Bemerkungen zur Gebrauchslyrik der zwanziger Jahre
Federico Demitry
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der Begriff der Gebrauchslyrik, die sich in den zwanziger Jahren
innerhalb der literarischen Stimmung der Neuen Sachlichkeit entwickelt hat. Dieses kurze Essay zu
diesem Thema soll sich vor allem mit einem seiner größten Vertreter befassen, nämlich Erich
Kästner. Die Abhandlung wird auch in Bezug auf die Kritik von Walter Benjamin (demnach im
Verhältnis zu Bertolt Brecht) und die Idee einer geistigen Lyrik durchgeführt.
1. Was versteht man unter Gebrauchslyrik?
Der Begriff der Gebrauchslyrik ist ein Begriff, der sich aus der Stimmung der Neuen Sachlichkeit
ableitet. Die Neue Sachlichkeit, die niemals eine organische Bewegung war, kam vor allem als
Reaktion auf die vorherigen literarischen Bewegungen auf, und entstand aus dem Bedürfnis ein
neues Typ von Literatur, die die moderne Gesellschaft interpretieren könnte; das dringende
Bedürfnis einer neuen Literatur, das sich für die erste Beispiel der Republik des Deutschen eignete.
Die Geburt der Weimarer Republik stellt einen historischen Bruch für Deutschland dar, weil sich mit
dem Ende des Deutschen Kaiserreiches und mit einer neuen Form von Staat befassen muss.
Obendrein muss die neue Republik auch mit den Folgen des Krieges auseinandersetzen. Die
deutsche Gesellschaft wandelt sich folglich enorm, wie etwa die neue Rolle der Frauen oder die
Erscheinung neuer gesellschaftlichen Schichten (die Angestellten) beweisen; und dies auch dank der
Verbreitung der amerikanischen Kultur (Unterhaltungskultur, neue Musik), der Behauptung von
künstlerischen Formen wie dem Kino, der Zentralität der Politik, die eine demokratische Republik
verlangt. Expressionistische und dadaistische Ansätze scheinen inadäquat und bereits veraltet zu
sein. In der Tat schlägt die neue Sachlichkeit den Weg der Modernisierung der Literatur ein, den
schon Avantgarden wie Expressionismus, Dadaismus oder der italienische Futurismus geebnet
hatten. Doch der Ansatz ist ganz anders. Das heißt, dass die neue Sachlichkeit beispielweise mit dem
Expressionismus das Thema der Großstadt teilt, aber nicht ihre Dämonisierung; mit der Futurismus
und Dadaismus teilt sie den Anspruch einer revolutionären Modernisierung der Kunst, aber nicht
die Auflösung in einer abstrakten Kunst. Was die Neue Sachlichkeit sein will, ist ein kühler Blick auf
die moderne Gesellschaft. Sie fordert einen Wandel des traditionellen Literaturverständnisses
zugunsten einer Tatsachenpoetik, einem Reportagestil und einer Be i htfo
. „Meh Be i ht,
eh
1
Kritik, -
e ige ‚Stil ,
e ige Deko atio “ 1 , erklärt Döblin. Die neue Sachlichkeit stellt sich
deswegen als eine mit der Gesellschaft unmittelbar verbundene Anschauung dar. Die
Demokratisierung der Gesellschaft öffnet sozusagen neue Räume und bietet eine Gelegenheit, neue
Leser zu finden. Die Frage stellt sich also, ob der Demokratisierung der Gesellschaft eine
Demokratisierung der Literatur folgen soll. Die Künstler der neusachlichen Bewegung sind davon
überzeugt und versuchen die Kunst für das Volk zugänglich, verständlich zu machen. Aus dieser
Voraussetzung entsteht der Begriff der Gebrauchslyrik. Die Lyrik war bereits die zentrale Gattung
des expressionistischen Jahrzehnts und tatsächlich ist die Frage der Dichtung eine grundlegende,
auch in neusachlicher Ansicht. Was diese neue Form von Lyrik bestimmt, ist die Ausrichtung zur
Funktionalität. Literatur soll funktional, nutzbar aus gesellschaftlicher Perspektive sein. Das
bedeutet oft: Klarheit und Nüchternheit der Sprache, Präzision der Ausdrucksweise, Ablehnung des
Pathos, des Mystizismus. Der Dichter ist nicht mehr ein Prophet oder der Besitzer irgendeiner
Wahrheit, sondern ein Zuschauer, ein Berichterstatter. Wie Yvan Goll 1926 in der Literarischen Welt2
schreibt, soll sich die Lyrik „ o alle
Pathos, alle ‘heto ik“ ef eie . Sie soll sich der Instrumente
der Zeit bedienen und wettbewerbsfähig mit den neuen Medien, mit den neuen
Unterhaltungsformen sein. Aus diesem Grund wurden diese Gedichte meistens in den Zeitschriften
und Zeitungen veröffentlicht und die Verfasser waren auch regelmäßig Publizisten. Die Bezeichnung
‚Ge au hsl ik
u de e st
o Ku t Tu holsky mit Blick auf die politische Lyrik von Oskar
Kanehls geprägt, aber, wie schon gesagt, diese Ausprägung betrifft nicht nur die politische Lyrik.
Laut Be tolt B e ht „Alle großen Gedichte ha e de We t o Doku e te “3, u d o h „Lyrik muss
zweifellos et as sei , as
a oh e eite es auf de Ge au hs e t u te su he kö
e
uss“4.
Unter den Vertretern dieser Dichtungsform finden wir, zusammen mit den schon zitierten Brecht
und Tucholsky, viele andere berühmte Schriftsteller wie z.B. Erich Kästner oder Mascha Kaléko.
Insbesondere Erich Kästner verleiht dem Begriff der Gebrauchslyrik noch eine weitere Bedeutung.
In seiner Gedi htsa
lu g ‚Lä
u d Spiegel , die
e öffe tli ht u de, s h ei t Käst e ei e
‚p osais he Z is he
e e ku g , i de e die Ge au hsl ik als ‚seelis h e
e d a
ezei h et.
Was meinte Kästner? Was sind konkret die Äußerungen dieser Gebrauchslyrik?
1
Alfred Döblin, Brief an Herwarth Walden, November 1909, Zitat nach S. Becker Neue Sachlichkeit Band 1: die
Ästhetik der neusachlichen Literatur, Böhlau Verlag, 2000
2
Die literarische Welt. Unabhängiges Organ für das deutsche Schrifttum, Zeitschrift der Weimarer Republik.
3
Bertolt Brecht, Kurzer Bericht über 400 junge Lyriker, in der Literarischen Welt 3 (1927), Nr.5 S.1. Aus Neue
Sachlichkeit Band 2: Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
4
Ib.
2
2. Z is he Käst e u d B e ht: die ‚Li ke Mela holie
Die beiden Lyriker Kästner und Brecht vertreten die Vorstellung der Gebrauchslyrik. Trotzdem sind
ihre Herangehensweisen und ihre Werke eigentlich sehr unterschiedlich. Deshalb sollte man
versuchen, diesen ‚Ge au hs e t , auf de beide ihre Dichtung begründen, zu verstehen. Die erste
Bemerkung ist, dass, auch wenn Kästner über Gebrauchslyrik spricht, er nicht über neue Sachlichkeit
spricht. Er bekennt sich als Vertreter der Gebrauchslyrik, aber nicht als einer der neusachlichen
St ö u g. „We die Du
heit egi g, diese Stil die ‚Neue Sa hli hkeit zu e
e , de
öge de
S hlag t effe “5, schreibt Kästner, und weiter: „Jetzt hat ei e eue l is he Be egu g ego
[…] De e
stilistis he Cha akte
u de
it de
e .
S hlag o t ‚Neue Sa hli hkeit ei zukleide
e su ht; a e es paßt i ht“6. Jedoch verurteilt Kästner die veraltete Form der Lyrik scharf und
bezieht gleichzeitig Stellung gegen die Dichter, deren Lyrik nicht mit der Zeit geht und deren Verse
„hohl“ kli ge : „Die Mehrzahl der heutigen Lyriker singt und sagt noch i
e
o de ‚He zlie ste
ei und vo de ‚Blü lei auf de Wiese “7. Das Gege teil da o ist die eue L ik, die si h „a
Leben erhält“8, fü die
a „die Bezei h u g ‚Ge au hsl ik erfunden“9 hat. Das Ziel von Kästner
ist, Gedicht irgendwie für seine Zeitgenossen brauchbar zu machen. Das bedeutet, dass die Lyrik
vom Alltagsleben sprechen soll, aber auch, dass die Lyrik für eine Massenverbreitung und für die
neuen Medien geeignet sein soll. Kästners Auffassung bezüglich der Aufgabe und der Bedeutung
von Lyrik ist eindeutig. Ein Dichter soll immer den Zeitgeist wiederspiegeln. Demzufolge wird den
„Überlegungswert“10 der Dichtkunst nicht aufgeho e , so de
„a de s gelenkt“. Die Lyrik ist nicht
mehr als universelles Kunststück gedacht, das in jeder Epoche passt, weil es immer gültig und
sozusagen fruchtbar ist, sondern als Reflexion und Schilderung der eigenen Zeit. Dieser Ansicht nach
würde jede Zeit über eigene Dichtungsgegenstände verfügen, aber auch ihre spezifischen
poetis he Fo
e ha e . Da aus e gi t si h, dass diese ‚Ge au hsl ik sich an die Zeit von
Käst e a passt, a e
i ht als „Ge au hsl ik a si h“ - denn jede Lyrik soll Gebrauchslyrik, bzw.
für ihre Zeit brauchbare Lyrik, sein – sondern als eine kühle, am zeitgenössischen Leben
5
Erich Kästner, Lyriker ohne Gefühl, Neue Leipziger Zeitung, 4.12.1927. Aus Neue Sachlichkeit Band 2: Quellen
und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
6
Erich Kästner, Indirekte Lyrik, Das deutsche Buch 8 (1928), Nr. ¾ S. 143-145. Aus Neue Sachlichkeit Band 2:
Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
7
Erich Kästner, Prosaische Zwischenbemerkung – Lärm im Spiegel, aus Erich Kästner - Gesammelte Schriften in
sieben Bänden, Band 1 Gedichte, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln, 1959.
8
Vgl. Ib.
9
Ib.
10
Mit „Ü e legu gs e t“ ei e
i de We t jedes Ku ststü kes, ei e ‘au zu ‘efle io zu öff e . Das
Kunstwerk gibt viel zu denken, schrieb Kant.
3
ausge i htete L ik; als ei e L ik de Ne e sä hli he , „ei e Di htu g de U
ege“11. Auf diese
Weise kann vielleicht auch die Absage an den Ausdruck der „Neue Sa hli hkeit“ e klä t e de . Es
gibt keinen neuen Realismus oder neue Erkenntnisse in der Sache, hingegen gibt es eine geeignete
Form der Dichtung, über die sich Zeitgenossen unterhalten können. Zugleich fruchtbar und
brauchbar. Es ist so, dass in Kästners Land nicht mehr die Zitronen, sondern die Kanonen blühen. So
würde ich Kästners Begriff von Gebrauchslyrik interpretieren.
Ganz andere Bedeutung hat die Gebrauchslyrik von Brecht. Brecht fordert wie Kästner die
Modernisierung der Dichtkunst und unterstreicht die Notwendigkeit eines Bruchs mit seinen
Vorgängern12. Im Gegensatz zu Kästner ist die Lyrik Brechts jedoch politisch orientiert. Wie seine
theatralischen Werke bewiesen haben (man kann z.B. an die Lehrstücke denken), ist Kunst seiner
Meinung nach kein Selbstzweck. Sie dient den politischen Zwecken der Befreiung und dem
Fortschritt der Gesellschaft. Das bedeutet nicht, dass die Lyrik Brechts direkt eine politische Lyrik
ist. Aber, die L ik o B e ht „ eiß, die ei zige Cha e, die ih
lie , ist: Nebenprodukt in einem
sehr verzweigten Prozeß zur Änderung der Welt zu werden. Das ist sie hier. Und dazu ein
u s hätz a es“13 , wie Walter Benjamin feststellt. Daher hat Kunst insgesamt, insbesondere die
Dichtkunst einen Gebrauchswert dadurch, dass sie eine Wirkung auf die Gesellschaft hat. Um es
erneut mit den Worten von Benjamin auszudrücken: „Ih e [B e hts Wo te] pädagogische Wirkung
ha e sie zue st, ih e politis he da
u d ih e poetis he ga z zuletzt“ 14. Die politische Ausrichtung
de B e ht s he Ku st ist, wenn nicht offenkundig wahrnehmbar, zumindest einfach fühlbar. Man
kann auch sagen, dass die marxistische Überzeugung eine entscheidende Rolle spielt, um seine
literarische Produktion zu verstehen. Dies hatte Benjamin gut geahnt. Und die marxistische
Gesinnung ist wohl auch vielleicht einer der Hauptgründe, weshalb er die Gebrauchslyrik Brechts
preist und die Gebrauchslyrik Kästners verreißt. 1931 schreibt Walter Benjamin nach der
Herausgabe von Käst e s „Ei Ma
gi t Ausku ft“, de dritten seiner Gedichtsammlungen, die
e üh te K itik „Zu E i h Käst e s Gedi ht u h“. Hie
u de de
eka
te Ausd u k „Li ke
Mela holie“ i Bezug auf die lite a is he Bes häftigu g o Käst e gep ägt. Li ke Mela holie ist
11
Vgl. Erich Kästner, Indirekte Lyrik, Das deutsche Buch 8 (1928), Nr. ¾ S. 143-145. Aus Neue Sachlichkeit Band
2: Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
12
„Ich muss hier zugestehen, dass ich von der Lyrik Rilkes, Stefan Georges und Werfels wenig halte, weil ich
dadurch am besten und radikalsten den Leser dieser Ausführungen über meine Unfähigkeit informieren kann,
Erzeugnisse dieser oder verwandter Art irgendwie zu beurteilen“. Be tolt B e ht, Kurzer Bericht über 400 junge Lyriker,
in der Literarischen Welt 3 (1927), Nr.5 S.1. Aus Neue Sachlichkeit Band 2: Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau
Verlag, 200
13
Walter Benjamin, Bert Brecht, aus Walter Benjamin Gesammelte Schriften, Band II.2, Suhrkamp, 1977
14
Ib.
4
auch der Haupttitel des Schriftstücks selbst. Kurz gesagt, die gesamte literarische Haltung von
Kästner wird hier vernichtend kritisiert: Ih
i d „ge uälte Stupidität“ u d ei
e
eitete , late t
vorhandener Nihilismus, eine sinnlose Melancholie vorgeworfen. „Käst e s Gedi hte si d Sa he
fü G oß e die e , je e t au ige s h e fällige Puppe , de e Weg ü e Lei he geht“ 15 , und
weiter: „E hat o
o he ei
i hts a de s i
Auge als i
egati istis he ‘uhe si h sel st zu
ge ieße “ 16 . Aber nicht nur Kästner wird kritisiert, sondern die ganze Anschauung dieser
Gebrauchslyrik. In der Tat s h ei t Be ja i : „Die li ks adikale Pu liziste
Käst e , Meh i g ode Tu holsk si d die p oleta is he Mi ik
o
S hlage de
des ze falle e Bü ge tu s“17. Das
ist der Punkt. Der große Unterschied liegt zwischen dem marxistischen Hintergrund der
Gebrauchslyrik Brechts und dieses Autoren, die als Vertreter der Mittelschicht am meisten mit der
Mittels hi ht sp e he . „Käst e s Poesie ist bürgerliche Poesie mit der schärfsten Kritik am
Bü ge tu “18, sagt Hermann Kesten, doch es ist immer zuerst Poesie, wie ich hinzufügen würde.
Kein Apparat, kein Mittel zur Erziehung des Volks, keine pädagogische und politische Wirkung19:
Zuerst kommt immer die Poesie. Kästners Gedicht tragen jene Überlegung in sich
(Überlegungswert), über die wir schon gesprochen haben. Jene Überlegung einer Klasse, eines
Bürgers über seine eigene Epoche. Das passt nicht mit dem radikalen Marxismus zusammen.
Andererseits entspricht Brechts Produktion jenem A sp u h de „Politisie u g de Ku st“ 20 , die
Benjamin fordert, die das primäre Ziel der linken Kunst sein soll, und der Kästner fernsteht. Man
kann also festhalten, dass die Bedeutung des Begriffs der Gebrauchslyrik nicht so eindeutig ist, wie
es anfangs schien. Im Gegenteil: Wir haben zwei radikal unterschiedliche Realisierungen dieser Idee
gefunden: eine, die von Benjamin sogar verurteilt wird; die andere wird freigesprochen und
genehmigt. Dieser Bruch geht nicht nur diesen Begriff an. Er ist eine tiefe Wunde, die die ganze
neusachliche Bewegung betrifft. Aus diesem Grund bezeichnet die Literaturkritik die Neue
Sachlichkeit nie als übereinstimmende Bewegung, sondern als eine generelle Stimmung, als eine
Gegenströmung zum expressionistischen Abweg. Es ist nicht schwierig, Auseinandersetzungen
zwischen den neusachlichen Intellektuellen zu finden, insbesondere bezüglich dieses Themas.
15
Walter Benjamin, Linke Melancholie (1931), Gesammelte Schriften III, Suhrkamp, 1991
Ib.
17
Ib.
18
Hermann Kesten, Erich Kästner, aus Erich Kästner - Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Band 1 Gedichte,
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln, 1959.
19
Vgl. Anmerkung 12
20
Benjamin behauptet oft diesen Begriff, wie z.B. in der berühmten Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit: „So steht es um di Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der
Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst“. Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, 2015.
16
5
Beispielweise setzt Egon Erwin Kisch eine proletarische, sachliche, dokumentarische Kunst einer für
die Machthaber hergestellten Kunst entgegen. Er nennt jede Kunst, die nicht im Hinblick auf Politik
erzeugt wird, selbstbezogen, zeitlos und schädlich. E stellt de P i zip des „l a t pou l a t“ u ei e
proletarische, kämpferische Kunst gegenüber, und jede Kunst, die nicht kämpferisch ist, erweist sich
als „l a t pou l a t“21. „Jede
i kli he Ku st ist Oppositio , ‘e ellio ode ‘e olutio “22, schreibt
er. Gleichzeitig findet man Autoren, wie Alfred Döblin, die eine weitaus gemäßigtere Position zu
vertreten scheinen. In einem kurzen Zitat fasst er zusammen: „Was hie gesagt ist, ist i ht
Politisierung der Kunst, sondern ars militans, Wiederherstellung, Renaissance der Kunst und
zuglei h de ei zige Weg zu ih e ‘eha ilitie u g“23. Eine Position, die man wohl kaum als extrem
bezeichnen kann. „A s
ilita s“, eine Kunst, die wirksam ist, bedeutet nicht nur, dass sie politischen
Zielen dient. Es bedeutet, dass sie keine heilige, unfassbare Kunst, sondern eine Kunst, mit der man
sich beschäftigen kann. Eine Kunst der Zeit, die die Zeit vertreten kann, über die man diskutieren
kann. Eine Kunst, die relevant im Alltagsleben ist, eine Kunst, die über Abschiede in der Vorstadt
spricht, aber auch über kleine Städte am Sonntagmorgen, über Millionäre und Arbeitslose ebenfalls;
eine Kunst, die sich nicht beiseitelegen lässt.
3. Hinblick auf die Gegenkräfte und abschließende Bemerkungen
Wie schon gesagt ist die Neue Sachlichkeit die dominante Strömung der Weimarer Republik, aber
nicht die einzige. Tatsächlich gibt es Positionen und Autoren, die noch den geistigen, sozusagen
spirituellen Wert der Lyrik verteidigen. Diesbezüglich würde ich das Gespräch, das Hugo von
Hofmannsthal 1927 im Auditorium Maximum der Universität München gehalten zitieren. Es ist
u te de
iel sage de Titel „Das S h ifttu
als geistige ‘au
de Natio “ festgehalten. Diese
Rede war Anlass zu zahlreichen politischen Interpretationen und Manipulationen. Besonders viele
Beobachter
ha e
de
Ausd u k
„ko se ati e
‘e olutio “,
den
Hofmannsthal
als
zusammenfassende Maxime seiner Rede benutzt 24 , im politischen Sinn benutzt. Jedoch hat die
konservative Revolution von Hofmannsthal keinen direkten politischen Bezug und keine politische
21
Vgl. Egon Erwin Kisch: Antwort auf die Frage Gi t es eine proletaris he Kunst? in: Die neue Bücherschau 6
(1928). Aus Neue Sachlichkeit Band 2: Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
22
Ib.
23
Alfred Döblin, Kunst ist nicht frei, sondern wirksam: Ars militans. In: Die Literarische Welt 5 (1929). Aus Neue
Sachlichkeit Band 2: Quellen und Dokumente, S. Becker, Böhlau Verlag, 200
24
„De P ozeß, o de i h ede, ist i hts a de s al ei e ko se ati e ‘e olutio “. Zit. Hugo o
Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, aus Natur und Erkenntnis, Deutsche Buch-Gemeinschaft,
1957
6
Bedeutung25. Aus diesem Grund ist dieser Begriff, aus rein literarischer Perspektive betrachtet, für
diese Arbeit interessant. Eigentlich gibt es einen doppelten Grund: Das Wort ‚Revolution zeigt den
Willen einer Renovierung, eines Fortschritts; das Wort ‚konservativ suggeriert, dass wir nicht mit
einer Politisierung, Proletarisierung, oder Vereinfachung der Kunst, um sie zugänglich zu machen,
zu tun haben. Folglich betritt diese konservative Revolution den Weg der Modernisierung, der
Rehabilitation der Kunst, die sie mit der neuen Sachlichkeit teilt, aber auf ganz andere Weise. Laut
Hofmannsthal ist das Schrifttum der Platz, in dem die Identität einer Nation gegründet wird. Wir
sollen unter Nation aber nicht einen Nationalstaat verstehen, sondern eine geistliche Gemeinschaft.
Man sollte nicht vergessen, dass Hofmannsthal ein ehemaliger Untertan der Donaumonarchie war.
Es ist also offensichtlich, dass er nicht unseren Begriff der Nation teilte und die Tatsache, dass er
dieses Gespräch in München hält, beweist das. Er spricht von Nation, aber er spricht eindeutig von
einer deutschsprachigen Gemeinde. 26 Eine Sprache zu teilen, bedeutet auch eine gemeinsame
kulturelle, literarische Erbschaft zu besitzen. Aufgabe der Schriftsteller ist also diese Erbschaft zu
e stehe , zu s hütze , zu e
eite . Es ist i te essa t, eil diese ‚geistige L ik, die das Gege teil
zu der Gebrauchslyrik sein soll, in einigen Punkten nicht so weit von ihr entfernt ist. Auch diese Lyrik
versucht, zu ihren Zeitgenossen zu sprechen. Aber während die Gebrauchslyrik sich selbst
vereinfacht und sich so verständlich wie möglich machen will, um sich der Bevölkerung zu nähern,
verteidigt dagegen die geistige Lyrik ihre Heiligkeiten und Schwierigkeit so, dass sich die Bevölkerung
ihr annähert. Die Gebrauchslyrik bewegt sich auf die Volksmasse zu, die geistige Lyrik zieht sie zu
sich hoch. Gewissermaßen sind diese Gegenformen der Lyrik ähnlich: Beide orientieren sich an
einem Gebrauchswert. Die Standpunkte sind aber ganz unterschiedlich: Hofmannsthal war immer
im gewissen Sinne eine spirituelle Person, er spricht über Daseinsinhalte, über den Geist, über das
Unbekannte, das Unaussprechliche 27 ; Kästner und die Gebrauchslyriker sind sozusagen mehr
pragmatisch oder weniger gläubig.
„Bei Hof a sthal ist de Beg iff [ o ko se ati e ‘e olutio ] o h i ht politis h ge ei t“, A i Mohle ,
Die konservative Revolution in Deutschland 1918-32, Darmstadt Wiss. Buchges., 1989
26
„Die Nation, durch ein unzerreißbares Gewebe des Sprachlich-Geistigen zusammengehalten, wird
Glaubensgemeinschaft, in der das Ganze des natü li he u d kultu li he Le e s ei es hlosse ist.“ U d o h:“ I
einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das bloße natürliche Verständigungsmittel;
denn in ihr redet vergangenes zu uns, Kräfte i ke auf u s ei u d e de u ittel a ge ältig“. Zit. Hugo o
Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, aus Natur und Erkenntnis, Deutsche Buch-Gemeinschaft,
1957
27
„Die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder
die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die
stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen“. Zit. Hugo o Hof a sthal, Der Brief des Lord Chandos, Reclam, 2000
25
7
Unter Berücksichtigung der oben genannten Fakten kommen wir zu folgendem Fazit.
Ausgangspunkt dieser Arbeit war der Begriff der Gebrauchslyrik innerhalb der allgemeinen
Stimmung der Neuen Sachlichkeit. Die Entstehung dieses Begriffs ist tatsächlich im Rahmen dieser
Gegenströmung der Zwanziger Jahre zu finden. Dennoch hat diese kleine Arbeit auch einige
Widersprüche zum Vorschein gebracht. Einer der größten Vertreter der Gebrauchslyrik, Erich
Kästner, leh t die Ausd u ks eise ‚Neue Sa hli hkeit a ; Be tolt B e ht, de
sta k de
Gebrauchswert der Lyrik unterstützt, verfasst eigentlich Gedichte, die andere Voraussetzungen und
Zwecke als die von Kästner haben; der Unterschied zwischen beiden Autoren ist so groß, dass Walter
Benjamin zu ganz unterschiedlichen Urteilen kommt. Ihre Ansichten und die Argumentation von
Hofmannsthal und die Idee einer geistigen Kunst führt zur Frage, was es für die Lyrik bedeutet,
brauchbar zu sein. Nach dieser Untersuchung kann man wohl sagen, dass der große Unterschied
zwischen der Geist-, und der Gebrauchslyrik, oder besser gesagt zwischen der Geist-, und der
Gebrauchskunst, in der Verwurzelung der Zeit liegt. Beide Formen können in gewissem Sinne
brauchbar, fruchtbar, nützlich sein. Jedoch konzentriert sich eine Form auf ihre zeitgenössische
Gegenwart, während sich die andere Form an alle Epochen wendet und nur die Gegenwart
miteinbezieht, weil sie sich eben an alle Zeiten richtet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die
Gebrauchslyrik, wie Kästner sie interpretiert, eine Lyrik der eigenen Zeit ist. Dass diese die einzige
Brauchbarkeit einer Stück Lyrik ist, davon bin ich nicht überzeugt, wie der letzte Teil des Essays zu
zeigen versucht hat. Der letzte Absatz diente dazu, die verschiedenen Interpretationen des Begriffs
Gebrauchslyrik darzustellen und sich der Unterschiede in den Definitionen bewusst zu machen.
Allerdings wirft dies die Frage nach dem Wert und dem Ziel literarischen Arbeitens auf. Radikaler
gesagt: Was bedeutet Lyrik? Wofür schreiben Autoren? Warum schaffen Menschen
Literaturstücke?
Dies sind Fragen, die die Absicht und die Rolle dieser Arbeit überschreiten würden.
8