Heft 75/2017
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Rezensionsaufsätze
Essay
Michael J. Thompson.
Das Scheitern des Anerkennungsparadigmas in der neueren Kritischen Theorie
1
Vorbemerkungen
Die Kritische Theorie hat sich in den vergangenen dreißig Jahren durch den Einfluss neuer
Ideen, die den ursprünglichen Vorstellungen und Annahmen der kritischen Theoretiker der
ersten Generation entgegengesetzt sind, entscheidend verändert. Diese neueren kritischen
Theoretiker befassen sich mit Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Gerechtigkeit und
Demokratietheorien. Sie scheinen kaum noch interessiert am handfesteren, tiefer gegründeten
und radikaleren Analyseprojekt von Mechanismen sozialer Herrschaft, von Charakterdeformierung und kognitiver und erkenntnistheoretischer Gewalt, die die beobachtbare zunehmende
Akzeptanz bestehender Sozialformen sowie die Integration und Legitimation pathologischer
sozialer Lebensformen kennzeichnen.1 Dieser Bruch wurde einerseits durch eine Hinwendung
zu pragmatischen Themen bewirkt und andererseits durch die Aufnahme neo-idealistischer
Ideen, die auf Kant und Hegel zurückgehen. Die Neufassung von Kritischer Theorie lief im
Kern auf die Beseitigung des marxistischen Theoriegehalts zugunsten hypothetischer selbsttransformierender Kräfte eines intersubjektiven sozialen Handelns hinaus. 2 Während Habermas
ein kantianisch-pragmatisches, auf den Diskurs basierendes Paradigma sehr erfolgreich entwickelt
und vertreten hat, gründeten Axel Honneths Überlegungen in einem neo-idealistischen Rekurs
auf hegelsche Themen in Verbindung mit pragmatischen Vorstellungen von sozialem Handeln und
von Selbst- und sozialer Transformation. Ich meine, dass diese grundlegende Richtungsänderung
für die aktuelle politischen Relevanz der Kritischen Theorie letztlich tödlich war, dass sie ihr die
potentielle Wirkmächtigkeit entzogen hat, auch wenn dies mit einem größeren professionellen
Erfolg in den etablierten intellektuellen und akademischen Kreisen einherging. Allerdings war
der Preis für diesen Erfolg sehr hoch, insofern damit die essentiellen methodologischen und
philosophischen Überzeugungen der Kritischen Theorie preisgegeben wurden.
Das Problem mit dieser theoretischen Wendung besteht darin, dass – trotz des besagten Erfolgs
in professionellen akademischen und intellektuellen Kreisen – damit dennoch kein vernünftiges
und befriedigendes Paradigma für eine kritische Theorie der Gesellschaft geschaffen wurde.
In diesem Beitrag möchte ich mich hauptsächlich mit den von Axel Honneth vorgetragenen
hegelianisch-pragmatischen Gedankengängen auseinandersetzen und die These vertreten, dass
sie die Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie nicht zu erfüllen vermögen. Meiner Ansicht
nach ist es der zentrale Fehler der Anerkennungstheorie, die Theorie der sozialen Beziehungen
von den tatsächlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen abzukoppeln; eine Theorie moralischer Entwicklung und sozialer Veränderung zu postulieren, die ungerechtfertigt ist angesichts
der tatsächlichen, wirklichen Natur des modernen sozialen Lebens – und die damit zu einem
dünnen Aufguss einer philosophischen Theorie bar jeder konkreten kritischen Wirkmächtigkeit
1 Zu einer jüngeren Art sich dem zu nähern, was derzeit als kritische Theorie durchgeht, s. Penelope Deutscher und
Cristina Lafont (eds.): Critical Theory in Critical Times: Transforming the Global Political and Economic Order. (New
York: Columbia University Press, 2017).
2 Ich habe diese These ausführlicher entwickelt in: The Domestication of Critical Theory. (London: Rowman and
Littlefield, 2016).
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und Potentialität wird. Ich will meine Kritik sogar zu der Behauptung zuspitzen, dass die Wendung zum Anerkennungsparadigma in der gegenwärtigen Kritischen Theorie das Streben nach
menschlicher Emanzipation und die Auseinandersetzung mit den modernen Macht- und Herrschaftsformen geradezu verhindert. Zugleich behaupte ich, dass damit ein Trend in den neueren
Theorien des Sozialen verstärkt wurde – der mit Habermas postmetaphysischer Akzentsetzung
begann – eine nuanciertere, ausgeklügeltere Gesellschaftskritik zu etablieren. Dafür sind, wie
ich meine, zu einem großen Teil die postmetaphysische Wende und die gleichzeitige Abkehr von
einer differenzierteren Marx-Lektüre und -Interpretation, und deren grundsätzlichen Stellenwert
für jede Kritische Gesellschaftstheorie, verantwortlich zu machen. Dies soll im weiteren Verlauf
noch näher erläutert werden. Das Versagen der Anerkennungstheorie ist aber möglicherweise gar
nicht in erster Linie ein intellektuelles oder akademisches Problem, sondern reflektiert lediglich
eine generell zu beobachtende Abschwächung der Dynamik und Lebendigkeit der kritischen
Theorietradition in unserer Zeit.
In meinem Essay möchte ich in zwei Thesen explizieren und zeigen, warum die von Axel Honneth entwickelte Anerkennungstheorie als Paradigma für eine Kritische Theorie ungeeignet ist.
Aus drei Gründen kann die Anerkennungstheorie den Status einer kritischen Gesellschaftstheorie nicht erreichen. Erstens ist sie nicht fähig, die Kräfte und Auswirkungen gesellschaftlicher
Macht ernsthaft in Frage zu stellen. Insbesondere ist sie nicht fähig, mit dem zentralen Anliegen
der kritischen Denktradition – ich habe es als die konstitutive Macht bezeichnet – sich angemessen auseinanderzusetzen. Zweitens fußt sie auf einer verkürzten Theorie des Sozialen als einer
intersubjektiv begründeten Praxis, anstatt eines strukturell und normativ begründeten Systems
funktionaler Integration. Dieser Ansatz ist also der Beharrung auf begrenzten pragmatistischen
Vorstellungen von der Gesellschaft geschuldet. Das Problem solcher pragmatistischer Ansätze
besteht mithin hauptsächlich darin, einerseits die Dimensionen von Macht und Herrschaft nicht
ausreichend wahrzunehmen und andererseits die Konformität mit den bestehenden Realitäten
geradezu zu verstärken. Indem Honneth Marx aus seiner revisionistischen kritischen Theorie
ausschließt, entschärft er sie zu einem bloßen Ideensystem. An diesen beiden Strategien muss
die Anerkennungstheorie als einer Theorie moderner Gesellschaften, mit ihren pathologischen
Impulsen und Tendenzen, scheitern.
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Essay
2 Anerkennungstheorie und Kritische Theorie
Bevor ich meine Argumente gegen die Plausibilität des Anerkennungsparadigmas als eines
brauchbaren Modells für eine kritische Gesellschaftstheorie ausführe, möchte ich zunächst auf
die wesentlichen und grundlegenden Argumente zu ihren Gunsten, die seitens ihres Hauptprotagonisten vorgetragen werden, eingehen. Honneth vertrat und verteidigte stets die These von der
Brauchbarkeit der Anerkennungstheorie im Rahmen einer kritischen Theorie der Gesellschaft,
weil er in ihr das entscheidende Kriterium einer kritischen Theorie als eines bestimmten Projektes
sah: die durch Bewusstwerdungsprozesse gesteigerte Potentialität der handelnden Subjekte die
pathologischen Dimensionen ihrer sozialen Welt mittels alternativer Vergesellschaftungs- und
Selbstentwicklungsprozesse zu transformieren. Dabei geht er davon aus, dass das moralische
Empfinden von mangelndem Respekt und von verweigerter Anerkennung in einem internen
Selbstverhältnis gründet, das von verschiedenen intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen in
den unterschiedlichen Entwicklungsstadien geformt wird. Kerngedanke dieses Ansatzes ist es,
dass die Ressourcen für eine kritische Reflexions- und Verhaltensfähigkeit in den die Moderne
konstituierenden Sozialisationspraxen begründet sind. Honneth glaubt fest daran, dass die allmähliche Emanzipation der Gesellschaft durch eine moralische Sensibilisierung erfolgen müsse.
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Ein zentrales Argument über das Wesen der Selbstformation stützt Honneths These, dass
der Anerkennung eine symbolisch-interaktionistische Dimension innewohne, die das Subjekt
mit einer Art Fähigkeit zweiter Ordnung ausstatte, vermittels der Interaktion mit Anderen sich
als ein Subjekt zu begreifen: »Ein Bewußtsein seiner selbst kann ein Subjekt nur in dem Maße
erwerben, wie es sein eigenes Handeln aus der symbolisch repräsentierten Perspektive einer
zweiten Person wahrnehmen lernt.«3 (Honneth, 1992: 120 ).
Anerkennung kann so als ein Prozess der Identitäts- und Selbstformation begriffen werden, als
ein Prozess, in dessen Verlauf das Subjekt allmählich seine praktische Identität erwirbt. Dieser
entscheidende Prozess der Identitätsformung trägt die deskriptive und normative Hauptlast der
honnethschen Theorie. Und andererseits ist Anerkennung das Medium, durch das wir durch den/
die Anderen erst zu unserem Selbstbewusstsein, unserem Selbstkonzept und zu unserer Identität
kommen. Dieser Gedanke gibt uns eine basale Vorstellung davon, wie Anerkennung und Respekt
durch andere sich vollziehen. Wir wollen unsere Identität nicht nur von eigenständigen Anderen
anerkannt sehen, sondern auch vom politischen System. Bei dem ‚Kampf um die Anerkennung‘
geht es dem modernen Subjekt also eigentlich um das zentrale Bedürfnis und Anliegen von dem
Gemeinwesen, dem es angehört, respektiert und anerkannt zu werden.
Honneth ist der Überzeugung, dass sich der Identitätssinn und das Selbstwertgefühl des
Subjekts aus den sie konstituierenden sozialen Interaktionsprozessen herleiten. Aber diese
Beziehungen werden als Anerkennungsverhältnisse verstanden, in denen wir Zustimmung und
Anerkennung für unsere Handlungen und für uns selbst von anderen beziehen. Dies wiederum
erzeugt in uns das Gefühl einer einheitlichen Identität, das unser identitäres Selbstbewusstsein
konstituiert: »Die menschliche Individuation ist ein Prozess, in dem der Einzelne eine praktische Identität in einem Maße entfalten kann, das es ihm ermöglicht sich seiner Anerkennung
durch einen wachsenden Kreis von Kommunikationspartnern immer wieder zu vergewissern.«4
Nur durch intersubjektive Kommunikationsmuster, die emotionale Bindungen zwischen den
Menschen herstellen, kann eine praktische Identität entstehen. Dies beginnt in der Kindheit
mit den elterlichen, und insbesondere ‚mütterlichen‘ Beziehungen, die sich zum Streben nach
Respektierung und Würde in der Welt der Erwachsenen ausweiten: »Wie im Fall der Liebe das
Kind durch die kontinuierliche Erfahrung mütterlicher Zuwendung das Vertrauen erwirbt, seine
Bedürfnisse ungezwungen kundtun zu können, so gewinnt das erwachsene Subjekt durch die
Erfahrung rechtlicher Anerkennung die Möglichkeit, sein Handeln als eine von allen anderen
geachtete Äußerung der eigenen Autonomie begreifen zu können.«5 In dem Maße, wie sich dieses
vollzieht, können wir von der Existenz eines integralen Selbstverständnisses sprechen, das durch
Anerkennungsverhältnisse gebildet wird, welches zugleich in ein Spannungsverhältnis mit den
bestehenden sozialen Beziehungen gerät, die diese Anerkennung in späteren Stadien der sozialen
Entwicklung vereiteln oder verweigern. Damit tritt das Konzept der ›mangelnden Achtung‹ auf
den Plan, das thematisiert, was er die »moralische Ungerechtigkeit« nennt, die »immer dann –
und konträr zu den Erwartungen der Subjekte – empfunden wird, wenn ihnen Anerkennung, die
sie zu verdienen glauben, verweigert wird. Ich möchte von solchen moralischen Erfahrungen als
Empfindungen sozialer Missachtung sprechen.«6
Diese Vorstellungen von »Achtung« und »Missachtung« beruhen auf einem früheren Entwicklungsmodell des Selbst, das von einem Kampf um die eigene Identität und die Notwendigkeit
der Anerkennung derselben durch andere ausging. Die Bewegung führt hierbei vom frühen
Kindheitsstadium zum zweiten der Vergewisserung des Rechts als der anerkannt zu werden,
3
4
5
6
Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM
Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM: 249.
Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM: 192.
Axel Honneth: Disrespect: The Normative Foundations of Critical Theory. (Cambridge: Polity Press, 2007): 71.
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der man ist. Aber das Modell gipfelt in einer Art Gesellschaft, die von diesen Kämpfen um Anerkennung geformt wurde, die die soziale Integrität und die Respektierung Anderer garantiert.
Damit tut sich eine neue Konzeption der hegelschen Sittlichkeit auf, »ist jetzt das Insgesamt an
intersubjektiven Bedingungen gemeint, von denen sich nachweisen läßt, daß sie der individuellen
Selbstverwirklichung als notwendige Voraussetzungen dienen.«7 Da die persönliche Identität
als intersubjektiv strukturiert und konstituiert betrachtet wird, bietet das Anerkennungsmodell,
Honneth zufolge, ein überzeugendes Paradigma für eine kritische Gesellschaftstheorie. Es erfülle
die theoretischen Bedingungen einer nachmetaphysischen innerweltlichen praktischen Theorie
sozialen Handelns ebenso wie eine intersubjektive Perspektive sozialen Handelns. Aber vor allem ist der Prozess der Anerkennungsverhältnisse, der in Honneths gesamter Sozialphilosophie
einen fast axiomatischen Stellenwert einnimmt, einer, der der menschlichen Vergesellschaftung
zugrunde liegt und das Subjekt auch gegen äußere gewaltsame soziale Einflüsse schützt.
Weitergehend ist Honneth der Meinung, dass der Anerkennungsprozess Bestandteil des
grundlegenderen Selbstbildungsprozesses sei, weil er dem Erkennen vorausgehe. Demnach
gibt es das, was er den »ontogenetischen Vorrang der Anerkennung vor der Erkenntnis« nennt.8
Erkenntnisprozesse erzeugen in der Bewusstseinsstruktur nicht nur ein Selbstgefühl, sondern
pflanzen dem Subjekt eine Perspektive des Anderen ein, die in gesunden sozialen Beziehungsformen ein moralisches Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel vermitteln.
Die Überlegungen G.H. Meads und Hegels vermittelnd, argumentiert Honneth, dass das sich
entwickelnde Ich »Schritt für Schritt und durch die Perspektive einer zweiten Person lernt, Objekte als Einheiten einer objektiven Welt, die unabhängig von unseren Gedanken und Gefühlen
existiert, zu begreifen.«9 Für eine kritische Theorie bedeutet dies, dass durch die Erkenntnisprozesse eine moralische Sensibilität für das Selbst und für Andere geformt wird, die, umgekehrt,
auf Anerkennungsverweigerung und Missachtung empfindlich reagiert. Honneth ist überzeugt,
dass damit ein moralisch motivierter Kampf in Gang gesetzt werde, der einen neuen, modernen
und kritischen Willensbildungsprozess anleite, welcher hinwiederum eine neue, demokratische
und ethische Lebensform zu stärken geeignet sei.
Meiner Meinung nach sind diese Schlussfolgerungen unbegründet. Es reicht einfach nicht, auf
Phänomene wie Respekt und Anerkennung zu setzen, schlicht weil die Formen der Macht sowie
die strukturellen und funktionalen Kräfte der modernen Sozialstrukturen, die von den materiellen
Machtressourcen gebildet werden, den Sozialisationsprozess, von dem den Honneth in seinem
Modell ausgeht, außer Kraft setzen. Um es direkter zu sagen: Das Phänomen Anerkennung ist
nicht in unseren kritisch-rationalen, sondern in unseren phänomenologisch-interpretatorischen
Fähigkeiten verankert. Ihre Einbettung in die Strukturen von Sozialbeziehungen, die von der
administrativ-kapitalistischen Gesellschaft und ihren Imperativen bestimmt sind, kann nicht als
Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklung einer kritischen Rationalität genommen werden. Es
ist keine Frage, dass Anerkennung in ihrer Prozessualität den fortschrittlicheren Seiten moderner Gesellschaften gegenüber den vormodernen Institutionen und Normen angehört. Jedoch
treibt die Architektonik der modernen Gesellschaften den Widerspruch zwischen den durch
die Anerkennungsverhältnisse erweiterten Rechten einerseits und den durch die kapitalistische Ordnung hervorgebrachten zerstörenden Ungleichheiten andererseits hervor. Genau auf
diese Widersprüchlichkeit will uns die Kritische Theorie aufmerksam machen; es handelt sich
um den Widerspruch zwischen dem, was uns hinsichtlich der Achtungsbeziehungen einerseits
als Fortschritt erscheint und der schwindelerregenden Zunahme an sozialen Hierarchien und
Ungleichheiten der gesamtgesellschaftlichen Macht- und Kontrollverhältnisse. Daher kommt
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7 Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM: 277.
8 Axel Honneth: Reification: A New Look at an Old Idea. (New York: Oxford University Press, 2008).
9 Honneth: Reification, 43.
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es tatsächlich darauf an, ob das Anerkennungsparadigma in der Lage ist diesen Widerspruch
aufzulösen und, ausgehend von seinen innerweltlichen und postmetaphysischen Annahmen,
einen kritischen Ausgangspunkt zu beziehen.
3
Die Konturen von Macht und Herrschaft
Das Problem der innerweltlichen Kritikgenese stellt eine entscheidende Schwäche dar. Im Wesentlichen beansprucht Honneth – wie vor ihm Habermas –, dass jede kritische Gesellschaftstheorie
von der tatsächlichen Praxis der sozialen Akteure auszugehen hat und nicht von einem transzendentalen Kategoriengefüge oder a priori gesetzt bezogen werden darf. Sie muss in unseren
internen Praxen und Fähigkeiten gründen, die, Habermas zufolge, durch die syntaktische Struktur
der Sprache und der Sprechakte und, Honneth zufolge, durch die Prozesse der Anerkennung
bestimmt werden. Jedoch stößt die intramundane These in beiden Fällen auf das Problem der
Macht oder, genauer gesagt, der Herrschaft. Nach Auffassung der ersten kritischen TheoretikerGeneration ist das Problem der Herrschaft nicht nur eines der ungleichen Beziehung zwischen
einzelnen Akteuren und ganzen Klassen, sondern es ist auch und vor allem ein systemisches
und prozessuales Phänomen mit der Kraft der Konstituierung des Selbst und seiner kognitiven,
affektiven und urteilenden Dimensionen.
Im Gegensatz dazu beruht Honneths Theorie auf einer Reihe fester Überzeugungen, die die
realen Bedingungen des sozialen Gefüges und der Entwicklung des Selbst und seiner kognitiven
Dimensionen entscheidend verkennen. Honneth war stets der festen Meinung, dass die Arbeit
vieler der kritischen Theoretiker der ersten Stunde auf einer überholten, unhaltbaren Theorie
sozialen Handelns aufruhe, da sie die moderne Gesellschaft als ein strukturell-funktionales
System begriffen hätten, während er selbst, mit der Wende zur Intersubjektivität, die Sozialbeziehungen als eingebettet in intersubjektive Aktivitätsnetze auffasste. Und obgleich es wahr ist,
dass es den frühen kritischen Theoretikern nicht in erster Linie um eine eigenständige Theorie
des sozialen Handelns gegangen ist, haben sie sich dennoch mit der Art und Weise, in der die
Ich- und Selbstformation unter den historischen Bedingungen des administrativen Kapitalismus
und der technisch-bürokratischen Gesellschaft (verwaltete Welt) vonstatten geht, beschäftigt.
Tatsächlich ist der Preis, den Honneth für die Ablehnung dieser Perspektive bezahlt, hoch – so
sehr, dass dies seine Anerkennungstheorie, wie ich glaube, zu einer unkritischen werden lässt
und genau die Rechtfertigungsmechanismen und die anti-politische Passivität, deren Erklärung
eines der Hauptanliegen der Frankfurter Schule war, unversehens selbst transportiert.
Um diese These zu stützen, möchte ich mit den Problemfeldern der sozialen Macht und
Herrschaft beginnen. Dieser zentrale Gehalt der Kritischen Theorie-Tradition macht wohl den
entscheidendsten und wichtigsten Beitrag der Potentialität der Kritischen Theorie aus. Die Frage
nach den modernen Formen von rationaler Herrschaft – eine Form sozialer Macht, die ausbeuterische und unterdrückende Sozialbeziehungen und deren Effekte den Betroffenen als legitim
erscheinen lässt – ist das Herzstück der kritischen Theorietradition. Die kritischen Theoretiker
erkannten in ihrer umfassenden Analyse der modernen Gesellschaft, dass die modernen Subjekte von den sich immer stärker durchsetzenden und alles durchdringenden rationalisierten und
administrativen Institutionen dieser Gesellschaften geformt wurden. Marx, Weber und Freud
wiesen alle mehr oder weniger explizit auf diese Effekte der durchrationalisierten Institutionen
hin, die nicht nur das Alltagsleben, sondern auch die Bewusstseine bestimmten. Die Theoretiker
der Frankfurter Schule analysierten, als die entscheidende Pathologie der modernen kapitalistischen Gesellschaften, eine tief verankerte Verdinglichung des Bewusstseins, die alle Sphären
des persönlichen, sozialen und kulturellen Lebens durchdrang. Es ist nicht schwierig darin das
Moment der Macht zu entdecken. Marx und Lukács weiter denkend, bemerkten sie, dass das
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zentrale Problem in der deformierenden Ausbildung unseres Handlungsvermögens durch soziale
Prozesse besteht, in denen nicht nur unsere Handlungen und Praxen der bestehenden Realität
angeglichen, sondern auch unser Wille und unser Erkenntnisvermögen von diesen systemischen
Imperativen gemodelt werden.10
Die zentrale These der Verdinglichungstheorie, die alle kritischen Theoretiker der ersten Generation in der einen oder anderen Form teilten, besagt, dass durch deren Wirksamkeit – durch
Instrumentalisierungs-, Kommodifizierungsprozesse und dergleichen – die rationalen Vermögen
der Menschen gestört und in einer Weise geformt werden, dass sie ihn den systemischen Imperativen der bestehenden Ordnung angleichen. Dies wird durch eine bestimmte Einwirkung
auf das Bewusstsein und die Persönlichkeitsstruktur im Sinne der Anforderungen, Ziele und
Interessen der bestehenden Ordnung erreicht. Diese Machtvariante habe ich die konstitutive
genannt; man kann sie als die Fähigkeit herrschender Gruppen definieren, mittels ihrer Kontrolle
über materielle Ressourcen institutionelle Normen, Praxen und kollektiv-intentionale Regelwerke ganzer Gemeinwesen zu gewinnen. Je mehr eine solche Gruppe in der Lage ist auf diese
Weise Wirksamkeit zu entfalten, umso stärker ist die konstitutive Herrschaft, die sie ausüben
kann. Seitdem die Logiken der ökonomischen und technischen Rationalität immer effizientere
Möglichkeiten von Mehrwertschöpfung, Effizienz, Stabilität, Kontrolle und grundlegender Normensetzung zu generieren in der Lage sind, werden auch die Institutionen mehr und mehr von
dieser Logik durchdrungen.11
Die Mechanismen dieser spezifischen Macht sollen jetzt genauer betrachtet werden. Die Beeinflussung des Bewusstseins und der Einstellungen geschieht präzise durch deren Fähigkeit, die
Normen und Wertorientierungen der Menschen zu manipulieren. Je mehr sich die ökonomischen
und instrumentellen Logiken in den sozialen und kulturellen Institutionen festsetzen, umso eher
können sie bestimmte Arten von Normen routinisieren. Je erfolgreicher diese Institutionen sind,
umso wirksamer werden diese routinisierten Normen von den Subjekten internalisiert. Je seltener und schwächer kritische Reaktionen auf diese sich ausbreitenden Normen werden, desto
ungehinderter werden sie verinnerlicht; und je mehr dies geschieht, umso mehr werden sie zu
den das Bewusstsein bestimmenden Regeln. Je mehr sie von der ganzen Gemeinschaft geteilt
werden, umso mehr verhärten sie sich zu verdinglichten Bewusstseinsstrukturen, sowohl als
kollektiv-intentionale Aspekte des subjektiven Bewusstseins als auch als intersubjektive Praxis
und Handlung. Der Machtaspekt besteht in der Potenzialität dieser Normen die hierarchischen
Machtbeziehungen zu legitimieren und zu stabilisieren, sei es der sozialen Ziele von Eliten, der
Eigentumsstruktur der Gesellschaft u.a.m. Unser subjektives und intersubjektives Bewusstsein
gründet somit in diesen faktischen materiellen Machtformen und den institutionalisierten Normen, die sich in der Gesellschaft erfolgreich durchsetzen.
Demnach muss Herrschaft tatsächlich als etwas anderes betrachtet werden als ein bloß kommunikatives, strukturelles Handlungsmoment, sondern als ein funktionales Phänomen, das die
soziale und subjektive Welt konstituiert.12 Wir werden dieses Problem also nicht los, wenn und
solange wir mit diesem phänomenologischen Ansatz im Rahmen einer emanzipatorisch gemeinten
Theorie arbeiten. Honneth ist der Meinung, dass es eine vorsoziale Basis der Anerkennung in
der Mutter-Kind-Beziehung gebe. Jedoch ist diese Beziehung in keiner Weise gegen die pathologischen Impulse der sozialen Welt gefeit. Die Beziehungen zwischen der Mutter und dem Kind,
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10 Zu einer mehr technischen Diskussion des Ansatzes der Theorie von Herrschaft und Verdinglichung, s. mein paper:
»Collective Intentionality, Social Domination and Reification.« Journal of Social Ontology, vol. 3, no. 2 (2017), 207229.
11 Zu einer umfassenderen Diskussion dieser These, s. meinen Beitrag: The Domestication of Critical Theory, 91 ff.
12 Zu einer umfassenderen, technischen Diskussion dieser Herrschaftsmechanismen, s. mein paper: »A Funcionalist
Theory of Social Domination.« The Journal of Political Power, vol. 6, no. 2 (2013), 179-199.
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und schon wenig später mit und zwischen weiteren Familienmitgliedern, dürfen keineswegs für
unabhängig von den sozialisierenden Kräften der umgebenden Welt gehalten werden. Vielmehr
gilt die Familie in vieler Hinsicht sogar als die Brutstätte der Werte, die den Status quo des Ganzen
pflegen.13 Was Harry Dahms die »konstitutive Logik der modernen Gesellschaft« nannte, sollte
als das zentrale Problem bei der Herausarbeitung eines Anerkennungsparadigmas innerhalb
einer kritischen Theorie angesehen werden, da es wenig Raum für die Entwicklung des Selbst
außerhalb der prägenden Kräfte und Logiken dieser Institutionen und Normen gibt.14
Honneth könnte dieser Kritik entgegnen, dass sie schlicht nicht zutreffe. Sein Hauptargument
lautet bekanntlich, dass Anerkennung mit der Mutter-Kind-Beziehung beginne und sich dann
immer mehr nach außen richte. Im Laufe dieses Prozesses entwickele das Individuum Gefühle
des Selbst- und Fremdrespekts. Darin steckt aber noch ein anderes Problem. Das Phänomen
des «Kampfes um Anerkennung«, das im Zentrum der frühen honnethschen Schriften über das
Subjekt gestanden hat, greift den zentralen Topos auf, das die frühen kritischen Theoretiker zu
erklären gesucht hatten, insbesondere die Tatsache, dass die von Herrschaft Betroffenen ihre
Lebenswelt tatsächlich nicht als eine ungesunde und von Missachtung durchdrungene empfinden. Vielmehr verinnerlichen sie deren Zielsetzungen und Werte und akzeptieren sie via ihrer
verdinglichten Bewusstseinsstrukturen implizit als legitim. Diese Frage trieb auch Wilhelm
Reich in der Schrift »Massenpsychologie und Faschismus« um: Wie ist es zu erklären, dass die
vom System Ausgebeuteten und Benachteiligten nicht rebellierten? Nehmen wir die These von
der konstitutiven Macht ernst, so gibt es mit dem Anerkennungsparadigma keine Möglichkeit
Honneths zentralen Annahmen über die Selbstformation aufrecht zu erhalten. Vielmehr finden
wir uns auf den plausibleren Standpunkt zurückgeworfen, dass die Individuen auf eine Weise
durch die systemischen Imperative und Normen der gesellschaftlichen Ordnung sozialisiert sind,
dass Anerkennungsakte nur die psychischen Bedürfnisse nach der (bestehenden) hierarchischen
Ordnung bedienen. Um z.B. von einem dominierenden Elternteil, einer geliebten, oder anderen
geschätzten oder ›höherrangigen‹ Person ›anerkannt‹ zu werden, werden Machtbeziehungen
reproduziert, so dass hierarchische Ordnungen nicht gestört werden, sondern sie stützen und absichern. Anerkennung geschieht im Kontext anderer Machtbeziehungen, so dass dem Problem von
konstitutiver Macht und Herrschaft nicht entgangen werden kann. Daher auch ist die Annahme,
dass die Entwicklung von Anerkennungsgefühlen und kritisch-moralischer Selbstentwicklung
in ein und demselben Entwicklungszusammenhang gesehen werden müssten, ein tiefgehendes
Missverständnis.
Das bedeutet: Anerkennung ist ein Prozess, der von den bestehenden Machtrelationen geformt
wird, der von den Verzerrungen und Pathologien, die sie bekämpfen soll, im gleichen Maße verwundbar wie alle anderen Lebensbereiche auch. Dies impliziert, dass die Entwicklung kritischer
Haltungen und Einstellungen durch solche Anerkennungsprozesse sogar verzögert werden kann.
Indem Honneth diese Bedenken für nebensächlich erklärt, wird sein Anerkennungsparadigma
aber zum Neoidealismus: zur Abstraktion der Anerkennungsbeziehungen von den tatsächlichen
Strukturen und Kräften, die die moderne Gesellschaft konstituieren. Auch wenn wir zugestehen,
dass Anerkennung ein phylogenetischer Grundzug der menschlichen Entwicklung ist, so bedeutet
dies nicht, dass ihre derzeitige ontologische Ausprägung nicht von den aktuellen kapitalistischen
Bedingungen geformt würde. Nach Achtung und Anerkennung durch andere in hierarchisch
bestimmten Kontexten zu streben, führt im Allgemeinen nicht dazu dies als eine moralische
13 S. die wichtige Diskussion von Herbert Marcuse: The Obsolescence of the Freudian Conception of Man.« In: Five
Lectures. (Boston: Beacon Press, 1970), 44-61.
14 S. Harry Dahms: Modern Society as Artifice: Critical Theory and the Logic of Capital. (London: Routledge, 2018).
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Fehlhaltung zu erkennen, sondern im Gegenteil zu rechtfertigenden Verteidigungen solcher
Autoritätsbeziehungen.15
Darüber hinaus impliziert die These von der konstitutiven Macht bestimmte Effekte in Bezug
auf unsere Subjektivität und Handlungsfähigkeit, die das kritische Potential der Anerkennung
zusätzlich schwächen. Denn die Kultur der kapitalistischen Gesellschaft ist so beschaffen, dass
die entfremdenden Effekte des Alltagslebens das Ich auf sich selbst zurückwerfen und es vor
der zunehmend entmenschlichten Wirklichkeit beschädigter Sozialbeziehungen in die Flucht
treiben. Dies Ich ist kaum noch in der Lage die soziale Ordnung in Frage zu stellen, sondern wird
viel eher bestrebt sein, sich einen geschützten Identitätsraum durch die Bestätigung anderer zu
schaffen. Marcuse führt dazu treffend aus: »Das Ich, das ohne große Kämpfe herangewachsen
ist, erscheint als ein ziemlich schwaches Gebilde, das nur schlecht gerüstet ist ein eigenständiges
Selbst mit und gegen andere zu werden. Dieses Ich hat den Kräften wenig entgegenzusetzen,
die jetzt als Realitätsprinzip verstärkt auf es einwirken und so sehr verschieden sind von Vater
(und Mutter) – aber auch von den Bildern, die die Massenmedien verbreiten.«16 Das geschwächte
und verkümmerte Ich, das Marcuse beschreibt, ist nicht nur eine Folgeerscheinung verfehlter
Sozialbeziehungen, sondern liefert zugleich die Gegenthese zu dem Entwurf, dass Anerkennungsbeziehungen, die in die ‚innerweltliche‘ Textur des Alltagslebens eingewoben sind, in der
Lage seien Persönlichkeiten zu formen, die über die psychologischen Qualitäten verfügen, die
für eine moralisch-politisch wirksame Widerständigkeit gebraucht werden.
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4 Der nachmetaphysische Irrtum
Dies führt mich zum zweiten Denkfehler des Anerkennungsparadigmas. Wie ich oben gezeigt
habe, gründet das Problem der konstitutiven Macht und Herrschaft im Alltagsleben – in seinen
Institutionen, Praxen, Normen usw., die unser Handeln bestimmen und formen. Von dieser
These ausgehend, gelangen wir zu einer weiteren: dass die Implikationen des sozialen Handelns
diesen Macht- und Herrschaftsprozessen nicht vorausgehen, sondern vielmehr selbst von ihnen
bestimmt werden. In ihrem Kern besagt die nachmetaphysische These, dass es außerhalb unserer
intersubjektiven, selbstverantworteten Praxis keinen weiteren Begründungszusammenhang für
unsere Normen geben kann. Habermas zufolge bedeutet dies, dass geltende verbindliche Normen
nur durch öffentlichen Konsens begründet werden können. Das Kriterium für die universelle
Geltung jedweder moralischen Äußerung ist deren Konsensfähigkeit; was zählt, ist das Verfahren,
in dem wir den (jeweiligen) Konsens erzielen. Infolgedessen brauchen wir uns nicht länger um
ontologische Begründungen moralischer Konzepte zu bemühen, sondern können Konsens über
moralische Gültigkeit durch den sprachlichen Austausch rationaler Argumente erzielen. Impliziert ist die pragmatistische These, dass die Fähigkeit zum argumentativen Austausch und zur
Moralakzeptanz einen rationalen Gehalt in dem Maße hat, in dem eine Person X fähig ist, den
Wahrheitsgehalt der Argumentation einer Person Y zu erkennen (und anzuerkennen).17 Damit
15 S. Frederick Solt: «The Origins of Authoritarianism.« Political Research Quarterly, vol. 65, no. 4 (2012), 703-713.
Dies kann aber auch bereits in früheren Studien gesehen werden, s. Robert Lane: »The Fear of Equality.« American
Political Science Review, vol. 53, no. 1 (1959), 35-51; und Jonathan Cobb und Richard Sennett: The Hidden Injuries
of Class. (New York: W.W. Norton, 1972).
16 Marcuse: »The Obsolescence of the Freudian Conception of Man«, 50.
17 In Habermas Worten: »Das illokutionäre Ziel des Sprechers ist es, dass der Zuhörer nicht nur seine Meinung anhört
und anerkennt, sondern dass er zu derselben Auffassung gelangt, d.h. seinen Glauben teilt. Dies ist aber nur auf
der Basis möglich, dass der Wahrheitsanspruch in Bezug auf p im Medium der wechselseitigen Anerkennung geteilt
wird. Der Sprecher kann sein illokutionäres Ziel nur realisieren, wenn die kognitive Funktion des Sprechaktes ebenfalls realisiert wird, das heißt, wenn der Zuhörer seine Äußerung als gültig akzeptiert.« In: Truth and Justification.
(Cambridge, MA: MIT Press, 2003), 4. S. auch Jürgen Habermas, in: Postmetaphysical Thinking: Philosophical
Essays. (Cambridge, MA: MIT Press, 1993), 115 ff.
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ist der Wert der moralischen Erkenntnis von dem Grad abhängig, in dem rational handelnde
Subjekte ihre Ideen und normativen Ansichten umsetzen und zu Konsensen gemäß gültiger
rationaler Normen kommen.
Für Honneth, der von den Arbeiten von Habermas und seinen Nachfolgern ausgeht, liegt im
Pragmatismus eine Art paradigmatischer Wende im Zusammenhang der Theorie des sozialen
Handelns und der Selbstbildung, weil er die Anerkennungsbeziehungen für die wesentlich
konstitutiven Elemente der Identitätsbildung hält. Auch G.H. Mead hatte bereits behauptet,
dass das Ich eine Perspektivenübernahme durch die Interaktion mit Anderen entwickle, diese
internalisiere und dadurch die Grundlage für seine Intersubjektivität lege. Mit den Worten Meads
»beinhaltet jede psychologische oder philosophische Untersuchung der menschlichen Natur die
Annahme, dass jeder einzelne Mensch zu einer organisierten sozialen Gemeinschaft gehört und
seine menschliche (zweite) Natur aus den sozialen Interaktionen und Beziehungen mit dieser
ganzen Gemeinschaft und ihren einzelnen Mitgliedern konstitutiert«.18 Nur durch die intersubjektive Verbindung mit Anderen könne sich das Selbst als ein solches entwickeln: »Das Selbst
ist und wird durch seine Entwicklung; es ist nicht ursprünglich bei seiner Geburt schon fertig da,
sondern wächst und wird im Prozess seiner sozialen Erfahrungen und Aktivitäten; das heißt, es
entwickelt sich im Individuum als Resultat seiner Beziehungen in diesem Gesamtprozess und
mit anderen Einzelnen, die ebenfalls in diesen Prozess eingebunden sind.«19
Das Anerkennungsverhältnis ist, Honneth zufolge, das Kernstück dieses Prozesses. Honneth
stützt sich auf Mead und auf Dewey, wenn er argumentiert, dass »Ein Bewußtsein seiner selbst
[…] ein Subjekt nur in dem Maße erwerben [kann], wie es sein eigenes Handeln aus der symbolisch repräsentierten Perspektive einer zweiten Person wahrnehmen lernt.« 20
An dieser Stelle wird die entscheidende Weiche gestellt: durch Verknüpfung dieser basalen
These (über die Entwicklung des sozialen Selbst via Anerkennungsbeziehungen) mit der Entwicklung des moralischen Bewusstseins. Das postmetaphysische und pragmatistische Argument
lautet nun, dass dieser Prozess als Mittel hinreicht, um ein kritisches Bewusstsein und eine kritische
Widerständigkeit zu generieren – keine anderen Ressourcen würden dazu benötigt und seien auch
nicht akzeptabel. Nach Honneth entspringt »der Zusammenhang, der zwischen der Erfahrung
von Anerkennung und dem Sichzusichverahlten besteht, [ergibt] sich aus der intersubjektiven
Struktur der persönlichen Identität [ergibt]: die Individuen werden als Personen allein dadurch
konstituiert, daß sie sich aus der Perspektive zustimender oder ermutigender Anderer auf sich
selbst als Wesen zu beziehen lernen, denen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten positiv
zukommt.«21 Aber an dieser Stelle setzt Honneth zu einem großen Gedankensprung an, denn er
fügt hinzu, dass es zudem für den Sozialisationsprozess als Anerkennung wesentlich sei im Subjekt
ein experimentierend-moralisches Muster heranreifen zu lassen, das als eine Art Indikator für
soziale Ungerechtigkeit fungiere. Auf diese Weise werden wir Anerkennungsverweigerungen
als Unrechtshandlungen empfinden (lernen); wir fangen an zu begreifen, dass Behinderungen
von Anerkennungsbeziehungen im Leben entwickelter Gemeinschaften sich gegen das Prinzip
18 George Herbert Mead: Mind, Self and Society. (Chicago: University of Chicago Press, 1934), 229.
19 Mead: Mind, Self and Society, 135.
20 Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM, S.
120. Es ist interessant, dass Mead das, was Honneth in seiner Anerkennungstheorie ausgeführt hat, bereits antizipiert zu haben scheint, wenn er über das Individuum in der modernen Gesellschaft schreibt: »Wenn es seine
Besonderheit in der Gemeinschaft nicht geltend machen könnte, wenn er nicht anerkannt würde, wenn Andere
seine Meinungen nicht in irgendeiner Weise teilen könnten, würde er in seiner emotionalen Dimension nicht
gewürdigt; dann könnte er nicht das Wesen sein, das zu sein er anstrebt.« In: Mead: Mind, Self and Society, 324.
21 Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp. FfM, S.
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unseres Aufwachsens in Liebe und Respekt richten, das uns, wie er postuliert, zu eigenständigen
Subjekten geformt hat.
Hier lässt sich jedoch derselbe Einwand der Vernachlässigung der konstitutiven Macht, den ich
oben diskutiert habe, geltend machen, aber in einer noch dramatischeren Weise. Damit möchte
ich meine Argumentation zuspitzen zur Behauptung, dass Honneth die Kritik der Verdinglichung
und deren oben aufgezeigte, tiefgreifende Effekte auf das Bewusstsein nicht in Betracht zieht.
Stattdessen gründet er sein gesamtes theoretisches Gebäude auf die dürre Annahme, dass es
allein die Anerkennungsbeziehungen sind, die das Soziale fundieren und zusammenhalten. Damit
weicht er aber den ontologischen Dimensionen der gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen aus. Mead hatte tatsächlich nicht unrecht mit seiner Theorie über die Bildung des Selbst
durch die soziale Interaktion mit Anderen. Aber es handelt sich dabei bloß um ein idealisiertes
Sozialisationsmodell, das die Probleme von Herrschaft und Verdinglichung nicht thematisiert.
Die Pragmatiker blendeten die Gegebenheiten von gesellschaftlicher Macht und Herrschaft
und deren Effekte auf die Formation und Erkenntnisfähigkeit des Selbst fast vollständig aus.22
Honneth begeht denselben zentralen Fehler. Wenn wir davon ausgehen, dass es keine davon
untangierte Anerkennungsbeziehung geben kann, eine, die nicht in der einen oder anderen Form
eingefärbt und berührt wäre von den Machtverhältnissen, wird es schwierig sich die Anerkennungszusammenspiele als eine innerweltlichen Quelle kritischer Reflexion und Willensbildung
vorzustellen. Die Kritik ist jedoch noch weiter voranzutreiben.
Wenn wir die Verdinglichungsthese ernst nehmen, so müssen wir konstatieren, dass sie die
Sozialisation des Selbst und dessen kognitive Fähigkeiten in besonderer Weise affiziert. Indem
wir die konstitutiven Regelwerke der bestehenden sozialen Institutionen via Übernahme ihrer
Normen und Praxen internalisieren, kommt es zur Verdinglichung der kognitiven und intentionalen Bewusstseinsstrukturen. Vieles von dem, was in der Gesellschaft objektiv pathologisch ist,
bleibt aufgrund dieser Alltagsroutinen verborgen. Marx machte deshalb auf die aufklärerische
Macht theoretischen Wissens für die Gewinnung eines kritischen Blickpunkts aufmerksam. Nach
Honneth ist Kritikfähigkeit ein immanenter Bestandteil und ein Ergebnis der Sozialisation und
der intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen. Dagegen erkennt Marx, dass Entfremdung
und falsche Bewusstseinsformen die aktuellen Mechanismen sind, welche die Pathologien, die
die Individuen erleiden, verschleiern helfen. Die Lebenswelt – unabhängig vom Ausmaß ihrer
pathologischen Deformationen – kann aus sich kein kritisches Bewusstsein heraussetzen. Tatsächlich kann es ohne einen kritischen Standpunkt, wie er durch theoretische Aufklärung gewonnen
werden kann, nur pathologische Reaktionen auf pathologische Bedingungen geben – wie es
etwa bei ultra-rechten Bewegungen, Xenophobien, Drogenmissbrauch, Ressentiments u.ä. zu
beobachten ist. Marx und Mead stimmten zwar darin überein, dass »die Natur des Menschen
grundlegend gesellschaftlich bestimmt ist und Individuation allein durch die gesellschaftliche
Sozialisation erfolgt. … Es gibt den Menschen nur als Menschen durch soziale Interaktion und
wechselseitige Abhängigkeit.«23
Mead vernachlässigt jedoch den Aspekt der konstitutiven Macht pathologischer Beziehungsmuster. Tatsächlich hielt er Herrschaft für ein überholtes Phänomen der Vergangenheit und
glaubte, dass die modernen Beziehungen freiere Sozialisationsformen ermöglichten. Auch
Honneth erhebt diese These zur zentralen Figur seiner normativen Theorie. Aber dadurch wird,
wie gesagt, das gesamte Gebäude der Kritischen Theorie selbst unterhöhlt: die grundlegende
Frage nämlich, wie falsche Bewusstseinsformen die Subjekte permanent dazu bringen sich für
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22 S. die wichtige Diskussion von Lonnie Athens: Domination and Subjugation in Everyday Life. (London: Routledge,
2015).
23 Tom W. Goff: Marx and Mead: Contributions to a Sociology of Knowledge. (London: Routledge and Kegan Paul,
1980), 87.
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menschenfeindliche Strukturen und Praxen des sozialen Lebens in Dienst nehmen zu lassen.24
Daher also reicht der pragmatistische Ansatz nicht aus, den Phänomenen von Entfremdung
und Verdinglichung auf die Spur zu kommen. Weil es mittels Anerkennung, Kommunikation,
Argumentation usw. kein wirksames Mittel gibt, die verdinglichten Bewusstseinsstrukturen und
defekten Erkenntnisformen ›gesunden‹ zu lassen, muss sich Kritische Theorie diesem Trend
entgegen stemmen.25
Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass das Anerkennungsparadigma seinen
Gegenstand verfehlt, weil es (a) das Wesen der modernen Formen sozialer Macht und Herrschaft
und deren effektive Mächtigkeit, das Selbst zu konstituieren, überhaupt nicht, oder nicht ausreichend zur Kenntnis nimmt und infolgedessen (b) der pragmatistische Ansatz der intersubjektiven Sozialisation aufgrund der aufgezeigten theoretischen Mängel nicht zu erkennen vermag,
dass er die Pathologien des Bewusstseins unfreiwillig reproduziert anstatt sie zu erhellen und
abzustellen. Honneths Annahme der immanenten Generierung eines kritischen Bewusstseins
hat sich damit als obsolet erwiesen, und eine Rückwendung zu den kritischen Theoretikern der
ersten Generation wird unumgänglich. Denn die nachmetaphysische Wende führt uns bloß in
das abstrakte, nouminose Reich des Subjekts und entfernt uns von den ontologischen Fragen, die
unsere Konzepte über die gesellschaftlichen Realitäten begründen sollten – im deskriptiven wie
normativen Sinne. Anti-Essentialismus beinhaltet einen Mangel an Kritik. Denn anders als es
das pragmatistische Wahrheitsverständnis meint, ist die Realität keineswegs davon abhängig, wie
die Einzelnen oder das Kollektiv sie konzeptualisieren. Vielmehr muss ein kritisches Verständnis
von der Welt in der Lage sein deren essentielle Verfassung – die Dinge, die sie zu dem machen,
was sie ist – zu begreifen. Und von einem wahrhaft Hegelschen Standpunkt aus betrachtet, bedeutet dies jeden Gegenstand als einen metaphysischen zu betrachten, weil er mehr sein muss
als die Summe seiner materiellen Bestandteile. Aus dieser Perspektive erfasst eine zuverlässige
philosophische, kritische Wissenschaft die wesentlich dynamische Natur ihrer Gegenstände.
5
Die Wiederbelebung der Kritischen Theorie: Der ontologische
Standpunkt
Folgendes Schlüsselproblem ergibt sich aus dem oben Gesagten: Welche rationalen Möglichkeiten bleiben uns, die von Fromm postulierten Unterscheidungen von »pathologischen« bzw.
»gesunden« und »guten« Sozialbeziehungen zu treffen, wenn wir die nachmetaphysischen und
pragmatistischen Ansätze in Bezug auf Wahrheitsansprüche und Normengeltung zurückweisen
müssen? Die Rückkehr zur kritischen sozial-ontologischen Perspektive wird erweisen, dass die
nachmetaphysische zu kurz greift. Da das nachmetaphysische Paradigma sich meiner Meinung
nach als ungeeignet erwiesen hat, den konstitutiven Effekten der bestehenden Machtverhältnis24 Empirisch scheint dies der Fall zu sein. S. Henrik Friberg-Frenros und Johan Karlsson Shaffer: »The Consensus
Paradox: Does Deliberative Agreement Impede Rational Discourse?« In: Political Studies, vol. 62, no.1 (2014),
99-116; ebenso Edward T. Walker: »Legitimating the Corporation through Public Participation.« In: Caroline W.
Lee, Michael McQuarrie und Edward T. Walker (Hrsg.): Democratizing Inequalities: Dilemmas of the New Public
Participation. (New York: New York University Press, 2015), 66-81: ebenso Dan M. Kahan: »The Milton Rokeach, The
Open and Closed Mind. (New York: Basic Books, 1960): ebenso Cass Sunstein: »The Law of Group Polarization.« In:
Journal of Political Philosophy, vol. 10, no. 2 (2002), 175-195: R. Robinson, d. Keltner, Al Ward und L. Ross: »Actual
Versus Assummed Differences in Construal: ‚Naive Realism‘ in Intergroup Perception and Conflict.« In: Journal of
Personality and Social Psychology, vol. 68, no. 3 (1995), 404-417; J Berdahl und P. Martorana: »Effects of Power on
Emotion and Expression during a Controversial Group Discussion.« In: European Journal of Social Psychology, 36
(20006), 497-509; Cass Sunstein: »Deliberative Trouble? Why Groups Go to Extremes.« In: Yale Law Journal, vol.
110 (2000), 71-119.
25 Goff: Marx and Mead, 93.
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se wirksam zu begegnen, können wir allein mittels einer ontologischen Perspektive auf die die
relationalen Strukturen, Prozesse und Zwecke, an der die Gesellschaft sich orientiert, einen kritischen Ausgangspunkt zurückgewinnen. Hegel und Marx, wie auch Fromm, haben einen solchen
methodologischen Weg vorgeschlagen, der die dialektischen Beziehungen von pathologischen
Sozialformen und rationaleren, menschlicheren Formen vermittelt. Ontologisch wird ein solcher
Standpunkt dadurch, dass er versucht, die kritische Perspektive nicht anhand der innerhalb der
existierenden Ordnungen stattfinden Aktivitäten zu begründen, sondern von einer Plattform aus,
die über die Beziehungen, Prozesse und Zwecke der Gemeinschaft als Ganzer nachdenkt. Statt
sich auf die moralische Erfahrung des Alltagslebens zu verlassen, gilt es, andere Denkansätze zu
entwickeln. Mit genau dieser Aufgabe sollte sich Kritische Theorie meiner Meinung nach befassen.
Im Gegensatz zur phänomenologischen, handlungstheoretischen Perspektive betont Fromm,
dass es die spezifische Struktur oder Form unserer Sozialbeziehungen ist, die eine kausale Wirkmächtigkeit über die Selbst- und Willensformation gewinnt. Unsere Sozialbeziehungen, die Prozesse und Subjektprägungen, die jene formieren, unterliegen einer Ontologie. Fromm stellt fest,
dass die gesellschaftlichen Pathologien Negationen richtiger oder gesunder Beziehungen sind; wir
erkennen dies jedoch nicht, weil wir uns nicht oder zu wenig geachtet und anerkannt fühlen. Wir
können uns auch nicht auf irgendwelche internen oder phänomenologischen Reaktionsweisen
verlassen, weil diese aufgrund der herrschenden Verdinglichungs- und Entfremdungsverhältnissen bereits zu sehr manipuliert sind. Der Kampf um eine kritische Reflexion wird dadurch
tatsächlich ungemein erschwert, und die Tendenzen der modernen Gesellschaften und Kulturen
bewegen sich vielfach geradezu in Gegenrichtung einer moralischen Sensibilität, die Honneth
doch für die Moderne postuliert.26
Einfach auf intersubjektive Anerkennung zu setzen, ist also keineswegs hinreichend für die
Konzipierung einer zeitgemäßen kritischen Gesellschaftstheorie; vielmehr ist eine erweiterte Wissens- und Erkenntnisform gefordert, die unsere Institutionen für die Ziele der Selbstentwicklung
konzipiert.27 Dabei geht es aber nicht um eine einfache, einseitige Form der Selbstentwicklung,
sondern um eine vielgestaltige, dynamische und progressive Konzeption des Selbst. Fromm
stimmt mit seiner basalen These mit Marx, Hegel, Rousseau, und sogar Aristoteles, überein:
dass die Menschen soziale Beziehungswesen seien und dass ihr subjektives, individuelles Selbst
eine Funktion der Weise sei, in der diese Beziehungen geformt und strukturiert werden. Als
Resultat dieser grundlegenden sozialen Ontologie könnten die gesellschaftlichen Beziehungen
sogar zum Fortschritt des Menschheit wirksam werden, zu einem Perfektionismus und einer
Selbstentwicklung führen, die wahrhaft menschlich und kreativ ist, zu einer Gesellschaftsform,
die Gleichheitsbeziehungen fördert und im kritischen Blick behält, dass es geradezu der Zweck
der Gesellschaft sein sollte, unser kollektives und individuelles Wohlbefinden zu sichern und zu
fördern. Hegels Phänomenologie des Geistes gipfelt im »absoluten Geist« in dem Postulat, alle
menschliche Erkenntnis sei wahrhaft rational und universell, sobald diese auf ihrer langen Erfahrungsreise schließlich erkennen muss, dass alle Institutionen, Werte und Lebensformen nichts
Fremdes außer oder gegen uns sind, sondern von uns selbst geschaffen worden und daher auch
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26 S. die wichtige Diskussion von Pankaj Mishra: Age of Anger: A History of the Present. (New York: Farrar, Strauss
and Giroux, 2017).
27 Marx und Mead kontrastierend, bemerkt Tom Goff richtig: »Es ist genau Marx Absicht, eine Analysemethode zu
entwickeln, die dazu verhelfen könnte, im Konzept der Entfremdung die spezifischen, kontingenten Begrenzungen
zu bestimmen und zu überwinden, um die ‚Naturproblematik‘ auf der Praxisebene auf einer rationalen, weniger
trial-and-error abhängigen Ebene zu behandeln, die befreit wäre von den paradoxen Beschränkungen der menschlichen Erzeugnisse .« In: Marx and Mead, 93.
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veränderbar sind.28 Es greift zu kurz, all dies als Manifestation von Anerkennungsbeziehungen
zu betrachten. Wir müssen fest im Blick behalten, dass nur durch Ausrottung des Pathologischen,
das die sozialen Institutionen durchzieht, die wir schließlich die unseren nennen, eine Besserung
im Ganzen geschehen kann.
Dies aber ist eine grundlegend andere Vorgehensweise des Bewusstseins und des Denkens als
der von Honneth vorgeschlagene Anerkennungsweg. Nichtsdestotrotz sind die von Hegel und
Mead analysierten Anerkennungsbeziehungen nicht obsolet. Aber ihnen eignet kein immanent
moralisches Bewusstsein, sondern die erweiterte Potentialität einer Subjektivität, die in der Lage
ist, die ontologischen Dimensionen des Menschen als eines Beziehungswesens zu erkennen sowie
die gewünschte Prozessualitäts-, Beziehungs- und Zweckstruktur, in deren Richtung unser gesellschaftliches Leben entwickelt werden sollte, zu erkennen.29 Gegen die metaphysische Wende
müssen wir zur Kenntnis nehmen – wie dies Hegel und Marx taten –, dass das Herzstück jeder
kritischen Gesellschaftstheorie erfordert, das wahre Wesen des menschlichen Lebens rationell zu
erfassen. Dies sorgt für einen kritischen Ausgangspunkt statt eines immanent-phänomenologischen Sinnes für moralische Sensibilität. Dann geht es um die Fragen von Gültigkeit und Geltung.
Dies kann nicht bedeuten, das Anerkennungsprojekt ganz und gar zu verwerfen, ebenso wenig
wie das des Diskurses. Es sollte nur deutlich werden, dass die damit verbundenen theoretischen
Ansätze für sich allein eine Kritische Gesellschaftstheorie nicht ausmachen können.
Mit ihrem Angriff auf die metaphysische Tradition haben diese Ansätze übersehen, dass diese
eine rational-kritische Grundlegung für normative Geltungsansprüche zur Verfügung stellen
kann. Die kritische ontologische Perspektive schließt keine transzendentale Metaphysik ein,
sondern ist vielmehr eine immanente Metaphysik: eine, die die metaphysischen Bedingungen der
sozialen Welt und die Art der Beziehungen und Zwecke, die sie enthält, im Blick halten lässt.30 Es
gibt kein endgültiges Rezept, wie ein Gemeinwesen organisiert sein sollte, keine aristotelischen
Sicherheit. Die grundlegende Bedeutung sozialer Beziehungen, Prozesse, Strukturen und Zwecke
können wir nicht leugnen. Anders als der nachmetaphysische Irrglaube können wir nicht einfach
durch reflexives Handeln valide soziale Normen kreieren. Was kritischer Reflexion kognitiv e
Schwere gibt, ist das konkrete Nachdenken über die soziale Welt und wie wir einen kritischen
und diagnostischen Standpunkt gewinnen können. Das ist vielleicht der Grund, warum wir eine
Richtungsänderung in der Kritischen Theorie einschlagen müssen.
Meine Kritik des honnethschen Anerkennungsparadigmas mit dem Anspruch auf eine kritische Theorie der Gesellschaft ist nicht ausschließlich negativ zu verstehen. Es geht darum
28 Philip Kain kommentierte in seinem Kapitel zur »Phänomenologie«: »Dieselbe Entfremdung (alienation), die zur
Fremdheit (estrangement) führt, ist auch die Entfremdung, die die Fremdheit überwindet. Wenn wir die Erfahrung
machen, dass es unsere eigene Entfremdung (alienation) war, die zuerst unser eigenes Selbst als Fremdes produzierte, bedeutet das Bewusstheit dieser Tatsache, dass wir die Fremdheit des Objekts überwunden haben. Wir
sehen es nicht mehr als das Andere an. Wir erkennen es als uns selbst, als unser eigenes Produkt, unser eigenes
Wesen. Wir sind in ihm angekommen.« In: Hegel and the Other: A Study of the Phenomenology of Spirit. (Albany.
NY: SUNY Press, 2005), 222. Cf. Jean Hyppolite: »Das Wissen des Seins hat sich als das Wissen vom Selbst erwiesen
und, umgekehrt, hat das sich Selbst-Wissen zurückgeführt zum Wissen des Seins; und endlich hat die Vernunft,
diese Synthesis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, wirklich das Wesen als Gedanken und den Gedanken
als das Wesen erfasst, aber in einer unmittelbaren Weise.« In: Genesis and Structure of Hegel’s Phenomenology
of Spirit. (Evanston, III.: Northwestern University Press, 1974), 576.
29 Zu einer einführenden Diskussion, s. Joachim Israel: The Language of Dialectics and the Dialectics of Language.
(London: Harvester Press, 1979); David Weissman: A Social Ontology. (New Haven: Yale University Press, 2000);
und Michael J. Thompson: »Social Ontology and Social Critique: Toward a New Paradigm for Critical Theory.« In:
Dan Krier und Mark Worrell (eds.): The Social Ontology of Capitalism. (New York: Palgrave Macmillan, 2017), 15-45.
30 In meinem Beitrag: »The Ontological Infrastructure of Hegel’s Practical Philosophy.« In: M. Thompson (ed.): Hegel’s
Metaphysics and the Philosophy of Politics. (New York: Routledge, forthcoming, 2018) plädiere ich für eine immanente Metaphysik.
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zu verstehen, wie sie uns wegführt von einer distinkten und grundlegenden Konzeption von
genuin Kritischer Theorie. Eine vertiefte Lektüre dessen, was Hegel und Marx über die soziale
Wirklichkeiten geschrieben haben, erhellt, dass deren ontologische Perspektive der Garant für
die entscheidende Kraft ihrer Ideen und Analysen war. Das ontologische Paradigma ist denen
der Anerkennung und Kommunikation entgegengesetzt, weil es die objektiven Strukturen und
Prozesse, die das menschliche Zusammenleben bestimmen, für vorrangig hält. Es leugnet die
Anerkennungsbeziehungen nicht, sieht sie aber nur als eine Ebene unter einer großen Zahl verschiedener anderer Arten von Beziehungen, die wir eingehen. Darüber hinaus verschafft es uns
Zugang zu einer kritischen Metaphysik, die uns einen objektiv-kritischen Standpunkt einnehmen
lässt. Dem Pragmatismus und Neo-Idealismus der kritischen Theoretiker von heute muss klar
werden, dass es nicht nur um ein Bedürfnis nach einer menschlicheren und menschenwürdigeren
sozialen Welt geht, sondern dass es vorrangig um die Beziehung eines rationalen Standpunktes
geht, von dem aus allein jene Ansprüche gesichert und die Fallen von Entfremdung, deformierter
Erkenntnis und Relativismus vermieden werden können. Lässt man dies außer Acht, wird die
kritische Theorie schlicht ihren kritischen Impetus einbüßen und sich in den Abstraktionen eines
theoretischen Solipsismus verlieren.
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Essay
(Übersetzung aus dem Amerikanisch Erika Richter)
Abstract
I argue in this paper that the theory of recognition cannot serve as a paradigm for a critical theory of society. I defend two theses. First, that it is unable to deal with the dynamics and effects
of social power in any meaningful way. Specifically, it is unable to deal with what I see to be as
the core of critical theory as a tradition of thought, what I call »constitutive power« or that kind
of power that shapes and orients the subjectivity of persons. Second, it rests on a flawed theory
of the social as intersubjective practices and not as structural and normative based systems of
functional integration. This derives from its insistence on the pragmatist ideas that essentially
shred society of its structural-functional features and reduce it to its intersubjective practices.
The problem with the pragmatist thesis, however, is that it is both insensitive to issues of power
and domination and also can inculcate conformity to the prevailing reality. By shutting Marx out
of his revisionism of critical theory, Honneth therefore ends up defanging it as a system of ideas.
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