresende jeweils einen ChampagnerCocktail für das Personal ausrichtete. Mehr erzählen sie nicht. Sie sind die Hüter der Diskretion. Für die Gäste meist unsichtbar, sind Menschen wie Gloria und Arthur die heimlichen Helden unseres Hauses. Sie machen das Hotel Bern/Volkshaus 1914. Ihnen gilt unsere besondere Sorge. Während Covid-19 uns zum Lockdown zwang, haben sie und das ganze Personal selbstverständlich den ganzen Lohn bezogen. Nicht nur, weil wir Gewerkschafter sind, sondern weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unser grösstes Kapital sind und wir sie ins Zentrum stellen. Sie machen die Qualität unseres Empfangs und unserer Dienstleistungen aus. In diesem Buch kommen sie für einmal zu Wort, ab Seite 159. WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 15 15 13.10.20 15:20 Eigentlich hätte dieses Haus also mit seinem «Talent» glänzen müssen, als zentraler Ort der Berner Gesellschaft und der Geschichte der Arbeiterbewegung, die das 20. Jahrhundert bewegt hat. Wir standen vor einem Rätsel, als wir mit der Arbeit begannen. Das Volkshaus wirkte wie ein unscharfes Foto. Ohne klare Konturen. Eine verwischte Persönlichkeit. Nichts mehr von der selbstbewussten Ambition seiner Erbauer. Man hatte sich in eine graue Geschäftsmässigkeit geduckt, als wolle man die Spuren der eigenen Vergangenheit löschen. Die Schätze waren versteckt. Oder schienen verloren. Schätze wie das Wandbild «Der Redner», das Arthur Pereira vor der Zerstörung gerettet hat, indem er ihm ein vorläufiges Exil bot. Vergebens haben wir nach einer Chronik gesucht. Das Hausarchiv erwies sich als lückenhaft. «Architektur ist nie unschuldig. Sie ist ein Psychogramm.» Was Wunder, glich der Eingang zum Hotel Bern einer Bunkerschleuse, wie Freund Hans sagte, die Rezeption einer Kontroll- und Passierstelle und der Weg dahin einem Hindernisparcours. Architektur ist nie unschuldig. Sie ist wie ein Psychogramm. Mit viel Beton war da jedes Selbstbild verbaut. Getilgt. DIE SEDIMENTE EUROPÄISCHER SOZIALGESCHICHTE Dieser Zustand war keiner blossen Architektenlaune geschuldet. In jedem der vielen Umbauten, die über ein Jahrhundert notwendig wurden, äusserte sich, Schicht um Schicht, der jeweilige Zeitgeist, vor allem aber das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Verortung der Bauherren. Wir standen vor den Sedimenten der Schweizer Sozialgeschichte. Also baten wir den Historiker Adrian Zimmermann um eine Recherche. Die Frucht seiner Arbeit bildet den Kern dieses Buches. Mit dem Volkshaus hatten sich die Gewerkschaften nicht nur endlich ein eigenes Gehäuse mit Sälen, Bühne, Bibliothek, Lesesaal, Kino, Speiseanstalt, Frauen- und Männerbad geschaffen, sie brachten auch die gesellschaftliche Modernisierung der Schweiz vo16 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 16 WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 13.10.20 15:20 ABB. 5 Viele kleine Fische sind gemeinsam stärker als der (Finanz-)Hai. Gewerkschaftliche Aktion auf dem Zürcher Paradeplatz. ran: Den Gesprächsraum forderten sie nicht für sich allein, sondern für alle. Auf einem Flugblatt von 1893 zum «Käfigturmkrawall» lesen wir: «In einem wahrhaft demokratischen Staat ist es notwendig und selbstverständlich, dass den Bürgern Räumlichkeiten zur Verfügung stehen müssen, in denen sie die sie bewegenden Fragen besprechen können.» Dies sollte für Parteien aller Couleur gelten, für Vereine, Gruppen der Zivilgesellschaft, Arbeitgeberverbände, kurzum für den aktiven Teil der Gesellschaft. «In der Baugeschichte des Hotel Bern liest sich die Sozialgeschichte der arbeitenden Klasse.» Im Rückblick sind mindestens zwei Dinge bemerkenswert. Die Gewerkschaften hatten nicht nur Löhne und den materiellen Fortschritt im Blick, sondern das ganze Leben der Lohnarbeitenden. Sie pflegten eine eigene Kultur. Und in diesem mächtigen Gebäude war nicht bloss ein Machtanspruch angemeldet, sondern schon der künftige WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 17 17 13.10.20 15:20 soziale Kompromiss, die «Sozialpartnerschaft» vorweggenommen, samt der Einbindung der Sozialdemokratie in die permanente Grosse Koalition, welche die Schweiz regiert. Der Kompromiss wurde nach dem 2. Weltkrieg und zahllosen Arbeitskonflikten Realität. Nun schien der soziale Fortschritt gleichsam als Automatismus in das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Kapitalismus eingeschrieben. Hin und wieder brauchte es allenfalls einen milden Anstupfer durch die organisierten Arbeitnehmenden. DIE LUST AM EIGENEN VERSCHWINDEN … Als der Schock kam, erwischte er die Gewerkschaften kalt. Ende der 1970er-Jahre begannen die Besitzenden, den neoliberalen Abrissbagger an den sozialen Kompromiss zu setzen. Wer ums Jahr 1983 das Volkshaus frequentierte, wurde gewahr, was die Gewerkschaften in drei Jahrzehnten Fülle verloren hatten. Das Haus atmete imitierte Bürgerlichkeit und Duldungsstarre, die frühere historische Klarsichtigkeit war biederem Korporatismus gewichen. Es hatte gerade den vorletzten grossen Umbau erfahren und war in «Hotel Bern» umbenannt worden. Man saldierte die eigene Geschichte. Architektonisch hatte sich das Volkshaus/Hotel Bern in sich selbst verkrochen. Sie hatten ihm die Seele geraubt. … UND DIE WIEDERGEBURT IN RAUM, LICHT UND FARBE Das war unsere Hypothek, als wir nun die Renaissance dieser Berner Institution angingen. Sie bemisst die Herausforderung dieses Total-Umbaus. Er soll in Raum, Material, Licht und Farbe die tiefgreifende Wandlung der Gewerkschaften in den letzten drei Jahrzehnten fassen. Wir wollten dem Haus seine Geschichte zurückgeben. Ich halte den Umbau für ausserordentlich geglückt. Und sagen Sie nicht, ich sei befangen. Befangenheit ist das Mindeste, was Sie von mir erwarten dürfen: Ich war als ein leitender Gewerkschaftssekretär und Nationalrat Teil dieses Prozesses. Nach dem neoliberalen Schock arrangierten sich Teile der Sozialdemokratie erst einmal mit der neuen Leitideologie. Doch dann begannen die Gewerkschaften, sich aufzurappeln. Sie stellten 18 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 18 WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 13.10.20 15:20 sich neu auf, fusionierten, demokratisierten ihre Entscheidungsprozesse, schufen konfliktfähige Strukturen. Die Hemmungen des absoluten Arbeitsfriedens wurden abgelegt. Wir fanden zur eigentlich nie bestrittenen Einsicht zurück, dass Kapital und Arbeit fundamentale Interessengegensätze trennen. Und dass nicht fiktive Harmonie und reale Unterordnung, sondern die Energie dieses Konfliktes die Gesellschaft vorantreiben. Der Kompromiss mit den Arbeitgebern soll immer auf Augenhöhe eingegangen werden. «Wir haben unser Haus sperrangelweit geöffnet. Wir wollten es lichtdurchflutet und radikal unserer Zeit zugewandt.» Diese Einsicht gab den Gewerkschaften Kraft, Vision und Einfluss zurück. Wir haben mit den Instrumenten der direkten Demokratie und mit harten Verhandlungen den Kern der sozialen Sicherheit und des Service public gerettet und den Lohnschutz ausgebaut. Und wir haben die Abschottungstendenzen der mitregierenden extremen Rechten zurückgedrängt. Heute wäre also ein weiteres Kapitel unserer kleinen Sozialund Baugeschichte zu schreiben, das Kapitel vom wiedergewonnenen Selbstverständnis der Gewerkschaften als gestaltende gesellschaftliche Kraft. Wahrscheinlich wird ein Historiker ihre Tragweite im Jahre 2120 besser zu würdigen wissen. Doch so lange müssen Sie nicht warten. Kommen Sie einfach ins Hotel Bern und ins Volkshaus – unsere Metamorphose wird sich Ihnen ohne lange Rede unvermittelt eröffnen: Wir haben Restaurant, Hotel und Veranstaltungsräume sperrangelweit zur Stadt und zur Welt und zu allen Akteur*innen hin geöffnet. Weltoffenheit und Gastfreundschaft. So sehen wir die Schweiz. «Unser Haus hat Talent. Das Talent, unerwartete Begegnungen herbeizuführen und die offene, aufgeklärte Rede zu fördern.» WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 19 19 13.10.20 15:20 DAS RECHT AUF LEBENSQUALITÄT Heute bekennen wir uns zu unserer Geschichte. Hier wird ein zentraler Begegnungsort wachsen, die Bühne für den Austausch neuer Ideen und gesellschaftlicher Entwürfe. Lichtdurchflutet, der offenen, aufgeklärten Rede verpflichtet, radikal unserer Zeit zugewandt. Das beginnt oft mit einer zufälligen Plauderei. Die neue Dachterrasse mit dem schönsten Ausblick Berns ist bereits heute ein solcher Treffpunkt. Eine gewisse Eleganz befördert den lockeren Gedankenfluss. Kein Protz, kein Kitsch, keine Imitation. Es geht um Qualität für alle. Wir schliessen den Kreis zu unseren Anfängen. Im Zentrum stand schon immer Lebensqualität als Anspruch und Recht. Der offene Gesprächsraum ist unser starkes Bekenntnis zur Stadt Bern. Die Begegnung ist unser Talent. Herzlich willkommen! Corrado Pardini, Verwaltungsratspräsident Hotel Bern/Volkshaus Corrado Pardini, 55, hat bei der Firma Wifag in Bern Maschinenschlosser gelernt. Sie stellte die weltbesten Maschinen für Zeitungsdruck her. Von 1987 bis 2020 arbeitete er als Gewerkschafter, zuletzt als Mitglied der nationalen Geschäftsleitung der grössten Gewerkschaft, Unia, verantwortlich für die Industrie. Über zwei Legislaturen (2011 bis 2019) war er eine gewichtige Stimme im Nationalrat, der grossen Kammer des Parlaments, etwa in der einflussreichen Kommission für Wirtschaft. 20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 20 WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 13.10.20 15:20 ABB. 6 Offen zur Welt, Tor zu lukullischer Behaglichkeit: Der neu gestaltete Empfang. WILLKOMMEN IM HAUS DER FREIEN 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 21 21 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 22 13.10.20 15:20 I. WIE ALLES BEGANN 1888–1913 In den Jahren des grossen Umbruchs vor 1918 pflanzte die Berner Arbeiterbewegung ihr Volkshaus mitten ins Herz bürgerlicher Macht. Es war eine kräftige Wortmeldung aus «Dreck und Eisen», aus Beton. Hier ist ihre bewegte Vorgeschichte. 23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 23 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 24 13.10.20 15:20 Der 1914 eröffnete Neubau des Volkshauses setzte in der Berner Innenstadt einen markanten städtebaulichen Akzent. Robert Grimm, ein Anführer des späteren Landesstreiks, schrieb im «Grütlikalender 1915», die Arbeiterbewegung habe mit dem Neubau ihren Aufstieg und Machtanspruch in einer historisch symbolträchtigen Umgebung demonstriert. Gegenüber dem Volkshaus befindet sich die Französische Kirche, ursprünglich ein Dominikanerkloster, das die Reformation aufgehoben hatte. Das östliche Nachbargebäude ist das «Zunfthaus zu Schmieden», im Westen schliesst das «Gesellschaftshaus zum Äusseren Stand» an das Volkshaus an. Besonders in diesem Gebäude hatten sich zentrale Ereignisse der Geschichte der Schweiz abgespielt. Es war Schauplatz wichtiger Auseinandersetzungen zwischen der Aristokratie und dem aufsteigenden Bürgertum. Ursprünglich diente das Haus jungen Männern aus dem Berner Patriziat als eine Art «Jugendparlament». Von 1804 bis 1848 versammelte sich im «Äusseren Stand» jeweils die Tagsatzung, eine Art Kongress von Kantonsvertretern, vor 1848 das einzige gemeinsame Entscheidungsorgan auf schweizerischer Ebene. 1831 kam es im Kanton Bern und in vielen anderen Kantonen zu einer unblutigen Revolution. Europa brodelte. Die französische Julirevolution hatte im Jahr zuvor die Bourbonen vom Thron gefegt, in Belgien, Polen und einigen italienischen Stadtstaaten rüttelten bürgerliche Revolutionäre an der Macht, in Deutschland begann 1830 der Vormärz. Auch in Bern übernahm das aufstrebende Bürgertum die Macht, der Abstieg der alten Aristokratie beschleunigte sich. Im «Äusseren Stand» wurde damals die erste liberale Verfassung des Kantons Bern ausgearbeitet, und hier wurden die Weichen gestellt, um die bürgerliche Revolution in der ganzen Schweiz durchzusetzen. Die Tagsatzung von 1847 beschloss, den reaktionären Sonderbund gewaltsam aufzulösen. Nach dem kurzen Bürgerkrieg vom November 1847 («Sonderbundskrieg») schrieben die Sieger hier die Bundesverfassung von 1848. Sie machte die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat, in dessen Anfängen sich die kleine Kammer des Parlamentes, der Ständerat, ebenfalls in diesem Haus versammelte. So erinnerten die drei Nachbarhäuser des Volkshauses, notiert Grimm, an die Kämpfe der mittelalterlichen Zunfthandwerker gegen das Patriziat, an die Reformation und an die bürgerliche Revolution: «Jeder dieser Zeitabschnitte bedeutet den Sieg der einen Klasse über die andere, mit dem jeweiligen Endresultat der Etablierung der wirtschaftlich fortgeschritteneren Schicht als politisch herrschende Klasse. Alle geschichtlichen Gründe sprachen daher für die Beibehaltung der bisherigen Lage, indem hier auf engem Raume die historische Entwicklung, die den endlichen Sieg der Arbei- 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 25 WIE ALLES BEGANN 25 13.10.20 15:20 terklasse verbürgt, wie durch die Überreste des Dominikanerklosters und durch das Standesratshaus nun auch im neuen Volkshaus ihre sinnbildliche Darstellung auf Jahrhunderte hinaus erfährt.»1 Grimm verwies auch darauf, dass «im nachmaligen Volkshause (…) vor der zweiten bernischen Verfassung von 1846 die revolutionären Radikalen ihren Sitz aufgeschlagen hatten» und ihr Anführer, der spätere Bundesrat Jakob Stämpfli (1820–1879) dort sein Organ drucken liess. 1848 gründete sich zudem die Landesorganisation der deutschen Arbeitervereine in der Schweiz ebenfalls in diesem Gebäude.2 Als Delegierter des deutschen Arbeitervereins in Lausanne nahm an dieser Versammlung auch Friedrich Engels (1820–1895) teil.3 Der Drucker Robert Grimm hatte seinen Marx gelesen. Im revolutionären Aufstieg des Bürgertums gegen die Aristokratie erkannte er ein Modell für die Revolution der Arbeiter*innen. 1 Grimm, Robert: «Das neue Volkshaus in Bern», in: Grütlikalender 23 (1915), S. 26 f. 2 Ebd., S. 26. [Mandat des 3 Lausanner Arbeitervereins für Friedrich Engels zum Arbeiterkongress in Bern], in: Marx-EngelsWerke, Bd. 6, Berlin: Dietz 1961, S. 574–575. Grimms Betrachtungen zum Volkshaus und seiner geschichtsträchtigen Umgebung belegen, dass er Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels gelesen hatte und deren Historischen Materialismus in seinen eigenen Schriften anwandte. Die Arbeiterklasse, davon war Grimm überzeugt, werde in absehbarer Zeit die Macht im Staat übernehmen und den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft einleiten, so wie zwischen 1798 und 1848 sich das damals revolutionäre Bürgertum gegen die Aristokratie durchgesetzt und dem Industriekapitalismus und der liberalen Demokratie zum Durchbruch verholfen hatte. Grimms Blick in die Zukunft erscheint mehr als hundert Jahre später gewiss als zu optimistisch. Allerdings erlebte die Arbeiterbewegung in den Jahrzehnten vor 1914 in ganz Europa tatsächlich einen spektakulären Aufstieg. Gerade in der Stadt Bern war diese Entwicklung offensichtlich. Die in der Arbeiterunion zusammengeschlossenen Berner Sektionen der Gewerkschaftsverbände und der Sozialdemokratischen Partei waren in den Jahrzehnten vor 1914 zu einem zentralen Machtfaktor in der Stadt geworden. Gehörten 1891 nur drei von insgesamt 80 Mitgliedern des Berner Stadtrats (Parlament) der Sozialdemokratischen Partei an, waren es im Jahr 1900 bereits 25, und 1913 war die sozialdemokratische Vertretung im Berner Stadtparlament auf 35 Mitglieder angewachsen. Erstmals 1909, und dann wieder ab 1915 bildeten die Sozialdemokraten im Berner Stadtparlament die stärkste Fraktion. Auch in die damals neunköpfige Stadtregierung (Gemeinderat) hielt bereits 1895 ein Sozialdemokrat Einzug, der 26 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 26 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 7 [OBEN] Faksimile: Robert Grimms Artikel im «Grütlikalender 1915». [UNTEN] VOR DEM VOLKSHAUS WAR DAS … VOLKSHAUS. ABB. 8 1893 gelang es den Berner Arbeiter*innen, das erste Haus des Volkes in der Schweiz einzurichten, wo sie sich ungestört versammeln konnten. Am Tag der Arbeit, wie hier am 1. Mai 1910, zogen sie mit Fahnen und Tafeln durch die Stadt zur Zeughausgasse 9. An derselben Stelle, erweitert um Nachbarliegenschaften, entstand 1914 das neue, grosse Volkshaus. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 27 WIE ALLES BEGANN 27 13.10.20 15:20 3 4 1 5 2 28 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 28 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 9 DAS VOLKSHAUS IM HERZEN BÜRGERLICHER MACHT Die Stadt Bern um 1907 1 Volkshaus 2 Bundeshaus 3 Französische Kirche 4 Äusserer Stand 5 Zunfthaus zu Schmieden 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 29 WIE ALLES BEGANN 29 13.10.20 15:20 Notar und spätere Stadtpräsident Gustav Müller (1860–1921). Vier Jahre später stellte die SP schon zwei, und ab 1911 drei Regierungsmitglieder.4 Zudem verfügte die Berner Sozialdemokratie mit der «Berner Tagwacht» seit 1893 über ein eigenes Presseorgan, das ab 1906 täglich erschien. Gedruckt wurde die «Tagwacht» in der eigenen Unions druckerei. Derweil trug die Bäckereigenossenschaft der Arbeiterunion Bern wesentlich dazu bei, dass dieses Grundnahrungsmittel zu erschwinglicheren Preisen erworben werden konnte. Auch die Gewerkschaften konnten bereits vor 1914 beträchtliche Erfolge im Kampf für Arbeitszeitverkürzungen, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen vorweisen. Im Unterschied zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren damals Streiks auch in der Schweiz recht häufig. Allein in der Region Bern kam es zwischen 1880 und 1914 zu 136 Arbeitskämpfen.5 WAS IST EIN VOLKSHAUS? Das erste bekannte Volkshaus entstand 1872 in Jolimont in der von der Montanindustrie geprägten belgischen Provinz Hainaut. Von Belgien aus breitete sich die Institution der Volkshäuser in andere Länder aus, vor allem nach Italien, Skandinavien und in die Schweiz. Kino, Dampfbad, Bibliothek: Volkshäuser sind im besseren Fall viel mehr als Sitzungssäle plus Restaurant. Sie sind Lebenszentren, Orte der Arbeiter*innenkultur. 4 Bähler, Anna, et. al (Hg.): Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur, Bern: Stämpfli 2003, S. 338–342. 5 Hirter, Hans: «Die Streiks in der Schweiz in den Jahren 1880–1914: Quantitative Streikanalyse», in: Gruner, Erich (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914, Bd. 2, S. 861. Zweck aller Volkshäuser war es, für die unterschiedlichen Organisationen der Arbeiterbewegung und ihre Mitglieder ein lokales Zentrum zu schaffen. In so gut wie allen Volkshäusern fanden sich Versammlungsräume und ein Restaurant. Darüber hinaus variierten die Angebote von Ort zu Ort stark. Oft befanden sich zudem die Sekretariate der lokalen Gewerkschaftssektionen und eine Bibliothek im Volkshaus. Kulturelle Einrichtungen konnten von Übungsräumen für Kulturvereine bis hin zu Theaterbühnen und Kinos reichen. In einigen Volkshäusern hatten sich Ladenlokale und Lagerräume genossenschaftlicher Betriebe etabliert. Mancherorts, so auch im Volkshaus Bern, konnte man nächtigen und eine öffentliche Badeanstalt mit Duschen und Badewannen benutzen – in jener Zeit waren solche Installationen nur sehr selten in Wohnungen anzutreffen, die für die breite Bevölkerung erschwinglich waren. 30 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 30 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 In Volkshäusern wurden nicht nur Pläne für eine gerechtere Welt geschmiedet. Sie waren der Ort, wo die Arbeiterschaft ihre eigene Kultur lebte und wo sie sich ihres gemeinsamen Klassenbewusstseins versicherte. DIE ENTSTEHUNG DER BERNER ARBEITERBEWEGUNG Auf den ersten Blick überrascht, dass in der Stadt Bern eine starke Arbeiterbewegung entstanden war. Bern gilt als eine Beamtenstadt und Zentrum eines landwirtschaftlich geprägten Kantons. Dieses Klischee hält keiner Prüfung stand. So kann man irren: Bern wuchs als Stadt der Industrie. Und das Berner Proletariat wusste, was es wollte. 6 Lüthi, Christian: «Wachstum in schwierigem Umfeld. Die wirtschaftliche Entwicklung im Spiegel der wichtigsten Branchen und Firmen», in: Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur, Bern: Stämpfli Verlag AG 2003, S. 58–77. 7 Cronin, James E.: «Labor Insurgency and Class Formation. Comparative Perspectives on the Crisis of 1917–1920 in Europe», in: Social Science History 4,1 (1980), S. 130 und 137–144. 8 Fritzsche, Bruno: «Bern nach 1800», in: Berner Zeitschrift für Geschichte 53,1–2 (1991), S. 79–98; Lüthi, Christian: «Die Spinnerei Felsenau 1864–1975. Ein wichtiges Kapitel der industriellen Vergangenheit Berns», in: Berner Zeitschrift für Geschichte 64,2 (2002), S. 49–99. Tatsächlich arbeitete seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Bern ein ähnlich hoher Anteil der Bevölkerung in Industriebetrieben wie in allen anderen grossen Schweizer Städten. Die frühen, von Wasserkraft angetriebenen Fabriken waren vor allem entlang von Wasserläufen und damit häufig auf dem Land entstanden. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, das den Kohleimport verbilligte, und vor allem mit der beginnenden Elektrifizierung verringerte sich die Abhängigkeit der Industrie von Flüssen, Bächen und Stauseen. Neue, stärker mechanisierte und grössere Fabriken siedelten sich in den städtischen Zentren oder in deren Nähe an. Fabriken der Textilbranche, der Maschinen- und Metallindustrie sowie der Nahrungs- und Genussmittelindustrie machten bald Berns neuen Reichtum. Mit Ausnahme des überwiegend bürgerlichen Stadtteils Kirchenfeld-Schosshalde waren alle neuen Aussenquartiere Berns stark von Fabriken und den dort arbeitenden Arbeiterinnen und Arbeitern geprägt.6 Aus den Fabriken wurden Firmen mit klingenden Namen wie Hasler, Tobler, Wander oder Wifag. Arbeitende aus der Bauindustrie, dem handwerklichen Gewerbe und den Verkehrs-, Kommunikations- und Infrastrukturbetrieben mehrten dieses oft schlecht bezahlte, aber selbstbewusste Proletariat. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert trieb die Industrialisierung überall in Europa das starke Wachstum der Städte an.7 Die Bevölkerung der Stadt Bern verdoppelte sich zwischen 1880 und 1910 von 44 087 auf 90 937 Einwohnerinnen und Einwohner.8 Just in dieser Zeit rasanter wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche konnte sich in der Bundesstadt auch eine 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 31 WIE ALLES BEGANN 31 13.10.20 15:20 [OBEN] Männer conchieren die SchokoladeABB. 10 Masse mithilfe einer Walzenreibmaschine, 1906. [LINKS] Frauen wickeln die fertige ABB. 11 Schokolade unter Aufsicht einer Vorarbeiterin ein (1910). 32 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 32 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 12 / ABB. 13 Ihre Geschäftstätigkeit begonnen hat die Firma Wander 1865 in einem Laboratorium in der Berner Altstadt. Dem Apotheker Georg Wander gelang es als Erstem, Malzwürze durch ein spezielles Vakuumverfahren haltbar zu machen. Aus diesem Malzextrakt entstand 1904 die berühmte Ovomaltine, welche bis 1927 am Standort an der Holzikofenstrasse in Bern produziert wurde [LINKS]. Am selben Standort befand sich auch die Verpackungsabteilung [OBEN]. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 33 WIE ALLES BEGANN 33 13.10.20 15:20 ABB. 14 34 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 34 Die 1.-Mai-Demonstration 1892 auf dem Berner Waisenhausplatz. WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 eigenständige, starke und schlagkräftige sozialistische Arbeiterbewegung etablieren. Ihre ersten Vorläufer waren schon in den 1840er-Jahren aktiv. Damals entstanden in Bern lokale Ableger der deutschen Arbeiterbildungsvereine und des Grütlivereins. Auch von ersten gewerkschaftlichen Berufsvereinen finden sich Spuren in jenen Jahren. Von der Gründung der Ersten Internationale oder Internationalen Arbeiterassoziation in London 1864 gingen auch auf die schweizerische und bernische Arbeiterbewegung wichtige Impulse aus. Die Berner Sektion der Ersten Internationale regte die Gründung der Allgemeinen Arbeitergesellschaft Bern an. Sie war ein lokaler Dachverband verschiedener Arbeitervereine. Dieser Vorläufer der späteren Arbeiterunion Bern geriet aber bald unter den Einfluss des sozialreformerischen Flügels des Freisinns. Dass die frühen Arbeiterorganisationen oft den linken Flügel des Freisinns bildeten, erklärt sich unter anderem damit, dass der Kampf für die politische Demokratisierung und die bürgerlichen Freiheitsrechte gerade auf kommunaler Ebene noch lange nach der Gründung des Bundesstaats 1848 weiterging. Erst Ende der 1880er-Jahre gelang es einem Bündnis von Freisinnigen und Arbeitervereinen, die Vormacht der konservativ-aristokratischen Kräfte in der Stadt Bern zu brechen und das kommunale Stimmrecht auf den Grossteil der niedergelassenen männlichen Schweizerbürger auszuweiten.9 Danach trennten sich die Wege von Freisinn und Sozialdemokratie endgültig. In den grösseren Städten und Industrieorten der Schweiz schlossen sich die verschiedenen gewerkschaftlichen, politischen und kulturellen Arbeitervereine zu Arbeiterunionen zusammen. Sie bildeten auf lokaler Ebene bis nach dem 1. Weltkrieg den organisatorischen Kern der Arbeiterbewegung. Erst 1932 teilte sich die Arbeiterunion in der Stadt Bern in das Gewerkschaftskartell und die Sozialdemokratische Partei der Stadt Bern auf.10 9 Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830–1914, Zürich: Orell Füssli 1995, S. 574–622 und 691–693; Rieder, Katrin: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich: Chronos 2008, S. 58–60; Aemmer, Robert Walter: Die Sozialdemokratie im Kanton Bern 1890–1914, Zürich: Juris 1973, S. 261–263. 10 Keller, Willy: 175 Jahre Geschichte der schweizerischen und bernischen Arbeiterbewegung, 1800–1975. Wegleitung, Bern: Arbeiterbildungsausschuss der Stadt Bern 1975, S. 54–55. 11 Gruner, Erich: Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Soziale Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat, Bern: Francke 1968, S. 791–792; ders.: «Die Arbeiterunionen (AU) als gewerkschaftlich-parteipolitische Zwittergebilde», in: ders.: Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914, Bd. 2, S. 779–781, 803–805. In der Schweizer Hauptstadt bestand seit 1875 eine Dachorganisation, die verschiedene Gewerkschaften und politische Arbeitervereine umfasste. Allerdings war sie in den ersten Jahren organisatorisch noch wenig gefestigt, was auch in ihren wechselnden Namen zum Ausdruck kam. Zwischenzeitlich nannte sich die Arbeiterunion auch Sozialdemokratische Partei Bern und Allgemeiner Arbeiterverein Bern, bevor sie ab Juni 1890 definitiv als Arbeiterunion auftrat. Sie stellte mit dem Arzt Nikolaus Wassilieff (1857–1920) den ersten vollamtlichen lokalen Arbeitersekretär an.11 Dass Berner Arbeiter einen aus Russland geflüchteten Intellektuellen zu ihrem Sekretär wählten, mag zunächst überraschen. Doch Migrantinnen und Migranten spielten in der schweizerischen Arbeiterbewegung von Anfang an eine wichtige Rolle. Vorläufer der modernen Arbeiterbewegung waren die seit den 1830er-Jahren in 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 35 WIE ALLES BEGANN 35 13.10.20 15:20 DER ERSTE SEKRETÄR DER BERNER ARBEITERUNION Nikolaus Wassilieff wuchs in St. Petersburg als Sohn eines Sinologen auf. Er begann ein Studium der Agronomie und schloss sich der revolutionären Bewegung gegen den Zaren an. Während eines Textilarbeiterstreiks wurde er 1878 verhaftet und in den hohen Norden Russlands verbannt. Doch es gelang ihm, aus der Verbannung in die Schweiz zu fliehen, wo er in Bern ein Medizinstudium abschloss und 1888 in Muri (BE) eingebürgert wurde. 1890 wählte ihn die Arbeiterunion Bern auf den neu geschaffenen Posten eines Arbeitersekretärs. In dieser Funktion unterstützte Wassilieff ratund hilfesuchende Arbeiterinnen und Arbeiter, organisierte Weiterbildungskurse und gründete zahlreiche Gewerkschafts- und sozialdemokratische Parteisektionen. Er war massgeblich an der Entstehung des Berner Volkshauses beteiligt. 1893 wurde er für den Käfigturmkrawall verantwortlich gemacht und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. 1900 zog Wassilieff nach Basel, wo er ebenfalls das lokale Arbeitersekretariat leitete. Nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen in Russland (1905–1907) kehrte er nach St. Petersburg zurück. 1917 fiel die Zarenherrschaft. Wassilieff bekleidete Leitungsfunktionen in der russischen Konsumgenossenschaftsbewegung und stand als Anhänger der Gruppe «Einheit» um den Mitgründer der russischen Sozialdemokratie, Georgi Plechanow, in Opposition zur Regierung von Lenin und Trotzki. ABB. 15 NIKOLAUS WASSILIEFF * 10. August 1857 (St. Petersburg) † April 1920 (St. Petersburg) 36 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 36 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 der Schweiz tätigen deutschen Arbeitervereine. So stammte etwa Herman Greulich (1842–1925), die prägendste Gestalt der frühen Jahre, ursprünglich aus Deutschland. Vor dem 1. Weltkrieg bestand in Europa eine weitgehende Personenfreizügigkeit. Die Schweiz wandelte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vom Aus- zum Einwanderungsland. Gemäss der Volkszählung von 1910 waren 14,7 % der Wohnbevölkerung des Landes ausländische Staatsangehörige, ein Wert, der erst 1970 wieder überschritten wurde. Da in dieser Zahl die Saisonarbeitenden nicht inbegriffen waren und die Schweiz damals eine weit offenere Einbürgerungspraxis kannte als heute, dürfte der Wert von 1910 zudem eher zu tief angesetzt sein. Migranten spielten in der Schweizer Arbeiterbewegung immer eine wichtige Rolle. Das hat die Gewerkschaften stark gemacht. Bern wies als einzige der grösseren Städte 1910 einen unterdurchschnittlichen Ausländeranteil von 10,8 % auf. Dies lag wohl daran, dass Bern weiter von den Landesgrenzen entfernt lag als andere Städte, und dass Arbeitskräfte auch in der noch stark landwirtschaftlich geprägten weiteren Umgebung der Stadt rekrutiert werden konnten. In Zürich lag der Ausländeranteil dagegen bei 33,8 %, in Basel bei 37,8 % und in Genf sogar bei 42,0 %. Der grösste Teil der ausländischen Wohnbevölkerung stammte aus den Nachbarstaaten der Schweiz.12 Deutsche arbeiteten oft in Metall- und Holzberufen, Italiener im Bauhauptgewerbe und besonders im Eisenbahn- und Tunnelbau. Aus dem russischen Zarenreich kam die fünftgrösste Ausländergruppe in der Schweiz. Sie wanderten meist nicht aus wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz ein. Rund ein Viertel von ihnen studierten an einer schweizerischen Universität. So waren 1913 fast ein Fünftel der an der Universität Bern eingeschriebenen Studierenden russischer Herkunft. Viele von ihnen waren politische Flüchtlinge, die häufig einer der russischen sozialistischen Parteien nahestanden.13 Wie Wassilieff wurden einige der Flüchtlinge aus dem Zarenreich auch in der schweizerischen Arbeiterbewegung aktiv. Diese aktive Rolle immigrierter Arbeitender sollte auch in späteren Jahren eine prägende Konstante der Schweizer Gewerkschaftsbewegung bleiben. Immigrierte Werktätige brachten vielfach ein hohes politisches Bewusstsein und viel Organisationserfahrung in die Gewerkschaften ein. Das führte vor allem in den Boomjahren nach dem 2. Weltkrieg mitunter zu Spannungen und Konflikten innerhalb der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung. Aber das ist eine andere Geschichte. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 37 WIE ALLES BEGANN 12 Gruner, Erich, Wiedmer, Hans-Rudolf: Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914, Bd. 1, Zürich: Chronos 1987, S. 239–272; Bähler, Anna, Lüthi, Christian: «Unterschiedliche Lebensweisen auf engstem Raum. Aspekte des gesellschaftlichen Wandels», in: Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur, Bern: Stämpfli Verlag AG 2003, S. 236–241. 13 Gruner, Erich: «Anarchismus, Emigranten und die Zweite Internationale», in: ders., Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914, Bd. 3, Zürich: Chronos 1988, S. 461–486. 37 13.10.20 15:20 DAS ALTE VOLKSHAUS Von Anfang an war in der Arbeiterunion die Suche nach geeigneten Vereinslokalen ein Dauerthema. Manchmal verweigerten Berner Wirte den Arbeiterorganisationen ihre Säle aus politischen Gründen. In der Praxis noch hemmender waren finanzielle Hindernisse. Die dauerhafte Miete von Vereinslokalen stellte eine erhebliche Belastung für die Finanzen der noch wenig gefestigten Organisationen dar. Nutzte ein Verein ein Versammlungslokal in einer Gastwirtschaft nur punktuell, bestand dagegen in der Regel ein Konsumationszwang. Also unternahmen die Arbeiterunion Bern und ihre Vorläuferorganisationen verschiedene Anläufe, ein eigenes Gebäude zu kaufen. Vorerst aber scheiterten diese allesamt.14 Erst als sich die Arbeiterbewegung gegen Ende der 1880er-Jahre organisatorisch etwas gefestigt hatte, gelang es ihr, die Suche nach eigenen Lokalitäten auf eine solidere Grundlage zu stellen. Die Gründung begann mit einem Idyll an der Aare. Drei Sozialdemokraten schlenderten nach Hause und fassten den Plan für ein Volkshaus. Sie legten ihr Geld zusammen – es wurden 1½ Franken. 1888 begann im Allgemeinen Arbeiterverein, der späteren Arbeiterunion Bern, eine Geldsammlung für einen Baufonds. Darf man Robert Grimm glauben, ging der Grundstock für diesen Fonds auf eine spontane Idee von drei heute weitgehend vergessenen Pionieren der Berner Sozialdemokratie zurück: «Die Gründungsgeschichte des Berner Volkshauses (…) beginnt mit einer kleinen Idylle, der etwas Romantisches anhaftet. In einer lauen Sommernacht, eben von einer Versammlung heimkehrend, schlenderten drei Genossen dem rechten Aareufer entlang, ihrer Wohnung zu. Man unterhielt sich über die kommenden Aufgaben und über die Mittel zu ihrer Erfüllung. Immer wieder kehrte der eine Gedanke in den Gesprächsstoff: ‹Wir brauchen einen Zentralpunkt, von dem alle Kräfte ausströmen, wenn wir mit unserer Arbeiterbewegung in Bern vorwärts kommen wollen.› Man riet hin und her, wie das Ziel wohl zu erreichen wäre und verhehlte sich keineswegs die enormen Schwierigkeiten. Dann nahmen alle drei Kopf und Herz fest zusammen und der glühenden Liebe zur gemeinsamen Sache entsprang der Vorschlag, noch am gleichen Abend den ersten Schritt zu tun, den Stein ins Rollen zu bringen. 14 Zingg, Karl: Das Berner Volkshaus 1914–1964. Jubiläumsschrift, Bern 1964, S. 6 ff. 38 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 38 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 16 An der Zeughausgasse 9 entstand 1893 in Bern das erste Volkshaus der Schweiz. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 39 WIE ALLES BEGANN 39 13.10.20 15:20 DER VORDENKER DER SCHWEIZER ARBEITERBEWEGUNG ABB. 17 ROBERT GRIMM * 16. April 1881 (Wald ZH) † 8. März 1958 (Bern) 40 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 40 Robert Grimm war während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der wichtigste Anführer und Vordenker der Arbeiterbewegung in Bern und in der Schweiz. Grimm wuchs in einer Arbeiterfamilie im Zürcher Oberländer Industriedorf Wald auf. Nach einer Buchdruckerlehre in Oerlikon arbeitete er während seiner Wanderjahre als Schriftsetzer und Maschinenmeister an verschiedenen Orten in der Schweiz und den umliegenden Ländern. Dabei geriet er als gewerkschaftlicher Aktivist auf die «schwarze Liste». Er machte die Arbeiterbewegung zu seinem Beruf. Nach einigen Jahren als Basler Arbeitersekretär leitete er von 1909 bis 1918 die Redaktion der «Berner Tagwacht». Von 1911 bis 1919 und wieder von 1920 bis 1955 gehörte er dem Nationalrat, der grossen Kammer des Parlamentes, an. Im Ersten Weltkrieg machte er die «Tagwacht» zum international beachteten Organ der sozialistischen Opposition gegen den Krieg, denn Grimm war der organisatorische Kopf der Zimmerwalder Bewegung. 1918/19 präsidierte er das Oltener Aktionskomitee, das den Generalstreik anführte. Wegen einer Passage im Streikaufruf, welche die Soldaten aufforderte, nicht auf Streikende zu schiessen, verurteilte ihn ein Militärgericht im Landesstreikprozess vom Frühling 1919 zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe. Die Haftzeit nutzte er zum Verfassen seiner «Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen». 1918–1938 gehörte er dem Berner Gemeinderat an, 1938–1946 zusammen mit Georges Moeckli als erste Sozialdemokraten dem Regierungsrat des Kantons Bern. Während des Zweiten Weltkriegs leitete er die Sektion «Kraft und Wärme» der schweizerischen Kriegswirtschaft, 1946–1953 war er Direktor der Bern-Lötschberg-SimplonBahn. Auf internationaler Ebene war er von 1920 bis 1923 Mitglied des Exekutivkomitees der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP) und 1926–1940 des Exekutivkomitees der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI). WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 Jeder steuerte ein Scherflein bei und so gering die Summe war, begab man sich andern Tages doch freudig zum Vorstand der Arbeiterunion und überbrachte ihm als ersten Baustein für das zu gründende Volkshaus den Ertrag der nächtlichen Dreierkollekte. Es waren anderthalb Franken, aber es war der Anfang und die Genossen Samuel Scherz, Grossrat, Friedrich Schmied, Stadtrat, und Emil Wyss, Beamter der bernischen Staatskanzlei, – das waren also die eigentlichen Gründer des Volkshauses – hatten damit den Grundstock gelegt, nicht nur für das alte Volkshaus, das die bernische Arbeiterschaft jahrelang recht und schlecht beherbergte, sondern auch für den neuen stolzen Bau, dessen trutzige Fassade schon von weitem grüsst.»15 Ob der Grundstock zur Finanzierung des Volkshauses wirklich auf diese Weise zustande kam, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Fest steht, dass am 24. Februar 1889 ein Baufonds Tatsache war und bereits einen Betrag von 1100 Franken enthielt. Damals sprach der spätere städtische Arbeitersekretär Nikolaus Wassilieff vor den vereinigten Vorständen der Arbeitervereine. Wassilieff regte an, dass die Arbeiterorganisationen ein gemeinsames Vereinshaus gründen sollten. Ihm schwebte die Übernahme eines Gebäudes mit einem grossen Saal für mindestens 1000 Personen, einer Wirtschaft, einer Bibliothek mit Lesezimmer sowie Klubzimmern vor. Dem Baufonds flossen unter anderem Mittel aus Vereinsfesten und dem «Konsum der Arbeiterunion» zu, einem Geschäft, das Zigarren, Seife und Papeteriewaren verkaufte.16 Für ihr grosses Vorhaben, ein Haus des Volkes zu schaffen, unternahm die Arbeiterunion auch Vorstösse auf politischer Ebene. Die leerstehende Alte Kavalleriekaserne am Bollwerk erschien als geeignetes Gebäude. Eine entsprechende Eingabe der Baufondskommission verlief im Sommer 1892 allerdings erfolglos.17 Im Herbst 1892 lancierte die Arbeiterunion eine Volksinitiative für ein Volkshaus. Interessanterweise verlangte die Initiative nicht, das künftige Volkshaus solle allein den Arbeitervereinen dienen. Vielmehr schlug sie eine auf beide Arbeitsmarktparteien abgestützte Trägerschaft vor: Neben dem Arbeitersekretariat sollten im künftigen Volkshaus auch das Gewerbesekretariat und die paritätischen Arbeitsgerichte untergebracht werden. Trotz dieser auf die Beruhigung der sozialen Konflikte abzielenden Stossrichtung wurde dieses ambitionierte Projekt in der Volksabstimmung vom 4. März 1894 allerdings deutlich mit 2508 Nein- gegen 1483 Ja-Stimmen abgelehnt. Eigentlich kam dies wenig überraschend. Denn inzwischen hatte der Käfigturmkrawall vom 19. Juni 1893 zu einer starken Polarisierung zwischen der Arbeiterbewegung und den bürgerlichen Kräften in der Stadt Bern geführt. So kündigte die Stadt unter anderem den Mietvertrag des Arbeitersekretariats, das in einer städ- 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 41 WIE ALLES BEGANN 15 Grimm: Volkshaus, S. 24. 16 Zingg: Berner Volkshaus, S. 11 f. 17 Grimm: Volkshaus, S. 24 f. 41 13.10.20 15:20 ABB. 18 Im Schweizer Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg) erstürmten Zürcher Bataillone 1847 den Rooterberg bei Gisikon. 42 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 42 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 DER KÄFIGTURMKRAWALL ABB. 19 Vierzig teils schwer Verletzte forderte 1893 die Niederschlagung des Berner Käfigturmkrawalls durch Armee, Polizei und Bürgerwehr. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 43 Am 19. Juni 1893 versammelten sich auf dem Berner Bahnhofplatz um die 50 Männer, grösstenteils arbeitslose Bauhandlanger. Sie marschierten ins Kirchenfeldquartier, das gerade gebaut wurde. Dort begannen sie, mit Gewalt italienische Arbeiter von den Baustellen zu vertreiben. Die Polizei griff ein und verhaftete 14 Demonstranten, darunter auch einige, die sich nicht an den Ausschreitungen beteiligt hatten. Sie wurden in den Käfigturm gebracht, damals noch ein städtisches Gefängnis. Eine aufgebrachte Menge versuchte sie zu befreien. Es folgten heftige Zusammenstösse mit der Polizei, mit einer Bürgerwehr und der von der Stadtregierung zur Unterstützung angeforderten Armee. 40 Personen wurden zum Teil schwer verletzt, 80 weitere Personen verhaftet.18 Die Bürgerlichen und vor allem ihr rechter Flügel, der im «Einwohnerverein» organisiert war, schoben der Arbeiterbewegung und in erster Linie Arbeitersekretär Nikolaus Wassilieff die Schuld an den Unruhen zu. Wassilieff wurde zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, in zweiter Instanz wurde die Strafe auf drei Monate Gefängnis reduziert. Tatsächlich waren die Proteste aber von nicht organisierten Arbeitern ausgegangen, und Wassilieff hatte sich wiederholt gegen Angriffe auf italienische Arbeiter ausgesprochen. Er machte die bürgerliche Stadtratsmehrheit für den Krawall verantwortlich. Sie habe die gewerkschaftliche Organisation der Bauhandlanger und deren Arbeitslosenkasse durch die Gründung einer städtischen Arbeitslosenkasse bewusst geschwächt.19 Der Krawall und seine einseitige juristische Aufarbeitung vertieften die Gegensätze zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum in der Stadt Bern. tischen Liegenschaft an der Predigergasse untergebracht war. Bereits im Oktober 1893 konnte das Arbeitersekretariat allerdings an der Zeughausgasse 9, also an der Adresse des künftigen Volkshauses, neue Büroräumlichkeiten beziehen. Möglich wurde dies, weil diese Liegenschaft seit kurzem dem Grütliverein der Stadt Bern gehörte, der damals finanzstärksten Mitgliedsorganisation der Arbeiterunion. Der Grütliverein suchte seit langem nach einem ständigen Vereinslokal. Nachdem ihr das bisherige Vereinslokal im «Metropol» gekündigt worden war, entschloss sich die Sektion im Frühjahr 1892, ein eigenes Haus zu erwerben. Ein Mitglied schrieb dazu: 18 Budminger, Samuel: Die «Italienerfrage» um 1893. Analyse der zeitgenössischen Diskussion über die italienischen Arbeitskräfte in der Schweiz im Anschluss an den Käfigturmkrawall von Bern 1893, Bern: Masterarbeit 2010. «Es existiert zwar bereits ein Baufonds der Arbeiterunion Bern zur Erwerbung eines eigenen Vereinshauses mit grossem Saal, wozu auch der Grütliverein erhebliche Beiträge liefert. Aber die Realisierung dieses Unternehmens steht noch in weiter Ferne. Und da die Sektion Bern während dieser Zeit vielleicht noch 19 Wassilieff, Nikolaus: Die Arbeiterunion Bern, das stadtbernische Arbeitersekretariat und die Vorgänge am 19. Juni 1893/ Vortrag […] gehalten am 25. und 30. August und 5. September [1893], Bern: Neukomm & Zimmermann 3. Aufl. 1894, S. 20. WIE ALLES BEGANN 43 13.10.20 15:20 einige Mal den Bündel schnüren könnte, ist für sie die Vertröstung auf jenes allgemeine Arbeiter-Vereinshaus ein Wechsel auf allzu lange Sicht.»20 Schliesslich erwarb der Grütliverein Bern am 28. April 1893 die Liegenschaft an der Zeughausgasse 9, von der in diesem Buch die Rede ist, vom freisinnigen Nationalrat Rudolf Häni (1833–1896) und dessen Schwester. Der Kaufpreis betrug 195 000 Franken. Berücksichtigt man die seitherige Lohnentwicklung, entspricht dies einem Wert von 9 345 000 Franken im Jahr 2009.21 Von Anfang an dabei war ein auch in Zukunft wichtiger kommerzieller Partner: Johann Juker (1839–1896), Gründer und Besitzer der Gurtenbrauerei, übernahm einen Teil der Kosten für den Kauf und den geplanten Umbau des Gebäudes. Vorerst betrieb der bisherige Pächter die bereits bestehende Wirtschaft weiter. Als Vereinslokale standen ein relativ kleiner Versammlungsraum und einige Zimmer zur Verfügung. Dies sollte sich schnell ändern. Im Grütliverein setzte sich die jüngere, sozialdemokratisch orientierte Richtung um Notar Gottfried Borle (1860–1948) durch. Diese wollte im Unterschied zur älteren freisinnigen Fraktion um Arnold Lang nicht eine «Heimstätte für den Grütliverein allein» errichten, sondern «die Erstellung eines Hauses, in dem eine möglichst grosse Zahl Arbeitervereine untergebracht werden könnte».22 Um dieses Ziel zu realisieren, begann im Herbst 1894 der Umbau. In der zuständigen Baukommission war neben dem Grütliverein auch die Arbeiterunion vertreten. Zudem wurde der Betrieb des Volkshauses, wie es sich jetzt offiziell nannte, auf eine breitere Basis gestellt. Zu diesem Zweck gründeten die Träger am 30. Juni 1895 die «Aktiengesellschaft für ein Arbeitervereinshaus», die sich 1905 in «Aktiengesellschaft Volkshaus Bern» umbenannte. Hauptaktionäre waren der Grütliverein und die Arbeiterunion, die ihren Baufonds in die neue Gesellschaft einbrachte. Es war eine historische Tat: 1893–95 entstand das erste Volkshaus der Schweiz in Bern. 20 «Aus dem Vereinsleben. Bern», in: Grütlianer 41 (17.5.1892), Nr. 57, S. 2 [Rechtschreibung an die heutigen Regeln angepasst]. 21 Berechnet mit dem Historischen Lohnindex (HLI) auf der Seite www.swistoval.ch. 22 Borle, Gottfried: Das neue Volkshaus in Bern. Geschichtliches, Finanz-, Bau- und Betriebsberichte, Bern: Unionsdruckerei 1917, S. 3 f. Wie bei jedem Projekt dieser Grösse und Bedeutung stellten sich nach kurzer Zeit die alltäglichen Schwierigkeiten ein. Das Volkshaus im Pachtbetrieb zu führen, erwies sich als unbefriedigend. Mit dem ersten Pächter musste die Volkshaus-Gesellschaft nach seinem Abgang sogar einen jahrelangen Rechtsstreit führen. Deshalb ging man Anfang 1896 zum Regiebetrieb über. Die ersten angestellten 44 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 44 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 Geranten kamen selbst aus der Arbeiterbewegung. Sie brachten keine oder nur wenig Erfahrung im Führen eines Gastwirtschaftsbetriebs mit. Zur Ökonomie gesellte sich die Politik. Spannungen innerhalb der Arbeiterbewegung bewegten das Volkshaus. 1896 kam es zur Spaltung der Arbeiterunion. Um den Grütliverein bildete sich der konkurrierende Arbeiterbund Vorwärts. Doch im Volkshaus arbeiteten die beiden Dachorganisationen weiterhin zusammen und schliesslich kam es 1898 zur Wiedervereinigung. Dann wütete der Feuerteufel: Ein Brand im Jahre 1900 richtete erhebliche Schäden am Gebäude an. Danach besserte sich die Lage, das Volkshaus machte für einige Jahre bescheidene Gewinne. Das Ringen um die Subventionierung durch die Stadt jedoch hielt an. Mehrere Anläufe scheiterten. Eine Mehrheit für eine städtische Subvention versuchte man 1897 darüber zu erreichen, dass Subventionen gleichzeitig ans Volkshaus als auch an das von der Burgergemeinde geplante Casino fliessen sollten. Vergebens, Ende 1900 wurde eine Subvention in einer städtischen Volksabstimmung abgelehnt. Schliesslich kam 1903/04 erstmals eine städtische Subvention zustande. Sie wurde in der Form eines nicht verzinslichen Hypothekardarlehens von 50 000 Franken ausgerichtet.23 WACHSENDE AMBITIONEN: DER WEG ZUM NEUBAU VON 1914 Mit dem steigenden Bedarf der rasant wachsenden Arbeiterbewegung nach Sitzungs- und Sekretariatsräumen drängte sich das Projekt eines weit grösseren Betriebs auf. Zu klären war zuerst die Frage, ob ein Neubau an der Zeughausgasse oder einem weniger zentralen Ort mit tieferen Bodenpreisen errichtet werden sollte. Schliesslich fiel der Entscheid für den bisherigen Standort, der dafür aber erweitert werden musste. Die Volkshaus AG erwarb 1906 ein Vorkaufsrecht auf die Nachbarliegenschaft an der Zeughausgasse 11 («Continental»). Von dort aus sollte der Ausbau über den Erwerb weiterer Nachbarliegenschaften Richtung Marktgasse weitergeführt werden. So war es geplant, doch der schöne Plan scheiterte. Nun fasste die Volkshaus AG die auf der anderen Seite des Schützengässchens gelegenen Nachbarliegenschaften ins Auge. 1910 konnten vorerst die Häuser an der Zeughausgasse 11 und 13 erworben werden. Die Finanzierung des ambitionierten Projekts wurde eine komplexe Operation. Den Grundstock bildete eine Vervielfachung des Aktienkapitals von bisher 32 000 auf 250 000 Franken. Den grössten Teil der neuen Aktien übernahm die Arbeiterunion. Die Konsumgenossenschaft, die Unionsdruckerei, die Bäckereigenossenschaft, die 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 45 WIE ALLES BEGANN 23 Borle: Volkshaus, S. 5. 45 13.10.20 15:20 24 Borle: Volkshaus, S. 8–16. Maler- und Gipsergenossenschaft sowie der Arbeiterunion nahestehende Einzelpersonen zeichneten weitere Aktien. Auch die Gurtenbrauerei, die ein Hypothekardarlehen für den Neubau übernahm, und weitere Lieferanten stiegen ins Aktienkapital ein. All dies reichte noch nicht. Die Stadt wurde um eine Beteiligung gebeten. Am 23. April 1911 genehmigten die Stadtberner Stimmbürger mit 6265 gegen 3219 Stimmen eine Vorlage, die vorsah, den Neubau des Volkshauses über eine Verdoppelung des bisherigen zinslosen Darlehens und eine mit 4½ % verzinsliche Hypothek von 300 000 Franken zu unterstützen. Da über dieselbe Vorlage auch das bürgerliche Projekt Kursaal Schänzli mit der Übernahme einer gleich hohen Hypothek bedient wurde, liess sich eine Mehrheit für beide Projekte gewinnen. 1915, das Haus war schon eröffnet, bewilligten die Stimmberechtigten ein weiteres verzinsliches Darlehen. Auch diesmal stimmte man gleichzeitig über die Unterstützung eines bürgerlichen Projekts ab. Es ging um das 1913 eröffnete, von den Gewerbeverbänden und der freisinnigen Partei getragene Bürgerhaus. Wie beim Volkshaus war es auch bei diesem Bauprojekt zu massiven Kostenüberschreitungen gekommen. Der Neubau 1914 verlangte eine hochkomplexe und kühne Finanzoperation. Nur: All dies aber war nur der Beginn einer Zitterpartie. Man hatte hoch gepokert. Da weigerten sich unerwartet und trotz Unterstützung durch die Gurtenbrauerei und die Stadt drei Berner Banken – die Kantonalbank, die Volksbank und die Spar- und Leihkasse –, die weiteren Hypothekarkredite zu sprechen. Die Bauarbeiten hatten bereits begonnen, als sich die Volkshaus AG auf die Suche nach weiteren Kreditgebern machte. Diverse Anfragen für Hypotheken, sowohl bei nahestehenden Kreisen (schweizerische und deutsche Konsumgenossenschaften, beim Parteivorstand der SPD in Berlin) als auch bei Privatkapitalisten in Frankreich, der Westschweiz und Zürich, verliefen erfolglos. Schliesslich war die Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt bereit, zusammen mit der Schweizerischen Rückversicherungsanstalt einen Kredit von 1 Million Franken zu riskieren – und nun fanden auch die Berner Banken ihren Mut wieder, mit einem Kredit über 570 000 Franken. Die Genossenschaftsbäckerei, die Unionsdruckerei, die am VolkshausNeubau beteiligten Bauunternehmen und die Gurtenbrauerei mussten aber noch Bürgschaften leisten.24 Im Rückblick erscheint dieser Finanzierungsplan als kühn, vor allem wenn man bedenkt, dass mit den Bauarbeiten begonnen wurde, bevor alle Kredite standen. 46 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 46 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 20 Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie Chotek am 28. Juni 1914 in Sarajewo diente als Vorwand, den 1. Weltkrieg zu entfesseln. Die ersten Entwürfe für das neue Volkshaus wurden von den Architekten Paul Lindt und Max Hofmann ausgearbeitet. Im Herbst 1912 legten sie ein Projekt vor. Doch einige Mitglieder der zuständigen Instanzen der Volkshaus AG stellten sich quer, sie verlangten ein Projekt in modernerem Stil. Der junge Architekt Otto Ernst Ingold (1883–1943) präsentierte im Dezember 1912 einen Gegenentwurf. Ingold bekam den Zuschlag für die Planung und die Bauleitung des Neubaus. Die Bauausführung ging an ein Konsortium der drei Baufirmen Kästli, Glauser & Stucki und Müller. Anfang Mai 1913 begann der Abbruch der bisherigen vier Gebäude an der Zeughausgasse 9–15. Am 18. August 1913 konnte der Grundstein für den Neubau gelegt werden.25 Also knapp ein Jahr bevor sich grosse europäische und globale Verwerfungen mit Kanonendonner ankündigen sollten. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 47 WIE ALLES BEGANN 25 Borle: Volkshaus, S. 16–25, Crottet, Regula: Das Volkshaus in Bern. Architektur als Gesamtkunstwerk, phil.-hist. Liz.arb. Univ. Bern 2007, S. 15–18. 47 13.10.20 15:20 EXKURS ZUR ARCHITEKTUR (I): DER NEUBAU DES VOLKSHAUSES 1914 UND SEINE REZEPTION Bei der Eröffnung 1914 wird das Volkshaus als Denkmal und Musterbeispiel moderner Architektur gefeiert – kritische Einwände gibt es bezüglich der städtebaulichen Eingliederung. Nach dreijähriger Bauzeit wird das Volkshaus im Oktober 1914 feierlich eröffnet. Die Architektur des Neubaus ist ungewohnt und passt auf den ersten Blick nicht richtig ins Stadtbild – «für Bern ein künstlerisches Wagnis», schreibt etwa das «Berner Intelligenzblatt»26. In den vorangehenden Jahrzehnten hat man in der Berner Innenstadt vor allem mit Sandstein gebaut und auch moderne Bürogebäude im heimatlichen Stil alter Patrizierhäuser errichtet. Die Arbeiter bauten ihr Haus nun vollständig aus Eisenbeton, mit einer Fassade aus «Dreck und Eisen», wie es spöttisch hiess, und in einem Stil, der für Modernität stand und als mutige Reformarchitektur bezeichnet werden kann. Dreck und Eisen? Ja, schreibt die «Berner Tagwacht» und kontert: «Jawohl, aus Dreck und Eisen, aber das Eisen ist vorwiegend. Es hält den starken Bau zusammen, gleichsam als Symbol der Solidarität der starken Arbeiterschaft. So wie dieser Bau aus einem einzigen Guss besteht, muss auch die Arbeiterorganisation einig und geschlossen dastehen.»27 Die Architektur des Volkshauses wird nicht nur als bedeutende und identitätsstiftende Errungenschaft der Berner Arbeitervereine wahrgenommen, sondern auch als eine ausserordentliche technische und künstlerische Leistung. «(Ein) Werk des Friedens, bei dem der Wettstreit dahin ging, alles in ihm zu vereinigen, was Wissenschaft und Technik, Kunst und Handwerk schafften konnten»28 – mit diesen Worten lobt der Vizepolizeidirektor Karl Z´graggen den Neubau anlässlich der Pressebesichtigung von 1914. Auch aus Architekturkreisen erhalten der Bau und die architektonische Leistung viel Lob und Anerkennung. In der Zeitschrift «Das Werk» wird das Volkshaus gar als «Idealbeispiel moderner Architektur» präsentiert29. Das Neuartige bestand insbesondere in der Verwendung von Eisenbeton, einem damals nicht üblichen Baustoff im Hochbau. Die Fassade veredelte der Architekt Otto Ernst Ingold (1883– 1943) mit einer Schicht Vorsatzbeton, bevor er sie steinmetzartig bearbeiten liess, so dass der Eindruck einer Steinfassade entstand.30 Die Steinmetzarbeit an der Fassade und die vier aus Muschelkalkstein gegossenen Figuren stammen vom Bildhauer Bernhard Hoetger (1874–1949). 48 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 48 Der Berner Architekt Otto Ernst Ingold gehört zu den wichtigsten Vertretern der Reformarchitektur, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Historismus zu überwinden versuchte. Die Gewerkschaften setzten also auch architektonisch auf Fortschritt. Ingold behandelte Architektur als Gesamtkunstwerk. So zeichnet sich auch das Berner Volkshaus 1914 durch ein einheitliches, den Aussen- und Innenraum umfassendes Gestaltungskonzept aus, bei dem Elemente der Fassade im Innern an Wänden und Decken der grosszügigen Säle wieder auftauchen. Die künstlerische Ausstattung, für die Ingold vorwiegend Berner Maler, Bildhauer und Handwerker aus der GSMBA (Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten) beauftragte, ist beachtlich. Die «Nationalzeitung» schreibt, aus dem Volkshaus sei «während des Baus ein Palast geworden»31. Zur Innenausstattung gehört unter anderem das bis heute erhalten gebliebene Gemälde «Der Redner» von Eduard Boss. 26 «Bei der Eröffnung des Volkshauses», in: Berner Intelligenzblatt, 25.10.1914, S. 3. 27 «Die Volkshauseinweihung», in: Berner Tagwacht, 02.11.1914, S. 3. 28 «Bei der Eröffnung des Volkshauses, in: Berner Intelligenzblatt, 25.10.1914, S. 2–3. 29 «Das neue Volkshaus in Bern», in: Das Werk 2, 1915b, Nr.5, S. 73–80 30 Vgl. Regula Crottet, «Dreck und Eisen». Die Fassadengestaltung des Berner Volkshauses und ihre Rezeption. In: Kunst + Architektur in der Schweiz, 2009/1, S. 18–24 31 «Kantone. Bern», in: National-Zeitung, 27.10.1914, S. 2 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 21 Die monumentale Hauptfassade des Volkshauses 1914 wurde kritisch diskutiert. Das lag auch an ihrer symbolischen Wucht: Sie stand für die Einigkeit und Stärke der aufsteigenden Arbeiterklasse. [OBEN] Die vier aus Muschelkalkstein ABB. 22 gegossenen Figuren symbolisieren die Fruchtbarkeit der Arbeitervereinigung. Geschaffen wurden sie vom Bildhauer Bernhard Hoetger (1874–1949). [UNTEN] Der Unionssaal mit dem Wandbild ABB. 23 «Der Redner» von Eduard Boss. Die halbrunden Stabprofile der Fassade sind in der Deckengestaltung wieder aufgenommen. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 49 WIE ALLES BEGANN 49 13.10.20 15:20 ABB. 24 1. Obergeschoss, 1914 ABB. 26 50 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 50 ABB. 25 2. Obergeschoss, 1914 Erdgeschoss, 1914 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 27 / ABB. 28 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 51 WIE ALLES BEGANN Korridor und Treppenaufgang im 1. und 2. Stock. 51 13.10.20 15:20 ABB. 29 [OBEN] Esssaal mit Blick in den Grossen Saal. ABB. 30 [UNTEN] Restaurant mit Gewölbe und keramischen Verkleidungen. 52 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 52 WIE ALLES BEGANN 1888–1913 13.10.20 15:20 ABB. 31 Im Grossen Saal. Die Malereien an der Brüstung der Galerie stammen von Viktor Surbek, Bern. 1888–1913 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 53 WIE ALLES BEGANN 53 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 54 13.10.20 15:20 II. EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 Wo Clara Zetkin sich mit Lenin streitet: Während des 1. Weltkriegs wurde im Volkshaus Bern Geschichte geschrieben. Die kleine Geschichte der Menschen in Not, die grosse von Weltenbrand, sozialistischer Antikriegsbewegung und Landesstreik. Und von der Spaltung der Linken. 55 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 55 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 56 13.10.20 15:20 Eigentlich sollte das neue Volkshaus seinen Betrieb rechtzeitig zur Eröffnung der Landesausstellung in Bern am 15. Mai 1914 aufnehmen. Doch die Finanzierungsschwierigkeiten und das Bewilligungsverfahren schoben den Baubeginn hinaus, dann traten Probleme am Bau auf. Schliesslich verzögerte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Vollendung nochmals um mehr als zwei Monate, wie sich Gottfried Borle, Verwaltungsratspräsident und treibende Kraft hinter dem Volkshausneubau, drei Jahre später erinnerte: «Gegen Ende Juli waren wir überzeugt davon, dass in der zweiten Hälfte des August die Betriebseröffnung möglich sein werde, und wir trafen hierzu bereits die nötigen Vorbereitungen, als plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Weltereignisse ihr Machtwort sprachen. Es war ein wahrer Jammer mitanzusehen, wie während einigen Wochen nach dem Kriegsausbruch die vorher im ganzen Hause fieberhaft betriebenen Schlussarbeiten vollständig ruhten und der Bau gänzlich verlassen dastand. Allmählich erst fand man sich wieder zurecht und nur mit der grössten Mühe gelang es in der Folge, die Beendigung der Arbeiten sukzessive zu erreichen. Aber der Arbeitsgang blieb ein äusserst schleppender; das Räderwerk wollte nicht wieder zusammengreifen, und es hatte den Anschein, als ob alles aus Rand und Band wäre. Erst am 23. Oktober, also bloss noch eine Woche vor dem Schluss der Landesausstellung, konnte endlich die Eröffnungsfeier abgehalten und das Unternehmen zum Teil dem Betriebe übergeben werden.»32 Der Stillstand der Bauarbeiten traf nicht nur das Volkshaus. Die gesamte Baubranche litt unter den Militäraufgeboten im In- und Ausland. Besonders die Abreise ausländischer Arbeiter, die in der schweizerischen Bauwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg grosse Teile der Belegschaften stellten, machte sich bald bemerkbar. Die politische Bedeutung des Volkshauses war wohl nie grösser als in den Jahren während und unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg. Der Krieg und seine auch in der neutralen Schweiz stark spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen führten nicht nur zu einer verzögerten Eröffnung des neuen Hauses, auch seine Geschäftsergebnisse lagen in den ersten vier Jahren weit unter den Erwartungen. Umgekehrt hatte das Volkshaus vom ersten Tag an eine starke politische Bedeutung und sie war wohl nie grösser als in den Jahren während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 57 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 32 Borle, Gottfried: Das neue Volkshaus in Bern. Geschichtliches, Finanz-, Bau- und Betriebsberichte, Bern: Unionsdruckerei 1917, S. 27. 57 13.10.20 15:20 33 Brief von Albert Berner an Robert Grimm, 28.07.1914, in: IISG, Robert Grimm Papers, B. Briefe an Robert Grimm/ ISK, Brief B 13; Haupt, Georges: Le congrès manqué. L’Internationale à la veille de la première guerre mondiale, étude et documents, Paris: François Maspero 1964. Im städtischen Arbeitersekretariat und bei den übrigen Gewerkschaften und Arbeitervereinen, die im Volkshaus ihre Büros und Versammlungslokale hatten, suchten Menschen, die unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kriegs litten, Rat und Hilfe. Hier beriet die Arbeiterbewegung in kleinen Sitzungen und grossen Versammlungen über die Massnahmen gegen Verdienstausfall, Teuerung und mangelnde Versorgung. Doch das Haus der Arbeiterbewegung in der Hauptstadt eines neutralen Landes, das geografisch zwischen den wichtigsten Kriegsparteien lag, wurde auch zu einem zentralen internationalen Treffpunkt. In den Jahren von 1915 bis 1920 war das Volkshaus der Schauplatz einer ganzen Reihe von Ereignissen, deren Bedeutung weit über die Landesgrenzen hinausreichte. Hier gingen Frauen und Männer ein und aus, die eine prominente Rolle in den damaligen historischen Ereignissen spielten. Das lag namentlich an Robert Grimm, der als Redaktor der Zeitung «Tagwacht» und Präsident der kantonalen Sozialdemokratischen Partei eine prägende Figur der Schweizer Arbeiterbewegung in diesen Jahren war. Er machte Bern zu einem der internationalen Zentren der sozialistischen Antikriegsopposition. WELTGESCHICHTE IM VOLKSHAUS Ende Juli 1914 nahm Grimm an der letzten Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB) in Brüssel vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs teil. Das ISB war das Exekutivorgan der 1889 in Paris gegründeten Zweiten Internationale. Ein zentraler Diskussionspunkt war die Vorbereitung des grossen Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses, der für den 23. bis 29. August 1914 in Wien angesetzt war. Schon vor der Kriegserklärung ÖsterreichUngarns an Serbien vom 29. Juli wurde immer deutlicher, dass der Kongress in Wien nicht stattfinden konnte. Das ISB schlug zunächst vor, nach Bern auszuweichen. Vor seiner Abreise hatte Grimm beim Casino angefragt, ob der dortige Saal für einen Kongress der Internationale zur Verfügung stehen würde. Der Casinowirt gab Grimm eine Zusage, die er dann aber wieder zurückzog. Albert Berner (1870–1944), der Geschäftsleiter der Unionsdruckerei, schrieb an Grimm, dass auch das noch nicht eröffnete Volkshaus für den Kongress verwendet werden könne. Das war, wie wir heute wissen, zu optimistisch. Zudem ohne praktische Bedeutung, denn das ISB beschloss, den Kongress statt in Wien nicht in Bern, sondern in Paris durchzuführen. Auch dort konnte er allerdings wegen der schnellen Eskalation zum Weltkrieg nie stattfinden.33 58 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 58 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 ABB. 32 LENIN Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924), der zum Anführer der russischen Revolution aufstieg, lebte lange Jahre in Verbannung und Exil, davon sechseinhalb Jahre in der Schweiz, auch in Bern. Nach dem Sturz des Zaren (Februarrevolution) reiste er 1917 via Deutschland nach Russland zurück. Im November 1917 übernahm seine bolschewistische Partei die Macht in Russland (Oktoberrevolution). Der 1. Weltkrieg übertraf an Opfern und Zerstörungen alle vorherigen Kriege. Seit langem vor ihm gewarnt hatte die sozialistische Arbeiterbewegung. So beschlossen die Internationalen SozialistenKongresse in Stuttgart (1907), Kopenhagen (1910) und Basel (1912), mit allen Mitteln gegen einen drohenden Krieg einzustehen. Falls er dennoch ausbrechen sollte, wollten die Sozialisten «für dessen rasche Beendigung» kämpfen. Doch als das Gemetzel in den ersten Augusttagen 1914 tatsächlich begann, war die Internationale gelähmt. Die feierlichen Antikriegs-Erklärungen schienen vergessen. Alle Regierungen behaupteten, einen reinen Verteidigungskrieg zu führen. Die meisten sozialistischen Parteien stellten diese nationalistische Propaganda nicht in Frage. Sie waren bereit, für die Dauer des Kriegs einen «Burgfrieden», eine «union sacrée» mit den Regierungen und den Kapitalbesitzern ihrer Länder zu schliessen. Am 4. August 1914 bewilligte die Reichstagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) die Kriegskredite. Belgische und französische Sozialisten traten in die Regierungen ein. In den kriegführenden Staaten blieben allein die Sozialdemokraten in Russland und Serbien, wo sie verfolgte, kleine Parteien waren, auf einem klaren 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 59 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 59 13.10.20 15:20 ABB. 33 Bauernopfer. Preussen und Franzosen spielen ihr infernalisches Völkermorden-Schach (zeitgenössische Karikatur). 60 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 60 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 Antikriegskurs. Auch in Italien, das erst im Frühling 1915 in den Krieg eintrat, kämpfte die Sozialistische Partei weiter konsequent gegen das Völkerschlachten.34 In dieser aufgeheizten Lage begannen die sozialdemokratischen Parteien in den neutralen Staaten und die Oppositionsbewegungen in den kriegführenden Staaten, die den «Burgfrieden» ablehnten, die abgerissenen internationalen Verbindungen neu zu knüpfen. Dabei spielte auch Bern und das Berner Volkshaus seine Rolle. 34 Braunthal, Julius: Geschichte der Internationale, Bd. 2, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 3. Aufl. 1978, S. 17–49. 35 «Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Bern», in: Berner Tagwacht 23 (3.4.1915), Nr. 77. DIE SOZIALISTISCHEN FRAUEN ÖFFNEN DEN WEG Ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch fanden im Volkshaus Bern zwei bedeutende internationale Konferenzen statt: die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz vom 26. bis 28. März 1915 und die Internationale Sozialistische Jugendkonferenz vom 4. bis 6. April 1915. Die sozialistischen Frauen der Welt gingen voran. Sie riefen in Bern zu einer «allgemeinen Bewegung der werktätigen Massen für die Beendigung des Brudermordes» auf. Zur Frauenkonferenz eingeladen hatte Clara Zetkin (1857–1933), die Redaktorin der deutschen Arbeiterinnenzeitschrift «Die Gleichheit», die seit 1907 zugleich auch das Internationale Sozialistische Frauensekretariat leitete. Organisatorisch unterstützt wurde die Konferenz von Angelica Balabanoff (1869–1965) von der italienischen sozialistischen Partei und von Robert Grimm. Es kamen Sozialistinnen aus Grossbritannien, Deutschland, Russland, Frankreich, Polen, Italien, den Niederlanden und der Schweiz. Die Konferenzteilnehmerinnen verabschiedeten eine Resolution, die die Kriegsursachen benannte und von den sozialistischen Parteien die Einhaltung der Antikriegs-Beschlüsse der sozialistischen Konferenzen von Stuttgart, Kopenhagen und Basel einforderte. Ziel der Konferenz war, so die Resolution, eine «Friedensaktion der sozialistischen Frauen» als «Vorläuferin einer allgemeinen Bewegung der werktätigen Massen für die Beendigung des Brudermordes». Das einstimmig verabschiedete Manifest rief die Arbeiterinnen aller Länder zum Kampf gegen den Krieg auf: «Die ganze Menschheit blickt auf euch, ihr Proletarierinnen der kriegführenden Länder. Ihr sollt die Heldinnen, ihr sollt die Erlöserinnen werden!»35 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 61 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 61 13.10.20 15:20 36 Balabanoff, Angelica: Lenin. Psychologische Beobachtungen und Betrachtungen, Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen 1961, S. 35–41. 37 Münzenberg, Willi: «Sie ist nicht tot!» Bericht über die internationale Konferenz der sozialist. Jugendorganisationen, abgehalten zu Bern am 4., 5. und 6. April 1915, Zürich. Mit einem Teil der russischen Delegation kam es dabei allerdings zu Reibungen: Die Vertreterinnen der Fraktion der Bolschewiki stellten der von Clara Zetkin vorgelegten Resolution einen eigenen Entwurf gegenüber. Dieser war massgeblich von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) konzipiert worden und enthielt eine scharfe Polemik gegen die Parteiführungen der kriegsbeteiligten Länder und deren Zustimmung zu den Kriegskrediten. Die Rednerinnen der Mehrheit erwiderten, dass sie das Verhalten der Parteiführungen und die Kreditbewilligungen ebenfalls missbilligten. Aber die Friedenskonferenz der Frauen sei nicht der geeignete Ort für die Auseinandersetzung mit dem Versagen der Parteien, eine einheitliche Friedensaktion werde durch derartige Abrechnungen nur geschwächt. Erst nach komplizierten Verhandlungen stimmten schliesslich auch die bolschewistischen Delegierten der Resolution zu, womit die symbolisch wichtige Einstimmigkeit erreicht werden konnte. Zuvor mussten sie, so erinnert sich Angelica Balabanoff, Lenins Zustimmung einholen. Der Anführer der Bolschewiki war kurz nach Kriegsausbruch in die Schweiz eingereist und wohnte damals in Bern. Er sass während der Frauenkonferenz in einem nahen Café. Nicht ganz klar ist, ob es sich dabei um das Restaurant im Volkshaus selbst gehandelt hat – von wo aus der 45-jährige Lenin gemäss Balabanoff eine Woche später die Delegierten seiner Fraktion an der Sozialistischen Jugendkonferenz instruieren sollte.36 Die Frauenkonferenz setzte ein starkes Zeichen gegen den Krieg und für die internationale Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter. Allein in Deutschland sollen trotz Zensur rund 200 000 Exemplare des Manifests verbreitet worden sein. Den Behörden der kriegführenden Staaten erschien die sozialistische Frauenbewegung nun zunehmend als Bedrohung: Clara Zetkin wurde im Juli 1915, die französische Delegierte Louise Saumoneau (1875–1950), eine Lehrerin, im Herbst 1915 verhaftet. Treibende Kraft hinter der nachfolgenden Jugendkonferenz war Willi Münzenberg (1889–1940), der ursprünglich aus Deutschland stammende Sekretär der Sozialdemokratischen Jugendorganisation der Schweiz. 14 Delegierte aus 10 Ländern kamen nach Bern. Sie forderten in ihrer Resolution die sozialdemokratischen Parteien auf, den Klassenkampf wieder aufzunehmen, statt den Krieg zu unterstützen. Das Sekretariat der Internationalen Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen wurde für die Dauer des Kriegs nach Zürich verlegt, Münzenberg mit seiner Leitung beauftragt.37 62 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 62 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 DIE VIELSPRACHIGE INTELLEKTUELLE Angelica Balabanoff wuchs im ukrainischen Tschernigow in einer Grundbesitzer- und Kaufmannsfamilie auf. Der Gegensatz zwischen dem Reichtum ihrer Familie und der Armut der breiten Bevölkerung empörte sie schon als Kind. Gegen den Widerstand ihrer Eltern studierte sie in Brüssel, Leipzig, Berlin und schliesslich in Rom, wo sie sich der italienischen Sozialistischen Partei (PSI) anschloss. Bald übernahm die für ihre Vielsprachigkeit bekannte Intellektuelle eine führende Rolle in der gewerkschaftlichen Organisation der italienischen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz. Im Kampf gegen den Ersten Weltkrieg organisierte Angelica Balabanoff zusammen mit Robert Grimm die im Volkshaus Bern stattfindenden Jugend- und Frauenkonferenzen (Frühling 1915) und schliesslich die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental. Kurz vor dem Landesstreik im November 1918 wurde sie unter falschen Anschuldigungen mit den Mitgliedern der offiziösen diplomatischen Vertretung Sowjetrusslands aus der Schweiz ausgewiesen. Nach der Gründung der Kommunistischen Internationalen in Moskau im Frühling 1919 war sie kurze Zeit Sekretärin dieser Organisation. Doch der zunehmend repressivere Kurs der Sowjetregierung veranlasste sie, Russland 1921 erneut zu verlassen. Es folgten Exiljahre in Stockholm, Wien, Paris und New York. Bis ins hohe Alter blieb sie politisch aktiv. Ernst Nobs, der erste sozialdemokratische Bundesrat, liess ihr Einreiseverbot in die Schweiz aufheben. Als sie 1949 erstmals seit 1918 wieder nach Bern kam, übernachtete sie im Volkshaus, wo ihr Nobs persönlich ein Zimmer hatte reservieren lassen. ABB. 34 ANGELICA BALABANOFF * 8. Mai 1869 (Tschernigow) † 25. November 1965 (Rom) 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 63 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 63 13.10.20 15:20 ABB. 35 MARGARETHE FAAS-HARDEGGER Mit 23 Jahren gründete die Berner Telegrafistin Margarethe Hardegger ihre erste Gewerkschaft. 1909 warf der SGB die Arbeiterinnensekretärin wegen politischer Differenzen hinaus. Die begnadete Rednerin, Organisatorin, Feministin, Pazifistin, Anarchistin war Anhängerin freier Liebe, gründete Zeitschriften und Kommunen. Ein kämpferisches Leben für die Rechte der arbeitenden Frauen. Sie starb 1963 in Menusio. 64 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 64 ABB. 36 CLARA ZETKIN Clara Zetkin (1857–1933) war vor dem Ersten Weltkrieg die wohl bekannteste Exponentin der sozialistischen Frauenbewegung. Sie gründete die marxistische, feministische Zeitschrift «Die Gleichheit» und gehörte zu den Vorbereiterinnen der Zweiten Internationale. Von 1920 bis 1933 vertrat sie die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) im Reichstag. EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 WELTPOLITIK AUF DEM DORFE Die beiden bekanntesten Treffen der sozialistischen Bewegung gegen den Krieg fanden allerdings aus Sicherheitsgründen nicht im Volkshaus Bern, sondern in zwei abgelegenen Berner Dörfern statt, in Zimmerwald (September 1915) und in Kiental (April 1916). Dennoch war das Volkshaus für die Zimmerwalder Bewegung unentbehrlich. Hier fand am 15. Juli 1915 eine erste vorbereitende Sitzung statt. Unmittelbar vor der Zimmerwalder Konferenz versammelten sich im Volkshaus die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und auch ein erster Teil der Kiental-Konferenz fand noch in Bern statt. Zimmerwald (1915) und Kiental (1916) stehen für den Versuch der Arbeiterbewegung, den 1. Weltkrieg rasch zu beenden. In Zimmerwald konstituierte sich die Internationale Sozialistische Kommission (ISK). Anlässlich ihrer ersten Sitzung am 8. Februar 1916 im Volkshaus wurde ein internationales Massenmeeting angesetzt. Redner waren der rumänische Sozialist Christian Rakovsky (1873–1941), Lenin, der Italiener Giuseppe Emanuele Modigliani (1872–1947) und Grimm. Die perfekt mehrsprachige Angelica Balabanoff übersetzte.38 Doch auch jene Teile der sozialistischen Bewegung, die den Burgfrieden mit ihren Regierungen unterstützten, nutzten das Volkshaus. So organisierten der Elsässer Sozialdemokrat Salomon Grumbach (1884–1952), der aus der Schweiz für die Tageszeitung der französischen Sozialisten, «L’Humanité», korrespondierte, und der ebenfalls ursprünglich aus dem Elsass stammende Alt-Nationalrat und Anwalt Arthur Brüstlein (1853–1924) hier am 3. Juni 1916 eine Tagung. Grumbach hielt dabei einen später – mitsamt der Zwischenrufe von Karl Radek (1885–1939) und Grigori Sinowjew (1883–1936), zwei Mitstreitern Lenins – in Broschürenform veröffentlichten Vortrag mit dem Titel «Der Irrtum von Zimmerwald und Kiental». Er nahm darin Partei für den Einsatz der Mehrheit der französischen Sozialisten für die Kriegsanstrengungen und warf der Zimmerwalder Bewegung vor, die Hauptschuld der Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns am Krieg zu verschweigen.39 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 65 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 38 Rakovsky (Racovsky), C.: Das Wiedererwachen der Internationale. Rede gehalten am internationalen Massenmeeting vom 8. Februar 1916 im Volkshaus in Bern, hg. v. Internationale Sozialistische Kommission, Bern 1916. 39 Grumbach, Salomon: Der Irrtum von Zimmerwald-Kiental. Rede, gehalten am 3. Juni 1916 im Unionssaale des Volkshauses zu Bern, Bern-Bümpliz, Benteli, 1916. 65 13.10.20 15:20 KLASSENKAMPF STATT BURGFRIEDEN: DIE KONFERENZEN VON ZIMMERWALD (SEPTEMBER 1915) UND KIENTAL (APRIL 1916) Im Austausch zwischen italienischen, schweizerischen und – meist im schweizerischen Exil lebenden – russischen und polnischen Sozialistinnen und Sozialisten entstand die Idee, eine internationale Konferenz der Kriegsgegner zu organisieren. Diese Konferenz war nur in einem neutralen Land denkbar. Robert Grimm übernahm die Organisation. Grimm verfügte über gute internationale Verbindungen und bot als Redaktor der «Berner Tagwacht» pazifistischen Stimmen aus ganz Europa eine publizistische Plattform. Aus Sicherheitsgründen konnte die Konferenz nicht im Berner Volkshaus tagen. Mit den Dörfern Zimmerwald und Kiental (für die zweite Konferenz) wählte Grimm bewusst abgelegene Tagungsorte, die im Vorfeld geheim gehalten wurden. Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner aus ganz Europa kommen zusammen: Das Protokoll der Zimmerwalder Konferenz (September 1915) verzeichnet 38 Teilnehmende aus Frankreich, Deutschland, Italien, dem russischen Zarenreich, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz, Bulgarien, Rumänien und dem damals zwischen Deutschland, ÖsterreichUngarn und dem Russischen Reich aufgeteilten Polen. Zwei britische Sozialisten konnten nicht teilnehmen, weil ihnen die Regierung in London Pässe verweigert hatte. Erst im Rückblick – nach der russischen Revolution von 1917 – erschienen Lenin und Trotzki als bekannteste Teilnehmer der Konferenz. In Zimmerwald blieb Lenin mit seiner Auffassung in der Minderheit, der Weltkrieg müsse zwingend zur Weltrevolution führen, und dass darum eine Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung notwendig sei. Das einstimmig verabschiedete «Zimmerwalder Manifest» bezeichnete den Krieg als «Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren». Der Text kritisierte diejenigen Arbeiterorganisationen scharf, die zu Kriegsbeginn einen «Burgfrieden» mit den herrschenden Klassen ihrer Länder geschlossen hatten. Es rief die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, für einen «Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen» zu kämpfen. In Zimmerwald konstituierte sich die Internationale Sozialistische Kommission zu Bern (ISK). Das Präsidium der ISK übernahm Robert Grimm, weiter gehörten ihr der Neuenburger Nationalrat Charles Naine sowie zwei Mitglieder der italienischen sozialistischen Partei an, Oddino Morgari und Angelica Balabanoff, die ursprünglich aus der Ukraine stammte. Neben Grimm war sie die wichtigste Organisatorin der Zimmerwalder Bewegung. Die ISK setzte den Kampf gegen den Krieg fort, verbreitete Informationen über die Friedensaktionen in den einzelnen Ländern und organisierte zwei weitere Konferenzen in Kiental (April 1916) und Stockholm (September 1917). ABB. 37 «Jetzt für die eigene Sache kämpfen»: Im September 1915 rief die «Berner Tagwacht» die Arbeiterinnen und Arbeiter Europas auf, den Krieg zu beenden. 66 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 66 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 GEWERKSCHAFTEN, ÜBER DIE FRONTEN HINWEG Deutlich weniger bekannt sind die Aktivitäten der internationalen Gewerkschaftsbewegung während des Kriegs. Auf Einladung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) fand im Volkshaus vom 1. bis 4. Oktober 1917 eine internationale Gewerkschaftskonferenz statt. Allerdings fanden sich dafür nur Delegierte aus den Zentralmächten40 und den neutralen Staaten ein. Den französischen und italienischen Gewerkschaftern hatten ihre Regierungen die Pässe verweigert, während der belgische, britische, US-amerikanische und kanadische Gewerkschaftsbund jede gemeinsame Konferenz mit den Gewerkschaften aus den feindlichen Staaten ablehnten. Trotz dieser Absenz trug die Berner Konferenz entscheidend zu einer zukunftsweisenden Stellungnahme der internationalen Gewerkschaftsbewegung bei. Zwar hatte der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) nach Kriegsausbruch die Unterstützung der Gewerkschaften in den Entente-Staaten41 verloren, weil der IGB seit 1913 vom deutschen Gewerkschaftsführer Karl Legien (1861–1920) präsidiert wurde, der die Kriegspolitik der Reichsregierung unterstützte. Doch der niederländische Gewerkschaftsbund sorgte dafür, dass die Kontakte nicht ganz abrissen. Nachdem die Gewerkschaften der Entente-Staaten am 5. Juli in Leeds ein Programm verabschiedet hatten, leiteten es die Niederländer an die übrigen IGBMitglieder weiter und legten es in überarbeiteter Form auch der im Volkshaus tagenden Konferenz vor. Die Konferenzteilnehmer diskutierten die Beschlüsse von Leeds und bauten sie mit weiteren Forderungen zum «Berner Programm» aus. Somit konnte die internationale Gewerkschaftsbewegung trotz Schlachtenlärm gemeinsame Forderungen für sozialpolitische und arbeitsrechtliche Mindestnormen an eine zukünftige Friedenskonferenz ausarbeiten. Die Resolutionen der Gewerkschaftstreffen von Leeds und Bern hatten nach dem Krieg denn auch einen gewissen Einfluss auf die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).42 Nach Kriegsende fand wiederum im Volkshaus Bern eine internationale Gewerkschaftskonferenz statt (5. bis 9. Februar 1919), an der erstmals wieder Gewerkschaften aus Staaten beider Kriegsparteien teilnahmen. WIE SICH DIE ARBEITERBEWEGUNG SPALTET Anfang Februar 1919 trat im Volkshaus Bern erstmals seit Kriegsausbruch die Zweite Internationale zusammen. Doch viele Anhänger der «Zimmerwalder Bewegung» sprachen dieser Konferenz die Berechtigung ab. Auch die SPS hatte kurz zuvor an einem Parteitag 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 67 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 40 Zentralmächte: Das aus dem Deutschen Reich, ÖsterreichUngarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich bestehende Kriegsbündnis. 41 Entente: Das Kriegsbündnis aus Frankreich, Grossbritannien, Russland (bis 1917), Italien (ab 1915) und den USA (ab 1917). 42 Fimmen, Edo: Der Internationale Gewerkschaftsbund. Ein Überblick seiner Entwicklung und seiner Ziele (Schriftenreihe des Internationalen Gewerkschaftsbundes Heft 1), Amsterdam 1922, S. 4 f; Tosstorff, Reiner: «The International Trade-Union Movement and the Founding of the International Labour Organization», in: International Review of Social History 50 (2005), Nr. 3, S. 402–413. 67 13.10.20 15:20 im Volkshaus mit 238 zu 147 Stimmen beschlossen, wegen der Präsenz von Delegierten, die den Kriegskurs ihrer Regierungen unterstützt hatten, auf eine Teilnahme zu verzichten. Gustav Müller, der Berner Stadtpräsident, trat aus Protest gegen diesen Entscheid als Parteipräsident zurück.43 Wie er in einem Begrüssungsschreiben an den Präsidenten der Konferenz, den schwedischen Sozialdemokraten Hjalmar Branting (1860–1925) schrieb, hielt er den Beschluss der SPS für «einen schweren politischen Fehler und eine internationale Blamage der schweizerischen Partei».44 Ein von Robert Grimm organisiertes inoffizielles Gegentreffen der «Zimmerwalder» fand dagegen nicht im Volkshaus, sondern im der Typographia Bern gehörenden «Gesellschaftshaus Maulbeerbaum» (heute Hotel National) statt. 43 Sozialdemo kratische Partei der Schweiz: Protokoll über die Verhandlungen des ausserordentlichen Parteitages vom 2. Februar 1919 im Volkshaus in Bern, Bern: Unionsdruckerei 1919, S. 77–79. 44 «Brief des Stadtpräsidenten von Bern, Gustav Müller, an Hjalmar Branting», in: Ritter, Gerhard Albert, Zwehl, Konrad von (Hg.): Die II. Internationale 1918/1919. Protokolle, Memoranden, Berichte und Korrespondenzen, Berlin/Bonn: J. H. W. Dietz 1980, S. 194. Versuchte die Berner Konferenz bruchlos an der Vorkriegsentwicklung der 1889 gegründeten Zweiten Internationale anzuknüpfen, forderten die Anhänger Lenins einen radikalen Bruch und den Aufbau einer neuen, Dritten Internationale. Seit den Konferenzen von Zimmerwald und Kiental, als sie mit dieser Forderung noch klar in der Minderheit blieben, hatte sich vieles verändert. Lenin war nun nicht mehr der Führer einer relativ unbekannten Untergrund- und Exilpartei, sondern stand an der Spitze Sowjetrusslands, das eine Führungsrolle in der internationalen revolutionären Bewegung beanspruchte. Gleichzeitig unterdrückten in Deutschland rechtsradikale Freikorps mit Billigung der von den Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) geführten Regierung die radikaleren Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung. Die bekanntesten Köpfe der Opposition gegen den 1. Weltkrieg, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden am 15. Januar 1919 gefangen genommen und ermordet. Die Bewunderung für die Oktoberrevolution einerseits, die Abscheu vor der Politik des rechten Flügels der SPD andererseits führten dazu, dass Lenins altes Projekt einer neuen Internationale Anhänger gewann. Auch äusserlich vollzog Lenin den Bruch mit der Vorkriegszeit, indem er seine Partei ab 1918 nicht mehr «sozialdemokratisch», sondern «kommunistisch» nannte. Damit erhob er den Anspruch, der eigentliche Erbe des «Kommunistischen Manifests» (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels zu sein. Unter Marxisten blieb diese Erbfolge umstritten: Marx und Engels hatten immer eine demokratische Massenorganisation der Arbeiterschaft postuliert und elitäre Organisationen von Berufsrevolutionären, wie sie die Bolschewiki darstellten, abgelehnt. Als am 2.–6. März 1919 in Moskau die Kommunistische Internationale («Dritte Internationale» oder «Komintern») gegründet wurde, waren daran nur wenige und – mit Ausnahme der russischen Delegierten – für die Bewegungen ihrer Länder kaum repräsentative 68 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 68 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 Delegierte beteiligt. Weit besser besucht war dann der im Sommer in Moskau tagende 2. Kongress der Komintern. Er besiegelte die Spaltung endgültig: Mit 21 Beitrittsbedingungen zur neuen Internationale machte er die Komintern zu einer zentralistischen, von Moskau geführten Struktur. Faktisch wurde sie danach immer stärker zum aussenpolitischen Instrument der sowjetischen Regierung.45 Über die 21 Bedingungen wurden gerade diejenigen Parteien auseinandergerissen, die besonders konsequent für die Prinzipien der Zimmerwalder Bewegung eingestanden waren, wie die 1917 von der deutschen Antikriegsopposition gegründete Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die italienische und die schweizerische Partei. Die Spaltung der SPS wurde am folgenschweren Parteitag vom 10. bis 12. Dezember 1920 im grossen Volkshaussaal besiegelt. Die Delegierten lehnten mehrheitlich den Beitritt zur Kommunistischen Internationalen ab, weil sie nicht bereit waren, sich den aus Moskau diktierten Bedingungen zu fügen. Unter Protest verliess darauf die Minderheit, die den Beitritt zur Komintern wollte, das Volkshaus, zog ins Restaurant «Du Pont» im Kirchenfeld-Quartier und begann mit den Vorbereitungen zur Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS)46. Bereits zuvor hatten weitere Parteitage der SPS im Volkshaus Beschlüsse gefällt, die mit der internationalen Lage zusammenhingen. Zu nennen ist hier der ausserordentliche Parteitag zur Militärfrage vom Juni 1917, bei dem die SPS beschloss, zukünftig grundsätzlich gegen alle Militärausgaben zu stimmen. 45 Braunthal, J.: Geschichte der Internationale Bd. 2, S. 180–198. 46 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Protokoll über die Verhandlungen des ausserordentlichen Parteitages vom 10. und 12. Dezember 1920 im Volkshaus in Bern, Zürich: Genossenschaftsdruckerei 1921, S. 162–164. 47 «Internationale Gäste», in: Berner Tagwacht 28 (4.12.1920), Nr. 284, S. 1; «Die Vorkonferenz», in: Berner Tagwacht 28 (6.12.1920), Nr. 285, S. 1. Kurz vor dem Spaltungsparteitag hatte die SP Schweiz mit der britischen Independent Labour Party (ILP) und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zu einer internationalen Vorkonferenz ins Volkshaus eingeladen. An der Konferenz im Dezember 1920 nahmen linke Sozialdemokraten aus Frankreich, der Schweiz, Grossbritannien, Russland, Österreich, den deutschsprachigen Teilen Tschechiens und den USA teil.47 Die Konferenz legte den Grundstein zur Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP), die schliesslich im Februar 1921 in Wien offiziell gegründet wurde. In Fortschreibung der Zimmerwalder Konferenzen verfolgte die IASP einen konsequent internationalistischen und klassenkämpferischen Kurs. Sie kritisierte die Haltung der in den Resten der Zweiten Internationale organisierten Parteien als nationalistisch und reformistisch. Gleichzeitig lehnte sie aber auch die am Vorbild der Sowjets orientierte Organisationsform der Komintern als zentralistisch ab. Die IASP wird gelegentlich spöttisch als «zweieinhalbte» Internationale bezeichnet – ursprünglich ein vom Komintern-Funktionär Karl Radek geprägter Spottname. Tatsächlich erhob 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 69 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 69 13.10.20 15:20 48 «An die sozialistischen Parteien aller Länder», in: Berner Tagwacht 28 (9.12.1920), Nr. 288, S. 1. 49 Braunthal, J.: Geschichte der Internationale Bd. 2, S. 249–272. 50 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Protokoll über die Verhandlungen des ordentlichen Parteitages vom 6. und 7. November 1926 im Volkshaus in Bern, Luzern: Unionsdruckerei 1926, S. 175–178. 51 Arbeiterunion Bern: Bericht für das Jahr 1914, Bern 1915, S. 12–18. die IASP aber nicht den Anspruch, eine neue Internationale darzustellen. Vielmehr wollte sie durch gemeinsame Aktionen der ganzen Arbeiterbewegung die Spaltung überwinden. Nur auf diesem Weg könne es schliesslich zur «Bildung einer wirklichen Internationale des klassenbewussten Proletariats» kommen.48 Nachdem entsprechende Bemühungen gescheitert waren, schloss sie sich 1923 mit den Resten der Zweiten Internationale zur Sozialistischen ArbeiterInternationale (SAI) zusammen.49 Die SPS war anfänglich gegen die Auflösung der IASP und schloss sich der SAI erst 1926 an. Der Beitrittsbeschluss und die anschliessende Wahl Grimms als Vertreter der SPS in der Exekutive der SAI erfolgten ebenfalls an einem Parteitag im Volkshaus Bern.50 HUNGER UND WILLKÜR Der Erste Weltkrieg führte überall zu wachsender sozialer Polarisierung und Ungleichheit: Banken, Rüstungsindustrie und Grosskonzerne erzielten bedeutende Kriegsgewinne, während Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte zunehmend in soziale Notlagen gerieten. Diesen Folgen des Kriegs konnten sich auch neutrale Länder wie die Schweiz nicht entziehen. Bereits kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs entstand die Zentrale Notstandskommission der Schweizerischen Arbeiterschaft, an der sich neben Gewerkschaftsbund und Sozialdemokratischer Partei anfänglich auch die Konsumvereine beteiligten. Für die lohnarbeitende Bevölkerungsmehrheit bedeutete der lange Militärdienst erhebliche Verdienstausfälle. Die Erwerbsersatzordnung wurde erst 1940 eingeführt, nicht zuletzt aufgrund der im 1. Weltkrieg erlittenen Not. Zwar gab es seit 1907 eine Unterstützung für «Angehörige von Wehrmännern, die durch deren Militärdienst in Not geraten», doch ihre konkrete Ausrichtung war Sache der Wohngemeinden. Das im Volkshaus angesiedelte Berner Arbeitersekretariat half Mitgliedern der angeschlossenen Vereine bei der Gesucheingabe. Gemäss Jahresbericht der Arbeiterunion Bern von 1914 wurde die Unterstützung in der Stadt Bern weitgehend korrekt ausbezahlt, wogegen auf dem Land «und hauptsächlich in den der Stadt Bern benachbarten Gemeinden […] ein wahres Willkürregiment» herrsche. «Frauen von weit abgelegenen Landgemeinden» kamen in die Stadt, «um im Arbeitersekretariat Rat und Beistand zu holen».51 70 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 70 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 ABB. 38 KUNDGEBUNG GEGEN HOHE LEBENSMITTELPREISE AM 15. MAI 1915 IN BERN. Schon im zweiten Jahr des Kriegs wächst der Unmut über die Verknappung und Teuerung von Nahrungsmitteln, Brennmaterialien und Waren des täglichen Gebrauchs. Er entlädt sich in Strassenprotesten und Streiks, die sich gegen untätige Behörden, Profiteure der Kriegswirtschaft und fehlende politische Mitsprache richten. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 71 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 71 13.10.20 15:20 ABB. 39 Nachdem sie am Parteitag vom Dezember 1920 in der Minderheit blieben, spalteten sich die Anhänger des Beitritts zur Kommunistischen Internationalen von der Sozialdemokratischen Partei ab und gründeten die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS). Das Bild zeigt einen Wahlkampfauftritt der KPS in Zürich 1926. In Bern blieb die KP weitgehend bedeutungslos. 72 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 72 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 DER KAMPF DER FRAUEN GEGEN DIE TEUERUNG Obschon ab Frühjahr 1915 eine eigentliche Kriegskonjunktur einsetzte, liessen sich diese Einkommenseinbussen der arbeitenden Bevölkerung nicht wettmachen. Vor allem aber stiegen während der ganzen Kriegsdauer die Preise für Nahrungsmittel und weitere Güter des täglichen Bedarfs massiv. Die Grafik auf Seite 75 zeichnet diese Entwicklung für die Stadt Bern nach. Wegen der Teuerung sank der Lebensstandard eines grossen Teils der Bevölkerung. Sie führte zudem zu einem neuen Stadt-Land-Konflikt: Viele Bauern konnten militärdienstbedingte Einkommenseinbussen über die gestiegenen Nahrungsmittelpreise kompensieren und dank der Inflation ihre teilweise drückende Schuldenlast abbauen.52 Daher standen sie der Protestbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter meist verständnislos oder gar ablehnend gegenüber. Am 15. Mai 1915 veranstalteten die Berner Arbeiterorganisationen eine erste Teuerungsdemonstration, die Teil einer nationalen Protestaktion war.53 Im folgenden Jahr 1916 verschärfte sich die Lage weiter. Im Sommer 1916 führten stark steigende Kartoffelund Gemüsepreise zu Protesten, die vorwiegend von Frauen getragen wurden. Die sozialdemokratischen Arbeiterinnenvereine organisierten am 1. Juli Marktdemonstrationen in Bern, später auch in Biel, Zürich, Grenchen und Thun. Ihre Proteste waren teilweise erfolgreich: So übernahmen die Gemeinden selbst die Aufgabe, Lebensmittel verbilligt zu verkaufen, und der Bundesrat setzte erstmals Höchstpreise für Kartoffeln fest.54 Vorläufer des Landesstreiks waren massive Proteststreiks gegen die Verteuerung der Lebensmittel. Forderungen nach einem Teuerungsausgleich, die wegen der rasanten Preisentwicklung oft mehrmals pro Jahr aktuell waren, standen im Zentrum vieler Streiks auf Betriebs- und Branchenebene. Ab dem zweiten Kriegsjahr nahmen sie stark zu. 1917 bis 1919 kam es – selbst wenn man den Landesstreik und mehrere lokale Generalstreiks nicht mitzählt – zur wohl grössten Streikwelle in der Geschichte der Schweiz. Der Kampf gegen die vom Krieg ausgelöste Verschlechterung des Lebensniveaus erreichte am 30. August 1917 einen ersten Höhepunkt mit landesweiten Teuerungsdemonstrationen. Sie fanden während der Arbeitszeit statt und können daher durchaus als eine erste, wenn auch nur einige Stunden dauernde, generalstreikähnliche Aktion gesehen werden. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 73 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 52 Guex, Sébastien: L’inflation en Suisse pendant la Première Guerre mondiale – Causes, réactions, discussion historiographique, in: Traverse 24,3 (2017), S. 81–96. 53 AU Bern: Bericht 1915, S. 4f. 54 Pfeifer, Regula: Frauen und Protest. Marktdemonstrationen in der deutschen Schweiz im Kriegsjahr 1916, in: Tanner, Albert, Head-König, Anne-Lise (Hg.): Frauen in der Stadt, Zürich 1993, S. 93–109. 73 13.10.20 15:20 Zwischen 1916 und 1918 verzeichneten die Gewerkschaften ein rasantes und massives Wachstum: Die Zahl ihrer Mitglieder verdoppelte sich. Den ersten Anstoss zu diesen Revolten gab die im Unionssaal des Volkshauses stattfindende Delegiertenversammlung der Arbeiterunion Bern vom 31. Juli 1917, die einstimmig einen Antrag von Grimm annahm, nach schwedischem Vorbild Teuerungsdemonstrationen während der Arbeitszeit zu organisieren. Eine gemeinsame Konferenz der Leitungen von SPS und SGB beschloss, derartige Demonstrationen am 30. August 2017 gleichzeitig in allen grösseren Schweizer Städten abzuhalten. Die grössten Demonstrationen mit je rund 15 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fanden in Bern und Basel statt.55 Begeistert berichtete die «Berner Tagwacht»: «Der 30. August 1917 wird in der Geschichte der stadtbernischen Arbeiterschaft unvergesslich bleiben. Denn an diesem Tag war der eherne Tritt der proletarischen Massenbataillone mit einer Wucht vernehmbar, wie noch niemals in den Jahrzehnten des ruhmreichen Aufstiegs der Arbeiterbewegung in der Mutzenstadt.»56 55 Delegiertenversammlung 31.7.1917, Ar SGB, Arbeiterunion Bern, PE 1748, Protokollbuch 7.6.1915–23.5.1918, S. 177f; «Die Teuerungsdemonstrationen am 30. August», in: Berner Tagwacht 25, Nr. 203 (31.8.1917), S. 1–2. 56 Ebd. So war die Sprache jener Zeit. In diesen heftigen Auseinandersetzungen erstarkte die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung. Nach einem kurzen Einbruch der Mitgliederzahlen zu Beginn des Kriegs verzeichneten die Gewerkschaften ab 1916 ein rasantes und massives Wachstum. Zwischen 1916 und 1918 verdoppelte sich die Zahl der Mitglieder der im SGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften. Auch die politische Macht der Arbeiterbewegung nahm zu. Das galt besonders für die Stadt Bern. Bei den Stadtratswahlen vom Dezember 1917 errang die Sozialdemokratische Partei mit 42 von 80 Sitzen die absolute Mehrheit. In mehreren Ersatzwahlen verschoben sich darauf auch in der Stadtregierung die Mehrheitsverhältnisse. Zwischen Ende 1918 und 1920 wurde Bern – wenn auch nur relativ kurz – damit als erste der grösseren Städte der Schweiz von einer roten Mehrheit regiert. 74 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 74 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 ZWISCHEN TEUERUNG UND KRIEGSDIENST PREISSTEIGERUNGEN IN % -20 0 0 -20 -20 100 80 80 80 -20 1915 60 1916 0 0 -20 -20 1916 1919 1919 20 1915 40 1917 1916 20 1919 0 40 1918 20 1917 40 60 1918 100 1915 100 60 1919 100 kg Gaskoks 100 kg Kartoffeln (inländische) 1917 1 kg Teigwaren 1918 1919 1918 20 1918 0 40 1917 60 1916 60 1917 80 1916 80 20 1919 20 100 40 1916 40 1915 60 100 1915 80 1918 1917 100 1 Liter Vollmilch 1 kg Vollbrot 1915 ½ kg Speck (geräuchert, mager) ABB. 40 Im 1. Weltkrieg explodieren die Preise für lebensnotwendige Güter. Das war einer der Gründe für den Generalstreik von 1918. Quelle: Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband, Bern: Jahresbericht 1918/1919. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 75 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 75 13.10.20 15:20 IM OLTENER AKTIONSKOMITEE Im letzten Kriegsjahr nahmen die sozialen Spannungen weiter zu. Im Dezember 1917 und im Januar 1918 wurden Pläne des Bundesrats bekannt, eine Zivildienstpflicht für den Mehranbau von Nahrungsmitteln einzuführen. In einer landesweiten Versammlungswelle protestierte die Arbeiterschaft gegen dieses Projekt, worauf der Bundesrat Truppen in Bereitschaft stellte. Die Leitungen von Partei und Gewerkschaftsbund antworteten am 4. Februar 1918 mit der Einsetzung des Oltener Aktionskomitees. Der Name verweist allein auf den Gründungsort, der Sitz des Komitees befand sich in Bern, im Sekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Anfang März 1918 verabschiedete eine weitere gemeinsame Sitzung von Partei und Gewerkschaften im Volkshaus Bern ein Konzept für die Vorbereitung eines befristeten Generalstreiks als Druckmittel. Bereits in der Kampagne gegen die Erhöhung des Milchpreises vom April 1918 kam diese Konzeption mit einem Teilerfolg zum Einsatz. Als noch wirksamer erwies es sich im Sommer 1918. Am 27. und 28. Juli 1918 fand in Basel der Erste Allgemeine Arbeiterkongress statt. Er versammelte Delegierte der Partei- und Gewerkschaftssektionen. Der Kongress beschloss, seine Forderungen nach einer verbesserten Lebensmittelversorgung, der Aufhebung verschiedener repressiver Massnahmen der Behörden und einer Nachteuerungszulage für das Bundespersonal notfalls mit einem allgemeinen Landesstreik durchzusetzen. Die Drohung wirkte – der Bundesrat machte bald weitgehende Zugeständnisse. DIE ARMEE GEGEN DAS VOLK 57 Memorial des Generals vom 4. November 1918. In: Gautschi, Willi (Hg.), Dokumente zum Landesstreik 1918, Zürich 1971, S. 170–174. Zur Eskalation kam es erst später, gleichzeitig mit dem Ende des 1. Weltkriegs und den Revolutionen in Deutschland und Österreich: Am 4. November 1918 schrieb General Ulrich Wille (1848–1925), dessen Sympathie für das nun untergehende preussisch-deutsche Kaiserreich allgemein bekannt war, an den Leiter des Militärdepartements, Bundesrat Camille Decoppet (1862–1925), er glaube «an die Möglichkeit eines plötzlichen, unerwarteten Ausbruchs einer Revolution». Wille drängte auf ein präventives Truppenaufgebot.57 Nach Gesprächen mit der Armeeleitung und einer Delegation der Zürcher Kantonsregierung beschloss der Bundesrat, auf den 6. November Truppen für die militärische Besetzung Zürichs und auf den 8. November für die Besetzung Berns aufzubieten. Begründet wurde dies äusserst vage mit «bolschewistischen Umsturzplänen». Eine vom Bundesrat eingeleitete Untersuchung, welche nachträglich die Beweise für diese Behauptung liefern sollte, wurde nach zwei Jahren ergebnislos eingestellt. 76 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 76 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 ABB. 41 General Ulrich Wille, 1848 in Hamburg geboren und mit einer Gräfin von Bismarck verheiratet, leitete die Schweizer Armee im 1. Weltkrieg. Das von ihm durchgesetzte provokative Truppenaufgebot war der unmittelbare Auslöser des Generalstreiks vom November 1918. Zum Platzkommandanten in Bern ernannte der Bundesrat Oberstkorpskommandant Eduard Wildbolz (1858–1932). Im Gegensatz zum provozierend auftretenden Zürcher Platzkommandanten Emil Sonderegger (1868–1934), suchte Wildbolz aktiv die Zusammenarbeit mit den zivilen Behörden und vor allem mit dem sozialdemokratischen städtischen Polizeidirektor Oskar Schneeberger (1868–1945), der im Nebenamt auch Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes war. Für das Oltener Aktionskomitee kam das Truppenaufgebot überraschend: Noch am 6. November hatte das Komitee beschlossen, neue Aktionen zu prüfen, aber mit einem viel längeren Zeithorizont. Schon am 7. November trat das Komitee erneut zusammen – diesmal im Volkshaus Bern – und beschloss, für den 9. November 1918 zu einem 24-stündigen Proteststreik gegen das Truppenaufgebot aufzurufen. Der Streik am Samstag wurde von der Arbeiterschaft in der Stadt Bern so gut wie geschlossen befolgt. Während des Protests war die Armee in Bern – ganz im Gegensatz zur Situation in Zürich – noch wenig präsent. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 77 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 77 13.10.20 15:20 DER LANDESSTREIK Nach dem erfolgreichen 24-Stunden-Proteststreik beschloss die Arbeiterunion Zürich gegen die Weisung des Aktionskomitees, den Streik auf eigene Faust weiterzuführen. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit dem Bundesrat und der gewaltsamen Auflösung einer Demonstration in Zürich beschloss in der Nacht vom 10. auf den 11. November das Oltener Aktionskomitee in einer Sitzung mit den Leitungen von Gewerkschaftsbund, Partei und Parlamentsfraktion, den allgemeinen Landesstreik auszulösen. Der Streik begann um Mitternacht des 11. November. Wie der Proteststreik, setzte auch der eigentliche Landesstreik in Bern am 12. November mit voller Wucht ein: «Im Volkshaus tagte das lokale Streikkomitee in Permanenz, Boten kamen und gingen nach allen Seiten; mustergültig war die Disziplin und Solidarität der Arbeiterschaft.»58 Doch auch Bern war nun vollständig militärisch besetzt und es kam zu einigen Zwischenfällen: So räumten am ersten Streiktag Kavallerieeinheiten in der Nähe des Volkshauses mit gezogenem Säbel den Kornhausplatz, wobei sie auch in die Lauben ritten.59 Am letzten Streiktag preschten erneut Kavalleristen in eine Menge auf dem Kornhausplatz, wobei ein Junge durch einen Huftritt verletzt wurde.60 Im abgeriegelten Bundeshaus tagte in Permanenz eine ausserordentliche Session der Bundesversammlung. Das Parlament zeigte sich noch weniger verhandlungsbereit als der Bundesrat. Sozialdemokratische Anträge, auf die Forderungen der Streikenden einzutreten, wurden sehr deutlich abgelehnt. Am frühen Morgen des 13. November liess der Bundesrat die Druckerei der «Berner Tagwacht» an der Kapellenstrasse 6 militärisch besetzen. In diesem Gebäude befanden sich auch das Zentralsekretariat des Metall- und Uhrenarbeiterverbandes (SMUV) und die landesweite Streikleitung. Bern war militärisch vollständig besetzt. Die Kavallerie knüppelte Demonstrationen der Gewerkschaften nieder. 58 Arbeiterunion Bern: Jahresbericht 1918–1921, Bern 1923, S. 11. 59 Der LandesstreikProzess gegen die Mitglieder des Oltener Aktionskomitees vor dem Militärgericht III vom 12. März bis 9. April 1919, Bern: Unionsdruckerei 1919, S. 385 f. 60 Aussage Schneeberger, Landesstreik-Prozess, S. 375. So gut der Streik von der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft befolgt wurde, so zeigte sich nun, dass vor allem auf dem Land sowie in den französisch- und italienischsprachigen Landesteilen die Ablehnung des Streiks vorherrschte. In der Nacht vom 13. zum 14. November beschloss das Oltener Aktionskomitee, wiederum gemeinsam mit Spitzenvertretern von Partei, Fraktion und Ge- 78 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 78 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 [OBEN] Robert Grimm, einer der treibenden Köpfe des LandesABB. 42 streiks, spricht an der Maifeier 1922 vor dem Bundeshaus. [UNTEN] Eine Viertelmillion Lohnarbeitende legt vom 12. bis ABB. 43 14. November 1918 die Arbeit nieder. Sie streikten unter anderem für eine Alters- und Invalidenrente, bessere Arbeitsbedingungen, das Frauenstimmrecht und Proporzwahlen. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 79 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 79 13.10.20 15:20 ABB. 44 Die Teilnehmer der Vorkonferenz zur Gründung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP) auf der Terrasse (3. Stock) des Volkshauses Bern, anfangs Dezember 1920 (Aufnahme von Jacques Zehnder). 80 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 80 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 13.10.20 15:20 werkschaftsbund, den Streik am 14. November um Mitternacht abzubrechen. Ihr Beweggrund: Sie schätzten das Risiko einer gewaltsamen Eskalation als zu hoch ein – und die Arbeiterschaft könne sie nicht gewinnen. Grosse Teile der Streikenden verstanden diesen Beschluss zunächst nicht. So war in einer grossen Versammlung der Streikenden im Volkshaus die Stimmung sehr erbittert. Grimm, der selber gegen den Streikabbruch gestimmt hatte, versuchte dort, die Arbeiterinnen und Arbeiter von der Notwendigkeit des Streikabbruchs zu überzeugen.61 Doch die Versammlung beschloss zunächst, einen Arbeiterrat zu gründen, der den Streik auf eigene Faust weiterführen sollte.62 Ein Grund für diese Spannungen zwischen dem Aktionskomitee und einem Teil der Streikenden war auch die stark behinderte Kommunikation zwischen dem Aktionskomitee und den lokalen Streikkomitees. Die Armee hielt bis am Morgen des letzten Streiktags das Gebäude der «Tagwacht»-Druckerei besetzt. Am Nachmittag konnten die Komiteemitglieder das Gebäude zwar betreten, doch nachdem sie sich geweigert hatten, den Aufruf zum Streikabbruch einer militärischen Vorzensur zu unterstellen, wurden sie dort unter Hausarrest gestellt. Dasselbe Schicksal traf wenig später Stadtpräsident Müller, der sich an die Kapellenstrasse begeben hatte, weil er das Aktionskomitee auffordern wollte, die immer erregtere Stimmung an der Versammlung im Volkshaus zu beruhigen.63 Selbst ein Beamter der Bundesanwaltschaft, der mit demselben Auftrag gekommen war, wurde an der Kapellenstrasse festgehalten.64 Erst um 18 Uhr gab der Bundesrat die Anweisung, die Besetzung des «Tagwacht»Gebäudes aufzuheben. Nun endlich konnte der Aufruf zum Streikabbruch ungehindert gedruckt werden.65 Im Volkshaus blieb die Stimmung angespannt. Polizeidirektor und Gewerkschafter Schneeberger erinnerte sich in seiner Aussage vor dem Landesstreikprozess ein halbes Jahr später an die Stimmung im Grossen Saal des Volkshauses am Abend des letzten Streiktages so: 61 Landesstreik-Prozess, S. 782. 62 Sitzung vom 15. November 1918, Mitteilung Grimm, Auszüge aus den Gemeinderatsprotokollen. In: StAB BB XIIIb 93016. 63 Landesstreik-Prozess, S. 782. 64 Ebd., S. 515 f. 65 Ebd., S. 440; Theophil Sprecher: «Tagebuch Nr. 12, 1–28. November 1918 (gekürzt)», in: Gautschi, Willi (Hg.): Dokumente zum Landesstreik 1918, Zürich: Benziger 1971, S. 331. 66 Landesstreik-Prozess, S. 376 f. «Der Saal war gedrängt voll Leute. Einer nach dem andern, die geschimpft haben über das Aktionskomitee und für Weiterstreiken gesprochen haben, die haben ein tausendstimmiges Bravo bekommen. (…) Es hat alle Mühe gekostet, die Versammlung (…) schliesslich doch dazu zu bringen, dass sie dem Streikabbruch, der vom Aktionskomitee verfügt worden ist, zustimmte.»66 Neben Schneeberger waren es vor allem SMUV-Zentralpräsident Konrad Ilg (1877–1954), SGB-Sekretär Karl Dürr (1875–1928) und August Huggler (1877–1944), der Sekretär des Zugpersonalver- 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 81 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 81 13.10.20 15:20 67 AU Bern: Jahresberichte 1918–21, S. 11. 68 Protokoll des II. Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses. Sonntag, den 22., und Montag, den 23. Dezember 1918, im Volkshaus Bern, Bern: Unionsdruckerei 1919, S. 107. bands, die es schliesslich schafften, die Versammlung im Volkshaus umzustimmen: Gegen 0.30 Uhr beschlossen die Berner Streikenden nach langer und heftiger Diskussion mit grosser Mehrheit, aber «mit Zorn im Herzen, noch immer kampfbereit, einzig dem eisernen Gebot strengster Disziplin folgend», die Wiederaufnahme der Arbeit am Freitagmorgen, dem 15. November.67 «Mit Zorn im Herzen, noch immer kampfbereit, einzig dem eisernen Gebot strengster Disziplin folgend» stimmte die Versammlung im Volkshaus schliesslich dem Streikabbruch zu. Mit der zeitlichen Distanz wuchs das Verständnis für den Entscheid des Aktionskomitees. Die Delegierten des zweiten Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses, der am 22. und 23. Dezember 1918 Bilanz über den Landesstreik zog, genehmigten den Bericht des Oltener Aktionskomitees deutlich mit 201 zu 79 Stimmen.68 82 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 82 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 1914–1921 13.10.20 15:20 ABB. 45 Durch diese Passage gelangt man, wie das barocke Kinderpaar kündet, von der zentralen Marktgasse zum Volkshaus 1914. 1914–1921 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 83 EIN HAUS GEGEN KRIEG UND ELEND 83 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 84 13.10.20 15:20 III. VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 Die Welt taumelt, das Volkshaus (wider-)steht. In der Weltwirtschaftskrise finden Arbeiterinnen und Arbeiter hier Notgeld und Wärme. Und wie die braune Diktatur ganz Europa mit Massenmord überzieht, wird es zum Ort von faustfestem Widerstand und internationaler Solidarität. 85 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 85 13.10.20 15:20 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 86 13.10.20 15:20 Der 1. Weltkrieg destabilisierte die Weltwirtschaft und Europas Gesellschaften nachhaltig. Schon zwischen 1920 und 1923 kam es zu einer schweren Wirtschaftskrise. Die kurze Hochkonjunktur der «Goldenen Zwanzigerjahre» dauerte nur gerade von 1924 bis 1928. 1929 begann die Weltwirtschaftskrise, mit ihrem Gefolge von Massenarbeitslosigkeit und zerstörten Lebenshoffnungen. In vielen Ländern hatten sich nach 1918 erstmals demokratische Verfassungen durchgesetzt. Doch in der Krise erstarkten gewalttätige, autoritäre und ultranationalistische Gruppierungen. Sie lehnten die Demokratie grundsätzlich ab und forderten eine aggressive, kriegerische Aussenpolitik. Ihr Vorbild war die in Italien schon ab 1922 herrschende faschistische Partei Benito Mussolinis. Besonders aggressiv richteten sich die faschistischen Bewegungen gegen die Arbeiterbewegung. So führten 1920 und 1921 von Grossgrundbesitzern finanzierte faschistische Milizen einen Terrorfeldzug gegen die italienischen Landarbeitergewerkschaften, töteten Vertrauensleute und brannten Volkshäuser nieder. An der Macht angekommen, zerschlugen faschistische Regimes die unabhängige Gewerkschaftsbewegung und beseitigten sämtliche demokratischen Rechte. In Deutschland kam mit Hitlers NSDAP 1933 eine besonders brutale Form einer faschistischen Bewegung an die Macht, in Österreich 1934 (ähnlich wie zuvor in Portugal und später in Spanien) ein autoritär-reaktionäres Regime, das teilweise faschistische Methoden übernahm. Alle faschistischen Regime jagten die Mitglieder der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien. In Deutschland wurden bereits 1933 Tausende von ihnen ohne Gerichtsurteil in Konzentrationslager verschleppt. Einigen gelang die Flucht ins Ausland. Der wohl bekannteste politische Flüchtling aus Deutschland in Bern war Georg Ledebour (1850–1947). Seine Frau Minna und er wohnten nach ihrer Ankunft in Bern für einige Zeit im Volkshaus. Die Weltwirtschaftskrise dauerte in der Schweiz länger als anderswo. Der Grund dafür war die Abbaupolitik der Regierung. In der Schweiz brach die Weltwirtschaftskrise später durch als anderswo, aber dauerte dann auch besonders lange. Viele Lohnarbeitende verloren Arbeitsplatz und Brot. Eine obligatorische Arbeitslosenversicherung existierte noch nicht. Umso wichtiger waren die gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen. Sie erhielten öffentliche Subventionen. Verwaltet wurden die Kassen auf lokaler Ebene in den Gewerkschaftssekretariaten, die sich in Bern damals grösstenteils im Volkshaus befanden. Für die Erwerbslosen war das Lese- 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 87 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 87 13.10.20 15:20 ABB. 46 GUERNICA Picassos Protest gegen den faschistischen Terror. Während Europas Demokratien der spanischen Republik ihre Hilfe versagten, unterstützten NaziDeutschland und das faschistische Italien den Militärputsch des späteren Diktators Franco. Am 26. April 1937 flogen 131 deutsche Kampfflugzeuge der Legion Condor und 13 italienische Flugzeuge einen Luftangriff auf die baskische Stadt Guernica. Es war das erste Terrorbombardement gegen eine Zivilbevölkerung der modernen Kriegsgeschichte. Zuerst wurden Sprengbomben, dann Brandbomben abgeworfen. Voller Zorn begann Pablo Picasso in Paris nur Tage später mit den Vorstudien zu einem Monumentalgemälde (3,5 mal 7,8 Meter). Er stellte «Guernica» im Juni 1937 fertig. Heute ist es eines seiner bekanntesten Werke. 88 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 88 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:20 zimmer der Arbeiterbibliothek im Volkshaus vor allem in den kälteren Jahreszeiten ein beliebter Aufenthaltsort. Arbeitslose Arbeiterinnen und Arbeiter bezogen im Volkshaus ihr Stempelgeld. Und wärmten sich in der Bibliothek. Verantwortlich dafür, dass die Krise in der Schweiz länger dauerte, war nicht zuletzt die Politik des Bundesrats, der die Krise durch eine harte Sparpolitik zu überwinden suchte, die im Gegenteil krisenverschärfend wirkte. In rechtsbürgerlichen Kreisen mehrten sich Stimmen, die forderten, diese Politik nach dem Vorbild der faschistischen Diktaturen gewaltsam durchzusetzen. Gegen diese Radikalisierung des Klassenkampfs von oben entwickelten die Gewerkschaften eine neue Strategie. Gegen Krise und Faschismus setzten sie nun auf ein breites Bündnis mit den Angestelltenverbänden und Teilen der Bauernschaft. Die antifaschistische Zeitschrift «Die Nation» war das Organ dieser breiten Allianz. Gemeinsam lancierten diese Kräfte die «Kriseninitiative». Sie postulierte eine Wirtschaftspolitik, die sich an der Förderung der Massenkaufkraft orientieren sollte. In der Abstimmung vom 2. Juni 1935 scheiterte die Volksinitiative relativ knapp. Im Kanton Bern wurde sie – wie in den beiden Basel, Schaffhausen und Solothurn – angenommen. Angesichts der aggressiven Aussenpolitik der faschistischen Staaten änderte die Sozialdemokratische Partei 1935 zudem ihre bisherige Haltung zur Armee. Sie war nun bereit, die schweizerische Demokratie auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen und die entsprechenden Mittel zu bewilligen. Mit dieser strategischen Konzeption, die den Kampf gegen die Krise und den Faschismus eng verband, zog die schweizerische Linke auch die Lehren aus dem Untergang der ersten deutschen Demokratie, der «Weimarer Republik». Ab 1930 hatte dort die Regierung von Kanzler Brüning mit ausserordentlichen Vollmachten eine harte Abbaupolitik betrieben. Grosse Teile der Bevölkerung verloren den Glauben an die Demokratie. Vor allem in den Mittelschichten gewann Hitlers NSDAP an Boden. Die deutsche Arbeiterbewegung war gespalten. Die SPD tolerierte die BrüningRegierung trotz ihrer Abbaupolitik, denn sie sah diese immer noch als «kleineres Übel» gegenüber Hitler. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 89 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 89 13.10.20 15:20 ABB. 47 Georg Ledebour wurde 1850 in Hannover geboren und starb 1946 mit 97 Jahren in Bern. Als SPD-Abgeordneter im deutschen Reichstag (ab 1900) kritisierte er das Kaiserreich und den preussischen Militarismus scharf. Als prominentestes Mitglied der deutschen Delegation an der Zimmerwalder Konferenz war er federführend für die deutsch-französische Erklärung gegen den Krieg. Kurz darauf, im Dezember 1915, stimmte er im Reichstag gegen die Kriegskredite. Wie andere Kriegsgegner wurde er darauf aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und gehörte 1917 zu den Initianten der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). 1919 stand er mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an der Spitze des Berliner Januar-Aufstandes. Doch im Unterschied zu ihnen überlebte er die Repression. 1933 floh Georg Ledebour mit seiner Frau Minna vor den Nazis nach Bern. Robert Grimm kümmerte sich um ihre Aufenthaltserlaubnis. Ihr erster Wohnsitz in Bern war das Volkshaus. 90 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 90 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:20 [OBEN] Am 13. März 1936 demonstrierten über 10 000 ABB. 48 Arbeitslose auf Aufruf des kantonalen Gewerkschaftskartells in Bern. [UNTEN] Arbeitslos! Das bestimmende Thema jener Jahre, ABB. 49 hier als vom bekannten Fotoreporter Paul Senn (vor dem Volkshaus) aufgenommenes Titelbild von «Der Aufstieg», der von der gewerkschaftseigenen Unionsdruckerei herausgegebenen «Illustrierten Familienzeitschrift für das arbeitende Volk der Schweiz». 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 91 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 91 13.10.20 15:20 ABB. 50 Im Abonnement gut und billig essen – das Restaurant des Volkshauses spielte in Krisenjahren eine entscheidende Rolle für die Versorgung der Arbeitenden. 92 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 92 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:20 [OBEN] Arbeitslose finden im städtischen Arbeitsamt ABB. 51 Speis und Trank. [UNTEN] Ausschnitt aus dem Menübuch des Küchenchefs von ABB. 52 1944, verfasst in französischer Sprache, so wie es für ambitionierte Köche üblich war. Am 4. Mai 1944 gab es trotz eidgenössischer Lebensmittelrationalisierung etwa Hecht auf Marseiller Art, indische Reistafel oder eine «Charlotte diplomate». 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 93 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 93 13.10.20 15:21 EINE SCHLÄGEREI IM VOLKSHAUS 1933, im sogenannten «Frontenfrühling», schossen unter dem Eindruck der Machtübertragung an Hitler in Deutschland auch in der Schweiz faschistische Gruppen und Grüppchen wie Pilze aus dem Boden. Die «Frontisten» oder «Fröntler», wie man die schweizerischen Faschisten nach der grössten derartigen Gruppierung («Nationale Front») nannte, konnten bei Wahlen nur an einigen wenigen Orten vorübergehend Erfolge verbuchen, vor allem in den Kantonen Schaffhausen, Zürich und Genf. In Bern blieben sie schwach. Aus der Krise wuchs der Faschismus. Auch in der Schweiz. Doch in Bern blieb er immer schwach. Erstmals öffentlich in Erscheinung trat die Nationale Front in Bern am 13. und 26. Juni 1933 mit zwei Versammlungen im Casino. An der zweiten Versammlung waren die Führer der Zürcher und Genfer Faschisten, Robert Tobler und Georges Oltramare, die Hauptredner. Oltramare hatte bereits traurige Berühmtheit erlangt: Auf eine Gegendemonstration der Genfer Arbeiterbewegung zu einer Oltramare-Versammlung am 9. November 1932 hatte die Armee das Feuer eröffnet. Bilanz: 13 Todesopfer und 65 Schwerverletzte. Bei der «Genfer Blutnacht» handelt es sich um den tödlichsten innenpolitischen Zusammenstoss in der Geschichte der Schweiz seit den revolutionären Umbrüchen Mitte des 19. Jahrhunderts. Für die «Berner Tagwacht» war deshalb eine Versammlung mit einem Auftritt Oltramares, «in dem die Arbeiterschaft einen der Hauptschuldigen am Genfer Arbeitermord erblickt, (…) eine Provokation an sich».69 Im Vorfeld von Oltramares Auftritt kam es am 24. Juni 1933 auch zu einem bezeichnenden Zwischenfall im Volkshaus. Nach elf Uhr abends betraten vier Frontisten das Restaurant des Volkshauses. Wie die «Berner Tagwacht» berichtete, hielten sie «den erstaunten und bald empörten Gästen Flugzettel für die Oltramare-Versammlung unter die Nase. Ausgerechnet im Volkshaus. Und zwar nach Aussagen der Gäste sehr unanständig, die Zettel wurden den Gästen geradezu aufgedrängt.»70 69 «Planmässige Provokation. Oltramareleute dringen ins Berner Volkshaus ein. Blutige Schlägerei», in: Berner Tagwacht 41 (26.6.1933), Nr. 146, S. 1. Eine Gruppe Metallarbeiter forderte die ungebetenen Gäste auf, das Volkshaus sofort zu verlassen. «Da zog einer der Provokateure eine Stahlrute und hieb dem Genossen Fritz Hügli über den Kopf, dass sofort das Blut aufspritzte. Aber jetzt! Die vier wurden von kräftigen Metallarbeiterfäusten 70 Ebd. 94 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 94 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 ABB. 53 Sie schalteten die Gewerkschaften aus: Nazi-Milizen besetzen am 2. Mai 1933 das Gewerkschaftshaus am Berliner Engelufer. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 95 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 95 13.10.20 15:21 ABB. 54 Schweizer Faschisten sammelten sich unter dem Etikett «Nationale Front». 1961 nannte sich die Nachfolgepartei «Nationale Aktion». Das Plakatmotiv «Wir säubern» wurde seither von den Rechtsextremen immer wieder aufgenommen. Mit einer ähnlichen Ikonografie arbeitet auch die Schweizer Volkspartei SVP, derzeit (2020) wählerstärkste Partei im Land. 96 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 96 ABB. 55 Die Auftritte des Genfer Faschisten und Antisemiten Georges Oltramare waren regelmässig als Provokationen organisiert. In der «Genfer Blutnacht» 1932 erschoss die Armee 13 Demonstranten, die gegen eine Oltramare-Veranstaltung protestierten. Im Vorfeld von zwei Auftritten in Bern überfielen die Faschisten auch das Volkshaus. VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 zusammengehauen, die Stahlrute wurde ihnen entrissen, später fand man sie am Boden.»71 Nach Beginn der Schlägerei stürmten weitere Frontisten in das Lokal. «Sie wurden empfangen und behandelt wie ihre Kollegen, die Empörung der Metallarbeiter über den hinterlistigen Überfall war angesichts der Stahlrutenarbeit aufs höchste gestiegen, blutig geschlagen, die Kleider ‹z’Hudle und z’Fätze› zerrissen, flogen die Oltramaretruppen zum Volkshaus hinaus.»72 71 «Planmässige Provokation. Oltramareleute dringen ins Berner Volkshaus ein. Blutige Schlägerei», in: Berner Tagwacht 41 (26.6.1933), Nr. 146, S. 1.. 72 Ebd. 73 Ebd. Die mitgebrachte Stahlrute und die draussen wartenden Hilfsmannschaften wiesen darauf hin, dass es sich um eine bewusste Provokation handelte – eine von faschistischen Gruppen immer wieder angewandte Taktik. Faschistische Schläger aus den «besten Kreisen» griffen das Volkshaus an. Metallarbeiter schlugen sie zurück. Die Rechnung ging allerdings in diesem Fall nicht auf, alle am Überfall beteiligten Frontisten wurden von der Polizei angehalten. Die festgestellten Personalien enthüllten, dass ein Teil der Provokateure aus den «besseren» Kreisen stammte: Mit der Stahlrute zugeschlagen hatte ein aus Deutschland stammender und im neuenburgischen Les Verrières wohnhafter Arzt namens Sutter. Weiter befand sich der Jusstudent Hans Ulrich von Erlach (1910–2005) unter den Angreifern – ein Enkel von General Ulrich Wille. Erlach brachte es später im Militär ebenfalls bis nach ganz oben. Identifiziert wurde auch der erfolgreiche Architekt Ernst Walter Ebersold (1894–1968). Für die «Berner Tagwacht» war die handfeste Antwort der Metallarbeiter auf die Provokation der Frontisten wenig überraschend: «Die Arbeiterschaft wird die Frontenversammlungen nicht stören. Sie wird kämpfen wie bisher mit allen legalen Mitteln für die Interessen der lohnarbeitenden Klasse. Aber wenn sie von Leuten, die den schweren Existenzkampf der Arbeiter nicht kennen, in ihrem eigenen Heim aufgesucht und provoziert, wenn sie von den Herrschaften belästigt und im eigenen Kreis herausgefordert werden, dann wird jedesmal die Antwort so erfolgen wie am Samstagabend. Das ist keine Drohung, das ist ganz einfach eine nüchterne Feststellung.»73 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 97 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 97 13.10.20 15:21 DAS HAUS DER GELEBTEN INTERNATIONALEN SOLIDARITÄT Teil eines grösseren Ganzen zu sein, prägte das Bewusstsein der Berner Arbeiterbewegung. Bei wichtigen Ereignissen im Ausland fanden regelmässig öffentliche Protestversammlungen im grossen Saal des Volkshauses statt. Diese demonstrativen Veranstaltungen waren Ausdruck der internationalen Solidarität. Gerade während der von der Krise und der faschistischen Bedrohung geprägten Jahre wurden einige dieser Anlässe zu eindrücklichen Massenveranstaltungen. Bereits am 19. Juni 1924 organisierte die Arbeiterunion Bern im Volkshaus eine grosse Protest- und Gedenkveranstaltung für den italienischen Sozialistenführer Giacomo Matteotti, der neun Tage zuvor in Rom von Faschisten ermordet worden war. Bei dieser Gelegenheit charakterisierte Robert Grimm den italienischen Faschismus: «Am Anfang der faschistischen Bewegung steht das Verbrechen, das Banditentum.»74 Besonders gross war der Andrang am 15. Februar 1934 zu einer «Sympathie- und Protestkundgebung der Berner Arbeiterschaft» für den bewaffneten Aufstand der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Diktatur von Kanzler Dollfuss. «Der grosse Volkshaussaal erwies sich als zu klein, obgleich alle Tische ausgeräumt waren. Der Speisesaal wurde angefügt und füllte sich im Nu. Lange vor 8 Uhr. Der Unionssaal wurde freigemacht von Tischen und Stühlen, im nächsten Moment war auch da kein Platz mehr zu finden, dicht gedrängt standen die Massen. Die Türen wurden geöffnet und bis in die Korridore standen die Menschen in dichten Klumpen. Und hunderte, die zu spät kamen, mussten trübselig wieder umkehren, es war einfach kein Platz mehr zu finden.»75 74 Rede Grimm, 10.6.1924, zit. n. Adolf McCarthy: Robert Grimm. Der schweizerische Revolutionär, Bern: Francke 1989, S. 273. 75 «Zu Ehren des österreichischen Proletariates. Nie gesehener Aufmarsch im Volkshaus», in: Berner Tagwacht 42 (16.2.1934), Nr. 39. Neben der angekündigten Rede von Robert Grimm im vorgesehenen Grossen Saal zum «Kampf in Österreich» sprach im Unionssaal zusätzlich «Tagwacht»-Redaktor Ernst Bütikofer. Der Grossandrang überraschte nicht: Die österreichische Sozialdemokratie war in der Zwischenkriegszeit eine der weltweit stärksten Arbeiterparteien. Das «Rote Wien» mit seiner Wohnbau-, Bildungs- und Sozialpolitik galt international als Vorbild für eine fortschrittliche Kommunalpolitik. Doch im März 1933 liess der christlich-soziale österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuss unter fadenscheinigen Vorwänden das Parlament auflösen. Danach drängte er die Sozialdemo- 98 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 98 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 kratie immer mehr in die Illegalität. Dollfuss orientierte sich aussen- und innenpolitisch zunehmend am Vorbild Mussolini. Am 12. Februar 1934 wehrte sich in Linz die dortige Einheit des «Republikanischen Schutzbundes» – der sozialdemokratischen Parteimiliz – spontan mit der Waffe in der Hand gegen eine Polizeirazzia im «Hotel Schiff», dem dortigen Volkshaus. Die Kämpfe breiteten sich schnell auf Wien und andere städtische und industrielle Zentren Österreichs aus. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften Österreichs riefen den Generalstreik aus. Doch die Arbeiterschaft, durch die hohe Arbeitslosigkeit demoralisiert, folgte dem Aufruf nicht massenweise. Mehrere Tage lang kämpften die Schutzbündler, bevor sie der Übermacht der Armee, der Polizei und der faschistischen Heimwehren unterlagen. Zum Zeitpunkt der Veranstaltung im Berner Volkshaus waren die Kämpfe zwar noch im Gang, es war allerdings bereits klar, dass sie nicht mit einem Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter enden würden. Das Dollfuss-Regime nahm blutige Rache. Mehrere Schutzbundführer wurden standrechtlich hingerichtet, Tausende Gewerkschafts- und Parteimitglieder verhaftet. Die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und ihnen nahestehende Organisationen wurden verboten. Trotzdem war der Verzweiflungskampf der österreichischen Arbeiter ein Hoffnungszeichen im internationalen Kampf gegen den Faschismus. Nur ein Jahr zuvor war die gespaltene deutsche Arbeiterbewegung weitgehend kampflos der brutalen Repression der Nazis unterlegen. Hingegen zeige der militante Widerstand in Österreich, so sagte Grimm in seiner Rede im Volkshaus, «… dass die Arbeiterschaft nicht wehrlos ist und nicht wehrlos untergehen muss, wenn der Untergang schon nicht zu vermeiden ist. ‹Er hat gezeigt, dass man in Ehren und in Anstand untergehen kann.› (…) Der Eindruck dieses Heldentums auf das Weltproletariat ist ein unvergesslicher. Es ist kein Sieg errungen worden, dennoch geben die Kämpfe in Österreich der Arbeiterschaft in allen Ländern einen neuen Impuls.»76 Damit sollte Grimm Recht behalten. In den folgenden Jahren gelang es Linksbündnissen, den weiteren Vormarsch des Faschismus in Westeuropa vorerst zu stoppen. Ebenfalls im Februar 1934 demonstrierten in Frankreich rund eine Million Menschen gegen einen gescheiterten faschistischen Putschversuch. Spontan vereinigten sich dabei die anfangs getrennt formierten kommunistischen und sozialistischen Demonstrationszüge. Sie stellten damit die Spaltung der Arbeiterbewegung in Frage, die in Deutschland so verhängnisvoll gewirkt hatte. Inspiriert vom österreichischen Vorbild erhoben sich im Oktober 1934 in Spanien die asturischen Bergarbeiter gegen den Eintritt einer rechtsradikalen Partei in die Regierung. Wie in Österreich 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 99 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 76 Ebd. 99 13.10.20 15:21 77 «Die Spanien-Feier im Berner Volkshaus», in: Berner Tagwacht 46 (19.7.1938), Nr. 167. ging der Kampf verloren. Doch erneut hatten Arbeiter bewiesen, dass sie bereit waren, dem Faschismus unter Einsatz ihres Lebens entgegenzutreten. 1936 gewannen in Spanien und Frankreich Volksfronten, Bündnisse aus sozialistischen, kommunistischen und linksbürgerlichen Parteien, die Parlamentswahlen. In Frankreich kam es kurz nach dem Wahlsieg des Front populaire zu einer massiven spontanen Welle von Streiks und Betriebsbesetzungen. Nach einem Monat konnten die Gewerkschaften in tripartiten Verhandlungen mit den Unternehmerverbänden und der Regierung bedeutende Lohnerhöhungen, die Vierzigstundenwoche und zwei Wochen bezahlte Ferien durchsetzen. Stattliche 1000 Personen kamen am 16. Juli 1936 zu einer Kundgebung ins Berner Volkshaus, um sich gegen die Verbrechen des Hitler-Regimes und die Politik der Schweizer Regierung zu stellen. Robert Grimm kritisierte das Festhalten der Landesregierung an der Deflationspolitik und die mangelnde Arbeitsbeschaffung. Und er griff den Kurs von Aussenminister Giuseppe Motta an, der einerseits die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund bekämpfte und andrerseits Sanktionen gegen Mussolinis Italien ablehnte – Italien führte in Äthiopien gerade einen Eroberungs- und Ver nichtungskrieg. Der Sekretär der SP des Kantons Bern, Fritz Giovanoli (1898–1964), geisselte in seiner Rede das Todesurteil der Nazi-Justiz gegen den Hamburger Kommunisten Edgar André. Rund 800 Schweizer Sozialisten, Kommunisten und Demokraten wählten in jener Zeit ein radikales Engagement. Sie verteidigten als «Spanienkämpfer», die Waffe in der Hand, die Republik gegen die spanischen Faschisten. Am 18. Juli 1938 drückten im grossen Volkshaussaal mehr als 1200 Berner Arbeiterinnen und Arbeiter an der Veranstaltung «2 Jahre Krieg in Spanien» ihre Solidarität mit der spanischen Republik aus. Hauptreferentin war Regina Kägi-Fuchsmann (1889–1972), die Leiterin des zwei Jahre zuvor von SP und Gewerkschaften gegründeten Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH). Sie erklärte Vorgeschichte und Ursachen des spanischen Bürgerkriegs, berichtete vom Leiden der Zivilbevölkerung und der Kampfbereitschaft des spanischen Volks für die Verteidigung der Demokratie gegen die Putschisten um General Franco und dessen Verbündete in Rom und Berlin. Unterstrichen wurden die Ausführungen der Referentin durch den anschliessend gezeigten Tonfilm «Cœur d’Espagne», der die Versammelten mit seinen erschütternden und realistischen Bildern stark bewegte: «Es waren nicht nur Schweisstropfen, die auch harte, schwielige Männerhände, gestern, im heissen Saal vom Gesicht wischten …»77 100 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 100 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 ABB. 56 Im Schweizer Bürgertum, in der Armee und sogar in der Regierung sympathisieren etliche Figuren mit Nazi-Deutschland. Am 1.-Mai-Umzug 1939 in Zürich verlangten die Gewerkschaften, die Hitler-Freunde unter den Offizieren aus der Armee zu entfernen. Der 2. Weltkrieg stand unmittelbar bevor. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 101 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 101 13.10.20 15:21 ABB. 57 Der Kongress der Gewerkschaft SMUV tagte 1927 im Berner Volkshaus. Im SMUV als der damals mit Abstand grössten Einzelgewerkschaft waren die Arbeitenden der Metall-, Maschinen- und Uhrenindustrie organisiert. 102 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 102 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 ABB. 58 «Für eine Regierung der Werktätigen»: Der Wahlparteitag der SPS vom Herbst 1935 stand ganz im Zeichen des Kampfs gegen die Krise und den Faschismus. Der Parteitag fand im grossen Saal des Volkshauses statt. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 103 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 103 13.10.20 15:21 78 «Freiheitskundgebung», in: Berner Tagwacht 46 (24.10.1938), Nr. 250. 79 «Hinaus mit den Verrätern!», in: Berner Tagwacht 46 (25.10.1938), Nr. 251, S. 1 Die Referentin kritisierte an diesem Anlass auch die Nichtinterventionspolitik der Westmächte scharf. Frankreich und Grossbritannien hatten die Republik im Stich gelassen. Sie verboten Waffenlieferungen an die spanische Regierung, während die faschistischen Diktaturen die Putschisten mit Truppen, Waffen und Bombardierungen unterstützten. Nur die Sowjetunion hielt der spanischen Republik die Stange. Sie nutzte dies auch dazu, über die Komintern ihren politischen Einfluss in Spanien zu verstärken. Es kam zu selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen innerhalb des republikanischen Lagers und in einigen Fällen sogar zum Export stalinistischer Terrormethoden nach Spanien. Auch anderswo gaben die demokratischen Westmächte vor den Drohungen der faschistischen Diktaturen nach. An der Münchner Konferenz von Ende September 1939 liessen Frankreich und Grossbritannien die demokratische Tschechoslowakei fallen, NaziDeutschland besetzte mit ihrer Billigung die deutschsprachigen Grenzgebiete Tschechiens. Die Empörung über den «Verrat von München» war auch in der Berner Arbeiterschaft gross. Am 23. Oktober 1938 nahmen überraschend 1200 Frauen und Männer an einer Protestversammlung der relativ unbekannten Organisation «Freunde der Sowjetunion» im Grossen Saal des Volkshauses teil. Otto Pünter (1900–1988), sozialdemokratischer Journalist und Koordinator eines klandestinen antifaschistischen Nachrichtendienstes, leitete die Versammlung. Fritz Giovanoli, Parteisekretär der SP des Kantons Bern, hielt das Referat. Bei der Verabschiedung der Schlussresolution versuchten drei Fröntler, die Veranstaltung zu stören.78 Die Reaktion der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war eindrücklich, wie Augenzeugen in der «Berner Tagwacht» berichteten: «Der eigentlichen Aktion voraus ging ein kleiner Disput zwischen den Nazis und den in der Nähe sitzenden Teilnehmern, plötzlich fiel der Ruf: ‹Hinaus mit den Verrätern!› Wie ein Mann erhob sich die Versammlung und der Ruf schwoll an. Die Nazis wurden durch die Türen gedrängt, und als einer ‹Heil Hitler› rief, gab es einige Hiebe; die Erregung wuchs noch, als der eine Nazi, aus der Nase blutend, in schnarrendem Hochdeutsch rief: ‹Ihr werdet mit uns noch zu tun bekommen!› Die Polizei rettete ihn, indem sie ihn in Empfang nahm und die erzürnten Versammlungsteilnehmer auf gute Bernerart beruhigte: ‹Löt ne jtz, mir nähme’ne itz mit!›»79 Anschliessend wurde der Film «Helden der Luft» über die sowjetische Luftfahrt gezeigt. Die Sowjetunion galt damals weit über die Anhänger der kommunistischen Parteien hinaus als einziges verlässliches Bollwerk gegen den Faschismus. Der Bericht über die Versammlung in der «Tagwacht» vertrat ebenfalls diese Haltung, 104 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 104 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 merkte allerdings auch an, dass Sowjetrussland «bittere Rätsel» aufgebe.80 Stalins «Grosser Terror» gegen echte und vermeintliche Oppositionelle war damals noch in vollem Gang. Die Hoffnung wurde vorerst enttäuscht: Kurz bevor der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen begann, schloss Stalin überraschend einen Pakt mit Hitler. Lange hielt der nicht: Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 23. Juni 1941 kam schliesslich das Bündnis der westlichen Demokratien mit der Sowjetunion zustande. Unter gewaltigen Opfern trugen die Völker der Sowjetunion entscheidend dazu bei, dass der Krieg 1945 mit dem Sieg der Alliierten über die faschistischen Achsenmächte endete. KNAPP AM BANKROTT VORBEI Viele Hotelgäste blieben in jenen Jahren aus. Ab 1932 ging der Umsatz des Volkshaus-Betriebes deutlich zurück. Die Krise schlug sich, leicht verzögert, auch in den Betriebsergebnissen nieder. Eine personelle Fehlbesetzung in der Direktion verschlimmerte die Probleme. Auch als nach der Abwertung des Schweizer Frankens 1936 die Konjunktur wieder anzog, besserte sich die finanzielle Lage des Volkshauses nicht: In den Jahren 1936 bis 1940 schloss seine Rechnung mit Verlusten ab.81 1938 kam es zu einem heftigen Konflikt im Verwaltungsrat. Albert Berner (1870–1944), Direktor der Unionsdruckerei Bern, machte den Verwaltungsratspräsidenten Ferdinand Steiner (1888– 1957), der auch die Geschäfte der Berner SMUV-Sektion führte, für die missliche Lage des Volkshauses mitverantwortlich. Steiner trat zurück und reichte eine Ehrverletzungsklage ein. Der Zwist endete schliesslich mit einer aussergerichtlichen Einigung.82 Politisch war das Volkshaus ein Magnet. Aber finanziell ging es in den 1940er-Jahren beinahe bankrott. Doch der Konkurs rückte bedrohlich näher. Am 30. Juli 1940 sah sich die Volkshaus AG gezwungen, ein Nachlassverfahren zu beantragen. Auf Druck der Stadt Bern übernahm am 1. Februar 1941 eine Sanierungskommission die Leitung und Verwaltung der Volkshaus-Gesellschaft. Diese Sanierungskommission bestand mehrheitlich aus Vertretern der Gläubiger. Durch Preiserhöhungen im Hotel und Restaurant, höhere Mietzinse für die Sekretariate und das Kino konnten die Betriebsergebnisse wieder verbessert werden. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 105 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 80 «Freiheitskundgebung», in: Berner Tagwacht 46 (24.10.1938), Nr. 250. 81 Zingg, Karl: Das Berner Volkshaus 1914–1964. Jubiläumsschrift, Bern 1964, S. 32 ff.; Haari, Erwin, Schweizer, Kurt: Das Berner Volkshaus und das neue Hotel Bern, 1914–1989, Gümligen: Wefo Verlag 1989, S. 9. 82 SMUV Sektion Bern: Bericht über die Jahre 1937 und 1938, S. 11–22. 105 13.10.20 15:21 83 Zingg, K.: Volkshaus 1914–1964, S. 34–44. Die Schuldenlast aber blieb hoch. Eine solidarische Bürgschaft der grossen Berner Gewerkschaften ermöglichte schliesslich die Aufnahme eines Kredits bei der Genossenschaftlichen Zentralbank. Die finanzielle Sanierung kam erst 1945 zu einem Abschluss. Das Haus der Arbeitenden war nur knapp am Bankrott vorbeigeschrammt. Dabei musste unter anderem auch das ganze alte Aktienkapital abgeschrieben werden. Die neuen Aktien zeichneten die Gewerkschaften, die Unionsdruckerei und die Einwohnergemeinde Bern. Diese solidere Ausstattung mit Eigenkapital ermöglichte die Aufnahme von Krediten für längst notwendige Umbauten.83 106 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 106 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 1922–1944 13.10.20 15:21 WER DRUCKT, HAT MACHT Dass neben dem Volkshaus eine Druckerei zu einem anderen zentralen Ort der Berner Arbeiterbewegung wurde, sollte nicht verwundern. Zeitungs- und Buchdruck waren Voraussetzungen für die demokratische Emanzipation. Und nur eigene Druck- und Verlagskapazitäten sicherten im 19. und 20. Jahrhundert die politische Einflussnahme. Davon zeugt nicht zuletzt die militärische Besetzung der Unionsdruckerei während des Landesstreiks 1918. Um ihre Zeitung «Berner Tagwacht» zu drucken, hatte die Arbeiterunion 1898 die Genossenschaft Unionsdruckerei Bern gegründet. Ab 1902 wurden dort auch die SMUV-Zeitung, dann weitere Organe der Gewerkschaften hergestellt. 1915 übernahm die Unionsdruckerei die Sozialdemokratische Presseunion und gab die «Tagwacht» nun in Eigenregie heraus. Das enge Verhältnis sollte bis 1987 halten: Die «Tagwacht» trennte sich von der Unionsdruckerei, zehn Jahre später wurde das Blatt im Rahmen des Sterbens der SP-Presse endgültig eingestellt. 2002 verwandelte sich die Druckerei-Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft, und die Gewerkschaftsblätter, wie das 2001 gegründete «work», wurden nun anderswo gedruckt. Im 1922 erworbenen grossen Gebäude der Unionsdruckerei an der Monbijoustrasse 61 sind heute unter anderem der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB, diverse lokale Gewerkschaftssektionen, das lokale Sekretariat der SP und der Mieterverband untergebracht. [OBEN] 1922 zog die Unionsdruckerei ABB. 59 in den Neubau an der Monbijoustrasse 61. [UNTEN] Schriftsetzer bei der ABB. 60 Arbeit in der Setzerei der neuen Unionsdruckerei an der Monbijoustrasse, 1925. 1922–1944 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 107 VON KRISE, NAZI-STAHLRUTEN UND BEINAHE-KONKURS 107 13.10.20 15:21 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 108 13.10.20 15:21 IV. VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 Nach dem Krieg hatten die Gewerkschaften Zulauf, die Lohnarbeitenden kamen zu ein wenig Wohlstand und sozialer Sicherheit. Doch der Weg vom Arbeitsfrieden zur Sozialpartnerschaft stellte mit den Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und dem Volkshaus einiges an. 109 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 109 13.10.20 15:21 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 110 13.10.20 15:21 In den Jahren vor, während und nach dem 2. Weltkrieg wurden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse neu geordnet. Vorerst stärkte die Niederlage der faschistischen Diktaturen die politischen Kräfte, die für den sozialen Fortschritt einstanden. Mit radikalen Reformen wollten sie die Ursachen von Krise, Faschismus und Krieg beseitigen. So wurde etwa in Frankreich das Programm der Résistance vorübergehend zur Richtschnur politischen Handelns. Es forderte einen starken Ausbau der Sozialversicherungen und eine «echte soziale und wirtschaftliche Demokratie» durch die «Rückführung an die Nation» der «grossen monopolisierten Produktionsmittel, Früchte der Arbeit aller, der Energiequellen und der Bodenschätze, der Versicherungskonzerne und der grossen Banken». Dieses Programm, das heute, nach dem neoliberalen Bruch, wie ein revolutionäres Traktat wirken kann, war die Frucht langer Konsultationen und eines breiten Kompromisses von links bis rechts. Ähnliche Programme standen damals auch in Grossbritannien, Italien, Österreich und im besetzten, bald geteilten Deutschland auf der Tagesordnung. Der Kalte Krieg und höhere Löhne dämpften die sozialistische Aufbruchsstimmung nach dem 2. Weltkrieg rasch. Zwar dämpfte der Kalte Krieg die demokratisch-sozialistische Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegsjahre rasch. Dennoch setzte sich die Einsicht durch, dass der Kapitalismus über eine aktive Wirtschaftspolitik, soziale Sicherheit und kollektive Arbeitsverträge (in der Schweiz: «Gesamtarbeitsverträge») reguliert werden musste. Diese Erkenntnis wurde durch massive Streiks, starke Wahlergebnisse der Kommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und weiteren Ländern und durch die Konkurrenz mit dem Sowjetblock befördert. Wichtige sozial- und wirtschaftspolitische Errungenschaften aus dieser Zeit blieben bis zum neoliberalen Bruch in den 1980er-Jahren erhalten. Das Kapital liess sich auf einen Kompromiss mit der Arbeit ein, zu beiderseitigem Nutzen. Umgekehrt rückte auf sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Seite das weitergehende Ziel, den Kapitalismus zu überwinden, zunehmend in den Hintergrund. In der Schweiz war im Jahr 1950 rund die Hälfte der Lohnarbeitenden Gesamtarbeitsverträgen (GAV) unterstellt. Eine grosse Streikwelle in den Jahren 1945–1947 hatte das Prinzip GAV auch gegenüber den Textil-, Chemie- und Bekleidungsindustriellen durchgesetzt, die bis dahin besonders hartnäckig am «Herr im Haus»-Standpunkt festgehalten hatten. Damit fügten sie sich in ein System institutionell 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 111 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 111 13.10.20 15:21 geregelter Beziehungen mit den Gewerkschaften ein. Bald wurde dieses System «Sozialpartnerschaft» genannt. Trotz dieses harmonisch tönenden Begriffs blieben die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit von grundlegenden Interessengegensätzen geprägt. Mit der Annahme der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) wurde 1947 ein Grundstein zum Sozialstaat gelegt. Sie war eine alte Forderung des Generalstreiks von 1918. Eine andere wichtige Forderung, das Frauenstimmrecht, liess dagegen noch weitere 24 Jahre auf sich warten – die Schweiz räumte den Frauen dieses Grundrecht 1971 als eines der weltweit letzten Länder ein. Im Jahr der AHV-Gründung nahmen die Stimmberechtigten auch die neuen Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung an. Mit dem Vollbeschäftigungsziel und der Kontrolle von Kartellen und Trusts griffen die Wirtschaftsartikel zwei zentrale sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Forderungen der letzten Jahrzehnte auf. Überdies garantierten sie den Einbezug der Gewerkschaften und übrigen Wirtschaftsverbände in den Gesetzgebungsprozess. Eine weitere Komponente dieses Kompromisses zwischen den grossen gesellschaftspolitischen Kräften war die Eingliederung der Sozialdemokratischen Partei in die Regierungsverantwortung. Seit 1938 war die SP im Berner Regierungsrat vertreten. In der Landesregierung, dem Bundesrat, wurde ihr erst 1943 ein Sitz eingeräumt, als nach den Schlachten von Stalingrad und El-Alamein absehbar war, dass die faschistischen Achsenmächte den Krieg verlieren würden. Die damals klar wählerstärkste Partei SPS war mit nur einem von sieben Sesseln im Bundesrat allerdings deutlich untervertreten. Nach einem Zwischenspiel ohne Sozialdemokraten in den Jahren 1953–1959 stellte die SP schliesslich im Rahmen der «Zauberformel» immer zwei Bundesratsmitglieder. Über den Ausbau der GAV und Sozialversicherungen gelang es, den in der langen Prosperitätsphase der 1950er- und 1960er-Jahre geschaffenen Reichtum breiter zu verteilen. Grosse Teile der arbeitenden Bevölkerung kamen zu einem bescheidenen Wohlstand. Gleichzeitig verlor aber die Arbeiterbewegung viel von ihrem Charakter als eigenständiges Milieu. Gewerkschaften und Partei, aber auch die eigenen Sport- und Kulturvereine und Genossenschaften büssten zunehmend ihre prägende Rolle im Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter ein. Deren Bewusstsein, Teil einer Klasse mit gemeinsamen Interessen und Zielen zu sein, schwand. Die regelmässige Mobilisierung der Basis schien den Gewerkschaftsfunktionären nun kaum mehr nötig zu sein, konnten sie doch bessere Arbeitsverhältnisse und Löhne und mehr freie Zeit meist in institutionalisierten Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden erreichen. War dies nicht möglich, fühlten sich die Gewerkschaften in der Regel durch die «Friedenspflicht» gebunden. 112 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 112 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 Die neuen Möglichkeiten der Konsumgesellschaft werteten die Attraktivität der kulturellen und sportlichen Angebote der Arbeiterbewegung ab. Vor diesem Hintergrund verlor auch der ursprüngliche Volkshausgedanke seinen Glanz. Bezeichnend dafür ist, dass das Volkshaus Brüssel, die weltweit wohl berühmteste Institution dieser Art, 1965 trotz Protesten abgebrochen wurde. AM MARSHALLPLAN SCHEIDEN SICH DIE LAGER Mit dem Zweiten Weltkrieg war die Welt ins US-amerikanische Zeitalter eingetreten. In Europa stand dafür symbolisch der «MarshallPlan», das US-Programm zum wirtschaftlichen Wiederaufbau. Am 22. Januar 1949 trafen sich im Berner Volkshaus die Mitglieder des ständigen Beratungsausschusses der Internationalen Gewerkschaftskonferenz für den Europäischen Hilfsplan. Dieses «Trade Union Advisory Committee» besteht bis heute weiter in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die aus dem Marshallplan entstanden ist. An der Volkshaus-Sitzung nahmen führende Gewerkschafter aus Grossbritannien, den USA, den Benelux-Staaten, Skandinavien und Westdeutschland teil. SGB-Sekretär Giacomo Bernasconi (1905–1972) vertrat neben den schweizerischen auch die österreichischen Gewerkschaften. Aus Frankreich und Italien erschienen Delegierte von erst kurz zuvor entstandenen Gewerkschaftsbünden. Sie hatten sich von den in diesen beiden Ländern mehrheitlich kommunistisch orientierten Dachverbänden abgespalten. Der Marshallplan war einer von mehreren Konfliktpunkten, die schliesslich zur Spaltung des 1945 in Paris gegründeten Weltgewerkschaftsbundes (WGB) führten. Hinter dem von Washington lancierten Plan witterten die Regierung der Sowjetunion und die kommunistischen Parteien Westeuropas ein Manöver mit dem Ziel, die US-amerikanische Dominanz zu sichern. Die sozialdemokratischen Strömungen der Gewerkschaftsbewegung hingegen sahen im Marshallplan neue Möglichkeiten, die Wirtschaftspolitik in ihrem Sinn zu beeinflussen. Vier Teilnehmer der Berner Sitzung – der Niederländer Evert Kupers (1886–1965), die Briten Arthur Deakin (1890–1955) und Vincent Tewson (1898–1981) sowie der US-Amerikaner James B. Carey (1911–1973) – hatten nur drei Tage zuvor eine Sitzung des WGB-Exekutivbüros in Paris unter Protest verlassen. Neben eher technischen Fragen war daher an der Sitzung im Volkshaus der sich abzeichnende Austritt der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften aus dem zunehmend kommunistisch dominierten WGB das bestimmende Thema. Intensiv diskutiert wurde die Gründung einer neuen gewerkschaftlichen Internationale. Wenige 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 113 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 113 13.10.20 15:21 ABB. 61 / ABB. 62 / ABB. 63 STREITFALL MARSHALLPLAN 1947 initiierte US-Präsident Harry Truman vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs ein Wiederaufbauprogramm für Europa, das nach General George Marshall benannt wurde. Siebzehn europäische Länder, darunter auch die Schweiz, bekamen Kredite über 16,5 Milliarden Dollar (2020 wären dies 173 Milliarden). Der Plan leistete einen wesentlichen Beitrag zum Nachkriegsboom in Europa, sicherte aber auch die dominante Stellung der USA und förderte die US-Exporte. 114 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 114 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 Monate später, im Dezember 1949, wurde in London schliesslich der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) gegründet, dem auch der SGB beitrat. Der Kalte Krieg fand im Konflikt zwischen WGB und IBFG seine Fortsetzung auf dem gewerkschaftlichen Terrain.84 VON DER MIGRATION LERNEN 84 Bernasconi, Giacomo: «Die Berner Sitzung des Gewerkschaftlichen Beratungsausschusses für den Europäischen Hilfsplan», in: Gewerkschaftliche Rundschau 41 (1949), Nr. 2, S. 49–51; Carew, Anthony: American Labour’s Cold War Abroad. From Deep Freeze to Détente, 1945–1970, Edmonton: AU Press 2018, S. 68–75. Ab den späten 1940er-Jahren nahm die Arbeitsmigration in die Schweiz stark zu. Sie wurde aktiv organisiert, mit Anwerbungsbüros der Unternehmer vor allem in südeuropäischen Ländern. Dennoch begann die Gesellschaft in den 1960er-Jahren, die Zuwanderung zunehmend kontrovers zu diskutieren. Die Gewerkschaften fanden sich dabei rasch vor einem Dilemma. In der Schweiz der Baracken erkannten die Gewerkschaften, dass nicht die Migration die Löhne drückte, sondern die rechtliche Diskriminierung der ins Land geholten Arbeiter*innen. Einerseits nahmen sie an, die Einwanderung führe zu mehr Lohndruck. Im damaligen System der Einwanderungskontingente setzten sich die Gewerkschaften daher wiederholt für eine restriktive Bewilligungspraxis ein. Erst einige Zeit später erkannten sie, dass der Lohndruck nicht von der Migration ausging, sondern von der gesetzlichen Schlechterstellung dieser Arbeitenden, die eine Form von Subproletariat mit minderen Rechten schuf (Saisonnier-Statut, «Baracken-Schweiz»). Andererseits ging es den Gewerkschaften darum, auch die Eingewanderten in ihren Reihen zu organisieren. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem grundrechtswidrigen SaisonnierStatut, das unter anderem einen Stellenwechsel untersagte und den Nachzug der Familie verbot, setzte ein Lernprozess ein, der von einer neuen Generation progressiver Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter angetrieben wurde. Oft stammten sie selbst aus der Migration. Vor allem die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative von 1970, die von den Gewerkschaften bekämpft, von Teilen ihrer Basis aber befürwortet wurde, war eine harte Belastungsprobe. Am Ende wurde die Volksinitiative verworfen. Die Gleichstellung der Arbeitskollegen mit fremdem Pass wurde zu einem zentralen Thema 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 115 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 115 13.10.20 15:21 85 Zingg, S. 51. der Schweizer Arbeiterbewegung – und im Rückblick zur grossen Integrationsleistung. Es war offensichtlich, dass die Schweizer Wirtschaft auf die Einwanderung angewiesen war. Das galt auch für das Volkshaus Bern, wie Verwaltungsratsmitglied Karl Zingg 1964 in seiner Festschrift zum 50-Jahr-Jubiläum des Gebäudes schrieb: «Die überbordende Konjunktur hat die Personalfrage zum Problem Nummer eins gemacht. Die langen Präsenzzeiten sind im Jahre des Volkshausjubiläums nicht mehr beliebt, und in dieser Zeit ist ein enormer Personalwechsel festzustellen. Für Küchenund Putzarbeiten sind schweizerische Arbeitskräfte nicht mehr zu haben, so dass sich der Personalbestand zu einem grossen Teil aus Ausländern zusammensetzt.»85 Gewerkschaftliche Migrantengruppen hielten ihre Sitzungen im Volkshaus ab. Wichtige Ausländerorganisationen aber, etwa die Colonie Libere Italiane, die sich links von den schweizerischen Gewerkschaften positionierten, gaben sich ihre eigenen Treffpunkte. ARTHUR STEINER, DER MANN, DER GEWERKSCHAFTEN UND VOLKSHAUS REGIERTE Ab 1945 präsidierte Arthur Steiner (1896–1958) den Verwaltungsrat der Volkshaus AG. Er vertrat im Verwaltungsrat die Unionsdruckerei, der er zeitweise ebenfalls vorstand. Der gelernte Feinmechaniker war einer der einflussreichsten Schweizer Gewerkschaftsführer der Nachkriegszeit. Bereits 1933 war Steiner zum Zentralsekretär und Vizepräsidenten der grössten Einzelgewerkschaft SMUV aufgestiegen. Von 1954 bis zu seinem überraschenden Tod im September 1958 präsidierte er sowohl den SMUV als auch den Schweizerischen Gewerkschaftsbund. Dem Parlament gehörte er seit 1947 an. Im Gespann mit seinem bekannteren Amtsvorgänger Konrad Ilg (1877–1954) hatte Steiner 1937 die erste Kollektiv-Vereinbarung in der Maschinenindustrie, das «Friedensabkommen», unterzeichnet. Dieses Abkommen war noch kein eigentlicher Gesamtarbeitsvertrag, sondern legte ein mehrstufiges Verfahren zur Schlichtung von Arbeitskonflikten unter Ausschluss von Kampfmassnahmen fest. Die damit verbundene «sozialpartnerschaftliche», allein auf Verhandlungslösungen mit den Unternehmern setzende gewerkschaftliche Linie vertrat Steiner konsequent. 116 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 116 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 ABB. 64 Italienische Arbeiter*innen warten 1956 in Brig auf den Weitertransport. Hunderttausende «Gastarbeiter» bauten nach dem 2. Weltkrieg die moderne Schweiz und hielten sie am Laufen. Sie haben das Land kulturell geöffnet und tiefgreifend verändert. Das machte sie zur Projektionsfläche, die rechte nationalistische Parteien zum Aufstieg nutzten. 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 117 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 117 13.10.20 15:21 ABB. 65 Arthur Steiner war ab 1945 nicht nur Präsident der Volkshaus AG, sondern auch der einflussreichste Gewerkschafter der Nachkriegszeit. Er präsidierte die Gewerkschaft SMUV und den Gewerkschaftsbund (SGB). Politisch gilt er als Schöpfer der Konsumentenpolitik – auch im Volkshaus. Seinen wichtigsten Kampf focht Steiner gegen die Teuerung: «Der Arbeiter muss aufpassen. Wenn er glaubt, nur der Kampf um besseren Lohn sei für ihn zur Hebung des Lebensstandards notwendig, dann täuscht er sich. Wer dem Preis keine Beachtung schenkt, der wird Verlierer sein (…).»86 86 «Die Zukunftsaufgaben der schweizerischen Gewerkschaften. Referat gehalten von Arthur Steiner am Jubiläumskongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 30. September / 1. Oktober 1955 in Zürich», in: SMUV (Hg.): Arthur Steiner zu Ehren, Bern: Unionsdruckerei 1959, S. 280. Dieser Ansatz zeitigte Folgen. Die Gewerkschaften dehnten ihre Aktivitäten während Steiners Amtszeit als SGB-Präsident vermehrt auf die Konsumentenpolitik aus. Im Herbst 1955 gründeten der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der Föderativverband des Personals öffentlicher Verwaltungen und Betriebe im Gespann mit der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) die «Arbeitsgemeinschaft für Vollbeschäftigung und gegen Teuerung». Später wurde dieser Zusammenschluss zur «Aktionsgemeinschaft der Arbeitnehmerverbände» umbenannt, und nach dem Beitritt der Konsumvereine (dem heutigen Coop-Konzern) zur Aktionsgemeinschaft der Arbeitnehmer und Konsumenten, AGAK. 1964 gründeten sie die bis heute bestehende Stiftung für Konsumentenschutz (SKS). Die AGAK selbst wurde 1999 aufgelöst. 118 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 118 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 Das Selbstverständnis gewerkschaftlicher Konsumentenpolitik beschrieb Steiner wie folgt: «Unter Konsumentenpolitik verstehen wir nicht Preisschinderei. Wir halten es nicht mit dem ‹Billigen Jakob›. Wenn der Jakob zu billig ist, bezieht der Heiri ganz sicher einen Hungerlohn. Wir können daher nicht jene egoistische Konsumentenpolitik unterstützen, nach welcher das, was wir kaufen, ausnahmslos billig sein soll, das, was wir aber herstellen, ungerechtfertigt teuer sein müsse. (…) Wir sind ein teures Land geworden, unsere Teuerung ist mehr inland- als auslandbedingt, was nach geeinter Konsumentenpolitik ruft.»87 Steiner setzte sich nicht nur politisch für die Rechte der Konsumentinnen und Konsumenten ein. Er wandte diese Grundsätze auch in der Leitung des Volkshauses an. Wiederholt betonte er die Bedeutung eines ausgeglichenen Verhältnisses von Preis und Qualität: «Wir zweifeln nicht daran, dass es noch Leute gibt, die finden, ein Volkshaus hätte sich unbedingt bei den Häusern niedrigsten Ranges einzureihen. Ein Heraustreten aus diesem Rahmen würde nicht mehr dem Arbeiterstande entsprechen und sei unproletarisch. Als unser Volkshaus erstellt wurde, haben seine Erbauer eine solche Auffassung abgelehnt. Sie haben, der damaligen Zeit entsprechend, dem werktätigen Gaste ein anständiges Heim geboten. Seither hat sich manches geändert. Auch die Arbeiterwohnung ist mit jener vor ungefähr 39 Jahren kaum mehr zu vergleichen. Der ‹kleine Mann› wohnt nicht mehr so primitiv wie früher. (…) Wenn der Arbeiter von heute mit seiner Familie eine Gaststätte aufsucht, dann möchte er dort nicht weniger angenehm aufgehoben sein als zu Hause.»88 Das Volkshaus sollte somit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft Rechnung tragen. Bereits im Jahresbericht 1947 meldete Steiner, das Volkshaus habe eine «Revision der Weinpreise» vorgenommen: «Sie möchte ihren Gästen ermöglichen, vor allem unsere Schweizer Weine zu mässigen Preisen konsumieren zu können. So sind die Preise für erstklassige Weine namhaft herabgesetzt worden. Dass diese Aktion im Kreise des lokalen Gastwirtschaftsgewerbes nicht allgemein mit Genugtuung begrüsst wurde, verstehen wir. Wenn wir aber anderseits feststellen müssen, zu welchen Preisen der Weinbauer in der welschen Schweiz seine Produktion absetzen muss, dann finden wir es grotesk, welche Zuschläge der Wirt auf diesen Weinen heute noch erhebt.» 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 119 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 87 Ebd., S. 281. 88 Zit. n. Zingg, S. 46. 119 13.10.20 15:21 Explizit stellte Steiner die Reduktion der Weinpreise im Volkshaus in einen breiteren wirtschaftspolitischen Kontext: «Da und dort bestünde Gelegenheit, Preissenkungen vorzunehmen, für die der Konsument sehr dankbar wäre und die der Volkswirtschaft nicht den geringsten Schaden zufügen würden. Sie könnten aber verhüten, aus unserem Lande jene Preisinsel werden zu lassen, für welche die ganze Bevölkerung die Opfer nachher um so empfindlicher tragen muss. (…) Eine teure Schweiz ist eine arme Schweiz.»89 «REVOLVERKÜCHE» STATT ARBEITERBILDUNG Nach Abschluss der notwendigen finanziellen Sanierung leitete die Volkshaus AG in den Jahren 1945 bis 1950 die grössten Umbauarbeiten seit der Eröffnung des Neubaus 1914 ein. Sie veränderten die innere Erscheinung des Gebäudes stark, wie Arthur Steiner im Jahresbericht 1954 festhielt: «Wer heute unser Volkshaus betritt, der kennt sich in seinen Räumen nicht mehr zurück. (…) Das Volkshaus steht im neuen Kleide da. Nicht äusserlich, die nicht an bernische Bauart erinnernde Fassade bleibt leider.»90 Der letzte Satz zeigt, dass die nun tonangebende Generation von Gewerkschaftsführern einen konventionelleren Geschmack hatte als ihre Vorgänger. Ästhetik ist auch Politik. Nach dem Umbau von 1950 schrieb der oberste Gewerkschafter: «Die nicht an bernische Bauart erinnernde Fassade bleibt leider.» Ästhetik ist auch Politik. 89 Jahresbericht 1947, zit. n. Zingg, S. 47 f. 90 Jahresbericht 1954, S. 16 f. Erklärtes Ziel der Umgestaltung des Volkshauses war, Hotel und Restaurant attraktiver zu gestalten. Vor allem der Hotelbetrieb gewann an Bedeutung. Ferienreisen waren für Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte kein unerreichbarer Luxus mehr. Wie Karl Zingg berichtet, trugen vor allem die Reisegruppen, die vom Reisedienst der Popularis vermittelt wurden, zur erhöhten Frequenz im Hotel bei. Gemeint war damit die 1945 von verschiedenen gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und touristischen Organisationen aus den Niederlanden, Luxemburg, Grossbritannien und der 120 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 120 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 KOOPERATIVER KONSUM ABB. 66 Coop-Verkäuferin, um 1955. Die Verkäuferin in einem Coop-Geschäft (das Bild stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts) stand in einer bewährten Tradition: Bereits in den 1830er-Jahren hatten Weber begonnen, sich in Konsumvereinen zusammenzuschliessen. Ziel dieser Selbsthilfeorganisationen war die Beschaffung von Brot, später die sichere und preisgünstige Versorgung mit allen Nahrungsmitteln und Gütern des Grundbedarfs (etwa Kohle). Andere Berufsgruppen und industrialisierte Regionen folgten. In Bern wurde 1890 die Konsumgenossenschaft Bern (KGB) gegründet, nach dem Vorbild von Rochdale, England (1844): offene Mitgliedschaft, Verkauf gegen Bargeld, Rückvergütung an die Genossenschaftsmitglieder. Im selben Jahr organisierten sich Dutzende von Konsumvereinen in einem landesweiten Verband (VSK). 1914 beteiligte sich die KGB am Aktienkapital der Volkshaus AG und richtete im Volkshaus ein Schuhgeschäft ein. Aus der KGB wurde 1966 «Coop Bern», aus dem VSK drei Jahre später «Coop Schweiz». Die Zusammenarbeit zwischen Coop und Volkshaus blieb eng. Nach 1974 pachtete das Volkshaus das Hotel «Continental», das der Coop gehörte. Coop übernahm 2002 die Warenhauskette EPA. Damit wurde auch die seit dem Grossumbau anfangs der 1980er Jahre im Volkshaus eingemietete EPA-Filiale zu einem «Coop City»-Geschäft. Schweiz gegründete Popularis Internationale Genossenschaft für Sozialtourismus. Während sich die Popularis International 1966 auflöste, blieb ihre schweizerische Tochter bis zum Verkauf an den Kuoni-Konzern im Jahr 1990 bestehen. Die Gewerkschaften kämpften für bezahlte Ferien. Und sie errichteten eigene Ferienheime. Walter Baumann, der als Gerant den Kurs des Volkshauses gemeinsam mit Steiner im ersten Nachkriegsjahrzehnt prägte, war zuvor als Verwalter des Ferienheims «Sonloup» des Schweizerischen Eisenbahnerverbands tätig gewesen. 1939 gehörten die Gewerkschaften zu den Mitgründern der Schweizer Reisekasse (Reka). Diese half mit, die Folgen der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs in der schweizerischen Tourismusbranche zu überwinden. Ihre «Reka-Checks» werden von Gewerkschaften bis heute den Mitgliedern vergünstigt angeboten. Die Ausrichtung der Volkshaus AG auf Bett und Essen war nicht allein der Ökonomie geschuldet. Sie zeigte das gewendete Selbstverständnis der Gewerkschaften in jenen Jahren an. Früher zentrale Angebote des Volkshauses verloren an Bedeutung. So opferte Steiner den Lesesaal einem Ausbau des Sekretariats des Bau- und Holzarbeiterverbandes. Im Rückblick begründete er diesen Schritt von 1954 damit, dass der Saal kaum mehr genutzt und sogar von Handwerksburschen als Übernachtungsmöglichkeit 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 121 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 121 13.10.20 15:21 zweckentfremdet worden sei. Die Bibliothek des Arbeiterbildungsausschusses zog 1955 in ein neues Lokal an der Gurtengasse um. Schliesslich verlor die Berner Arbeiterbibliothek sogar ihre Selbständigkeit und ging in der Volksbücherei Bern auf. Verkleinert wurde auch der Bäderbetrieb, der mit der Verbesserung der Wohnverhältnisse und der hygienischen Einrichtungen in den Betrieben an Bedeutung verloren hatte. Das bisherige Männerbad im Parterre wurde aufgehoben. An seiner Stelle entstanden Ladenlokalitäten, die vermietet werden konnten. Das Frauenbad im ersten Stock wurde für einen gemischten Betrieb umgebaut. Die Arbeiterbibliothek weg, das Männerbad zu, im Grossen Saal schiessen Pistoleros: Das Volkshaus wird zum Hotel- und Gastrobetrieb. Doch die wirklich einschneidende Veränderung geschah durch die kommerzielle Umnutzung des Grossen Saals, der historische Reden, die aufgewühlten letzten Stunden des Landesstreiks und Momente im Kampf gegen den Faschismus gesehen hatte. Das Prunkstück des Volkshauses, in dem früher auch Filme gezeigt wurden, wandelte sich zur «Revolverküche», zu einem Lichtspieltheater, das vor allem Krimis und Western zeigte. Betrieben wurde das Kino vom Unternehmer Karl Friedrich Huber, der auch Kinos in Basel und Luzern bespielte. Das Volkshaus-Management war in erster Linie an den Mietzinsen interessiert. Auf die Programmgestaltung nahm es keinen Einfluss. Die Filme, die das «Cinéma Forum» zeigte, hatten mit der früher noch angestrebten Verbindung von Kino und Arbeiterbildung nichts mehr zu tun. Diese Beschränkung des Grossen Saals auf den Kinobetrieb bedeutete auch, dass Grossanlässe wie sozialdemokratische Parteitage und Gewerkschaftskongresse nicht mehr im Volkshaus stattfinden konnten. Für Versammlungen dieser Grössenordnung musste man nun in «bürgerliche» Lokale wie den «Kursaal», das «Bierhübeli» oder das Casino ausweichen. Wehmütig erinnerte die Journalistin Emmy Moor (1900–1979) in ihrem Nachruf für Robert Grimm an die verlorene politische Bedeutung des grossen Volkshaussaals: «Ist es wirklich wahr, dass dies alles vergangen sein soll? Dieser immer zum Bersten volle Volkshaussaal, in dem hundert und hundert Hände geschüttelt worden sind und man oben, auf der übervollen Empore nach so und so viel vertrauten Gesichtern gespäht 122 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 122 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 hat. Versammlungen, in denen sich alle Etappen unserer Bewegung abgespielt haben. Wie viel Kämpfe, wie viel Siege und wie manche Niederlage auch fanden dort ihren bewegten, unvergesslichen, sichtbaren Höhepunkt.»91 91 Moor, Emmy: «Der Redner», in: VPOD (Hg.) Robert Grimm. Revolutionär und Staatsmann, Zürich 1958, S. 116. 1947 kam das Aus für die «Volkshausabende» im Grossen Saal. Meist samstags, nach Kinoschluss, tanzte hier Bern bis in die Morgenstunden. Organisiert wurden die Volkshausabende von Sektionen der Gewerkschaften und von den Arbeitersport- und Arbeiterkulturvereinen. Sie konnten sich auf diese Weise zusätzliche finanzielle Mittel beschaffen. Wegen der langen Arbeitszeiten waren diese Anlässe beim Personal des Volkshauses unbeliebt. Zudem mischten sich immer wieder ungebetene Gäste unters Publikum, Schlägereien und andere Zwischenfälle häuften sich. Aus dem Prunkstück der Berner Arbeiterbewegung wurde ein Kino. Die Programmierung überliess die Volkshaus AG einem Unternehmer. Zwar wurden 1945/46 noch die Räumlichkeiten des Lokalsekretariats des Bau- und Holzarbeiterverbands im Volkshaus ausgebaut, aber danach begann der allmähliche Rückzug der meisten Gewerkschaftssekretariate aus dem Volkshaus. Die Arbeiterorganisationen wuchsen, und sie brauchten mehr Raum. Der fehlte im Haus des Volkes. Schliesslich blieben nur noch das Gewerkschaftskartell Bern und die Berner SMUV-Sektion im dritten Stock übrig. Vorübergehend: Nach dem Umbau des Gebäudeinnern im Jahr 1980 fanden sie noch bis 1994 Unterschlupf im vom Volkshaus verwalteten Nachbargebäude am Schützengässchen 5. Die Gewerkschaften zogen sich zunehmend aus dem Volkshaus zurück. Sie brauchten mehr Raum. Im Oktober 1948 beschloss das Zentralkomitee des Internationalen Metallarbeiterbunds (IMB) an einer Tagung im Volkshaus, die Metallergewerkschaften der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands unter ihr Dach, die «Eiserne Internationale», zu nehmen. Wenig später vereinigten sich diese drei Zonen-Gewerkschaften zur Industriegewerkschaft Metall – der grösste Mitgliedsverband des IMB war geboren. 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 123 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 123 13.10.20 15:21 [OBEN] Das Volkshaus der Belgischen Arbeiterpartei (POB) ABB. 67 in Brüssel war, wie viele Volkshäuser, ein Werk von markanter Architektur. Die POB liess es von Victor Horta (1861–1947) bauen, dem Meister des Art Nouveau. Es wurde 1899 eingeweiht. Gegen seinen Abriss 66 Jahre später erhob sich internationaler Protest, unter anderem von bekannten Architekten. Vergebens. Immerhin erreichte der Widerstand, dass die Bauteile nummeriert und eingelagert wurden. Doch der Wiederaufbau fand nie statt. [UNTEN] Der lichtdurchflutete, in die Geländeneigung gebaute ABB. 68 Hauptsaal des Brüsseler Volkshauses. 124 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 124 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 DER NEUANLAUF MIT DER GLEICHSTELLUNG 1959 kam im Volkshaus ein Thema auf den Tisch, das 50 Jahre zuvor für die Gewerkschaften eine besondere Bedeutung hatte und 50 Jahre später wieder bekommen sollte. Am 15. November gründeten 16 Gewerkschafterinnen die Frauenkommission des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. SGB-Präsident Hermann Leuenberger (1901– 1975) begrüsste sie. Als SP-Nationalrat hatte er regelmässig Vorstösse für die Gleichberechtigung der Geschlechter eingereicht. VHTL-Sekretärin Maria Zaugg (1916–2003) wies in ihrem Referat auf die «speziellen Probleme der berufstätigen Frau» hin. Die Schlechterstellung der Frauen bei den Löhnen – sie lagen damals durchschnittlich 35 Prozent tiefer als Männerlöhne – und die Diskriminierung in der Ausbildung seien zwei Ursachen geschuldet: der schwachen gewerkschaftlichen Organisation der Frauen und der verbreiteten, aber überholten Auffassung, die Erwerbstätigkeit von Frauen sei nur als vorübergehende Erscheinung zu betrachten. Danach wählte die Kommission die VHTL-Sekretärin und spätere Coop-Managerin Edith Rüefli (1931–2017) zur Präsidentin.92 Mit der Einsetzung der Frauenkommission verstärkte der SGB seine Aktivitäten für eine Mitgliedergruppe, die er in den vorangegangenen Jahrzehnten vernachlässigt hatte. So war 1924 die seit 1905 bestehende Stelle einer Arbeitersekretärin des SGB gestrichen worden. Kurz nach dem Landesstreik, dem die Teuerungsdemonstrationen der Frauen vorausgegangen waren, hatte der Anteil weiblicher Mitglieder in den SGB-Gewerkschaften einen Höhepunkt von 19,6 Prozent erreicht. 1959 lag der Anteil nur noch bei 12,2 %. In den kommenden Jahren sollte er trotz Einsetzung der Frauenkommission weiter sinken. Erst bis Mitte der 1970er stieg das zahlenmässige Gewicht der Frauen in den Gewerkschaften wieder. Der Anteil von 1919 wurde erst Ende der 1990er wieder erreicht und danach überschritten. Das Volkshaus Bern spielte trotz Auszug der Gewerkschaftssekretariate weiter seine Rolle als Treffpunkt der Arbeiterbewegung, international wie national. Zwar war der Grosse Saal Geschichte, aber auch der Unionssaal bot Platz für immerhin 400 Personen. Gewerkschaften, die Sozialdemokratische Partei und andere Organisationen aus ihrem Umfeld führten im Volkshaus den Grossteil ihrer lokalen und regionalen Versammlungen, Bildungsanlässe und Sitzungen durch. Von «Versammlungen» sprach man nun seltener, das Wort «Sitzung» trat an seine Stelle. Und geschah irgendwo in der Hauptstadt politisch Aufregendes, strömten die Arbeitenden nicht mehr spontan ins Volkshaus. 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 125 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 92 «Die Frauenkommission des SGB nimmt ihre Tätigkeit auf», in: Der VHTL 45 (27.11.1959), Nr. 48, S. 3. 125 13.10.20 15:21 Diese Veränderungen stellten sich allmählich, über die Jahre ein. In der Nutzung des Hauses des Volkes spiegelten sich die Häutungen der Arbeiterbewegung in Zeiten realwirtschaftlichen Wachstums und eines gesellschaftlichen Kompromisses, den wir später als das «sozialdemokratische Zeitalter» identifizieren sollten. Doch Ende der 1960er-Jahre kündigten sich neue Verwerfungen an, die das Volkshaus Bern vor unerwartete Herausforderungen stellen sollten. 126 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 126 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 EXKURS ZUR ARCHITEKTUR (II): DIE ERNEUERUNGSPROJEKTE 1945–1950 WERTEN DEN HOTELBETRIEB AUF Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Volkshaus etappenweise umgebaut und modernisiert. Am 29. September 1945 ersuchte die Volkshaus AG die Schweizerische Hotel-Treuhand AG um eine entsprechende Empfehlung zur Subventionierung – mit Erfolg. Noch im gleichen Jahr konnten die ersten Umbauarbeiten beginnen. 1945–1946: Lesesaal und Bibliothek: Dank einer neuen Raumgestaltung entstanden zusätzliche Sitzungszimmer. 1946–1947: Erneuerung der Hotelzimmer und Korridore, neue Heizung und «Anschaffung modernster Maschinen»93, wie etwa einer Bügelmaschine [VGL. KAPITEL VI]. 1947: Renovation des Eingangsbereichs und des Unionsund Speisesaals. Durch die Neugestaltung des Osttreppenhauses entstanden vier zusätzliche Hotel- und zwei Angestelltenzimmer. 1947–1949: Der Bühnenraum im Grossen Saal im ersten Stock wurde zu einem Restaurant umgebaut, 1949 feierlich eingeweiht. Verwaltungsrat Karl Zingg hatte in seiner Jubiläumsschrift zum 50-jährigen Bestehen des Volkshauses geschrieben: «Die Bühne des Grossen Saales blieb jahrelang unbenützt, sie war toter Raum und damit auch totes Kapital. Hier pulsiert nun Tag für Tag Leben.»94 Der Umsatz des Restaurants im ersten Stock wurde im ersten Betriebsjahr mit rund 300 000 Franken ausgewiesen. 93 Zingg, Karl: Das Berner Volkshaus 1914–1964. Jubiläumsschrift, Bern 1964, S. 46. 94 Ebd., S. 48. ABB. 69 Das Schreiben, in dem das Volkshaus 1945 die Hotel-Treuhand um eine Empfehlung für die Subventionierung des Umbaus bat. Das Volkshaus firmierte damals als «Hotel, Restaurant, Bäder». 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 127 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 127 13.10.20 15:21 ABB. 70 [OBEN] Das neue Sitzungszimmer im früheren Lesesaal (1946). [UNTEN] Die Zimmer wurden neu möbliert und waren nun ABB. 71 mit einem Telefon ausgestattet (1946). 128 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 128 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 1945–1967 13.10.20 15:21 ABB. 72 [OBEN] Das Hauspersonal verfügte neu über eine Bügelmaschine. [UNTEN] Neugestaltung des Eingangsbereichs vor den Kinosälen ABB. 73 und dem Restaurant (1947). 1945–1967 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 129 VOM LANGEN BOOM, ARTHUR STEINER UND DEN WEINPREISEN 129 13.10.20 15:21 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 130 13.10.20 15:21 V. DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 Der Mai 68 rebellierte, Revolutionen befreiten Südeuropa von Diktaturen, das Volkshaus verkroch sich erst einmal in die «7 Stuben». Bis die Krise Abbruch und Neubau erzwang. Das Haus nannte sich nun «Hotel Bern». Doch bald war Ende mit dem Frieden zwischen Arbeit und Kapital … 131 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 131 13.10.20 15:21 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 132 13.10.20 15:21 Die lange wirtschaftliche Wachstumsphase der Nachkriegszeit brach an der tiefen Krise des Kapitalismus Mitte der 1970er-Jahre. Sie stellte auch das nach dem 2. Weltkrieg etablierte System der Interessenvermittlung zwischen Arbeit, Kapital und Staat in Frage. Die Aktionäre und ihre Manager wollten nun Produktivitätsfortschritte nicht mehr in Form von höheren Löhnen und verkürzter Arbeitszeit teilen. Die neoliberale Rechte griff die sozialen Errungenschaften, die soziale Sicherheit, die öffentlichen Dienste und die vermittelnde Rolle des Staates an. Generell veränderte sich das Gesicht der Arbeitswelt der Industriestaaten grundlegend. Die beschleunigte Rationalisierung, die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer und der Ausverkauf der Industriekonzerne durch die Banken leiteten eine scharfe Deindustrialisierung der Schweiz ein.95 1972 waren erstmals mehr Personen im Dienstleistungssektor beschäftigt als in Industrie und Gewerbe. Auch in der Region Bern schlossen traditionsreiche Industriebetriebe ihre Fabriktore für immer. Zu den ersten gehörten 1974 die Zentralheizungsfabrik Zent AG in Ostermundigen und 1975 die Spinnerei Gugelmann in der Felsenau. Derweil machte sich die «68er»-Bewegung unter anderem mit Demonstrationen zu internationalen Themen bemerkbar. Auf Berns Strassen wurde gegen den Krieg der USA in Vietnam, gegen die Kolonialkriege Portugals in Afrika, die Niederschlagung des «Prager Frühlings» durch sowjetische Panzer und die blutigen Diktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland und Lateinamerika protestiert. Einige Anlässe fanden im Volkshaus statt. So wurde im Anschluss an eine Demonstration zum 1. Jahrestag des Militärputsches in Chile (11. September 1973) ein Film im Volkshaus gezeigt.96 Die Freiplatzaktion, die dafür sorgte, dass über 2000 chilenische Flüchtlinge in der Schweiz Asyl fanden, organisierte am 8. April ein Podium über die Asylpolitik. Staatsrechtsprofessor und Sozialdemokrat Richard Bäumlin kreuzte dabei die Klinge mit Valentin Oehen, Nationalrat der fremdenfeindlichen «Nationalen Aktion».97 Nachdem die «Nelkenrevolution» am 25. April 1974 die Diktatur in Portugal und die Kolonialkriege beendet hatte, wankte auch die Diktatur Francos in Spanien. Noch zwei Monate vor Francos Tod im November 1975 liess das Regime fünf baskische Widerstandskämpfer hinrichten. Am 2. Oktober 1975 rief der Europäische Gewerkschaftsbund zu einem Tag der Solidarität mit dem spanischen Volk auf. In der Schweiz ruhte die Arbeit in vielen Betrieben und Baustellen für zwei Schweigeminuten. Busse und Trams in Bern und anderen Schweizer Städten standen still.98 Am 12. Oktober 1975 forderte eine Versammlung mit ca. 100 Teilnehmern ein Ende der Waffenausfuhr nach Spanien. Neben einem spanischen und italie- 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 133 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 95 Oliver Fahrni: «Epilog: Die nächste Industrialisierung der Schweiz», in: Bärtschi, Hans-Peter, Aufgebaut und Ausverkauft. Die industrielle Schweiz vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, Zürich: Hier und Jetzt 2011. 96 «ChileKundgebungen», in: Die Tat, 13.9.1974, Nr. 214, S. 22. 97 «Asylpolitik am Beispiel Chiles. Nicht einmal Wilhelm Tell könnte hereingelassen werden», in: Walliser Bote, 10.4.1974, S. 2. 98 Troxler, Ferdinand: «Druck auf brutales Franco-Regime fortsetzen!», in: Der VHTL, 22.10.1975, S. 10. 133 13.10.20 15:21 99 «Waffenausfuhrverbot für Spanien gefordert», in: Walliser Bote, 13.10.1975, S. 12. 100 «Le lotte operaie in Spagna dopo la morte di Franco», in: Lotta sindacale, 13.2.1976, S. 2. 101 [Zeitung der] Gewerkschaft Textil Chemie Papier, 22.12.1976, S. 8. 102 Bonnot, Paul W.: «Die Verwandlung eines Volkshauses», in: SMUV-Zeitung 70 (24.11.1971), Nr. 47, S. 11–12. nischen Arbeiter sprachen an dieser Versammlung zwei bekannte linke Sozialdemokraten aus Biel: Der Grossrat und ehemalige Spanienkämpfer Ernst Stauffer (1914–1997) und der Nationalrat Arthur Villard (1917–1995).99 Am 15. Februar 1976 orientierte die schweizerische Exilorganisation des spanischen Gewerkschaftsbunds UGT im Volkshaus über «Arbeiterkämpfe in Spanien nach Tod Francos».100 Ehemalige Schweizer Spanienkämpfer kamen im Volkshaus am 10. Januar 1977 zu Wort.101 IN 7 STUBEN HOCKEN 1970 fiel der Entscheid, das Volkshaus-Restaurant grundlegend umzubauen und die Küchen zu modernisieren. Gleichzeitig musste eine neue Heizung eingebaut werden. Diese Investitionen wurden im Wesentlichen über Kredite der gewerkschaftsnahen Genossenschaftlichen Zentralbank (GZB) finanziert. Die Generalversammlung vom November 1970 beschloss eine massive Erhöhung des Aktienkapitals, es wurde beinahe vervierfacht. Die neuen Aktien zeichneten zu grossen Teilen die Gewerkschaften. Sie beauftragten den Architekten Robert Künzli mit der Leitung der Umbauarbeiten. Ende April 1971 schlossen das Restaurant und die Express-Cafébar, viereinhalb Monate später, am 17. November 1971, konnte das neue Restaurant offiziell eingeweiht werden. Es trat unter dem Namen «Zu de 7 Stube» auf. Jede der sieben «Stuben» des Restaurants stand für ein Handwerk beziehungsweise eine Branche und war mit den entsprechenden Werkzeugen dekoriert: Die «Isige» (Metallberufe), die «Hölzige» (Holzberufe), Sattlerstube (Tapezierer eingeschlossen), Gutenbergstube (Drucker), Braustube, Steinmetze und die Kurierstube. Einige der Stuben wurden von den gewerkschaftlichen Berufsgruppen in Fronarbeit dekoriert. Besonders originell ausgestattet war die Kurierstube, die dem Bahn-, Post- und Telekommunikationspersonal gewidmet war. Dort konnte man von der Gruppe Bern der PTT-Union eingebaute Telefon-Übertragungselemente sehen. In dieser Form bestand die «Kurierstube» allerdings nur knapp ein Jahrzehnt – bis zum grossen Umbau des ganzen Gebäudes. Auch im «7 Stuben» galt das Volkshaus-Prinzip, gute Speisen und Getränke zu bezahlbaren Preisen anzubieten. Möglich wurde dies auch durch eine starke Rationalisierung des Restaurantbetriebs.102 Während das neugestaltete Restaurant beim Publikum gut ankam, hatten die übrigen Sparten mit Problemen zu kämpfen. Im Jahr nach der Eröffnung des neuen Restaurants kam das endgültige Aus für die Bäder. Damit verschwand eine in den Anfängen des Berner Volkshauses wichtige Dienstleistung. 134 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 134 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 ABB. 74 1971 erfolgte der komplette Umbau des alten Restaurants. Gleichzeitig wurde die Küche modernisiert und im Erdgeschoss ein Kiosk eingebaut. Das neue Restaurant «7 Stube» wurde am 17. November 1971 eröffnet. Im Geschäftsbericht 1972 ist dazu Folgendes vermerkt: «Unsere Bäder entsprechen in keiner Weise mehr den heutigen Anforderungen an eine solche Anlage. Nach der Eröffnung der öffentlichen Bäder im Bahnhof Bern ist die Frequenz derart gesunken, dass wir uns entschliessen mussten, den Bäderbetrieb per 1. Juni 1972 einzustellen.»103 Der Hotelbetrieb hatte seit 1970 mit einem Rückgang der Übernachtungen zu kämpfen. Dies hing vor allem mit dem nicht mehr zeitgemässen Komfortstandard der Zimmer zusammen. Sie waren weder mit WC noch Dusche oder Bad ausgestattet. Darum pachtete die Volkshaus AG 1974 von der Coop Bern das benachbarte «Hotel Continental», dessen Zimmer diesen Anforderungen genügten.104 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 135 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 103 Geschäftsbericht 1972, S. 7. 104 Haari/Schweizer, S. 12. 135 13.10.20 15:21 ABB. 75 / ABB. 76 Jede der 7 «Stuben» stand für ein Handwerk und war entsprechend dekoriert. [OBEN] Blick am Kiosk vorbei auf die Sattlerstube mit Werkzeugen zur Lederverarbeitung, [UNTEN] Kurierstube mit Telefonmasten. 136 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 136 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 [OBEN] Die «Stube» der holzverarbeitenden Berufe ABB. 77 («Di Hölzige») war komplett in Holz gekleidet. ABB. 78 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 137 [UNTEN] Die Braustube mit einem Bierfass als Tischlampe. DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 137 13.10.20 15:21 ABB. 79 Musikanten spielen in der Sattlerstube auf. 138 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 138 ABB. 80 Lampenvariationen in der Braustube: diesmal aus leeren Bierflaschen. DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 Mitte der 1970er Jahre setzte eine tiefe Wirtschaftskrise ein. Auch im Restaurant gingen die Umsätze zurück. Ende 1976 eröffnete zudem die Grossverteilerin Migros ihre stark ausgebaute Filiale Marktgasse neu. Dieses innerstädtische Shoppingcenter umfasste nun auch ein grosses Selbstbedienungsrestaurant. Die stark auf ein preisbewusstes Publikum ausgerichteten «7 Stuben» erhielten damit in unmittelbarer Nachbarschaft einen noch günstigeren Konkurrenten.105 Unterm Strich hatten sich für das Volkshaus also widrige Verhältnisse eingestellt. Dazu kamen politische Spannungen. Neue Kräfte forderten die gewerkschaftlichen Trägerorganisationen und die SP heraus. 105 «Drei Prozent Dividende für Aktionäre. Die Volkshaus AG hat ein bewegtes Jahr hinter sich», in: Der Bund, 23.5.1977. DER SAAL-STREIT MIT DEN «68ERN» In den Jahren nach 1968 traten auch in Bern zunehmend Gruppierungen der Neuen Linken und der Neuen sozialen Bewegungen in Erscheinung. Was man später unter dem missverständlichen Begriff «Die 68er» zusammenfassen sollte, war in Wahrheit eine breit gefächerte Sammlung von Bewegungen. Ihnen gemeinsam war das emanzipatorische Vorhaben, mit den alten Macht verhältnissen und gesellschaftlichen Verkrustungen zu brechen. Die Neue Linke fasste das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Kapitalismus ins Auge («Bruch mit dem Kapitalismus»). Andere Gruppen, für die man den Begriff Neue soziale Bewegungen prägte, konzentrierten sich auf einzelne Themen wie Militarismus und Rüstung, die Atomindustrie, das wachsende ökologische Problem, die Emanzipation der Frauen, die Diskriminierung von Schwulen, Lesben oder Migranten, die Ausbeutung der Dritten Welt, die Menschenrechte, die US-Dominanz oder die Demokratisierung der Institutionen (und dies ist eine keineswegs erschöpfende Aufzählung). Das Verhältnis zwischen diesen Bewegungen und den Organisationen der klassischen Arbeiterbewegung war häufig angespannt. Etliche dieser neuen Gruppierungen beanspruchten für sich, in der Tradition der Arbeiterbewegung zu stehen, und warfen den Gewerkschaften, der sozialdemokratischen Partei, aber auch der kommunistischen Partei der Arbeit vor, ihre ursprünglichen Ziele verraten zu haben und inzwischen als Pfeiler des «Systems» (so der damalige Sprachgebrauch) zu agieren. Umgekehrt empfanden viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die von den hart errungenen gesellschaftlichen Kompromissen und den materiellen Fortschritten der Nachkriegszeit geprägt waren, die Neuen Linken als weltfremde Intellektuelle ohne Bezug zu den sozialen Realitäten. Ein Bruch mit dem Kapitalismus schien den meisten 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 139 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 139 13.10.20 15:21 106 «Rückblende auf einen wichtigen Wahltag», in: SMUVZeitung, 11.4.1973, S. 5. 107 Arbeitsgemeinschaft Demokratisches Manifest: Dossier Volkshaus. 23.09.1977, Firmenarchiv Volkshaus Bern, S. 2–4. 108 Ebd., S. 5–6. Gewerkschafts-Leitungen schon lange als undenkbar, wenn nicht gar unerwünscht. Doch die gesellschaftlichen Veränderungen und die neuen Debatten taten ihre Wirkung auch in den Gewerkschaften. Mit der 1971 lancierten und 1976 in der Volksabstimmung abgelehnten Mitbestimmungs-Initiative setzten sie die Demokratisierung der Wirtschaft auf die politische Tagesordnung, auch ein wichtiges Anliegen der 68er. Die Gewerkschaften verstärkten ihre Bemühungen, Frauen, Jugendliche und ausländische Arbeitende zu organisieren und ihre Interessen zu vertreten. Die in den Nachkriegsjahren zeitweise als sakrosankt geltende absolute Friedenspflicht in den meisten Gesamtarbeitsverträgen wurde gewerkschaftsintern durch oppositionelle Strömungen vermehrt in Frage gestellt. Für diese gewerkschaftliche Öffnung generell und für die Solidarität zwischen ausländischen und schweizerischen Werktätigen im Besonderen stand besonders der langjährige Präsident der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH), Ezio Canonica (1922–1978). Am 3. April 1973 wählte der Gewerkschaftsausschuss den Tessiner im Unionssaal des Volkshauses Bern zum neuen Präsidenten des SGB.106 Der «Saalstreit» begann damit, dass die Volkshaus-Leitung der Homosexuellen Arbeitsgruppe Bern einen Saal verweigerte. Einige Berner Gruppen dieses «schönen Brodelns», wie der Journalist Niklaus Meienberg den 1968er-Aufbruch genannt hatte, wollten auch Veranstaltungen im Volkshaus organisieren. Anfänglich scheinen sie dabei nicht auf grosse Probleme gestossen zu sein. Doch im März 1977 weigerte sich die Volkshaus-Leitung, der Homosexuellen Arbeitsgruppe Bern (HAB) den Unionssaal für die Vorführung des Films «Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei …» über die Schwulenverfolgungen in Nazi-Deutschland zu vermieten. Vor dem Volkshaus hatten schon die Verantwortlichen anderer Lokale diese Projektion abgelehnt. Die HAB schrieb darauf einen offenen Brief an das Gewerkschaftskartell. Kritisch kommentiert wurde die Verweigerung des Saals auch in der «Berner Tagwacht». Die HAB warf den Volkshaus-Verantwortlichen zudem Doppelmoral vor: Das Kino «Forum», im früheren Grossen Saal, das dem Volkshaus stattliche Mieteinnahmen brachte, zeigte in diesen Jahren so gut wie ausschliesslich Pornofilme.107 Kurz darauf wollte die Direktion auch dem antimilitaristischen Soldatenkomitee keinen Saal mehr vermieten. Noch im Januar hatte das Soldatenkomitee problemlos einen Vorbereitungskurs für künftige Rekruten im Volkshaus durchgeführt.108 140 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 140 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 ABB. 81 Nach langem Ringen gab sich die Berner Jugend das autonome Kulturzentrum Reitschule. Es ist eine wichtige Struktur für oppositionelle Kultur und vielbesucht – auch von der Polizei. Obschon sie regelmässig Gegenstand von Abstimmungen und politischen Konflikten ist, konnte sich die Reitschule bis heute halten. 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 141 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 141 13.10.20 15:21 Vor der aufkommenden Kritik an der verschärften Praxis, teilweise auch aus den eigenen Reihen, beschloss der Verwaltungsrat am 15. Juni 1977 mit 9 Stimmen bei einer Enthaltung, Räume in Zukunft nur noch an Trägerorganisationen (also an die Gewerkschaften) und befreundete Organisationen (SP, kulturelle und genossenschaftliche Organisationen) zu vermieten. Damit zog der Verwaltungsrat eine scharfe Linie zwischen dem Volkshaus und den neuen Bewegungen. Direktion und Verwaltungsrat begründeten die restriktivere Vermietungspraxis vor allem damit, dass die Gewerkschaften als Trägerorganisationen häufig auf andere Lokale ausweichen müssten, weil im Volkshaus die Sitzungszimmer bereits von anderen Organisationen belegt seien.109 «Ausgerechnet das Volkshaus, das sich die Arbeiterbewegung zur Verteidigung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit geschaffen hat, beteiligt sich nun am Abbau der demokratischen Rechte.» 109 Erwin Haari: Notiz Fernsehen/Bigler. 12.12.1977, Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern. 110 «‹Politischer Skandal›. Gründungsversammlung Demokratisches Manifest Bern», in: Thuner Tagblatt, 10.12.1976, S. 16. Aus Protest gegen diesen Entscheid formierte sich um die Arbeitsgemeinschaft Demokratisches Manifest ein Komitee offenes Volkshaus. Das Demokratische Manifest war eine recht breite Bewegung gegen politisch motivierte Entlassungen. Zu den Erstunterzeichnern des Manifests gehörten unter anderem SGB-Präsident Ezio Canonica und der Schriftsteller Max Frisch. Bekannt wurde das Manifest vor allem in der Folge der Cincera-Affäre. Der spätere Zürcher FDPNationalrat Ernst Cincera (1928–2004) hatte als «Subversivenjäger» (Deckname «Cäsar») in Zusammenarbeit mit Staatsschutz und Militärischem Nachrichtendienst Linke, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Schriftsteller und Künstlerinnen, Lehrer, Professorinnen und andere profilierte Köpfe bespitzelt. Seine meist abenteuerlichen «Befunde», heimlich der Polizei, Personalchefs und anderen Verantwortlichen zugeleitet, kosteten viele den Job. Unter anderem hatte Cincera auch drei minderjährige Berner Gymnasiasten mit Spionagekameras ausgerüstet und an die kommunistischen Weltjugendfestspiele nach Ostberlin geschickt, um Informationen über Schweizer Teilnehmende zu beschaffen. 1976 wurde Cincera von einer Gruppe um den Journalisten Jürg Frischknecht (1947–2016) enttarnt. Auch in Bern entstand eine Sektion des Demokratischen Manifests: Am 9. Dezember 1976 nahmen im Unionssaal über 300 Personen an der Gründungsversammlung teil, die der Staatsrechtsprofessor und künftige SP-Nationalrat Richard Bäumlin leitete.110 142 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 142 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 Das Komitee offenes Volkshaus forderte nun den Verwaltungsrat der Volkshaus AG in einem von 26 Organisationen und 140 Einzelpersonen unterzeichneten Brief dazu auf, den Beschluss zu den Saalvermietungen rückgängig zu machen: «Dieser Beschluss ist folgenschwer. Er nimmt vielen Organisationen und Gruppierungen, in denen nicht zuletzt Gewerkschafter sowie Mitglieder und Sympathisanten der SP aktiv sind, eine der letzten übrigbleibenden Versammlungsgelegenheiten. Nachdem ihnen die bürgerlichen Wirte oft die Säle verweigern, sollen sie nun auch im Volkshaus vor verschlossenen Türen stehen. Ausgerechnet das Volkshaus, das sich die Arbeiterbewegung seinerzeit zur Verteidigung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit geschaffen hat, soll nun einen Beitrag zum Abbau der demokratischen Rechte leisten.»111 111 Offener Brief an den Verwaltungsrat der Volkshaus AG Bern [Entwurf mit leerem Unterschriftenbogen] 1.10.1977, Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern. 112 Gastrecht im Volkshaus. Beschluss des Verwaltungsrats vom 19. Oktober 1977. 7.11.1977, Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern. Doch die Verwaltungsräte zeigten sich wenig beeindruckt: An einer weiteren Sitzung am 19. Oktober 1977 konkretisierten und bestätigten sie ihren Beschluss mit 8 gegen 2 Stimmen. Er war nun auch mit einer Liste von unerwünschten Organisationen versehen. Explizit aufgeführt waren darin weiterhin das Soldatenkomitee und die Homosexuelle Arbeitsgruppe. Daneben sollten etwa die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH), die der POCH nahestehende Organisation für die Sache der Frau (OFRA), die kommunistische Partei der Arbeit, die maoistische Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) und die trotzkistische Revolutionäre Marxistische Liga (RML), aus der später etliche führende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter kommen sollten, keine Räume im Volkshaus mehr mieten können. Ebenfalls nicht erwünscht waren rechtsextreme Parteien («Nationale Aktion» und «Republikaner»). Diese hatten in Zürich gelegentlich das dortige Volkshaus genutzt. Das Demokratische Manifest, die Jungsozialisten, die mit einem Boykott des Volkshauses gedroht hatten, und der Schweizerische Friedensrat, dem irrtümlich ein Saal verweigert worden war, sollten dagegen «bis auf weiteres Gastrecht» erhalten.112 An der Geschäftsleitungssitzung der SP der Stadt Bern vom 14. November 1977 rechtfertigte Verwaltungsratspräsident Erwin Haari (1921–2000) die restriktivere Saalvermietungspraxis einerseits mit dem Eigenbedarf der Gewerkschaften: «Die Vertreter der Trägerorganisationen mussten sich sehr oft beklagen, dass sie bei uns keine Sitzungen durchführen konnten. In der heutigen Zeit müssen die einzelnen Verbände sehr kurzfristig zu Sitzungen einladen. Diese Sitzungen mussten leider zu oft im Bürgerhaus, im KV oder im Bahnhofbuffet stattfinden.» 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 143 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 143 13.10.20 15:21 ABB. 82 ERWIN HAARI Bis 1973 Finanzverwalter des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes, danach Direktor der Coop-Lebensversicherung. Er trieb als langjähriger VR-Präsident der Volkshaus AG den Neubau des Volkshauses 1981–1983 voran. 1977 geriet er in eine öffentliche Kontroverse, nachdem die Volkshaus-Direktion sich geweigert hatte, Säle an mehrere Gruppierungen aus der 1968er-Bewegung zu vermieten. Zudem habe man sehr «schlechte Erfahrungen mit einzelnen Splittergruppen» machen müssen: «Es wird ein Saal für 80 Personen reserviert, es erscheinen jedoch plötzlich 120 oder mehr Personen. Die ‹Gänge› und das Treppenhaus werden ebenfalls benützt und was übrig bleibt ist öfters ein Schlachtfeld.» Veranstaltungen linksradikaler Gruppen seien eine schlechte Publizität für das Volkshaus, meinte Haari. Einmal sei es wegen einer POCH-Veranstaltung sogar zu einer Bombendrohung gekommen, welche die «Polizei (…) sehr ernst genommen» habe. «Diese extremen Gruppierungen sind darauf angewiesen, ihre Anlässe durch eine Propaganda bekannt zu geben, die uns missfällt. Es werden sehr schlechte Vervielfältigungen erstellt und diese Blätter werden über Nacht überall angeklebt. Auffällig gross ist natürlich darauf vermerkt, dass diese Versammlung im Volkshaus abgehalten wird.» 144 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 144 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 Dabei seien die Mieteinnahmen sehr bescheiden, rechnete Haari vor. So hätten etwa die POCH 1976 im Volkshaus 9 Anlässe durchgeführt, dafür aber nur 405 Franken bezahlt. Die Präsenz der neuen Gruppierungen im Volkshaus habe dazu geführt, dass sich viele Stammgäste «bei uns nicht mehr wohl» fühlten.113 Im Herbst 1979 kam die Saalvermietungspraxis im Volkshaus noch einmal – diesmal von rechts – unter Beschuss: Die starke und seit langem eher sozialdemokratische Positionen vertretende italienische kommunistische Partei hatte eine Veranstaltung zu den italienischen Wahlen im Volkshaus durchgeführt, ohne die damals für ausländische Referenten vorgeschriebenen Redebewilligungen einzuholen.114 Die Suche oppositioneller Organisationen nach Räumlichkeiten sollte in den kommenden Jahren in Bern und der Schweiz immer wieder Anlass zu Konflikten sein. Bei den Jugendunruhen von 1980 stand die Forderung nach selbstverwalteten, von kommerziellen und staatlichen Einflüssen befreiten Begegnungs- und Kulturlokalen im Zentrum. Die bekannteste und umstrittenste derartige Institution entstand in Bern in der ehemaligen Reitschule bei der Schützenmatte. Ein erster Versuch, dort ab Oktober 1981 ein «Autonomes Bewegungszentrum» zu eröffnen, endete im April 1982 mit einer polizeilichen Räumung. Nach der erneuten Besetzung im Herbst 1987 entstand dann das bis heute bestehende alternative Kulturzentrum Reithalle. Es verfügt über einen offiziellen Mietvertrag mit der Stadt Bern, wird aber immer wieder in Frage gestellt. Seit seiner Gründung haben allerdings fünf Volksabstimmungen seine Existenz bekräftigt. DER GROSSE UMBAU Ökonomisch geschwächt und in seiner gesellschaftlichen Rolle verunsichert, musste sich das Volkshaus neu definieren. 1976 begannen Betriebskommission und Verwaltungsrat grundsätzliche Überlegungen über die Zukunftsperspektiven anzustellen. Dabei stand vor allem eine Modernisierung und Erweiterung des Hotels im Mittelpunkt. Eine Studie des bekannten Architekturbüros Hans und Gret Reinhard kam zum Schluss, dass eine Totalsanierung des alten Hotelgebäudes nicht möglich sei. Die Studie prüfte auch die Option eines Neubaus. Doch diesen konnte die Volkshaus AG allein nicht finanzieren. Otto Flückiger (1914–2005), Verwaltungsratsmitglied und Vizepräsident des SMUV, vermittelte schliesslich einen Kontakt zur Neuen Warenhaus AG (EPA). Diese plante, ihre an das Volkshaus angrenzende Filiale an der Marktgasse 24 auszubauen. Flückiger 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 145 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 113 Erwin Haari: Referat GL SP Bern. 14.11.1977, Firmenarchiv Volkshaus/ Hotel Bern. 114 «Ist das erlaubt? PCI-Wahlveranstaltung im Volkshaus», in: Berner Zeitung, 14.5.1979. 145 13.10.20 15:21 ABB. 83 1973 wurde Ezio Canonica (rechts), der langjährige Chef der Gewerkschaft Bau und Holz, im Volkshaus als Nachfolger von Ernst Wüthrich (links) zum SGB-Präsidenten gewählt. Canonica brachte neue soziale Impulse in die Gewerkschaftsbewegung, relativierte den Arbeitsfrieden und erzwang die Öffnung in der Frage der ausländischen Arbeitenden. 146 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 146 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 kannte diese Firma aus seiner Tätigkeit für das ebenfalls gewerkschaftsnahe Hotel Freienhof in Thun. In Zusammenarbeit mit der EPA, die dort eine Filiale eröffnete, war der Freienhof 1973 grundlegend umgebaut worden.115 Der Umbau war in Wahrheit ein Abbruch und Neubau hinter einer geschützten Fassade. Ein monumentales und kompliziertes Unterfangen. 115 Haari/Schweizer, S. 13. 116 Haari/Schweizer, S. 16–18. Crottet, Regula: Das Volkshaus in Bern. Architektur als Gesamtkunstwerk, Lizenziatsarbeit phil.-hist. Univ. Bern 2007, S. 78. Die Verhandlungen zwischen Volkshaus (vertreten durch Verwaltungsratspräsident Erwin Haari und Otto Flückiger) und EPA führten schliesslich zu einer Einigung. Die EPA konnte im Rahmen eines langfristigen Mietvertrags im Volkshaus Laden- und Lagerräume erstellen. Die Mehreinnahmen aus den von der EPA bezahlten Mieten bildeten die finanzielle Basis für einen gross angelegten Umbau des Volkshauses. In Wahrheit war es ein Neubau. Im November 1978 segnete eine ausserordentliche Generalversammlung den Plan einstimmig ab, erhöhte das Aktienkapital von 2 auf 2,8 Millionen Franken und billigte den Vertrag mit der EPA (Neue Warenhaus AG). Den bisherigen Mietern, dem Kino «Forum», der Balli Hut AG und der Universal-Sport AG, wurde auf Ende 1979 gekündigt. Der Universal-Sport AG, die ebenfalls aus der Arbeiterbewegung entstanden war, konnte im Erdgeschoss des «Hotel Continental» ein neues Ladenlokal angeboten werden. Am 31. August 1979 wurde der Mietvertrag mit der EPA schliesslich unterzeichnet. Abbruch und Neubau konzipierte das Architekturbüro Hans und Gret Reinhard. Im Oktober 1980 schlossen das Hotel und das Restaurant für mehr als zwei Jahre. Am 3. April 1981 beschloss die Generalversammlung mit 85,6 % der Stimmen, das Hotel künftig unter dem Namen «Hotel Bern» und auf Vierstern-Standard weiterzuführen. Den Namenswechsel – zuvor war schon das Winterthurer Volkshaus in «Hotel Winterthur» umbenannt worden – begründete die Volkshaus AG namentlich damit, dass ein Hotel mit einem vorne im Alphabet liegenden Namen bei einer Suche im Telefonbuch schneller zu finden sei. Doch nicht nur der Name änderte sich: Vom ursprünglichen Gebäude blieb nur wenig übrig: die als Denkmal eingestufte monumentale Frontfassade, der Durchgang zum Schützengässchen und der ursprünglich zum Treppenhaus gehörende Erker auf der Rückseite. Die Stützung der Frontfassade erwies sich als sehr aufwendig, der Erker wurde verschoben. Auch die Decke des Restaurants musste schliesslich, anders als ursprünglich geplant, ersetzt werden.116 Nach dieser Auskernung entstand ein vollkommen 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 147 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 147 13.10.20 15:21 ABB. 84 Im Westen der Stadt Bern wurden Mitte der 1960er-Jahre verdichtete Grosssiedlungen wie der «Gäbelbach» im traditionellen Arbeiterquartier Bümpliz hochgezogen. Sie stehen für die Jahre des Wachstums, sollten billiges Wohnen und Gemeinschaftseinrichtungen anbieten. Führend an diesen Wohnbauprojekten beteiligt war das Architektenpaar Hans und Gret Reinhard. Ihr Architekturbüro konzipierte auch den Neubau des Volkshauses anfangs der 1980er-Jahre. 148 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 148 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 ABB. 85 OTTO STICH Der Solothurner SP-Politiker (1927–2012) war Dauergast im Volkshaus Hotel Bern. Nach 20 Jahren im Nationalrat wählte ihn 1983 die bürgerliche Mehrheit gegen die Kandidatin der eigenen Partei, Lilian Uchtenhagen, in die Landesregierung. Dies führte zu einer heftigen Debatte in der Sozialdemokratischen Partei über einen möglichen Austritt aus der Dauer-Regierungskoalition der Schweiz. Stich war elf Jahre lang Finanzminister, 1994 und 1998 auch Bundespräsident. In seiner Amtszeit trat die Schweiz den Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank etc.) bei. Im Volkshaus klopfte er gerne einen Jass. Das Bild zeigt ihn 1991 beim Empfang von Gewerkschafter*innen. neues Gebäude. Obschon der Palast der Arbeiterbewegung von 1914 äusserlich weitgehend erhalten blieb, war der Neubau des Gebäudeinnern denkmalpflegerisch problematisch. So wies etwa der Kunsthistoriker Alex Claude darauf hin, dass für «das Schaffen» des Architekten Otto Ingold «gerade die innere Gestaltung des Volkshauses typisch» gewesen sei. Besonders bedauerte er die Zerstörung des – seit langem nur noch als Kino dienenden – Grossen Saals: «Dass noch in unseren Tagen eine qualitätvolle Raumschöpfung eines der bedeutendsten Schweizer Architekten des frühen 20. Jahrhunderts zerstört wird, ist besonders bedauerlich. Dies um so mehr, als der grosse Saal weiterhin funktionsfähig gewesen wäre und mit gutem Willen seitens der Bauherrschaft in ein entsprechendes Umbauprojekt (…) hätte einbezogen werden können.»117 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 149 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 117 Claude, Alex: «Volkshaus – ein Kulturdenkmal in Gefahr. Notizen zu einer wenig beachteten Bauaufgabe des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Bern und Biel», in: Kunst + Architektur in der Schweiz 34 (1983), Nr. 3, S. 349. 149 13.10.20 15:21 In den oberen Etagen wurde das Hotel mit rund doppelt so vielen und weit komfortableren Zimmern ausgestattet. Im zweiten Stock entstand die Saaletage mit neun Sitzungs-, Bankett- und Versammlungsräumen. Der neue Unionssaal konnte in zwei Räume aufgeteilt werden und wurde mit moderner Kongresstechnik ausgestattet. Im Erdgeschoss, im 1. Stock und in Teilen der Untergeschosse entstanden langfristig an die EPA vermietete Verkaufs- und Lagerräume.118 Das Volkshaus hiess nun «Hotel Bern». Das hatte ökonomische Gründe. Aber die Umbenennung spiegelte auch das Selbstverständnis der Leitung. Sie wurden 1982 in Betrieb genommen, im Februar 1983 öffnete das Restaurant «7 Stuben» und einen Monat später begrüsste das «Hotel Bern» die ersten Gäste.119 Was hatte das «Hotel Bern» noch mit dem Volkshausgedanken zu tun? Die Situierung als Geschäfts- und Kongresshotel wirkte wie ein Bruch. Andrerseits blieben die Gewerkschaften Eigentümerinnen. Sie und ihnen nahestehende Organisationen nutzten weiterhin die Versammlungsräume zu vergünstigten Preisen. Kritik an der Neugestaltung konterten die Verantwortlichen der Volkshaus AG mit dem Hinweis auf mehrere Volkshäuser, die von Gewerkschaften verkauft werden mussten, namentlich in Basel und Biel. Der kommerziell erfolgreiche Betrieb von Hotel und Restaurant garantiere den Besitz. Die kommerzielle Umorientierung stellte sicher, dass das Volkshaus in Händen der Gewerkschaften blieb – anders als beispielsweise die Volkshäuser in Basel und Biel. 118 Haari/Schweizer, S. 15, 19–28. 119 Ebd., S. 26 ff. Seit der Krise der 1970er-Jahre gerieten die Gewerkschaften vermehrt in die Defensive. Der Abwehrkampf für die Verteidigung der sozialen Errungenschaften rückte in den Vordergrund. Die mörderische Militärdiktatur in Chile diente den neoliberalen «Chicago Boys» als Versuchslabor, 1979 übernahm Margaret Thatcher in Grossbritannien und Anfang 1981 Ronald Reagan in den USA – der 150 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 150 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 ABB. 86 MICHELINE CALMY-REY Als SP-Bundesrätin und Aussenministerin stand Calmy-Rey (1945 geboren) für eine offene, sich aktiv um Frieden bemühende Schweiz. In ihrer neunjährigen Amtszeit knüpfte sie unter anderem die bilateralen Abkommen II mit der EU. Gegen innen sorgte die von rechten Männern zum Feindbild stilisierte Politikerin für mehr Gleichstellung. Das Bild zeigt sie auf einem Staatsbesuch in Indien mit Premierminister Manmohan Singh und Präsidentin Pratibha Devisingh Patil. 2007 und 2011 amtete Calmy-Rey als Bundespräsidentin. Sie liebte das Volkshaus. Zum Jahresende gab sie dem Personal jeweils einen Cocktail aus. weltweite neoliberale Umbau des Kapitalismus begann. In der Schweiz gewann 1979 ausgerechnet die alte Staatspartei FDP die Wahlen mit dem Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat». In der Schweiz gewann 1979 ausgerechnet die alte Staatspartei FDP die Wahlen mit dem Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat». Auch das nun als «Hotel Bern» auftretende Haus bot Raum für Veranstaltungen, die sich mit diesen für die Arbeiterbewegung bedrohlichen Entwicklungen beschäftigten. Am 25. Januar 1985 fand im Volkshaus ein Solidaritätskonzert für die britischen Miners statt. Es stand unter dem Patronat des Gewerkschaftsbunds der Stadt Bern.120 Die Bergleute streikten unter hohen Opfern (7 Tote, 3000 Verletzte) ein Jahr lang gegen Thatchers Politik («Gewerkschaften zerschlagen, Industrie abbauen, Finanzmärkte entfesseln»). Kurz nach der endgültigen Niederschlagung des Streiks machte 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 151 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 120 Es traten die Songgruppen «Cosa Nostra» und «Linggi Schnurre» aus Bern und «Schattentöne» aus Zürich auf. 151 13.10.20 15:21 ABB. 87 ANNY KLAWA-MORF Die Kämpferin für Frauenrechte Anny Klawa (1894–1993, Mitte), die den Zusammenbruch der Münchner Räterepublik erlebt hatte und später die sozialdemokratische Kinderorganisation Rote Falken gründete, zusammen mit den Journalistinnen Cornelia Wermuth und Margrit Graf an der Eröffnungsfeier des neuen Volkshaus Hotel Bern 1983. 121 [Zeitung der] Gewerkschaft Textil Chemie Papier, 7.3.1985, S. 1. 122 SMUV-Zeitung, 18.1.1984, S. 13. am 13. März 1985 eine Delegation der britischen Bergarbeiter auch im Volkshaus/Hotel Bern Halt.121 Anfang 1984 hatte der Arbeiterbildungsausschuss einen Vortragszyklus zum alten, beinahe vergessenen Thema internationale Solidarität organisiert. In diesem Rahmen orientierten unter anderem Exilgewerkschafterinnen und -gewerkschafter der chilenischen CUT und der polnischen Solidarność über die in den Untergrund gedrängten gewerkschaftlichen Kämpfe in ihren Ländern.122 Selbst in der Schweiz blies der neoliberale Gegenwind immer rauer. Die Gewerkschaften mussten sich umorientieren. Die veränderte Situation erforderte neue, kämpferische Antworten. 152 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 152 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:21 ABB. 88 Deftige Küche wird in den «7 Stube» gross geschrieben: Menükarte am Tag des «Zibelemärit» (Zwiebelmarkt), dem traditionellen Berner Volksfest im November. 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 153 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 153 13.10.20 15:22 EXKURS ZUR KUNST AM BAU: KÜNSTLERISCHE AUSSTATTUNG ALS BINDEGLIED ZWISCHEN DEM ALTEN VOLKSHAUS UND DEM NEUEN HOTEL BERN (1983) ABB. 89 Auch das Putti-Geschwisterpaar vom Süddurchgang wurde restauriert. 123 Haari, Erwin, Schweizer, Kurt: Das Berner Volkshaus und das neue Hotel Bern, 1914–1989, Gümligen: Wefo Verlag 1989, S. 19–20. 154 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 154 Beim Neubau unter Beibehaltung der Hauptfassade fanden die aufwendige Restauration der Fassade und die künstlerische Ausstattung des Innenraums besondere Beachtung. Die Front mit den Halbsäulen und dem runden Dachgiebel konnte in der ursprünglichen Form, so wie sie der Architekt Otto Ingold 1914 bauen liess, erhalten bleiben. Die Fassadenverzierungen und Fassadenbänder wurden wiederhergestellt, die vier Statuen und der Gründungsstein mit den beiden Engeln restauriert. Die Restauration der Hauptfassade und des Durchgangs des Schützengässchens kostete rund 350 000 Franken. Ein Betrag, der die finanziellen Möglichkeiten der Volkshaus AG überstieg und nur dank Spenden von Unternehmen, befreundeten Verbänden, Banken und Privatpersonen und zahlloser Fronarbeitsstunden der Handwerker aufgebracht werden konnte.123 Auch im Hotelinnern wurde der Kunst ein hoher Stellenwert beigemessen. Besonders die vom Maler und Grafiker Hans Erni (1909–2015) entworfenen und von der Firma Kröner handgeknüpften Wandteppiche drückten den Räumlichkeiten ihren unverkennbaren Stempel auf. Dass bei der künstlerischen Ausstattung die Wahl auf den Luzerner Hans Erni fiel, war kein Zufall. Dieser hatte schon mit seinem berühmten Plakat zur AHV-Abstimmung bewiesen, dass er den Gewerkschaften und ihren Anliegen nahestand. Mit seinen Arbeiten bot sich die Möglichkeit, eine Brücke zu schlagen zwischen dem neu ausgerichteten Hotel Bern und dem früheren Volkshaus. Im Auftrag der Direktion entwarf Erni in der Folge fünf Wandteppiche («Rast», «Arbeiter», «Tanz», «Vier Elemente», «Union»), die im Treppenhaus und in den Kongresssälen angebracht wurden. Später gelang es der Volkshaus AG durch Vermittlung der Firma Kröner, weitere Teppiche von Erni für das Hotel Bern zu erwerben («Pferde», «Weisen», «Denker»). Ernis Teppiche sind dekorativ, sollen gleichzeitig aber auch zum Nachdenken anregen. So verstand Erni sein Schaffen als der Tradition der klassischen Moderne verpflichtet, welche die Gattungsgrenzen zwischen Hochkunst und Gestaltung zu überwinden versuchte. Er wollte, dass seine Werke den geschützten Raum des Museums verlassen, um in der und auf die Gesellschaft zu wirken. Für Hotelzimmer wurden Bilder der Berner Grafiker Karl Tanner, Heinz Inderbitzin, Max Berger und Adolf Rawyler erworben. DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:22 ABB. 90 / ABB.91 Von aussen war nichts zu sehen, im Innern wurde das Volkshaus ausgekernt und neu hochgezogen. 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 155 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 155 13.10.20 15:22 ABB. 92 Hans Ernis Plakat zur AHV-Abstimmung 1947. ABB. 93 156 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 156 Hans Erni: «Arbeiter». DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 1968–1989 13.10.20 15:22 ABB. 94 [OBEN] Hans Erni: «Union». [UNTEN] Der Unionssaal mit den beiden Wandteppichen ABB. 95 «Vier Elemente» (links) und «Union» von Hans Erni. 1968–1989 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 157 DA STAND NUR NOCH DIE FASSADE 157 13.10.20 15:22 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 158 13.10.20 15:22 VI. GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 Seit mehr als 30 Jahren arbeitet das Ehepaar Gloria und Arthur Pereira im Volkshaus/Hotel Bern. Sie erzählen, wie Arthur das Wandbild «Der Redner» vor der Zerstörung gerettet hat, wie Gloria mit Prominenz und Ministerinnen verkehrte und wie sie den grossen Umbau von 2018 bis 2020 erlebt haben. 159 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 159 13.10.20 15:22 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 160 13.10.20 15:22 «DAS VOLKSHAUS/HOTEL BERN IST EIN TEIL VON UNS – UND WIR VON IHM» Sie arbeiten seit 1987 im Volkshaus/Hotel Bern. Wie ist es dazu gekommen? ARTHUR PEREIRA Peter Schiltknecht, der das Volkshaus/Hotel Bern im April 1986 als Direktor übernommen hat, rief mich jede Woche an und versuchte mich zu überreden, zu ihm nach Bern zu kommen. Gloria und ich arbeiteten damals als Wirte in Brienz – ebenfalls in einem Betrieb von Herrn Schiltknecht – und hatten keine Lust auf eine Veränderung. Doch Herr Schiltknecht liess nicht locker. Ich willigte schliesslich ein, ihn zum Mittagessen zu treffen. Danach gab es kein Zurück mehr: Tage später stand ich als Hilfskoch in der Küche. GLORIA PEREIRA Bis du Streit hattest mit dem Küchenchef … ARTHUR (LACHT) Ja, nach einem Jahr hatte ich die Nase voll vom Küchenchef und beschloss, mir eine andere Arbeit zu suchen. Doch Herr Schiltknecht war dagegen. Er sagte, ich sei ein guter Handwerker und er brauche mich in der Werkstatt. Der Werkstattleiter stand kurz vor der Pensionierung – und als ich aus meinen Ferien zurückkam, drückte mir Herr Schiltknecht den Schlüssel in die Hand und sagte, so, ab heute bist du der Chef da unten. Da habe ich zuerst nur leer geschluckt. Danach habe ich den Gesamtplan vom Hotel mit nach Hause genommen und diesen jeden Abend so lange studiert, bis ich Bescheid wusste. Es hat sich gelohnt: In den letzten dreissig Jahren musste ich nie einen Servicemann für die Heizung oder die Lüftung kommen lassen. Ich habe immer alles selber gemacht. GLORIA Inzwischen waren wir mit unserem Sohn nach Bern gezogen und ich arbeitete als Zimmermädchen ebenfalls im Volkshaus/Hotel Bern. Damals hätten wir uns nicht vorstellen können, dass daraus einmal mehr als 30 Jahre werden würden. Allerdings sind wir nicht die Einzigen: Gerade in der Zimmerreinigung gibt es im Hotel Bern nur wenige Wechsel. Die meisten Mitarbeitenden bleiben bis zur Pensionierung. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 161 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 161 13.10.20 15:22 Sie kommen aus Portugal. Warum haben Sie sich entschieden, in der Schweiz zu leben und zu arbeiten? GLORIA Es war der Wunsch meines Mannes – schon früher war es nicht leicht, ihn von seinen Ideen abzubringen. Kurz nach der Geburt unseres Sohnes beschloss er, in der Schweiz Arbeit zu suchen. Als er für Ferien nach Hause kam, sagte er, er habe für mich auch eine Stelle gefunden und ich müsse mich entscheiden, ob ich in Portugal bleiben oder ihn nach Grindelwald begleiten wolle. Natürlich wollte ich mit meinem Mann zusammenleben, doch das bedeutete auch, dass ich unseren Sohn bei meinen Eltern in Portugal zurücklassen musste. In der Schweiz hätte niemand auf ihn aufpassen können. Das war sehr hart für mich. Nach drei Jahren konnten wir unseren Buben in die Schweiz holen. Unsere Tochter wurde geboren, als wir bereits im Hotel Bern arbeiteten. ARTHUR Wir hatten ein gutes Leben in Portugal, doch ich war jung und hatte den Drang, Neues auszuprobieren und kennenzulernen. Ich wollte die Welt entdecken. Als ich dann hier war, empfand ich die Schweiz innert kurzer Zeit als meine Heimat und wollte nicht mehr weg. Ich habe viele Freunde und kenne halb Bern. Das kommt auch daher, dass ich in meiner Freizeit lange für die beiden Berner Fussball- und Eishockeyclubs YB und SCB gearbeitet und mir so ein grosses Netzwerk aufgebaut habe. Seit über 30 Jahren arbeiten Sie im Volkshaus/Hotel Bern. Wie schwer wird es Ihnen fallen, in zwei Jahren in Pension zu gehen? ARTHUR Unglaublich schwer. Nach meiner Pensionierung werde ich sechs Monate lang einen grossen Bogen machen müssen um das Volkshaus/Hotel Bern. Jetzt denkt mein Kopf: Das ist mein Haus, das Hotel gehört mir. Aber das ist ein Fehler, es gehört mir ja nicht. Ich werde mir diesen Gedanken abgewöhnen müssen. Früher arbeitete ich von sechs Uhr morgens bis spät am Abend. Gab es nachts ein Problem, kam ich sofort her. Das mache ich auch heute noch. Insgesamt arbeite ich seit einiger Zeit etwas weniger, aber es ist mir wichtig, dass alles in Ordnung ist und schön aussieht. Niemand schreibt mir vor, dass ich so viel arbeiten muss, im Gegenteil. Ich habe viele Freiheiten: wenn ich gehen will, kann ich gehen. Aber ich will nicht. Denn am liebsten bin ich hier. Falls es mir nach meiner Pensionierung gelingt, die nötige Distanz zum Volkshaus/ Hotel Bern zu schaffen, werde ich ab und zu auf ein Bier vorbeikommen – auf Kosten des Hauses wohlverstanden! 162 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 162 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 GLORIA Auch für mich wird es nicht einfach. Einerseits weil ich mit Ausnahme der Zeit nach der Geburt meiner Kinder immer Vollzeit gearbeitet habe und andererseits, weil ich mich dem Volkshaus/Hotel Bern und den Mitarbeitenden sehr verbunden fühle. Es ist ein langer Lebensabschnitt, der zu Ende gehen wird. Wie sehen Ihre Pläne aus für nach der Pensionierung? GLORIA Ich freue mich darauf, mehr Zeit mit meinen Enkeln zu verbringen. Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kindern und Grosskindern. Es war für uns immer klar, dass wir auch nach der Pensionierung in der Schweiz bleiben werden. Unser Leben mit unserer Familie und unseren Freunden ist hier. ARTHUR Ich habe keine konkreten Pläne. In den letzten Jahren hatte ich einige körperliche Beschwerden und Operationen, es wird mir gut tun, etwas auszuruhen. Ich arbeite, seit ich acht Jahre alt bin. Nach dem frühen Tod meines Vaters gab es keine andere Option. Wir waren zehn Geschwister und hatten nichts zu essen – staatliche Hilfe existierte damals noch nicht. Immer wenn ich frühmorgens von der Nachtschicht nach Hause kam, begegnete ich Gloria. Sie stand draussen und wusch die Wäsche – für ihre sechzehn Geschwister. Wir sind im gleichen Dorf als Nachbarn aufgewachsen, haben gemeinsam Erstkommunion gefeiert. Sie hat den Tod meines Vaters miterlebt. Ein Paar wurden wir erst kurz vor zwanzig: Aus meiner Sicht bis heute eine hervorragende Wahl! ABB. 96 Ein eingespieltes Team: Gloria und Arthur Pereira. Am gleichen Ort zu arbeiten, fällt ihnen nicht schwer. «Er macht seine Arbeit und ich meine», sagt Gloria Pereira. «Zudem ist das Hotel so gross, dass sich unsere Wege an manchen Tagen gar nie kreuzen.» 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 163 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 163 13.10.20 15:22 Sie haben die Entwicklung des Volkshaus/Hotel Bern miterlebt und geprägt. Wie hat sich die Arbeit verändert? ARTHUR Gloria hat als Zimmermädchen angefangen, heute ist sie die Leiterin der Hauswirtschaft – und ich bin als Haustechniker verantwortlich für ein grosses Hotel. Und das, obwohl wir in Portugal keinen Beruf gelernt haben. Das gefällt mir in der Schweiz: Wenn du wirklich willst und zeigst, was du drauf hast, kannst du aufsteigen. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Wir haben uns das Vertrauen unserer Vorgesetzten erarbeitet – und sind dafür belohnt worden. Das Team im Volkshaus/Hotel Bern ist einzigartig. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wir eine grosse Familie sind. GLORIA Es hat immer viele Veränderungen gegeben. Mein Aufgabenbereich hat sich vergrössert. Deshalb ist mir auch nie langweilig geworden. Früher, als das Hotel Continental mit dem Volkshaus/Hotel Bern verbunden war, haben wir dort die Zimmer gereinigt und die Wäsche gewaschen. Auch die Wäsche von der «Schmiedstube» nebenan haben wir hier im Haus gemacht. Heute wird mit Ausnahme der Arbeitskleidung der Mitarbeitenden alles extern gewaschen … ARTHUR … an einem 31. Dezember vor etwa zwanzig Jahren brannte es in der Waschküche! Ich sehe es noch heute vor mir: Ich war im Restaurant mit Dekorieren für die Silvesterfeier beschäftigt, als plötzlich alle durcheinander riefen, in der Waschküche im 6. Stock sei ein Feuer ausgebrochen. Ich alarmierte sofort die Feuerwehr und schickte die Leute nach draussen. Ich hatte Angst, dass es zu einer Explosion kommen würde. Besser, es stirbt nur eine Person und nicht deren sechs, dachte ich, schaltete den Strom aus und begann, das Feuer selber zu löschen. Als wenig später die Feuerwehr eintraf, hatte ich bereits alles unter Kontrolle. Das Feuer war gelöscht – und ich ziemlich stolz. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ein Kabel durchgebrannt war und ein Schlauch Feuer gefangen hatte. 164 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 164 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 ABB. 97 In der Waschküche im 6. Stock wurde lange Zeit die Wäsche von mehreren Hotels gewaschen. Da heute nur noch die MitarbeitendenUniformen intern gewaschen werden, wurde die Waschküche verkleinert und im Zuge des Umbaus ins Untergeschoss verlegt. An die Bügelmaschine (links im Bild) erinnert sich Arthur Pereira gut: Er hat sie mehrere Male auseinandergenommen und selber repariert. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 165 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 165 13.10.20 15:22 Auch äusserlich hat sich im Volkshaus/Hotel Bern und im Restaurant Volkshaus einiges verändert … GLORIA O ja. Als wir hier angefangen haben, hat das Hotel ganz anders ausgesehen. In den Zimmern gab es Teppichböden, die Möbel waren rustikaler und dunkler. Es folgten viele kleinere Umbauten, auch das Inventar wurde insgesamt drei Mal ausgewechselt. Der letzte Umbau mit den zusätzlichen Zimmern, der Dachterrasse und dem neuen Eingangsbereich war der grösste. 166 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 166 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 [LINKS] 1988: Die Zimmer waren nun ABB. 98 zeitgemäss möbliert und mit Teppichböden versehen. Die Möbel wurden in den letzten dreissig Jahren mehrere Male komplett ausgewechselt. Nach 1983 sind alle Zimmer mit einem eigenen Bad ausgestattet. [OBEN] 2020: Helle Zimmer mit ParkettABB. 99 böden, Rosetten-Elementen und einem luftigeren Interieur. Vor dem letzten Umbau gab es auf drei Stockwerken jeweils 33 Zimmer. Nun sind es insgesamt 108. Da der achteckige Innenhof verkleinert wurde, sind heute die Hotelzimmer bis zu fünf Quadratmeter grösser. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 167 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 167 13.10.20 15:22 ABB. 100 [OBEN] 1988: Der Wandteppich «Ländliche Szene» von Hans Erni schmückte den Eingangsbereich. Eine kleine Treppe führt zum Restaurant mit dem damaligen Namen «7 Stuben». [RECHTS] 2020: Die Lobby ist nun ABB. 101 barrierefrei und fünf Meter tiefer. Während des Umbaus wurden die Gäste im zweiten Stock empfangen. 168 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 168 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 169 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 169 13.10.20 15:22 ABB. 102 Die Kurierstube war eine der «7 Stuben» des Restaurants. Mit dem Eisenbahnrad (links) verbindet Arthur eine besondere Geschichte. ARTHUR Das Restaurant wurde einige Male renoviert und umgebaut. 2014, als dann auch der Name von «7 Stuben» in «Restaurant Volkshaus» wechselte, haben wir alles selber abgerissen. Einige Souvenirs aus dieser Zeit sind geblieben. Früher hat jede gewerkschaftliche Berufsgruppe ihre eigene Stube dekoriert. In der Kurierstube, in der unter anderen die Bähnler zu Hause waren, befand sich ein Eisenbahn-Rad. Dieses habe ich nach Portugal transportiert, um es als Andenken in unseren Garten zu stellen. Auch das Gewerkschaftsbild mit dem Redner drauf, das heute im Restaurant Volkshaus hängt, habe ich einst vor der Zerstörung gerettet. Im Nachhinein eine lustige Geschichte: Vor vielen Jahren gab man mir den Auftrag, das Bild zu entsorgen. Doch ich hatte ein ungutes Gefühl dabei und beschloss, das Bild in Leintücher einzuwickeln und auf dem Dachboden hinter einer Zwischenwand zu verstecken. Wäre ich gestorben, hätte es niemand gefunden! Als die Direktion wechselte, fragte der neue Hoteldirektor, was eigentlich mit dem besagten Gemälde passiert sei … Ich war natürlich sehr glücklich, als ich es aus dem Versteck hervorholen konnte – und dass es heute einen so prominenten Platz einnimmt! 170 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 170 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 Das Volkshaus/Hotel Bern hat eine lange Geschichte und Tradition als Volkshaus. Ist der Charakter des Volkshauses heute auch noch spürbar? Und was bedeutet Ihnen das? ARTHUR Für ein Volkshaus im klassischen Sinn ist es natürlich etwas luxuriös. Nichtsdestotrotz ist und bleibt es ein Volkshaus, wo Menschen zusammenkommen und politische Diskussionen führen. Viele Politikerinnen und Politiker gehen ein und aus, und die Gewerkschaften halten ihre Versammlungen und Zusammenkünfte hier ab. Ich bringe den Gewerkschaften viel Sympathie entgegen. Als junger Mann in Portugal war ich in der Direktion einer Gewerkschaft aktiv und sehr engagiert. Gloria und ich sind Unia-Mitglieder – der Kampf für die Arbeiterschaft und faire Arbeitsbedingungen scheint mir richtig und wichtig. GLORIA Politik interessiert mich. Wenn ich auf der Strasse Politikerinnen oder Politikern begegne, weiss ich in der Regel, wie sie heissen. Gerade während der Session wohnen ja einige von ihnen hier, da kennt man sich. Sie bekommen immer das gleiche Zimmer zugewiesen, damit sie sich bei uns zu Hause fühlen. Manchmal beherbergt das Hotel Bern ja auch Bundesräte. Manche sogar über viele Jahre hinweg. Alt-Bundesrat Otto Stich hat 13 Jahre und Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hat 11 Jahre im Hotel Bern gewohnt … GLORIA Zwei unserer liebsten Gäste! Ausgesprochen nette Menschen. Während einer so langen Zeitspanne entsteht eine persönliche Beziehung; wir haben uns gegenseitig sehr geschätzt. Zum Jahresende hat Frau Calmy-Rey jeweils die ganze Abteilung zu Champagner eingeladen. Eine schöne Geste. ARTHUR Otto Stich war mein Freund. Er hat sich dem Hotel als Genosse verbunden gefühlt. Wenn wir einander begegneten, was oft vorkam, haben wir uns auf die Schultern geklopft, gescherzt und viel gelacht. Ich mochte Otti sehr, ein intelligenter und herzlicher Mensch, der mit allen das Gespräch suchte. Meistens war er mit einem Buch und einer Pfeife unterwegs – und donnerstags sass er unten in der Gaststube beim Jassen. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 171 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 171 13.10.20 15:22 Wegen des ausgerufenen Notstands im Zusammenhang mit Covid-19 musste das Volkshaus/Hotel Bern für mehrere Wochen geschlossen bleiben. Dies war die erste Schliessung in der Geschichte des Volkshauses. Wie haben Sie diese erlebt? ARTHUR Der Beginn der Schliessung fiel exakt mit der Woche zusammen, in der wir die Fertigstellung des Umbaus feiern wollten. Lange haben wir diesem Tag entgegengefiebert – doch dann mussten alle Feierlichkeiten abgesagt und das Hotel vorübergehend geschlossen werden. Das war schlimm. Auch für mich persönlich: Wenn ich nicht hier sein kann, geht es mir nicht gut. GLORIA In solchen Situationen fühlen wir besonders stark, wie sehr wir am Volkshaus/Hotel Bern hängen. Das Hotel ist ein Teil von uns – und wir von ihm. In guten wie in schwierigeren Zeiten. Nach der Wiedereröffnung blicken wir jetzt wieder zuversichtlich nach vorne. 172 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 172 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 DAS VOLKSHAUS/HOTEL BERN ALS ARBEITGEBER Das Volkshaus/Hotel Bern ist gewerkschaftlich geführt und dies zeigt sich bereits in der wertschätzenden Arbeitskultur. Die Zufriedenheit mit dem Arbeitgeber ist gross – viele Mitarbeitende bleiben bis zur Pensionierung im Betrieb. Drei Beispiele gewerkschaftlicher Fürsorge: – Das Personalhaus generiert Pensionskassen-Beiträge. 1981 kaufte die Personalstiftung des Volkshaus/Hotel Bern am Pappelweg 38 in Bern eine Wohnliegenschaft. Diese diente viele Jahre als Personalhaus. Mit den Einnahmen wurden Pensionen für ehemalige Mitarbeitende finanziert. Als die Liegenschaft 30 Jahre später verkauft wurde, ging der Erlös als Extra-Sparprämie an alle Mitarbeitenden, die länger als 6 Jahre im Volkshaus/ Hotel Bern gearbeitet hatten. – Garantierter Arbeitsplatz während des Umbaus durch laufenden Betrieb: Um während der Bauphase keine Mitarbeitenden entlassen zu müssen, blieb das Hotel während des Umbaus 2018–2020 die ganze Zeit geöffnet. Direktor Daniel Siegenthaler weiss seine langjährigen Angestellten zu schätzen: «Ohne unser tolles Team hätten wir den Umbau in dieser Form niemals meistern können.» – Keine Lohneinbusse während Covid-19: Obwohl das Volkshaus/Hotel Bern aufgrund der Corona-Krise im Frühjahr 2020 auf Kurzarbeit umstellen musste und nur 80 % des Verdienstausfalls versichert waren, wurde der volle Lohn ausgezahlt. ABB. 103 / ABB. 104 / ABB. 105 Ein eingespieltes Team: Viele Mitarbeitende arbeiten bis zu ihrer Pensionierung im Volkshaus / Hotel Bern. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 173 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 173 13.10.20 15:22 EXKURS ZUR ARCHITEKTUR (III): NEUER GLANZ IM ALTEN GEMÄUER Einblicke in das vom Architekturbüro Jordi + Partner AG Als eigentliches Highlight kann die neue Attika-Bar mit Dachausgeführte Umbauprojekt mit Dachterrasse und Attika-Bar terrasse bezeichnet werden. Die hochglänzend dunkelroten Wände und Decke sowie der grosse Leuchter verleihen dem (2018–2020). Raum einen edlen Charakter. Das wesentlichste und prägenMit dem Ziel, dem Bau wieder eine klare Identität mit einer de Element ist jedoch die Aussicht auf die Sehenswürdigkeiarchitektonischen Handschrift zu geben, beschloss die ten der Stadt Bern, ihre Umgebung und das Alpenpanorama. Während des gesamten Umbaus blieben Hotel und ResVolkshaus Bern AG für 2018–2020 eine umfassende Modernisierung. Da die gesamte Gebäudestruktur, die Raumauf- taurant geöffnet. Dies bedeutete viel Lärm und Herausforteilung und die architektonischen Details der Innenräume derungen für alle Mitarbeitenden – etwa in der Küche, die während des Umbaus Anfang der 1980er-Jahre zerstört über längere Zeit als Provisorium betrieben wurde. Im Frühwurden, gab es im Innern des Hauses keine Elemente aus ling 2020 wurde der Umbau termingerecht abgeschlossen. seiner Entstehungszeit, die als Basis für ein architektonisches Konzept dienen konnten. Es ging deshalb hauptsächlich darum, die bestehenden Räume den aktuellen Bedürfnissen anzupassen und zu versuchen, mit heutigen Materialien und Bautechniken an die lange Geschichte des Volkshauses anzuknüpfen. Die Fassade – als einziges überlebendes Element des alten Volkshauses von 1914 – diente der Inspiration zur Neugestaltung der Innenräume. Die Hotellobby und Reception wurden zulasten der zuvor überdimensionierten Küche grösser und offener gestaltet. Durch die neue Eingangsrampe wurde die Lobby nicht nur barrierefrei und für Gäste mit Gepäck besser erreichbar, sondern wirkt auch deutlich einladender. Der grobkörnige Terrazzo nimmt durch seine Farbe und Materialität die Gestaltung der Fassade auf und ist dabei ein traditionelles und zeitloses Element. Die Schreinerarbeiten aus massivem Eichenholz erinnern an die alte Handwerkskunst und die Stilelemente des Altbaus. Die Treppe als Zugang zum Seminargeschoss konnte durch L-förmiges Abwinkeln des Antritts in die Lobby hinein und Belegen der Stufen mit dem gleichen Terrazzo deutlich aufgewertet werden. Der Seminarbereich entspricht mit seinen technischen Installationen nun den aktuellen Anforderungen und erscheint hochwertig mit schlichter, farblich nuancierter Möblierung auf Fischgrat-Eichenparkett. Bei der Neugestaltung der Hotelzimmer wurde darauf geachtet, dass praktisch alle Zimmer die Mindestfläche von 18 m2 (inkl. Nasszellenbereich) einhalten. Die zu den Innenhöfen orientierten Zimmer wurden zulasten des Lichthofes erweitert, um auch diese Zimmer mit Doppelbetten ausstatten zu können. Die oftmals engen Bäder wurden vergrössert oder zum Zimmer geöffnet. Alle Zimmer verfügen über sämtliche Ausstattungsmerkmale, die einem 4-SternStandard entsprechen. Das Material- und Farbkonzept der öffentlichen Bereiche wurde in den Hotelzimmern weitergeführt, sodass für den Gast ein kontinuierliches Raumerlebnis entsteht. Durch die Umorganisation der Haustechnik konnten im 6. OG zwei Long-Stay-Apartments und sechs ABB. 106 Der achteckige Innenhof wurde verkleinert. zusätzliche Hotelzimmer realisiert werden, sodass nun total Dadurch gewannen die Hotelzimmer bis zu fünf Quadrat107 Einheiten zur Verfügung stehen. meter Fläche. 174 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 174 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:22 ± 0.00 = 540.80 m ü. M. (1396) 735 734 733 732 5 736 Schützengä sschen 738 Zu Schmiede n Situation: 731 729 (1318) 725 852 5 1509 853 1341 727 9 1454 17 19 8 Zeughausg asse 813 N BAUHERRSCHAFT Volkshaus AG Bern Hotelbern Zeughausgasse 9 3011 Bern BAUOBJEKT Ausführung Hotel Bern Bestand, Abbruch, Neu PLAN 3. Obergeschoss (Regelgeschoss) Nutzung Coop City 17.04 PROJEKT-Nr. Mst 1:150 Planformat A3 Dat/Gez/PL 04.09.2019/sse/cw/mb Rev/Dat/PL 06 AN Revidiert Jordi + Partner AG dipl. Architekten ETH/SIA Mülinenstrasse 23 CH - 3006 Bern Telefon +41 31 357 03 03 Telefax +41 31 357 03 04 www.jordiarch.ch office@jordiarch.ch 3. Obergeschoss, 2020 (1396) 735 734 733 732 5 736 731 Schützengä sschen 738 Zu Schmiede n Situation: ± 0.00 540.80 m ü. M. Zertifiziert nach ISO=9001 729 (1318) 725 852 01.07.2020 Plan Nr. A Gedruckt am ABB. 107 Phase 5 1509 853 1341 727 9 1454 17 19 8 Zeughausg asse 813 RÜSTEN N aut Schiebetüre WANDTABLARE FÜR UTENSILIEN VARIO COOKING BESTEHEND 211 ABWASCHEN CASSEROLLEN UTENSILIEN-WASCHMASCHINE Volkshaus AG Bern Hotelbern Zeughausgasse 9 3011 Bern RÜCKGABE KALTE KÜCHE Stütze sondieren SAUCIER ENTREMETIER BRÜSTUNGSWAND CNS BRÜSTUNGSWAND CNS VORBEREITEN BAUHERRSCHAFT DESSERT AUSGABE WARM AUSGABE KALT BAUOBJEKT Ausführung FRÜHSTÜCK GESCHIRR- GLÄSER MISE EN PLACE GETRÄNKEVITRINEN KAFFEE KASSE GETRÄNKE REINIGUNGSMASCHINE SCHREIBPLATZ WAGENPARK Hotel Bern Bestand, Abbruch, Neu PLAN Erdgeschoss Nutzung Coop City PROJEKT-Nr. 17.04 1:150 Mst A3 Planformat Dat/Gez/PL 04.09.2019/sse/cw/mb Rev/Dat/PL 03 AN Jordi + Partner AG dipl. Architekten ETH/SIA Mülinenstrasse 23 CH - 3006 Bern Telefon +41 31 357 03 03 Telefax +41 31 357 03 04 www.jordiarch.ch office@jordiarch.ch Erdgeschoss, 2020 Zertifiziert nach ISO 9001 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 175 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE Revidiert 01.07.2020 Plan Nr. A Gedruckt am ABB. 108 Phase 175 13.10.20 15:23 ABB. 109 [OBEN] Von der Attika-Bar blickt man direkt auf Parlament und Regierung der Hauptstadt. [UNTEN] Ein «Deluxe»-Zimmer in der 6. Etage. ABB. 110 Neben 107 Standard- und 12 Deluxe-Zimmern stehen auch Suiten und Long-Stay-Apartments für Dauergäste zur Verfügung. Auf die hohe Qualität der Betten wurde Wert gelegt. 176 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 176 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:23 [OBEN] Der Unionssaal ist teilbar. Verbunden bietet er ABB. 111 200 Personen Platz. Die 7 Räume der 800 Quadratmeter grossen Seminaretage sind flexibel nutzbar. Restauriert wurden auch die Wandteppiche des Künstlers Hans Erni. [UNTEN] Mit seinen 45 m2 eignet sich der Saal Inauen ABB. 112 für kleinere Workshops oder Sitzungen. Benannt wurde der Saal nach Josef «Sepp» Inauen, der ab 1947 auf dem Berner Sekretariat des Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbands tätig war. Auch andere Räume erhielten Namen von renommierten Handwerkern, Künstlern und engagierten Berner Mitbürgerinnen und Mitbürgern. 1990–2020 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 177 GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 177 13.10.20 15:23 ABB. 113 178 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 178 Der Eingangsbereich mit der Lobby ist nun von Hindernissen befreit. GLORIA, ARTHUR UND DIE RENAISSANCE 1990–2020 13.10.20 15:23 CHAPEAU! Wie gibt man den Gästen eines Hotels das Gefühl von «Heim», wenn der Betonmischer rumpelt, der Schlagbohrer brüllt und die Kreissäge kreischt? Dies war eine der Herausforderungen, die sich den Frauen und Männern stellte, die das Hotel Bern am Laufen halten. Ein ambitionierter Umbau ist immer eine besondere Anstrengung, geschieht er aber am lebenden Objekt, wie in unserem Fall, wird er zur extremen Übung. Und dies gilt nicht nur für die Leute, die im Direktkontakt mit den Gästen stehen. Wie kocht man in einer provisorischen Küche? Sämtliche unsichtbaren, aber für den Komfort so wichtigen Abläufe der Intendanz mussten dauernd neu organisiert werden. Ich ziehe meinen Hut vor den Mitarbeitenden, die das mit Flexibilität und Engagement angepackt haben. Nur indirekt angesprochen ist damit die planerische Leistung. Was sich dabei herausstellte, gehört in jedes Management-Lehrbuch: Es wäre keine vernünftige Organisation möglich gewesen ohne die Erfahrung und Kompetenz sehr vieler Mitarbeitender. Mein anderer Dank gilt den Leuten vom Bau. Sie mussten den Umbau in vielen kleinen Etappen meistern. Das glich manchmal einer Form von Mikrochirurgie – minimalinvasiv mit maximalem Effekt. Fast täglich haben sie neue Wege erfunden, dies zu leisten. Und was wir am Ende mit besonderer Genugtuung registriert haben: Sie haben das bei jahrelanger Bauzeit ohne schweren Arbeitsunfall geschafft. Das ist Qualität. – Corrado Pardini 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 179 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 180 13.10.20 15:23 ANHANG 181 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 181 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 182 13.10.20 15:23 VERZEICHNIS DER DIREKTOREN GERANTEN/DIREKTOREN 1896–1899 1899–1909 1909–1911 1911–1911 1911–1913 1913–1918 1918–1922 1922–1934 1935–1937 1938–1945 1945–1958 1959–1971 1971–1976 1976–1986 1986–2010 2010–2015 ab 2015 ANHANG 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 183 Heinrich Wehn Hans Schmid Arnold Calame Wilhelm Rysler A. Taeschler Hermann Studer Karl Oetiker Jacques Pfeiffer Peter Meisser Walter Wagner Walter Baumann Arthur Guntern Franz Huber Peter Eggermann Peter Schiltknecht Philipp Näpflin Daniel Siegenthaler VR–PRÄSIDENTEN 1895–1897 1897–1917 1917–1928 1928–1938 1938–1945 1945–1958 1959–1968 1969–1971 1971–1994 1994–2010 2010–2018 ab 2018 Friedrich Schmid-Dällenbach Gottfried Borle Karl Dürr Ferdinand Steiner Fritz Mader Arthur Steiner Rudolf Messer Karl Zingg Erwin Haari Werner Funk Werner Bernet Corrado Pardini 183 13.10.20 15:23 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS UNGEDRUCKTE QUELLEN Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn – Archiv des Internationalen Metallarbeiterbunds (IMB), 1208 B. Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees, 10.–12. Oktober 1948 in Bern (Schweiz). Archiv des Internationalen Metallarbeiterbunds (IMB) Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam – Anželika Balabanova Papers – Robert Grimm Papers – Theodor Liebknecht Papers Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich – Ar SMUV 02F-0001, Diverse genossenschaftliche Verwaltungsratsunterlagen: Büchergilde Gutenberg; Coop Lebensversicherung; GZB; Volkshaus Bern, 1938-1958 (Akten Arthur Steiner). Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Basel – PA 554 Archiv Schweizerische Hotel-Treuhand-Gesellschaft (SHTG), Gesuche Serie 1, 88. Hotel Volkshaus Bern, 1945–1948 – SWA H + I E 312 Volkshaus Bern, Dokumentensammlung (Broschüren, Zeitungsausschnitte). Staatsarchiv des Kantons Bern, Bern – BB XIIIb 93016 Verwaltungsarchive, amtliche Untersuchung betreffend den Generalstreik, 1919. PROTOKOLLE Internationaler Gewerkschaftsbund: Protokoll der Internationalen Gewerkschafts-Konferenz vom 1. bis 4. Oktober 1917 in Bern, Bern: Unionsdruckerei 1917. Internationaler Gewerkschaftsbund: Protokoll der Internationalen Gewerkschafts-Konferenz vom 5. bis 9. Februar 1919 in Bern, Bern: Unionsdruckerei 1919. Oltener Aktionskomitee (Hg.): Der Landesstreik-Prozess gegen die Mitglieder des Oltener Aktionskomitees vor dem Militärgericht 3 vom 12. März bis 9. April 1919, Bern: Unionsdruckerei 1919. 184 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 184 Protokoll des II. Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses. 1918 im Volkshaus Bern, Bern: Unionsdruckerei 1919. Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Protokoll über die Verhandlungen des ausserordentlichen Parteitages vom 9. und 10. Juni 1917 im Volkshaus in Bern, Bern: Unionsdruckerei 1917. ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN Berner Woche Der Aufstieg Schweizerisches Handelsamtsblatt Schweizer Hotel-Revue ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR Bericht der städtischen Bau- und Finanzdirektion und Vortrag des Gemeinderates über Initiativbegehen für eine steinerne Aarebrücke und für ein Volkshaus und Anträge betr. Ausführung der Kornhausbrücke, Bern: Stämpfli 1893. Grumbach, Salomon: Der Irrtum von Zimmerwald-Kiental. Rede, gehalten am 3. Juni 1916 im Unionssaale des Volkshauses zu Bern, Bern-Bümpliz: Benteli 1916. Münzenberg, Willi: «Sie ist nicht tot!» Bericht über die internationale Konferenz der sozialist. Jugendorganisationen, abgehalten zu Bern am 4., 5. und 6. April 1915, Zürich. Racovsky, C. [Christian Rakowski]: Das Wiedererwachen der Internationale. Rede gehalten am internationalen Massenmeeting vom 8. Februar 1916 im Volkshaus in Bern, hg. v. Internationale Sozialistische Kommission, Bern 1916. Wassilieff, Nikolaus: Die Arbeiterunion Bern, das stadtbernische Arbeitersekretariat und die Vorgänge am 19. Juni 1893, Bern: Neukomm & Zimmermann 3. Aufl. 1894. LITERATUR Arber, Catherine: «Frontismus und Nationalsozialismus in der Stadt Bern. Viel Lärm, aber wenig Erfolg», in: Berner Zeitschrift Für Geschichte 65 (2003), Nr. 1., S. 2–62. 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Degen, Bernard, Joris, Elisabeth, Keller, Stefan, Tanner, Albert, Zimmermann, Rolf, Boillat, Valérie (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Schweizer Gewerkschaften – Geschichte und Geschichten, Zürich: Rotpunktverlag 2006. Donneur, André: Histoire de l’Union des partis socialistes pour l’action internationale (1920–1923), Sudbury Ontario: Libr. de l’Université Laurentienne 1967. Eigenheer, Susanne: Bäder, Bildung, Bolschewismus. Interessenkonflikte rund um das Zürcher Volkshaus 1890–1920, Zürich: Chronos Verlag 1993. Gautschi, Willi: Der Landesstreik 1918, Zürich: Chronos 3. Aufl. 1988. Grimm, Robert: «Das neue Volkshaus in Bern», in: GrütliKalender 23 (1915), S. 24–30. Grimm, Robert: Geschichte der Berner Arbeiterbewegung. Erster Band: Bis zum ersten Parteiprogramm, Bern 1913. Gruner, Erich, Wiedmer, Hans-Rudolf: Demographische, wirtschaftliche und soziale Basis und Arbeitsbedingungen, Zürich: Chronos 1987. 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ABB. 9 Geodaten Stadt Bern, Amt für Geoinformation des Kantons Bern ABB. 10–11 Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel (Suisse) ABB. 12–13 Archiv Wander AG, Neuenegg ABB. 14–15 International Institute of Social History, Amsterdam ABB. 16 Burgerbibliothek Bern, FN_G_C_987 ABB. 17 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fa-0007-033 ABB. 18 Schweizerisches Nationalmuseum, DIG-42505_LM-144936 ABB. 19 Stadtarchiv Bern ABB. 20 Alamy ABB. 21 Ringier Zofingen, Schweizer Illustrierte 1919 ABB. 22–23 Abgebildet in: Jakob Bührer: «Das Volkshaus in Bern II», in: (Das) Werk: Architektur und Kunst. Band (Jahr) 2 (1915), Heft 5. ABB. 24–26 Otto Ingold, Grundriss des Kellergeschosses, 1914, Bern, Volkshaus (in: Borle 1917, unpaginiert). 186 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 186 ABB. 27–31 Abgebildet in: Jakob Bührer: «Das Volkshaus in Bern II», in: (Das) Werk: Architektur und Kunst. Band (Jahr) 2 (1915), Heft 5. ABB. 32 Encyclopædia Britannica, Inc. ABB. 33 General-Anzeiger Bonn ABB. 34 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Ka-0002-040 ABB. 35 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5008-Fc-005 ABB. 36 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fb-0011-025 ABB. 37 Berner Tagwacht (Jg. 23, Nr. 218), 18.9.1915 ABB. 38 Staatsarchiv Kanton Bern, T.137_03 ABB. 39 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fb-0013-011 ABB. 40 komform GmbH ABB. 41 Bundesarchiv ABB. 42 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5048-Fx-001-021 ABB. 43 Bundesarchiv ABB. 44 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fd-0003-18, Jacques Zehnder ABB. 45 Abgebildet in: Jakob Bührer: «Das Volkshaus in Bern II», in: (Das) Werk: Architektur und Kunst. Band (Jahr) 2 (1915), Heft 5. ABB. 46 Museo National Centro de Arte, Reina Sofia ABB. 47 U.S. National Archives and Records Administration ABB. 48 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5031-Fb-0524, Paul Senn ABB. 49 Paul Senn Archiv, Gottfried Keller Stiftung, Bern ABB. 50 Staatsarchiv Kanton Bern, FN Jost N 10303 ABB. 51 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5096-Fx-004 ABB. 52 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 53 Deutsches Historisches Museum, Berlin, BA 95/952 ABB. 54–55 Zürcher Hochschule der Künste / Museum für Gestaltung Zürich / Plakatsammlung ABB. 56 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fb-0017-014 ABB. 57 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5032-Fb-0041 ABB. 58 Staatsarchiv Kanton Bern, StAB_FN_Jost_N_0906 ABB. 59 Heeb, Friedrich: Albert Berner und die Unionsdruckerei Bern. Ein Lebenswerk, hg. v. Unionsdruckerei Bern, Bern: Unionsdruckerei 1946 (nicht nummerierte Bildtafeln zwischen S. 28 und S. 29). ABB. 60 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Fc-0001-26 ABB. 61–63 U.S. National Archives and Records Administration ABB. 64 Schweizerisches Nationalmuseum, LM-118306.12 ABB. 65 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5032-Fb-0094 ABB. 66 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5030-Fc-0113 ABB. 67–68 Horta Museum ANHANG 13.10.20 15:23 ABB. 69 Wirtschaftsarchiv Basel ABB. 101 Ruben Sprich ABB. 70–80 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 102 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 81 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5107-Na-11-119-010 ABB. 103–105 Manu Friederich ABB. 82 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5032-Fc-1588 ABB. 83 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5032-Fb-0110 ABB. 84 Sebastian Heeb, Schweizer Heimatschutz ABB. 85 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5030-Fc-0298 ABB. 86 Press Information Bureau on behalf of Prime Minister's Office, Government of India ABB. 106 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 107–108 Jordi + Partner AG ABB. 109–112 Ruben Sprich ABB. 113 Heinz Schelhammer EINSTIEGSBILD KAPITEL I Burgerbibliothek Bern, Sammlung_Suter_ 782 EINSTIEGSBILD KAPITEL II Abgebildet in: Jakob Bührer: «Das Volkshaus in Bern II», in: (Das) Werk: Architektur und Kunst. Band (Jahr) 2 (1915), Heft 5. EINSTIEGSBILD KAPITEL III Abgebildet in: Jakob Bührer: «Das Volkshaus in Bern II», in: (Das) Werk: Architektur und Kunst. Band (Jahr) 2 (1915), Heft 5. EINSTIEGSBILD KAPITEL IV Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern EINSTIEGSBILD KAPITEL V Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern EINSTIEGSBILD KAPITEL VI Manu Friederich PORTRÄT CORRADO PARDINI Sozialdemokratische Partei Schweiz ABB. 87 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_ 5040-Fb-117 ABB. 88–91 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 92 Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F_Pe-0646 ABB. 93–94 Abgebildet in: Haari, Erwin, Schweizer, Kurt: Das Berner Volkshaus und das neue Hotel Bern, 1914–1989, Gümligen: Wefo Verlag 1989. ABB. 95–98 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ABB. 99 Alexander Gempeler ABB. 100 Firmenarchiv Volkshaus/Hotel Bern ANHANG 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 187 187 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 188 13.10.20 15:23 IMPRESSUM AUTOR Der Historiker Adrian Zimmermann, Hauptautor dieses Buches, forscht mit einem vergleichenden und transnationalen Ansatz zur Arbeiterbewegung und Wirtschaftspolitik, zu industriellen Beziehungen und politischen Ideologien. TEXT Adrian Zimmermann, Regula Portillo (Interview mit dem Ehepaar Gloria und Arthur Pereira), Patrick Jordi, Architekturbüro Jordi + Partner AG (Exkurs zur Architektur (III): Neuer Glanz im alten Gemäuer). BILDER Die Bildrechte für die im Buch verwendeten Bilder sind geklärt. Sollten Sie sich, trotz aller Sorgfalt unserer Arbeit, in einem Bildrecht verletzt fühlen, wenden Sie sich bitte an die Projektleitung, komform GmbH in Liebefeld. ANHANG 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 189 HERAUSGEBER Volkshaus AG Bern, Zeughausgasse 9, CH-3011 Bern PROJEKTLEITUNG, KONZEPT UND GESTALTUNG komform GmbH, Liebefeld KORREKTORAT Ulrike Krüger ÜBERSETZUNG Apostroph Group, Bern DRUCK UND BINDUNG Ast & Fischer AG, Wabern AUFLAGE 1250 Exemplare © 2020 Volkshaus AG Bern Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers. 189 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 190 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 191 13.10.20 15:23 200809_HoBe_Layout_DE_EN_RZ_201013.indd 192 13.10.20 15:23