ZIBALDONE
Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart
Begründet von
Titus Heydenreich und Helene Harth
Herausgegeben von
homas Bremer und Daniel Winkler
No. 64
Herbst 2017
Schwerpunkt:
Geschlechterinszenierungen
Bibliograische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Zibaldone: Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart. –
Tübingen: Staufenburg Verlag
Bis 19 (1995) im Verl. Piper, München / Zürich
Bis 32 (2001) im Rotbuch Verl., Hamburg
ISSN 0930-8997
Schwerpunkt: Geschlechterinszenierungen
hrsg. von homas Bremer und Daniel Winkler
Tübingen: Staufenburg Verlag, 2018
(Zibaldone; No. 64)
ISBN 978-3-95809-707-0
Gedruckt mit der Unterstützung des Rosita Schjerve-Rindler-Gedächtnisfonds.
Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart,
erscheint zweimal jährlich.
Einzelhefte bis 2017: EUR 12,-; ab 2018: EUR 15,Jahresabonnement ab 2018: EUR 24,- (zuzüglich Porto)
© 2018 Staufenburg Verlag GmbH
Postfach 2525 · D-72015 Tübingen
www.staufenburg.de
Titelbild: L. Dolgachev (stock.adobe.com)
Manuskripte nur an die Herausgeber:
Prof. Dr. homas Bremer, Martin-Luther-Universität, Institut für
Romanistik, D-06099 Halle; thomas.bremer@romanistik.uni-halle.de
Ass.-Prof. Dr. Daniel Winkler, Universität Wien, Institut für Romanistik,
Spitalgasse 2 – Hof 8, A-1090 Wien; daniel.winkler@univie.ac.at
Unverlangt eingesandte Manuskripte werden in der Regel nicht kommentiert
und nur zurückgesandt, wenn Rückporto beiliegt.
Sofern nicht anders angegeben, handelt es sich bei allen Beiträgen um
Erstveröfentlichungen.
ZIBALDONE 65
’68 und die Folgen
Inhalt
Vorwort
7
Eva Nossem
Der seltsame Fall des italienischen gender
9
Anke Charton
«…ma»: Vokaltradierung und Geschlechterpolitik bei Rossini
21
Beate Ochsner
Diven des italienischen Stummilms: Bertini, Borelli, Menichelli
33
Paola Guazzo
An den ‹Grenzen der Norm›. Lesbische Existenz und Resistenz
im Faschismus
53
John Champagne
«Noch zuckende Körperhüllen»: eine Lektüre des Malers
Filippo De Pisis und seiner heteronormativen Kritiker
67
Judith Frömmer
Geschlechterpolitik des Gründungsopfers: Eros und Polis in Moravias
und De Sicas La ciociara
79
Uta Fenske / Sabine Schrader
Comingout! Ferzan Özpeteks melodramatisches Kino im Widerstreit
mit der queeren heorie
93
Susanne Kleinert
Geschlechterrollen in Romanen ausgewählter Autorinnen der Gegenwart:
Von Dacia Maraini zu Igiaba Scego
113
Mariangela Tartaglione
Der generative Raum und die ‹Mutterstadt› in L’amore molesto von Elena
Ferrante
123
Elisabeth Tiller
Melania G. Mazzuccos Migrationsnarrationen und die Scharfzeichnung von
gegendertem (Er)Leben
137
Notizbuch
Harald Bodenschatz über die neue Piazza Martin Lutero in Rom – Maria Giuliana
über Palermo als Europäische Kulturhauptstadt 2018
153
Rezensionen
161
Zu den Autor_innen
173
Vorschau auf die hemenschwerpunkte
der nächsten Hefte
’68 und die Folgen
No. 65 Frühjahr 2018
Matera und die Basilikata
No. 66 Herbst 2018
ZIBALDONE 64
Geschlechterinszenierungen
In Italien gehen Geschlecht, Kunst und Politik eine besondere Beziehung ein, auch weil hier vielerorts Abweichungen von klassischen Modellen von Familie und damit Mann und Frau einer relativ starken sozialen Kontrolle unterliegen, d.h. deutlicher an patriarchale und religiöse,
regionale und mediterrane Traditionen gebunden sind. Der italienischen
‹Hoch›- und Popularkultur sind so oftmals recht hartnäckig ‹archaische›
Formen von Geschlechterrollen und -repräsentationen eingeschrieben.
Dieses Heft fragt daher danach, wie sich diese Geschlechterinszenierungen in unterschiedlichen Kultur- und Kunstformen zwischen dem 19.
und 21. Jahrhundert manifestieren, aber auch wie und wo sie variieren
und abweichen. Ausgehend von der sich etablierenden Starkultur der
Oper und dem sich daran anschließenden Divenkult im Stummilm,
blickt diese Nummer auf ein breites Spektrum an Text- und Bilderwelten und zeigt daran Verbindungslinien zwischen Geschlecht, Italianità
und (anti-)bürgerlicher Kultur bis in die unmittelbare Gegenwart auf.
Zibaldone kreuzt dabei regionale mit nationalen und transatlantischen
Perspektiven, es stellt kanonische Werke wie die von Gioachino Rossini,
Alberto Moravia und Vittorio De Sica neuen Formen von Geschlechterinszenierungen gegenüber, wie sie u.a. die Romane von Elena Ferrante
und Melania Mazzucco oder die Filme von Ferzan Özpetek zeigen, gibt
aber auch an den Rand des Kanons gedrängten Stimmen Raum, etwa
Lesben und Schwulen in der Zeit des Faschismus.
Unser Dank für die gute Zusammenarbeit geht wie immer an alle Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern, aber auch an
jene, die Kontakte hergestellt, Bilder besorgt und Rechte freigegeben
haben. Den Leserinnen und Lesern wünschen wir an dieser Stelle viel
Freude mit dem neuen Heft!
8
Meme «Iss alles auf, sonst kommt das Gender!»
(Quelle: http://bgreport.org)
Eva Nossem
Der seltsame Fall des italienischen gender
«Il gender» – seit einiger Zeit ist dieses Schlagwort auch außerhalb
englischer Sprachräume in aller Munde und wird in Italien vor allem
in den letzten etwa zehn Jahren lautstark diskutiert. Dabei befeuern
vor allem Gegner_innen hitzige Debatten und zeigen eine recht kreative Verwendung des Begrifs: Von «teoria del gender» oder «ideologia
del gender» ist die Rede, von der «agenda gender», von einer «crociata
del gender», oder einfach nur kurz von «il gender», das nahezu für
alles Böse in der Welt zu stehen scheint. Es bilden sich «no-gender»Bewegungen und deren jüngste Errungenschaft, der «no-gender»-Bus,
tourte im September 2017 oiziell als «Bus della Libertà» durch verschiedene Städte Italiens und macht mit seinem Slogan «Buben sind
männlich | Mädchen sind weiblich | Die Natur kann man nicht wählen | Stopp dem Gender in der Schule» Stimmung gegen «gender».
Der «no-gender»-Bus (Quelle: www.ansa.it, 28.9.2017)
Der vorgesehene Stopp in Neapel wurde von der Stadtverwaltung wenige
Stunden vor Ankunft des Busses nach Protesten abgesagt. Während seines
Stopps in Bologna wurde der «no-gender»-Bus von einer kleinen Anzahl
Unterstützer_innen begleitet, die von einem größeren Polizeiaufgebot
von den etwa 100 Gegendemonstrierenden getrennt wurden.1
10
Eva Nossem
Der «no-gender»-Bus in Bologna (La Repubblica, 27.9.2015,
Bologna-Lokalteil, Foto: © Michele Lapini )
Die «no-gender»-Protestierenden sehen sich als «Verteidiger der traditionellen Familie» und wehren sich gegen die befürchtete Umerziehung
der Kinder durch das «gender» in der Schule. Für die Gegendemonstrierenden spricht die Lehrerin Valentina Millozzi: «Es gibt eine Erziehung
hin zum Respekt der Unterschiede und eine Erziehung gegen Homophobie. Wenn das dieses ‹gender› sein soll, dann sind wir stolz, es zu
unterrichten».2
Wie es scheint, sind sich also beide Seiten nicht ganz einig, was «gender» überhaupt zu bedeuten hat. Ein Blick in die üblichen italienischen
Gebrauchswörterbücher hilft nur bedingt weiter, denn meist sind keinerlei
Einträge für «gender» vorhanden. Fündig wird man im Zingarelli 2018;
allerdings wird unter dem Eintrag «gender» nur die Übersetzung «genere»
und der Verweis auf eine spezielle Bedeutung geliefert, nämlich «Zugehörigkeit zum einen oder anderen Geschlecht».3
Der seltsame Fall des italienischen gender
11
Handelt es sich bei «gender» und «genere» also einfach um (partielle)
Synonyme? Und wieso braucht es dann überhaupt das englische Wort,
wenn es doch die italienische Übersetzung gibt? Geht es darum, dass «gender» das Bedeutungsspektrum im Vergleich zu «genere» auf die geschlechterbezogenen Inhalte einschränkt?
Auch im Vocabolario Treccani werden «gender» und «genere» synonymisch gebraucht und mit Geschlechtszugehörigkeit erklärt. Zusätzlich
wird auf die Unterscheidung zwischen biologischem und soziokulturellem
Geschlecht hingewiesen und «gender» letzterem zugeordnet. Treccani liefert als Gebrauchsbeispiel «gli studi sul gender». Geht die Diskussion um
«gender» also auf den universitären Kontext zurück? Es handelt sich hierbei
allerdings um eine unübliche Formulierung: Im italienischen universitären
Kontext werden die gemeinten interdisziplinären Ansätze entweder übersetzt als «studi di genere» oder aber mit der englischen Form «Gender Studies» bezeichnet.
Deinition «gender» im Vocabolario Treccani (www.treccani.it)
Eine häuig mit den US-amerikanischen Gender Studies in Verbindung
gebrachte Figur ist Judith Butler, die als eine der Hauptvertreterinnen gilt
und auch von den «no-gender»-Kreisen massiv angegrifen wird. In einigen ihrer bekanntesten Werken verwendet sie «gender» bereits im Titel.
Wird «gender» also vielleicht als Fachbegrif auch im Italienischen beibe-
12
Eva Nossem
halten? Nicht unbedingt, wie die Übersetzungen ihrer Werke zeigen: So
wurde Undoing Gender (2004) zunächst zu La disfatta del genere (2006, P.
Mafezzoli) und später zu Fare e disfare il genere (2014, F. Zappino) und
Gender Trouble (1990) zu Questione di genere (2013, S. Adamo). Aufällig
ist die recht späte Übersetzung dieser fundamentalen Werke ins Italienische. Bevor einige dieser Werke einem nicht-englischsprachigen Publikum
zugänglich wurden, geisterte aber schon das «fantasma del gender» durch
italienische Debatten. Woher aber kommt es, wenn nicht von den Wissenschaftler_innen selbst?
Entstehung der Anti-Gender-Diskurse/Anti-Gender-Kampagnen
In den USA, wo sich ein großer Teil dieser Forschungsansätze entwickelte,
formte sich schnell Widerstand gegen Gender Studies und ähnliche Ansätze der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlecht(errollen).
Vor allem verbreitete 1995 die erzkatholische Autorin Dale O’Leary ein
Pamphlet mit dem Titel Gender: he Deconstruction of Women, in dem sie
Simone de Beauvoirs hese umdrehte und behauptete, als Frau werde man
geboren, nicht dazu gemacht, und in diesem und anderen Werken gegen
die «Gender-Agenda» ins Feld zog. Verbündeten für ihren Kampf gegen
das «gender» suchte und fand sie im Vatikan, v.a. im damaligen Kardinal
Ratzinger, der daraufhin die Erstellung eines Glossars «ambiguer Termini
zum hema Familie» in Auftrag gab, das im Jahr 2006 im italienischen
Original erschien.4
Speziell die darin enthaltenen Texte von Jutta Burggraf, Beatriz Vollmer de Colles und Óscar Alzamora Revoredo legten den ideellen und
auch terminologischen Grundstein für den katholischen Feldzug gegen
die «Gender-Ideologie». Im Jahr 2008 grif Ratzinger als Papst den Begrif erstmals in einer öfentlichen Rede auf und machte den Kampf gegen «gender» zu einem Anliegen des Vatikans. Wenngleich es sich hierbei
nicht um die erste Verwendung des englischen Begrifs im Italienischen
handelt, so platzierte Ratzinger «gender» jedoch so strategisch, dass er
damit eine maximale Aufmerksamkeit erreichte und so den Grundstein
Der seltsame Fall des italienischen gender
13
legte für «no-gender»-Diskurse in der italienischen Öfentlichkeit, die
bis hin zu deren jüngster Manifestation reichen, dem oben dargelegten
«no-gender»-Bus.
Doch wogegen richtet sich die Anti-Gender-Kampagne des Vatikans
eigentlich und was versteht der Vatikan unter «gender»? In der 2007
erschienenen deutschen Übersetzung erklärt Burggraf ihr Verständnis
dieses neuen «genders» und spricht von einer geplanten «Kulturrevolution»: Gender hieße nun, dass sich «der Mensch sein psycho-soziales
Geschlecht auswählen und […] sich z.B. für die Heterosexualität, die
Homosexualität, die Bisexualität oder auch die lesbische Beziehung,
ja sogar auch für die Transsexualität entscheiden und damit das biologische Geschlecht wechseln» könne (S. 289). Burggraf vermischt Geschlechteridentitäten und Sexualitäten und dehnt den Begrif «gender»
noch weiter aus: «Einige Gender-Ideologen treten für die Annahme
von vier, fünf, oder gar sechs Geschlechtern unterschiedlicher Art ein:
männlich-heterosexuell, weiblich-heterosexuell, homosexuell, lesbisch,
bisexuell und indiferent» (S. 290) und vermutet eine zugrunde liegende Agenda, nämlich «die Fruchtbarkeit zu reduzieren» (ibid.) und die
traditionelle Familie zu zerstören.
Auch Vollmer de Colles spricht von einer «Kulturrevolution, die die
Wichtigkeit der Geschlechtsunterschiede negiert» (S. 297) und sieht
einen zugrunde liegenden Plan: «Genderfeministinnen sind unter anderem daran interessiert, die Sprache, Familienbeziehungen, Fortplanzung, Sexualität, Arbeit, Religion, den Staat und die Kultur im Allgemeinen zu dekonstruieren. Diferenz sei zu vermeiden, wenn nicht gar
zu beseitigen» (S. 298).
Alzamora Revoredo geht noch weiter: «Die ‹Gender-Feministinnen›
vertreten nachdrücklich die ‹Dekonstruktion› der ‹sozialbedingten Rollen› von Mann und Frau» und setzten sich ein für «die ‹freie Wahl› in
Fragen der Reproduktion und für den Lebensstil» (S. 310). Er erklärt:
«‹Freie Wahl der Reproduktion› ist hier der Schlüsselbegrif für Abtreibung, während ‹Lebensstil› das Engagement für Homosexualität und
alle anderen Formen der Sexualität außerhalb der Ehe meint» (ibid.).
14
Eva Nossem
Bedeutungsverschiebung hin zum Schreckgespenst ‹gender›
Für die genannten katholischen Autor_innen geht «gender» somit weit über
«genere» oder über die teilweise synonymisch verwendeten Begrife «soziales
Geschlecht» oder «sexuelle Identität» hinaus und beinhaltet einen Plan zur
Zerstörung der Familie, zur Abschafung von ‹Mann› und ‹Frau›, von Religion, Arbeit, Staat und Kultur; es zielt auf Atheismus, Homosexualität, Lesbismus, Bisexualität, Transsexualität, außereheliche Sexualität, Abtreibung,
u.v.m. – somit ist das Schreckgespenst, das «fantasma del gender», geboren.
Einige der dem «gender» zugeschriebenen Aspekte erinnern eher
an die politisch-aktivistisch geladenen Inhalte von «queer» und an
die Ausrichtung queerer Aktivist_innen. Richtet sich die Kritik also
eigentlich gegen «queer» anstatt gegen «gender»? Und ist «gender» vielleicht der leichter zu gebrauchende Begrif im Vergleich zu «queer», das
durch seine stark negativen Konnotationen als Schimpfwort und seine
«schwul» und «pervers» umfassenden semantischen Inhalte schwerer
über die Lippen geht?
Das ohnehin schon breit gefächerte, «gender» beigemessene Bedeutungsspektrum wird durch weitere angstschürende Zuschreibungen durch
ultrakonservative Gruppierungen weiter aufgebläht und richtet sich, wie
der zu Beginn aufgeführte «no-gender»-Bus, gegen «Gender in der Schule».
Verschiedene «anti-gender»-Gruppen unterstellen dem «gender» gar Absurditäten, wie beispielsweise alle Schulkinder zu Transgender ‹umerziehen› zu
wollen und Lehrer_innen dazu anzuhalten, Schulkinder im Unterricht zu
masturbieren.5
Durch den noch immer beträchtlichen Einluss der katholischen Kirche auf den italienischen Staat gelingt es der «no-gender»-Bewegung in
Italien nicht nur, sich über die Medien Gehör zu verschafen, sondern auch
beträchtliche politische Erfolge für sich zu verbuchen, die der Philosoph
Lorenzo Bernini so zusammenfasst:
Seit 2013 ist es der Kampagne gegen die «Gender-Ideologie» in Italien geglückt, die parlamentarische Abstimmung über das Gesetz gegen Homophobie zu blockieren, die erste Regierungsintervention zur Antidiskriminierungserziehung in den Schulen zu boykottieren und ein diskriminierendes
Der seltsame Fall des italienischen gender
15
Gesetz zu den Lebenspartnerschaften verabschieden zu lassen, das lesbischen und schwulen Paaren den Status als Familie abspricht.6
Können wir also feststellen, dass die Kritik an Gender Studies Italien bereits
vor den Gender Studies selbst erreichte? Nicht unbedingt, was die akademische Auseinandersetzung betrift, jedoch in gewissen Sinne ja, nämlich in
Bezug auf die Diskussion in der italienischen Öfentlichkeit. Die im öfentlichen Diskurs sehr präsenten Aussagen des Vatikans wurden sicher breiter
diskutiert als die kritisierten akademischen Ansätze aus den USA, die bis vor
wenigen Jahren einer italienischen Leserschaft fast ausschließlich im englischen Original zur Verfügung standen. Francesco Antonelli, Giada Sarra und
Roberta Sorrentino kritisieren 2012 das gerade im Vergleich zu den USA
sehr gering ausfallende Lehrangebot in Gender Studies an italienischen Universitäten und beklagen das Fehlen «gender»-speziischer Studiengänge.7
Aktuell (September 2017) listet das Centro Interdisciplinare di Ricerche e
Studi delle Donne e di Genere der Universität Turin etwa 20 Abteilungen und
Zusammenschlüsse an italienischen Universitäten auf, die sich den hemen
Gender Studies und Women’s Studies widmen. Selbstverständlich gab es
schon vor den «no-gender»-Debatten Gender Studies an italienischen Hochschulen, und selbstverständlich gab es auch schon aktivistische und akademische Auseinandersetzungen mit Geschlechteranliegen vor der Verbreitung
US-amerikanischer Gender Studies à la Butler und Co. Allerdings kann man
durchaus behaupten, dass ältere Ansätze a) insgesamt weniger Aufmerksamkeit aus nicht-akademischen und nicht an diesen inhaltlichen Fragen interessierten Kreisen erfuhren, b) nicht mit vergleichbaren Kampagnen bekämpft
wurden, und c) nicht Kritik ausgesetzt waren, die rund um einen aufgeblähten Kernbegrif wie «gender» aufgebau(sch)t wurde.
Dekonstruktion des Schreckgespensts ‹gender›
Bernini zeigt in seinem Vortrag «he ‹teoria del gender› in Italy» verschiedene Möglichkeiten auf, der «no-gender»-Kampagne entgegenzutreten
und hinterfragt, wofür «gender» eigentlich steht: Eine von verschiedenen
16
Eva Nossem
Verbänden und bekannten Intellektuellen vertretene Position als Antwort
auf die Kritik an der «teoria del gender» ist der Widerspruch, dass diese
als solche überhaupt nicht existiere. Dieser Standpunkt wird von anderen
Akteuren wie beispielsweise einigen queeren Gruppierungen als zu defensiv und konziliant abgelehnt. Sie setzen sich den «no-gender»-Kampagnen
aggressiver entgegen:
Queere Bewegungen beanspruchen proaktiv die Existenz einer «teoria del
gender», die ihre politische Agenda inspiriert. Queere Bewegungen sehen
den aktuellen Streit um Gender als Chance, öfentlich ihre militante Art
zu unterstreichen, die darauf zielt, sich Zwangsheterosexualität und Neoliberalismus zugleich durch Subversion der traditionellen Familien- und
Geschlechterrollen entgegenzusetzen.8
Es inden sich auch zahlreiche Bestrebungen, der «no-gender»-Panikmache
mit Ironie zu begegnen und die «no-gender»-Positionen weiter zu überzeichnen und somit lächerlich zu machen. Solche Ansätze blühen in den
Facebook-Seite «Il Gender»
Der seltsame Fall des italienischen gender
17
sozialen Medien; es sei beispielsweise die speziell angelegte Facebook-Seite für die iktive Person «il Gender» genannt: «Erzittert!! Erzittert!!!! Das
schreckliche GENDER ist da!!! Das kinderfressende Monster, das zuerst
ihr Geschlecht ändert und sie dann aufrisst!!!»9
Auch zahllose Memes im Internet nehmen den Schrecken des «genders» aufs Korn:
«Hilfe! Das GENDER kommt»
(Quelle: https://pbs.twimg.com)
«Ich mache irgendwas. Und ich sehe
GENDER» (www.signorponza.com)
Bernini selbst und weitere Intellektuelle fühlen sich queeren Positionen nahe, kritisieren jedoch die mangelnde Lösungsorientiertheit und
fehlende Bereitstellung von Wissen. Sie treten den «no-gender»-Kampagnen entgegen, indem sie diese zu demystiizieren suchen und die
verbreiteten Unwahrheiten durch Informationen widerlegen.10 Auf die
Frage nach der Bedeutung kommt Bernini zu dem Schluss, «gender»
sei
ein von der katholischen Kirche erfundenes rhetorisches Werkzeug zur
Mobilisierung konservativer und traditionalistischer Akteure gegen die
Stärkung der Rechte von LGBTI-Personen, gegen die Forderungen queerer Bewegungen und gegen die Errungenschaften des Feminismus.11
18
Eva Nossem
Auch Sara Garbagnoli versteht «gender» als
wirksames, vom Vatikan eingesetztes rhetorisches Mittel, um zugleich
sowohl Analysen und Forschungen, die Formen der Naturalisierung sexueller Normen untersuchen, zu delegitimisieren als auch die politischen
Bemühungen feministischer und LGBT/Q-Bewegungen, die Formen materieller und symbolischer Herabwürdigung sexueller Minderheiten entgegenwirken und diese reduzieren sollen.12
All diese unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten verweisen auf verschiedene zugeschriebene Bedeutungsinhalte, erklären aber noch nicht,
warum in diesen Fällen «gender» verwendet wird und nicht «genere».
Der Hauptgrund für den Gebrauch von «gender» liegt ofensichtlich in
seiner Resemantisierung als fremder, verschleierter und regelrecht perverser Plan zur gesellschaftlichen Zerstörung. Der aktuelle Papst Bergoglio
warnt 2014 gar vor der «ideologischen Kolonialisierung» durch «gender».13
Die Verwendung eines nicht-italienischen Begrifs unterstreicht also die
gewünschten Konnotationen von Gefahr durch Fremdheit und Invasion
von außerhalb, und trägt zur Verschleierung und Mystiizierung durch
eingeschränktes Verständnis des fremdsprachlichen Terminus bei. Bernini
sieht die Verwendung von «gender» als strategisch: «Die Verwendung eines
Fremdwortes schaft Unsicherheit und ruft imperialistische kulturelle Geister hervor, als ob eine gefährliche ‹teoria del gender› aus den USA dabei
ist, die in die europäische Vergangenheit eingeschriebenen christlichen Traditionen auszulöschen».14
So brauchten die «no-gender»-Kampagnen scheinbar ein fremdklingendes, in seiner Bedeutung unklares Schlagwort, um ihre Inhalte wirksam
anbringen zu können, und importierten so einen Begrif, den die attakkierten Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen selbst im Italienischen
überhaupt nicht verwenden. Durch eine klare Benennung mit dem ursprünglich recht synonymischen und in anderen Diskursen als Übersetzung gebrauchten «genere» wäre es der «no-gender»-Bewegung nicht gelungen, mit Konnotationen der Fremdartigkeit und der Verschleierung
die gewünschte Angst zu schüren. Der seltsame Fall, dass das englische
Der seltsame Fall des italienischen gender
19
«gender» in den italienischen Wortschatz Einzug gehalten hat, obwohl
eine bereits passende italienische Übersetzung vorlag und auch verwendet
wurde, ist also auf die Resemantisierung und Schafung des «fantasma del
gender» durch vom Vatikan angetriebene «no-gender»-Bewegungen zurückzuführen.
Anmerkungen
http://www.bolognatoday.it, 02.10.2017.
«Esiste un’educazione al rispetto delle diferenze e un’educazione contro
l’omofobia, se questo è ‹gender› siamo orgogliosi di insegnarlo». http://www.
ilfattoquotidiano.it, 27.9.2017.
3
«appartenenza all’uno o all‘altro sesso». https://u.ubidictionary.com/viewer/#/
dictionary/zanichelli.lozingarelli16; 02/10/2017.
4
Pontiicio consiglio per la famiglia, Lexicon: termini ambigui e discussi su famiglia, vita e questioni etiche, Bologna, EDB, 2006.
5
Bernini, Lorenzo. «Giuditta, maggiordomo tuttofare», S. 3, Vortrag auf dem
Workshop des Queer Italia Network «Translating Queer Historicities: exploring queer phenomena across languages, cultures and time», London,
24/06/2017.
6
«Dal 2013, la campagna contro l’«ideologia del gender» in Italia è riuscita a
bloccare la discussione parlamentare sulla legge contro l’omofobia, a boicottare il primo intervento governativo di educazione antidiscriminatoria nelle
scuole, a far approvare una legge sulle unioni civili discriminatoria, che nega
alle coppie lesbiche e gay lo statuto di famiglia.» Bernini 2017, S. 2.
7
Antonelli, Francesco, Giada Sarra und Roberta Sorrentino. «Il sesso mancante
nell’università italiana». ingenere.it, 18/07/2013, n. pag.
8
«queer movements proactively claim the existence of «teoria del gender»,
which […] inspires their political agenda. Queer movements take the current
conlict on gender as a chance to publicly reassert their militant style, aimed
at countering both compulsory heterosexuality and neoliberalism through
the subversion of traditional family and gender roles.» Bernini, Lorenzo. «he
1
2
20
Eva Nossem
‹teoria del gender› in Italy», S. 4, Vortrag in der Vortragsreihe «‹Ideologies›
and heories of Gender in Europe», Leicester, 20/05/2016.
9
«Tremate!! Tremate!!!! e’ arrivato il terribile GENDER!!! il mostro mangiabambini che prima cambia il loro genere e poi li divora!!!» https://www.facebook.com/ilGender/; 02/10/2017.
10
Bernini 2016, S. 4-5.
11
«a rhetoric tool invented by the Catholic Church to mobilize conservative
and traditionalist actors against the advancement of lesbian, gay, transgender,
bisexual and intersex people’s rights, the claims of queer movements, and the
achievement of feminism.» Bernini 2016, S. 5.
12
«eicace dispositivo retorico che il Vaticano ha messo a punto per delegittimare, ad un tempo, le analisi e le ricerche che studiano le forme di naturalizzazione delle norme sessuali e le rivendicazioni politiche portate dai
movimenti femministi e lgbt/q per contrastare e ridurre le forme di inferiorizzazione materiale e simbolica subite dai minoritari sessuali.» Garbagnoli,
Sara. «L’‹ideologia del genere›: l’irresistibile ascesa di un’invenzione retorica
vaticana contro la denaturalizzazione dell’ordine sessuale» AG About Gender
Vol. 3 No. 6 (2014), n. pag.
13
http://espresso.repubblica.it/attualita/2016/10/04/news/gender-cosa-c-edietro-le-parole-di-papa-francesco-1.284857; 05/10/2017.
14
«he usage of a foreign word provokes uncertainty and evokes imperialistic cultural ghosts, as if a dangerous ‹teoria del gender› from the US is about to erase
Christian traditions engraved in the European past». Bernini 2016, S. 11.