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DZPhil 2020; 68(2): 217–240 Michael J. Thompson* Verdinglichung und das Netz der Normen Wege zu einer Kritischen Theorie des Bewusstseins https://doi.org/10.1515/dzph-2020-0013 Abstract: #This paper proposes a reconstruction of Georg Lukács’ thesis of reification by viewing it through the normative theory of consciousness. As I see it, reification of consciousness is the result of the ways that norms that have been patterned by external social systems come to be absorbed into the background structures of cognition. As a result, consciousness becomes increasingly fitted to these normative patters. A web of norms therefore comes to heteronomously link consciousness and social systems via processes of socialization. I end with a consideration of how a theory of critical judgment can be used to overcome this reification of consciousness, all the while sticking to Lukács’ basic line of argument. # Keywords: Lukács, reification, critical theory, consciousness, socialization, normativity 1 Einleitung Vor fünfzig Jahren erreichten die Studierendenproteste und sozialen Bewegungen der späten 1960er-Jahre ihren Höhepunkt. Diese Bewegungen umfassten westliche und kommunistische Gesellschaften von San Francisco bis Paris und Prag. Ein erwachendes Bewusstsein der Dumpfheit und der Ungerechtigkeit moderner Verwaltungsgesellschaften – kapitalistisch oder kommunistisch – war ein zentraler Antrieb dieser Bewegungen. In langfristiger Perspektive zeigen sie im Vergleich zu ihren aktuellen Entsprechungen eine ganz andere Art von politischem Handeln und moralischem Bewusstsein. Während der Kampf gegen Rassismus, Klassismus und Sexismus weitergeführt wird, hat sich die Akzeptanz liberalkapitalistischer Institutionen vertieft. Der stille Konsens, der unsere Welt durchzieht, wurzelt in der Entwertung moralischen Bewusstseins und politischen Widerspruchs. Zählen wir zur passiven Akzeptanz dieser Institutionen noch die Tatsache hinzu, dass wir derzeit den Niedergang demokratischer Institutionen, *Kontakt: Michael J. Thompson, William Paterson University, Department of Political Science, 300 Pompton Road, Wayne NJ 07470; thompsonmi@wpunj.edu 218 Michael J. Thompson Werte und Praktiken erleben, dann stellt sich die Frage, wie wir diese Entwicklungen der modernen Gesellschaft erklären und uns zu ihnen verhalten können. Ich meine, dass es ein zentraler Ansatz sein müsste, den Begriff der Verdinglichung auszudehnen – so, dass er den Kernbereich von Persönlichkeit, Bewusstsein und Selbst umfasst, der für die andauernde politische und kulturelle Stabilität einer Gesellschaft sorgt, die auf Ausbeutung, Willkürherrschaft, Ungleichheit und Entfremdung gegründet ist. Kurz gesagt möchte ich also zeigen, wie die Theorie der Verdinglichung so erweitert werden kann, dass sie einen Subjektivitätsbegriff hervorbringt, der die pathologischen Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsweise als grundlegend anerkennt. Ein weiterer Aspekt des Arguments, das ich hier verfolgen will, ist die Behinderung sozialen Handelns durch Verdinglichung. In diesem Sinn muss die Theorie der Verdinglichung nicht bloß diagnostisch mit dem Problem der vernünftigen Reflektion des Subjekts umgehen, sondern normativ zum Ausdruck und zum Vorschein bringen, was durch das verdinglichte Bewusstsein selbst blockiert wird. Dieser zweite Aspekt des Arguments ist reich an Möglichkeiten, insofern er verdeutlicht, wie Verdinglichung sich vor uns verbirgt oder gar unsere kognitiven Fähigkeiten einschränkt, die sozial-ontologische Struktur der Welt zu erkennen. Was ich damit meine, ist, dass Verdinglichung nicht bloß ein Prozess ist, durch den Menschen zu nicht-menschlichen Objekten werden. Eine wirkmächtigere und genauere Beschreibung von Verdinglichung wäre es, sie als Prozess zu fassen, der unsere kognitive Fähigkeit verformt und verzerrt, unsere Welt als kooperatives und interdependentes System zu sehen, das durch unsere Handlungen produziert wird. In dieser Hinsicht beraubt uns Verdinglichung eines Elements sozialer Transformation, das für Karl Marx zentral war: eines Begriffs des Menschen, der sich als Gattungswesen seiner sozio-poietischen Kapazitäten bewusst ist. Verdinglichung kann tatsächlich niemals die Problematik der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Gänze diagnostizieren – kein Begriff kann dies leisten. Dennoch kann Verdinglichung diese Aufgabe (mindestens) so gut erfüllen wie die geläufigen Konkurrenzbegriffe. Nancy Fraser hat verlangt, dass „wir die Sichtweise von Kapitalismus als verdinglichte Form des ethischen Lebens durch einen differenzierteren Strukturbegriff ersetzen“ sollten.1 Ich stimme ihr darin nicht zu. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften sehen wir, wie unsere Welt von internalisierten, implizit anerkannten Normen und Weltanschauungen gestützt wird, die sich auf soziale Ziele beziehen, die von kapitalistischen Imperativen gesetzt werden. Stärker als jemals zuvor in der Geschichte des Kapitalismus erleben wir eine Abnahme der Klassengegensätze und eine zuneh- 1 Fraser (2017), 153. Verdinglichung und das Netz der Normen 219 mende Stabilität und Legitimität des Systems – trotz offensichtlicher und wohlbekannter Fälle von Korruption, Ungleichheit, sozialen Pathologien und anderen sozialen Defekten. Ich möchte eine erweiterte Konzeption von Verdinglichung entwerfen, die doch in der ursprünglichen Theorie wurzelt, die 1923 von Lukács vorgelegt wurde: dass das Bewusstsein von heteronomen Formen des sozialen Lebens kolonisiert worden ist, die selbst von Quantifizierung, administrativer Vernunft und Tauschwerten durchtränkt sind. Meiner Meinung nach muss diese Grundthese ausgeweitet werden, um erfassen zu können, was ich für eine Kernpathologie moderner Kulturen halte: die Entwertung des handelnden Selbst und sein Unvermögen, konkrete Alternativen zur herrschenden sozialen Ordnung artikulieren zu können. Das zentrale Argument dieses Beitrags ist, dass der Begriff der Verdinglichung erweitert und zu einer reichhaltigeren Theorie über das Wesen des beschädigten sozialen Bewusstseins kultiviert werden muss – mit dem Ziel, die heftige Erosion moralischer und politischer Handlungsmacht in modernen Gesellschaften fassbar zu machen. Das soll nicht heißen, dass Verdinglichung sich einfach aus der Logik der Warenwerdung (Kommodifizierung) ergäbe. Mein Argument ist vielmehr, dass der kapitalistischen Gesellschaft als soziale Formation, die aus bestimmten stark mit Normen und Wertorientierungen gespickten sozialen Beziehungen besteht, eine große konstitutive Macht in der Bildung des Bewusstseins und der Persönlichkeit von Subjekten zukommt. Normen spielen dabei eine entscheidende Rolle im Problem der Verdinglichung, da sie auf mehrere Weisen die begrifflichen und evaluativen Dimensionen des Selbst garantieren. Normen sind in der Lage, unsere kognitiven Fähigkeiten und Begriffsfelder in einem solchen Maße zu strukturieren, dass sie zur Routine in sozialen Institutionen und Systemen werden, in denen Akteure „erfolgreich“ sozialisiert werden. Diese Normen besitzen eine „implizite Gültigkeit“, womit ich meine, dass sie keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen, um vom Subjekt akzeptiert zu werden – sie werden als „zweite Natur“ angenommen. Verdinglichung betrifft nicht nur dieses Problem, sondern auch die Konsequenzen, die sich aus der Annahme dieser Normen für unsere Verstandes- und Reflexionskräfte als ganze ergeben. Was ich daher untersuchen möchte, ist der Einfluss, den Verdinglichung auf unser moralisches Bewusstsein hat – oder allgemeiner gesagt, auf unsere individuelle Fähigkeit, über die Welt aus einer rationalen, kritischen Perspektive zu reflektieren und zu urteilen. Der Kern des Problems, das ich hier diagnostizieren werde, ist der Verfall der rationalen Kräfte autonomer Individuen in modernen Massengesellschaften. Ein Anlass, dieses Problem als besonders dringlich zu erachten, ist der limitierende und verformende Einfluss, den es auf die Fähigkeit ausübt, als Individuum zu einem kritischen Bewusstsein der sozialen Welt zu gelangen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass an der Wurzel unserer kogni- 220 Michael J. Thompson tiven Fähigkeiten Wertorientierungen liegen, die durch Sozialisierung in unser Bewusstsein eingebettet wurden. Diese Wertorientierungen können einerseits Reste traditioneller oder konventioneller Formen von Moral sein, aber sie sind andererseits sicherlich von den Wertordnungen übernommen, die von den Institutionen des modernen Verwaltungskapitalismus propagiert werden. Effizienz, technischer Fortschritt, Profit, Besitzindividualismus und Konsum sind Werte, mit denen wir uns kognitiv in der Welt orientieren. Wenn diese Werte nicht von sozialen Akteuren angenommen würden, dann käme es zu einem Legitimitätsverlust von Institutionen, die gemäß diesen Werten operieren. Das Problem dabei ist, dass Systeme der Sozialisierung mit zunehmender Verfestigung und Sicherheit umso erfolgreicher dabei werden, ihre Werte und Ziele in der Persönlichkeitsstruktur von Subjekten zu verankern – und umso heteronomer wird das moralische und politische Bewusstsein des Subjekts. Ein weiterer Anlass, dieses Problem ernst zu nehmen, ist die aktuelle Betonung von Normen und moralischem Bewusstsein als Modi der Kritik in Philosophie und Kritischer Theorie. Die postmetaphysische und normative Wende in der Moralphilosophie im allgemeinen und der Kritischen Theorie im Besonderen beruht auf der Fähigkeit von Individuen, an einer Gemeinschaft des Gebens und Annehmens von Gründen teilzunehmen, die so zu objektiv gültigen Werten und Normen werden – durch Zustimmung und ein Projekt der Rechtfertigung. Aus dieser Perspektive ist Kritik das Mittel, mit dem wir nach Begründungen und Rechtfertigungen für die sozialen Normen fragen, die wir akzeptieren sollen.2 Dieser Ansatz ignoriert jedoch die Effekte von Verdinglichung und die Weisen, wie sie solche kritische Fähigkeiten behindert oder gar lahmlegt. Was dieser Ansatz tatsächlich völlig übersieht, ist die Tatsache, dass jedes moderne Herrschaftssystem die Fähigkeit besitzen muss, Normen und Werte so einzusetzen, dass sie den Agierenden das Handeln des Systems legitim erscheinen lässt. Dies ist das Kernproblem der Verdinglichung und der Grund, warum Verdinglichung weiterhin eine wesentliche Kategorie für kritische Gesellschaftsanalyse ist. Ohne eine Diagnose dieser Pathologie des Bewusstseins und der sozialen Erkenntnis gibt es keine Möglichkeit zu begreifen, wie Kultur im Dienst anderer Macht- und Herrschaftssysteme steht. Das Grundproblem, dem sich die Theorie der Verdinglichung zuwendet, ist die Unfähigkeit des subjektiven Bewusstseins, angemessene Vermittlungen der Selbsterkenntnis zu finden. Dem Bewusstsein wird eine falsche Totalität aufgeprägt, die die Reflektion auf tatsächliche und potentielle Möglichkeiten, unser soziales Leben zu gestalten, unterdrückt und verzerrt. Dies liegt wiederum an der 2 Vgl. Forst (2012). Verdinglichung und das Netz der Normen 221 Rolle, die Normen im Bewusstsein einnehmen: Normen wirken auf die inneren Strukturen des Bewusstseins, die wiederum soziale Handlungen und die Bedeutung, die wir ihnen beimessen, formen. Da es dem denkenden Subjekt unmöglich wird, kritische Mittel der Selbst- und Welterkenntnis zu finden, zieht sich das Denken auf das Objekt zurück. In diesem Sinne sind soziale Fakten – im Kontrast zu natürlichen oder „rohen“ Fakten – von unseren Intentionen und der normativen Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben, abhängig (man denke an Peirces Begriff des Legizeichens oder an Searles Theorie der kollektiven Intentionalität). Aus dieser Kapazität sozialer Institutionen, normativ-intentionale Bedeutungen zu formen, folgt ihre Fähigkeit, unsere kognitiven Fähigkeiten zu bestimmen und sozialen Fakten eine Objektivität zuzuschreiben, die einer zweiten Natur gleichkommt. Lukács’ Theorie bediente sich der Sprache des Deutschen Idealismus; er wollte damit in die Debatten zwischen neukantianischen und marxistischen Theorien des Bewusstseins und des Sozialen eingreifen.3 Ich will Lukács’ Totalitätsthese verteidigen, die besagt, dass Verdinglichung durch Muster erzeugt wird, die das Wirtschaftssystem auf andere Sphären des kulturellen und sozialen Lebens überträgt. Die Totalisierung dieser Muster ist ein schrittweiser, aber zunehmend durchdringender Prozess; und er resultiert in einer tiefsitzenden Entstellung der subjektiven Fähigkeit, zu einer kritischen Erkenntnis dessen zu kommen, was sich als „falsche Totalität“ des Kapitalismus bezeichnen lässt. Wie Andrew Feenberg anmerkt: „In modernen Gesellschaften erreichen die verdinglichte, formale Rationalität der technischen Disziplinen und das Erfahrungswissen des Technischen eine teilweise Trennung auf der Diskursebene, aber in der materiellen Realität der Artefakte und Systeme durchdringen sie sich bis ins Innerste“.4 Ein Grund, diese These ernst zu nehmen, ist der zerstörerische oder wenigstens untergrabende Effekt, den sie auf alternative Logiken der Kritik hat – Logiken, die darauf bauen, dass immanente Kritik moderner Macht- und Herrschaftsformen aus intersubjektiven Praktiken der Sprache, der Rechtfertigung, des Begründens und der Anerkennung entstehen kann. Lukács’ Theorie impliziert, dass die Logiken solcher sozialen Handlungen sich nicht auf die Kritik der Totalität übertragen lassen. 3 Vgl. Kavoulakos (2018). 4 Feenberg (2017), 133. 222 Michael J. Thompson 2 Die klassische Theorie der Verdinglichung Der Begriff der Verdinglichung war das Resultat von Lukács’ Anstrengung, das Problem der Kulturkrise zu verstehen, das er im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wahrnahm. Zentral für seinen Begriff der Verdinglichung ist der Gedanke, dass die Objekte des Bewusstseins – insbesondere seine menschlichen Objekte – „dinghaft“ werden. Lukács meint damit, dass die soziale Welt ihren inhärenten menschlichen Charakter verliert und daher auch nicht mehr als Produkt menschlicher Praxis angesehen wird. Da Menschen ihre Welt nicht allein materiell durch körperliche Arbeit und die Gestaltung und Umformung der Natur beeinflussen, sondern auch kognitiv durch die Willensstrukturen des Bewusstseins, bedeutet der Verlust des menschlichen Charakters der Welt, dass diese Welt damit von unserem Verständnis als kollektiv geformt und reproduziert entfremdet wird. Für diesen Wandel des Bewusstseins ist die Warenform verantwortlich. Durch Arbeitsteilung und die Rationalisierung der Massenproduktion wird das Objekt fragmentiert. Wir sehen die Produkte menschlicher Arbeit nicht länger als menschliche, sondern als leblose Objekte. Nach Lukács bedeutet dieses Zerreißen des Objekts notwendig zugleich das Zerreißen seines Subjekts. Infolge der Rationalisierung des Arbeitsprozesses erscheinen die menschlichen Eigenschaften und Besonderheiten des Arbeiters immer mehr als bloße Fehlerquellen den rational vorherberechneten Funktionieren dieser abstrakten Teilgesetze gegenüber. Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozeß als dessen eigentlicher Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisiertes System eingefügt[.]5 Die „Dingheit“ der Verdinglichung ist nun auch ein kognitives Problem, insofern ein „Ding“ im kantischen Sinne ein Objekt ist, das kein Objekt der Erkenntnis und der Reflektion werden konnte. Es verschwindet als solches, seine Existenz wird einfach hingenommen und über sie wird nicht nachgedacht oder reflektiert. Die Konsequenz ist, dass dem Subjekt eine Welt gegenübertritt, die es miterschaffen hat, aber die ihm nun als vorgeformte Totalität erscheint, in die es sich einfügen und der es sich fügen muss: Es findet dieses System „fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend [vor und hat sich] dessen Gesetzen willenlos zu fügen“6. Das Resultat dieser Entwicklung ist der Verfall des subjektiven Willens, da das Subjekt immer weitere Teile seiner Autonomie 5 Lukács (1977), 263 (###Hervorh. im Orig.?###). 6 Ebd. Verdinglichung und das Netz der Normen 223 und seiner Urteilskraft den funktionalen Imperativen des Systems opfert: „Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.“7 Das Subjekt wird nun gegen sich selbst geteilt. Verdinglichung macht das Bewusstsein passiv gegenüber der Aktivität des Systems. Das System wird natürlich von uns aufrechterhalten, die wir in unserer Passivität verharren – und damit ist man natürlich weiterhin aktiv in dem Sinne, dass man arbeitet, konsumiert und sein Leben gemäß der vom System geformten Strukturen und Normen lebt. Aber in einer solchen Situation tun wir dies alle, ohne auf die Zwecke und Ziele des Systems zu reflektieren. Wir nehmen es einfach als Grundlage und Hintergrund unseres Lebens wahr – und damit ist es auch dem Zugriff des kritischen Bewusstseins entzogen. Für Lukács ist dies jedoch mehr als ein kognitiver Defekt. Er meint, dass Verdinglichung tatsächlich den Zweck und die Legitimität der sozialen Ordnung als Ganzes aus dem Blickfeld rückt. Es wird uns unmöglich, die Totalität zu kritisieren und sie als Ursache der einzelnen, subjektiven Pathologien zu erkennen, an denen wir leiden. Damit wird es uns auch unmöglich, über die phänomenologische Erfahrung dieser sozialen Pathologien hinauszugehen und das System als Ganzes zu hinterfragen. „Die Frage, warum und mit welchem Rechte der menschliche Verstand gerade solche Systeme der Formen als sein eigenes Wesen (im Gegensatz zum ‚gegebenen‘, fremden, unerkennbaren Charakter der Inhalte dieser Formen) auffaßt, taucht nicht auf. Dies wird als selbstverständlich hingenommen.“8 Die Schlüsselfrage ist, wie man zur „essentiellen Struktur“ des Systems vordringen kann, des Systems als Totalität. Der Kern dieser Kritik kann nun gleichzeitig mit Hegels und Marx’ Begrifflichkeiten erfasst werden – als Penetration der phänomenologischen, empirischen Erscheinungen des Systems und seiner Produkte und ein Durchstoßen zu den essentiellen Strukturen und Prozessen, die ihm zugrunde liegen: „Dann lautet die Fragestellung so: ob die empirischen Tatsachen (einerlei, ob sie rein ‚sinnlich‘ sind, oder ob ihre Sinnlichkeit bloß das letzte materielle Substrat ihres Wesens als ‚Tatsachen‘ bildet) in ihrer Faktizität als ‚gegeben‘ hinzunehmen sind, oder ob sich diese Gegebenheit in rationelle Formen aufgelöst, also als von unserem Verstand ‚erzeugt‘ denken lässt.“9 7 Ebd., 264 (###Hervorh. im Orig.?###). 8 Ebd., 288. 9 Ebd., 293; vgl. auch Westerman (2018). 224 Michael J. Thompson Verdinglichung wird hier entlarvt als unsere Unfähigkeit, die essentielle Struktur des Systems rational zu begreifen. „Essentiell“ soll dabei nicht auf eine aufgeblähte metaphysische Substanz bezogen werden – sondern auf die Grundstruktur des Systems als Ganzes und die Art und Weise, wie es soziale Beziehungen und jene sozialen Prozesse, Ziele und Zwecke formt, die dem sozialen Ganzen und unseren subjektiven Orientierungen zugrunde liegen. Der Kerngedanke ist daher eine Art kritische Metaphysik: Das der Verdinglichung entzogene Bewusstsein ist keine mystische, besondere Kraft, die nur einigen wenigen Menschen zuteil wird, sondern sie liegt in der Fähigkeit, die Natur des sozialen Systems als Ganzes zu thematisieren. Dieser These wohnt eine unauslöschliche sozial-ontologische Komponente inne. Bei Hegel und Marx sieht Lukács die Notwendigkeit, die soziale Wirklichkeit als Produkt unserer Praxis zu verstehen; eine Praxis, die von Ideen geformt ist, die wir kognitiv erzeugen, aber im Handeln umsetzen. Deshalb korrespondiert das Wesen der sozialen Wirklichkeit mit dem Wesen der unserer Ideen über sie. Selbst wenn wir bis zum aristotelischen Begriff der praxis zurückgehen, sehen wir, dass sie nicht bloß eine Aktivität ist, sondern zielgerichtetes Denken. Wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik darlegt: „Das Denken allein allerdings setzt nichts in Bewegung: erst, wenn es sich auf einen Zweck und ein Handeln einstellt. Als solches dirigiert es ja auch das hervorbringende Denken, denn jeder, der etwas hervorbringt, tut dies zu einem bestimmten Zweck“.10 Um daher die Praxis ändern zu können, braucht es einen Wandel in den Zielen, nach denen die Praxis organisiert ist. Wir erfassen jetzt einen reicheren Begriff davon, was Verdinglichung ist. Sobald wir unser Erkenntnisvermögen mit dem Begriff sozialer Praxis verbinden, sehen wir die Bedeutung von sozialer Totalität als ontologischer Kategorie. Die Totalität ist keine Entität, die uns äußerlich ist, sondern etwas, das durch uns als handelnde Wesen entsteht. Es handelt sich um eine ontologische Kategorie, weil sie die ganze Welt sozialer Fakten umfasst, die wir als Mitglied einer jeglichen Gemeinschaft erschaffen und mit Sinn und Bedeutung erfüllen. Für Lukács ist die Besonderheit des Kapitalismus seine Fähigkeit, das Ganze der Totalität zu 10 Aristoteles (1999), 1139a–b. Lukács wird diesen Gedanken umfassender in der Ontologie entfalten, aber schon in Geschichte und Klassenbewusstsein (1977, 306) lässt sich diese Einsicht auffinden: „Marx hat denn auch in seiner Dissertation konkreter und konsequenter als Hegel die Frage des Seins und die der Abstufung seiner Bedeutung auf das Gebiet der geschichtlichen Wirklichkeit, der konkreten Praxis hinübergespiegelt. ‚Hat nicht der alte Moloch geherrscht? War nicht der delphische Apollo eine wirkliche Macht im Leben der Griechen? Hier heißt auch Kants Kritik nichts.‘ Leider wurde dieser Gedanke von Marx in seinen logischen Konsequenzen nicht ausgeführt, wenn die Methode der reifen Werke doch stets mit diesen praktisch abgestuften Seinsbegriffen arbeitet.“ Verdinglichung und das Netz der Normen 225 begründen; seine Fähigkeit, alle sozialen Praktiken nach den von ihm postulierten Zielen umzuformen und auszurichten. Sobald wir diese Praktiken als bewusst gelenkte Aktivität erkennen, erscheint Verdinglichung als Korruption der Praxis; es ist das Eindringen heteronomer Begriffe über den vermeintlichen Zweck unserer Aktivität, das unsere weltschöpfenden Kräfte an heteronomen Zielen und Zwecken ausrichtet. Dabei handelt es sich um normative Begriffe, da sie ausdrücken, wie wir unsere Handlungen, unser praktisches Leben bestimmen sollten und wie wir diese Regime der Praxis und unsere Praktiken als Ganze rationalisieren und legitimieren.11 Dies hat uns den Blick darauf verstellt, dass die Zwecke, an denen wir unsere Aktivitäten orientieren, Klassencharakter haben – und dass Kapital eine materielle Kraft ist, insofern es die Macht hat, unsere Praxis zu kolonisieren, indem es seine Ziele als unsere ausgibt. Der Kerngedanke dabei ist, dass das Wesen der Verdinglichung nicht epistemisch ist, sondern sozial-ontologisch: Sie reorganisiert die soziale Wirklichkeit durch die Umformung des Bewusstseins und der Normen, die ihm und unseren Praktiken zugrunde liegen.12 Im Folgenden will ich zeigen, wie diese Umformung des Bewusstseins von denjenigen Normen und Werten abhängt, die durch den Sozialisationsprozess internalisiert werden – bevor ich zur kritischen sozialen Ontologie komme, die uns die Mittel an die Hand gibt, die Effekte der Verdinglichung zu durchbrechen. 11 Michael E. Brown weist darauf hin, dass „die Tatsache, dass die kapitalistische politische Ökonomie den gesamten Bereich des ökonomisch relevanten und ökonomisch abhängigen sozialen Lebens definiert und damit hegemonisch über diesen herrscht, [es schwer macht], in irgendeinem gegenläufigen Sinn über diesen Bereich zu sprechen […] Die Allgegenwart der kapitalistischen Produktionsweise und das moralische Vakuum, das sie unausweichlich in lokalen Kontexten zurücklässt, sind die Befunde der Marx’schen Ideologiekritik“ (Brown 1986, 101–103). Dies ist ein Grund, die Konsequenzen von Lukács’ These anzuerkennen, dass die Totalität sich nach den Imperativen des Kapitals re-formiert, sobald es in den Bereich der Kultur eingedrungen ist. Andrew Feenberg bemerkt dazu: „‚Kultur‘ bedeutet heute ein vereinheitlichendes Muster einer ganzen Gesellschaft, inclusive ihrer typischen Artefakte, Rituale, Gewohnheiten und Glaubenssätze. Der Begriff der Kultur verweist auf die gewöhnlichen Strukturen des sozialen Lebens. Er wirft für Forschende das Problem auf, den übergreifenden Paradigmen von Sinn und Wert nachzuspüren, die alle unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft formen“ (Feenberg 2014, 65; vgl. Kavoulakos 2018). 12 Vgl. ebd. 226 Michael J. Thompson 3 Die Erweiterung der Verdinglichungstheorie Wie bereits erwähnt ist Lukács’ Hauptthese, mit der er sich deutlich auf das Projekt des Deutschen Idealismus beruft, dass die subjektiven Impulse zu moralischer und politischer Verpflichtung – und implizit zu Dissens – auf der Fähigkeit beruhen, die soziale Realität zu begreifen, in der man lebt. Dieser Gedanke stammt aus Hegels phänomenologischem Verständnis des Übergangs des denkenden Subjekts zu absolutem Wissen; man ist in der Lage, seine Welt zu begreifen, und zwar als Totalität, aber insofern man frei ist, sieht man diese Totalität als rational an – das heißt in der Weise, dass sie dem vernünftigen, umfassenden Interesse des sozialen Ganzen dient, ohne eines seiner Teile über das Ganze zu erheben. Der Marx’sche Aspekt daran ist eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, die die sozial-ontologischen Strukturen und Prozesse der Gesellschaft so verformt, dass sie dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse entgegenstehen und private Profite über soziale, menschliche Ziele und Bedürfnisse stellen. Verdinglichung ist das Fehlen der kognitiven Kraft, die Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaft als „natürliche“, durch ihre bloße Existenz gerechtfertigte Struktur zu entlarven. Verdinglichung ist eine defizitäre Form des Denkens, die dieses Reflexionspotential beschränkt. Doch es gibt auch eine neukantianische Spur in Lukács’ Theorie: er behauptet, dass das zentrale kritische Vermögen, die Welt als echten Gegenstand des Wissens zu erkennen, zerfällt und uns mit dem Problem zurücklässt, dass das verdinglichte Subjekt sich zur Welt als bloße Erscheinung verhält, wo ihre Essenz (oder der Raum kausaler Gründe) unter einem Schleier „natürlicher“ Prozesse und Formen verborgen ist. Die neukantianische Trennung von Fakten und Werten hat zur Folge, dass das Subjekt nicht mehr erkennen kann, wie Werte für den Zustand der Welt konstitutiv sind; dass es also eine Einheit gibt zwischen unseren Werten und Normen und dem Wesen der sozialen Fakten, die wir erzeugen und interpretieren. Wenn wir auf einer Trennung dieser beiden Sphären bestehen, wird es dem Bewusstsein unmöglich gemacht zu erkennen, dass die Verformung des Bewusstseins das Resultat einer Normentransformation ist – Normen, die durch rationalisierte Formen der Produktion, Konsum und sozialer Koordination erzeugt und erfolgreich von Subjekten internalisiert werden. Im Kern des Phänomens der Verdinglichung, so könnte man sagen, liegt ein Mechanismus der Erzeugung und Internalisierung von Normen und ihrer Effekte auf Bewusstsein und Erkenntnis. Wir sollten Verdinglichung daher nicht nur als bewusstseinsinternes Umsetzungsproblem ansehen, sondern als eine Neukodierung der Normen, die unsere Erkenntnis und unsere Praxis formen und strukturieren. Daraus folgt, dass eine jegliche Norm nicht nur einen Wert darstellt, sondern eine Lenkung unserer kog- Verdinglichung und das Netz der Normen 227 nitiven und epistemischen Vermögen in solcher Weise, dass sie sich nicht mehr außerhalb der Grenzen bewegen können, die ihnen vom gesellschaftlich vorherrschenden Normensystem gesetzt werden. So erhalten Normen soziale Macht in dem Sinne, dass sie Handlungen und Handlungsgründe vorgeben können. Wie Joseph Raz ausführt: „Allgemeiner könnte man […] sagen, daß normative Macht die Fähigkeit ist, normative Änderungen herbeizuführen. Normative Änderungen lassen sich so auffassen, daß sie jede Änderung in den Handlungsgründen einer Person umfassen.“13 Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, stellt sich heraus, dass normative Macht darin besteht, dass unsere Normen von anderen geformt und gelenkt werden können. Darüber hinaus impliziert sie die Formbarkeit von Intentionalität, d. h. der Art und Weise, wie wir der Welt Sinn und Bedeutung zuschreiben – also die Erzeugung sozialer Fakten. Da soziale Fakten aus unserer Intentionalität entstehen, ist Macht über Normgestaltung auch die Macht, die soziale Wirklichkeit zu formen. Dies führt uns zu einem tieferen Problem, da soziale Macht nun innerhalb der normativen Wertigkeiten des Bewusstseins operiert. Raz nennt dies „Einfluss“ und argumentiert, dass dies „die Macht ein[schließt], auf die Ziele, die Menschen haben, auf ihre Wünsche und Hoffnungen einzuwirken. Der Glaube daran, daß ein bestimmter Lebensstil erstrebenswert ist, wird durch Bildungsinstitutionen oder die Massenmedien vermittelt.“14 Aus dieser Perspektive kann Verdinglichung als Resultat dieser Art von Macht und sozialer Herrschaft betrachtet werden. An anderer Stelle wurde dies konstitutive Macht genannt, die Macht, unsere Normen und Wertorientierungen so zu formen und zu lenken, dass damit nicht nur unser Bewusstsein, sondern auch unser soziales Handeln transformiert werden.15 Der Begriff der Verdinglichung trägt zu dieser Diskussion ein Verständnis davon bei, dass es sich dabei nicht um ein neutrales Formen und Lenken des Bewusstseins handelt. Das Bewusstsein wird gemäß den Logiken der dominanten sozialen Systeme und ihrer Imperative geformt. Historisch betrachtet, unter rationalisierten, kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Produktion und Konsumtion, bedeutet dies, dass diese neuen Normen und Werte das subjektive Leben in einem System der Produktion und Konsumtion absorbieren, das privaten Profit generiert. Dabei ist besonders problematisch, dass die verschiedenen Dimensionen der Subjektivität durch diese Verdinglichung des Bewusstseins bestimmt sind. Wenn wir von drei unterschiedlichen Dimensionen der Subjektivität ausge- 13 Raz (2006), 133. 14 Ebd. 15 Vgl. Thompson (2016). 228 Michael J. Thompson hen, lässt sich sagen, dass es kognitive, evaluative und emotionale Dimensionen des Selbst gibt, die alle auf der normativen Struktur des Bewusstseins gründen. Dies bedeutet allerdings, dass das Phänomen der Verdinglichung viel tiefer reicht als bloß in die kognitive Dimension. Daher ist auch das Ausmaß, in dem Subjektivität in das Gewebe der sozialen Ordnung eingeflochten ist, viel größer, als es ein kognitivistischer Ansatz erfassen könnte. Mit Raz lässt sich festhalten, dass Normen einen tiefgehenden Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen, bewerten und über sie urteilen. Jede Norm kann unsere evaluativen Vermögen formen. Denken wir nur an das einfache Argument, das besagt: Es ist moralisch richtig, F zu tun, das logisch zur Aussage führt: Es ist gut, F zu tun. Wenn diese logische Folge vom Subjekt internalisiert wird, kann es auch dazu kommen, dass sich das Persönlichkeitssystem emotional einbringt: Es fühlt sich gut an, F zu tun. Dabei handelt es sich natürlich um eine sehr vereinfachte Beschreibung der Wirkung von Normen auf Bewusstsein und Persönlichkeit, aber sie zeigt doch, wie Normen, die das System formen, auch das Bewusstsein verdinglichen können. Normen und Werte sind daher ein zentraler Aspekt des Prozesses, in dem Verdinglichung den Blick auf ein kritischeres Bild der sozialen Welt verstellt. Es verdeutlicht auch, dass phänomenologische und pragmatische Ansätze der Kritik nicht in der Lage sind, das Problem der Verdinglichung zu lösen. So attraktiv kommunikative und diskursive Theorien des Urteilens auch scheinen mögen – sie können die Strukturen der Verdinglichung, die in der kapitalistischen Gesellschaft Subjekt und Objekt verschmelzen, nicht durchbrechen. Normen sind daher nicht bloß Strukturen der Praxis, sondern Strukturen von Sinn und Bedeutung – in dem Sinne, dass sie die Wege vorgeben, nach denen wir als Subjekte und Mitglieder einer kollektiven Lebensform Objekten und Phänomenen unserer Lebenswelt Bedeutung zuweisen.16 Daher muss die Veränderung unserer sozialen Praxis immer mit einer Veränderung von Normen einhergehen. Da Praxis – wie Aristoteles und Marx übereinstimmend argumentieren – von Denken geleitetes Handeln ist, ändern wir, indem wir die Bedeutung und den 16 Feenberg (2014, 75) weist zu diesem Punkt auf den gemeinsamen Ausgangspunkt von Lukács und Heidegger hin: „[E]s inspirierte sowohl Heidegger und Lukács, die beide Lasks Durchbruch zu einer neuen, transzendentalen Auffassung von Bedeutung, die an die Ontologie grenzte, akzeptierten. Bedetung ist das ‚Sein‘ der Erscheinungen, durch das wir Zugriff bekommen auf ihr tatsächliches ‚Sein‘. Heidegger und Lukács versuchten nun, das Sein im Handeln zu begründen statt in der Subjektivität.“ Ich nehme als zentrale Aussage den Gedanken, dass wir zur nächsten Stufe gelangen müssen, zu einer Sozialontologie, in der Bedeutung, die von normativen Rahmen strukturiert ist, einen Bewusstseinsnexus darstellt, der von den sozialen Praktiken und den Normen, die ihnen zugrunde liegen, infiltriert wird – und damit als Ort der Verdinglichung dient, da an diesem Punkt Tatsachen und Werte, aber auch Denken und Sein zusammentreffen. Verdinglichung und das Netz der Normen 229 Zweck einer Handlung ändern, auch das Denken, das ihr zugrunde liegt. Kapitalismus strukturiert Bedeutung so, wie er auch Praxis strukturiert – und damit begründet er neue Normen und Wertordnungen, die zu koordinierten Normsystemen werden, die wiederum soziales Handeln und subjektive Dispositionen formen. Doch diese Normen gründen sich nicht in der Spontaneität der Lebenswelt oder in einem demokratischen Konsens darüber, wie wir unsere Welt organisieren wollen, sondern in den Imperativen der Produktion und des Konsums in einem Wirtschaftssystem, das sich an privaten Profiten und ihrer Maximierung orientiert. Diese Imperative verändern nach und nach die ontologischen Strukturen der sozialen Welt und erschaffen eine neue soziale Wirklichkeit. Verdinglichung ist daher eine Pathologie nicht nur des Bewusstseins, sondern jener Bedeutungsstrukturen, die Praxen bestimmen und damit die Wirklichkeit, die aus diesen sozialen Praxen entsteht. Der Kerngedanke dabei ist, in Anlehnung an Parsons, dass es ein Verständnis von „erfolgreichen“ Zivilisationsformen gibt, das sich daran orientiert, in welchem Maße Individuen die Normen des sozialen Systems und der Institutionen, die sie umgeben, aufnehmen. Der springende Punkt dabei ist, dass, wie Parsons betont, diese Normen nicht einfach im Erwachsenenalter erlernt werden können. Es muss also eine Hintergrundvoraussetzung für die Aufnahme komplexer sozialer Normen geben. In Lukács’ Verdinglichungstheorie sind es Aktivitäten am Arbeitsplatz – die technologische Transformation der Produktion, die Schrumpfung von Zeit und Raum durch die Expansion unserer Produktionskapazitäten, rationalisierte Formen der Bürokratie, und so weiter – die den Nährboden der Verdinglichung bilden. Dies mag sich im frühen 20. Jahrhundert so verhalten haben, doch in dem Maße, wie sich die Normen von Produktion und Konsumtion, Rationalisierung und der Legitimität der kapitalistischen Wirtschaftsform tiefer in den Schichten der Kultur und den sozialen Institutionen als Ganzes festgesetzt haben, um so energischer wurde der Prozess der Verdinglichung – da die Internalisierung kapitalistischer Werte in einem immer jüngeren Alter stattfindet. Daher merkt Parsons an: [Daraus] kann geschlossen werden, dass das strategische Element der grundlegenden Persönlichkeitsstruktur aus der Verinnerlichung von wertorientierten Mustern besteht, die in die Ich-Rollenerwartungen der signifikanten Sozialisierungsakteure eingebettet sind. Da diese Muster nur durch den Mechanismus der Identifikation erworben werden können, und da die grundlegenden Identifikationsmuster in der Kindheit ausgebildet werden, ist die kindliche Struktur der Persönlichkeit in dieser Hinsicht so stabil und unveränderlich.17 17 Parsons (1951), 228 [Übers. M. B.]. 230 Michael J. Thompson Wenn die soziale Ordnung in ihrem Wesen als Normsystem, das soziales Handeln lenkt und koordiniert, erkannt wird, dann wird auch deutlich, dass es, um diese Aufgabe erfüllen zu können, von der Ich-Struktur des Individuums absorbiert und internalisiert wird. Das führt, wenn wir der Einsicht Herbert Marcuses folgen, zu einem Wesen von Verdinglichung als verkrüppelnde Eindimensionalität; einer Einfaltung des Ichs in die soziale Struktur, und damit zur Unmöglichhkeit, das Ich von der sozialen Wirklichkeit zu unterscheiden: Die Vermittlung von Selbst und dem Anderen führt zu einer unmittelbaren Identifikation. In der sozialen Ordnung wird das Individuum zum einen bewussten und unbewussten Objekt der Verwaltung und erlangt seine Freiheit und Befriedigung der Rolle als ein solches Objekt; in der geistigen Struktur schrumpft das Ich so sehr, dass es sich kaum noch als ein Selbst unterschieden von Es und Über-Ich erhalten zu können scheint.18 Damit können wir erfassen, wie der Begriff der Verdinglichung erweitert werden kann, um nachzuvollziehen, wie Normen und Wertorientierung das Subjekt mit der objektiven Welt sozialer Fakten verschmelzen. Je effizienter Kapitalismus als ökonomische, soziale und kulturelle Form sein Normensystem von Ich internalisieren lassen kann, desto tiefer verankert sich auch die Verdinglichung im Subjekt; wie Feenberg in seiner Analyse der Verdinglichung betont: „Der Fokus muss sich vom mechanistischen ‚Einfluss‘ sozialer Bedingungen auf das Bewusstsein verlagern hin zur generellen Strukturierung aller Dimensionen der Gesellschaft“19. Diese Internalisierung des aus sozialen Institutionen stammenden Normensystems ist die Ursache der Verdinglichung von Subjekten und erklärt den relativen Mangel an Bewusstsein für die defizitäre soziale Ordnung, deren Teil sie sind und deren Praxis sie stets neu erschaffen. Sie unterdrückt auch den Antagonismus des Klassenkampfes. Dies ist ein Grund dafür, warum industrielle und postindustrielle Gesellschaften immer seltener eine Politisierung wirtschaftlicher Ungleichheit erleben: Das Normensystem ist tief in die Kultur vorgedrungen, die ihre Mitglieder so sozialisiert, dass kritische Reflektion verkrüppelt wird. Doch Normen sind mehr als normative Aussagen der Form „A sollte F tun“. Sie konstituieren Fakten in dem Sinne, dass sie unsere Praxis mit einer sozialontologischen Faktizität versehen.20 Verdinglichung erreicht hier eine noch ver- 18 Marcuse (1970), 47 [Übers. M. B.]. 19 Feenberg (2014), 66. 20 Raz (2006, 33) drückt dies so aus: „Aussagen über Tatsachen, die Gründe für die Ausführung einer bestimmten Handlung durch einen bestimmten Akteur sind, sind Prämissen eines Arguments, dessen Konklusion besagt, daß der Akteur einen Grund hat, diese Handlung auszuführen, bzw. daß er sie ausführen soll.“ Verdinglichung und das Netz der Normen 231 derblichere und tiefer verwurzelte Dimension. Parsons hat richtig beobachtet, dass erfolgreiche Internalisierung ein Mittel zur Stabilisierung jedes sozialen Systems ist und dass das Subjekt soziale Normen internalisieren muss, um sein Ich zu stabilisieren. Dies bedeutet jedoch auch, dass es die Fähigkeit besitzt, neue soziale Fakten zu erschaffen. Daraus erwächst die Verbindung von Normen und Bewusstsein. Etwas technischer ausgedrückt können wir sagen, dass die kollektiv-intentionalen Strukturen des Bewusstseins in jeder Gemeinschaft als Artikulation ihrer sozialen Wirklichkeit aktiv werden. Wie Searle dargelegt hat, rührt dies daher, dass die Normen, die wir annehmen, kollektive Formen der Bedeutung koordinieren – indem sie Objekten „Statusfunktionen“ zuweisen oder Bedeutungen, die auf kollektiven Formen der Intentionalität oder Sinngebung beruhen. In diesem Sinne sind soziale Fakten das Resultat dieser kollektiven Intentionalität – und das Vermögen, Normen zu kontrollieren, ist die Macht, die Struktur der sozialen Wirklichkeit zu formen. So sind Verdinglichung und Sozialontologie zutiefst miteinander verwoben und führen nicht nur zu einer Theorie des defizitären Bewusstseins, sondern auch zu einer Theorie der Macht.21 4 Die Verdinglichung des Bewusstseins und das Netz der Normen Ich habe dargelegt, dass die Erweiterung von Verdinglichung als Begriff der Kritischen Theorie sich auf eine bestimmte Konzeption der Erkenntnis konzentrieren sollte, die epistemische Fähigkeiten mit Wertorientierungen verknüpft. Auch habe ich die Fähigkeit dieser Wertorientierungen dargestellt, unsere Erkenntniskräfte zu formen. Am wichtigsten ist, dass sie nicht nur die substanzielle Basis unserer Erkenntnis beeinflussen – also die normativen und kognitiven Ideen, die Individuen benutzen, um sich ihre Welt verständlich zu machen – sondern auch die formale Basis, was sich in isolierten und episodischen Denkweisen zeigt, im Gegensatz zu holistischen, dynamischen und relationalen Denkformen. Die letztgenannten wurden in einem objektiv-idealistischen Sinne als kritisch angesehen, da sie sich auf die tatsächlichen, objektiven Eigenschaften von Denken und Wirklichkeit bezogen. Für Kant und die Denker der Aufklärung im Allgemeinen war Erkenntnis ein unabhängiger Prozess; zeitgenössische Theorien des Geistes zeigen jedoch, dass es sinnvoller ist, sie als Funktion zu betrachten, die in das Persönlichkeitssystem von Individuen eingebettet ist. In dieser Perspektive 21 Vgl. Searle (2012) u. Thompson (2017). 232 Michael J. Thompson werden Fragen der Erkenntnis zu Fragen, die das Wertesystem von Individuen betreffen. Lukács nahm diese Perspektive in dem Sinne auf, dass er das Grundproblem der Verdinglichung dort verortete, wo Praxen von normativen Regimes neu geordnet werden, die auch die Hintergrundbedingungen für unsere reflexiven und evaluativen Urteile über die Welt strukturieren.22 Verdinglichung wird damit zu einer Pathologie des Bewusstseins, die wiederum mit der Pathologie der Persönlichkeit verbunden ist. Da Normen uns als Handelnde sozialisieren, werden sie in ihrem Wesen auch Wertorientierungen formen, die wiederum Begriffe formen, mit denen wir die Welt verstehen. Verdinglichung ist nicht nur das Resultat der Rationalisierung der Gesellschaft – also der technisch-industriellen Ordnung und strategischer Handlungsmodi – sondern solcher Werte, die nötig sind, um die Legitimität eines Systems ausbeuterischer sozialer Verhältnisse zu sichern. Lukács scheint hier den Grundstein für eine Erweiterung von Verdinglichung zu legen, die über technisch-industrielle Formen der sozialen Integration hinaus geht – und die Feinheiten sozialer Macht und Herrschaft systemisch erfassen kann. Eine Gesellschaft, die bestimmte Normen und Werte zur Routine machen kann, hat damit auch die Macht, unsere Erkenntnisfähigkeiten zu formen. Verdinglichung ist eine Pathologie des ganzen Selbst: ein Problem, das die komplette Persönlichkeit des Subjekts betrifft, nicht bloß seine Verstandeskräfte. So legt sie sich auf die Fähigkeiten des Subjekts zu Reflektion und kritischem Urteilen, indem sie es in ein Netz von Normen einspinnt, dem schwer zu entkommen ist. Damit meine ich, dass dieses Netz umso mehr Druck auf verschiedene Handlungssphären ausübt, je mehr es in systemischen Imperativen der sozialen Ordnung verwurzelt ist, und je mehr diese soziale Ordnung durch rationale, administrativ-kapitalistische Zwecke und Ziele artikuliert wird. Das Feld des Sozialen, in dem sich das Netz der Normen befindet, übt vier verschiedene Formen von Druck aus: Internalisierung, Routinisierung, Rationalisierung und Sozialisierung. Auf der ersten Ebene absorbiert das Ich Wertmuster (Normennetze), die in der sozialen Welt verbreitet sind. Dieser Absorptionsprozess wird durch die Routinisierung in modernen Gesellschaften effizienter gemacht, da die Wertmuster zu einem Teil der Hintergrund-Hexis des Subjekts werden. Wenn die Wertorientierungen und die von ihnen hervorgebrachten Praxen immer weiter routinisiert und internalisiert werden, bringen sie schließlich ihre eigenen Rationalisierun- 22 Unter „Hintergrund“ verstehe ich wie Searle (2012, 57) „alle [jene] Fähigkeiten, Anlagen, Neigungen, Verfahrensweisen und allgemeinen praktischen Kenntniss[e], die es uns ermöglichen, unsere Absichten zu verwirklichen und, allgemein gesprochen, unsere intentionalen Zustände zur Anwendung zu bringen.“ Verdinglichung und das Netz der Normen 233 gen hervor. Dies liegt daran, dass sie umso selbstreferentieller werden, je mehr das System von solchen Wertmustern durchsetzt wird und je mehr Lebensbereiche und Institutionen von den Logiken rationaler Autorität aus ökonomischen Imperativen kolonisiert werden. Dies führt schließlich zu einem Sozialisationsdruck, durch den unsere aktiven Formen des Urteilens und Reflektieren in die strukturellen Vorgaben des sozialen Systems eingepasst werden – Vorgaben, die nach erfolgreicher Internalisierung auch aus dem Subjekt selbst heraus wirksam werden. Nach diesem Schema ist also Verdinglichung das Resultat der Vorgaben, die der Erkenntnis durch die Wertesysteme auferlegt werden, die aus der Verinnerlichung sozialer Normen herrühren. Es handelt sich um einen diachronen und synchronen Prozess, der verschiedene Ebenen von Bewusstsein und sozialem Handeln betrifft. Damit sind in diesem Modell sowohl Verstandes- als auch Urteilsfähigkeiten des Subjekts von den Wertorientierungen beeinflusst, die es absorbiert hat. Im Kapitalismus dienen soziale Normen der Effizienzmaximierung in der Verfolgung seiner Ziele; daher ist es ganz entscheidend, dass Subjekte die Ziele kapitalistischer Institutionen als ihre eigenen ansehen – und damit den wahren Zweck ihrer Handlungen, Werte und Gedanken in einer gewissen Konformität mit der sie umgebenden Welt erkennen. Deshalb sind hegemoniale Werte und Normen auch der Ausgangspunkt für die entstellten Formen des Bewusstseins, die Verdinglichung ausmachen. Diese Werte sind zunehmend heteronom, da sie aus institutionellen Welten stammen, die nach keinerlei vernünftiger Rechtfertigung verlangen. Stattdessen werden sie zu einer Art Hintergrund für die unterschiedlichen Formen deontischer Macht, die das soziale Handeln zusammenhalten. Wie ich gezeigt habe, greifen Normen direkt in das Bewusstsein ein. Sie können unsere praktischen Handlungen ebenso wie die Rationalisierungen für diese Handlungen und ihre Effekte formen. Dies geschieht durch das Problem der Wertheteronomie, wodurch der Sozialisationsprozess erfolgreich ein grundlegendendes Wertesystem vermittelt, das die Urteilskraft des Subjekts bestimmt. Wertheteronomie ist die Bedingung dafür, dass moderne Formen der Autorität sich als interne Instanz des Subjekts ausdrücken können. Erinnern wir uns daran, dass für Weber Herrschaft „die Chance heißen [soll], für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“, wobei „das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe“23. Die Verdinglichung des Bewusstseins beginnt also mit der Einschärfung 23 Weber (1980), Kap. 3, § 1. 234 Michael J. Thompson routinisierter und rationalisierter Wertsysteme und -begriffe, die unsere normative Haltung zur Welt bestimmen. Doch wie Weber zeigt, dienen sie auch dazu, diejenigen sozialen Beziehungen zu verfestigen und zu legitimieren, durch die Macht transportiert wird – und damit das Selbstbewusstsein zu sozialisieren, das die Persönlichkeit des Individuums ausmacht. Die Verdinglichung des Bewusstseins beginnt also mit der unkritischen Übernahme heteronomer Wertsysteme, die Ideen, Normen, Werte, soziale Beziehungen und Ziele legitimieren. Entscheidend ist dabei, dass die Normen so angenommen werden, wie sie erscheinen; dass sie also ein Teil der internen Motivationsstruktur des Subjekts werden. Dies ist jedoch nicht möglich, wenn die Norm hinterfragt wird, oder wenn auch nur ein vernünftiger Grund für ihre Annahme gesucht wird. In solchen Fällen liegt immer eine Form der Abweichung vor – aber noch wichtiger für meine Zwecke hier ist der Affekt der rationalen Erkenntnisfakultät, der dadurch impliziert wird: Normen ohne vernünftigen Grund anzunehmen, bedeutet, eine bestimmte Sichtweise der Welt anzunehmen. Rationalisierte, gesellschaftliche und institutionelle Normen, die der Macht von Eliten und ihren ökonomischen Zielen dienen – Normen bezüglich Arbeit, Ungleichheit, Einkommen und Reichtum, bezüglich Bildung und bezüglich des Zweckes sozialer Zielsetzungen, und so weiter – werden dem Bewusstsein aufgestülpt; mit dem Resultat, dass die verschiedenen Werte des Subjekts inkonsistent werden. Dieser Mangel an logischer Konsistenz führt mit der Zeit dazu, dass das Erkenntnisvermögen des Subjekts geschwächt wird, damit die partikularen Normen kapitalistischer, institutioneller Logiken akzeptiert werden können. Rationales und urteilendes Bewusstsein sind damit dialektisch verbunden. Erinnern wir uns, dass die zentrale Einsicht der Verdinglichungstheorie ist, dass unser Bewusstsein von Normen und Wertorientierungen geformt ist. Dies bedeutet einerseits, wie ich bereits gezeigt habe, dass Normen soziale Fakten darstellen, aber auch, dass solche sozialen Fakten ihre eigene Validität mit sich tragen, die ich implizite Validität nenne. Dies liegt daran, dass Werte nicht durch rationale Rechtfertigungen erworben und eingeprägt werden, sondern dass sie in die Praxen und Normen eingebettet sind, aus denen unsere soziale Welt besteht. Dadurch ist das verdinglichte Bewusstsein in der Lage, die Welt in Einzelheiten zu zerlegen. Da es ihm an Konsistenz fehlt, kann es nur isolierte und statische Formen der Wirklichkeit erkennen – im Gegensatz zu dynamischen und prozessualen Formen. Das verdinglichte Bewusstsein ist nicht fähig, die inneren Beziehungen der sozialen Welt zu erkennen und ihre Logik zu den Pathologien in Beziehung zu setzen, die es auf der sozialen und existenziellen Ebene erleidet. Phänomenologische Erfahrung kann nicht in die logische Erkenntnis einwandern und damit wird Kritik abgeschnitten. Da Wertsysteme die Grundlage der subjektiven Urteilskraft schaffen, kann auch gezeigt werden, dass sie die Verdinglichung und das Netz der Normen 235 Grundlage der subjektiven Erkenntnisfähigkeiten bilden – in dem Sinne, dass das Wissen über die Welt die Aussetzung der Kritik verlangt. Wie es Milton Rokeach in seiner Untersuchung des „offenen“ und „geschlossenen“ Geistes formulierte: „Die Abtrennung von Teilen ist ein Zeichen der Tendenz, Überzeugungen nicht mit den inhärenten Maßstäben logischer Konsistenz zu prüfen, sondern sie voll und ganz zu assimilieren, so wie sie von einer Autoritätsfigur vorgegeben werden.“24 Daher formt das verdinglichte Bewusstsein nicht bloß Verstandeskräfte, sondern auch das Urteilen über die jeweilige Richtigkeit oder Falschheit der Dinge, ungeachtet der „Gründe“, die dafür vorgebracht werden. Die Verdinglichung des Bewusstseins – verstanden als die Verschleierung der dynamischen sozialen Wirklichkeit hinter der Fassade des isolierten, episodischen Bewusstseins – impliziert daher, dass der Verstand sozusagen daran gehindert wird, das Wesen der Welt zu erkennen. Und dies ergibt nur dann Sinn, wenn das Wertsystem, aus dem sich Subjektivität im Kapitalismus ergibt, Druck durch partielle, unmittelbare Formen des Denkens ausübt. Sie bieten dem Subjekt einfache Skripte zum Verständnis der Wirklichkeit; diese entsprechen nicht der Welt, wie sie wirklich ist, sondern der Vorstellung kapitalistischer Normen davon, wie sie sein sollte. Damit wird die Verbindung von Wertsystem und Erkenntnis offensichtlich: Ein kritisches, vermitteltes Verhältnis zur Welt wird durch ein unmittelbares Verhältnis ersetzt. Die Werte, die das Bewusstsein leiten, lassen das Subjekt auch vor rationaler Kritik zurückschrecken. In Lukács’ Worten: „Solange der Mensch sich anschauend-kontemplativ verhält, kann seine Beziehung sowohl zu seinem eigenen Denken wie zu den ihn umgebenden Gegenständen der Empirie nur eine unmittelbare Beziehung sein. Er nimmt beide in ihrer – von ihrer geschichtlichen Wirklichkeit produzierten – Fertigkeit hin. Da er die Welt nur erkennen, nicht verändern will, ist er gezwungen, sowohl die empirisch-materielle Starrheit des Seins wie die logische Starrheit der Begriffe als unabwendbar hinzunehmen.“25 Die Verdinglichung des Bewusstseins darf daher nicht nur als Unfähigkeit verstanden werden, die soziale Welt richtig zu erkennen, sondern sie ist in ihrem Grunde das Resultat bestimmter Werte und Normen, die jene Formen der Sozialisation verkümmern lassen, die Individuen zu kritischer Offenheit befähigen und sie soziale Praxis und öffentliches Leben als essentiellen Aspekt ihrer Individualität erkennen lassen. Wie Lukács viel später in „Literatur und Demokratie“ schrieb: „Wissen wir jedoch von diesem Zusammenhang nicht oder wollen ihn nicht zur Kenntnis nehmen, so schwindet aus unserem sogenannten äußerem 24 Rokeach (1960), 61. 25 Lukács (1977), 391. 236 Michael J. Thompson Schicksal, d. h. aus unserem ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Schicksal in unseren Werken jedes menschliche Element: Wir nehmen das alles nicht unsere soziale Wechselbeziehung zu anderen Menschen wahr, stellen es nicht so dar, sondern das alles wird in unserem Bewußtsein zu äußeren Objekten, zu seelenlosen Dingen fetischisiert. Statt der konkreten Vielfalt des Lebens, statt des bunten Gewebes seiner Wechselbeziehungen steht das verarmte, verkümmerte Ich einer abstrakten, fetischisierten, toten, verdinglichten Außenwelt gegenüber.“26 5 Wie Verdinglichung durch kritisches Urteilen überwunden werden kann Gibt es also einen Ausweg? Wenn kritische Theorie einen Nutzen haben soll, dann muss sie sich von bloßer Diagnose in den politischen Bereich bewegen, wo wir möglicherweise der Verdinglichung mit rationaler Reflexion entgegenwirken können. Auch wenn das Argument, dass ich bisher entwickelt habe, vollständig und totalisierend scheint, kann dies doch niemals der Fall sein. Jedes soziale System hat schließlich seine eigenen Ungereimtheiten, so subtil diese auch sein mögen. Pathologien des Sozialen und des Selbst erscheinen immer wieder in unserem Lebensprozess – und nur wenn diese Pathologien irgendwie erfahrbar werden, haben wir damit einen Ausgangspunkt, an dem gesellschaftliche Kritik ansetzen kann. Es ist daher nur dann möglich, der Verdinglichung entgegenzutreten und sie zu bekämpfen, wenn wir offen sind dafür, die grundsätzlichen Wertorientierungen zu hinterfragen, die die soziale Wirklichkeit formen, an der wir teilhaben. Dabei muss es sich um einen politischen Akt oder um das Resultat einer politischen Kampfansage an die Kultur handeln, die die Formen sozialer Macht durchzieht, die unser Leben bestimmen. Daher ist der Kampf gegen Verdinglichung ein zentrales Anliegen jeglicher politischer Machtkritik. Damit Verdinglichung wieder zu einem Objekt politischer Kritik werden kann, ist es nötig, dass wir die inhärent sozial-ontologische Struktur von Lukács’ Argument nachvollziehen können. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun zu der Frage zurückkehren, wie sich eine Theorie des kritischen Urteilens auf der Basis der Reflexionen rekonstruieren lässt, die ich hier vorgestellt habe. Meiner Meinung nach muss das Wesen des kritischen Urteilens in einem erweiterten Denken ausgedrückt werden, das die 26 Ders. (1970), 104. Verdinglichung und das Netz der Normen 237 soziale Totalität als Basis des Verständnisses jeglichen partikularen Ausdrucks sozialer oder politischer Macht erfassen kann. Verdinglichung ist umso schwieriger zu bekämpfen, je mehr sie die Strukturen der Kultur und der Persönlichkeit durchdringt. Doch die Wirklichkeit, die dadurch hervorgebracht wird, ist immer der Kritik zugänglich, da sie eine falsche Totalität ist – das heißt, eine Totalität, die deshalb irrational ist, weil sie nicht universellen Zwecken und Zielen dient. Die Widersprüche, die aus diesem irrationalen System entspringen, sind die notwendigen Risse, die uns dazu bringen, die Totalität theoretisch neu zu fassen. In diesem Sinn müssen wir über Sinn und Zweck der gesellschaftlichen Totalität nachdenken – und Ziel und Zweck unseres Lebens als interdependente, kooperative, soziale Wesen hinterfragen. Dies ist meiner Ansicht nach genau das, wozu Lukács in seiner Kritik des verdinglichten Bewusstseins aufruft. Sein Begriff der ‚expressiven Totalität‘ mag politisch veraltet erscheinen, aber ich möchte darlegen, dass er zu früh und ohne ernsthafte theoretische Auseinandersetzung verworfen worden ist. Lukács meint, dass Verdinglichung nur dann überwunden werden kann, wenn arbeitende Menschen entdecken, dass sie das „Subjekt-Objekt“ der Geschichte sind. Diese Stufe des Bewusstseins ist allerdings nicht kontemplativ, sondern aktiv. Lukács hat hier einen Wandel der praktischen Beziehungen im Blick, die wir zueinander und zur Natur haben – und das bedeutet, wie ich hier dargelegt habe, eine Transformation der normativen Struktur des Bewusstseins, die unser Handeln lenkt. In Lukács’ Worten: „Zu dem bloßen Widerspruch muß […] das zur Tat werdende Bewußtsein des Proletariats [hinzutreten]. […] [Da] das Bewußtsein hier nicht das Bewußtsein über einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt des Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines Objekts.“27 Das heißt, dass Bewusstsein zu einem neuen Selbstbewusstsein werden muss, das in der Lage ist, die immanente Ontologie unserer Sozialität zu erkennen – und wie sie sich nach den Interessen anderer ausrichtet; bezogen auf private Bedürfnisse, Zwecke und Ziele im Gegensatz zu gemeinsamen Interessen. Diese neue Form des Selbstbewusstseins entdeckt damit eine rationale Universalität. Durch dieses Selbstbewusstsein erfahren wir uns als soziale Wesen, praktische Wesen und als Mitglieder einer Totalität und gelangen zu einer neuen Art des Denkens und Urteilens. Aus diesem Grund spielen für Lukács drei Aspekte der Kritik eine Rolle. Zunächst müssen wir uns der Widersprüche bewusst werden, die das System als Ganzes betreffen. Wenn dies gelingt, dann kommt es zweitens „auf die Inten- 27 Ders. (1977), 363 (###Hervorh. im Orig.?###). 238 Michael J. Thompson tion auf Totalität an, daß das Handeln die – oben beschriebene – Funktion in der Totalität des Prozesses erfüllt“.28 Das heißt, die Wahrheit der Totalität begreifen zu können – „[hier] kommt praktisch zur Geltung, daß in der dialektischen Totalität die Einzelmomente die Struktur des Ganzen an sich tragen“.29 In diesem Sinne müssen wir jeden einzelnen Widerspruch, jede einzelne Norm und Praxis als Teil eines totalen Prozesses sehen. Wenn wir schließlich jede einzelne Norm oder Praxis beurteilen können, dann „kommt es […] auf die funktionelle Richtigkeit oder Falschheit in bezug [sic!] auf die Gesamtentwicklung an“.30 Wenn diese drei Schritte gelingen, dann kann der Zugriff der Verdinglichung gelockert werden; und zwar deshalb, weil das Denken in Beziehungen, Prozessen, Zielen und Zwecken die Grammatik ist, die wir brauchen, um die Totalität als ontologische Realität darstellen zu können. Wenn wir dies sehen, dann haben wir auch den Ansatz dafür, zu begreifen, wie unkritische praktische Aktivität die falsche Totalität immer wieder neu erschafft und erhält – jene falsche Totalität, die die Widersprüche ja erzeugt, die uns zur Aufnahme „kritischer praktischer Aktivität“ treiben. Dies mag zu philosophisch klingen, aber wir können es mit den Begriffen der Sozialontologie konkreter werden lassen. Sobald wir uns selbst als soziale Wesen bewusst werden, erblicken wir die wesentliche Struktur der sozialen Wirklichkeit in ontologischer und nicht mehr bloß in empirischer Form. Dieses Bewusstsein, ein soziales Wesen zu sein, heißt, dass ich meine Existenz als abhängig von und verbunden mit anderen Wesen erkenne; dass meine Beziehungen in Prozesse des Wandels und Handelns eingebettet sind; und letztlich, dass diese Prozesse und Praxen Ziele und Zwecke haben. Die Totalität der sozialen Wirklichkeit beginnt, sich zu entblößen. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, um Geld zu verdienen, mit dem ich meine Rechnungen bezahle und Waren kaufe – als isolierte, voneinander unabhängige „Fakten“ lassen diese Dinge die kritische Reflexion unbewegt. Aber sobald ich nach dem Zweck meiner Arbeit oder der Waren, die ich kaufe, frage, oder nach den Beziehungen, die nötig sind, um die Dinge hervorzubringen, für die ich arbeite oder die ich kaufe, oder nach den Institutionen, Normen und Praxen, die nötig sind, um diese soziale Wirklichkeit zu erhalten, beginne ich auch, die Legitimität dieses Systems zu hinterfragen. Ist es rational organisiert? Dient es dem Nutzen aller? Verdinglichung wird nur an dem Punkt angreifbar, wo die Frage nach der Ontologie meiner sozialen Welt und meiner Position in ihr zu einem Gegenstand des Bewusstseins wird. Daher schreibt Lukács auch, 28 Ebd., 386. 29 Ebd. 30 Ebd. Verdinglichung und das Netz der Normen 239 dass „marxistische Erkenntnis das Proletariat [in eine einzigartige geistige Verfassung] versetzen soll“.31 Sobald wir dies als alternativen Modus des kritischen Urteilens anerkennen, werden auch die schweren Fehler der post-metaphysischen, diskursiven und phänomenologischen Ansätze zur Urteilskraft deutlich, die aktuell in der Theoriebildung vorzufinden sind. Mit Denkerinnen und Denkern wie Hannah Arendt, Jürgen Habermas oder Axel Honneth lassen sich die Blockaden nicht überwinden, die sich aus der Verdinglichung ergeben. Soweit ich es sehe, leisten diese theoretischen Projekte kaum mehr, als das verdinglichte Bewusstsein auf das urteilende Subjekt zurückzuwerfen. Vielleicht kann eine erneuerte Aufmerksamkeit für Verdinglichung – und ihre kritischen Implikationen für Kultur und politisches Urteilen – dazu beitragen, die Kritische Theorie des Sozialen zu ihren Wurzeln im aufklärerischen Streben nach rationalen und freien Formen der Sozialität zurückzuführen. Und vielleicht kann sie progressive soziale Bewegungen in die Lage versetzen, ein rational begründetes emanzipatorisches Interesse an der Überwindung der inhumanen und verdinglichenden Tendenzen der kapitalistischen Moderne zu formulieren. Aus dem Englischen von Maren Behrensen Literatur Aristoteles (1999), Nikomachische Ethik (= Werke in dt. Übers. 6), hg. v. Flashar, H., übers. v. Dirlmeier, F., Berlin. Brown, M. E. (1986), The Production of Society. A Marxian Foundation for Social Theory, Totowa, N. J. Feenberg, A. (2014), The Philosophy of Praxis. Marx, Lukács and the Frankfurt School, London. Feenberg, A. (2017), Technosystem. The Social Life of Reason, Cambridge, Mass. Forst, R. 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