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1 Die «siegenden Geschlagenen». Kontext und Verlauf der Landesstreikbewegung Adrian Zimmermann Robert Grimm brachte bereits ein halbes Jahr nach dem Abbruch des Landesstreiks dessen Wirkung auf den Punkt: «... schien es im ersten Augenblick, als ob Partei und Gewerkschaften den Kampf verloren hätten, so waren sie in Wirklichkeit die siegenden Geschlagenen. Geschlagen insofern, als sie im Interesse der Selbsterhaltung und der Weiterentwicklung ihrer Kämpfe den Streik abbrechen mussten, siegend aber, weil kurze Zeit darauf (…) eine Reihe wichtiger Forderungen bewilligt werden mussten (…), nicht aus Liebe zum Proletariat, sondern aus bleicher Furcht vor der möglichen Wiederholung der Massenaktionen.»1 Dieses Ergebnis des Landesstreiks ist massgeblich aus der Wechselwirkung von innenpolitischen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und internationalem Kontext zu erklären. Denn die schärfste schweizerische innenpolitische Konfrontation seit 1847 fand gleichzeitig statt wie die Revolutionen in zwei Nachbarländern. Landesstreikbewegung und Landesstreik Unter «Landesstreikbewegung» werden hier neben den Novemberstreiks von 1918 auch die übrigen Massenaktionen der schweizerischen Arbeiterbewegung in den Jahren 1917-1919 verstanden. Die Vorgeschichte der Landesstreikbewegung begann schon kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit der Gründung der Zentralen Notstandskommission der Schweizerischen Arbeiterschaft, an der sich neben Gewerkschaftsbund und Sozialdemokratischer Partei anfänglich auch die Konsumvereine beteiligten. Der Kampf gegen die vom Krieg auch in der neutralen Schweiz ausgelöste Verschlechterung des Lebensniveaus der Lohnabhängigen erreichte am 30. August 1917 einen ersten Höhepunkt mit den landesweit während der Arbeitszeit durchgeführten Teuerungsdemonstrationen. Ein Nachspiel der Landesstreikbewegung 1 Robert Grimm: «Zum Geleite», in: Der Landesstreik-Prozess gegen die Mitglieder des Oltener Aktionskomitees vor dem Militärgericht 3 vom 12. März bis 9. April 1919, Bern: Unionsdruckerei 1919, S. XIII 2 waren die erfolgreiche Achtstundenbewegung im Frühling 1919 und die Auguststreiks 1919 in Basel und Zürich. Auslöser der Landesstreikbewegung waren im Dezember 1917 und Januar 1918 die schliesslich zurückgezogenen Pläne des Bundesrats, eine Zivildienstpflicht für den Mehranbau von Nahrungsmitteln einzuführen. In einer landesweiten Versammlungswelle protestierte die Arbeiterschaft gegen dieses Projekt, worauf der Bundesrat Truppen in Bereitschaft stellte. In einer Sitzung beschlossen die Leitungen von Partei und Gewerkschaftsbund am 4. Februar 1918 die Einsetzung eines gemeinsamen Ausschusses, der kurz «Oltener Aktionskomitee» genannt wurde. Anfang März 1918 verabschiedete eine weitere gemeinsame Sitzung von Partei und Gewerkschaften ein Konzept für die Vorbereitung eines befristeten Generalstreiks als Druckmittel. Bereits in der Milchpreiskampagne vom April 1918 kam diese Konzeption mit einem Teilerfolg zum Einsatz. Als noch wirksamer erwies es sich im Juli und August 1918. Am 27. und 28. Juli 1918 fand in Basel der Erste Allgemeine Arbeiterkongress statt. Er umfasste Delegierte der Partei- und Gewerkschaftssektionen. Der Kongress beschloss, eine verbesserte Lebensmittelversorgung, die Aufhebung verschiedener repressiver Massnahmen der Behörden und eine Nachteuerungszulage für das Bundespersonal notfalls mit einem allgemeinen Landesstreik durchzusetzen. Die Drohung wirkte – der Bundesrat machte bald weitgehende Zugeständnisse. Zur Eskalation kam es erst später: Am 7. November 1918 wurden Bern und Zürich aufgrund eines Bundesratsbeschlusses vom Vortag militärisch besetzt. Begründet wurde dies äusserst vage mit «bolschewistischen» Umsturzplänen. Wenige Tage später leitete der Bundesrat eine Untersuchung ein, welche nachträglich die Beweise für diese Behauptungen liefern sollte. Im Februar 1920 wurde diese Untersuchung, da ergebnislos, klammheimlich eingestellt. Für das Oltener Aktionskomitee kam das Truppenaufgebot überraschend: Noch am 6. November hatte das Komitee zwar beschlossen, die Einleitung einer neuen Bewegung zu prüfen. Dies allerdings mit einem viel längeren Zeithorizont. Schon am 7. November selbst trat das Komitee erneut zusammen und beschloss, auf Samstag, 9. November 1918 zu einem 24-stündigen Proteststreik gegen das Truppenaufgebot aufzurufen. Nach dem erfolgreichen Proteststreik beschloss die Arbeiterunion Zürich, entgegen der Weisung des Aktionskomitees den Streik auf eigene Faust weiterzuführen. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit dem Bundesrat und der 3 gewaltsamen Auflösung einer Demonstration in Zürich beschloss in der Nacht vom 10. auf den 11. November eine gemeinsame Sitzung des Oltener Aktionskomitees mit den Leitungen von Gewerkschaftsbund, Partei und Parlamentsfraktion den allgemeinen Landesstreik auszulösen. Der Streik begann um Mitternacht 11./12. November. Bereits in der Nacht vom 13. zum 14. November fiel der Beschluss, den Streik um Mitternacht 14./15. November abzubrechen. Das Risiko einer gewaltsamen Eskalation, die von der Arbeiterschaft nicht zu gewinnen wäre, wurde als zu hoch eingestuft. Der internationale Kontext in der Strategie der Landesstreikbewegung In der im Februar und März 1918 wesentlich von Grimm erarbeiteten Strategie der Landesstreikbewegung spielt der internationale Kontext eine wichtige Rolle. Das Konzept schlug vor, sich vorerst auf einen befristeten landesweiten Generalstreik als letztes Mittel zu beschränken. Denn bei einem unbefristeten Generalstreik bestehe immer das Risiko eines Bürgerkriegs. Dieser berge, solange «in den angrenzenden Ländern nicht eine starke revolutionäre Bewegung vorhanden ist, wie beispielsweise zur Sonderbundszeit», das Risiko einer ausländischen Militärintervention in sich. Diese Gefahr könne aber auch bis zu einem gewissen Grad genutzt werden: «Inwieweit der unbefristete Generalstreik als Droh- und Pressionsmittel wirkt, ist bedingt durch das Interesse der Bourgeoisie an der Erhaltung des Staates. Dieses Interesse (…) kann von der Arbeiterschaft ausgenützt werden, indem sie (…) die Bourgeoisie zwingt, dem Proletariat Zugeständnisse zu machen, um der Intervention des Auslandes vorzubeugen.»2 Vieles spricht dafür, dass im November 1918 das Oltener Aktionskomitee genau diese Wechselwirkung des veränderten internationalen Kontexts mit den innenpolitischen Kräfteverhältnissen nutzen wollte: Bereits am 6. November erteilt es Grimm den Auftrag, ein Gutachten über die Aussichten des Kampfs um die Macht zu erstellen. Noch klarer in diese Richtung deutet der Beschluss zur Auslösung des unbefristeten Landesstreiks am 10./11. November: Den frontalen Kampf um die ganze Macht sah das Komitee zwar kaum als erfolgreich an. Die neue Situation – Revolution in Deutschland und Österreich – ermöglichte 2 [Robert Grimm]: Entwurf zur Generalstreikfrage [sog. 'Bürgerkriegsmemorial']. 16.02.1918, Ar SGB, Oltener Aktionskomitee / Generalstreik 1918, G 190/3, S. 7. 4 jedoch mehr Druck aufzusetzen. Die internationale revolutionäre Welle… Die gesamte Landesstreikbewegung war Teil der internationalen revolutionären Welle 19171920, die mit der russischen Februarrevolution beginnt. Frappant war die Gleichzeitigkeit der Ereignisse im November 1918: Der Proteststreik vom 9. November 1918 fand am gleichen Tag statt wie die Revolution in Berlin, der Landesstreik begann einen Tag nach der Revolution in Wien und dem Ende des Ersten Weltkriegs. Allerdings stellte das Aktionskomitee damals auch fest, dass in den Staaten der Entente keine revolutionäre Strömung vorhanden war. Eine zentrale Passage im Aufruf zum Landesstreik sprach denn auch dem Bundesrat mit einem Hinweis auf die geänderte internationale Lage das Misstrauen aus: «In der grossen Zeit, da im Auslande (…) die Kronen über die Strasse rollen, (…), beeilt sich der Bundesrat (…), den Belagerungszustand zu verhängen und das Volk unter die Fuchtel der Bajonette und Maschinengewehre zu stellen. (…) Eine solche Regierung beweist, dass sie unfähig ist, der Zeit und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.» Deshalb sei eine «ungesäumte Umbildung der bestehenden Landesregierung unter Anpassung an den vorhandenen Volkswillen» notwendig. Diese neue Regierung solle das bekannte Minimalprogramm verwirklichen.3 … und die ebenso internationale Konterrevolution Warum erliess der Bundesrat ein Truppenaufgebot, das derart mit dem demokratischen Aufbruch im nördlichen und östlichen Nachbarland kontrastierte? Die Antwort: nicht nur die revolutionäre Welle, sondern auch die konterrevolutionären Tendenzen waren international. Einerseits drängte die Armeespitze um General Wille und Generalstabschef Sprecher den Bundesrat zur Repression. Deren Sympathie für die Militärmonarchien war ein offenes Geheimnis. Andrerseits übte die Diplomatie der Westmächte erheblichen Druck aus, «bolschewistische Umtriebe» in der Schweiz zu unterbinden. Deshalb beschloss der Bundesrat u.a. die Ausweisung der Sowjetmission. Angeheizt wurde das Klima zudem durch die gezielte Verbreitung von Gerüchten und Falschmeldungen. 5 Besonders spürbar war der Einfluss der Entente in den französisch- und italienischsprachigen Landesteilen. Das internationale Umfeld trägt somit wesentlich zur Erklärung der unterschiedlichen Intensität des Landesstreiks in den Sprachregionen bei. Ernest-Paul Graber, sozialdemokratischer Nationalrat und Redaktor aus La Chaux-de Fonds, dazu in seinem Votum am 2. Allgemeinen Arbeiterkongress: « Vous Suisses allemands, vous subissiez, au moment surtout de la grève générale, l'influence et les effets des révolutions allemande et autrichienne, tandis que nous, Suisses romands, nous subissions malheureusement dans la bourgeoisie le contre-coup de la victoire de l'Entente.»4 Der Druck der Westmächte auf den Bundesrat war ein Ausdruck der scharfen Rechtswende, die diese Regierungen am Kriegsende vollzogen. Otto Bauer, der wichtigste Vordenker der österreichischen Sozialdemokratie, analysiert dies wie folgt: «Der Sieg der Westmächte über die Mittelmächte (…) war die grösste und die blutigste bürgerliche Revolution der Weltgeschichte. (…) Revolutionär, solange sie dem Mitteleuropa der Habsburger und Hohenzollern gegenüberstand, wurde die Bourgeoisdemokratie des Westens konterrevolutionär, sobald sie sich der proletarischen Revolution gegenübersah.»5 Ein Schüler Otto Bauers, Adolf Sturmthal, veröffentlichte 1927 die einzige grössere zeitgenössische ausländische Analyse des Landesstreiks. Sturmthal erklärte die Reaktion des schweizerischen Bürgertums auf die Forderungen der Arbeiter aus genau diesem gesamteuropäischen Zusammenhang: «Alles, was in der Arbeiterschaft den Eindruck wachrufen musste, es gelte nun den Brüdern in Deutschland, Russland und Österreich zu folgen, eben das musste in der Bourgeoisie den Gedanken erzeugen, (…) jedes Entgegenkommen (…) würde als ein Symptom der Schwäche ausgelegt werden. Es war in der Wahrheit die Angst, die die Bourgeoisie dazu trieb, die starke Hand zu zeigen (…).»6 Fazit 3 An das arbeitende Volk der Schweiz! Bern, 11. November 1918. Protokoll des II. Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses. Sonntag, den 22. und Montag den 23. Dezember 1918 im Volkshaus Bern, Bern: Unionsdruckerei 1919, S. 20. 5 Otto Bauer: «Die österreichische Revolution» [1923], in: Otto Bauer Werkausgabe, Bd. 2, Wien: Europaverlag 1976, S. 488-866 [Werkausgabe, Bd. 2], S. 632 und 641. 6 Adolf Sturmthal: "Die Novembertage 1918 in der Schweiz", in: Kampf 20 (1927), Nr. 1, S. 30. 4 6 Die Interaktion von innenpolitischen Kräfteverhältnissen und aussenpolitischem Kontext spielte während der ganzen Landesstreikbewegung eine entscheidende Rolle – und dies war den Akteuren auf beiden Seiten sehr bewusst. Die Mitteleuropäische Revolution 1918 weckte gleichzeitig grosse Ängste im Bürgertum und grosse Hoffnungen in der Arbeiterschaft. Als konterrevolutionäre Präventivmassnahme bot der Bundesrat in diesen Tagen Truppen auf. Das Oltener Aktionskomitee antwortete (nach dem eintägigen Warnstreik) mit der Aufnahme des Kampfs für eine Umbildung der Regierung. Die neue Regierung sollte ein umfassendes Reformprogramm für mehr Demokratie, soziale Sicherheit und planvolle Lenkung der Wirtschaft verwirklichen. Dieser sofortige radikale Macht- und Politikwechsel liess sich zwar nicht durchsetzen. Als Machtdemonstration war der Landesstreik dagegen bereits kurzfristig, vor allem aber in den nächsten drei Jahrzenten erfolgreich. Auch beim Tempo der weiteren Entwicklung war neben der Konjunktur das internationale Umfeld jeweils ein entscheidender Faktor. So begünstigte etwa die Bedrohung durch die faschistischen Regimes, die sich aus den konterrevolutionären Bewegungen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatten, und vor allem deren Niederlage schliesslich die Herausbildung eines stabilen Klassenkompromisses in der Schweiz.