Magisterarbeit zum Thema
Öffentliche Argumentation und Macht.
Theoretische Analyse und Fallstudie.
Freie Universität Berlin
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
vorgelegt am 20. Mai 2003
von
Christoph Haug
Matrikel-Nr. 3333855
Erstgutachter: Prof. Dr. Hans-Jürgen Weiß
Zweitgutachter: Dr. Joachim Trebbe
1 Einleitung
2
Inhalt
1
EINLEITUNG
4
Teil I: Theoretische Analyse
2
MACHT
2.1
2.2
2.3
3
3.1
3.2
3.3
4
4.1
4.2
4.3
4.4
TRANSITIVE MACHT
INTRANSITIVE MACHT
DAS VERHÄLTNIS VON TRANSITIVER UND INTRANSITIVER MACHT
8
9
11
15
ÖFFENTLICHE ARGUMENTATION
20
ANTIKE RHETORIK UND MODERNE MEDIENFORSCHUNG
DAS ARENA-MODELL VON ÖFFENTLICHKEIT
ARGUMENTATIONSTHEORIE
3.3.1
Das Toulmin-Schema des Arguments
3.3.2
Topik
20
24
32
35
38
MACHT UND OHNMACHT ÖFFENTLICHER ARGUMENTATION
43
KURZFRISTIGE MACHTEFFEKTE VON ARGUMENTEN
LANGFRISTIGE MACHTEFFEKTE VON ARGUMENTEN
‚OHNMACHT‘ VON ARGUMENTEN
DIE MACHT DER ÖFFENTLICHKEIT
43
45
46
48
Teil II: Fallstudie
5
ARGUMENTANALYSE
5.1
5.2
5.3
5.4
FRAGESTELLUNG
UNTERSUCHUNGSMATERIAL
HYPOTHESEN / ERWARTUNGEN
OPERATIONALISIERUNG UND DURCHFÜHRUNG
5.4.1
Kategorien auf Artikelebene
5.4.2
Kategorien auf Argument-Ebene
5.4.3
Codierung und Reliabilitätstest
5.5 ERGEBNISSE
5.5.1
Welche Topoi werden wo verwendet?
5.5.2
Integration: Übereinstimmende Verwendung von Topoi
5.5.3
Exkurs: Wie werden die Topoi interpretiert?
5.5.4
Wie werden die Topoi bewertet?
5.5.5
Konformität: Die übereinstimmende Bewertung von Topoi
5.5.6
Unterschiede zwischen subjektiven und objektiven Genres
5.5.7
Konsensanalyse nach Merten
5.6 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE
6
FAZIT
LITERATUR
50
50
53
54
55
56
57
63
66
68
70
72
72
74
75
79
83
85
98
ANHANG A - CODEBUCH
104
ANHANG B - LISTE DER TOPOI
128
ANHANG C - TABELLEN
138
1 Einleitung
3
Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1: Charakterisierung transitiver und intransitiver Macht.....................................15
Abbildung 2: Handlungsräume ..................................................................................................16
Abbildung 3: Das Arena-Modell der Öffentlichkeit................................................................26
Abbildung 4: Das Toulmin-Schema des Arguments...............................................................35
Abbildung 5: Toulmins Beispiel-Argument..............................................................................36
Abbildung 6: Das dreigliedrige Grundmodell des Arguments...............................................37
Abbildung 7: Konsensanalyse als Analyse von Schnittmengen.............................................79
Tabelle 1: Anteile der Argumente mit expliziten bzw. impliziten Begründungen ..............67
Tabelle 2: Relative Häufigkeiten der verwendeten Topoi.......................................................69
Tabelle 3: Gemittelte Korrelationen als Integrations- und Konformitätsmaße ..................75
Tabelle 4: Vergleich von Integration und Konformität nach Genres...................................76
Tabelle 5: Medienübergreifende Relevanz der einzelnen Topoi............................................81
Tabelle 6: Medienübergreifend gleich Bewertung der gemeinsam verwendetenTopoi......82
Tabelle A 1: Argumentdichte sowie mittlere Artikelgröße und Argumentzahl je Zeitung
..............................................................................................................................................138
Tabelle A 2: Anteil der Argumente mit expliziter bzw. implizit rekonstruierter
Begründung ........................................................................................................................138
Tabelle A 3: Korrelationen der Toposhäufigkeiten (Toposrelevanz1)................................139
Tabelle A 4: Korrelationen der gewichteten Bedeutung (Toposrelevanz2)........................139
Tabelle A 5: Korrelationen des Toposrelevanz3.....................................................................139
Tabelle A 6: Mittlere Argumenttendenzen bezogen auf Zuwanderung bzw. Integration140
Tabelle A 7: Korrelationen der Argumenttendenz zur Zuwanderungsproblematik
(pro/kontra Zuwanderung)..............................................................................................141
Tabelle A 8: Korrelationen der Argumenttendenz zur Integrationsproblematik
(pro/kontra Multikuliti bzw. pro/kontra Restriktionen gegen MigrantInnen) ........141
Tabelle A 9: Bewertung der Topoi..........................................................................................142
Tabelle A 10: Anteil der Argumente bzw. Topoi mit Bewertung .......................................143
Tabelle A 11: Die Korrelationen der Toposrelevanz (Integration) und der
Toposbewertung (Konformität)......................................................................................144
Tabelle A 12: Integration und Konformität der Zeitungstypen ..........................................144
1 Einleitung
4
1 Einleitung
Wer die öffentliche Meinung auf seiner Seite hat, der hat auch einige Macht. Wer Macht
ausüben möchte, kann dies langfristig nur schwer gegen die öffentliche Meinung tun.
Dies gilt für gesellschaftliche Akteure ebenso wie für gewählte Repräsentanten in der
Politik. Letztere genießen zwar einen gewissen Macht-Kredit, müssen sich jedoch
weiterhin in der Öffentlichkeit als ‚kreditwürdig‘ erweisen. In modernen Demokratien ist
es jedoch selten, daß einzelne Personen diese Macht völlig unabhängig von konkreten
politischen Inhalten für sich verbuchen können. Prestige und Prominenz entkoppeln
zwar tendenziell die Bindung zwischen den Inhalten, für die eine Person steht und der
Person selbst, so daß von ihr unter Umständen auch solche Inhalte positiv aufgenommen
werden, die eigentlich die öffentliche Meinung gegen sich haben und von anderen
Personen nicht akzeptiert würden. Jedoch wurden Prestige und Prominenz auch auf der
Grundlage bestimmter Inhalte erteilt und können bei dauerhaftem Mißfallen wieder
entzogen werden. Zudem sichert Prominenz zunächst nur den Zugang zur Öffentlichkeit,
nicht jedoch positive Resonanz. Und Prestige gewährt wohlwollende Aufnahme meist nur
in begrenzten Fachgebieten. Wenngleich also immer wieder mangelnde Sachpolitik und
eine starke Fixierung auf Personen statt auf Inhalte beklagt wird, so läßt sich die
inhaltliche Komponente doch nie ganz eliminieren. Auch Köpfe stehen letztlich für
Inhalte, selbst wenn über diese vielleicht weniger diskutiert wird.
Die Inhalte, über die ein weitgehender ‚Konsens‘ in der Öffentlichkeit besteht,
können jedoch auf ganz unterschiedlichen Abstraktionsniveaus angesiedelt sein:
Manchmal besteht eine relativ gefestigte öffentliche Meinung zu einer ganz bestimmten
Frage oder zu einem konkreten Problem. In pluralistischen Gesellschaften wird ein
öffentlicher ‚Konsens‘ jedoch eher auf wesentlich allgemeinerer Ebene liegen, so daß über
die richtige Lösung spezifischer Probleme – trotz eines Grundkonsenses – in der
Öffentlichkeit
jeweils
durchaus
noch
Uneinigkeit
besteht.
Wenngleich
in
korporatistischen Systemen solche Konflikte in manchen Politikbereichen nichtöffentlich verhandelt und ‚gelöst‘ werden, finden in der Öffentlichkeit immer wieder
Debatten über die Lösung bestimmter gesellschaftlicher und politischer Probleme statt.
Neben verschiedenen anderen rhetorischen Mitteln werden hier Argumente eingesetzt
um den Gegner zu überzeugen bzw. um das Publikum auf seine Seite zu ziehen und
damit den Gegner in Schwierigkeiten zu bringen und die eigenen Möglichkeiten zu
erweitern. An dieser Stelle sind öffentliche Argumentation und Macht offensichtlich
aufeinander bezogen.
1 Einleitung
5
Gegenstand der theoretischen Analyse, die den ersten Teil dieser Arbeit bildet, wir
es sein, jenes Verhältnis zwischen öffentlicher Argumentation und Macht genauer zu
bestimmen. Dabei sollen nicht mit einem normativen, demokratietheoretisch inspirierten
Blick die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, die natürlich auch die öffentliche
Diskussion prägen, analysiert und kritisiert werden. Diese Perspektive umfassend entfaltet
zu haben ist das Verdienst von Jürgen Habermas, der sein Lebenswerk gewissermaßen
dem Thema Öffentlichkeit und Herrschaft gewidmet hat. Habermas sieht in der
Verständigungsorientierung,
die
Sprache
selbst
innewohne,
die
Möglichkeit
herrschaftsfreier Konsensbildung. Diese könne einerseits erst in einer von Herrschaft
befreiten Gesellschaft verwirklicht werden, andererseits aber sei sie schon in jeder
Kommunikation im Postulat einer idealen Sprechsituation als Potential enthalten sei. (z.B.
HABERMAS 1980/2, 182ff, insb. 218) Macht und Argumentation sind bei Habermas sich
gegenseitig ausschließende Gegensätze: In einer völlig vermachteten Öffentlichkeit sei
wirkliche Argumentation nicht möglich und wo allein „der zwanglose Zwang des
besseren Arguments“
(HABERMAS 1973, 240) wirke, sei Macht verbannt.
Demokratietheoretisch wird damit der Anspruch verbunden, daß politische Akteure ihre
Entscheidungen öffentlich begründen müssen, um sie zu legitimieren. Der öffentliche
Gebrauch von Vernunft soll die Rückbindung kollektiv verbindlicher Entscheidungen an
die Lebenswelt der Betroffenen gewährleisten.
Da Habermas ein normatives Modell präsentiert, verwundert es nicht, wenn
empirische Studien zu massenmedialer Öffentlichkeit Rationalitätsdefizite konstatieren.
Christoph KUHLMANN (1999) beispielsweise hat analysiert, inwiefern politisches Handeln
in der massenmedialen Öffentlichkeit begründet wird und stellt fest, daß sich in der
Medienberichterstattung seltener Begründungen finden als in den Pressemitteilungen der
politischen Akteure. Akteure, die besonders häufig oder umfangreiche Begründungen
lieferten, hätten „wenig Chancen, sich damit auch in den Medien wiederzufinden.“
(KUHLMANN 1999, 275) Jürgen Gerhards weist in diesem Zusammenhang auch die
Hoffnung zurück, daß etwa zivilgesellschaftliche Akteure zu einer niveauvolleren
öffentlichen Diskussion beitragen könnten. Seine Untersuchung zum Rationalitätsniveau
des öffentlichen Diskurses mündet in der Vermutung, daß „sich das Diskursniveau der
Gesamtdebatte eher verschlechtern als verbessern würde, wenn die Akteure der
Zivilgesellschaft tatsächlich die dominanten Akteure der Öffentlichkeit wären.“
(GERHARDS 1997, 31; kritisch: KUHLMANN 2000, 192) Alex Demirovic schließlich
verweist auf den unausweichlich hegemonialen Charakter von Öffentlichkeit selbst, der
das emanzipatorische Potential öffentlicher Argumentation in Frage stelle „Hegemonie
1 Einleitung
6
wird nicht allein in der Öffentlichkeit und um die Grenzen der Öffentlichkeit praktiziert,
sondern Öffentlichkeit ihrerseits praktiziert Hegemonie.“ (DEMIROVIC 1994, 690) Da
öffentliche Diskussionen immer schon in eine Hierarchie eingebunden und auf staatliche
Politik bezogen seien, stelle Öffentlichkeit nicht das Gegenteil staatlicher Herrschaft dar,
sondern sie sei „Teil eines komplexen Dispositivs staatlicher Herrschaft“ (DEMIROVIC
1994, 686) Die Forderung nach rationaler öffentlicher Diskussion stehe deshalb nicht
außerhalb der Konkurrenz um Macht, sondern sie nehme daran Teil.
Insbesondere aus machttheoretischer Perspektive erscheint es daher sinnvoll, in
rationaler Argumentation nicht nur eine Begrenzung von Macht zu vermuten, sondern
auch eine Bestätigung von Macht. Die Begründungen, auf die sich Argumente stützen,
sind nicht nur mehr oder weniger rational, sondern auch von unterschiedlicher Rationalität.
Argumente lassen sich nicht nur quantitativ nach ihrem Rationalitätsniveau
unterscheiden, sondern auch qualitativ nach der Art ihrer Rationalität. Für diesen
inhaltlichen Aspekt öffentlicher Rationalität, wurde im Anschluß an Michel FOUCAULT
(1981) der Begriff der ‚politischen Vernunft‘ geprägt. (z.B. ROSE/MILLER 1992; LEMKE
1997) Statt im öffentlichen Diskurs möglichst ausführliche Begründungen zu erwarten
oder zu erhoffen, interessiert hier die inhaltliche Perspektive, unter der ein Thema
diskutiert wird. Der ‚Zwang‘, in der Öffentlichkeit auf eine bestimmte (hegemoniale)
Weise reden zu müssen, um erfolgreich zu sein, lenkt die Aufmerksamkeit auf die
Verbindung von öffentlicher Argumentation und Macht. Aus dieser Perspektive wird
öffentliche Argumentation gerade als Mittel des politischen Machtkampfes analysierbar,
statt Argumente als etwas der Macht bloß entgegengesetztes zu betrachten.
Notwendig für eine solche Untersuchung von Macht und öffentlicher
Argumentation ist zunächst eine dem Gegenstand adäquate Theorie der Macht. Eine
solche Theorie der Macht, die den neuesten Stand der politikwissenschaftlichen
Machtdiskussion berücksichtigt und die sich für eine Erklärung der Machtwirkung von
Argumenten geradezu anbietet, stelle ich in Kapitel 2 vor. Anhand der Unterscheidung
von transitiver und intransitiver Macht, die Gerhard GÖHLER (2000) in Anlehnung an die
Machtbegriffe von Max Weber und Hannah Arendt vorgeschlagen hat, läßt sich zeigen,
daß die Macht im Sinne von ‚Möglichkeit, politische Maßnahmen durchzusetzen‘ nur so
lange existiert, wie es einen expliziten oder impliziten öffentlichen ‚Konsens‘ darüber gibt,
dies zuzulassen.
In Kapitel 3 entwickle ich ein Konzept öffentlicher Argumentation, das einerseits
auf die überwiegend in der Linguistik entwickelte Argumentationstheorie zurückgreift
(KIENPOINTNER 1992b u.a.) und andererseits auf das Arena-Modell der Öffentlichkeit
1 Einleitung
7
(GERHARDS/NEIDHARDT 1990). Zentral ist dabei das Toulmin-Schema des Arguments,
das der Philosoph Stephen TOULMIN 1958 vorlegte. Danach lassen sich neben einer
Forderung und deren Begründung noch die Schlußregel eines Arguments unterscheiden,
die – analog zur Ausübung transitiver Macht – den Übergang von der Begründung zur
Forderung überhaupt erst ermöglicht. Sie kann im Lichte der antiken Rhetoriktradition
und der neueren Rhetorikforschung auch als Topos des Arguments verstanden werden,
d.h. als jener Ort geteilten Wissens und Meinens, auf den sich ein Argument bezieht und
aus dem es seine Überzeugungskraft schöpft.
Während Göhler sein Macht-Konzept vor allem zur Erklärung der Macht von
Institutionen und zur Analyse der symbolischen Dimension von Politik verwendet, wird
in Kapitel 4 der Versuch unternommen, die Unterscheidung von transitiver und
intransitiver Macht auf öffentliche Argumentation anzuwenden und zu analysieren,
warum bzw. wann ein Argument in der Öffentlichkeit wirksam Macht entfalten kann.
Machtvoll – im Sinne transitiver Macht – ist ein Argument demzufolge immer dann,
wenn es sich auf geteiltes Wissen bzw. geteilte Normen bezieht, wenn es also auf
intransitive Machtressourcen zurückgreifen kann. Wenn öffentliche Argumentation
jedoch immer bestimmte Selbstverständlichkeiten voraussetzen muß, um wirksam zu
sein, so stellt sich die Frage, ob solche Selbstverständlichkeiten in einem pluralistischen
Mediensystem auch wirklich vorhanden sind bzw. konstruiert werden. In Anlehnung an
das Arena-Modell von Öffentlichkeit mündet das Kapitel daher in dem Vorschlag, die
Macht
von
Argumenten
in
verschiedenen
Öffentlichkeitsarenen
als
Abgrenzungskriterium für Teil-Öffentlichkeiten zu verwenden: Eine Arena bzw. TeilÖffentlichkeit ist dann von einer anderen verschieden, wenn bestimmte Argumente in der
einen
Arena
eine
große
Macht
haben,
in
der
anderen
jedoch
nicht.
Argumentationstheoretisch gehen solche unterschiedlichen Teil-Öffentlichkeiten von
unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten (Topoi) aus, die – im Gegensatz zur Macht
eines Arguments – inhaltsanalytisch meßbar sind.
Im zweiten, empirischen Teil der Arbeit (Kapitel 5) wird vor diesem Hintergrund
die Struktur politischer (Medien-)Öffentlichkeit am Beispiel eines Ausschnitts des
Zuwanderungsdiskurses analysiert. Anhand einer Argumentanalyse wird die Frage
untersucht,
inwiefern
beim
Thema
Zuwanderung
überhaupt
von
einer
Medienöffentlichkeit die Rede sein kann oder ob sich ‚die‘ Öffentlichkeit nicht besser
anhand mehrerer Teil-Öffentlichkeiten beschreiben läßt, die von unterschiedlichen
Selbstverständlichkeiten ausgehen und damit verschiedenen Akteuren unterschiedliche
Machtressourcen zur Verfügung stellen. Dabei soll es weniger um Erkenntnisse über den
2 Macht
8
Zuwanderungsdiskurs gehen, als um ein Verständnis der Funktionsweise öffentlicher
Argumentation und einer Beschreibung der strukturellen Bedingungen für Argumentation
in der Medienöffentlichkeit.
Methodisch knüpfe ich bei meiner Untersuchung an die Erfahrungen mit der
Argumentationsanalyse von Hans-Jürgen WEIß (1992) an. Wie bei Weiß werden die
Argumente zu einer bestimmten Streitfrage zusammen mit den Reaktionen, die auf sie
folgen, inhaltsanalytisch erfaßt. Während das von Weiß entwickelte Instrument jedoch
primär auf die Erhebung der einzelnen Argumentationstendenzen abzielt, mit dem Ziel
daraus eine Gesamttendenz zu errechnen, (WEIß 1985; 1986; 1988) steht im Fokus der
hier vorgestellten Argumentanalyse nicht eine klare Tendenz bezogen auf die Streitfrage,
sondern die Selbstverständlichkeiten (Topoi), auf die sich die Argumente stützen können
und die in Anschluß an den ersten Teil der Arbeit als intransitive Machtressourcen
verstanden werden können. Das methodische Ziel bei Weiß, die Erfassung der
inhaltlichen Dimension des Agenda-Setting Prozesses, (WEIß 1992, 376) wird aufgegriffen
und diskursanalytisch erweitert. Im Vordergrund stehen nicht mehr die inhaltlichen
Positionen einzelner Medien, ihr Verhältnis zueinander, d.h. die Frage ob es
möglicherweise einen medienübergreifender Grundkonsens gibt, der den politischen
Diskurs und den öffentlichen politischen Machtkampf prägt, indem er die Bedingungen
vorgibt, die politische und gesellschaftliche Akteure vorfinden, wenn sie sich in die
Öffentlichkeit begeben (wollen).
Teil I: Theoretische Analyse
2 Macht
Gerhard GÖHLER (2000)1 hat vorgeschlagen, analytisch zwei Formen der Macht zu
unterscheiden: Transitive und intransitive Macht. Er knüpft damit an die in der
politikwissenschaftlichen Machtdiskussion einflußreiche Unterscheidung von Hannah
1
Der Band, in dem dieser Aufsatz publiziert wurde „represents the latest works of members of the IPSA
[International Political Science Association] Research Committee on Political Power“. (Preface, xi) Die
Autoren reflektieren sowohl ältere politikwissenschaftliche Debatten um den Begriff der Macht wie auch
die Veränderungen in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung allgemein (insbesondere nach Ende des
Kalten Krieges), um auf diese Weise zu einer zeitgemäßen Perspektive auf das Phänomen der Macht zu
gelangen. Die Autoren stellen fest, daß „attention shifted in the 1980s from ‘who governs‘ to ‘how to
govern‘“. (Epilogue in GOVERDE/CERNY/HAUGAARD u.a. 2000, 221) Dies drückt sich auch in der
Fragestellung dieser Arbeit aus, die Macht primär nicht Akteuren, sondern Argumenten zuordnet.
Weitere Publikationen, in denen Göhler und andere die Unterscheidung von transitiver und intransitiver
Macht angewendet und erläutert haben, sind GÖHLER 1995 und GÖHLER u.a. 1997.
2 Macht
9
PITKIN (1972, 276f) zwischen Macht als Potential oder Fähigkeit („power to“) und
Macht, die über andere ausgeübt wird („power over“), an. (GÖHLER 2000, 42) An Pitkins
Unterscheidung bemängelt er jedoch, daß die Macht, durch die etwa eine Gruppe als
Gruppe integriert werde, zwar nicht über andere ausgeübt werde, jedoch auch kein bloßes
Potential darstelle. Macht werde hier einerseits durch den Zusammenhalt der Gruppe
hervorgebracht, andererseits werde dadurch der Zusammenhalt wiederum selbstbezüglich
verstärkt bzw. erhalten und die Gruppe handlungfähig gemacht. Diese Macht könne nicht
als bloßes Potential gesehen werden. Statt von ‚power to‘ und ‚power over‘ zu sprechen,
schlägt Göhler die Unterscheidung von transitiver und intransitiver2 Macht vor, die im
folgenden erläutert werden wird. GÖHLER (1995, 8) will damit „die neuere Diskussion
[zum Machtbegriff, C.H.] auf zwei grundlegend unterschiedene Machtverständnisse hin
zu bündeln“. Dadurch wird es möglich, den Zusammenhang von Macht und
gesellschaftlich verallgemeinerter Normen und Praktiken herauszuarbeiten, so daß
Göhlers Vorschlag auch für die Analyse politischer Argumentationen fruchtbar gemacht
werden kann (Kapitel 4). Zunächst soll daher geklärt werden, was unter transitiver und
intransitiver Macht zu verstehen ist.3
2.1 Transitive Macht
Göhler entwickelt den Begriff der transitiven Macht anhand des Machtbegriffs von Max
Weber:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch
gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (WEBER
1921, 28)
Transitive Macht entspricht damit einer in den Sozialwissenschaften verbreiteten
Auffassung von Macht: „Power understood as the excertion of influence over others,
either in accordance with or, even more significantly, against their will.“ (GÖHLER
2000, 41) Dies entspricht auch unserem Alltagsverständnis von Macht und beschreibt den
täglichen Kampf um politische (Regierungs-)Macht: Entweder Akteur A kann seinen
Willen im politischen Prozeß durchsetzen oder Akteur B (oder C oder D...). Wo A sich
durchsetzt hat B das Nachsehen, denn die Verteilung transitiver Macht ist stets ein
2
Die Begriffe „transitiv“ und „intransitiv“ entstammen der Grammatik und beschreiben das Verhalten
eines Verbs. Ein transitives Verb ist ein Verb, dessen Handlung auf ein Objekt gerichtet ist (z.B.: Erwin
mag Bananen), während ein intransitives Verb kein Objekt hat (z.B.: Elvis lebt).
3 Göhler bezieht sich dabei auf eine Vielzahl von Autoren und Autorinnen, aus deren Werken er jeweils die
für ihn tauglichen Aspekte herausgreift und weiterverarbeitet. Die Rezeptionsweise Göhlers verstehe ich
daher nicht als umfassende Integration verschiedener Ansätze, sondern als heuristisches bzw. didaktisches
Vorgehen, durch das die verschiedenen Aspekte seines eigenen Machtkonzepts verständlicher werden.
2 Macht
10
Nullsummenspiel. Die Macht, die A über B ausübt, zeichnet sich ja gerade dadurch aus,
daß A sie hat und B nicht, wenngleich natürlich die Handlungsmöglichkeiten von B nicht
auf Null reduziert sind: Akteur A kann seinen Willen niemals uneingeschränkt umsetzen,
ohne Widerstand zu provozieren. „Power is not possible without counterpower,
otherwise it would be no different than pure force or violence.“ (GÖHLER 2000, 44)
Göhler unterscheidet transitive Macht also noch einmal von Gewalt bzw.
unmittelbarem Zwang, indem er nur so lange von Macht spricht, solange sie nicht eine
völlig determinierende Kraft darstellt, solange also für den von der Macht Betroffenen
noch alternative Handlungsoptionen offen stehen, sei es auch zu einem hohen Preis.
Wenn die „Macht“ diese Freiheit nicht mehr bietet, dann spricht Göhler nicht von Macht,
sondern von Gewalt oder Zwang.4 Dennoch könne transitive Macht durch Zwang oder
Gewalt ersetzt werden. Die Durchsetzung eines Willens mit Zwangsmitteln oder durch
Gewalt kann dann als Zeichen von Ohnmacht, d.h. von Machtlosigkeit, verstanden
werden, denn wäre Macht vorhanden, wäre keine Gewalt nötig.5
Wenn die Ausübung transitiver Macht also nicht gleichzusetzen ist mit Gewalt
oder Zwang, wie wird sie dann ausgeübt? Und von wem? Sie kann direkt durch
handelnde Akteure oder indirekt über Erwartungshaltungen ausgeübt werden. Auch
Strukturen beeinträchtigen die Handlungsoptionen von Akteuren und üben, Macht über
die Akteure aus. (GÖHLER 2000, 44) Göhler bezeichnet auch die moralischen
Überzeugungen der Bürger als eine Form transitiver Macht, „since they, to a certain
degree, limit citizens’ political options.“ (GÖHLER 2000, 44) Gemeint ist hier, daß ein
Akteur, der von bestimmten moralischen Werten überzeugt ist, deshalb bestimmte
(politische) Handlungen nicht bzw. weniger wahrscheinlich ausführen wird. Die Größe
der transitiven Macht, die von moralischen Überzeugungen ausgeht, hängt also davon ab,
wie stark diese Überzeugungen jeweils verankert sind. Wer seine moralischen
Überzeugungen mit einer gewissen Distanz immer wieder neu überdenkt und
situationsbezogen anwendet oder nicht, über den werden diese Überzeugungen weniger
Macht ausüben als über einen ‚Dogmatiker‘, dessen Leben von seinen Überzeugungen
bestimmt ist.6 Zentrales Merkmal transitiver Macht ist also, daß sie über andere ausgeübt
wird und dabei Handlungsoptionen des Adressaten eingeschränkt werden.
4
Hier wird deutlich, daß Göhler transitive Macht mit Webers Machtbegriff nicht völlig gleichsetzt, denn die
Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt/Zwang findet sich so bei Weber nicht. Durch die
Formulierung „gleichviel worauf diese Chance beruht“ (WEBER 1921, 28) schließt Weber unmittelbaren
Zwang und physische Gewalt sogar implizit in seinen Machtbegriff mit ein.
5 Zur weiteren Erläuterung dieser zunächst kontraintuitiven Terminologie siehe auch Hannah Arendts
Unterscheidung von Macht und Gewalt, die in Kapitel 4.3 erläutert wird.
6 Auf diesen Aspekt werde ich in Kap. 2.3 noch einmal zurückkommen.
2 Macht
11
2.2 Intransitive Macht
Den Begriff intransitiver Macht entwickelt Göhler anhand des Machtbegriffs von Hannah
Arendt, der dem Weberschen fundamental entgegengesetzt ist:
„Macht ... entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln“ (ARENDT 1958, 192)
„Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen
Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.“ (ARENDT
1958, 192) „Der Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend
miteinander umgehen. (ARENDT 1958, 191) „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit,
nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und
im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (ARENDT 1970, 45) „Macht entsteht, wann immer
Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln“. (ARENDT 1970, 53)
Macht nach diesem Verständnis hat nichts damit zu tun, seinen Willen gegen andere
durchzusetzen. Macht ist hier vielmehr verstanden im Sinne von Selbstmächtigkeit einer
Gruppe, die aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten sich überhaupt erst als Gruppe
konstituiert. Erst durch einen in der Gruppe erzeugten ‚Konsens‘ wird diese
handlungsfähig.
„Intransitive Macht ist das Produkt des Zusammenhandelns der Akteure – oder genauer: der
Sachverhalt des Zusammenhandelns selbst.“ (GÖHLER 1995, 9)
Göhler hebt diese Bedeutung intransitiver Macht insbesondere für die Gesellschaft als
ganze hervor, die aufgrund eines Grundwertekonsenses und gemeinsamer Praktiken
integriert werde und dadurch eine Macht produziere, im Sinne eines „gemeinsamen
Vermögens, schöpferische[r] Lebenssteigerung, die nicht instrumental, sondern nur als
Selbstzweck verstanden werden kann.“ (GÖHLER 1995, 9) Der entscheidende
Unterschied zur transitiven Macht liege darin, daß es sich bei intransitiver Macht nicht um
ein Nullsummenspiel handele. Da intransitive Macht nicht gegen andere gerichtet sei,
sondern zur Konstitution einer sozialen Einheit diene, verringere eine Vergrößerung
intransitiver Macht auch nicht die Macht eines anderen Akteurs, sondern bedeute eine
Erhöhung der Intensität der gemeinsamen Handlungen. (GÖHLER 2000, 45) Ohne ein
Fundament intransitiver Macht könne keine soziale oder politische Einheit über längere
Zeit existieren, da sie sonst zerfalle.
Parsons, Luhmann, Foucault
In der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung sieht Göhler mehrere Autoren, die –
unabhängig von Arendt – einen intransitiven Machtbegriff entwickelt und so zu einer
neuen Sicht des Phänomens Macht beigetragen hätten:
„The transition from a concept of power as a zero-sum-game to a concept of power
understood as productive for all participants is most clearly demonstrated by Talcott Parsons
2 Macht
12
and Niklas Luhmann (...). In these concepts, power is understood as an interdependent
relationship. The interplay of power brings about an increase of power of all participants
simultaneously.“ (GÖHLER 2000, 45)
Auch das Werk Michel Foucaults, in dessen Zentrum die Analyse von Macht steht, (z.B.
FINK-EITEL 1989, 7; LEMKE 2002, 473) eröffnet den Blick auf die intransitive Seite der
Macht. Während Arendts Machtbegriff eine auf Aristoteles und die griechische Polis
zurückgehende normative Konzeption der politischen Sphäre darstellt, die den Menschen
als politisches Wesen in Erscheinung treten läßt, liefert Foucault eine empirische
Auseinandersetzung mit dem Phänomen intransitiver Macht: „Schematically speaking, the
result of Foucault’s analysis of power is what Arendt postulates from a normative
perspective.“ (GÖHLER 2000, 46)
Foucault fragt nicht – wie Arendt – wie die Bürger eine politische Einheit
konstituieren. Er ist daran interessiert, was Gesellschaften – insbesondere moderne
Gesellschaften – in ihrer Vielfalt zusammenhält und untersucht dabei die Vielfalt der
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse von indirekter Herrschaft durch diskursives Wissen
bis hin zu direkten Unterdrückungsverhältnissen. In der Frühphase seines Werks
betrachtet er die Macht, die die Gesellschaft integriert, als eine unterdrückende, also als
direkte Kontrolle, d.h. in Göhlers Terminologie als transitive Macht. In diesem Sinne
arbeitet Foucault heraus, wie bestimmte gesellschaftliche Praktiken und Diskurse die
Handlungsmöglichkeiten von Individuen (z.B. Kranken, Verrückten, Gefangenen,
Schülern etc.) einschränken. Doch im Laufe seiner Forschungen arbeitet Foucault mehr
und mehr den produktiven Aspekt von Macht heraus, den wir in Göhlers Terminologie als
eine Form intransitiver Macht bezeichnen können. Anhand seiner Begriffe der
Disziplinar- und Pastoralmacht zeigt Foucault, daß die Internalisierung von Regeln und
Normen nicht nur eine Kontrolle und damit repressive Machtausübung (transitiver
Macht) darstellt, sondern zugleich die Funktionsfähigkeit und damit die Produktivität
sozialer Einheiten erhöht:
„Even though Foucault dissects our societies with critical intent, his analysis makes clear that
at the same time as relationships of power restrict certain opportunities for engaging in
different types of action, they make others possible.“ (GÖHLER 2000, 46)
Bei Foucault geht es also um die Möglichkeiten, die durch Macht eröffnet werden,
wenngleich damit die möglicherweise banale Feststellung verbunden ist, daß die
2 Macht
13
Ermöglichung bestimmter Handlungen immer notwendig auch die Behinderung oder den
Ausschluß anderer Möglichkeiten bedeutet.7
Wenn man nun in Betracht zieht, daß Räume möglicher Handlungen bei Foucault
nicht von Einzelnen eröffnet werden, sondern das Resultat vielfältiger Machtbeziehungen
sind, die nicht von einem einzigen Zentrum ausgehen sondern netzwerkartig die ganze
Gesellschaft überziehen, (FOUCAULT 1976, 113f) dann werden die Parallelen8 zu Hannah
Arendts Machtbegriff deutlich, die dann in Göhlers Konzept der intransitiven Macht
münden: Während Individuen die Bedingungen ihrer Handlungen wesentlich vorfinden
und sie als Einzelne lediglich annehmen oder ablehnen können, ist die Veränderung und
Gestaltung dieser Bedingungen eine Frage von Handeln mit anderen im Einvernehmen.
Politik, deren Aufgabe ja gerade als die „Herstellung, Ordnung und Durchführung
verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen“ (GÖHLER 1997a, 17 und
21) definiert wird, benötigt also stets intransitive Macht als Grundlage. Intransitive Macht
ist also überall dort, wo auf der Grundlage gemeinsamer Orientierungen und
gemeinsamer Handlungen ein gemeinsamer Handlungsraum („common space of action“
(GÖHLER
2000,
Handlungsraums
48))
entsteht.
intransitiver
Erst
innerhalb
Machtbeziehungen
eines
kann
solchen
dann
ein
gemeinsamen
verschränkter
Handlungsraum („interlocking space of action“ (GÖHLER 2000, 48)) entstehen, innerhalb
dessen dann um transitive Macht gerungen wird. (Dazu ausführlicher Kap. 2.3)
Göhler zieht für die Beschreibung der beiden Funktionen von Politik – Integration
(Erzeugung intransitiver Macht innerhalb eines gemeinsamen Handlungsraumes) und
Steuerung (durch Anwendung transitiver Macht) – den Begriff des Staates als
„organisierte[r] Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ aus der Staatslehre Hermann
Hellers heran. (GÖHLER 2000, 47f) Für die vorliegende Arbeit ist eine Vertiefung dieses
Aspekts jedoch nicht nötig.
Bourdieu
Zur weiteren soziologischen Fundierung des Begriffs intransitiver Macht zieht Göhler
einen weiteren Theoretiker heran. Anhand von Pierre Bourdieus Theorie symbolischer
Kämpfe erklärt er empirisch, was schon bei Hannah Arendt postuliert wurde: Intransitive
Macht muß ständig aktualisiert und sichtbar gemacht werden, da sonst der
7
Ähnlich hat Luhmann gezeigt, daß die (womöglich völlig freie) Entscheidung zwischen A und B immer
schon die Unterscheidung zwischen A und B voraussetzt und damit alle anderen möglichen
Unterscheidungen ausschließt.
8 Als entscheidender Unterschied bleibt bestehen, daß die Handlungsräume bei Arendt – angelehnt an die
griechische Polis – in einem mehr oder weniger bewußten Akt gemeinsamen Redens und Handelns
2 Macht
14
Handlungsraum, die politische Einheit zerfällt. Mit Bourdieu werde verständlich, wie es
gelingt, bestimmte Wahrnehmungsmuster und Praktiken so weit zu verallgemeinern und
auf Dauer zu stellen, daß sie integrierend wirken und intransitive Macht entfalten können,
während dies auch bei Foucault noch unklar bleibe.
Die Integration vollzieht sich laut Göhler9 durch die symbolische Repräsentation
der gemeinsamen Orientierungen und Handlungen. (GÖHLER 1997a, 49)
„Anders als Rechtsnormen verlangen Symbole von den Bürgern kein eindeutiges Verhalten
oder schließen Alternativen eindeutig aus. Sie lassen ihnen Interpretationsspielräume und
unterschiedliche Möglichkeiten der affektiven Zuwendung – die sie aber wiederum, wenn ein
Resonanzboden vorhanden ist, enorm verstärken. Symbole stehen also für eine gemeinsame,
nicht aber für eine uniforme Realität. Sie sind, recht gebraucht, eher die Garanten von
Pluralismus
als
Instrumente
einlinig
ideologischer
Ausrichtung.
Sie
liefern
Orientierungsangebote, welche akzeptiert oder abgelehnt werden können. Wenn sie
akzeptiert werden, so lassen sie sich in ihrer Bedeutung durch unterschiedliche Interpretation
doch individuell variieren, ohne damit Gemeinsamkeiten politischer Ordnung außer Kraft zu
setzen. Sie bieten vielmehr die Chance, diese durch die Variationsbreite ihrer Zustimmung
abzusichern und zu verstärken.“ (GÖHLER 1997a, 32)
Indem Bourdieu nun unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Symbolen für
gesellschaftliche Machtverhältnisse lenke, leiste er einen wichtigen Beitrag zum
Verständnis der intransitiven Seite der Macht:
„The dominant symbolic order of a society generates its system of social stratification and
makes this system visible. This symbolic order is the outcome of struggles in which actors
attempt to raise the social value or level of distinction of their particular lifestyles. It is thus
primarily through transitive power that the dominant symbolic order comes into being. Once
institutionalized, however, the symbolic order comes to represent a legitimate world view,
shared by all, which commonly structures the perception of the members of different social
classes. The final result of struggles for symbolic distinction is therefore intransitive Power,
and thus what Hannah Arendt simply presupposes from a normative perspective is explained
by Bourdieu as the outcome of symbolic struggles.“ (GÖHLER 2000, 47)
Wenn also intransitive Macht nicht nur – wie oben betont wurde – die Grundlage für
transitive Macht darstellt, sondern umgekehrt – nach Bourdieu – intransitive Macht
wesentlich durch transitive Machtbeziehungen konstituiert wird, dann wird es nötig, das
wechselseitige Verhältnis von transitiver und intransitiver Macht genauer zu klären.
hervorgebracht werden, während sie bei Foucault viel mehr das unbewußte Ergebnis individuellen
Verhaltens sind.
9 Göhler bezieht sich dabei auf die Verfassungslehre von Rudolf Smend. Den Symbolbegriff übernimmt er
von Umberto Eco und die realitätskonstituierende Funktion von Ernst Cassierers Philosophie der
Symbolischen Formen. (GÖHLER 1997, 29-36 )
2 Macht
15
2.3 Das Verhältnis von transitiver und intransitiver Macht
Zur verständlichen Charakterisierung der beiden Machttypen wurde intransitive Macht
bisher vor allem als Gegensatz zu transitiver Macht dargestellt und illustriert anhand der
völlig konträren Machtbegriffe von Max Weber und Hannah Arendt sowie der
Entwicklung des Machtbegriffs bei Michel Foucault. Zusammenfassend lassen sich
transitive und intransitive Macht wie in Abbildung 1 stichwortartig gegenüberstellen
(GÖHLER 2000, 50).
Transitive Macht
Fremdbezug
Willensbeziehung
Bewirkt etwas
Steuerung
Verwirklichung
Übt Macht aus
Verschränkter Handlungsraum
Instrument
Intransitive Macht
Selbstbezug
Symbolische Beziehung
Repräsentiert etwas
Integration
(Selbst-)Ermächtigung
Bringt Macht hervor
Gemeinsamer Handlungsraum
Selbstzweck
Abbildung 1: Charakterisierung transitiver und intransitiver Macht
Für eine produktive Analyse von Macht sollten transitive und intransitive Macht jedoch
nicht als sich völlig entgegengesetzte Prinzipien gedacht werden, denn „diese schließen
sich nicht gegenseitig aus, sondern bringen eher zwei Dimensionen der Macht zum
Ausdruck.“ (GÖHLER 1995, 8) Es handelt sich um „unterschiedliche Formen von
Machtbeziehungen, die nicht auf einen Grundbegriff zu reduzieren, wohl aber als
zueinander komplementär zu entfalten sind.“ (GÖHLER 1997a, 39) Insofern ist Göhlers
Unterscheidung als analytische Unterscheidung zu verstehen. Im Alltag wird man immer
beide Machtformen finden, da sie sich aufeinander beziehen. Dies läßt sich an zwei
Gedankenspielen veranschaulichen, die einerseits die Vorstellung einer Gesellschaft ohne
intransitive und andererseits ohne transitive Macht entwerfen.
So
läßt
sich
der
Hobbessche
Naturzustand
allein
durch
transitive
Machtbeziehungen charakterisieren, die so lange bloß chaotisch, wechselhaft und ohne
Dauer sind, bis etwas gemeinsames konstituiert und dargestellt (repräsentiert) wird. In
diesem Moment kommt intransitive Macht ins Spiel und erlöst die Menschen aus dem
Chaos des Naturzustandes. Auf der anderen Seite stellt die Utopie einer herrschaftsfreien
Gesellschaft einen Zustand dar, in dem alle transitiven Machtbeziehungen abgeschafft
und durch Solidarität und einer allein darauf begründeten gemeinsamen Ordnung ersetzt
sind. (GÖHLER 1997b, 596)
2 Macht
16
Das Verhältnis von transitiver Macht zu intransitiver Macht, wie es in allen real
existierenden Gesellschaften zu beobachten ist, läßt sich anhand Abbildung 2
veranschaulichen.
Macht A
gemeinsamer
Handlungsraum
Macht B
verschränkter
Handlungsraum
Abbildung 2: Handlungsräume (nach GÖHLER 2000, 49)
In einer transitiven Machtbeziehung wird durch A Macht über einen Akteur B ausgeübt,
der ebenfalls eine gewisse Macht besitzt. A kann ebenfalls ein Akteur sein, kann aber auch
eine Struktur (z.B. eine Institution) sein. Wegen der gegenseitigen Verschränkung der
transitiven Mächte im Sinne eines Nullsummenspiels kann der Handlungsraum, in dem
transitive Machtbeziehungen realisiert werden, als verschränkter Handlungsraum
bezeichnet werden. Damit man aber überhaupt von Macht sprechen kann (und nicht von
Gewalt oder Zwang), mittels der A die Möglichkeiten von B begrenzt, muß ein
gemeinsamer Handlungsraum konstituiert werden. Nur wenn B die Macht von A
akzeptiert oder zumindest hinnimmt, d.h. wenn B – etwa auf Grund seiner Erfahrung –
an die Wirkungsmächtigkeit von A glaubt,10 kann A wirklich Macht über B ausüben.
Wenn B sich anders verhalten würde als A will, weil B keine negativen Konsequenzen
fürchtet und auch sonst keinen Grund sähe, sich von A einschränken zu lassen, dann
bliebe A zur Durchsetzung seines Willens nur noch unmittelbarer Zwang oder Gewalt.
Der gemeinsame ‚Glaube‘, oder besser: die Akzeptanz11 oder Hinnahme
bestimmter Regeln und Normen, produziert intransitive Macht, durch die der
gemeinsame Handlungsraum hervorgebracht wird. Wenn die Gemeinsamkeiten
intensiviert (z.B. durch ihre Visualisierung) und erweitert (z.B. durch Herstellung von
10
Dies ist nicht zu verwechseln mit dem individuellen Glauben an die Legitimität von Macht A. Erst der
kollektive Glaube bzw. die kollektive Akzeptanz macht Macht A zu dem was sie ist. Ebenso kann nur die
kollektive Infragestellung ihrer Legitimität Macht A unwirksam machen.
11 In Bezug auf öffentliche Meinung bemerken MERTEN/WESTERBARKEY (1994, 202), daß es sogar genügt,
wenn der Schein ihrer Akzeptanz besteht, um wirksam zu sein.
2 Macht
17
Konsens in einer Sache, die vorher strittig war) werden, so erhöht dies die intransitive
Macht der im gemeinsamen Handlungsraum Agierenden. Ihr Handlungspotential wird
erweitert und damit der gemeinsame Handlungsraum gewissermaßen vergrößert.
Umgekehrt führt das Verschwinden von sicht- und hörbaren Gemeinsamkeiten zum
Verfall intransitiver Machtressourcen. Diese Wechselbeziehung der beiden Machttypen,
die in Abbildung 2 nur angedeutet werden kann, soll im folgenden anhand zweier Beispiele
verdeutlicht werden.
1.
Die moralischen Überzeugungen der BürgerInnen wurden in Kap. 2.1 als ein Beispiel für
transitive Macht genannt, da sie die politischen Optionen der Bürger zu einem gewissen
Grad einschränken.12 Dies ist aber nur der eine Machtaspekt moralischer Überzeugungen.
Denn sie stellen natürlich nicht nur eine Einschränkung dar, sondern vor allem auch eine
Befähigung zu Urteilen, tägliche Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen, und
zwar um so effektiver, je mehr diese individuellen Moralvorstellungen mit den kollektiven
übereinstimmen. Und sobald diese Überzeugungen zur Grundlage gemeinsamen Handelns
werden, stellen sie eine intransitive Machtressource dar, die dieses gemeinsame Handeln
überhaupt erst ermöglicht. Bezeichnet man diesen Prozeß als Integration, so wird
umgekehrt auch wieder die transitive Seite von Integration deutlich: Dadurch, daß
Integration immer inhaltlich bestimmt ist, gibt es entsprechend auch Inhalte, die eine
gewisse Verbindlichkeit für die Betroffenen haben. Auf die einzelnen Gruppenmitglieder,
die wirkt intransitive Macht also auch transitiv, indem sie einem gewissen Gruppendruck
ausgesetzt sind. (GÖHLER 2000, 50)
2.
Politische Institutionen üben durch ihre Akteure (transitive) Macht aus: Gerichte verurteilen
Menschen und schränken deren Handlungsfreiheit im Extremfall auf ein Minimum ein.
Die Institution der Ehe erlegt den Ehepartnern Pflichten auf, die eine Form transitiver
Macht darstellen. Und auch die Institution Öffentlichkeit übt – insbesondere in der Form
der Massenmedien – transitive Macht aus, zum einen auf die Politiker, insofern sie ihre
Handlungen zu bestimmen vermögen, und sei es nur in der Weise, daß sie überhaupt
öffentlich(keitswirksam) auftreten müssen, zum anderen aber auch auf die Bürger,
insofern es den Massenmedien gelingt, deren Einstellungen und Meinungen zu verändern
12
Im (pathologischen) Extremfall kann sich der Betroffene nicht mehr von seinen Moralvorstellungen
distanzieren, muß sie kategorisch und immer anwenden. Hierbei würde es sich wiederum nicht um Macht,
sondern um Zwang handeln.
2 Macht
18
oder zu festigen.13 (GÖHLER 1997a, 10) Auch bei politischen Institutionen wird jedoch
schnell die intransitive Dimension ihrer Macht offenbar:
„Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie
erstarren und verfallen sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht
und sie stützt.“ (ARENDT 1970, 42)
Die Gerichte bestimmen nicht nur über Recht und Unrecht, sondern sie repräsentieren
auch die rechtsstaatliche Grundordnung. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hat
einen hohen Symbolwert und stellt einen gemeinsamen Bezugspunkt für die Bürgerinnen
und Bürger dar, auf dem das Gewicht seiner Entscheidungen maßgeblich beruht. Bei der
im Wandel begriffenen Institution Ehe wird besonders sichtbar, daß sie ihre transitive
Macht nur auf der Grundlage breiter Akzeptanz entfalten kann. Wenn die Ehe als Rechtsund Lebensform nicht mehr den lebensweltlichen Bedingungen und Erfahrungen der
Bürger entspricht, verliert sie auch ihre gesellschaftlich steuernde Macht und ist nur noch
für einige Paare privat von Belang. Die intransitive Funktion der Öffentlichkeit als
politische Institution schließlich ist insbesondere in den liberalen Demokratien normativ
festgeschrieben. Sie ist aber auch faktisch der Ort, an dem intransitive Macht generiert,
Gemeinsamkeit in Form von öffentlicher Meinung hergestellt wird.
„Ausgeübte Macht ist transitiv, aber um sie ausüben zu können, bedarf es der Generierung
von Macht, und diese ist – wie gerade bei der Institution Öffentlichkeit sinnfällig –
intransitiv. Macht als Miteinander-Reden-und-Handeln ist eben, folgt man dem Konzept der
intransitiven Macht von Hannah Arendt, öffentlich par excellence, sie ist nichts anderes als
Öffentlichkeit.“ (GÖHLER 1995, 10)
Die Analyse des „intransitive[n] Machtreservoir[s]“ (GÖHLER 1995, 11) jener
Öffentlichkeit als Bedingung politischer Argumentation ist das Ziel dieser Arbeit. Da
diese Bedingung von allen politischen Akteuren zunächst als gegebene vorgefunden wird,
wird sie auch in dieser Arbeit als gegeben betrachtet. Die Möglichkeiten ihrer
Veränderung – häufig auch das Ziel politischer Akteure – geraten dabei kaum in den
Blick. Um so wichtiger ist es, im Rahmen dieses Abschnitts noch einmal darauf
hinzuweisen, daß die intransitive Machtbasis unter gegenwärtigen Bedingungen keinesfalls
als rein kommunikativer Konsens14 zu verstehen ist, etwa im Sinne des Ergebnisses eines
13
Die empirische Medienwirkungsforschung befaßt sich also traditionell überwiegend mit Formen
transitiver Macht.
14 Auch Habermas unterscheidet zwischen „kommunikativ erzeugter“ und „administrativ verwendeter“
Macht, wobei er die beiden Machtformen als einander entgegengesetzt begreift und offenbar nicht als
komplementär: „In der politischen Öffentlichkeit begegnen und durchkreuzen sich dann zwei gegenläufige
Prozesse: die kommunikative Erzeugung legitimer Macht, wofür Hannah Arendt ein normatives Modell
2 Macht
19
‚herrschaftsfreien Diskurses’, der freien Übereinkunft der Diskutierenden. Intransitive
Macht ist das Ergebnis transitiver Machtbeziehungen und insbesondere auch von
Zwängen (z.B. ökonomischen) und Gewalt, die zumindest kurzfristig und für einzelne
Akteure jenseits jeglicher Veränderungsmöglichkeit durch Argumentation liegen:
„In welcher realen Form der gemeinsame Handlungsraum zustande kommt und Bestand hat,
welche Wertvorstellungen und Organisationsprinzipien sich als die maßgebenden
durchsetzen und etablieren, ist nicht nur eine Frage des Konsenses und der Überzeugung,
sondern auch der Kräfteverhältnisse in der transitiven Macht der Akteure.“ (GÖHLER
1997a, 46)
Wie bereits erwähnt bezieht sich Göhler deshalb auf Bourdieu, denn bei ihm sind
„[d]ie gemeinsamen Wahrnehmungsmuster nicht transzendental vorgegeben (hier grenzt sich
Bourdieu grundlegend von Cassierer ab), sondern soziologisch gefaßt. ... Diejenigen
Gruppen, die sich in der Gesellschaft durchsetzen, liefern auch die herrschenden Symbole als
exklusive Deutungsangebote.“ (GÖHLER 1997a, 34f)
Transitive Machtbeziehungen sowie Zwang und Gewalt wirken also auf ihre intransitiven
Grundlagen (gemeinsame Normen, Regeln, Wissen, Wahrnehmungsmuster etc.) zurück
und konstituieren bzw. stabilisieren diese, indem sie sie auf Dauer stellen, so daß ihnen
eine gewisse Verbindlichkeit bzw. Allgemeingültigkeit anhaftet. Eine empirische Analyse
dieser transitiven Machtbeziehungen sowie die Rolle von Gewalt und Zwang15 bei der
Konstitution intransitiver Macht würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.
Im folgenden werden also die intransitiven Bedingungen politischer Argumentation in der
Öffentlichkeit empirisch analysiert, ohne die Genese dieser Bedingungen weiter zu
verfolgen. Dazu wird in Kapitel 3 zunächst der Begriff öffentlicher Argumentation
geklärt. In Kapitel 4 werden Macht und öffentliche Argumentation aufeinander bezogen,
um die Generation bzw. Ausübung von Macht durch öffentliche Argumentation
theoretisch beschreibbar zu machen.
entworfen hat, und jene Legitimationsbeschaffung durchs politische System, mit der administrative Macht
reflexiv wird.“ (HABERMAS 1989, 472) Habermas beschränkt die kommunikativ erzeugte Macht jedoch auf
die „spontane Meinungsbildung in autonomen Öffentlichkeiten“ (HABERMAS 1989, 472), d.h. auf nichtvermachtete Öffentlichkeiten in denen allein der zwanglose Zwang des besseren Arguments bestimmend
ist. Deshalb kann er die kommunikativ erzeugte Macht auch sogleich als „legitim“ bezeichnen. Dabei stellt
sich allerdings die Frage, wo es solche nicht-vermachteten Öffentlichkeiten gibt. (So auch DEMIROVIC
1994, 679) Für eine nüchterne Analyse von Macht im öffentlichen Diskurs ist jedoch auch jene
„kommunikativ erzeugte Macht“ relevant, die nach demokratietheoretischen Kriterien womöglich als
illegitim bezeichnet werden könnte, etwa weil sie maßgeblich durch äußere Zwänge bestimmt wurde und
weniger durch Überzeugung.
15 Nach Angaben des internationalen P.E.N.-Zentrums wurden im ersten Halbjahr 2002 weltweit rund 900
Autoren ermordet, inhaftiert, gefoltert oder entführt. (CLARK 2002) In der monatlichen Zeitschrift M.
Menschen Machen Medien der Gewerkschaft ver.di findet man in fast jeder Ausgabe Berichte über
Repressionen gegen Journalisten.
3 Öffentliche Argumentation
20
3 Öffentliche Argumentation
3.1 Antike Rhetorik und moderne Medienforschung
Argumentation stellt einen Aspekt öffentlicher Kommunikation dar, der schon in der
Antike Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung war. In der römisch-hellenistischen
Rhetorik – vor allem bei Aristoteles – wurden drei Überzeugungsmittel öffentlicher Rede
unterschieden. Demnach kann eine Rede Wirkungsmacht entfalten 1.) durch den
glaubwürdigen Charakter16 des Sprechers (ethos) 2.) durch die Emotionalisierung des
Publikums (pathos) und 3.) durch die sachlich-logische Stringenz der Aussagen selbst
(logos). (ARISTOTELES, Rhet. 1356a) Die ersten beiden, Ethos und Pathos, sind nichtargumentative Überzeugungsmittel, während das letztere durch Argumentation eingesetzt
wird. (VAN EEMEREN/GROOTENDORST/SNOECK HENKEMANS 1996, 43)
„Aus Sicht der Rhetorik gesehen reflektiert die Argumentationstheorie bloß eine Teilklasse
kommunikationsrelevanter Wirkungsfaktoren bzw. nur einen Teilbereich der komplexen
Bedingungsfaktoren überzeugungskräftiger Rede.“ (KOPPERSCHMIDT 1981, 54) [Hervorh. im
Original]
Mit den Worten des römischen Rhetorik-Theoretikers Quintilian kann dieser Teilbereich
auch als das ‚Skelett‘ der Rede gesehen werden, das unabdingbar ist, das aber freilich
besser wirken kann, wenn es nicht nackt auftritt sondern mit Fleisch und Leben (also mit
Ethos und Pathos) versehen wird. (EGGS 1992, 915) Das Wesentliche der Rede wird hier
also in der Argumentation gesehen und auch bei Aristoteles ist erkennbar, „daß die
spezifisch argumentativ bedingte Überzeugungskraft von Rede sein eigentliches
theoretisches Interesse“ besitzt. (KOPPERSCHMIDT 1981, 54) Rhetorik hatte bei ihm das
Ziel, das was an einer Sache glaubwürdig ist, sichtbar zu machen. (ARISTOTELES, Rhet.
1355b)
Wenngleich
die
Parallelen
der
antiken
Rhetorik
zur
modernen
Massenkommunikationsforschung offensichtlich sind17, hat sich letztere nur wenig von
16
Der Übersetzer verweist darauf, daß der Charakter-Begriff von Aristoteles weiter zu fassen sei als unser
heutiges Verständnis von Charakter: „Er bezeichnet nämlich eine Disposition unseres Wesens mit Bezug
auf Affekte, Gewohnheiten, Alter, Glücksumstände wie Geburt, Reichtum und überhaupt soziale Stellung.“
(SIEVEKE 1980, 232 [Anm. 9]) Was Aristoteles mit dem Charakter bezeichnete, kann also mit den
klassischen Personen-Variablen der modernen Soziologie (oder auch der Kommunikatorforschung)
verglichen werden.
17 Die grundlegende Unterscheidung von Redner, Rede und Publikum bei ARISTOTELES (Rhet. 1356a,
1358b) ist vergleichbar mit einer (noch unvollständigen) Lasswell-Formel: ‚Wer (Redner) sagt was (Rede) zu
wem (Publikum) wie?‘ Die Frage des Kanals stellte sich damals noch nicht, und die Frage nach der Wirkung
beschränkte sich auf die ‚Überzeugung‘ des Publikums. PRAKKE (1965) verweist in einem Aufsatz in
Publizistik – die damals noch den Untertitel Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik,
Werbung und Meinungsbildung trug – auf die „rhetorischen Ahnen“ der Lasswell-Formel. Er zeigt anhand
3 Öffentliche Argumentation
21
der Rhetorik inspirieren lassen.18 Obwohl sich die aristotelische Rhetorik „auf eine
demokratisch organisierte Polis bezieht, in der alle freien Bürger im Prinzip sämtliche von
den Redegattungen implizierten sozialen Rollen (Richter, Ankläger, Ratsmitglied usw.)
einnehmen konnten,“ (EGGS 1992, 914) wurde sie nicht bei der Erforschung der
politischen Kommunikation in modernen Demokratien herangezogen. Die moderne
Massenkommunikationsforschung,
insbesondere
die
Wirkungs-
und
Rezeptionsforschung, betonte vor allem die psychologischen bzw. unbewußten Aspekte
der Kommunikation. Sie betrachtete im wesentlichen zwei der drei aristotelischen
Wirkungsaspekte: Ethos und Pathos. Der Logos und damit der Aspekt der Argumentation
wurde kaum beleuchtet.19 Die wenigen Studien, die sich dennoch empirisch mit
öffentlicher Argumentation befassen, eröffnen jeweils recht unterschiedliche Perspektiven
auf diesen Gegenstand.
Hans-Jürgen WEIß (1992)20 stellt seine Argumentationsanalyse in die Tradition der
Agenda-Setting-Forschung und rückt dabei die zuvor wenig beachtete Inhalts-Dimension
von issues auf der Medienagenda in den Vordergrund. Die issues können demzufolge
prinzipiell hinsichtlich verschiedener inhaltlicher Aspekte dargestellt werden, (WEIß
vergleichbarer Wortmodelle aus der antiken Rhetorik, daß sich diese auf ähnliche Weise und mit ähnlichen
Fragen ihrem Gegenstand – der ja in beiden Fällen als ‚Laienkommunikation‘ bezeichnet werden kann –
näherte. FRANZ (2000a, 49) stellt fest, daß politische Kommunikation Gegenstand sowohl der neueren
Rhetorik, als auch der Kommunikationswissenschaft ist. „Anknüpfungspunkte zwischen beiden Disziplinen
haben sich aber über die Soziologie ergeben, die sich – bislang allerdings vorwiegend innerhalb des
spezifischen Kontextes von Neuen Sozialen Bewegungen – ebenfalls mit Prozessen gesellschaftlicher
Bedeutungskonstruktion befasst.“ (FRANZ 2000a, 49)
18 Die einzige bekannte Ausnahme ist die Arbeit von Carl I. Hovland (Yale). Zusammen mit seinen
Mitarbeitern untersuchte er in den 1940er und 1950er Jahren in einer Vielzahl von Experimenten, wie
Rezipienten am besten von einem Standpunkt überzeugt werden können. Er orientierte sich explizit an den
Fragen der antiken Rhetorik und versuchte, diese mit Hilfe der modernen Psychologie neu zu beantworten.
(MACCOBY 1973) Der Schwerpunkt der Forschung lag daher bei psychologischen Variablen beim
Publikum, beim Sprecher sowie beim Arrangement der Argumente, weniger beim Auffinden und der
Evaluation der Argumente selbst.
19 Das Schlagwort ‚Argumentation‘ findet sich in der Datenbank Publizistik/Massenkommunikation mit ca.
135.000 Einträgen lediglich 44 mal. – Folgt man WERSIGS (2001, 181) pointierter Formulierung, die
Aufgabe der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft habe bisher wahlweise in der „Suche nach dem
Schuldigen“ bestanden oder in der „Suche nach dem effizientesten Instrument“, so wird das Desinteresse
an Argumentation verständlich: Der Logos als Wirkungsfaktor im Kommunikationsprozeß läßt sich ja
gerade nicht ohne weiteres als Instrument dem partikularen Willen der Kommunikatoren dienstbar machen,
da es sich um eine kollektive Größe handelt, der sich jeder erfolgsorientierte Sprecher fügen muß. Nicht
zuletzt deshalb schreibt Habermas der rationalen Argumentation ein befreiendes Potential zu. Josef
Kopperschmidt, der seine Argumentationstheorie auf der Grundlage der Arbeiten von Jürgen Habermas
entwickelt, kritisiert die Unfähigkeit der modernen Persuasionsforschung „die umgangssprachlich bereits
vorgegebene normative Unterscheidung zwischen ‚überreden‘ und ‚überzeugen‘ theoretisch zu
rekonstruieren.“ (KOPPERSCHMIDT 1981, 56; auch: 1989, 117f) Betrachtet man jedoch Macht nicht als der
Argumentation entgegengesetzt, sondern ihr innewohnend, so verliert diese Unterscheidung auch im
Rahmen kritischer Kommunikationsforschung ihre herausgehobene Bedeutung. Die Ambivalenz rationaler
Argumentation wird auch erkennbar, wenn ‚jemand zur Vernunft gebracht wird‘. Einerseits soll zwar
dessen Willkür eingeschränkt und unsoziales Verhalten verhindert werden, zugleich wird er aber auch
gefügig gemacht, sein (‚unvernünftiger‘) Wille gebrochen.
20 Siehe auch WEIß 1985, 1986, 1988, 1989 sowie WEIß/TREBBE 1994.
3 Öffentliche Argumentation
22
1992, 380) welcher Aspekt eines Problems nun aber tatsächlich behandelt wird, kann
entscheidend sein für die Bedeutung, die diesem Problem vom Publikum beigemessen
wird. Indem Weiß Argumentationen zur Codiereinheit seiner Inhaltsanalysen macht, wird
analysierbar, welche inhaltlichen Argumente im Rahmen einer öffentlichen Kontroverse
von den Medien fokussiert werden und – wenn zuvor das Argumentationsspektrum im
vormedialen Raum erhoben wurde – ob es einen ‚Bias‘ zugunsten der einen oder der
anderen Seite der Debatte gibt. (WEIß 1992, 394)
Christoph KUHLMANN (1999) entwickelt – an Habermas orientiert – in seiner
Dissertation bei Werner Früh eine Theorie rationaler Argumentation für die politische
Massenkommunikation und konfrontiert mit Hilfe einer aufwendigen Inhaltsanalyse die
daraus erwachsenden normativen Ansprüche an die politische Argumentation mit der
empirischen Realität. Dabei stehen die Begründungen, die politische Akteure für ihr
Handeln liefern und deren Verarbeitung durch die Medien im Vordergrund, wobei die
Häufigkeit von Begründungen als Indikator für den Grad der Rationalität des politischen
Diskurses dient. (KUHLMANN 1999, 282)
Barbara FRANZ (2000a) hat in ihrem Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen
Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) 1999 erstmals
das Potential der Rhetorik für die Beschreibung von Prozessen öffentlicher
Meinungsbildung skizziert und in ihrer Dissertation bei Friedhelm Neidhardt auf die
vergleichende empirische Analyse der Abtreibungsdiskurse in den 1970er und den 1990er
Jahren angewendet. (FRANZ 2000b) Der Anschluß an die Rhetorik gelingt ihr, indem sie
ihrer Untersuchung das Arena-Modell von Öffentlichkeit (GERHARDS/NEIDHARDT 1990;
siehe auch Kapitel 3.2) zugrunde legt, das grundsätzliche Ähnlichkeiten mit der
Marktplatz-Öffentlichkeit der griechischen Polis aufweist. (FRANZ 2000b, 20) Allerdings
bezieht sie sich nicht direkt auf die antike Rhetorik, sondern greift vor allem auf die seit
den 20er Jahren in den USA entstandene ‚Neue Rhetorik‘ zurück:
„In ihrer modernen Fassung dient die Rhetorik als analytischer Rahmen zur Untersuchung
der Beziehungen zwischen Kultur, sozialem Wissen und praktischem Handeln und befaßt
sich zentral damit, wie Sprechgemeinschaften zu kollektiven Entscheidungen gelangen, für
die in moralischen Konflikten keine logischen Kriterien zur Verfügung stehen.“ (FRANZ
2000a, 48)
Gegenstand der „Öffentlichkeitsrhetorik“ von Franz sind die Selbstverständlichkeiten, an
die Argumente in einer öffentlichen Auseinandersetzung anknüpfen. Da diese
Anknüpfungen jeweils als Deutung dieser Selbstverständlichkeiten vollzogen werden,
besteht hier langfristig die Möglichkeit von Bedeutungswandel, (Franz 2000b, 118, 146)
3 Öffentliche Argumentation
23
den Franz exemplarisch an der Veränderung des Deutungsmusters ‚Selbstbestimmung
der Frau‘ empirisch nachweist.21
Für die Beantwortung der Frage, wie durch öffentliche Argumentation Macht
erzeugt wird und welche Rahmenbedingungen die Massenmedien für die Akteure in
politischen Auseinandersetzungen erzeugen, kann auf die genannten Ansätze auf
unterschiedliche Weise zurückgriffen werden.
Weiß bietet ein ausbaufähiges und wandelbares – weil noch an keine theoretischen
Prämissen geknüpftes22 – methodisches Instrumentarium der Inhaltsanalyse, auf dessen
Grundlage die Argumentationsanalyse im empirischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 5)
entwickelt wird.
Die Arbeiten von Kuhlmann und Franz liefern vor allem für den theoretischen
Teil (Kapitel 2-4) hilfreiche Bezugspunkte für die Konzeption der Analyse sowie für die
Verortung dieser Arbeit im Kontext aktueller Forschung.
Während es Kuhlmann um ein Maß für Rationalität geht (KUHLMANN 1999, 156;
s. auch FN 194), das er wie erwähnt in der Anzahl der Begründungen findet, ist für die
Machtfrage – wie noch zu zeigen sein wird – nicht das quantitative Ausmaß, sondern die
Qualität der Rationalität zentral. Insofern läßt sich die vorliegende Untersuchung zur
Macht öffentlicher Argumentation als Ergänzung zu Kuhlmanns Analyse politischer
Argumentationsrationalität verstehen. Auch die Arbeit von Franz versucht, „die kulturelle
Rationalität öffentlicher Kommunikation zu erfassen, ohne dass damit zwangsläufig der
Anspruch an eine ethisch motivierte Wertrationalität verbunden sein müßte.“ (FRANZ
2000a, 51f, vgl. auch FN 21) Sie untersucht, wie öffentliche Argumentation in der
Langzeitperspektive zu Bedeutungswandel und damit zur Veränderung gesellschaftlicher
Selbstverständlichkeiten führt.23 Dagegen fragt die vorliegende Arbeit nach den
kurzfristigen Machteffekten öffentlicher Argumentation und geht dabei aus methodischen
Gründen von einer zeitlichen Konstanz der Bedeutungen aus, d.h. von einer Hegemonie
21
Franz‘ Ansatz steht damit einerseits kommunikationswissenschaftlichen Framing-Ansätzen und
andererseits dem „cultural-indicators-approach“ nahe, auf die sie sich auch teilweise bezieht. (FRANZ 2000b,
103-112) Indem sie Frames nicht auf der Mikro-Ebene als „journalistische Interpretation von
‚Schlüsselereignissen‘ oder kognitive Informationsverarbeitung durch Rezipienten“ (Franz 2000a, 50)
versteht, sondern auf der Makro-Ebene als gesellschaftliche Deutungsmuster, intendiert ihre Inhaltsanalyse
auch keinen Inferenzschluß auf Kommunikator oder Rezipient, sondern auf die Situation (MERTEN 1995, 32ff),
so daß Medieninhalte also als Indikatoren von Kultur gedeutet werden, die die Grundlage gesellschaftlicher
Diskurse darstellt.
22 Weiß verzichtet in seiner Argumentationsanalyse auf eine explizit argumentationstheoretische Grundlage.
So wird bei Weiß z.B. der der Begriff des Arguments nicht näher definiert.
23 Franz erwähnt allerdings in einer Fußnote (FN 117) den Machtaspekt von Öffentlichkeit und verweist
dabei auf das Konzept kultureller Hegemonie von GRAMSCI (1967) sowie auf GITLIN (1980).
3 Öffentliche Argumentation
24
von Bedeutungen und damit verbundener Werte, die sich während eines beschränkten
Zeitraumes nicht wesentlich verändert.
Da Franz in ihrer Aktualisierung der Rhetorik für die Analyse massenmedialer
Diskurse ihr Augenmerk auch auf Argumente richtet, (also auf den logos als
Überzeugungsmittel, vgl. oben) bietet sie für die vorliegende Fragestellung eine wertvolle
Grundlage. Da Argumente jedoch nicht den Fokus ihrer Arbeit darstellen,24 werde ich in
den Kapiteln 3.3 und hier insbesondere 3.3.1 die argumentationstheoretische Problematik
auf der Grundlage einschlägiger Literatur erläutern. Zunächst soll aber in Anschluß an
Franz bzw. GERHARDS/NEIDHARDT (1990) das Attribut ‚öffentlich‘ anhand des
Arenamodells der Öffentlichkeit geklärt werden.
3.2 Das Arena-Modell von Öffentlichkeit
Öffentlichkeit ist ein Kommunikationsforum in dessen Arenen verschiedene Akteure vor
einem Publikum miteinander kommunizieren. (NEIDHARDT 2001, 502) Ziel der Akteure
ist
es
dabei,
die
öffentliche
Meinung
–
das
Produkt
von
Öffentlichkeit
(GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 12) – in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die genaue
Funktionsweise der öffentlichen Meinungsbildung hängt davon ab, in welchem Verhältnis
die Arena (in der die Sprecher auftreten) und die Galerie (von der aus das Publikum die
Sprecher beobachtet) stehen.
Anschließend an die Differenzierung nach Arena und Galerie unterscheiden
GERHARDS/NEIDHARDT (1990) drei Ebenen von Öffentlichkeit, die sich u.a. hinsichtlich
der Größe des Publikums und des Grads der Rollendifferenzierung zwischen Sprechern
und Publikum unterscheiden. Diese Ebenen sind 1.) die Ebene der einfachen
Begegnungen z.B. auf der Straße oder beim Friseur. („Encounters“) Auf dieser Ebene hat
noch keine Rollendifferenzierung stattgefunden, jeder Anwesende kann jederzeit
zwischen Sprecher und Zuhörer-Rolle hin- und herwechseln. Die Encounters kommen
sporadisch zustande umfassen nur wenige Personen; 2.) die Ebene der Versammlungen
und Veranstaltungen, bei der Arena und Galerie bereits deutlich unterscheidbar sind, ein
Rollenwechsel
jedoch
nicht
unmöglich
ist
(z.B.
Klatschen,
Zwischenrufe,
Saalmikrofon ...). Der Zugang zu Veranstaltungsöffentlichkeiten ist an gewisse Kriterien
gebunden (z.B. Interesse am Thema) und ihr Umfang damit ebenfalls prinzipiell
beschränkt; 3.) die Ebene der Massenmedien, deren Publikum unter „Verzicht auf
24
Die Codiereinheit ihrer Inhaltsanalyse (die im Rahmen eines Projektes der Abteilung „Öffentlichkeit und
Soziale Bewegung am Wissenschaftszentrum Berlin durchgeführt wurde) war nicht ein Argument oder eine
3 Öffentliche Argumentation
25
Anwesenheitskriterien“ (GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 24) prinzipiell unabgeschlossen
ist, die Sprecherrollen hingegen sind an Professionalitätskriterien gebunden. Arena und
Galerie sind hier stark voneinander getrennt, der Zugang zur Arena ist nicht ohne
weiteres möglich.
Quer zu den genannten Öffentlichkeits-Ebenen liegen die Arenen (FRANZ
2000b, 18f) die als Teilöffentlichkeiten gedacht werden können in denen eine interne
Meinungsbildung stattfindet. (FRANZ 2000b, 20) Die Diskurse in den Arenen sind
„themenspezifische Diskurse“, (GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 26) durch die eine Arena
entweder erst ausgebildet wird (z.B. bei einer Protestbewegung) oder die in einer
bestehenden Arena entstehen, wenn diese sich mit einem bestimmten Thema befaßt (z.B.
bei einer Partei, die zu unterschiedlichen Themen Positionen erarbeitet).
„Anders als die Öffentlichkeit der Gesellschaft orientieren sich diese Arenen aber an einer
spezifischen (nicht: allgemeinen) Rationalität und entsprechend höher sind sowohl ihre
Chance
als
auch
ihr
Anreiz,
einzelne
Meinungen
und
Argumentationen
zur
Übereinstimmung miteinander ... zu bringen, also eine ‚öffentliche Meinung‘ zu erzeugen, die
in synthetisierter Form als Positionspapier, Stellungnahme, Urteil oder Aktion an weitere,
etwa massenmediale Öffentlichkeiten kommunizierbar ist“. (FRANZ 2000b, 21)
Die Arenen sind also zunächst die internen Öffentlichkeiten mehr oder weniger
organisierter kollektiver Akteure, in denen jeweils eine bestimmte Perspektive auf ein
Thema herausgebildet wird. Hier wird auch deutlich, inwiefern die Arenen ‚quer‘ zu den
Öffentlichkeitsebenen liegen: Innerhalb der Arenen werden die Diskurse sowohl
interpersonal, in Arbeitsgruppen, als auch teilweise über interne ‚Massenmedien‘ (z.B.
Verbandszeitschriften) geführt. (FRANZ 2000b, FN 24) Wenn man zur Vereinfachung die
Differenzierung nach Öffentlichkeitsebenen innerhalb der einzelnen Arenen ausblendet,
kann das Arena-Modell der Öffentlichkeit anhand eines zweidimensionalen Schaubildes
visualisiert werden. (Abbildung 3)
Da sich in modernen Gesellschaften „öffentliche Kommunikation am
folgenreichsten als Massenkommunikation“ vollzieht, (GERHARDS/NEIDHARDT 1990,
23) stellt das massenmediale Forum das Zentrum gesellschaftlicher Öffentlichkeit dar.25
„Das Publikum der Massenkommunikation, die als Gesamtes gesellschaftliche Öffentlichkeit
herstellt, ist zwar selbst nicht organisiert, dennoch stellt es keine unstrukturierte Masse dar,
sondern schließt andere Öffentlichkeiten (beispielsweise politische Öffentlichkeit, kirchliche
Öffentlichkeit, soziale Bewegungen) mit ein, die, während sie öffentliche Kommunikation
Argumentation sondern eine „Äußerung“ bzw. „Wortbeiträge“. (FRANZ 2000b, 151) Entsprechend ist auch
der theoretische Teil nicht auf Argumente als solche fixiert.
25 Trotz dieser zentralen Stellung von Massenkommunikation gehen GERHARDS/NEIDHARDT (1990, 25)
von einer „prinzipielle[n] Gleichrangigkeit aller Öffentlichkeitsebenen“ aus, denn: „Die höhere Ebene kann
die Leistung der unteren steigern, aber nicht ersetzen.“
3 Öffentliche Argumentation
26
verfolgen, eigene Diskurse führen und gegebenenfalls Meinungen produzieren, mit denen sie
sich nach Möglichkeit wiederum in das Forum der massenmedialen Öffentlichkeit einlassen.“
(FRANZ 2000b, 22f)
Ihr Schaubild erläutert Franz wie folgt:
„Die Pfeile zwischen massenmedialem Forum, anderen Öffentlichkeitsarenen und deren
Foren stehen für Input und Output der (jeweils öffentlichen) Meinungsbildung, die darum
andeutungsweise auch zwischen den jeweiligen Arenen und ihren eigenen Galerien
eingezeichnet sind.“ (FRANZ 2000b, 22f)
Abbildung 3: Das Arena-Modell der Öffentlichkeit (nach FRANZ 2000b, 22)
Daß die Massenmedien hier von Franz als Forum bezeichnet werden, und nicht – analog
zu den anderen Teilöffentlichkeiten – ebenfalls als Arena, ist terminologisch nicht ganz
schlüssig. Die Bezeichnung Forum verweist jedoch darauf, daß man ‚den‘ Massenmedien
nicht die gleiche Einheitlichkeit unterstellen würde, wie den Arenen der einzelnen
gesellschaftlichen oder politischen Akteure. Ob Massenmedien einen einheitliche
Perspektive auf ein Thema generieren ist in einem pluralistischen Mediensystem
zumindest fraglich. Dennoch existiert bisweilen eine öffentliche Meinung als relativ
einheitliche Verhaltens- und Diskussionsnorm, an deren Genese Massenmedien eine
gewisser Anteil unterstellt werden kann. Wenn nun aber ‚die‘ Massenmedien in ihrer
Vielheit das Entstehen einer öffentlichen Meinung befördern oder zumindest zulassen,
dann stellt sich die Frage, inwieweit Massenmedien lediglich ein Forum bieten, in dem die
3 Öffentliche Argumentation
27
Aussagen anderer Akteure abgebildet werden und inwieweit sie doch eine Arena, nämlich
die des ‚kollektiven Akteurs‘ Gesellschaft, darstellen.
Diese empirische Frage wird
Gegenstand von Kapitel 5 sein. Da mir die Bezeichnung Arena zunächst jedoch
terminologisch konsequent erscheint, 26 werde ich – in Abweichung der Terminologie von
Franz – im Folgenden von der massenmedialen Arena sprechen, die zusammen mit der
Galerie ein Forum bildet.
Unabhängig von der Frage nach der Einheitlichkeit massenmedialer Öffentlichkeit
ist zunächst festzustellen, daß die Akteure auf der Galerie des massenmedialen Forums
das Ziel verfolgen, Zugang zur Arena zu erhalten und mit ihrer Sicht der Dinge zu
überzeugen. Im Gegensatz zur antiken Marktplatz-Öffentlichkeit, der das Arena-Modell
offensichtlich nachempfunden ist, findet dieser Prozeß ‚nur‘ virtuell statt. Zumindest was
die Interaktion, d.h. die Diskussion mit anderen Akteuren angeht, existiert das Forum
meist nur virtuell.27 Die Arena, in der sich die Akteure streiten, wird jeweils erst ex post
durch die Medien konstruiert. Zugespitzt kann man sagen, massenmediale Öffentlichkeit
findet nicht nur unter Verzicht auf die Anwesenheit des Publikums, sondern bei einem
großen Teil der Aussagen – insbesondere in den Printmedien – auch in Abwesenheit des
Sprechers statt. Sowohl die Aussagen der Akteure als auch die Konstruktionsleistungen
der Medien erfolgen dabei ohne unmittelbares Feedback durch ein reales Publikum,
sondern lediglich unter Annahme eines bestimmten Publikums. Es ist also zu
unterscheiden zwischen den tatsächlichen Rezipienten einer Aussage und dem virtuell
konstruierten Publikum der massenmedialen Arena.28 Wenn es um die Untersuchung von
Argumentation als einem Aspekt im Prozeß öffentlicher Meinungsbildung geht, so ist
unmittelbar
vor
allem
das
virtuell
konstruierte
Publikum
relevant.
Andere
Untersuchungen könnten wiederum nach den Faktoren fragen, die diese Konstruktionen
beeinflussen.
Nicht nur aus methodischer, sondern auch aus gesellschaftstheoretischer Sicht ist
diese Unterscheidung relevant. In funktional differenzierten, modernen Gesellschaften,
die immer weniger durch hierarchische Strukturen integriert werden und zugleich auch in
26
Angesichts der großen Reichweite der Massenmedien wäre nach GERHARDS/NEIDHARDT (1990, 33) die
Bezeichnung Arena plausibler: „Je umfänglicher die öffentlichen Foren sind, umso eher und deutlicher
differenzieren sie sich in Arena und Galerie“. Das massenmediale Forum bestünde demnach aus Arena und
Publikum und nicht, wie von Franz angedeutet, nur aus der Medienarena.
27 Zur Virtualität von Öffentlichkeit in Zeitalter der Massenmedien siehe auch MERTEN/WESTERBARKEY
1994, 198.
28 Dies entspricht der Unterscheidung von Bevölkerungsmeinung als statistischem Aggregat aus demoskopisch
erhobenen Individualmeinungen (sie entspricht der tatsächlichen Meinungen der Rezipienten) und öffentlicher
Meinung, (sie entspricht der öffentlich angenommenen Meinung der Rezipienten) die wesentlich schwieriger
zu messen ist und als eine Meinung bezeichnet werden kann, „die in öffentlichen Kommunikationen mit
breiter Zustimmung rechnen kann“. (GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 12 sowie NEIDHARDT 2001, 502)
3 Öffentliche Argumentation
28
Traditionen und kollektiven Werten immer weniger Gemeinsamkeiten finden, besteht die
Leistung
der
Massenmedien
in
der
„Herstellung
von
Allgemeinheit“.
(GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 19)
Die Bedeutung dieser Allgemeinheit ist eine doppelte. Sie ermöglicht einerseits für
die gesellschaftlichen Akteure die Anschlußfähigkeit ihrer Kommunikationen jenseits
ihrer eigenen Arenen. Dies entspricht der Perspektive Luhmanns:
„Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien findet man deshalb nicht in der
Gesamtheit der jeweils aktualisierten Informationen ... sondern in dem dadurch erzeugten
Gedächtnis. Für das Gesellschaftssystem besteht das Gedächtnis darin, daß man bei jeder
Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzten kann, ohne sie
eigens in die Kommunikation einführen und begründen zu müssen.“ (LUHMANN 1996, 120)
Massenmedien erzeugen demnach eine Hintergrundrealität, in der sich Gesellschaft als
Gesellschaft beschreibt und die somit eine Integrationsleistung erbringt. (FRANZ
2000b, 44) Massenmediale Öffentlichkeit „transformiert Partialperspektiven zu einem
verbindenden, aber unverbindlich bleibenden Gesamteindruck“. (FRANZ 2000b, 49f)
Andererseits bietet die von der Öffentlichkeit hergestellte Allgemeinheit eine
Orientierung
für
politische
Entscheidungen,
die
zur
Durchsetzung
ihrer
29
Allgemeinverbindlichkeit eine gewisse öffentliche Akzeptanz finden müssen. Dies ist bei
Habermas die zentrale Aufgabe von Öffentlichkeit, wobei er aus einer eher normativen
Perspektive
hohe
Ansprüche
an
die
Rationalität
des
öffentlichen
Meinungsbildungsprozesses in demokratischen Gesellschaften stellt. Bei Habermas geht
es um die Ermöglichung eines rationalen Diskurses, in dem politische Entscheidungen
sachlich begründet werden müssen, wobei die Rationalität des Diskurses der Rationalität
der Lebenswelt entspricht. (FRANZ 2000b, 35)
„Mit dem Begriff der ‚Lebenswelt‘ bezeichnet Habermas den kulturellen Hintergrund der
Gesellschaft als ein ‚Subsystem, das den Bestand des Gesellschaftssystems im ganzen
definiert. Kommunikativ erzeugtes Einverständnis kann nur erzielt, erhalten oder erneuert
werden, wenn es sich letztlich auf innerhalb dieses Rahmens intersubjektiv anerkannte und
kritisierbare Gründe stützt.“ (FRANZ 2000b, 35)
Habermas geht es also nicht um die Konstitution einer gemeinsamen Realität – diese wird
vielmehr als Lebenswelt vorausgesetzt – sondern letztlich um die Erzielung von Konsens
auf Grundlage vernünftiger Diskussion, auf den politische Entscheidungen dann
rekurrieren können. (FRANZ 2000b, 43) Er hält deshalb an dem Anspruch fest, daß die
Strukturen von Öffentlichkeit daraufhin zu untersuchen sind, inwiefern sie einen
29
Die Notwenigkeit öffentlicher Akzeptanz ist im übrigen kein Spezifikum liberaler Demokratien. Auch
Diktaturen und autoritäre Systeme sind offensichtlich auf die Herstellung einer entsprechenden
Öffentlichkeit angewiesen.
3 Öffentliche Argumentation
29
vernünftigen Diskurs überhaupt zulassen, d.h. welche Rolle Begründungen im
öffentlichen Diskurs spielen (können). (So etwa KUHLMANN 1999) Dies ist aus
demokratietheoretischer Perspektive von besonderer Bedeutung, da Habermas die
Legitimität
politischer
Entscheidungen
an
die
Möglichkeit
ihrer
öffentlichen
Rechtfertigung knüpft:
„Die kommunikativ erzeugte legitime Macht kann auf das politische System in der Weise
einwirken, daß sie den Pool von Gründen, aus dem administrative Entscheidungen
rationalisiert werden müssen, in eigene Regie nimmt.“ (HABERMAS 1989, 473)
Habermas nennt dies eine „subjektlos und anonym gewordene, intersubjektivistisch
aufgelöste Volkssouveränität“ oder auch „kommunikativ verflüssigte Souveränität“.
(HABERMAS 1989, 475)
Luhmann dagegen sieht in einer in Subsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft
ohnehin nicht mehr die Möglichkeit zentraler Steuerung der Gesellschaft. Öffentliche
Meinung – deren Entstehung Luhmann jedoch nicht erhellt (FRANZ 2000b, 54) – bietet
„die Möglichkeit, zu beobachten, wie der Beobachter selbst und andere in der öffentlichen
Meinung abgebildet werden. (...) Die Ausdifferenzierung eines Medium/Form-Komplexes
der öffentlichen Meinung und das Verdecken der wahren Komplexität einer größeren Menge
von Bewußtseinsvorgängen ist Bedingung dafür, daß die Politik sich an der öffentlichen
Meinung orientieren kann. (...) Der Spiegel der öffentlichen Meinung ermöglicht mithin,
ähnlich wie das Preissystem des Marktes, eine Beobachtung von Beobachtern. Als soziales System
befähigt das politische System sich demnach mit Hilfe der öffentlichen Meinung zur
Selbstbeobachtung und zur Ausbildung entsprechender Erwartungsstrukturen.“ (LUHMANN
1990, 181f)
Aus seiner funktionalistischen Perspektive setzt Luhmann die Normalität als
„unwahrscheinlich“ (FRANZ 2000b, 47), d.h. er sieht es nicht als selbstverständlich an, daß
Gesellschaft so funktioniert, wie sie funktioniert. Er betont die kreative Dimension von
Öffentlichkeit: Die Normalität, an die gesellschaftliche Kommunikation anknüpfen kann,
muß durch Öffentlichkeit in Form von öffentlicher Meinung erst hervorgebracht werden.
„Die Anschlüsse, die Beiträge aneinander finden, führen aber nicht zu ‚inhaltlichen‘, sondern
zu ‚förmlichen‘ Bindungen, nicht zum intersubjektiv nachvollzogenen Konsens über Gründe,
sondern zu einer thematischen Struktur, die weitere Kommunikation präformiert, aber nicht
präjudiziert.“ (FRANZ 2000b, 45)
Öffentlichkeit sei deshalb „die Unterstellbarkeit der Akzeptiertheit von Themen“.
(LUHMANN 1970, 18) Im Gegensatz zu Habermas, dem es darauf ankommt, politische
Entscheidungen inhaltlich durch Vernunftgründe zu legitimieren, kommt es bei Luhmann
auf die Meinungen, die zu einem bestimmten Thema bestehen, gar nicht maßgeblich an.
(FRANZ 2000b, 44) Wichtig ist lediglich, daß in komplexen Gesellschaften eine begrenzte
Anzahl von Themen allgemein sichtbar ist.
3 Öffentliche Argumentation
30
Einigkeit besteht zwischen Habermas und Luhmann jedoch darin, daß
„die Rationalität öffentlicher Meinung ... nur in Bezug auf die Öffentlichkeit
(Sprechergemeinschaft, Arena, das teilsystemumfassende System) festgestellt werden [kann],
deren Produkt sie ist. Damit ist zunächst gesagt, dass Rationalität hier weder in einem
philosophischen noch einem technisch-mechanistischen Sinn gemeint sein kann“. (FRANZ
2000b, 53)
Öffentlichkeit muß also ihre eigenen Kriterien der Realitätsverarbeitung schaffen. Sie ist
nur insofern eine Öffentlichkeit, soweit die entwickelte Rationalität tatsächlich allgemein
ist, und nicht nur vereinzelt angewendet wird.
GERHARDS/NEIDHARDT (1990, 23) assoziieren Habermas‘ Seminarmodell von
Öffentlichkeit mit der mittleren Öffentlichkeitsebene, den Veranstaltungsöffentlichkeiten,
die sich durch die Anwesenheit eines relativ homogenen Publikums auszeichnet und
daher am ehesten den Ansprüchen vernünftiger Diskussion gerecht werden kann. Das
Konzept von Öffentlichkeit bei Luhmann verbinden sie wegen seiner insgesamt geringen
Bedeutung innerhalb seiner Gesellschaftstheorie mit der einfachen Ebene der
‚Encounters‘. Für eine umfassende Beschreibung von Öffentlichkeit, also auch der
massenmedialen Ebene, lassen sich Gerhards und Neidhardt von beiden Theoretikern
inspirieren und entwerfen das bereits diskutierte Arena-Modell von Öffentlichkeit. Dieses
bietet für die Analyse öffentlicher Argumentation einen geeigneten Rahmen, da es große
Parallelen zur antiken Marktplatz-Öffentlichkeit aufweist, in deren Kontext die auch für
die heutige Argumentationstheorie noch maßgebliche Rhetoriktradition entstanden ist.
Die antike Realität, bei der Sprecher mit Mitteln der Rede gegeneinander vor einem
Publikum angetreten sind, läßt sich mit dem Arenamodell prinzipiell auch in heutigen
Öffentlichkeiten
wiederfinden,
wobei
die
Spezifika
heutiger,
massenmedialer
Öffentlichkeit auf der Hand liegen:
-
Massenmediale Öffentlichkeit steht nicht unter Entscheidungszwang, sie dient der
Vorbereitung politischer Entscheidungen, kann diese aber nicht selbst fällen.
(GERHARDS/NEIDHARDT
1990,
47)
So
auch
die
Rechtssprechung
des
Bundesverfassungsgerichts, nach der die Bildung öffentlicher Meinung eine
„Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes“ ist. (BverfGE 8 [104] 113;
20, 56 [98] zitiert nach FRANZ 2000b, 14)
3 Öffentliche Argumentation
-
31
Massenmediale Öffentlichkeit ist keine Präsenzöffentlichkeit, d.h. die Arena und ihre
Galerie sind nur virtuell vorhanden.30 Sie werden im Prozeß der Medienvermittlung
ständig konstruiert.
Eine wichtige Gemeinsamkeit von antiker Marktplatz-Öffentlichkeit und moderner
Massenkommunikation besteht darin, daß es sich bei beiden um Laienkommunikation,
d.h. um Kommunikation, die an Laien gerichtet ist, handelt. „Wer die Laienorientierung
des Öffentlichkeitssystems nicht beachtet, kommt nicht an.“ (GERHARDS/NEIDHARDT
1990, 17) Dies gilt für antike Redner ebenso wie für heutige Akteure, die in der
massenmedialen Arena auftreten wollen.
Auch die von Franz anhand ihrer Rezeption der Theorien von Habermas und
Luhmann vorgeschlagene Unterscheidung der beiden Dimensionen von Öffentlichkeit –
Rationalität und Kreativität – bietet einen geeigneten Bezugsrahmen für die Analyse
öffentlicher Argumentation, denn Argumentation kann als Schnittstelle zwischen beiden
Dimensionen betrachtet werden: Indem Argumente sich per definitionem auf eine
bestimmte Rationalität beziehen müssen, um wirksam zu sein (siehe nachfolgendes
Kapitel), aktualisieren sie die politische Rationalität der Öffentlichkeit jeweils anhand
einer bestimmten Frage und ermöglichen damit politische Entscheidungen auf einer
allgemeinen Grundlage. Auf der anderen Seite bringen Argumente diese allgemeine
Grundlage – die politische Rationalität – auch hervor bzw. verändern sie langfristig. Die
öffentliche Meinung wird durch öffentlich geäußerte Argumente reproduziert bzw.
verändert, je nach dem, in welche Richtung argumentiert wird. Nur wenn in einer
Öffentlichkeit ausreichend kulturelle Selbstverständlichkeiten nicht nur individuell
vorhanden sind, sondern argumentativ als relevante Handlungsgrundlage akzeptabel
gemacht
werden
können,
bleibt
diese
Öffentlichkeit
als
Arena
politischer
Auseinandersetzung langfristig bestehen.31
30
Daß die Öffentlichkeit erst hergestellt werden muß, ist allerdings kein Spezifikum der Massenmedien. Bei
Veranstaltungsöffentlichkeiten z.B. wird der Rahmen, in dem die Auseinandersetzung stattfindet, auch
durch das Programm bzw. das Thema der Veranstaltung, aber auch durch die Auswahl der eingeladenen
oder beworbenen Gäste mehr oder weniger vorgegeben. Der Unterschied zu den Massenmedien besteht
darin, daß diese Konstruktion der Arena bewußt und gewollt abläuft und in der Regel konkrete
‚Verantwortliche‘ ausgemacht werden können, während der Prozeß der Konstruktion der
Medienöffentlichkeit vielfach vermittelt und in vielerlei Hinsicht weniger bewußt und gewollt stattfindet.
FRANZ (2000b, 109) verweist daher auch darauf, daß es in ihrer Untersuchung nicht um die individuelle
Wirkungsdimension geht – und entsprechend auch nicht um die individuelle Ursachendimension im Sinne
einer Suche nach dem Schuldigen (WERSIG 2001, 181) – sondern um eine ‚Diskursanalyse‘, bei der die
Charakteristiken des sozialen Kommunikationsprozesses als kulturelle Indikatoren zu verstehen sind, die
jenseits linearer Kausalschemata zu interpretieren sind.
31 Vgl. hierzu auch oben (S. 13) die Notwendigkeit der (symbolischen) Repräsentation von Institutionen.
3 Öffentliche Argumentation
32
3.3 Argumentationstheorie
Was ein Argument ist bzw. was Argumentieren heißt, darüber gibt es einen weitgehenden
Konsens in der Argumentationstheorie, der von NUSSBAUMER (1995, 1) schon in der
Antike verortet wird:
„Römische Rhetorik-Theoretiker und –Praktiker (Cicero, Quintilian) haben vor annähernd
2000 Jahren gültig formuliert, was Argumentieren heisst: Es ist ein Verfahren, mit dem einer
etwas, was strittig ist, mit Hilfe von Unstrittigem unstrittig machen will oder kann. Cicero:
argumentum = ‚ratio, quae rei dubiae facit fidem‘. Qunitilian: argumentum = „ratio, per es,
quae certa sunt, fidem dubiis adferens‘“.32
Ganz ähnlich formuliert auch W. KLEIN (1980, 19) den vielzitierten Satz:
„In einer Argumentation wird versucht, mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv
Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen.“
Übersetzt man das ‚kollektiv Geltende‘ in ‚Vernunft‘, ergibt sich – mit einigen
Spezifizierungen – die Definition von
VAN
EEMEREN/GROOTENDORST/SNOECK
HENKEMANS u.a. (1996, 5):
„Argumentation is a verbal and social activity of reason aimed at increasing (or decreasing)
the acceptability of a controversial standpoint for the listener or reader, by putting forward a
constellation of propositions intended to justify (or refute) the standpoint before a rational
judge.“
Es kann also immer dann von einem Argument die Rede sein, wenn versucht wird, durch
Sprache andere zur Übernahme eines strittigen Standpunkts zu bewegen, wobei der
Erfolg von der Vernünftigkeit33 der Gründe abhängt, die vorgebracht werden, und nicht
etwa von Gewaltandrohung oder unmittelbarem Zwang. Wie schon in der antiken
Rhetorik, stellt somit die Suche nach solchen Gründen und der Logik, die ihnen zugrunde
liegt, ein wichtiges Anliegen der Argumentationstheorie dar. Zentral ist dabei die
Feststellung, daß es eine Diskrepanz zwischen den Regeln der formalen Logik und den
tatsächlichen Argumentationen gibt, wie sie ‚im wirklichen Leben‘ vorkommen. In der
Alltagsargumentation geht es offensichtlich weniger um die streng logische Deduktion
von Aussagen aus gegebenen Prämissen (Syllogismus), sondern um das Vorbringen
plausibler Gründe.
32
Wörtlich übersetzt definiert Cicero ein Argument als „die Begründung, die einer zweifelhaften Sache
Glaubwürdigkeit verschaffen soll“, und Qunitilian als den „Grund, der in zweifelhaften Fragen
Glaubwürdigkeit bei denjenigen herbeiführt, die sich einer Sache sicher sind“.
33 Wie bereits angedeutet wurde, ist damit hier nicht automatisch eine Höherwertigkeit von Vernunft
impliziert, wie sie etwa mit ‚wissenschaftlicher Vernunft‘ assoziiert wird. Die zwiespältige Bedeutung von
Vernunft im Sinne von ‚kollektiv Geltendem‘ drückt sich auch in der Redewendung ‚jemanden zur
Vernunft bringen‘ aus. Hier soll ja jemand, der häufig von den üblichen Gepflogenheiten abgewichen ist,
dazu gebracht werden, sich wieder der Norm zu fügen, weil sein abweichendes Verhalten sonst Nachteile
sowohl für ihn als auch für die Gruppe hätte.
3 Öffentliche Argumentation
33
„Welche Norm herangezogen wird, um eine Behauptung zu plausibilisieren oder eine
Forderung zu legitimieren, ist abhängig vom kulturellen Hintergrund der Argumentation, das
heißt von den Wertemustern, die sowohl bei der argumentierenden Partei bestehen als auch
beim Adressat oder Publikum vermutet werden.“ (FRANZ 2000b, 103)
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich ‚die‘ Argumentationstheorie bzw. ArgumentationStudies als eigenständiges interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert.34 Involviert in die
Herausbildung des Fachgebiets waren vor allem Wissenschaftler aus den Bereichen
Sprach- und Literaturwissenschaft, Philosophie, Pädagogik und – dort, wo es solche
Institute gibt – Rhetorik, Speech Communication und Argumentation.
Für eine Orientierung innerhalb der verschiedenen Fragestellungen und
Begrifflichkeiten bietet es sich an, das Feld der Argumentation-Studies nicht primär nach
‚Schulen‘, Ansätzen oder akademischen (Ursprungs-)Fächern zu strukturieren,35 sondern
– wie in allen Disziplinen üblich – nach Gegenstandsbereichen, d.h. nach den
übergeordneten Fragestellungen, die sich bei der Erforschung von Argumenten und
Argumentationen herauskristallisiert haben. VAN EEMEREN (2001a, 18) nennt fünf
zentrale Begriffe („crucial concepts“), denen jeweils ein Arbeitsbereich bzw. eine
Forschungsperspektive entspricht:
1. Points of View
Nicht alle menschlichen Äußerungen sind von sich aus mit einem spezifischen
Standpunkt verbunden, und noch seltener wird dieser expliziert. In einem Argument
geht es aber gerade um die Verteidigung eines umstrittenen Standpunktes. Um sich
überhaupt mit einer Argumentation als solcher befassen zu können, müssen
Anhaltspunkte gefunden werden, mit denen sich die Standpunkte der jeweiligen
Sprecher identifizieren lassen.
2. Unexpressed Premises
In Alltagsargumentationen werden selten alle Prämissen eines Arguments explizit
erwähnt. Während solche unausgesprochenen Prämissen in der Praxis selten zu
Kommunikationsproblemen führen, müssen sie für eine wissenschaftliche Analyse
34
Seit 1986 findet vierjährlich die International Conference on Argumentation statt, die von der
International Society for the Study of Argumentation (ISSA) ausgerichtet wird. Die Ontario Society for the
Study of Argumentation (OSSA) hat seit 1995 mehrere Konferenzen ausgerichtet. Ebenfalls seit 1986
erscheint die Zeitschrift Argumentation. An International Journal on Reasoning. Weitere Zeitschriften, die
regelmäßig Beiträge zu Argumentation publizieren, sind: Argumentation and Advocacy,(unter diesem
Namen seit 1988) Communication Theory, Informal Logic, Philosophy and Rhetoric und Quarterly Journal
of Speech. Eine umfassende Rekonstruktion der Entwicklung der Argumentation-Studies leisten VAN
EEMEREN/GROOTENDORST/SNEOEK HENKEMANS u.a. 1996.
35 VAN EEMEREN (2001a) unterscheidet folgende wesentliche Forschungstraditionen: Informal Logic,
Radical Argumentativism, Modern Dialectical Approaches, Modern Rhetorical Approaches.
3 Öffentliche Argumentation
34
oder Bewertung des Arguments zunächst aus dem Kontext rekonstruiert werden, da
sie oft den Dreh- und Angelpunkt einer Argumentation ausmachen.
3. Argument Scheme
Da ein Argument stets darauf abzielt, den Opponenten (oder ein Publikum) zur
Annahme eines umstrittenen Standpunktes zu bewegen, wird der Fürsprecher
versuchen, ein Argument-Schema einzusetzen, das dazu geeignet ist, die Akzeptanz der
Prämisse auf die Konklusion zu übertragen. In Rückgriff auf die klassische Rhetorik
ist hier auch häufig vom ‚Auffinden von Argumenten‘ die Rede. Argument-Schemata
stellen dann ‚Örter‘ (lat.: loci, griech.: topoi) dar, an denen Argumente gefunden
werden können.36 Während in der klassischen Rhetorik die Ausarbeitung von Topiken
als Hilfe für Argumentierende im Vordergrund stand, geht es heute auch –
andersherum – um die Rekonstruktion der Argument-Schemata, auf die sich eine
konkrete Argumentation bezieht.
4. Argumentation Structure
Die wenigsten Argumente stehen für sich allein. Um einen Standpunkt zu verteidigen
bedarf es im Rahmen von Diskursen meist komplexer Argumentationsstrukturen. Neben
der Analyse einzelner Argumente auf der Mikro-Ebene des Argument-Schemas stellt
sich auch die Frage, wie diese Argumente sich aufeinander beziehen und welche
Konsequenzen das für das Ergebnis der Argumentation hat.
5. Fallacies
Die Analyse von Argumenten und Argumentationen ist eng verbunden mit deren
Bewertung. Nur unter bestimmten Bedingungen können sie als überzeugend
akzeptiert werden. Insbesondere im Rahmen normativer Argumentationstheorien
werden jene argumentativen Schritte untersucht, die sich entweder empirisch als nicht
überzeugend herausgestellt haben oder die vor dem Hintergrund theoretischer
Überlegungen zu den Kriterien formaler und inhaltlicher Gültigkeit als Trugschlüsse
zu bezeichnen sind.
Offensichtlich sind diese Bereiche37 sehr eng miteinander verzahnt und allenfalls
analytisch voneinander zu trennen, da sie vielfach aufeinander bezogen sind.38 Für die
Analyse öffentlicher Argumentation in der vorliegenden Arbeit wird vor allem eine
36
Daher auch der Ausdruck „Gemeinplatz“.
Siehe dazu umfassend VAN EEMEREN/GROOTENDORST/SNEOEK HENKEMANS u.a. 1996 sowie VAN
EEMEREN 2001.
38 So wird beispielsweise die Gültigkeit eines bestimmten Arguments häufig anhand der Gültigkeit des ihm
zugrundeliegenden Argument-Schemas beurteilt. Handelt es sich um ein nach bestimmten Kriterien
ungültiges Argument-Schema, unterliegt das evaluierte Argument einem Fehlschluß.
37
3 Öffentliche Argumentation
35
grundlegendes Modell benötigt, das die verschiedenen Bestandteile eines Arguments
expliziert. Als Ausgangspunkt soll hier das Toulmin-Schema des Arguments dienen.
3.3.1 Das Toulmin-Schema39 des Arguments
Das einflußreichste Modell eines Arguments ist mit Sicherheit das nach seinem Erfinder
benannte und 1958 in ‚The Uses of Arguments‘ vorgestellte ‚Toulmin-Schema‘.40 (FRANZ
2000b, 101; KIENPOINTNER 1992a, 899;
VAN
EEMEREN/GROOTENDORST/SNEOEK
HENKEMANS u.a. 1996, 158f, 207)
Toulmin hat es in Anlehnung an das Enthymem bzw. Epicherichem41 der antiken
Rhetorik entwickelt und betont mit ihm die Bedeutung „substantieller Argumentationen“
gegenüber den „analytischen Argumentationen“ (TOULMIN 1958, 113, 156) der formalen
Logik.42 Er möchte zeigen, daß die Gültigkeit von Argumenten nicht durch deren formale
Struktur bestimmt ist, sondern vor allem durch die inhaltliche Akzeptanz ihrer
substantiellen Prämissen. Er nennt diese Prämisse, auf der ein Argument basiert, Warrant.
Diese Schlußregel (so die deutsche Übersetzung) rechtfertigt erst den Übergang von
vorliegenden Data (Daten) zum Claim (Konklusion).
data / Daten
claim / Konklusion
warrant / Schlußregel
backing / Stützung
Terminologie nach Toulmin (1958), original / dt. Übersetzung
Abbildung 4: Das Toulmin-Schema des Arguments
39
Es handelt sich hierbei nicht um ein Argument-Schema im Sinne des oben dargestellten
Forschungsbereichs, sondern um ein allgemeines Modell. Der Begriff Toulmin-Schema hat sich jedoch als
Bezeichnung durchgesetzt und wird hier übernommen.
40 Im deutschsprachigen Raum hat v.a. Jürgen Habermas zur Verbreitung des Toulmin-Schemas
beigetragen. Er verwendete es erstmals in seinem Aufsatz über „Wahrheitstheorien“ (HABERMAS 1973) und
bezog sich später in seiner Theorie des Kommunikativen Handelns darauf. (HABERMAS 1989/1, 44-72)
41 Siehe hierzu z.B. Kienpointner (1992b, 23) und van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans u.a.
1996, 48ff.
42 Ironischerweise argumentiert er in ‚The Uses of Argument‘ wesentlich gegen die formale Logik, die
Aristoteles in seinen Analytiken entwickelt hat (und die bis heute Grundlage der formalen Logik sind), ohne
allerdings den ‚anderen Aristoteles‘ zu sehen, der sich in der Rhetorik und der Topik ausdrückt.
3 Öffentliche Argumentation
36
Mit der Feststellung, daß die Schlußregel wiederum auf einem Backing (Stützung) beruht
und daß dieses Backing „bereichsabhängig“ (TOULMIN 1958, 95) ist, begründet Toulmin
seine
eigentliche
philosophische
und
wissenschaftstheoretische
These,
die
Bereichsabhängigkeit der Standards zur Beurteilung von Argumenten. (TOULMIN
1958, 37f) Da unterschiedliche Wissenschaften jeweils unterschiedliche Backings für eine
Schlußregel akzeptierten, könne ein Argument in der Biologie Gültigkeit haben, während
es in der Ethik abgelehnt werde oder umgekehrt.
Toulmin erläutert sein Schema anhand eines Arguments, in dem behauptet wird, daß
Harry britischer Staatsbürger sei (Konklusion) denn er ist auf den Bermudas geboren
(Daten) und wer auf den Bermudas geboren wurde, sei im allgemeinen britischer
Staatsbürger, (Schlußregel) und zwar aufgrund von bestimmten Gesetzen und rechtlichen
Vorkehrungen (Stützung). (Abbildung 5)
Harry ist britischer
Staatsbürger
Harry wurde auf den
Bermudas geboren
Wer auf den Bermudas geboren ist, ist
im allgemeinen britischer Staatsbürger
Bestimmte Gesetze und rechtliche
Vorkehrungen sehen das so vor
Abbildung 5: Toulmins Beispiel-Argument
Es ist nun aber offensichtlich, daß die Stützung einer strittigen Schlußregel nichts anderes
ist als ein weiteres Argument, nur daß dessen Schlußregel nicht erwähnt wurde.
(KIENPOINTNER 1992b, 28f) Wenn es also darum geht, ein elementares Grundmodell des
Arguments zu entwerfen, ist es sinnvoll, diese zusätzliche Begründung der Schlußregel
wegzulassen und die Stützung einer Schlußregel als ein weiteres – dreigliedriges –
Argument zu verstehen. ÖHLSCHLÄGER (1979, 86ff, insb. 99) argumentiert auch, daß eine
Trennung zwischen Schlußregel und Stützung praktisch oft nicht möglich ist, und plädiert
aus diesem Grund für das dreigliedrige Schema.
3 Öffentliche Argumentation
37
Auch für die Zwecke dieser Arbeit ist das dreigliedrige Grundmodell des
Arguments hinreichend. Die drei Bestandteile des Arguments möchte ich zur
Vereinfachung der Terminologie etwas an den allgemeinen Sprachgebrauch für normative
Diskurse angleichen. Im Gegensatz zu deskriptiven Diskursen, die nach der Wahrheit
einer Aussagen suchen, geht es in normativen Diskursen, wie sie u.a. in der politischen
Öffentlichkeit stattfinden, um die Begründung von Forderungen, wie etwas sein soll oder
geregelt werden soll. Im Folgenden werden daher die Daten, die Toulmin selbst später als
Grounds bezeichnet hat, (TOULMIN/RIEKE/JANIK 1979, 25) als Begründung
Aus ihr folgt – auf Grundlage der Schlußregel
44
43
bezeichnet.
die Richtigkeit der Forderung (zuvor
Konklusion). (Abbildung 6)
Begründung
Forderung
Schlußregel
Abbildung 6: Das dreigliedrige Grundmodell des Arguments
In der Literatur wird die Begründung auch häufig als Argument bezeichnet (z.B.
KIENPOINTNER 1992b, NAESS 1947, HABERMAS 1973, 241). Versteht man aber das
Argument als die Instanz, die eine Argumentation (siehe oben S. 32) erfolgreich macht
bzw. zum Scheitern bringt, so ist es sinnvoll, alle Elemente, die dazu beitragen – also auch
diejenigen, die in einer konkreten Äußerung implizit geblieben sind – im Begriff des
Arguments zusammenzufassen, so wie es in dem hier vorgestellten Modell des
Arguments der Fall ist. Damit verbunden ist die Unterscheidung zwischen Argument und
Argumentation, die in der Literatur bisweilen verschwimmt:45 Während ein Argument
i.d.R. durch eine einzelne Äußerung eines Akteurs ausgedrückt wird, was natürlich nicht
43
Eine genauere Terminologie würde hier unterscheiden zwischen Begründen (für das Stützen strittiger
Wahrheitsansprüche), Rechtfertigen (für das Stützen strittiger Richtigkeitsansprüche) und Erklären (für die
Explikation der Konstitutionsbedingungen – z.B. Ursachen – von unstrittigen Sachverhalten). (J. KLEIN
1999, 5) Der Einfachheit halber wird hier auf diese Unterscheidungen verzichtet.
44 Umgangssprachlich wäre auch hier eine Umbenennung in Prämisse naheliegend. Diese Bezeichnung
würde jedoch die Eindeutigkeit, die in der Bezeichnung Schlußregel liegt, zerstören. Da auch die Begründung als
Prämisse aufgefaßt werden kann, wäre u.U. nicht mehr klar, welche Prämisse gemeint ist.
45
So spricht etwa KIENPOINTNER (1992) von Argumentationsschemata, obwohl es sich eigentlich um
Argument Schemata handelt. (vgl dazu auch Kapitel 3.3.2)
3 Öffentliche Argumentation
38
heißt, daß jede Äußerung ein Argument enthält, stellt eine Argumentation eine Abfolge
mehrerer Argumente dar.
Da die Schlußregel in Alltagsargumentationen fast nie expliziert, sondern
als
kollektiv geltend vorausgesetzt wird, bietet eine Argumentationsanalyse, die sich gerade
diese impliziten Elemente öffentlicher Argumentation zum Gegenstand macht, die
Möglichkeit, die kulturellen Grundlagen herauszuarbeiten, die diese Argumentation
möglich machen und die ihr eine gewisse Macht verleihen. Dies ist – ebenfalls bereits seit
der Antike – Aufgabe der Topik bzw. des oben aufgeführten 3. Arbeitsbereichs zu
Argument Schemes.
3.3.2 Topik
Ziel der Topik des Aristoteles, auf die sowohl seine Rhetorik als auch seine Dialektik
zurückgreifen, ist es
„[e]in Verfahren [zu] finden, von dem aus wir werden Schlüsse ziehen können über jede
aufgegebene Streitfrage aus einleuchtenden Annahmen[46] und selbst, wenn wir Rede stehen
müssen, nichts Widersprüchliches zu sagen.“ (ARISTOTELES, Top. 100a)
Aristoteles selbst hat seinen Toposbegriff nie spezifiziert, die von ihm aufgelisteten
Topoi, die das beschriebene Ziel verfolgen, lassen sich aber leicht als allgemeine
Argument Schemata erkennen. (KIENPOINTNER 1992b, 30)
„Because an argument scheme characterizes the type of justification or refutation provided
for the standpoint, an analysis of the argument schemes used in a discourse produces
information regarding the principles, standards, criteria, or assumptions involved in a
particular attempt at justification or refutation.“ (VAN EEMEREN 2001a, 20)
GARSSEN (2001, 82) kommt zu dem Ergebnis daß „the classical concept of ‘topos’
corresponds to the argument schemes in modern approaches to argumentation“. Er
unterscheidet aber zwischen drei Ansätzen, die – wie in der klassischen rhetorischen
Tradition – durch Topoi das Auffinden (im Sinne von Herstellen) von Argumenten
erleichtern wollen, und solchen, die durch sie Argumente beurteilen wollen, sowie anderen,
denen sie zur Beschreibung von Argumentationen und der ihnen zugrundeliegenden
Sprache und Kultur dient. Die Arbeiten des Linguisten Manfred KIENPOINTNER (1983,
1992b) verfolgen diesen deskriptiven Ansatz in Bezug auf die deutsche Sprache:
„Für mein Beschreibungsziel – die möglichst repräsentative Erfassung plausibler Muster der
Alltagsargumentation in der deutschen Sprachgemeinschaft – sind vor allem die maximal
kontextabstrakten Schemata interessant.“ (KIENPOINTNER 1992b, 234)
46
Das griechische endoxa das hier als „einleuchtende Annahmen“ übersetzt wurde, hat BORNSCHEUER
(1976, 26) „herrschende Meinungen“ genannt.
3 Öffentliche Argumentation
39
Es geht ihm also darum, jenseits konkreter Argumentationsinhalte die Formen plausibler
Argumente herauszuarbeiten. Verfolgt man jedoch das Ziel, die kulturelle Grundlage eines
Arguments bzw. eines spezifisch inhaltlichen Diskurses möglichst umfassend zu
rekonstruieren, müssen auch die kontextspezifischen Inhalte der verwendeten
Schlußregeln berücksichtigt werden. Da der Inhalt der Schlußregeln aber zumeist implizit
bleibt und rekonstruiert werden muß, stellt sich die Frage, wie allgemein oder spezifisch
die Rekonstruktion erfolgen soll. Nimmt man zum Beispiel das Argument (1) „Das
Asylbewerberleistungsgesetz soll abgeschafft werden, weil es Flüchtlinge diskriminiert,“
so lassen sich zunächst die Forderung (2) „Das Asylbewerberleistungsgesetz soll
abgeschafft werden“ und die Begründung (3) „Das Asylbewerberleistungsgesetz
diskriminiert Flüchtlinge“ unterscheiden. Die hier implizierte Schlußregel läßt sich nun
einerseits als logisch notwendiges Minimum (4‘) „Wenn das Asylbewerberleistungsgesetz
Flüchtlinge diskriminiert, soll es abgeschafft werden“ rekonstruieren. Dies entspricht
einer formallogisch gültigen Rekonstruktion, bei der ohne jegliche Interpretation des
Gesagten lediglich die Forderung und die Begründung, zu der sich der Sprecher ohnehin
schon explizit bekannt hat, zu einer allgemeinen Regel umformuliert wurden.
Offensichtlich wäre es aber trivial, anzunehmen, daß dies die implizit vorausgesetzte
Grundlage des Arguments war, denn wenn diese Regel (4´) vorausgesetzt werden konnte,
bestünde kein Anlaß mehr für eine Argumentation, da ja bereits Einigkeit bestünde.47 Auf
der anderen Seite läßt sich die durch (2) und (3) implizierte Schlußregel sehr allgemein
formulieren als (4´´) „Alle Gesetze, die staatliche Leistungen für ausländische Personen
regeln, sollen abgeschafft werden.“ Wenngleich diese Schlußregel im Prinzip als
Grundlage für das Argument dienen könnte, so ist doch offenbar, daß die Gefahr besteht,
durch sie mehr vorauszusetzen als nötig. Intuitiv naheliegend wäre dagegen die
Formulierung (4) „Diskriminierende Gesetze sollen abgeschafft werden.“ Faßt man
Diskriminierung als „Ungleichbehandlung von Gleichem“, so läßt sich (4) auch präziser
formulieren als „Wenn Personen / Handlungen / Situationen in relevanter Hinsicht
gleich oder ähnlich sind, sollten sie gleich behandelt werden. (Gleiches Recht für alle.)“48
GERRITSEN (2001, 66) bezeichnet solche Formulierungen als „generalized version of the
logical minimum“.
Solche Schlußregeln lassen sich nun in Anschluß an die Rhetorik auch als topoi
(griech.) oder loci (lat.) bezeichnen, d.h. als ‚Örter‘ an denen Argumente gefunden werden
47
GERRITSEN (2001, 66) spricht sich ebenfalls gegen die Rekonstruktion unaugesprochener Prämissen als
logisches Minimum.
48 Dies ist die Formulierung, wie sie in der Argumentationsanalyse in Kapitel 5 verwendet wird. Vgl. auch
Anhang B
3 Öffentliche Argumentation
40
können. (z.B. KIENPOINTNER 1992b, 30) Mit Hinblick darauf, daß die Schlußregeln bzw.
Topoi allgemein akzeptierte Grundlagen sind, sollten sie bei der Rekonstruktion so
allgemein formuliert werden, daß sie bezüglich der Konklusion des jeweiligen Arguments
keine eindeutige Tendenz aufweisen, d.h. prinzipiell sollte es auch möglich sein, auf
Grundlage des selben Topos eine gegenteilige Forderung zu begründen. In unserem
Beispiel
ist
das
bei
(4)
offensichtlich
der
Fall,
denn
erst
wenn
das
Asylbewerberleistungsgesetz als ‚diskriminierend‘ interpretiert wird, bzw. Asylbewerber
als Deutschen ‚in relevanter Hinsicht gleich oder ähnlich‘ angesehen werden, läßt sich (4)
als Grundlage für die Forderung der Abschaffung des Gesetzes verwenden. Ist das nicht
der Fall, läßt sich die Sonderbehandlung von Asylbewerbern ebenso mit (4) rechtfertigen.
Was die Praxis angeht, weist FRANZ (2000b, 113) allerdings darauf hin, daß „sich in
moralischen Kontroversen in der Regel nicht Pro- und Contra-Argumente einander
gegenüber [stehen], sondern Pro-Argumente aus unterschiedlichen Topoi.“ Dies ist ein
bekanntes Phänomen aus dem Bereich der ‚Framing-Ansätze‘. Als Weiterentwicklung der
Nachrichtenwerttheorie49 werden Frames50 in der Kommunikationswissenschaft als
„‘journalistische Bewältigungsstrategien‘ [gesehen], die eine routinisierte Verarbeitung
anfallender Informationen und Ereignisse ermöglichen und ihnen als ‚Fenster‘ dienen, durch
das sie den thematischen Ausschnitt der Welt, den sie bearbeiten sehen“. (FRANZ
2000b, 108)
Eine bestimmte Bewertung dieses thematischen Ausschnitts der Welt ist damit noch nicht
notwendig verbunden. Jedoch ist auch hier bekannt, daß bestimmte Frames bestimmte
Wertungen durchaus nahelegen können: Die Untersuchung vom Framing als „a strategy
of constructing and processing news discourse or as a characteristic of the discourse
itself“ (PAN/KOSICKI 1993, 57, zitiert nach FRANZ 2000b, 108) hat ihren Ursprung51 in
der Bewegungsforschung, in der untersucht wird, ob und wie es sozialen Bewegungen
gelingt,
49
Das Framing-Konzept wird auch im Zusammenhang der neueren Agenda-Setting-Forschung diskutiert.
Dabei wird die ursprüngliche Annahme minimaler Medienwirkungen im Sinne des paradigmatischen
‚Slogans‘ „[The Press] may not be successful much in telling people what to think, but it is stunningly
successful in telling its readers what to think about“ (COHEN 1963, 13) wieder erweitert: „How a
communicator frames an issue sets an agenda of attributes and can influence how we think about it. Agenda
setting is a process that can affect both what we think about and how to think about it.“ (MCCOMBS/SHAW
1993, 63) Demnach gibt ein Frame die für die Entscheidung einer öffentlichen Streitfrage relevanten
Kriterien vor, ohne sie jedoch selbst schon explizit anzuwenden. (Vgl. auch „Priming“ bei IYENGAR 1991,
133)
50 Der Begriff geht im wesentlichen zurück auf Erving GOFFMAN (1974), der Frames jedoch eher
wahrnehmungspsychologisch, d.h. auf individueller Ebene angesiedelt, betrachtete. (FRANZ 2000b, 104)
Vgl. auch FN 51.
51 Richtungsweisend waren hier die Arbeiten von David SNOW u.a. (1986) SNOW/BENFORD (1988; 1992),
die in Anschluß an Erving GOFFMAN (1974) dessen „Frame-Analysis“ weiterentwickelten. (FRANZ 2000b,
104) Vgl. auch PAN/KOSICKI (1993).
3 Öffentliche Argumentation
41
„‚kulturell resonante‘ Deutungen hervorzubringen und ihre Forderungen symbolisch
kondensiert so zu präsentieren, dass sie mit gesellschaftlich gültigen Rahmen konsistent sind
und sich als Element in bestehende, issue-übergreifende Weltanschauungen einfügen“.
(FRANZ 2000b, 106)
So war es etwa ein zentrales Ziel der Frauenbewegung, die Abtreibungsfrage mit dem
‚gesellschaftlich gültigen Rahmen‘ des Selbstbestimmungsrechts der Frau zu verknüpfen.
Den Prozeß der Etablierung dieser Sichtweise beschreibt Franz in ihrer empirischen
Studie. (FRANZ 2000b, 145-234) Doch selbst – oder auch gerade – nachdem es gelungen
war,
die
Abtreibungsfrage
im
öffentlichen
Diskurs
in
den
Rahmen
des
Selbstbestimmungsrechts der Frau zu rücken, findet Franz empirische Beispiele, in denen
sogar dieser Rahmen argumentativ gegen Abtreibung eingesetzt wird.52 Wenngleich also die
Anwendung eines bestimmten Rahmens auf ein bestimmtes Thema durchaus bestimmte
Bewertungen nahe legt und andere nicht, muß unterschieden werden zwischen der
prinzipiellen Offenheit eines Rahmens für unterschiedliche Deutungen und der konkreten
Bedeutung, die ein Rahmen in einem konkreten historischen und gesellschaftlichen
Kontext bezogen auf dieses Thema tatsächlich erhält. In diesem Sinn können Topoi auch
als Rahmen bzw. Frames aufgefaßt werden:
„Wie Topoi dienen Frames als Fundorte für Argumente: Sie beinhalten nicht an sich eine
bestimmte Position gegenüber dem Issue, sondern zeigen an, welche Dimensionen für eine
Beurteilung als relevant gelten, und damit, entlang welcher Kriterien sich Gesellschaft
dynamisch selbst beschreibt, welches die Rationalitätsressourcen sind, aus denen die
Kreativität kommunikativer Realitätsformulierungen speist“. (FRANZ 2000b, 112)
Wichtig ist nun, daß die rekonstruierten Topoi nicht in erster Linie als das zu verstehen
sind, was der Sprecher bei seiner Äußerung tatsächlich im Kopf hatte, und auch nicht als
das, was ein bestimmter Rezipient sich tatsächlich dabei denkt, sondern als das, was bei
der öffentlichen Äußerung sinnvollerweise als allgemein akzeptierter Wert (bzw. bei
deskriptiven Diskursen als allgemeines Wissen) vorausgesetzt werden konnte.53
BORNSCHEUERS einflußreiche Arbeit (1976) hat beispielsweise versucht, Topik als
„gesellschaftliche Einbildungskraft“ zu fassen. Bezogen auf öffentliche Argumentation
52
So vergleicht Jürgen Busche in der Süddeutschen Zeitung vom 19.9.91 das Selbstbestimmungsrecht der
Frau mit dem Selbstbestimmungsrecht des Unternehmers: „Herr im Haus zu sein, ist nicht als willkürliches
Verfügungsrecht über den Betrieb und die dort arbeitenden Menschen zu verstehen, sondern als
Entscheidungsrecht zu verantwortungsvollem Unternehmertum. Es gibt Rechtsgüter des gemeinsamen
Lebens, über die kann ein Einzelner nicht generell allein, nur sich selbst verantwortlich entscheiden. Auch
die Frau kann das nicht generell.“ (Zitiert nach FRANZ 2000b, 216)
53 Ähnlich schlägt GERRITSEN (2001, 71f) in Rückgriff auf die Sprechakttheorie vor, die Analyse nicht auf
die Rekonstruktion der Intentionen des Sprechers zu richten, sondern auf die Bekenntnis, die mit dessen
Äußerung verbunden sind: „Nowadays, the concept of commitment is generally preferred over that of the
speaker’s intentions.“
3 Öffentliche Argumentation
42
ließe sich Topik auch als öffentliche Meinung modellieren,54 die dann sowohl die
Grundlage als auch das Ergebnis öffentlicher Argumentationen wäre und durch sie
ständig aktualisiert würde. Begreift man daher Diskurse basierend auf dem Arena-Modell
von Öffentlichkeit als eine „mehr oder weniger aufeinander bezogene Folge von
Beiträgen durch Sprecher ..., die verschiedene Gruppen des Publikums vertreten und ihre
Rede am Publikum in seiner Gesamtheit ausrichten“, (FRANZ 2000b, 109) dann lassen die
in einem solchen Diskurs verwendeten Topoi als Indikatoren für die Grundlage jeweils
aktueller öffentlicher Meinungsbildung interpretieren.
„Ins Blickfeld geraten daher nicht die individuellen Wirkungen von Deutungen, sondern die
Strukturierungsleistungen, die sie für den Diskurs selbst erbringen.“ (FRANZ 2000b, 109)
Wie bereits erwähnt sind diese langfristigen (Um-)Strukturierungsleistungen, die der
Diskurs gewissermaßen auf sich selbst ausübt,55 Gegenstand der Arbeit von Barbara
FRANZ (2000b). Stellt man diese Selbstbezüglichkeit des Diskurses in den oben
beschriebenen
machttheoretischen
Kontext,
dann
lassen
sich
die
Selbststrukturierungsleistungen als Integrationsleistung des Diskurses verstehen: Die
Macht des Diskurses (oder der öffentlichen Meinung), die auf den Diskurs selbst wirkt, ist
intransitive Macht. Franz hat also – ohne selbst von Macht zu sprechen56 – die Veränderung
der intransitiven Macht im Abtreibungsdiskurs der BRD untersucht. Solange diese Macht
aber nicht als Grundlage transitiver Machtausübung durch öffentliche Argumentation
verstanden werden, bleibt der Macht-Aspekt öffentlicher Argumentation nur implizit.
Bezogen
auf
Massenkommunikation
genügt
es
dann,
einerseits
von
der
Integrationsleistung des Mediensystems (oder von Kultur oder von öffentlicher
Meinung), andererseits vom ‚Bedeutungswandel‘ im massenmedialen Diskurs zu
sprechen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, auch die transitive Seite der
54
Dies in der notwendigen Ausführlichkeit zu tun, wäre der Gegenstand einer weiteren Arbeit und wird
daher hier nur angedeutet.
55 Diese Selbstbezüglichkeit des Diskurses, im Sinne der Notwendigkeit jedes neuen Arguments, an die
Topik des bestehenden Diskurses anzuknüpfen, bedeutet jedoch nicht, daß der Diskurs nur durch sich
selbst strukturiert wird. Michel FOUCAULT (1975) fügte seinen „diskursiven Praktiken“ deshalb die „nichtdiskursiven Praktiken“ hinzu, die ebenso auf den Diskurs einwirken, so daß „in jeder Gesellschaft die
Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird“. (FOUCAULT
1972, 10f) Ähnlich ist bei Jürgen HABERMAS die „ideale Sprechsituation“ (HABERMAS 1973, 252-260) eine
kontrafaktische Unterstellung, die mit jedem Sprechakt verbunden ist. Allerdings sieht Habermas (ganz im
Gegensatz zu Foucault) hier den Ansatzpunkt für eine „Kritik der funktionalistischen Vernunft“
(HABERMAS 1981/2) in einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft, oder wie Dieter HENRICH (1974)
formulierte: Eine „Kritik der Verständigungsverhältnisse“. Die Utopie einer verständigungsorientierten
Öffentlichkeit „als einer in Zukunft zu realisierenden Lebensform?“ (HABERMAS 1973, 258), in der allein
der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (HABERMAS 1973, 240) über die Annahme
oder Ablehnung eines Arguments entscheidet, verweist bei Habermas ständig darauf, daß es gegenwärtig
andere – womöglich illegitime – Faktoren gibt, die auf den diskursiven Konsens einwirken. (HABERMAS
1973, 255)
56 Siehe hierzu Fußnote 23.
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
43
Macht öffentlicher Argumentation zu berücksichtigen, so daß anschließend die
Selbstverständlichkeiten der massenmedialen (Teil-)Öffentlichkeiten explizit als intransitive
Machtressourcen analysierbar werden, auf die verschiedene Akteure in diesen
Öffentlichkeiten zurückgreifen, um durch ihre Argumentation Macht gegenüber anderen
öffentlichen Akteuren auszuüben.
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
Angesichts der Parallelen zwischen dem in Kapitel 2 vorgestellten Macht-Konzept und
dem in Kapitel 3 entwickelten Konzept öffentlicher Argumentation liegt es nahe, beide zu
einem Modell zu verbinden, um das Verhältnis von Macht und öffentlicher
Argumentation theoretisch zu bestimmen. Transitive Macht kommt nicht ohne
intransitive Machtressourcen aus, auf die sie sich beziehen muß. Ebenso kann ein
Argument nur überzeugen, wenn es auf einem allgemein akzeptierten Topos aufbaut.
KIENPOINTNER (1992b, 30) umschreibt daher den Topos in Anlehnung an Aristoteles
auch als „‚Kraft‘ (‚vis‘) des jeweiligen Schlusses“.
Die Unterscheidung von transitiver und intransitiver Macht ermöglicht eine
differenziertere Analyse der Funktionsweise von öffentlicher Argumentation: Der Topos
bzw. die Schlußregel stellt die intransitive Machtressource dar, die eine transitive
Machtwirkung erst ermöglicht. Ein Argument erscheint dann gewissermaßen als
Verbindungsglied zwischen intransitiver und transitiver Macht. Diese Verbindung läßt
sich einerseits als kurzfristige, andererseits als langfristige Funktion von Argumenten in
der Öffentlichkeit beschreiben.
4.1 Kurzfristige Machteffekte von Argumenten
Durch Argumente wird intransitive Macht transitiv genutzt, indem sie gegen andere
Akteure in der Arena gerichtet werden. Je größer die intransitiven Machtressourcen, um
so mehr wird das Argument andere Akteure unter Zugzwang setzen: Entweder sie
stimmen dem Argument zu, oder sie versuchen, bessere Argumente zu finden, d.h.
Argumente, die auf eine größere Resonanz beim Publikum stoßen. In der
massenmedialen Arena ist jedoch die tatsächliche Resonanz bei den Rezipienten nicht
unmittelbar relevant.57 Relevant sind die Reaktionen, die wiederum innerhalb der
57
Ein direktes Feedback erfolgt lediglich über Meinungsumfragen, doch sind diese in der Öffentlichkeit
auch nur relevant, wenn sie veröffentlicht werden, und selbst dann stellen sie noch keinen Wert an sich dar,
sondern müssen erst wiederum argumentativ behauptet werden. Auch die Tatsache, daß Wahlen nur in
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
44
massenmedialen Arena erfolgen, denn nur diese sind für alle sichtbar. Je mehr
Zustimmung bzw. je weniger Ablehnung ein Akteur für sein Argument erfährt, desto
größer
ist
seine
Handlungsfähigkeit
GERHARDS/NEIDHARDT (1990, 11) sowie
in
bezug
VAN DEN
auf
die
strittige
Frage.
DAELE/NEIDHARDT (1996, 10)
haben auf diese Kontrollfunktion der Öffentlichkeit zwischen den Wahlen hingewiesen
und auch FUCHS/PFETSCH (1996, 16) belegen neben der Orientierung an
Meinungsumfragen empirisch die relative Bedeutung der veröffentlichten Meinung – also
der Meinung in den Öffentlichkeitsarenen – für das politische System.58 KEPPLINGER
(1998, 145) stellt fest, daß die meisten politischen Akteure die Medienberichte „geradezu
zwanghaft“ verfolgen und erinnert daran, daß die direkten Einflüsse der Massenmedien
auf Personen, über die berichtet wird, bereits seit längerem als „reziproke Effekte“
bezeichnet werden. (KEPPLINGER 1998, 146) Entgegen dieser Terminologie der
Wirkungsforschung
und
der
‚Suche
nach
Schuldigen‘
(vgl.
FN
19),
wird
(Medien-)Öffentlichkeit hier als (Kampf-)Arena verstanden, in der verschiedene Akteure
auch zwischen den Wahlen um die Macht konkurrieren, die sie für die Umsetzung ihrer
politischen Forderungen benötigen.
In Anlehnung an die Unterscheidung von gemeinsamem und verschränktem
Handlungsraum nach Göhler (Abbildung 2 oben) läßt sich die massenmediale Arena als
verschränkter Handlungsraum begreifen, in dem die Macht in einem Nullsummenspiel
aufgeteilt wird. Öffentliche Argumentation stellt dabei ein Mittel dar, Macht für sich zu
verbuchen und anderen zu nehmen. Wie erfolgreich dieses Mittel transitiver
Machtausübung angewendet werden kann, hängt von den intransitiven Machtressourcen
ab, auf die sich die eingesetzten Argumente beziehen. Die massenmediale Arena
konstituiert also insofern auch einen gemeinsamen Handlungsraum. Sie geht von bestimmten
Selbstverständlichkeiten und anerkannten Normen aus, auf denen die Argumente der
Akteure aufbauen können bzw. müssen, um erfolgreich zu sein. Diese Machteffekte
stellen sich kurzfristig ein: Ein ‚gutes‘ Argument setzt seine Gegner unmittelbar unter
größeren Abständen abgehalten werden, trägt dazu bei, daß die tatsächlichen Meinungen der Bürger im
massenmedialen Diskurs nur eine Hintergrundgröße darstellen. Luhmann beschreibt dies so: „Im Spiegel
[der öffentlichen Meinung] sieht man jedenfalls nicht sich selbst, sondern nur das Gesicht, das man für den
Spiegel aufsetzt und ihm zuwendet. Aber man sieht nicht nur das, sondern man sieht im Rückblick über die
eigenen Schultern hinweg die anderen, die im gleichen Raum vor dem Spiegel agieren: andere Personen,
andere Gruppen, andere politische Parteien, andere Versionen zum gleichen Thema. Aber was man sieht, es
ist ein Ausschnitt, der durch die eigene Position und Bewegung bestimmt ist. Der Effekt beruht voll und
ganz auf der Intransparenz des Spiegels, also auf der Abkopplung von all dem, was wirklich in den Köpfen
wirklicher Menschen in dem Moment vor sich geht, in dem man in den Spiegel blickt.“ (LUHMANN
1990, 181)
58 Einen theoretischen Rahmen für die Untersuchung des Verhältnisses von Medienmeinung und
politischem System bieten die Ansätze des Agenda-Building oder auch Policy-Agenda-Setting. (Vgl. hierzu
auch NEIDHARDT/EILDERS/PFETSCH (1998, 9-12).
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
45
Zugzwang. Ein Machtgewinn bzw. eine Machtstabilisierung kann quasi sofort verbucht
werden. Um kurzfristige politische Ziele erreichen zu können, steht bei öffentlicher
Argumentation also dieser Aspekt transitiver Machtausübung im Vordergrund, d.h.
vorhandene
intransitive
Machtressourcen
werden
genutzt,
um
die
eigenen
Handlungsmöglichkeiten zu steigern und die der Gegner einzuschränken.
4.2 Langfristige Machteffekte von Argumenten
Öffentliche
Argumentation
Handlungsbedingungen
der
wirkt
jedoch
Akteure
in
nicht
nur
kurzfristig
der
Arena,
indem
auf
sie
die
ihre
Handlungsmöglichkeiten einschränkt oder erweitert. Langfristig konstituiert öffentliche
Argumentation auch ihre eigenen Grundlagen bzw. reproduziert diese. Bei der
langfristigen Wirkung lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Die progressive
Langzeitwirkung besteht darin, daß die wiederholte erfolgreiche Anwendung eines
bestimmten Arguments zur Etablierung eines neuen Topos führen kann, d.h. der Inhalt
des Arguments erscheint mit der Zeit so selbstverständlich, daß andere Argumente darauf
aufbauen können.59 Die konservative Langzeitwirkung besteht darin, daß auch jede
erfolgreiche Anwendung eines Topos eine Bestätigung desselben ist, d.h. ein Topos wird
mit seiner wiederholten Anwendung immer tiefer im kulturellen Selbstverständnis einer
Sprechergemeinschaft verankert. Bezogen auf Macht bedeutet dies einerseits, daß
öffentliche Argumentation sowohl ermöglicht, die intransitiven Machtressourcen einer
Gesellschaft zu verändern60 und so zu sozialem Wandel beiträgt, wenn alte
Selbstverständlichkeiten durch neue ersetzt werden. Andererseits erhöht eine
Fokussierung des öffentlichen Diskurses auf einige wenige Topoi, die immer wieder
verwendet werden, das intransitive Machtpotential, das den Akteuren in einer Arena zur
Verfügung steht. Sie erhöht den Zusammenhalt der Gruppe indem sie Identität stiftet
und Konsens in Bezug auf politische Handlungen erleichtert.61
59
In Deutschland könnte man diesen Fall in den verbreiteten ausländerfeindlichen Argumenten erkennen:
Dadurch, daß verschiedene Argumente immer wieder zu dem Ergebnis kommen, daß es nicht gut sei, wenn
Ausländer nach Deutschland kommen (etwa weil sie die Sozialsysteme belasten, weil sie kein Deutsch
können, weil sie sich nicht integrieren wollen oder einfach weil sie ‚anders‘ sind usw.) hatte sich
insbesondere Anfang der 90er Jahre ein ‚Anti-Ausländer-Topos‘ etabliert, d.h. man konnte bisweilen eine
politische Forderung damit begründen, daß sie sich gegen Ausländer wendete. Auch in der aktuellen
Zuwanderunsgdebatte beruft sich die Union auf diesen Topos, wenn sie darauf beharrt, Zuwanderung
müsse begrenzt und nicht nur gesteuert werden.
60 Es ist eine empirische Frage, welche soziologischen und ökonomischen Faktoren hierbei die Grenzen
möglicher Veränderungen bestimmen.
61 Als Beispiele können lokale Bürgerinitiativen genannt werden, die sich einem ganz speziellen
gemeinsamen Ziel verschrieben haben und auf deren Plenum nur Argumente erfolgreich sind, die auf der
Erreichung dieses Ziels aufbauen. Ebenso können die Grundwerte einer Partei die Mitglieder
zusammenschweißen, aber im Extremfall wird eben auch eine ganze Gesellschaft durch eine Parole, ein
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
46
4.3 ‚Ohnmacht‘ von Argumenten
Die Betonung des Macht-Aspekts von Argumenten soll jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, daß Argumente nicht nur schwach sein können, und in diesem Sinne
ohnmächtig, weil sie in einer bestimmten Arena nicht ‚ankommen‘, sondern neben
Argumenten können auch psychologische, d.h. nicht-argumentative Überredungsmittel
(vgl. oben S. 20) eine übergeordnete Rolle spielen. Diese können Argumente aber nur
verstärken (oder abschwächen), nicht jedoch ersetzen.
Argumente können auch gegenüber anderen Herrschaftsmitteln versagen.
Insbesondere gegenüber Gewalt und (beispielsweise ökonomischem) Zwang scheinen
Argumente ‚machtlos‘ zu sein. Folgt man jedoch dem intransitiven Machtbegriff Hannah
Arendts, dann ist gerade Gewalt ein Ausdruck von Machtlosigkeit: Nur wer keine Macht
hat, benötigt Gewalt, um etwas durchzusetzen.62 Im Extremfall ist dies ein Einzelner, der
nicht in Einvernehmen mit anderen handelt, es können aber auch Gruppen sein, die zwar
im gemeinsamen Handeln eine gewisse Macht haben, in Relation etwa zu anderen
Gruppen aber nichts bewirken können. Sie müssen sich Gewaltmittel bedienen.
„Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der
Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne
Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel niemals möglich.“ (ARENDT 1970, 43)
Während Arendt jedoch nicht zwischen öffentlicher Meinung und Bevölkerungsmeinung
unterscheidet und damit bei ihr auch nicht klar ist, ob Macht an die tatsächliche Zahl der
einverstandenen Personen gebunden ist, gehe ich hier nicht davon aus, daß die Macht
eines öffentlich vorgetragenen Arguments von den individuellen Bewußtseinsinhalten der
Individuen determiniert ist, sondern von kommunikativ erzeugten Topoi63 (öffentlicher
Meinung), die nicht identisch sind mit einem ‚materialen‘ Grundwertekonsens
(Bevölkerungsmeinung).64 Eine Einigkeit, die nicht kommunikativ aktualisiert wird, kann
keine intransitive Macht erzeugen. Umgekehrt kann aber trotz Uneinigkeit der
individuellen Meinungen die „Fiktion“ einer öffentlichen Meinung erzeugt werden.
(MERTEN/WESTERBARKEY 1994, 202) Im Extremfall, kann sogar trotz Einigkeit der
individuellen Meinungen ein entgegengesetzter öffentlicher ‚Konsens‘ hergestellt werden,
nämlich dann, wenn die individuellen Meinungen nicht öffentlich kommuniziert werden
‚gemeinsames Ziel‘ integriert, was zu der absurden Situation führt, daß jede Handlung in Bezug auf den
selben Topos begründet werden muß.
62 ARENDT (1970, 55) verweist jedoch auch darauf, „daß Machtverlust viel eher als Ohnmacht zur Gewalt
verführt, als könne diese die verlorene Macht ersetzen“.
63 Zum Begriff der „kommunikativen Topik“ siehe auch KNOBLAUCH 2000, 658.
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
47
können. Deshalb ist in Systemen mit Gewaltherrschaft die Kontrolle des öffentlichen
Raumes besonders wichtig. Nur wenn die Kommunikation zwischen den Individuen
minimiert bzw. kontrolliert wird, kann die Erzeugung von Macht durch gemeinsames
Sprechen-und-Handeln, das die Herrschenden bedrohen könnte, verhindert werden.
(ARENDT 1970, 56)
Die Bedeutung einer solchen Verbindung von Macht und Öffentlichkeit läßt sich
am besten anhand eines Vergleichs illustrieren. Interessanterweise wählen nämlich
Hannah Arendt und Elisabeth Noelle-Neumann zwei sehr ähnliche Beispiele zur
Illustration ihrer Theorien, allerdings mit fundamental anderen Konsequenzen. Beide
beziehen sich auf die Störung von Vorlesungen durch protestierende Studenten. Arendt
verdeutlicht mit einem Gedankenexperiment, daß es sich bei erfolgreichen Störern nicht
um eine ‚Handvoll extremer Elemente‘ handele, die Gewalt ausübe, sondern um Macht:
„Man braucht sich nur vorzustellen, was geschehen wäre, wenn ein oder ein paar
unbewaffnete Juden im Vor-Hitler-Deutschland versucht hätten, die Vorlesung eines
antisemitischen Professors zu unterbrechen, und die Absurdität des Geredes von der
‚Handvoll‘ extremer Elemente springt in die Augen.“ (ARENDT 1970, 44)
Die erfolgreiche Störung einer Vorlesung ist demnach nur möglich, wenn die Störer nicht
auf einen kommunikativen Konsens unter den Zuhörern stoßen, der eine größere
Gegenmacht produziert, als die eigene. Nach Arendt schweigen die Hörer der Vorlesung
nicht aus Isolationsfurcht, sondern weil sie nicht zu gemeinsamem Reden und Handeln
bereit sind. Es gibt keinen kommunikativen Konsens den sie aktualisieren, keine
intransitiven Machtressourcen, auf die sie zurückgreifen könnten. Das Gedanken-Beispiel
zeigt, daß dies nicht immer der Fall sein muß.
Noelle-Neumann berichtet von ihren eigenen Erfahrungen zu Zeiten der 68erStudentenproteste, die sie zu ihrer Theorie der Schweigespirale anregten:
„Daß die Mehrheit die Vorlesung hören wollte, war leicht zu erkennen, und die Studenten,
die mich in meiner Sprechstunde besuchten, sagten es mir unter vier Augen. Aber während
die eine Seite, die protestierenden Studenten, laut in der Öffentlichkeit zu hören waren, und
mit Flugblättern und Slogans und Aufklebern, die an die Wände, Türen, Fenster, Autos mit
Parolen gegen mich geklebt waren, und mit ständigen Unterbrechungen der Vorlesung,
verfiel die Gegengruppe, die die Vorlesung hören wollte, zunehmend in ängstliches
Schweigen. Diejenigen, die mich unterstützen wollten, schienen zunehmend zu fürchten, daß
sie sich damit unter ihren Kommilitonen isolieren und unbeliebt machen würden.“
(NOELLE-NEUMANN 1997, 55)
64
Diese Unterscheidung kommt bei n Göhlers Machtkonzeption nicht vor, so daß unklar bleibt, was er
meint, wenn er von Gemeinsamkeiten spricht, die eine Gruppe zusammenhalten: Ist es das Einverständnis
jedes Einzelnen oder ist es der Gruppenzwang, die öffentliche Meinung der Gruppe?
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
48
Vor dem Hintergrund der Theorie der Schweigespirale erscheint die Störung der
Vorlesung als Gewaltakt, da sie den Hörern der Vorlesung keine Handlungsfreiheit
zuschreibt.
Sie
schweigen
aus
einer
„wahrscheinlich
genetisch
verankerte[n]
Isolationsfurcht“. (NOELLE-NEUMANN 1991, 299) Nach dieser Theorie können sie kaum
anders, als sich von den Störern überwältigen zu lassen, indem sie schweigen. Die Störung
erscheint als Gewalt, da es keine Freiheit auf Seiten der Betroffenen gibt.
Führt man das Rede- und Schweigeverhalten jedoch nicht auf bloß biologische
Faktoren zurück, sondern auf die öffentlich verfügbaren Argumentationsressourcen, so
wird die machttheoretische Relevanz der Situation plausibel: Die Störer hatten die Macht
zu Stören, weil sie das Argument der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der ElternGeneration sowie der grundsätzlichen Hinterfragung von Autoritäten auf ihrer Seite
hatten. Diese Topoi waren zumindest unter den Studierenden schlicht zu mächtig,
wenngleich sie aktiv nur von einer Minderheit vertreten wurden. Die Befürworter der
Vorlesung hatten keine entsprechenden Macht-Ressourcen zur Verfügung, auch deshalb,
weil sie eben keine „Gruppe“ waren, wie Noelle-Neumann schreibt, sondern vereinzelte
Individuen, die nicht zu ‚gemeinsamem Sprechen-und-Handeln‘ fähig waren.
Eine
häufige
Reaktion
auf
derartige
Ohnmacht
in
öffentlichen
Auseinandersetzungen ist die Konstitution eigener Teil-Öffentlichkeiten, die sich vom
‚Mainstream‘ einerseits und von anderen Teil-Öffentlichkeiten andererseits, abgrenzen. So
berichtet Noelle-Neumann, Ziel des von ihr gegründeten Mainzer Instituts für Publizistik
sei es gewesen, eine Art Nische für konservative Studierende einzurichten:
„Wir wollten erreichen, daß Studenten jeder politischen Richtung sich frei fühlten, ihre
Überzeugung auszusprechen, nicht nur die links stehenden Studenten, die fühlten sich im
Meinungsklima der Zeit ohnehin frei, sondern auch die konservativ orientierten.
Wahrscheinlich ist das weitgehend gelungen; nicht in allen Jahren, aber doch immer mehr.”
(NOELLE-NEUMANN 1990, 230)
Trifft eine solche Teil-Öffentlichkeit auf breite gesellschaftliche Resonanz, so kann man
von einer sozialen Bewegung sprechen, deren Teil-Öffentlichkeit – wenn die Bewegung
erfolgreich ist – sich nach und nach mit dem ‚Mainstream‘ vermischt und die
gesellschaftlichen Machtverhältnisse verändert.
4.4 Die Macht der Öffentlichkeit
Wer also gesellschaftlich etwas bewirken will, benötigt Öffentlichkeit, um die hierfür
notwendige Machtressourcen zu mobilisieren bzw. erst zu erzeugen. Nach dem ArenaModell von Öffentlichkeit muß dies durchaus nicht sofort die massenmediale
Öffentlichkeit sein. Insbesondere soziale Bewegungen generieren ihre Macht zunächst auf
4 Macht und Ohnmacht öffentlicher Argumentation
49
der Ebene von Veranstaltungsöffentlichkeiten. Mit zunehmender Professionalisierung
und
Institutionalisierung
entstehen
auch
(massen)mediale
Teilarenen
zur
Selbstverständigung der Mitglieder und Interessenten, die damit vor allem einem
erweiterten Publikum Rechnung tragen. Die Übergänge zu klassischen massenmedialen
Arenen sind dann fließend. Die tageszeitung (taz) ist ein beliebtes Beispiel für die
Etablierung eines alternativen Mediums als überregionale Qualitätszeitung.65
Auch vor dem Hintergrund, daß insbesondere Zeitungsgründungen, aber auch die
Einrichtung privater Fernsehanstalten, durchaus nicht nur Mittel zum Zweck der
Kapitalverwertung darstellen, sondern als politische Akte zu verstehen sind, leuchtet der
bisher beschriebene Zusammenhang von Macht und Öffentlichkeit ein. Nicht zuletzt vor
diesem Hintergrund ist schließlich auch der Medien- und Meinungspluralismus einer der
höchsten Verfassungswerte in der BRD.
Allerdings stellt sich dann die Frage, inwiefern die massenmediale Arena
tatsächlich als eine Arena existiert, denn es gibt ja zunächst nur eine Vielzahl von
Teilarenen, die zwar einen hohen Professionalisierungsgrad und damit relativ einheitliche
Kriterien der Informationsverarbeitung aufweisen, die aber – folgt man der These vom
Medienpluralismus – unterschiedliche redaktionelle Linien verfolgen und damit zunächst
unterschiedliche virtuelle Arenen konstruieren. Im einen Extremfall würde für die Politik
also kaum eine gemeinsame Handlungsgrundlage zur Verfügung stehen. Ihre Macht wäre
sehr gering, da keine gesamtgesellschaftliche Arena zur Generation intransitiver Macht
zur Verfügung stünde. Im anderen Extrem wäre die massenmediale Arena von einer so
großen Einigkeit geprägt, daß es unmöglich wäre, unkonventionelle Kommunikationen in
ihnen zu plazieren. Nischen, in denen eine andere Sicht der Dinge entwickelt werden
könnte, gäbe es nicht. Welches Maß an Pluralität bzw. Einigkeit richtig ist, ist eine
gesellschaftstheoretische Frage, die im Rückgriff auf empirische Befunde über die
Struktur und Funktionsweise einer Gesellschaft unter potentieller Beteiligung aller
Betroffenen entschieden werden müßte. Im empirischen Teil dieser Arbeit kann nur
beispielhaft ein kleiner Ausschnitt der Frage nach der gegenwärtigen Situation von
Öffentlichkeit in der BRD bearbeitet werden.
65 Beispielsweise GERHARDS (1993) hat sich mit der Rolle der taz bei der Etablierung neuer Konfliktlinien in
der öffentlichen Debatte befaßt. Vgl. auch DEMIROVIC 1994, 680ff.
5 Argumentanalyse
50
Teil II: Fallstudie
5 Argumentanalyse
5.1 Fragestellung
Nachdem anhand der Argumentationstheorie vor allem Kienpointners, des Arenamodells
der Öffentlichkeit von Gerhards und Neidhardt sowie der Unterscheidung von transitiver
und intransitiver Macht nach Göhler öffentliche Argumentation und Macht in ein
Verhältnis gesetzt wurden, stellt sich nun die Frage nach der Relevanz dieser
theoretischen Annahmen für die empirische Analyse politischer Kommunikation in der
Öffentlichkeit.
Auf der Grundlage des oben entwickelten Modells politischer Argumentation in
der Öffentlichkeit lassen sich verschiedene empirische Fragestellungen entwickeln, von
denen hier jedoch nur eine in Form einer Fallstudie bearbeitet werden soll. Es wäre
beispielsweise möglich zu untersuchen, ob verschiedene politische Debatten auf
Grundlage derselben oder verschiedener Topoi geführt werden, also z.B. ob im
Zuwanderungsdiskurs die gleichen Topoi zum Einsatz kommen, wie im Diskurs über
Arbeitslosigkeit oder die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen. Interessant
wäre auch die Frage, ob bei den Debatten zu den verschiedenen Auslandseinsätzen
(Bosnien, Kosovo, Afghanistan ...) jeweils die gleichen Topoi angewendet wurden. Auch
ließe sich die Verschiebung der politischen Bedeutung von Topoi in einer historischen
Längsschnittstudie untersuchen, bei der sich dann evtl. verschiedene ‚Epochen‘
ausmachen ließen, in denen jeweils bestimmte Topoi wichtig und andere unwichtig
waren. In einem zweiten Schritt könnten dann die Argumentationen in den
Übergangszeiten zwischen solchen ‚Epochen‘ genauer betrachtet werden, um zu
verstehen, wie solche ‚Paradigmenwechsel‘ argumentativ herbeigeführt werden konnten.
Eine solche Topographie der öffentlichen Meinung könnte dazu beitragen, über die
Selbstverständlichkeiten und Grenzen politischer Diskurse einer Gesellschaft aufzuklären
und zu verhindern, daß bestimmte Prämissen langfristig nicht mehr thematisiert werden
können, was eine Verfestigung von Machtbeziehungen zu Herrschaftsbeziehungen wäre.
Zugleich wird durch die argumentationstheoretische Sicht aber auch die Notwendigkeit
deutlich, in der politischen Diskussion an gegebene Prämissen anzuknüpfen, wenn man
kurzfristig Macht ausüben will. Die Veränderung der Prämissen, d.h. der politischen
Rationalität einer Öffentlichkeit, ist dagegen ein längerfristiges Projekt und der aktuellen
5 Argumentanalyse
51
Machtausübung entgegengesetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich das Verhalten
politischer Akteure im Spannungsfeld zwischen kurzfristiger Machtausübung, d.h. der
konkreten Realisierung politischer Maßnahmen, und langfristiger Machterhaltung bzw.
Machtgewinnung analysieren. Als Analysematerial wären hier Massenmedien möglich,
aber durchaus nicht notwendig. So könnten beispielsweise auch Parlamentsdebatten
untersucht werden.
Aus
kommunikationswissenschaftlicher
Perspektive
erscheint
in
diesem
Zusammenhang besonders der Aspekt interessant, daß die Öffentlichkeit, in der die
Akteure kommunizieren, eine massenmediale Öffentlichkeit ist. Zwar gibt es
verschiedene Arenen, in denen öffentlich diskutiert wird, und deren ‚öffentliche
Meinungen‘ durchaus für bestimmte Bereiche sehr große Bedeutung haben können, doch
ist auf der Ebene der Verständigung (und Integration) einer ganzen Gesellschaft vor
allem die massenmediale Öffentlichkeit relevant.
Wenn aber Massenmedien nicht nur eine ‚Konstruktion von Realität‘ für das
Publikum vornehmen (SCHULZ 1989; MERTEN/SCHMIDT/WEISCHENBERG 1994),
sondern auch die Arena als öffentlichen Handlungsraum für die politischen Akteure
konstruieren, indem sie deren Aussagen auf eine bestimmte Weise arrangieren, d.h. mit
mehr oder weniger Applaus versehen, sei es durch Kommentare der JournalistInnen
selbst, durch „opportune Zeugen“ (HAGEN 1992) oder durch „instrumentelle
Aktualisierung“, (KEPPLINGER u.a. 1992) dann lassen sich Massenmedien als Vermittler
intransitiver Machtressourcen verstehen, die den Akteuren bzw. ihren Argumenten mal
mehr und mal weniger Macht zukommen lassen.
Doch auch hier könnte man fragen, wo denn diese massenmediale Öffentlichkeit
zu verorten sei, denn schließlich gibt es nicht eine massenmediale Arena, sondern zunächst
einmal eine Vielzahl von Medien, die in ihrer Gesamtheit als ‚die‘ Massenmedien und
damit aus sicht der Akteure vielleicht auch als eine Öffentlichkeit wahrgenommen
werden. Begreift man aber wie oben dargelegt Öffentlichkeit als eine Arena, in der die
Akteure auf Grundlage bestimmter Prämissen miteinander (bzw. gegeneinander)
kommunizieren, so ist es durchaus fraglich, ob in allen Medien die gleichen Prämissen
gelten und damit, ob bzw. in welchem Maße es sich um eine Öffentlichkeit handelt. Das
den Akteuren insgesamt zur Verfügung stehende Machtreservoir wäre damit unter
anderem abhängig vom Grad der Einheitlichkeit der Medienöffentlichkeit. Eine
einheitliche Öffentlichkeit gibt jenen, die mit ihr konform gehen, umfassende
Handlungsmöglichkeiten.
5 Argumentanalyse
52
Die Frage, die entsprechend im folgenden anhand einer empirische Fallstudie
geklärt werden soll, lautet somit: Konstruieren verschiedene Medien eine gemeinsame oder
verschiedene politische Öffentlichkeiten? Oder anders formuliert: Stellen verschiedene Medien
unterschiedliche intransitive Machtressourcen für die politischen Akteure zur Verfügung,
indem sie Arenen mit unterschiedlichen Prämissen bereitstellen, oder gehen alle von
denselben Selbstverständlichkeiten aus?
Wenn in zwei oder mehr Medien in gleichem Maße auf einzelne Topoi Bezug
genommen wird, so kann dieser Grad der Übereinstimmung als Integrationsgrad der
analysierten Medien interpretiert werden. Je größer die beobachtete Übereinstimmung,
desto stärker ist die gemeinsame Öffentlichkeit integriert, d.h. um so mehr kann von einer
gemeinsamen Öffentlichkeit die Rede sein, da sie auf einem gemeinsamen
‚Grundkonsens‘ aufbaut. Ist der Integrationsgrad gering, gibt es nicht nur einen
öffentlichen Diskurs, sondern mehrere, die jeweils auf unterschiedlicher Grundlage
geführt werden und die gewissermaßen ‚aneinander vorbei reden‘. Der Integrationsgrad
kann auch als Maß für die Offenheit einer Öffentlichkeit interpretiert werden: Je größer
die Übereinstimmung, desto weniger Nischen für unkonventionelle Problematisierungen,
d.h. desto geringer die Offenheit dieser Öffentlichkeit. Integration wird hier also nicht an
einem inhaltlichen ‚Konsens‘ zu einem bestimmten Problem oder der öffentlichen
Meinung zu einem Thema festgemacht,66 sondern schon eine Ebene ‚darunter‘, auf der
Ebene
relativ
abstrakter
Normen
und
Handlungsmaximen,
die
als
legitime
Diskussionsgrundlage gelten, die aber durchaus unterschiedlich interpretiert und bewertet
werden können. Dieser Integrationsbegriff ist vergleichbar mit dem gängigen Begriff der
Fokussierung von Themen in der Berichterstattung, die ja zunächst unabhängig von deren
Bewertung ist. Auch wird meist unterschieden zwischen der gemeinsamen Fokussierung
von Medieninhalten und deren Konsonanz. (z.B. NEIDHARDT/EILDERS/PFETSCH
1998, 13)
Während das hier vorgestellte Konzept von Integration grob als Fokussierung
von Topoi (statt von Themen) umschrieben werden kann, läßt sich analog zum Begriff
der Konsonanz hier die Konformität der Toposbewertungen in verschiedenen Medien
untersuchen. Selbst wenn der Bezug auf bestimmte Topoi in zwei oder mehr Medien
gleichermaßen stattfindet (also bei einem hohen Integrationsgrad), so ist noch nicht
gewiß, daß dies überall mit dem gleichen Erfolg geschieht, denn die Argumente, die sich
66
Dies wäre ein Integrationskonzept, wie etwa in Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale
beschrieben: Die Integration einer Gesellschaft wird hier an ‚Meinungskonformität‘ bzw. konformem
Redeverhalten gemessen. Diese Vorstellung entspricht eher dem nachfolgend vorgestellten Konzept von
Konformität.
5 Argumentanalyse
53
jeweils auf einen bestimmten Topos beziehen, stehen selten allein, sondern es gibt weitere
Äußerungen, die sie loben oder kritisieren. Im Extremfall könnten die gleichen
Argumente in einem Medium mit ausschließlich positiver und im anderen mit
ausschließlich negativer Resonanz versehen werden. Es kann neben dem Integrationsgrad
also auch nach dem Konformitätsgrad einer aus mehreren Medien zusammengesetzten
Öffentlichkeit gefragt werden. Während der Integrationsgrad danach fragt, inwieweit
bestimmte Topoi überall gleichermaßen verwendet werden können, geht es beim
Konformitätsgrad darum, ob auf sie auch gleich reagiert wird, d.h. ob sie überall gleich
bewertet werden.
In der folgenden Fallstudie wird anhand des Integrations- und des
Konformitätsgrades einzelner Medienöffentlichkeiten untersucht, inwiefern diese eine
gemeinsame Öffentlichkeit konstruieren. Die Umsetzung der Fragestellung erfolgt
anhand einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Form der quantitativen Inhaltsanalyse,
wobei jedoch auf die Erfahrungen mit der von Hans-Jürgen WEIß (1992) entwickelten
Methode der Argumentationsanalyse zurückgegriffen werden konnte. Als thematischer
Rahmen der Fallstudie dient die Debatte um die Erneuerung des deutschen
Zuwanderungs- und Ausländerrechts im Jahr 2001.
5.2 Untersuchungsmaterial
Prinzipiell könnte die Fragestellung auf ganze Mediensysteme bezogen werden, die dann
hinsichtlich ihres Integrations- und Konformitätsgrades verglichen werden könnten.67
Aber auch die Analyse einzelner weniger Zeitungen könnte bereits Hinweise darauf
geben, in welchem Maße die Medienöffentlichkeit tatsächlich eine gemeinsame
Öffentlichkeit bildet oder ob mehrere Teilöffentlichkeiten existieren.
Interessant wäre auch gewesen, zumindest ein ‚Außenseiter‘-Medium mit in die
Analyse
einzubeziehen.
Da
das
Untersuchungsmaterial
68
forschungsökonomischen Gründen aus einem Projektseminar
jedoch
aus
übernommen wurde,
konnte dies nicht berücksichtigt werden. Untersucht wurden eine überregionale
Qualitätszeitung (Süddeutsche Zeitung), eine regionale Abonnementzeitung (Der Tagesspiegel,
Berlin) und eine Boulevardzeitung (Bild, Ausgabe Berlin-Brandenburg). Die zu
analysierenden Artikel wurden danach ausgewählt, ob sie sich mit der Neuregelung des
67
Denkbar ist auch ein internationaler Vergleich, z.B. bei der Analyse der europäischen Integration. Zu
untersuchen wäre hier, inwieweit die Massenmedien der verschiedenen Ländern der EU bereits eine
gemeinsame Öffentlichkeit bilden.
5 Argumentanalyse
54
Ausländerrechts in Deutschland befassen und einen konkreten Regelungsbezug hierzu
aufweisen. Näheres zur Fallauswahl ist im Abschnitt 2.1 des Codebuchs (Anhang A)
beschrieben.
Für die vorliegende Arbeit wurde als Untersuchungszeitraum die 31.
Kalenderwoche 2002 (29.7.-4.8.02) ausgewählt. Dies ist die Woche mit den meisten
Untersuchungseinheiten (54 Artikel), da Innenminister Schily am 3.8. seinen ersten
Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorstellte. Bereits vor dem 3.8. waren einige Details
des Entwurfs öffentlich geworden, so daß in der ganzen Woche intensiv über das Thema
Zuwanderung und Integration diskutiert wurde. Wegen des hohen Codieraufwandes für
einen einzelnen Codierer war eine Ausweitung des Untersuchungszeitraumes um eine
weitere Woche aus Zeitgründen nicht möglich.
5.3 Hypothesen / Erwartungen
Die zur Verfügung stehenden Zeitungen Süddeutsche, Tagesspiegel und Bild lassen sich kaum
als repräsentative Stichprobe für die deutsche Zeitungslandschaft ansehen, so daß die
Ergebnisse der folgenden Fallstudie auch nur für diese Zeitungen stehen können und
keinesfalls auf andere Medien verallgemeinerbar sind. Da zudem nur ein sehr
beschränkter Zeitraum analysiert wird, der ebenfalls nicht repräsentativ für die gesamte
Zuwanderungsdebatte ist, können auch Verallgemeinerungen in zeitlicher Hinsicht
allenfalls eine heuristische Funktion haben. Auch über die Argumentationshintergründe,
die diese Zeitungen in anderen Debatten – etwa der Gentechnik-Debatte – konstruieren,
kann selbstverständlich anhand des vorliegenden Materials keine Aussage gemacht
werden. Insgesamt sind die Ergebnisse also vor dem Hintergrund der Frage zu
interpretieren, ob das Thema Zuwanderung und Integration zu dem Zeitpunkt, als
Innenminister Schily seinen ersten Gesetzentwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorlegte,
in den drei Zeitungen eher vor gemeinsamen oder stark unterschiedlichen
Selbstverständlichkeiten diskutiert wurde.
Unterschiede in der Argumentationsweise zwischen den Zeitungen sind vor allem
dort zu erwarten, wo Journalisten selbst argumentieren, also in subjektiv gefärbten
Genres wie Kommentar, Leitartikel, Feature, Hintergrundbericht etc. Zwar können auch
in der Nachrichtenform, die auf eine neutrale Wiedergabe der Argumente anderer
Akteure zielt, die vorhandenen Argumente unterschiedlich ausgewählt und arrangiert
68
Es handelt sich um das Seminar „Argumentationsanalysen II: Der öffentliche Diskurs zur
Zuwanderungsproblematik in Deutschland“, das von Hans-Jürgen Weiß im Sommersemester 2002 an der
FU Berlin durchgeführt wurde.
5 Argumentanalyse
55
werden. Deutlicher dürften evtl. vorhandene Unterschiede jedoch in den subjektiven
Genres feststellbar sein. Bei den hier analysierten Zeitungen ist zu erwarten, daß
Tagesspiegel und Süddeutsche eher untereinander Gemeinsamkeiten aufweisen als mit Bild, da
sie im Gegensatz zur Bild-Zeitung eher dem liberalen Spektrum zugerechnet werden.
Auch die Ambitionen des Tagesspiegel, sich als überregionale Zeitung zu etablieren, lassen
hinsichtlich der Fragestellung eine Konvergenz zur Süddeutschen erwarten.
5.4 Operationalisierung und Durchführung
Die Herausforderung der Untersuchung liegt darin, daß mit den Mitteln der quantitativen
Inhaltsanalyse versucht werden soll, solche Aspekte der Medienöffentlichkeit zu erfassen,
die traditionell eher mit qualitativ-interpretativen Methoden der Textanalyse zugänglich
gemacht wurden.69 Da wegen des hohen Aufwandes bei qualitativen Studien meist nur
eine geringe Zahl oft willkürlich ausgewählter Texte analysiert wird und zudem die
einzelnen Analyseschritte wenig explizit gemacht werden, ist die Verallgemeinerung der
Ergebnisse solcher Untersuchungen oftmals fragwürdig, wenngleich sie subjektiv
befriedigend oder plausibel sein mögen. Auf der anderen Seite leiden quantitative
Inhaltsanalysen
bisweilen
darunter,
daß
sie
einige
inhaltliche
Aspekte
und
Zusammenhänge, die vom Alltagsverstand durchaus intuitiv verstanden werden, nicht
erfassen kann, da diese ‚Intuition‘ nicht immer leicht in Codieranweisungen zu fassen ist.
Die Vertreter der sogenannten quantitativen Inhaltsanalyse waren bzw. sind nämlich –
der intersubjektiven Überprüfbarkeit der Untersuchungen wegen – prinzipiell bemüht,
ausschließlich
manifeste
Kommunikationsinhalte
sprichwörtliche „black marks-on-white“ (1952, 19).
zu
erfassen,
also
BERELSONS
Das ‚Zwischen-den-Zeilen-lesen‘
sollte auf die Datenauswertung verschoben werden:
„‘Reading between the lines‘, so to speak, must be reserved to the interpretation stage, at
which time the investigator is free to use all of his powers of imagination and intuition to
draw meaningful conclusions from the data“ (HOLSTI 1969, 12f)
Eine solch strenge Trennung qualitativer und quantitativer Aspekte von Inhaltsanalyse
wird jedoch heute kaum noch so vertreten. Sowohl FRÜH (2001, 74) als auch MERTEN
(1995, 50ff) plädieren daher für eine konstruktive Verbindung qualitativer und
quantitativer Ansätze, wobei es die
„Aufgabe des Forschers ist ..., die Spannweite des Interpretationsspielraums zu bestimmen.
Er kann die Analyse auf völlig evidente, d.h. unzweifelhaft eindeutige Indikatoren
69
Auch GERHARDS (1991, 315) stellt für die Weiterentwicklung der Diskursanalyse die Frage: „Welchen
Weg gibt es zwischen der Scylla der subjektiven Hermeneutik und der Charybdis der quantitativen
Inhaltsanalyse, die Sinnzusammenhänge nicht zu fassen vermag?“
5 Argumentanalyse
56
beschränken oder auch noch hinlänglich plausible und bei unterschiedlicher sprachlicher
Sozialisation verschieden interpretierte Indikatoren in die Analyse einbeziehen.“ (FRÜH
2001, 124)
Zur
Beantwortung
der
hier
vornehmlich
interessierenden
Frage
nach
den
Selbstverständlichkeiten, auf denen die Argumente in einer Öffentlichkeit aufbauen
können, muß zum Teil in hohem Maße auf kulturell vorhandenes Vorwissen der Codierer
zurückgegriffen werden, vor dessen Hintergrund die Argumente im Text interpretiert und
der jeweils zugrunde liegende Topos erst erschlossen werden kann. Ein solcher Rückgriff
auf Vorwissen erfolgt jedoch prinzipiell bei jeder Inhaltsanalyse, auch wenn relativ
eindeutige Inhalte codiert werden. Neu ist hier lediglich, daß dieses Wissen nicht bloß
mehr oder weniger unbewußt angewendet wird, sondern nun zur Basis eines expliziten
Rekonstruktionsprozesses gemacht wird, der teilweise relativ viel Interpretationsleistung
erfordert.
Letztlich geht es hier um die Frage, wieviel Interpretationsleistung vom Codierer
erbracht werden kann bzw. soll (‚Mikro-Interpretation‘) und wieviel erst bei der
Datenanalyse (‚Makro-Interpretation‘).70 Wenngleich die Rolle des Codierers in der
neueren Methodenliteratur zunehmend diskutiert wird, (WIRTH 2001) handelt es sich hier
nicht so sehr um eine theoretische als vielmehr um eine praktische Frage der Realisierung
eines
bestimmten
Forschungsvorhabens.
Je
mehr
eine
Inhaltsanalyse
auf
kontextabhängige latente Textmerkmale zielt, desto höher ist der Interpretationsaufwand
der Codierer. Ausführliche Erläuterungen zum Kategoriensystem können dann zwar dazu
beitragen, überflüssige Grauzonen zu verringern, alle Eventualitäten können aber
natürlich nicht berücksichtigen.
Das für die vorliegende Arbeit verwendete Kategoriensystem ist ausführlich im
Codebuch (Anhang A) dokumentiert. Nachfolgend werden die Vorgehensweise und die
zentralen Variablen nur zusammenfassend dargestellt und über die Erfahrung während
der Erhebung berichtet.
5.4.1 Kategorien auf Artikelebene
Die Kategorien für die Analyse auf Artikelebene wurde aus dem Seminar (vgl. FN 68)
unverändert übernommen. Im Rahmen dieser Arbeit sind auf Artikelebene jedoch nur
70
Im Extremfall einer rein qualitativen Analyse eines einzelnen Textes würden Mikro- und MakroInterpretation zusammenfallen. Die Interpretation eines Textmerkmals ist zugleich auch schon Teil der
Gesamt-Interpretation. Im Extremfall einer rein quantitativen Analyse wäre eine Interpretation auf MikroEbene völlig ausgeschlossen bzw. optimal standardisiert, so daß alle Codierungen völlig eindeutig sind, wie
etwa bei der computerunterstützten Inhaltsanalyse. Interpretationsspielraum gibt es einzig auf der MakroEbene, d.h. bei der Datenauswertung.
5 Argumentanalyse
57
wenige formale Variablen relevant, die hier nicht weiter erläutert werden müssen: Zeitung,
Datum, Genre und Artikelumfang. (Vgl. hierzu Abschnitt 2.3 des Codebuchs in
Anhang A)
5.4.2 Kategorien auf Argument-Ebene71
Identifikation eines Arguments
Die Codiereinheit ist das Argument. Die Identifikation eines Arguments erfolgt anhand
zweier Zugriffskriterien, von denen eines erfüllt sein muß: Entweder es wird explizit eine
Forderung oder ein Vorschlag zur Gestaltung des neuen Ausländerrechts gemacht oder
eine Aussage, die als Begründung für eine Forderung zu verstehen ist, wobei die
Forderung selbst aber nicht explizit genannt wird, sondern mehr oder weniger eindeutig
aus der Begründung hervorgeht. Beispielsweise impliziert die Aussage „Deutschland ist
kein Einwanderungsland“ – auch ohne daß dies expliziert wird – im Kontext des
Zuwanderungsdiskurses „... deshalb soll Zuwanderung mehr beschränkt werden.“ In
beiden Fällen werden nur aktuelle Forderungen beachtet, die noch nicht umgesetzt
worden sind. Die nachträgliche Rechtfertigung der Verschärfung des Asylrechts im Jahr
1993 beispielsweise stellt also kein Argument im Sinne dieser Untersuchung dar.
Ein Argument gleichen Inhalts wird innerhalb eines Artikels für jeden Akteur, der
es äußert, nur einmal codiert, auch wenn es an verschiedenen Stellen des Artikels immer
wieder aufgegriffen wird. Die Mehrfacherwähnungen dienen bei der Codierung dann der
Präzisierung und Vervollständigung des Arguments. Ein Argument ist daher nicht
identisch mit einer Aussage oder einem Satz, sondern es stellt i.d.R. eine begründete oder
unbegründete Forderung eines Akteurs dar, wobei sowohl die Begründung getrennt von
der Forderung als auch eine zunächst allgemein gehaltene Forderung später im Text
spezifiziert werden kann. Codiert wird dann die spezifische Variante. (Ausnahmen siehe
Abschnitt 3.1.3 im Codebuch, Anhang A)
Da das zentrale Interesse der Analyse weder der konkreten Forderung noch der
spezifischen Begründung gilt, sondern dem Topos, auf den sich beide stützen, wird die
Forderung und die Begründung lediglich als Text-Variable erfaßt, um später die
Orientierung im Datensatz zu erleichtern, nicht jedoch für eine statistische Auswertung.
Die Notierung von Forderung und Begründung sind auch wichtig, um im weiteren
Codierprozess das jeweils zu codierende Argument deutlich vor Augen zu haben, denn im
71
Neben den in hier bzw. im Codebuch (Anhang A) aufgeführten, wurden weitere Variablen erhoben, die
jedoch nicht in die vorliegende Auswertung eingegangen sind und daher nicht dokumentiert werden. Dazu
5 Argumentanalyse
58
Zeitungstext ist es oftmals eng mit anderen Argumenten verwoben oder steht an
verschiedenen Stellen des Textes.
Codierung von Forderung und Begründung
Sobald also eine implizite oder explizite Forderung gefunden wurde, wird dieser Fall
codiert. Dabei ist eine Codierung bei allen Variablen relativ problemlos möglich, wenn
eine Begründung der Forderung explizit vorhanden ist. Wie jedoch schon KUHLMANN
(1999, 284f) festgestellt hat, wird nur ein kleiner Teil der durchaus strittigen Aussagen
tatsächlich begründet, wobei Kuhlmann das Fehlen der Begründungen in der
Berichterstattung nur teilweise auf die Selektion der Medien zurückführt, da auch die von
ihm analysierten Pressemitteilungen nur unvollständig begründet sind. Nimmt man nun
an, daß sowohl von den Argumenturhebern als auch von den Medien vor allem
diejenigen Begründungen weggelassen werden, die – aus ihrer Sicht – als
selbstverständlich bzw. als bekannt vorausgesetzt werden können, dann sollte es möglich
sein, daß auch der Codierer diese Begründung als Rezipient ‚versteht‘ und entsprechend
codieren kann. Die Frage, die sich der Codierer also stellen muß, wenn es um die
Rekonstruktion einer Begründung geht, ist: „Warum ist diese Forderung richtig?“ Bei der
Beantwortung bleibt er zunächst noch im Text und sucht dort nach Anhaltspunkten, die
die Forderung annehmbar erscheinen lassen. Pretests haben ergeben, daß viele
Begründungen schon anhand der Formulierung der Forderung mehr oder weniger
eindeutig erschlossen werden können. Wenn also beispielsweise gefordert wird, daß die
menschenunwürdigen Bedingungen der Flughafenunterkünfte verbessert werden sollen,
so ist deutlich erkennbar, daß dies mit den Menschenrechten oder dem Grundsatz der
Humanität begründet wird. Etwas weniger deutlich geht die Begründung aus der
Forderung hervor, Zuwanderung müsse stärker an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes
orientiert werden. Es liegt jedoch nahe, die Forderung darin begründet zu sehen, daß dies
der deutschen Wirtschaft zugute kommt. Zugleich verdeutlicht dieses Beispiel, wie schnell
auch der restliche Artikel bei der Suche nach einer plausiblen Begründung relevant
werden kann. So können beispielsweise die Äußerungen anderer Akteure Aufschluß über
Begründungen geben oder auch andere Forderungen desselben Akteurs, die in eine
ähnliche Richtung gehen. Dabei geht es nicht darum, genau die Begründung zu finden,
die der Argumenturheber ursprünglich im Kopf hatte, sondern darum, was im
Diskussionskontext als plausible Begründung erscheint. Deshalb kann auch über den
gehören insbesondere mehrere Akteursvariablen: Argumenturheber, Urheber der Bewertung, positiv und
negativ betroffene Gruppen u.a.
5 Argumentanalyse
59
Text hinaus das allgemeine Wissen über die Zuwanderungsdebatte herangezogen werden,
um eine plausible Begründung zu codieren.72 Nicht immer wird eine Begründung aber
eindeutig erschließbar sein. Beispielsweise könnte die Forderung eines Landespolitikers
„Der Bund soll sich an den Integrationskosten beteiligen“ einerseits damit begründet
werden, daß dies den Länderfinanzen zugute käme, (Finanz-Topos) andererseits aber auch
mit der Verantwortung des Bundes für verursachte Migrationskosten. (VerantwortungsTopos) Um die Unsicherheiten der Datenerhebung handhabbar zu machen, die sich aus
der Möglichkeit der impliziten Erschließung der Begründung bzw. der Forderung
ergeben, wird in der Variable A04c bzw. A05c codiert, ob die Forderung bzw.
Begründung explizit im Text stand oder nicht und auf welche Informationen bei ihrer
Rekonstruktion ggf. zurückgegriffen wurde.
Codierung des Topos
Die Rekonstruktion der Schlußregel, die den Übergang von den Daten zur Konklusion
bzw. von der Begründung zur Forderung (zur Terminologie siehe oben S. 37) annehmbar
macht, erfolgt anhand einer Liste von 41 Topoi, die im wesentlichen aus einem DFGProjekt am Germanistischen Seminar der Universität Düsseldorf übernommen wurde.73
Ziel des Projekt war es, aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Geschichte des
öffentlichen Sprachgebrauchs am Beispiel des bundesdeutschen Migrationsdiskurses seit
1945 zu dokumentieren und zu analysieren.74 Der diskursgeschichtlichen Ansatz war
darauf angelegt,
„vorkommende und dominierende Denkfiguren zu verschiedenen Zeiten des ‚Diskurses‘ zu
erfahren und somit die Denkweisen und Wirklichkeitskonstruktionen zu diesem Thema über
einen längeren Zeitraum hinweg vergleichen zu können.“ (WENGELER o.J.)
Da einzelne Argumente zu Migration immer stark auf eine bestimmte Situation bezogen
sind und es daher prinzipiell unendlich viele verschiedene Argumente geben kann, ist ein
solcher Vergleich nur möglich ist, wenn man von den einzelnen kontextspezifischen
Argumenten abstrahiert und allgemeinere „Argumentationsmuster“ identifiziert, die sich
72
Die Codierung eines Begründung ist deshalb so wichtig, weil ohne Begründung kein Topos codiert
werden kann. Letztlich ist die Codierung einer Begründung als Klartext nur die Vorstufe für die Codierung
der Zentralen Kategorie des Topos, der als eine allgemeinere Form der Begründung angesehen werden
kann. Argumente, für die keine Begründung und damit kein Topos codiert werden konnte, liefern für die
anschließende Datenanalyse keine Informationen, so daß die Datenbasis geringer wird.
73 Das Projekt „Die Einwanderungsdiskussion im öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945“ wurde von Georg
Stötzel unter Mitarbeit von Dr. Karin Böke, Dr. Matthias Jung, Dr. Thomas Niehr, Dr. Martin Wengeler
von 1994 bis 1998 realisiert.
74 Wichtige Teile des Projekts sind dokumentiert unter:
http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ/germ1/dfg_proj.htm
Martin Wengeler hat basierend auf dem Projekt seine Habilitationsschrift über Topoi verfaßt, die in Kürze
erscheinen wird (WENGELER 2001)
5 Argumentanalyse
60
in verschiedenen Kontexten immer wieder finden lassen. Zu diesem Zweck wurde
anhand des Materials (Zeitungsartikel) eine Liste von Topoi mit Erläuterungen erstellt, die
dann in der eigentlichen Erhebung in den Artikeln gesucht wurden. Diese Topoi wurden
fast75 unverändert übernommen. Einige Topoi wurden neu hinzugefügt, da bei den
Pretests wiederholt Argumente auftauchten, die sich nicht oder nur schwer in einen der
Düsseldorfer Topoi einordnen ließen.76
Die Schwierigkeit der Topos-Codierung liegt nun aber darin, daß Topoi als
notwendig stark empirie-geleitete Kategorien kaum je den Anspruch erfüllen können,
trennscharf zu sein, d.h. es wird immer Argumente geben, die prinzipiell mehreren Topoi
zugeordnet werden können, da Argumente im Alltagsgebrauch durchaus nicht nur die
Gültigkeit eines einzigen ‚Topos‘ voraussetzen. Dies liegt darin begründet, daß bei
jeglicher Kommunikation stets eine Vielzahl von Prämissen gemacht werden, die weder
alle bewußt, noch alle je sprachlich expliziert werden können. Wenn also beispielsweise
gefordert wird, die Aufenthaltsgenehmigung für Spitzenkräfte solle nicht auf 5 Jahre
beschränkt sein, weil diese sonst nicht nach Deutschland kommen wollten, so wird hier
nicht nur der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen77 impliziert sondern auch, daß die
Aufenthaltsgenehmigung derzeit offenbar beschränkt ist, daß Spitzenkräfte der Wirtschaft
tatsächlich nutzen bzw. daß vor allem sie das tun, daß es Spitzenkräfte überhaupt gibt,
daß es die beschränkte Aufenthaltsgenehmigung ist, die sie abhält nach Deutschland zu
kommen, daß es Aufenthaltsgenehmigungen prinzipiell geben soll, daß ihrer Erweiterung
auch sonst nichts entgegensteht usw. Je nach Kontext kann dieses Argument sogar
bedeuten, daß nur die Aufenthaltsgenehmigung für Spitzenkräfte, nicht aber die anderer
Gruppen erweitert werden soll. Da es keinen Sinn macht, all diese Implikationen zu
rekonstruieren, muß zwischen der Schlußregel, die für die Gültigkeit des Arguments
zwingend notwendig ist, und nebensächlichen Hintergrundannahmen unterschieden
werden.
75
Die Formulierung wurde von der in Düsseldorf gewählten Form „weil A, deshalb soll B“ geändert in eine
Form, die die Funktion der Topoi als Schlußregeln deutlich macht: „wenn A, dann soll B“. Außerdem
wurden diejenigen Topoi weggelassen, die nach KIENPOINTNER (1992, 246) als „schlußregelstützende
Topoi“ klassifiziert wurden, da solche Topoi auf einer anderen Analyseebene liegen. Sie rechtfertigen nicht
den Übergang von Begründung zur Konklusion sondern sie stützen (entsprechend dem Backing bei
Toulmin) andere Topoi, die die Funktion einer Schlußregel einnehmen. Vgl. hierzu auch S. 36.
76 ‚Codiereinheit‘ im Düsseldorfer – methodisch eher qualitativ ausgerichteten – DFG-Projekt war der
Artikel. Es wurde ‚codiert‘, welche Topoi in einem Artikel vorkamen, nicht aber jedem Argument im Artikel
ein Topos zugeordnet, so daß dieses Problem dort nicht entstehen konnte. So wurden Argumente, die sich
mit der Frage befassen, an welcher Stelle (zentral oder dezentral) Entscheidungen über Zahl und
Qualifikation der MigrantInnen getroffen werden sollen, vermutlich nicht berücksichtigt, weil sie nicht den
Kern des Zuwanderungsdiskurses bilden. In der vorliegenden Untersuchung gehören solche Argumente
jedoch zur Stichprobe.
5 Argumentanalyse
61
KIENPOINTNER (1992b, 42) bezeichnet Schlußregeln bzw. Topoi in diesem
Zusammenhang als „hochgradig konventionalsierte Implikationen“, die etwas über das
logische Minimum78 hinausgehen, das nötig wäre, um dem Argument zu formaler
Gültigkeit zu verhelfen. Je mehr man jedoch den Kontext berücksichtigt, um so mehr
wird es möglich bzw. auch notwendig, mehr als nur jene konventionalisierten
Implikationen als Schlußregel zu rekonstruieren,
„etwa wenn der Kontext klarstellt, daß der Sprecher auf Grundlage eingeschränkterer oder,
im Gegenteil generellerer Schlußregeln argumentiert.
Die Fülle und Komplexität der dabei zu berücksichtigenden Kontext-Faktoren erklären die
praktischen Schwierigkeiten und Divergenzen empirischer Argumentationsanalysen; der über
den Bereich des semantischen konversationellen Minimums hinausgehende Inhalt von
Schlußregeln ist eben nur über kontextspezifische Konversationsimplikationen faßbar. So
erklären sich auch die häufig auftretenden Uneinigkeiten von Sprechern über die korrekte,
falsche oder sogar böswillige Interpretation der ihrer Argumentation zugrundeliegenden
Schlußregeln.“ (KIENPOINTNER 1992b, 42f)
Das hier beschriebene Problem der Codierung eines Topos für jedes Argument ist also
kein rein methodisches Problem, sondern spiegelt die – oft sogar bewußt gebrauchte –
Mehrdeutigkeit der Sprache. Selbst wenn man den Sprecher des Arguments fragen würde,
ob für sein Argument eher Schlußregel A oder eher Schlußregel B relevant ist, wäre dies
allenfalls befriedigend, wenn es darum geht, die Intention des Argumenturhebers zu
erfahren. Doch für die Plausibilität von Argumenten und damit für ihre Macht ist die
Meinung des Sprechers völlig unerheblich. Was zählt, ist vielmehr, wie sein Argument in
der Öffentlichkeit verstanden wird. Da die Medienöffentlichkeit aber als Arena virtuell ist,
gibt es keine Instanz, die man hinsichtlich dieses Verständnisses befragen könnte.79 Ziel
des Codebuchs kann es daher nur sein, Leitlinien für die Anwendung des
Alltagsverstandes des Codierers zu geben, wobei man mit FRÜH (2001, 124) annehmen
kann, daß sich unterschiedliche Interpretationen insbesondere bei größeren Datenmengen
letztlich neutralisieren.
Die Liste der Topoi und ihrer Codes wurde aus dem Codebuch ausgegliedert.
(Anhang B) Folgende grundlegenden Regeln gelten bei der Codierung des Topos:
77
„Wenn eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen / keinen Nutzen bzw. Schaden
erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden.“
78 Zum logischen Minimum siehe S. 39.
79 Die von Noelle-Neumann entwickelten Umfragetechniken zur Messung der öffentlichen Meinung
(Klimafrage „Was denken die meisten?“, Eisenbahntest, Buhtest, Exponierbereitschaft, Zukunftsprognose
„Welche Meinung nimmt zu, welche nimmt ab?“) bieten einen gewissen Zugang zu den (aktuellen)
Selbstverständlichkeiten der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit. (NOELLE-NEUMANN 1991, 23ff, 56ff,
300ff, 317ff) Die Medien werden dabei aber lediglich als wichtiger Faktor bei der Herstellung dieser
öffentlichen Meinung gesehen. Welche Regeln innerhalb der Medienöffentlichkeit(en) gelten, läßt sich mit
diesen Mitteln jedoch nicht messen.
5 Argumentanalyse
-
62
Der Topos ist die Antwort auf die Frage nach der allgemeinen Norm, deren
Akzeptanz auch die Akzeptanz des Arguments wahrscheinlich macht, bzw. deren
Ablehnung die Akzeptanz des Arguments unwahrscheinlich macht.
-
Kommen mehrere Topoi in Frage, muß der Topos gewählt werden, der näher am
„kommunikative Fokus“ (FRÜH 2001, 56) des Arguments bzw. des Artikels liegt.
-
Es ist zu unterscheiden zwischen dem Motiv, mit dem ein Argument vorgetragen,
und dem Ziel, mit dem es begründet wird. Politische Forderungen werden eher mit
Zielen als mit Motiven begründet, da Zielen ein höherer Akzeptanzgrad unterstellt
werden kann. (KUHLMANN 1999, 190f) Es ist deshalb darauf zu achten, daß Topoi
solche Zielvorstellungen (allgemeine Normen) und nicht die persönlichen Motive der
Argumenturheber repräsentieren.
-
Topoi, die sich ähnlich sind, sind in den Codeerläuterungen voneinander abgegrenzt.
Bevor ein bestimmter Topos codiert wird, sollte geprüft werden, ob nicht ein
ähnlicher Topos besser zutrifft.
-
Das Verhältnis der Topoi läßt sich einerseits horizontal (Ähnlichkeit), anderseits
hierarchisch bestimmen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um feststehende
Beziehungen,
sondern
nur
um
mögliche,
d.h.
je
nach
der
konkreten
Verwendungsweise eines Topos kann dieser ein Spezialfall eines anderen sein oder
nicht. Speziellere Topoi, die in der Liste mit dem Vermerk „Möglicher Spezialfall von
Topos X“ versehen sind, sollten nur dann codiert werden, wenn es Hinweise darauf
gibt, daß die speziellere Version des Topos gemeint ist.80
Codierung der Tendenz
Die Tendenz des Arguments wird in zwei Dimensionen codiert: Tendenz bezogen auf die
Zuwanderungsproblematik und Tendenz bezogen auf die Integrationsproblematik. Erstere gibt an, ob
das Argument eher für eine Erweiterung der Zuwanderung oder eher für eine stärkere
Begrenzung der Zuwanderung plädiert. Bei letzterer geht es nicht nur darum, ob mehr
Assimilation oder mehr ‚Multikulti‘ gefordert wird, sondern auch um die Behandlung der
in Deutschland lebenden MigrantInnen allgemein, d.h. ob sie eher Restriktionen
unterworfen oder eher gefördert werden sollen. Die Unterscheidung zwischen
„Zuwanderungsproblematik“ und „Integrationsproblematik“ wird dabei nicht an den
letztlichen Auswirkungen der geforderten Maßnahme festgemacht, sondern an den
80
So kann der Mißbrauchs-Topos als Spezialfall des Belastungs-Topos verstanden werden, wenn Mißbrauch vor
allem als Belastung angesehen wird. Er kann aber auch als Spezialfall des Realitäts-Topos verstanden werden,
wenn ‚es Mißbrauch nun einmal gibt‘. Der Mißbrauchs-Topos wird nur codiert, wenn eine Forderung vor
allem mit Mißbrauch begründet wird und nicht allgemein mit Belastung, und wenn auch nicht der Aspekt
der Realität im Vordergrund steht, von der Mißbrauch nur ein Teilaspekt ist.
5 Argumentanalyse
63
betroffenen Personen. Maßnahmen, die die Einreisemöglichkeiten von Personen, die
noch
nicht
in
Deutschland
sind,
verändern,
beziehen
sich
auf
die
Zuwanderungsproblematik. Maßnahmen, die MigrantInnen betreffen, wenn sie in
Deutschland sind, betreffen die Integrationsproblematik. Demnach gehört also
Abschiebung zur Integrationsproblematik, auch wenn es als ‚negative Zuwanderung‘
aufgefaßt werden könnte. Die Frage des Familiennachzugs betrifft beide Dimensionen:
Als Recht hier lebender Familien betrifft es Integration. Als Einreiseerlaubnis bzw. –
verbot für die Kinder betrifft es Zuwanderung.
Codierung der Bewertung
Die zentrale Variable zur Bestimmung der Macht von Argumenten bzw. der Topoi, auf
denen sie beruhen, wird als Kontexteinheit zu jedem Argument erhoben: Die
Zustimmung bzw. Ablehnung, die es in seinem jeweiligen Kontext erfährt. Pro Argument
können bis zu vier Bewertungen codiert werden.
Da in differenzierten Argumentationen durchaus verschiedene Aspekte eines
Arguments bewertet werden können, sollte in einer weiteren Variable der
Bewertungsgegenstand codiert werden, denn es macht ja einen Unterschied, ob
beispielsweise das Argument selbst oder der Argumenturheber kritisiert wird. Ebenso ist
es möglich, einer Forderung grundsätzlich zuzustimmen, jedoch die Begründung für
falsch zu halten usw. Bereits während der Codierung stellte sich jedoch heraus, daß nur in
sehr vereinzelten Fällen (5 Prozent aller Bewertungen) auf einen spezifischen Aspekt des
Arguments bezug genommen wurde. Die meisten Bewertungen lobten bzw. kritisierten
undifferenziert das gesamte Argument, was letztlich eine Bewertung der Forderung
bedeutet. Für eine Analyse von Argumenten in Massenmedien ist eine solche
Differenzierung also nicht nötig.
Codierung der Bedeutung des Arguments
Um dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelne Argumente innerhalb eines Artikels
haben, gerecht zu werden, wird zuletzt noch codiert, ob das Argument ‚völlig
randständig/eher unwichtig‘, ‚wichtig neben anderen‘ oder ‚ein zentrales Argument des Artikels‘ ist.
Als ‚Normalfall‘ wird hier die mittlere Kategorie angenommen und dann ggf. nach oben
oder unten korrigiert.
5.4.3 Codierung und Reliabilitätstest
Das Codebuch wurde mehreren Pretests mit verschiedenen Probe-Codierern unterzogen.
In den drei Test-Durchläufen, in denen Reliabilitätstests durchgeführt wurden, lag der
5 Argumentanalyse
64
Reliabilitätskoeffizient81 bei der Identifikation der Codiereinheiten (Argumente) bei .74 /
.91 / .86 und bei der Codierung der zentralen (nicht formalen) Variablen bei
durchschnittlich .67 / .76 / .60. Da der Codeplan nach diesen Test noch teilweise
modifiziert wurde, sind diese Größen nur als grobe Richtgrößen zu verstehen, die zudem
auf keiner ausführlichen Codiererschulungen aufbauen können.82 Die Erfahrungen aus
den Codier-Tests konnten jedoch für einige wichtige Verbesserungen des Codebuchs
verwendet werden.83
Die Daten, die die Grundlage der nachfolgenden Auswertung dienen, wurden von
mir selbst erhoben. Ein Intra-Coder-Reliabilitätstest wurde ca. sechs Wochen nach
Beendigung der Erhebung anhand von 5 zufällig ausgewählten Artikeln durchgeführt. In
diesen Artikeln wurden zuerst 37 und zuletzt 36 Argumente codiert. Bei der Identifikation
der Argumente ergab der Test einen Reliabilitätskoeffizienten von .86 und bei den
zentralen Variablen84 durchschnittlich .77, wobei die Topos-Variable mit einem Wert von
lediglich .61 nach wie vor die größten Reliabilitäs-Probleme bereitet. Eine
Übereinstimmung von 61 Prozent mag zwar im allgemeinen gerade noch als akzeptabel
erscheinen, beachtet man jedoch die zentrale Rolle dieser Variablen bei der
nachfolgenden Auswertung, ist dieser Wert – erst recht zusammen mit der 85prozentigen
Argumentidentifikation – nach den Kriterien streng quantitativer Inhaltsanalyse nicht
akzeptabel. Ein Teil der nicht übereinstimmenden Toposcodierungen ist allerdings nicht
auf unterschiedliche Codierungen zurückzuführen, sondern darauf, daß in einem Fall kein
Topos codiert wurde, weil keine Begründung rekonstruiert wurde.
Wie oben (S. 56) diskutiert, war ein nach rein quantitativen Kriterien
problematisches Ergebnis jedoch zu erwarten, weswegen für eine Verbindung qualitativer,
interpretativer Verfahren mit einer auf quantitative Auswertung bezogenen Methodik
plädiert wurde. Eine Überprüfung der ‚Fehlcodierungen‘ im Intra-Coder-Test zeigt, daß
es bei den voneinander abweichenden Codierungen schwierig ist, allgemeine Kriterien
festzulegen, anhand derer die eine oder andere Codierung als ‚falsch‘ bezeichnet werden
81
CR = 2 x Zahl übereinstimmender Codierungen / (Zahl Codierungen1 + Zahl Codierungen2)
Die Probecodierungen fanden in einem Zeitraum von etwa vier Wochen statt. Zum Vergleich:
GERHARDS/LINDGENS (1995, 33) geben an, daß die Schulung der Codierer für das Public Discourse Project,
auf dessen Daten auch die Arbeit von FRANZ (2000b) beruht, zwei Monate in Anspruch genommen hat.
Die Zeit sei vor allem für die Schulung zur Variable ‚Idee-Elemente‘ benötigt worden. Diese Variable
wiederum ist vergleichbar der Topos-Variable, die auch in der vorliegenden Untersuchung die größten
Reliabilitätsdefizite aufweist.
83 Vielen Dank an die ProbecodiererInnen Harald Herbich, Ansgar Koch, Kristina Kielblock, Peer Göbel,
Dirk Meurer und Frederik Holst.
84 Topos (A06t), Tendenz bezogen auf Zuwanderungs- bzw. Integrationsproblematik (A08a, A08b),
Bedeutung im Artikel (A13), Tendenzen der Wertungen (A09c, A10c, A11c, A12c).
82
5 Argumentanalyse
65
könnte. Meist sind beide Codierungen gleichermaßen plausibel. So etwa bei folgendem
Absatz zum geplanten Kirchenasyl auf Selbstzahlerbasis:
„Die Grünen-Politikerin Christa Nickels erklärte, sie halte den Vorschlag für inakzeptabel,
den Kirchen ein eigenes Kontingent für die Flüchtlingsaufnahme zuzuweisen. Laut
Medienberichten sehen Schilys Pläne vor, dass Kirchen in Härtefällen selbst entscheiden
können, wer im Land bleiben darf, dann aber auch die Kosten übernehmen müssen. Nickels
sagte der Rheinischen Post, dies ‚wäre eine Privatisierung des Menschenrechtsschutzes‘.“ (SZ,
1.8.03, S. 6)
Für Nickels Argument wurde hier einmal der Humanitäts-Topos85 codiert und einmal der
Topos vom politischen Nutzen86, d.h. die Privatisierung der Menschenrechte wurde einmal als
Angriff gegen die Menschenrechte und einmal als politischer Schaden für Deutschland
interpretiert.
Ähnlich uneindeutig ist das folgende Argument zum gleichen Thema:
„SPD-Innenexperte Rüdiger Veit nennt das Vorhaben ‚unnötig‘. Vernünftige Gesetze und
eine gute Verwaltungspraxis würden ein gesondertes Kirchenkontingent überflüssig machen,
sagte er.“ (Tagesspiegel, 1.4.03, S. 4)
Hier wurde Veits Argument einmal mit dem Rechts-Topos87 und einmal mit dem
Nutzlosigkeits-Topos88 codiert. Einmal stand also die Aufforderung, sich an die bestehenden
Gesetze zu halten im Vordergrund, und einmal die Überflüssigkeit neuer Regelungen in
diesem Bereich.
Aber nicht nur beim Thema Kirchenasyl gibt es diese Interpretationsspielräume,
sondern auch etwa bei folgendem Abschnitt zum Nachzugsalter für Kinder:
„CDU und CSU fordern, die heute bei 16 Jahren gesteckte Grenze auf zehn, gar auf sechs
Jahre abzusenken. Begründung: Wer als junger Mensch erst nach der Schule hierher kommt,
womöglich ohne Sprachkenntnisse, ist schwer integrierbar.
Schily kommt nun beiden Seiten entgegen. Reist ein Zuwanderer gleich mit Frau und
Kindern im ‚Familienverbund‘ ein, spielt das Alter keine Rolle. Für den Kindernachzug wird
die Grenze auf zwölf Jahre abgesenkt – aber zugleich das Tor für Ermessensentscheidungen
der Ausländerämter geöffnet. Die dürften dann künftig auch 18-jährige noch zu ihren Eltern
ziehen lassen, wenn die Heranwachsenden zum Beispiel gut Deutsch sprechen.“
(Tagesspiegel, 4.8.01, S. 2)
85
„Wenn eine Entscheidung / Handlung oder deren Folgen mit den Menschenrechten übereinstimmen /
ihnen entgegenstehen bzw. aus humanitären Überlegungen geboten / abzulehnen sind, ist die Entscheidung
/ Handlung zu befürworten / abzulehnen bzw. auszuführen / nicht auszuführen.“
86 „Wenn eine Handlung unter politischen Gesichtspunkten, für einen Staat/ ein Gemeinwesen einen /
keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden.“
87 „Wenn wir uns an die Gesetze/ das bestehende/ kodifizierte Recht halten sollten, dann ist eine
Entscheidung/ Handlung zu befürworten/ abzulehnen.“
88 „Wenn es abzusehen ist, daß prognostizierte / erwartete Folgen einer Entscheidung oder Handlung nicht
eintreten oder wenn andere politische Handlungen dem erklärten Ziel eher dienen, ist die Entscheidung
abzulehnen, bzw. wenn bestehende Regelungen den erklärten Zielen nicht genutzt haben, sind sie zu
ändern.“
5 Argumentanalyse
66
Während das Argument der CDU/CSU im Reliabilitätstest zweimal eindeutig dem
Verständnis-Topos89 zugeordnet wurde, wurde Schilys Vorschlag einmal dem VerständnisTopos zugeordnet, der durch den Kontext seiner Aussage impliziert ist, bei der zweiten
Codierung jedoch dem Dezentralitäts-Topos90. Im zweiten Fall wurde also der Schwerpunkt
auf den Aspekt gelegt, daß im Einzelfall (dezentral) besser über die Integrationsfähigkeit
entschieden werden kann als durch eine pauschale Altersbegrenzung.
Der relativ große Interpretationsspielraum für den Codierer erscheint in den
genannten Beispielen nicht nur aus Validitätsgründen berechtigt, denn wenn das
Codebuch deutliche Prioritäten zwischen den einzelnen Topoi vorgeben würde, so ginge
ein erhebliches Maß an Kontextsensitivität verloren, die für die Erfassung von
Argumenten bedeutsam ist. Gerade wegen der in Zweifelsfällen beobachteten
‚Zufälligkeit‘ der Codierung des einen oder des anderen Topos kann bei großen
Fallzahlen mit einer Neutralisierung des Effekts gerechnet werden.
Relativiert werden die Reliabilitätswerte schließlich auch dadurch, daß sie sich auf
die Codierungen auf Argument-Ebene beziehen, während die meisten statistischen
Auswertungen jedoch auf Aggregat-Ebene gemacht werden. Einzelne Abweichungen
schlagen sich dadurch nicht im gleichen Maße auf die Ergebnisse nieder wie wenn die
Argumente direkt in die Statistiken eingingen. Eine weitgehende Neutralisierung der
verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten – sowohl auf Argument-Ebene als auch bei
den nach Topoi aggregierten Daten – sind jedoch erst bei großen Fallzahlen zu erwarten.
5.5 Ergebnisse
Die drei untersuchten Zeitungen widmeten sich dem Thema Zuwanderung in zum Teil
sehr unterschiedlichem Umfang. Von den in 51 Artikeln91 codierten 351 Argumenten
entfielen 189 auf die Süddeutsche Zeitung (SZ), 124 auf den Tagesspiegel und 35 auf Bild. Die
geringe Zahl der Argumente bei Bild ist allerdings nicht auf fehlende Sachaussagen
innerhalb der Artikel zurückzuführen, sondern auf den geringen Umfang der Artikel.
89
„Wenn Einheimische und Zuwanderer sich besser kennenlernen und mehr Verständnis füreinander
aufbringen, können die mit Zuwanderung und Integration verbundenen Probleme und Konflikte gelöst
werden.“ (Siehe hierzu auch die Codeerläuterungen in Anhang B)
90 „Wenn Entscheidungen auf niedrigerer / dezentraler Ebene gefällt werden können / wenn Probleme auf
niedrigerer / dezentraler Ebene gelöst werden können, dann sollen diese Entscheidungen nicht an zentraler
Stelle gefällt / diese Probleme nicht an zentraler Stelle gelöst werden.“
91 Drei der ursprünglich 54 Artikel enthielten keine Argumente. Ein ganzseitiger Artikel in der Süddeutschen
Zeitung wurde aus der Untersuchung ausgeschlossen, da er sehr detailliert alle Einzelheiten von Schilys
Gesetzentwurf dokumentiert. Die Aufnahme des Artikels hätte zu einer Verzerrung der Ergebnisse geführt,
zum einen weil dann ein erheblicher Anteil der Argumente in der SZ die Argumente Schilys gewesen wären,
zum anderen, weil diese Argumente aufgrund des Dokumentationscharakters des Artikels keinerlei Chance
auf eine Reaktion, d.h. eine Bewertung, hatten, wie das in den anderen Artikeln prinzipiell der Fall war.
5 Argumentanalyse
67
Berücksichtigt man nämlich die unterschiedliche Artikelgröße in den Zeitungen, ist die
Argumentationsdichte (Argumente pro Zeitungsseite) in Bild sogar höher als in der
Süddeutschen Zeitung, (Tabelle A 1) d.h. die SZ-Artikel sind zwar im Schnitt mehr als doppelt
so groß wie die Bild-Artikel (inkl. Schlagzeile), enthalten aber keineswegs doppelt so viele
Argumente, sondern vermutlich Hintergrundinformationen u.ä.
Die relativ geringen Fallzahlen, insbesondere bei der Bildzeitung mahnen zu einer
vorsichtigen Interpretation der Daten. Die nachfolgenden Ergebnisse haben daher eher
heuristischen Charakter und können über den Untersuchungszeitraum hinaus allenfalls
aus zusätzlichen theoretischen Plausibilitätsgründen verallgemeinert werden. Die Daten
selbst erlauben keine Inferenzschlüsse.
Erwartungsgemäß wurde in allen Zeitungen nur ein Teil der Argumente explizit
begründet. Während in der Süddeutschen fast jedes zweite Argument explizit begründet
wurde, war es in der Bild nur knapp jedes vierte. Im Tagesspiegel wurde etwas mehr als jedes
dritte Argument mit einer Begründung versehen. Berücksichtigt man allerdings, daß die
Begründung eines Arguments in manchen Fällen eindeutig aus der Forderung hervorgeht,
so daß eine explizite Begründung in der Form „weil ...“ o.ä. redundant wäre (vgl. Variable
A05c im Codebuch (Anhang A)) dann erhöht sich der Anteil ‚expliziter‘ Begründungen
auf rund 60 (SZ), 50 (Tagesspiegel) bzw. 40 Prozent (Bild). Insgesamt liegen also für etwa
die Hälfte aller Argumente ‚explizite‘ Begründungen vor. (Tabelle 1)
Zeitung
SZ
Gesamt
Tagesspiegel
Bild
explizite Begründung
n=189
60,3%
n=124
51,6%
n=35
40,0%
n=348
55,2%
implizite Begründung
25,4%
29,8%
37,1%
28,2%
keine Begründung
14,3%
18,5%
22,9%
16,7%
100,0%
99,9%
100,0%
100,1%
Gesamt
Tabelle 1: Anteile der Argumente mit expliziten bzw. impliziten Begründungen
Für die Wirkungsmächtigkeit von Argumenten sind jedoch nicht nur solche
Begründungen relevant, die im Text geliefert werden, sondern auch jene, die als
selbstverständlich oder bekannt vorausgesetzt werden können. Deshalb wurde versucht,
auch implizite Begründungen zu codieren, d.h. solche Begründungen, die entweder durch
die Formulierung der Forderung oder durch andere Aussagen im Artikel nahegelegt
wurden,
sowie
solche,
die
anhand
des
allgemeinen
Wissens
über
die
Zuwanderungsdebatte und die Positionen der Akteure vom Leser impliziert werden
können. Der Anteil der Argumente mit solchen impliziten Begründungen beträgt
5 Argumentanalyse
68
insgesamt etwa ein Drittel, so daß insgesamt für über 80 Prozent aller Argumente eine
Begründung – und damit auch ein Topos – codiert werden konnte, wobei der Anteil
‚begründeter Argumente‘ in diesem Sinne in keiner Zeitung geringer ist als 75 Prozent.
(Tabelle 1, vgl. ausführlich Tabelle A 2)
Da es hier jedoch nicht um das quantitative Ausmaß der Begründungen geht,
sondern um deren Inhalte, stellt sich nun die Frage, auf welche der 41 im Codeplan
vorgesehenen Topoi sich die Begründungen beziehen.
Insgesamt wurden im Untersuchungsmaterial 31 verschiedene Topoi verwendet.
Die relativ hohe Zahl unbesetzter Kategorien ist darauf zurückzuführen, daß die
Düsseldorfer
Topoi-Liste
(vgl.
oben
S.
59)
für
die
Untersuchung
des
Zuwanderungsdiskurses über mehrere Jahrzehnte konzipiert wurde, das vorliegende
Material jedoch lediglich das sehr enge Themen- und Argumentationsspektrum einer
einzigen Woche umfaßt. So ist es nicht verwunderlich, daß etwa der Ausbeutungs-Topos, der
Entwicklungshilfe-Topos oder der Verlagerungs-Topos nicht codiert wurden. In der folgenden
Auswertung werden daher nur jene Topoi berücksichtigt, die wenigstens einmal in einer
Zeitung vorkamen.
Da sich die meisten der nachfolgenden Auswertungen nicht auf Argumente,
sondern auf Topoi beziehen, ist die ‚Fallzahl‘ der meisten Statistiken höchstens 31. Die
Aggregierung der Argument-Daten erfolgte durch Mittelwertbildung der relevanten
Variablen.
5.5.1 Welche Topoi werden wo verwendet?
Tabelle 2 zeigt die relativen Häufigkeiten der verwendeten Topoi, aufgeteilt nach
Zeitungen. Der ‚beliebteste‘ Topos ist der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen92. Nur in der SZ
spielt der Topos vom menschlichen Nutzen und der Topos vom politischen Nutzen eine größere
Rolle als dieser. Letztere spielen wiederum beide in Bild und Tagesspiegel (fast) keine Rolle.
Während sich die Argumentation in Bild neben dem wirtschaftlichen Nutzen vor allem
um den Belastungs-Topos sowie den Mißbrauchs-Topos drehen, werden im Tagesspiegel der
Humanitäts-Topos sowie ebenfalls der Belastungs-Topos hochgehalten. Insgesamt findet in der
SZ (und etwas weniger im Tagesspiegel) die differenzierteste Argumentation statt, während
sich die Diskussion in Bild schon wegen ihres geringen Umfangs auf wenige zentrale
Topoi konzentriert.
92
„Wenn eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen / keinen Nutzen bzw. Schaden
erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden.“ (Siehe Liste der Topoi, Anhang
5 Argumentanalyse
69
Zeitung
Topos
SZ
Tagesspiegel
Bild
n=189 Arg.
n=124 Arg.
n=35 Arg.
n=348 Arg.
14,3%
18,5%
22,9%
16,7%
wirtschaftlicher Nutzen
8,5%
16,1%
20,0%
12,4%
Humanität
6,9%
12,1%
5,7%
8,6%
11,1%
4,0%
Belastung
3,7%
8,9%
politischer Nutzen
9,0%
,8%
Recht
5,3%
4,0%
5,7%
4,9%
Verständnis
5,3%
3,2%
2,9%
4,3%
Finanz
4,2%
2,4%
Mißbrauch
3,2%
,8%
Realität
4,8%
,8%
2,9%
Machbarkeit
3,7%
1,6%
2,6%
Effizienz
1,6%
3,2%
2,9%
2,3%
Nutzlosigkeit
1,6%
1,6%
5,7%
2,0%
4,8%
2,9%
2,0%
nicht eindeutig zuordenbara
menschlicher Nutzen
Veränderung
7,5%
14,3%
6,6%
5,2%
3,2%
11,4%
3,2%
Bürokratie
1,6%
2,4%
1,7%
Gesetz
1,1%
3,2%
1,7%
Demographie
1,6%
,8%
Fortschritt
1,6%
1,6%
Hierarchie
1,6%
Verantwortlichkeit
2,1%
Widerspruchsfreiheit
1,1%
1,6%
1,1%
,5%
1,6%
,9%
Europa
2,9%
1,4%
1,4%
2,9%
1,1%
1,1%
Fremdenfeindlichkeit
1,6%
,9%
Vorurteil
1,6%
,9%
Definition
,5%
,8%
,6%
Demokratie
,5%
,8%
,6%
1,6%
,6%
Dezentralität
Extremisten
,5%
,8%
,6%
Kultur
,5%
,8%
,6%
Gerechtigkeit
,5%
Innere Stabilität
Gesamt
Gesamt
,3%
,8%
100,0%
100,0%
,3%
100,0%
a. Da eine Begründung nicht rekonstruiert werden konnte, war auch ein Topos nicht eindeutig zu
ermitteln.
Tabelle 2: Relative Häufigkeiten der verwendeten Topoi
100,0%
5 Argumentanalyse
70
5.5.2 Integration: Übereinstimmende Verwendung von Topoi
Versteht man nun, wie oben (S. 52f) vorgeschlagen, die gemeinsame Verwendung der
gleichen Topoi als Indikator für eine gemeinsame Öffentlichkeit mehrerer Medien, so läßt
sich das Integrationsmaß zweier Medien als Korrelationskoeffizient zwischen den
Verwendungshäufigkeiten der einzelnen Topoi konstruieren: Eine hohe positive
Korrelation deutet auf ähnliche Prioritätensetzung, d.h. auf einen hohen Integrationsgrad
der beiden Medien, hin. Eine hohe negative Korrelation dagegen spricht für starke
Unterschiede, d.h. einen geringen Integrationsgrad der beiden Medien. In bezug auf diese
beiden Medien ist es dann sinnvoller, tendenziell von zwei Teilöffentlichkeiten zu
sprechen, da es kaum eine gemeinsame Grundlage zwischen beiden gibt. Besteht keinerlei
Korrelation zwischen den Medien, kann dies als mittlerer Integrationsgrad interpretiert
werden: Die ‚Teilöffentlichkeiten‘ haben zwar kaum Gemeinsamkeiten, grenzen sich aber
auch nicht voneinander ab. Man könnte auch von Indifferenz sprechen oder, in der
Terminologie des politischen Kampfes, von ‚friedlicher Koexistenz‘.
Neben den Korrelationen der einfachen Verwendungshäufigkeit der Topoi
(‚Toposrelevanz1‘) lassen sich aber noch zwei andere Indikatoren für das Maß der
Integration konstruieren, die jeweils aufeinander aufbauen:
1. Zusätzlich zur Häufigkeit der Topoi läßt sich die Bedeutung, die ihren Argumenten
innerhalb eines Artikels jeweils beigemessen wird, heranziehen. Kommt ein Topos in
zwei Medien zwar gleich häufig vor, in dem einen Medium jedoch immer in
randständiger Position, im anderen an zentraler Stelle (vgl. die Variable A1393 im
Codebuch in Anhang A), so gibt die Korrelation der Häufigkeiten bloß eine
Scheinähnlichkeit an. Vermieden wird dies, wenn man die Häufigkeit mit der
durchschnittlichen Bedeutung korrigiert und diese ‚Toposrelevanz‘ dann zwischen den
Medien korreliert:
Toposrelevanz2 = Häufigkeit x Durchschnittliche Bedeutung
2. Noch höher werden die Ansprüche an das Ähnlichkeits- bzw. Integrationskriterium,
wenn man als weiteren Indikator für die herausragende Rolle eines Topos auch die
Anzahl der Reaktionen hinzuzieht, die ein Topos auf sich vereinigen kann, unabhängig
davon ob diese negativ, positiv oder neutral sind. Wenn viel über einen Topos geredet
93
Für die Auswertung wurde der Ausprägung „randständiges Argument“ statt dem Code ‚0‘ der Wert 0,5
zugewiesen, da ansonsten ‚randständig‘ auf Topos-Ebene den gleichen Wert wir ‚nicht vorhanden‘ erhalten
hätte, nämlich ‚0‘.
5 Argumentanalyse
71
wird, ist dies ein Indiz für die hohe Bedeutung, die ihm in einer bestimmten
Öffentlichkeit zugesprochen wird. Auch die Korrelation zwischen der nachfolgenden
Variable in den einzelnen Medien kann also als Integrationsmaß interpretiert werden.
Toposrelevanz3 =
Häufigkeit x Durchschnittliche Bedeutung x Durchschnittliche Anzahl der Reaktionen
Die Korrelationskoeffizienten, die sich aus diesen drei Bedeutungs-Indikatoren ergeben,
sind in den Tabellen A 3, A 4 und A 5 im Anhang dokumentiert. Da sie sich insgesamt in
ihrer Tendenz zwar grundsätzlich ähneln, im einzelnen jedoch zum Teil schwierig
sinnvoll interpretierbar sind, dient im folgenden der Mittelwert der drei Koeffizienten als
Integrationsmaß (I).
IntegrationsmaßMediumA / MediumB =
1 3
¦ Kor (Toposstellenwerti )
3 i =1
Die Signifikanzen der Korrelationen können dabei natürlich nicht berücksichtigt werden.
Sie sind allerdings wegen der geringen Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse dieser
Fallstudie ohnehin kaum relevant, da die Erhebung kaum als repräsentative Stichprobe
verstanden werden kann. Es handelt sich also gewissermaßen um eine ‚Vollerhebung‘ des
Untersuchungsmaterials.94
Überraschenderweise ergibt sich in den vorliegenden Daten eine größere
Ähnlichkeit zwischen Bild- und Tagesspiegel-Öffentlichkeit (I = .678) als zwischen den
Öffentlichkeiten von Tagesspiegel und Süddeutscher Zeitung (I = .542) Am geringsten, aber
immer noch positiv ist die Integration von Bild und Süddeutscher Zeitung (I = .310). Zu
beachten ist jedoch, daß die hohe95, positive Integration, insbesondere von Tagesspiegel und
Bild, lediglich bedeutet, daß die gleichen Topoi als Argumentationsgrundlage dienen,
völlig unabhängig davon, wie diese bewertet werden. (Siehe hierzu die Kapitel 5.5.4 und
5.5.5) Ebenso ist mit der übereinstimmenden Verwendung bestimmter Topoi noch nicht
notwendig eine bestimmte Tendenz verbunden.
94
Die Signifikanzen sind in den Tabellen im Anhang trotzdem angegeben, um anzudeuten, wie zuverlässig
die Daten tendenziell sind. In Tabelle 3, in der alle (gemittelten) Korrelationen zusammengefaßt dargestellt
werden, wird durch die Zahl der Sternchen (*) außerdem angegeben, wie viele der in den Wert eingegangen
Korrelationen mindestens auf dem 5%-Niveau signifikant waren.
95 Die insgesamt für sozialwissenschaftliche Forschung ungewöhnlich hohen Korrelationen verwundern
nicht, wenn man bedenkt, daß ja trotz allen subjektiven Konstruktionen durch die Medien auch die
tatsächlich gemachten Aussagen bestimmter Akteure mehr oder weniger ‚nur‘ wiedergegeben werden. Dies
5 Argumentanalyse
72
5.5.3 Exkurs: Wie werden die Topoi interpretiert?
Die Möglichkeit, denselben Topos, d.h. dieselbe normative Grundlage, sowohl für als
auch gegen Zuwanderung zu verwenden kann beispielsweise96 anhand des VerständnisTopos verdeutlicht werden: „Wenn Einheimische und Zuwanderer sich besser
kennenlernen und mehr Verständnis füreinander aufbringen, können die mit
Zuwanderung und Integration verbundenen Probleme und Konflikte gelöst werden.“ Bei
diesem Topos bleibt ja durchaus offen, von wem die Anstrengungen, die für eine
Verständigung nötig sind, aufgebracht werden sollen. Dies ist vielmehr in der aktuellen
Zuwanderungsdebatte gerade der Streitpunkt: Ist Integration eher als Assimilation an die
Mehrheitsgesellschaft oder als multikulturelle Integration zu verstehen?
Wie Tabelle A 6 zeigt, wird dieser Topos in allen drei Zeitungen eher im Sinne von
Assimilation bzw. Restriktionen gegenüber der Minderheitsgesellschaft gedeutet.
Unterschiedlich interpretiert werden dagegen u.a. der Bürokratie-Topos (für Assimilation im
Tagesspiegel, für Multikulti in der SZ), der Finanz-Topos (für Multikulti im Tagesspiegel, für
Assimilation in der SZ), der Machbarkeits-Topos (pro Zuwanderung und Multikulti im
Tagesspiegel, contra Zuwanderung und für Assimilation in der SZ), der Rechts-Topos (Für
Assimilation bzw. Restriktionen im Tagesspiegel und für Multikulti in der SZ) sowie der
Nutzlosigkeits-Topos (Gegen Zuwanderung in SZ und Bild, dafür im Tagesspiegel; pro
Multikulti in SZ und Tagesspiegel, dagegen in Bild). Die meisten Topoi werden jedoch
tendenziell in allen drei Zeitungen in die gleiche Richtung interpretiert. Dies geht auch aus
Tabelle A 7 und Tabelle A 8 hervor. Sie zeigen die Korrelationen zwischen der Richtung
(Pro/Contra), in der die Topoi interpretiert wurden.
Dieser Befund entspricht der Eigenschaft von Frames, die zwar ebenfalls an sich
neutral sind; bezieht man sie in der Praxis jedoch auf ein bestimmtes Problem, werden sie
meist in Richtung einer bestimmten Lösung gedeutet. Sie anders zu interpretieren wäre
wohl meist mit einem erheblichen Rechtfertigungsaufwand verbunden.
5.5.4 Wie werden die Topoi bewertet?
Wenn Argumente Interpretationen von Topoi sind (vgl. Kapitel 3.3.2), so können Topoi,
die als Diskussionsgrundlage in einer Öffentlichkeit zwar womöglich grundsätzlich
akzeptiert sind, dennoch „falsch“ angewendet werden, d.h. so, daß ihre Anwendung
führt zu der Annahme, daß die Integration in den ‚objektiven‘ Genres höher ist als in den subjektiven. Dies
wird in Kapitel 5.5.6 behandelt.
96 WENGELER (2001, 238-255) nennt für jeden der Topoi aus der Düsseldorfer–Liste eine Pro- und ein
Kontra-Beispiel.
5 Argumentanalyse
73
Kritik hervorruft. Umgekehrt erfahren Argumente, die eine akzeptable Interpretation
eines Topos darstellen, tendenziell eher Lob.
Wenngleich es nun sicher auch andere Faktoren gibt, die Zustimmung oder
Ablehnung provozieren können – etwa Sympathie oder Antipathie gegenüber dem
Sprecher –, so kann die Stärke der Kritik, die ein Topos in einem bestimmten
Problemzusammenhang
erfährt,
als
Indikator für seine
Relevanz in
diesem
Problemkontext betrachtet werden. Erfährt ein Topos im Zuwanderungsdiskurs also
häufige Kritik, so kann er in diesem Diskurs als relativ machtlos eingestuft werden. Er
kann offensichtlich nicht dazu verwendet werden, andere unter Zugzwang zu setzen,
sondern umgekehrt: Wer ihn verwendet, bekommt selbst den Druck der öffentlichen
Meinung zu spüren.
Welche Reaktionen erfahren also die hier untersuchten Topoi? Insgesamt wurden
nur ein Drittel aller Argumente durch den Autor des Artikels oder durch einen anderen
Akteur bewertet. Relevant für die Auswertung auf Topos-Ebene ist jedoch, wie viele
Topoi wenigstens eine Wertung erhalten haben. Hier verdoppelt sich der Anteil zwar auf
insgesamt 63,5 Prozent, bei den einzelnen Zeitungen bleibt er aber z.T. auch auf ToposEbene deutlich unter diesem Wert. (Tabelle A 10) Eine Vermeidung der damit
verbundenen Problematik hätte eine deutlich höhere Fallzahl erfordert.
Wegen der geringen Fallzahlen sind auch die Bewertungen der Topoi kaum im
einzelnen interpretierbar. Auffallend und einigermaßen aussagekräftig, jedoch wenig
überraschend ist die positive Bewertung des Belastungs-97 und des Mißbrauchs-Topos98 in Bild
(.40 / .50) gegenüber einer deutlich negativen im Tagesspiegel (-1.0 / -1.0) und der
Süddeutschen (-1.43 / -.67). Weniger erwartbar in diesem Zusammenhang ist die
umgekehrte Bewertung des Humanitäts-Topos. Insgesamt wird sichtbar, daß die
durchschnittliche Bewertung in Bild positiver als bei den anderen beiden Zeitungen
ausfällt. Berücksichtigt man nur die tatsächlichen Wertungen, also nicht die ,NichtWertungen‘, fällt der Mittelwert der Wertungen von Bild deutlich positiv (.4) und von
Tagesspiegel (-.4) und SZ (-.8) deutlich negativ aus. Ob dies mehr das Resultat einer
insgesamt kontroverseren Berichterstattung (Tgsp./SZ) bzw. insgesamt auf Konsens
ausgerichteten Berichterstattung (Bild) ist, oder das Ergebnis einer eher kritischen bzw.
lobenden Haltung gegenüber dem Gesetzesentwurf von Schily, bleibt offen.
97
„Wenn eine Person / eine Institution / ein Land mit bestimmten Problemen stark belastet oder
überlastet ist - oder Wenn eine solche Belastung droht, dann sollten Handlungen ausgeführt werden, die
diese Belastung vermindern bzw. verhindern.“
5 Argumentanalyse
74
5.5.5 Konformität: Die übereinstimmende Bewertung von Topoi
Wiederum in Anschluß an die oben (S. 52f) vorgeschlagene Unterscheidung von
Integration und Konformität kann anhand der Bewertung der einzelnen Topoi ein
Kennwert für die Konformität zweier Medien bestimmt werden. Auch bei der
Konformität lassen sich zunächst mehrere Indikatoren für die Beliebtheit eines Topos in
einer bestimmten Öffentlichkeit konstruieren. Deren Korrelationskoeffizienten zwischen
den einzelnen Medien werden aus den gleichen Gründen wie oben beim Integrationsmaß
gemittelt, um den Kennwert für Konformität zu erhalten. Die einzelnen Indikatoren sind:
1. Toposbewertung1 = Durchschnittliche Wertung
Die maximal vier Bewertungen eines Arguments werden gemittelt. Auf Topos-Ebene
erhält jeder Topos wiederum den Mittelwert dieser Bewertung. Diese Werte sind im
einzelnen in Tabelle A 9 enthalten.
2. Toposbewertung2 = Durchschnittliche Wertung x Toposhäufigkeit
Aus den gleichen Gründen wie bei der Toposrelevanz2 wird die durchschnittliche
Wertung auch hier mit der Häufigkeit des Topos gewichtet.
3. Toposbewertung3 = Durchschnittliche gewichtete Wertung
Hier wird zunächst auf Argument-Ebene die Bewertung jedes Arguments durch seine
Bedeutung innerhalb des Artikels gewichtet. Bei den zentralen Argumenten des
Artikels wird die Bewertung verdoppelt, bei randständigen Argumenten halbiert. Bei
mittelwichtigen Argumenten bleibt die Wertung unverändert. Erst aus dieser
gewichteten Wertung wird dann auf Topos-Ebene der Mittelwert gebildet. Diesem
Konstrukt liegt die Annahme zugrunde, daß die Bewertung hervorgehobener
Argumente den Charakter einer Öffentlichkeitsarena stärker prägen als die Bewertung
von Argumenten, die selbst von untergeordneter Bedeutung sind.
4. Toposbewertung4 = Durchschnittliche gewichtete Wertung x Toposhäufigkeit
Analog zur Toposbewertung2 wird hier nun die durchschnittliche (auf ArgumentEbene) gewichtete Wertung nochmals mit der Toposhäufigkeit gewichtet.
Die Korrelationen dieser vier Bewertungsindikatoren zwischen den einzelnen Zeitungen
sind als Konformitätsindikatoren in Tabelle A 11 aufgeführt. Außerdem enthält diese
Tabelle auch die oben bereits vorgestellten Korrelationen zur Integration. Aus
Platzgründen wird auf eine Wiedergabe der einzelnen Korrelationsmatrizen für die
98
„Wenn ein Recht / ein Hilfsangebot o. ä. mißbraucht wird, dann sollte das Recht geändert / die Hilfe
gestrichen oder gekürzt werden bzw. es sollten bestimmte Maßnahmen gegen den Mißbrauch durchgeführt
werden.“
5 Argumentanalyse
75
Konformität verzichtet. Das Konformitätsmaß wird analog zum Integrationsmaß durch
Mittelwertbildung aus den einzelnen Korrelationskoeffizienten gewonnen:
KonformitätsmaßMediumA / MediumB =
1 4
∑ Kor (Toposbewertung i )
4 i =1
In Tabelle 3 sind die einzelnen Kennwerte aus Tabelle A 11 zu Mittelwerten
zusammengefaßt. Die Zahl der Sternchen (*) gibt an, wie viele signifikanten
Korrelationen (p < .05) in den Kennwert eingegangen sind. Die Zeilen ‚objektive Genres‘
und ‚subjektive Genres‘ in der Tabelle werden Gegenstand des nächsten Kapitels sein.
TGSP/SZ
Integration
Gesamt
.542***
Konformität
.458***
SZ/BILD
Integration
Konformität
.310**
-.610**
TGSP/BILD
Integration
.678***
Konformität
-.767***
Tabelle 3: Gemittelte Korrelationen als Integrations- und Konformitätsmaße
Auf die positiven Integrationswerte wurde bereits in Kapitel 5.5.2 eingegangen. Das hohe
Integrationsmaß von Tagesspiegel und Bild wird nun deutlich durch die stark negativen
Konformitätswerte relativiert. Sowohl die Tagesspiegel-Arena als auch die Arena der
Süddeutschen lassen sich bei der Bewertung der Topoi deutlich von der Bildzeitungs-Arena
abgrenzen. Während vor allem im Tagespiegel die gleichen Topoi verwendet werden
können wie in Bild, wird die Verwendung derselben Topoi in diesen beiden Zeitungen mit
gegensätzlichen Bewertungen versehen. Argumente, die in Bild Lob ernten, werden im
Tagesspiegel getadelt und umgekehrt. Dasselbe gilt für das Verhältnis von Süddeutscher und
Bild, wobei hier allerdings schon die Integration relativ gering war. Sowohl gut integriert
als auch relativ konform sind lediglich die Öffentlichkeiten von Tagesspiegel und SZ.
5.5.6 Unterschiede zwischen subjektiven und objektiven Genres
Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man subjektive und objektive Genres getrennt
auswertet. Den subjektiven Genres zugerechnet wurden jene Artikeltypen (vgl. Variable
V11 im Codebuch in Anhang A), die nicht nur theoretisch Argumente des Autors
enthalten können, sondern die auch tatsächlich welche enthielten. Dies waren die
Kategorien
-
‚Subjektiv eingefärbte Form: Reportage, Feature, Analyse, Hintergrundbericht,
-
Kommentarform: Leitartikel, Kommentar, Kolumne, Glosse, Pressestimmen sowie
5 Argumentanalyse
-
76
Leserbriefe.
Da in den vorliegenden Daten kein einziges Argument eines Interviewers codiert wurde,
wurde die Kategorie ‚Interview‘ den objektiven Genres zugeordnet.99
Die Berechnung des Integrations- und des Konformitätsmaßes getrennt nach
Genres ergab die Korrelationen, die ausführlich in Tabelle A 11 dokumentiert sind. Tabelle
4 zeigt die entsprechenden Mittelwerte der Korrelationen, die als Maße der Integration
und der Konformität dienen.
TGSP/SZ
Integration
Konformität
SZ/BILD
TGSP/BILD
Integration
Konformität
Integration
Konformität
Gesamt
.542***
.458***
.310**
-.610**
.678***
-.767***
objektive
Genres
.382**
-.094
.447*
-.533*
.483**
-.108
subjektive
Genres
.231
.422*
.131
(-.027)
.508**
-.691**
100
Tabelle 4: Vergleich von Integration und Konformität nach Genres
Vergleicht man nun die Werte der beiden Genres, so ist der Befund nicht ganz so
eindeutig wie zunächst (Kap. 5.3) vermutet wurde: Zwar sind die Tagesspiegel/SZÖffentlichkeit sowie die SZ/Bild-Öffentlichkeit im objektiven Bereich stärker integriert,
als im subjektiven, aber die Unterschiede sind keineswegs so groß, wie man aufgrund des
relativ eng eingegrenzten thematischen und zeitlichen Rahmens sowie vor dem
Hintergrund relativ einheitlicher Informationsverarbeitung im professionalisierten
Journalismus vielleicht erwartet hätte. Zudem gibt es eine ‚Ausreißer-Kombo‘
Tagesspiegel/Bild, bei der die Integration – umgekehrt – in den subjektiven Genres etwas
höher ist als in den objektiven. Allerdings handelt es sich hier um einen sehr geringen
Unterschied, so daß die Hypothese, daß die Gemeinsamkeiten in den objektiven Genres
höher sind, zumindest in der Tendenz als bestätigt gelten kann. (Vgl. hierzu auch FN 102)
In Tabelle 4 sind die beschriebenen Unterschiede durch Fettdruck visualisiert. Der im
Genre-Vergleich jeweils höhere Wert ist hervorgehoben. Insgesamt kann festgehalten
werden, daß alle Integrationswerte positiv sind, was die Werte insgesamt plausibel macht.
99
Interviews können im Grenzbereich zwischen subjektiven und objektiven Genres verortet werden, da sie
einerseits dem Journalisten ermöglichen, auf die Aussagen des Interviewten Einfluß zu nehmen sowie ggf.
selbst Argumente vorzubringen, andererseits werden die Antworten in der Regel 1-zu-1-abgedruckt bzw.
nur unter Rücksprache mit dem Interviewten verändert, so daß sich das Arrangement der Argumente dem
journalistischen Zugriff sogar mehr verweigert als bei der klassischen Nachrichtengebung.
5 Argumentanalyse
77
Überraschend ist jedoch der Befund bei der Konformität: Hier widersprechen die
beobachteten Unterschiede der Vermutung höherer Konformität im objektiven Bereich
recht deutlich: Sowohl in Tagesspiegel und SZ als auch tendenziell in Bild und SZ ist man
sich bei der Bewertung der Topoi in den subjektiven Genres einiger, genau umgekehrt als
erwartet. Lediglich Tagesspiegel und Bild entfernen sich im subjektiven Bereich noch weiter
voneinander als sie es ohnehin schon sind. Diese Relationen sind in Tabelle 4 durch
Unterstreichungen visualisiert. Der im Genre-Vergleich höhere Wert ist jeweils
hervorgehoben. Vorausgesetzt die höhere Konformität in den objektiven Genres bei Bild
und Tagesspiegel ist tatsächlich die Ausnahme und nicht doch die Regel101, dann erscheint
dieses Ergebnis auf den zweiten Blick nicht völlig unplausibel: Immerhin ist es eine
wichtige Aufgabe von Öffentlichkeit, „daß es Mechanismen der Synthetisierung gibt, die
die Informationsmengen verdichten, Zusammenhänge herstellen, Einzelheiten zu
unfassenden
Sinnzusammenhängen
‚schließen‘,
so
daß
Ordnung
entsteht.“
(GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 13)
Der ursprünglichen Hypothese lag nun die Annahme zugrunde, diese Synthese
würde tendenziell jedes Medium eher für sich und in Abgrenzung zu den anderen
vollziehen. Zumindest beim Thema Zuwanderung in der untersuchten Woche war dies
jedoch nicht der Fall. Die Möglichkeiten in den subjektiven Genres wurden nicht für eine
Abgrenzung und Ausdifferenzierung des Meinungsspektrums genutzt, sondern für die
Konstruktion einer einheitlicheren, d.h. weniger kontroversen Perspektive auf das Thema
Zuwanderung als in den objektiven Genres. Genauer: Während im Bereich ‚objektiver‘
Berichterstattung
eine
zeitungsübergreifende
Fokussierung
der
für
die
Zuwanderungsdiskussion relevanten Topoi zu verzeichnen ist, zeigt der eher subjektive
Bereich der Medienöffentlichkeiten eine stärkere Konsonanz der Bewertungen der
verwendeten Topoi. Diese relative Beziehung und ihre heuristische Deutung darf jedoch
nicht verwechselt werden mit einem insgesamt hohen Konformitätsgrad, denn sowohl SZ
und Bild als auch Tagesspiegel und Bild haben z.T. stark negative Konformitätswerte, d.h.
die Toposbewertungen unterscheiden sich deutlich. Lediglich Tagesspiegel und SZ sind hier
stark konform. Dies läßt sich auch so lesen, daß Bild – bezogen auf die untersuchten drei
Zeitungen – eine Art ‚non-konformer Insider‘ darstellt.102
100
Wegen geringer Fallzahlen nur bedingt interpretierbar.
Der Konformitätswert von Bild und SZ im subjektiven Bereich ist wegen der schlechten Datengrundlage
recht unzuverlässig (siehe auch Tabelle A 11), so daß hier bei einer Überprüfung evtl. doch
entgegengesetzte Unterschiede verzeichnet werden könnten. Vgl. aber auch FN 102.
102 Dies bestätigt sich, wenn man Integration und Konformität nach Zeitungsarten berechnet. Betrachtet
man Tagesspiegel und Süddeutsche als die Öffentlichkeit der Abonnement-Zeitungen und Bild als BoulevardÖffentlichkeit, so läßt sich auch zwischen diesen Öffentlichkeiten deutliche Non-Konformität bei
101
5 Argumentanalyse
Schließlich
78
kann
noch
das
Verhältnis
der
Integrationswerte
zu
den
Konformitätswerten betrachtet werden. Es handelt sich zwar inhaltlich prinzipiell um
unterschiedliche Größen, doch sind beides (gemittelte) Korrelationen, d.h. Maße der
Übereinstimmung, so daß ein Vergleich durchaus möglich ist.
Zu erwarten wäre hier, daß die Integrationswerte jeweils mindestens so hoch sind,
wie die Konformitätswerte, da die Annahme plausibel ist, daß zumindest die ähnlich
bewerteten Topoi (hohe Konformität) auch ähnlich fokussiert werden (hohe Integration)
und umgekehrt. Sollte die Konformität höher sein, als die Integration, so würde dies
darauf hindeuten, daß neben den gemeinsam verwendeten Topoi zusätzlich noch eine
reihe anderer Topoi auf stark unterschiedliche Weise verwendet wurden.
Tatsächlich ist dies nur in den subjektiven Genres von Tagesspiegel und SZ der Fall.
In allen anderen Fällen entspricht das Verhältnis völlig eindeutig der erwarteten
Beziehung: Die Integration ist sogar meist nicht nur höher als die Konformität, sondern
auch stets positiv, während die Konformität in den meisten Fällen negativ ist, d.h. es
besteht eine gewissen Uneinigkeit in der Bewertung der Topoi, zumindest zwischen den
Abo-Zeitungen und der Boulevardzeitung.
Während sich die Interpretation von Tabelle 4 bei lediglich drei analysierten
Medien noch relativ übersichtlich gestaltet, wäre bei einer größeren Zahl unterschiedlicher
Medien eine weitere Vereinfachung bzw. Visualisierung der Ergebnisse mittels
statistischer Verfahren sinnvoll. Hierfür würde sich eine Clusteranalyse sowie das
Verfahren der multidimensionalen Skalierung (MDS) eignen. Mit der Clusteranalyse
könnten jene Medien zusammengefaßt werden, die in Abgrenzung zu anderen TeilÖffentlichkeiten eine gemeinsame Teil-Öffentlichkeit bilden. Mit der MDS als
heuristischem Verfahren, könnten Integrations- und Konformitäts-‚Landkarten‘ des
analysierten Mediensystems gebildet werden, auf der jene Medien, die stark integriert bzw.
stark konform sind, nahe beisammen und die gering integrierten bzw. non-konformen
Medien weit voneinander entfernt sind. Mit einer Clusteranalyse könnten außerdem
diejenigen Topoi identifiziert werden, die medienübergreifend ähnlich behandelt werden,
so daß genauer bestimmt werden könnte, auf welchen Topoi Integration und Konsonanz
eigentlich inhaltlich beruhen. Bei einer kleineren Anzahl von Medien wie in dieser
Fallstudie eignet sich auch das von Klaus MERTEN (2001) vorgestellte Verfahren der
Konsensanalyse als sinnvolle Ergänzung der oben durchgeführten Integrations- und
gleichzeitiger Integration feststellen. (Tabelle A 12) Im Übrigen wird hier auch der Befund aus dem GenreVergleichs deutlich bestätigt: Die Integration ist auch hier in den objektiven Genres höher, während die
Konformität in den subjektiven Genres größer ist (bzw. die Non-Konformität geringer).
5 Argumentanalyse
79
Konformitätsanalysen. Sie wird deshalb abschließend kurz dargestellt und auf die
vorliegenden Daten angewendet.
5.5.7 Konsensanalyse nach Merten
Prinzipiell werden bei der ‚Konsensanalyse‘ auf der Grundlage inhaltsanalytischer Daten
Schnittmengen gebildet, und es wird untersucht, welche Elemente in welchen
Schnittmengen vorkommen und welche Elemente außerhalb jeder Schnittmenge liegen.
(Abbildung 7) Betrachtet man beispielsweise die Berichterstattung zweier oder mehrerer
Medien über einen bestimmten Zeitraum, so gibt es bestimmte Elemente, die in allen
untersuchten Medien vorkommen, (Schnittmenge ABC) andere tauchen vielleicht nur in
zwei Medien auf (AB, AC, BC) und andere nur in einem Medium (A, B, C). Diese
Elemente können „Orte, Themen, Personen, Bewertungen der Themen oder Personen
oder anderes sein.“ (MERTEN 2001, 236)
AB
A
B
ABC
BC
AC
C
Abbildung 7: Konsensanalyse als Analyse von Schnittmengen
MERTEN (2001, 237) schlägt nun als mögliche Anwendungen dieses Verfahrens die
„Relevanzanalyse“, „Provinzialitätsanalyse“ und die „vergleichende Affinitätsanalyse“
sowie die „Konsensanalyse als Instrument des Issue-Managements“ vor. Die
Konsensanalyse läßt sich jedoch in abgewandelter Form auch auf die vorliegende
Fragestellung anwenden. Während bei den genannten Analyseverfahren von Merten
Themen bzw. Ereignisse als Schnittmengen-Elemente im Vordergrund stehen, wären hier
die Schnittmengen der verwendeten Topoi bzw. deren Bewertungen interessant.
An der Zahl der Zeitungen, in denen ein bestimmter Topos vorkommt, ließe sich
dessen medienübergreifende Relevanz abschätzen. Dadurch könnte der bereits
beschriebene grundsätzliche Konsens über die Anwendung der Topoi (hohe Integration)
inhaltlich genauer beschrieben werden. Tabelle 5 zeigt die Schnittmengen der drei
untersuchten Zeitungen und die jeweils in diesen Schnittmengen enthaltenen Topoi sowie
die Häufigkeit ihrer Verwendung. Die höchste Relevanzstufe erreichen jene Topoi, die in
5 Argumentanalyse
80
allen drei Medien wenigstens einmal vorkamen. Diese Topoi103 geben Aufschluß darüber,
unter welchen Gesichtspunkten das neue Zuwanderungsrecht vor allem diskutiert wurde:
Wenig überraschend sind dies der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen und der HumanitätsTopos, die gewissermaßen für Wirtschaftsmigration einerseits und Flüchtlingsmigration
andererseits stehen. Klassische Topoi in Zuwanderungsfragen sind hier auch der
Belastungs-Topos und der Mißbrauchs-Topos. Da in der untersuchten Woche ein konkreter
Gesetzentwurf diskutiert wurde, gab es in allen Zeitungen auch Verweise auf das bereits
geltende Recht, etwa in der Form, daß Änderungen nicht nötig seien, wenn man das
geltende Recht konsequent anwende. Der Verständnis-Topos wurde vor allem als
‚Assimilations-Topos‘ verwendet: Es sei nötig, daß sich MigrantInnen an die
Lebensverhältnisse in Deutschland anpaßten. Der Effizienz-Topos wurde zwar relativ selten
verwendet, seine medienübergeifende Relevanz kann aber als Bedürfnis interpretiert
werden, neue Gesetze – vermutlich nicht nur jene zur Zuwanderung – möglichst
effizient, d.h. wirksam zu gestalten. Der Nutzlosigkeits-Topos findet seine Anwendung
typischerweise bei der Ablehnung von Forderungen des politischen Gegners (WENGELER
2001, 226 und 261) und dürfte deshalb in allen drei Zeitungen vorgekommen sein. Der
Demographie-Topos schließlich stellt eine zentrale Kategorie der lange währenden
Zuwanderungsdiskussion dar: Die deutschen Renten und Sozialsysteme könnten wegen
der geringen Kinderzahlen der einheimischen Bevölkerung nur durch Zuwanderung
erhalten werden. Daß dieser Topos zwar medienübergeifende Relevanz besitzt, jedoch
insgesamt nur sehr selten vorkam, dürfte daran liegen, daß die Demographie neben dem
Mangel an IT-Fachkräften vor allem in der Frühphase104 der Debatte ins Feld geführt
wurde, um die grundsätzliche Notwendigkeit von Zuwanderung zu demonstrieren.
Migrationsfeindliche Akteure reagierten mit dem sprichwörtlich gewordenen Slogan
„Kinder-statt-Inder“, den der damalige CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers im NRWLandtagswahlkampf 2000 in Umlauf brachte.
Neben der gemeinsamen Verwendung dieser Topoi beruht die in Kapitel 5.5.2
festgestellte hohe Integration der Zeitungen weiterhin noch auf einer Reihe von Topoi,
die nur in Tagesspiegel und SZ verwendet wurden. (vgl. Tabelle 5) Die anderen
Schnittmengen sind kaum besetzt, insbesondere gibt es wenige Topoi, die nur in einer
103
Für die genaue Definition der Topoi siehe Anhang B.
Während die Parteien schon seit 1996 gelegentlich Vorschläge zu einer neuen
Zuwanderungsgesetzgebung machten, kann der Beginn der breiteren öffentlichen Debatte mit der Rede
von Bundeskanzler Schröder auf der CEBIT im Februar 2000 gesetzt werden, in der er ankündigte, dem
Mangel an IT-Spezialisten durch Einführung einer ‚Green Card‘ nach amerikanischem Vorbild zu
begegnen.
104
5 Argumentanalyse
81
einzigen Zeitung Verwendung fanden, was als Bestätigung des hohen Integrationsgrades
interpretiert werden kann.
Schnittmenge
Relevanz
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Bild
3
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel
2
Tagesspiegel, Bild
Süddeutsche Zeitung, Bild
Süddeutsche Zeitung
2
2
1
Tagesspiegel
1
Bild
1
Enthaltene Topoi (Häufigkeit)
wirtschaftlicher Nutzen (43)
Humanität (30)
Belastung (23)
Recht (17)
Verständnis (15)
Mißbrauch (11)
Effizienz (8)
Nutzlosigkeit (7)
Demographie (5)
menschlicher Nutzen (26)
politischer Nutzen (18)
Finanz (11)
Realität (10)
Machbarkeit (9)
Bürokratie (6)
Gesetz (6)
Fortschritt (5)
Widerspruchsfreiheit (4)
Europa (3)
Definition (2)
Demokratie (2)
Extremisten (2)
Kultur (2)
Veränderung (7)
Hierarchie (4)
Verantwortlichkeit (4)
Fremdenfeindlichkeit (3)
Vorurteil (3)
Gerechtigkeit (1)
Dezentralität (2)
Innere Stabilität (1)
---
Tabelle 5: Medienübergreifende Relevanz der einzelnen Topoi
Die Anwendung der Konsensanalyse auf die Bewertung der Topoi ist weniger einfach
und eindeutig. Da ein Topos in zwei Zeitungen kaum je völlig identisch bewertet wird,
muß zunächst geklärt werden, welche Wertungen (vgl. Tabelle A 9) als gleich betrachtet
werden. Für unsere Zwecke ist hier eine einfache Unterscheidung von eher positiven und
eher negativen Bewertungen ausreichend. In Analogie zu dem Korrelationskoeffizienten
r, der in Kapitel 5.5.5 zur Berechnung der Konformitätswerte herangezogen wurde, ist es
5 Argumentanalyse
82
sinnvoll, hier jedoch nicht die absolute Bewertungstendenz zu nehmen, sondern die
Tendenz relativ zum jeweiligen Mittelwert einer Zeitung. Als eher positive Bewertung
zählen dann alle Bewertungen eines Topos, die positiver sind als der Mittelwert aller
Bewertungen dieser Zeitung.105 Als eher negative Bewertungen zählen entsprechend jene,
die unter dem jeweiligen Mittelwert liegen.
Schnittmenge
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Bild
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel
Tagesspiegel, Bild
Süddeutsche Zeitung, Bild
Enthaltene Topoi
(Bewertungstendenz)
--Belastung (-)
wirtschaftlicher Nutzen (+)
Recht (+)
Mißbrauch (-)
Nutzlosigkeit (+)
Demographie (+)
Humanität (+)
Verständnis (-)
Effizienz (-)
Tabelle 6: Medienübergreifend gleich Bewertung der gemeinsam
verwendetenTopoi
Eine Schnittmenge im o.g. Sinn bilden nun also jene Topoi, die in mindestens zwei
Zeitungen gleich bewertet wurden, also entweder eher positiv oder eher negativ. Tabelle 6
zeigt, welche Topoi in welchen Zeitungen gleich bewertet wurden. Dabei wurden nur
diejenigen Topoi berücksichtigt, die wirklich in allen drei Zeitungen vorkamen. Auch hier
werden die Ergebnisse der vorangegangenen Konformitätsanalyse (Kapitel 5.5.5)
bestätigt: Kein einziger Topos wird in allen drei Zeitungen gleich bewertet106 (keine
medienübergeifende Konformität), nur ganz wenige gemeinsame Bewertungen gibt es
zwischen
den
Abo-Zeitungen
und
der
Boulevardzeitung
und
den
größten
Bewertungskonsens gibt es zwischen Süddeutscher Zeitung und Tagesspiegel. Dies betrifft vor
allem die deutlich negative Bewertung des Belastungs-Topos und des Mißbrauchs-Topos.
Weniger eindeutig ist die gemeinsame Tendenz beim Topos vom wirtschaftlichen Nutzen und
beim Rechts-Topos. Auch der Demographie-Topos wurde von der SZ gar nicht, vom
Tagesspiegel einmal deutlich positiv und von der Bild-Zeitung einmal deutlich negativ
105
Wobei keine Bewertung als neutrale Bewertung gezählt wurde.
Am ähnlichsten ist die Umgangsweise mit dem Nutzlosigkeits-Topos: Dieser Topos wird in keiner der
Zeitungen bewertet, da dieser Topos selten verwendet wird, um primäre Forderungen zu begründen,
sondern in erster Linie für die Ablehnung von anderen Forderungen. Wegen der generell geringen
Argumentationstiefe in den Zeitungen kommt es daher auch selten zu Bewertungen des Nutzlosigkeits-Topos.
106
5 Argumentanalyse
83
bewertet. (Vgl. auch Tabelle A 9) Im Rahmen dieser Fallstudie ist die Konsensanalyse auf
der Ebene der Bewertungen also insgesamt wegen der teilweise geringen Fallzahlen
lediglich in seiner grundsätzlichen Tendenz interpretierbar. So läßt sich abschließend vor
allem ein Kern von Topoi benennen, die ganz besonders107 zur Integration der DreiZeitungs-Öffentlichkeit beitragen und die auch noch vergleichsweise konsonant bewertet
werden, wobei sich diese Konsonanz jeweils auf zwei der drei Zeitungen beschränkt: Der
Topos vom wirtschaftlichen Nutzen, der Humanitäts-Topos und der Belastungs-Topos.
5.6 Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Ergebnisse der Argumentanalyse sind trotz der methodischen Schwierigkeiten, die
mit der Codierung impliziter Begründungen verbunden sind, und trotz der relativ
geringen Fallzahl überraschend konsistent und plausibel interpretierbar. Die Daten
stützen die Vermutung, daß in den objektiven mehr als in den subjektiven Genres der
Medien die Integration einer Gesamtöffentlichkeit stattfindet, d.h. hier wird die „sphere
of legitimate controversy“ (HALLIN 1994, 54) abgesteckt – es wird festgelegt, auf
Grundlage welcher Topoi eine öffentliche Diskussion geführt wird.108 Dies entspricht der
Selektionsfunktion des Öffentlichkeitssystems bei GERHARDS/NEIDHARDT (1990, 13).
Auf dieser Ebene kann von einer Zersplitterung der Öffentlichkeit nicht die Rede sein.
Dies bestätigt auch die abschließend durchgeführte Konsensanalyse, die zudem die
‚legitime Diskussionsgrundlage‘ inhaltlich benennt: Es sind vor allem die Topoi vom
wirtschaftlichen
Nutzen und der Humanitäts-Topos,
und der Belastungs-Topos mit denen
argumentiert wird, aber auch Mißbrauchs- sowie der Rechts-Topos und der VerständigungsTopos spielen eine Rolle.
Betrachtet man dagegen die Bewertung der einzelnen Topoi, so bleibt von der
Einigkeit wenig übrig. Je nach dem in welcher Teil-Öffentlichkeit ein Topos eingesetzt
wird, erzeugt er unterschiedliche Resonanz, hierbei kann v.a. die Öffentlichkeit der AboZeitungen von der Boulevard-Öffentlichkeit unterschieden werden. Interessanterweise ist
die Resonanz jedoch in den subjektiven Genres medienübergreifend tendenziell
Da die Bewertungsmittelwerte jedoch bei Bild positiv und bei Tagesspiegel und SZ negativ sind, ist nach dem
vorgeschlagegen Verfahren selbst in diesem Fall keine relativ gleiche Bewertung zu sehen.
107 Als besonders wichtige Topoi wurden aus den Topoi, die in allen drei Zeitungen mindestens zweimal
vorkamen, die drei häufigsten ausgewählt.
108 In der untersuchten Woche waren dies v.a. der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen und der Humanitäts-Topos.
Eine gewisse medienübergreifende Bedeutung haben auch der Verständnis-Topos und der Rechts-Topos.
Uneinigkeit bestand vor allem über die Verwendung des Belastungs- und des Mißbrauchs-Topos, den Topos vom
politischen und vom menschlichen Nutzen sowie den Veränderungs-Topos. Der Verständnis-Topos wurde dabei vor
allem in der Version gebraucht, daß die MigrantInnen sich den deutschen Verhältnissen anpassen und
insofern Verständnis üben sollen. Vgl. hierzu auch Anhang B.
5 Argumentanalyse
84
einheitlicher als in den objektiven. Dies entspricht nicht den Erwartungen, denn
immerhin werden in den objektiven Genres v.a. die Argumente medienexterner Akteure
wiedergegeben, so daß man zunächst mehr Gemeinsamkeiten in diesem Bereich erwarten
würde als in den subjektiven Genres, wo es größere Möglichkeiten für unterschiedliche
Realitätskonstruktion gibt. Der Befund läßt sich aber so interpretieren, daß die
Synthetisierungsfunktion
der
Öffentlichkeit
bzw.
des
Mediensystems
(GERHARDS/NEIDHARDT 1990, 13f) eher in den subjektiven Genres stattfindet als in den
objektiven.
Wie bereits erwähnt, war die Synthetisierungsleistung der drei untersuchten
Zeitungen in der Berichterstattung zum Zuwanderungsgesetz in der untersuchten Woche
jedoch insgesamt relativ gering.109 Dies verwundert nicht, handelt es sich doch
gewissermaßen erst um den ‚Beginn‘ einer über mehrere Monate anhaltenden politischen
Auseinandersetzung. Um so bedeutender erscheint vor diesem Hintergrund der Befund,
daß die Süddeutsche Zeitung und der Tagesspiegel bereits eine relativ einhellig bewertende
Arena konstituieren, gegenüber der die Bildzeitung letztlich als ‚non-konformistisches‘
Medium unter den drei Zeitungen erscheint. Dies verweist noch einmal darauf, daß die
vorgeschlagenen Kennwerte für Integration bzw. Non-Konformismus natürlich immer
nur relativ zu den tatsächlich untersuchten Medien interpretieren lassen. Bild kann also als
Boulevardzeitung
gegenüber
einer
überregionalen
und
einer
regionalen
Abonnementszeitung zwar durchaus als non-konformistisch bezeichnet werden, dies aber
über ihre Position im gesamten massenmedialen Spektrum kaum etwas aussagt.
Die Untersuchung von SZ, Tagesspiegel und Bild hat ergeben, daß es unter den
dreien im Zuwanderungsdiskurs keinen Außenseiter gibt, wohl aber einen NonKonformisten. Die Frage, ob die drei eher eine gemeinsame oder mehrere
Teilöffentlichkeiten konstituieren, muß insgesamt also differenziert beantwortet werden:
Grundsätzlich bilden die drei Zeitungen eine gemeinsame, integrierte Öffentlichkeit. Die
Gemeinsamkeit bezieht sich jedoch nur auf die für die Diskussion relevanten Topoi. Die
Konformität
der
gemeinsamen
Öffentlichkeit
ist
jedoch
–
zumindest
zum
Untersuchungszeitpunkt – noch gering. Es existiert noch keine eindeutige öffentliche
Meinung zum neuen Zuwanderungsgesetz.
109
Kontrovers bewertet wurden vor allem der Belastungs-Topos, der Mißbrauchs-Topos, sowie der VerständnisTopos, aber auch der Humanitäts-Topos, der Demographie-Topos, und der Machbarkeits-Topos.
6 Fazit
85
6 Fazit
In dieser Arbeit wurde die politikwissenschaftliche Macht-Konzeption Gerhard Göhlers
mit einem linguistisch orientierten Ansatz der Argumentationstheorie v.a. von Manfred
Kienpointner in Verbindung gebracht, um zunächst theoretisch zu klären, wie durch
öffentliche Argumentation Macht ausgeübt werden kann. Zur Spezifizierung von
Öffentlichkeit diente das Arena-Modell von Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt.
Es wurde gezeigt, welche Bedeutung ein öffentlicher Grundkonsens für die Macht
öffentlicher
Argumentation
hat:
Nur
wenn
Argumente
auf
bestehende
Selbstverständlichkeiten (Topoi) aufbauen können, sind sie als Mittel der Machtausübung
tauglich.
Oder
anders
formuliert:
Nur
insofern
es
solche
öffentlichen
Selbstverständlichkeiten gibt, werden Argumente bzw. die öffentliche Diskussion
überhaupt als Mittel des politischen Machtkampfes interessant. Dieser theoretische
Befund wurde als Abgrenzungskriterium für (Teil-)Öffentlichkeiten herangezogen: In der
politischen Kommunikation unterscheidet sich eine Öffentlichkeit dann von einer
anderen, wenn sie unterschiedliche Machtressourcen zur Verfügung stellen, d.h. wenn sie
von unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten ausgehen.
Eine oder mehrere Öffentlichkeiten? Integration und Konsonanz
Die anschließende Fallstudie ging der Frage nach, ob die drei untersuchten Zeitungen,
Tagesspiegel, Bild und Süddeutsche Zeitung eine gemeinsame Öffentlichkeit konstruieren oder
ob sie eher in einzelne Teil-Öffentlichkeiten zerfallen. Diese Frage läßt sich auf zwei
Ebenen beantworten, je nach dem ob man die Selektionsleistung oder die
Synthetisierungsleistung von Öffentlichkeit betrachtet.
Bei der Selektionsfunktion von Öffentlichkeit geht es darum, welche Argumente
überhaupt als diskussionswürdig qualifiziert werden, d.h. welche Argumente bevorzugten
Zugang zur Arena erhalten. Argumentationstheoretisch sind das diejenigen Argumente,
die sich auf Gründe stützen, die in dieser Arena als diskussionswürdig angesehen werden.
Der Topos eines Arguments kann also als Aus- bzw. Einschlußkriterium für die
Diskussion in einer öffentlichen Arena benannt werden. Wie stark eine aus mehreren
Arenen zusammengesetzte Öffentlichkeit integriert ist, läßt sich daher an dem Grad der
übereinstimmenden Relevanzzuweisung zu den Topoi in den einzelnen Arenen ablesen
(„Integration“).
Wenn man Teil-Öffentlichkeiten dagegen anhand ihrer Synthetisierungsfunktion
voneinander abgrenzt, so ist nicht mehr die der bloße Verwendung von Argumenten
relevant, sondern deren Bewertung. Aus der Vielfalt der verschiedenen Argumente stoßen
6 Fazit
86
einige auf Wohlwollen und Lob, andere werden kritisiert oder zumindest ignoriert. Der
Topos dieser Argumente erweist sich dann in Bezug auf die behandelte Frage als
besonders mächtig oder besonders ohnmächtig, je nach dem wie die Resonanz in einer
bestimmten
Medien-Arena
ausfällt.
Von
einer
medienübergreifenden
Gesamt-
Öffentlichkeit kann man dann sprechen, wenn diese Resonanz in allen TeilÖffentlichkeiten ähnlich ist („Konsonanz“).
Einerseits stellt sich also die Frage, ob überall die gleichen Zugangskriterien zur
öffentlichen Arena gelten oder ob es viele Nischen gibt, in denen unkonventionelle
Argumente entfaltet werden können. Die zweite Frage ist dann, ob die Argumente, die es
in die Öffentlichkeit geschafft haben, dort überall gleich aufgenommen werden oder
nicht. Machttheoretisch sind beide Fragen relevant: Im ersten Schritt werden
gewissermaßen die ‚Waffen‘ der diskursiven Auseinandersetzung zu einem bestimmten
Thema gewählt, im zweiten werden sie angewendet. Bleibt man in diesem Bild des
Kampfes, kann man anhand der empirischen Befunde dieser Arbeit sagen, daß in den
untersuchten Öffentlichkeiten ein relativ großer Konsens besteht, mit welchen Waffen
gekämpft werden darf. Wenn ein Akteur seine ‚Waffe‘ jedoch einmal gewählt, d.h. sein
Argument formuliert und damit Zugang zur Öffentlichkeit erhalten hat, so stößt er nun
doch auf ganz unterschiedlichen Widerstand bzw. Unterstützung, je nach dem in welcher
Arena er gerade ‚kämpft‘ bzw. argumentiert.
Zwei Funktionen öffentlicher Argumentation
Die beiden thematisierten Fragen verweisen nun auf zwei unterschiedliche Funktionen
von öffentlicher Argumentation im Verhältnis zur Macht: Zum einen dienen Argumente
dazu, den Willen eines Akteurs gegen den anderer Akteure durchzusetzen, also Macht
auszuüben. Die Argumente, die positiv aufgenommen werden, setzen sich gegen die
anderen durch. Indem sich die verwendeten Argumente aber bestimmter Topoi bedienen,
wirken sie zum anderen immer auch auf diese normative Grundlage zurück. Die
Anwendung bestimmter Topoi auf ein bestimmtes Problem bestärkt die grundsätzliche
Akzeptanz dieses Topos in Bezug auf dieses Problem. Wenn also in der
Zuwanderungsfrage immer wieder öffentlich z.B. mit wirtschaftlichen Kriterien
argumentiert wird, so führt dies zu einer zunehmenden Etablierung dieses Topos in der
Diskussion.
Die erste Funktion öffentlicher Argumentation – die kurzfristige Ausübung
transitiver Macht – kann als die konservative Funktion öffentlicher Argumentation
bezeichnet werden: Sie bedient sich optimalerweise nur der bestehenden, weithin
akzeptierten Topoi und wendet sie auf eine Weise an, daß sie möglichst positive
6 Fazit
87
Resonanz erzeugt. Neben der erfolgreichen Machtausübung wird eine nochmalige
Bestätigung vorhandener Normen bzw. der öffentlichen Meinung bewirkt. Die zweite
Funktion öffentlicher Argumentation – die Etablierung neuer Topoi, also die
Veränderung der intransitiven Machtressourcen – kann demgegenüber als die progressive
Funktion öffentlicher Argumentation bezeichnet werden. Ziel ist nicht der kurzfristige
Machtgewinn, sondern die langfristige Veränderung der Bedingungen von Argumentation
(wenngleich dies natürlich mit dem Ziel geschieht, ggf. später kurzfristige Machteffekte
auf neuer Grundlage zu erzielen).
Diese Begriffe konservativer und progressiver Argumentation sind als Idealtypen
zu verstehen, die real nicht völlig getrennt voneinander existieren. Jedes Argument, das
eine neue Perspektive einführen will, muß stets an das Bestehende anknüpfen und es
damit reproduzieren. Und jedes Argument, das sich affirmativ auf das Bestehende
bezieht, weil es auf Machtgewinn zielt, muß dieses Bestehende im Lichte eines konkreten
Problems interpretieren und es damit verändern, denn die bloße Wiederholung von
Allgemeinplätzen (griech: topoi) vermag noch kein konkretes Problem zu lösen.
Ob öffentliche Argumentation in der Realität nun eher konservativ oder eher
progressiv wirkt, ist eine empirische Frage, die für jede Öffentlichkeit getrennt
beantwortet werden müßte. Interessanter für eine Klärung des Verhältnisses von
öffentlicher Argumentation und Macht ist jedoch die Frage, ob womöglich in einer
Öffentlichkeit konservative oder progressive Argumentationen strukturell bevorzugt
werden, d.h. ob die Bedingungen für die eine oder die andere Seite günstiger sind. Auch
diese Frage ist eine empirische, denn es muß geklärt werden, welches die Bedingungen
der betreffenden Öffentlichkeit sind. Will man wissen, ob diese Bedingungen eher günstig
für konservative oder für progressive Argumentationen sind, muß auch die theoretische
Frage beantwortet werden, welches die optimalen Bedingungen für jede Seite wären, um
diese dann mit den tatsächlichen Bedingungen zu konfrontieren.
Die optimale Bedingung für konservative, d.h. auf Machtausübung gerichtete
Argumentation, wäre eine völlig integrierte Öffentlichkeit. In einer solchen Öffentlichkeit
bestünde ein Konsens über die relevanten Topoi, im Extremfall wäre dies sogar ein
einziger Topos, auf dessen Grundlage alle Fragen beantwortet würden (hohe Integration).
Argumentation könnte bzw. müßte sich in dieser Öffentlichkeit auf diesen einen Topos
stützen und wäre damit gegenüber Argumenten, die sich auf andere Topoi stützen, relativ
erfolgreich (‚Totschlagargumente‘). Auf die Spitze getrieben wären diese Bedingungen,
wenn auch über die Bewertung der Topoi Einigkeit bestünde (hohe Konsonanz). Die
6 Fazit
88
Lösung eines Problems wäre unter diesen Bedingungen völlig eindeutig, und wer sie
öffentlich vorbrächte, hätte gewissermaßen die absolute Macht, sie auch umzusetzen.
Progressive Argumentationen können sich dagegen eher in weniger stark
integrierten Öffentlichkeiten entfalten. Wenn ohnehin keine große Einigkeit über die
relevanten Topoi besteht, ist es relativ einfach, einen neuen Topos zu einzuführen und
ihm womöglich sogar eine wichtige Rolle zu sichern. Sind diese Bedingungen nicht
gegeben, können neue Topoi nur sehr langsam durch ‚Ableitung‘ von bestehenden Topoi
bzw. deren Neuinterpretation eingeführt werden.
Ein Vergleich dieser Optimalbedingungen mit den Ergebnissen der Fallstudie ist
nur begrenzt sinnvoll, da die untersuchten Zeitungen nur einen sehr kleinen Ausschnitt
einer viel größeren Öffentlichkeit darstellen. Begrenzt auf die drei Zeitungen kann man
jedoch sagen, daß diese Öffentlichkeit – bezogen auf die Zuwanderungsfrage – bessere
Bedingungen für konservative Argumentationen bot als für progressive, da sie relativ
stark integriert ist. Es war insgesamt einfacher, Argumente auf dem Topos vom
wirtschaftlichen Nutzen, dem Humantitäts-Topos oder dem Belastungs-Topos aufzubauen als auf
irgendeinem anderen Topos. Die Bewertung der Topoi war zwar medienübergreifend
schon weniger konsonant, jedoch lassen sich die drei genannten Topoi als eine Art
Zentrum der Debatte identifizieren, in dem die Bewertungen noch vergleichsweise
homogen waren. Jenseits dieses Kerns der Debatte nimmt die Einigkeit ab, so daß man
von einer weniger integrierten Peripherie sprechen kann, in der die weniger etablierten
Topoi zur Anwendung kommen. Insgesamt blieb das Optimum konservativer
Argumentation also begrenzt auf ein diskursives Zentrum, in dessen Peripherie mit
abnehmender Einigkeit auch die mögliche Machtwirkung von Argumentation ab- und die
Möglichkeit, ‚neue‘ Topoi einzuführen bzw. vernachlässigte Topoi zu bestärken, zunahm.
Dies dürfte typisch sein, für den Ausgangspunkt einer Debatte, in dem der Machtkampf
in Bezug auf ein bestimmtes Problem noch am Anfang steht. Inwiefern sich dies im Lauf
der Debatte geändert hat, kann anhand der Daten nicht beurteilt werden. Sieht man aber,
daß die konservative Argumentation im Zentrum immer zugleich auch ihre Grundlagen
reproduziert und bestärkt, indem sie sie mehr oder weniger erfolgreich anwendet, die
progressive Argumentation in der Peripherie jedoch umgekehrt kurzfristig keine positiven
Machteffekte für sich verbuchen kann, was ihr Ziel der Bestärkung ihrer ohnehin
peripheren Topoi zusätzlich erschwert, so liegt theoretisch die Vermutung nahe, daß im
Verlauf der Debatte eher eine weitere Differenzierung von Zentrum und Peripherie
erfolgt als daß es gelänge, anfangs periphere Topoi ins Zentrum zu rücken.
6 Fazit
89
Die Rolle der subjektiven und der objektiven Genres
Eine solche zunehmende Fokussierung auf das Zentrum würde der Selektions- und der
Synthetisierungsfunktion von Öffentlichkeit entsprechen: Die Topoi des diskursiven
Zentrums werden durch die Medienöffentlichkeit als die relevanten selektiert, und die
Komplexität der Meinungen wird auf eine einheitliche Bewertung dieser Topoi hin
synthetisiert. Prinzipiell ist dabei aber noch offen, wie diese Selektion und Synthetisierung
zustande kommen. Sind es eher die Akteure selbst, die sich in ihrer öffentlichen
Auseinandersetzung auf wenige Topoi beschränken und sich auf deren einheitliche
Bewertung einigen, oder ist es eher die aktive Konstruktion von Öffentlichkeit durch die
Massenmedien, die entsprechende Bedingungen schafft? Diese Frage läßt sich anhand
eines Vergleichs von subjektiven und objektiven journalistischen Genres beantworten, da
in den subjektiven Genres ein höherer Anteil an aktiver Konstruktionsleistung der
Medien unterstellt werden kann als in den objektiven. Der empirische Vergleich der
Genres hat ergeben, daß die Selektionsfunktion stärker in den objektiven Genres erfüllt
wird, während die Synthetisierungsleistung eher in den subjektiven Genres erfolgt
(wenngleich in der Fallstudie keinesfalls Konsonanz erzielt wurde). Dies läßt sich nun so
interpretieren, daß die öffentlich auftretenden Akteure sich zunächst auf bestimmte
zentrale Topoi für ihre Auseinandersetzung einigen, deren einheitliche Bewertung dann
aber eher durch die Konstruktionsleistungen des Mediensystem erfolgt als durch die
Akteure selbst. Massenmediale Öffentlichkeit (zumindest die hier untersuchte) wirkt also
womöglich – entgegen einer verbreiteten Auffassung – eher als Katalysator im politischen
Diskussionsprozess denn als Bremse: Einigkeit, die unter den zerstrittenen Akteuren
womöglich noch gar nicht besteht, wird in der Medienöffentlichkeit in Form von
öffentlicher Meinung vorweggenommen bzw. hergestellt.
Grenzen und Vorteile der Studie
Wegen der Neuartigkeit des methodischen Vorgehens im empirischen Teil dieser Arbeit
soll die Studie abschließend noch unter methodischen Gesichtspunkten evaluiert werden,
um einerseits die Grenzen, andererseits die Vorteile der Vorgehensweise zu verdeutlichen.
Die erste Grenze stellt die geringe Anzahl verschiedener Zeitungen dar, die wenig
repräsentativ für das Mediensystem der BRD sind. Aussagen etwa über eine
bundesdeutsche „Gesamt-Öffentlichkeit“, die von der Fragestellung eigentlich nahe
gelegt wären, waren damit kaum möglich. Insofern sind Verallgemeinerungen, dort wo sie
dennoch mit aller Vorsicht getroffen wurden, lediglich als Vermutungen interpretierbar.
Das zweite Problem lag in der Zahl der erhobenen Argumente: Während die zentralen
Topoi zwar ausreichende Fallzahlen auf sich vereinigen konnten, bleibt die
6 Fazit
90
Interpretierbarkeit der peripheren Topoi wegen der geringen Datengrundlage begrenzt.
Noch schwieriger ist die Lage bei der Bildzeitung, deren Datengrundlage insgesamt aus
lediglich 35 Argumenten bestand. Drittens bleibt die Studie in zeitlicher Hinsicht
begrenzt, da der Erhebungszeitraum zeitlich auf eine Woche beschränkt war. Aussagen
über Veränderungen im Zeitverlauf der Debatte waren somit nicht möglich. Schließlich
kann noch festgehalten werden, daß aus Sicht quantitativ empirischer Sozialforschung die
Reliabilität des Instruments – insbesondere bei der zentralen Topos-Variable – allenfalls
das Minimum der üblichen Standards erfüllt. Dabei bleibt offen, wie weit sich dies noch
verbessern läßt, oder ob nicht die geringe Reliabilität der ‚Preis‘ für eine auf
Diskursanalyse angelegte Argumentanalyse ist.
Trotz der beschriebenen Probleme sind die Ergebnisse der Studie jedoch
überraschend gut interpretierbar. Die vorgestellte Argumentanalyse bietet ein theoretisch
fundiertes Instrument zur Analyse der Argumentationsgrundlage in öffentlichen
Debatten. Da das Argument die Codiereinheit darstellt, ist sichergestellt, daß die
codierten Topoi eine wirkliche Relevanz in der Auseinandersetzung besitzen. Die
Vorgehensweise ermöglicht prinzipiell eine Analyse der Daten auf zwei Ebenen: Zum
einen lassen sich Aussagen über die Rolle der einzelnen Medien bei der Konstitution einer
Gesamt-Öffentlichkeit treffen. Zum anderen lassen sich aber auch die inhaltlichen
Grundlagen dieser Öffentlichkeit bzw. einzelner Teil-Öffentlichkeiten bestimmen.
Analog zu diesen beiden Analyseebenen wurden mit der Argumentanalyse zwei
Abstraktionsleistungen operationalisierbar gemacht, die für eine Analyse gesellschaftlicher
Diskurse mittels quantitativ-empirischer Sozialforschung hilfreich sind. Die Abstraktion
von einzelnen Argumenten durch Aggregation auf Topos-Ebene löst das Problem, daß in
komplexen Debatten wie der Zuwanderungsdebatte eine Vielzahl spezifischer Argumente
zu finden sind,110 die sich zudem im Verlauf der Debatte verändern, so daß es schwierig
würde, auf Argument-Ebene zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. Die Kategorie
der Topoi rückt eine allgemeinere Ebene gesellschaftlicher Diskurse in den Blick, die auch
jenseits einzelner spezifischer Auseinandersetzungen langfristige Bedeutung besitzen. Die
Abstraktion von einzelnen Medien hin zu einem Begriff von Öffentlichkeit, der nicht durch
die Grenzen einzelner Medien, sondern inhaltlich bestimmt ist, lenkt den Fokus auf
gesellschaftliche Diskurse, die nicht von einzelnen Medien allein, sondern von der
Gesamtheit der Medien vermittelt und hervorgebracht werden. Richtet man den Blick auf
die Inhalte öffentlicher Diskurse so macht dieser Begriff von Öffentlichkeit nicht
110
Eine Sammlung von Argumenten im Argumentationsanalyse-Seminar (vgl. FN 68) ergab eine Liste von
knapp 1.000 Argumenten.
6 Fazit
91
notwendig an nationalstaatlichen Grenzen halt, sondern ermöglicht auch die Analyse
transnationaler, z.B. europäischer, ‚westlicher‘, ‚östlicher‘ oder auch globaler Diskurse.
Literatur
98
Literatur
Anmerkung zur Zitierweise:
Um den Entstehungszeitpunkt (d.h. den historischen Zusammenhangs) jedes Textes im
Auge zu behalten, wird das Jahr der Erstveröffentlichung – gleich in welcher Sprache –
direkt nach dem Namen (und im Text) angegeben. Der darauffolgende Titel mit Ort und
Jahreszahl bezieht sich auf die von mir verwendete Ausgabe. Bei veränderten
Neuauflagen wird das Jahr der Neuauflage verwendet. Weitere Informationen wie z.B.
das Jahr der deutschen Erstveröffentlichung werden ggf. in Klammern erwähnt. Bei den
antiken Werken wird u.a. wegen der ungenauen Datierung auf eine Jahresangabe
verzichtet. Statt dessen werden die üblichen Titelabkürzungen verwendet.
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Anhang A - Codebuch
Anhang A
Argumentanalyse zum Zuwanderungsdiskurs 2001/2002
Codebuch
104
Anhang A - Codebuch: Überblick
105
1 ÜBERBLICK
106
2 CODIERUNG AUF ARTIKEL-EBENE
106
2.1
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.1.4
2.2
2.3
106
106
107
107
107
108
110
AUSWAHL DES UNTERSUCHUNGSMATERIALS (FALLAUSWAHL)
INHALTLICHE AUSWAHLKRITERIEN:
FORMALE AUSWAHLKRITERIEN:
ZWEIFELSFÄLLE
UNTERSUCHUNGSZEITRAUM UND AUSGEWÄHLTE ZEITUNGEN
CODEPLAN AUF ARTIKELEBENE
CODEERLÄUTERUNGEN AUF ARTIKEL-EBENE
3 CODIERUNG AUF ARGUMENT-EBENE
112
3.1
3.1.1
3.1.2
3.1.3
3.1.4
3.1.5
3.1.6
3.2
3.3
3.4
3.4.1
3.4.2
3.4.3
3.4.4
3.4.5
112
112
112
113
114
114
114
115
117
126
126
126
126
126
127
ALLGEMEINE CODIERANWEISUNGEN
ANALYSEBEREICH
IDENTIFIKATION EINES ARGUMENTS
ARGUMENTE UND ‚UNTERARGUMENTE‘
CODIERUNG VON GEGENVORSCHLÄGEN
CODIERUNG VON ABLEHNUNG/ZUSTIMMUNG
FRAGEN BEI DER CODIERUNG DES ARGUMENTS
CODEPLAN AUF ARGUMENTEBENE
CODEERLÄUTERUNGEN AUF ARGUMENT-EBENE
SONDERFÄLLE UND WEITERE ERLÄUTERUNGEN
BERICHTE ÜBER VERHANDLUNGEN UND VERHANDLUNGSERGEBNISSE
ARTIKEL OHNE ARGUMENT
BEFÜRCHTUNGEN
EINE ‚FORDERUNG‘ ALS BEGRÜNDUNG FÜR EINE ABLEHNUNG
DIE UNTERSCHEIDUNG VON FORDERUNG UND BEGRÜNDUNG
Anhang A - Codebuch: Überblick
1
106
ÜBERBLICK
Zunächst wird in Abschnitt 2.1 die Auswahl des Untersuchungsmaterials erläutert. In Abschnitt
2.2 und 2.3 werden dann die Variablen und die Codieranweisungen auf Artikel-Ebene
dokumentiert, die bei der Codierung im Rahmen des Seminars „Argumentationsanalysen II“ bei
Hans-Jürgen Weiß im Sommersemester 2002 verwendet wurden.1 Aus dem umfassenden
Seminar-Codebuch sind hier lediglich zwei Bereiche relevant:
A.
Basisvariablen (Seite 110)
B.
Formale Merkmale des Artikels (Seite 111)
Abschnitt 3.1 enthält die Allgemeinen Codieranweisungen, in den Abschnitten 3.2 und 3.3
folgen der Codeplan und die Coderläutertungen für die Argumentanalyse, die sich in zwei
Bereiche unterteilen lassen:
A. Codiereinheit: Das Argument (Seite 117)
B. Kontexteinheit: Die Bewertung des Arguments (Seite 124)
In Abschnitt 3.4 werden schließlich Sonderfälle behandelt und weitere Erläuterungen zur
Codierung problematischer Fälle gegeben.
2
2.1
CODIERUNG AUF ARTIKEL-EBENE
AUSWAHL DES UNTERSUCHUNGSMATERIALS (FALLAUSWAHL)
Als Untersuchungsmaterial dienen die Zeitungsbeiträge (Artikel), die im Rahmen des Seminars
zur Analyse des Zuwanderungsdiskurses ausgewählt wurden. Die Auswahl der Artikel erfolgte
nach folgenden Kriterien:
2.1.1 Inhaltliche Auswahlkriterien:
Ausgewählt wurden sämtliche Artikel, die einen konkreten „Regelungsbezug“ aufweisen. Unter
„Regelungsbezug“ wird jede explizite Bezugnahme auf formale Regelungen der Zuwanderungsund Integrationsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland verstanden. Unter „formaler
Regelung“ sind einerseits Regelungen der Legislative (Gesetze), andererseits aber auch
Regelungen der Exekutive (Verordnungen, Erlasse) zu verstehen. Gerichtsentscheidungen
stellen keine Regelungen in unserem Sinn dar, mit Ausnahme von Urteilen des
Bundesverfassungsgerichts, wenn diese über den konkreten Einzelfall hinaus von
grundsätzlicher Bedeutung für die Regelung von Zuwanderungs- und Integrationsfragen waren,
wie z.B. das Urteil zum Schächten. Regelungen sind sowohl bestehende Regelungen als auch
geplante, zur Diskussion stehende Regelungsaspekte. Allgemeine Bezüge wie beispielsweise
Forderungen nach besseren Sprachkenntnissen, nach kultureller Anpassung oder nach
Verfassungs- oder Gesetzestreue von Zuwanderern sind nicht relevant, soweit sie eben nicht
als formale Regelung konkretisiert werden. Supranationale Regelungen sind relevant, sofern sie
Deutschland betreffen, d. h. für Deutschland verbindlich sind oder im Rahmen der deutschen
Zuwanderungsdebatte diskutiert werden.
Damit ein Beitrag ausgewählt wird, muß er eine Regelung thematisieren. Eine bloße Nennung
eines zentralen Begriffs wie etwa „Green Card“ ist nicht ausreichend, wenn dies in einem
Die vollständige Dokumentation der Variablen auf Artikelanalyse erfolgt unabhängig davon, welche dieser
Variablen für die Auswertung im Rahmen dieser Arbeit relevant sind.
1
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Artikel-Ebene
107
Kontext geschieht, der ansonsten nichts mit der Debatte um die Neuregelung des
Zuwanderungs- und Ausländerrechts zu tun hat.
Die Anwendung von Regelungen auf Einzelfälle (z.B. Vollzug von Abschiebungen oder das
Gerichtsurteil: „Kalif von Köln darf bleiben“) stellt keinen Regelungsbezug dar. Regelungsbezug
heißt: Es wird über die Richtigkeit etc. von Regelungen diskutiert, nicht über ihre Anwendung
(d.h. die Richtigkeit der Anwendung).
2.1.2 Formale Auswahlkriterien:
Der Regelungsbezug muß in Überschrift, Untertitel, Übertitel oder dem Lead bzw. dem ersten
Absatz2 (wenn kein Lead vorhanden) hergestellt werden.3 Bezüge, die im weiteren Verlauf
eines Artikels hergestellt werden, sind nicht relevant. Neben klassischen Artikeln (Nachricht,
Kommentar, Reportage, Interview etc.) wurden auch folgende Darstellungsformen einbezogen:
Leserbriefe, Pressestimmen, Bildartikel (Bild mit Unterschrift als eigener Beitrag) und
Infokästen. Artikelankündigungen auf der Titelseite werden nur dann als eigenständiger Artikel
ausgewählt, wenn eine eigene Quelle angegeben wurde. Karikaturen werden nicht analysiert.
Untersucht wird der gesamte überregionale Teil der Zeitungsausgabe mit Ausnahme folgender
Zeitungsteile/Ressorts: Sport, Medienseite, Wirtschaft (außer der ersten Seite des
Wirtschaftsteils), Finanzen (Börsenkurse, Finanztipps etc.), Werbung und Kleinanzeigen,
Universität/Hochschule/Bildung, Karriere und Beruf, Reiseseite, sowie
Sonderveröffentlichungen (nicht regelmäßig – d. h. täglich/ wöchentlich – erscheinende Seiten
oder Beilagen. Ausnahme: Sonderseiten/-beilagen, die sich komplett (ganze Seite bzw.
Beilage) mit der Regelung von Zuwanderung/Integration befassen).
2.1.3 Zweifelsfälle
Die Fallauswahl wurde von Ansgar Koch und Christoph Haug in ständiger gegenseitiger
Absprache durchgeführt. Über die dabei auftretenden Zweifelsfälle wurde wie folgt entschieden:
1. Die Scharia wird im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte diskutiert, entsprechende
Artikel wurden also aufgenommen, insofern die Scharia als Regelung diskutiert wird (z.B.
„Soll die Scharia auch für Moslems in Deutschland gelten?“) Außerdem haben wir die
Erwähnung des Anwerbeabkommens für „Gastarbeiter“ aus den 50er/60er Jahren (bzw.
auch den Anwerbestopp der 70er) als Regelungsbezug gewertet. Auch wenn diese
Regelung heute nicht mehr gilt, wird in der Debatte um das Zuwanderungsgesetz mehrmals
explizit darauf Bezug genommen.
2. Artikel zu einem Abschiebestopp für bestimmte Flüchlinge kommt rein, da es sich um eine
Regelung der Exekutive handelt.
3. Bei Themenseiten bzw. -blöcken mit einem Über-Lead‚ (über der Überschrift) – oft auf
mehrere Artikel bezogen – wurde der Lead dem größten zu analysierenden Artikel
zugeordnet und zusätzlich der erste Absatz dieses Artikels analysiert.
4. Die einzelnen Kurzmeldungen der Wochenchronik der SZ wurden als eigenständige Artikel
ggf. aufgenommen.
2.1.4 Untersuchungszeitraum und ausgewählte Zeitungen
Für die Codierung im Rahmen des Seminars wurden drei Untersuchungszeiträume festgelegt,
die zentrale Abschnitte des Gesetzgebungsverfahrens zum Zuwanderungsgesetz erfassen:
2
3
Wenn der Artikel insgesamt nur aus einem Absatz besteht, wurden die ersten drei Sätze berücksichtigt.
Bei Interviews wird immer der Lead und die erste Frage und die erste Antwort berücksichtigt.
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Artikel-Ebene
108
1. 02.07. – 09.09.2001 (10 Wochen)
(Am 4.7. legte die Süßmuth-Kommission ihre Empfehlungen vor, am 3.8.2001 veröffentlicht
Schily seinen ersten Gesetzesentwurf)
2. 22.10. – 23.12.2001 (9 Wochen)
(Am 07.11. beschloß das Bundeskabinett seinen Entwurf des Zuwanderungsgesetzes)
3. 21.01. – 31.03.2001 (10 Wochen)
(Am 01.03.2002 verabschiedete der Bundestag das Zuwanderungsgesetz. Am 22.03.2002
folgte die umstrittene Bundesratsabstimmung)
Untersucht wurden drei Tageszeitungen: Von den überregionalen Qualitätszeitungen wurde die
Süddeutsche Zeitung ausgewählt, von den Berliner Lokalzeitungen der Tagesspiegel und von
den Boulevardzeitungen die Bild-Zeitung.
Die Durchsicht des Materials ergab insgesamt 593 Artikel mit Regelungsbezug. Davon wurden
395 von den SeminarteilnehmerInnen auf Artikelebene codiert. Aus diesem Material werden für
die vorliegende Arbeit die Fälle aus der Anfangsphase der Diskussion, also vor dem 11.
September 2001, ausgewählt und auf Argument-Ebene codiert. Die Daten der Codierung auf
Artikel-Ebene werden aus dem Seminar übernommen.
2.2
CODEPLAN AUF ARTIKELEBENE4
1.
Basisvariablen
V01
Coder-Nr.
01...n
siehe Teilnehmerliste des Seminars
V03
Zeitung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Süddeutsche Zeitung (SZ)
Frankfurter Rundschau (FR)
Die Welt
taz
Berliner Zeitung
Tagesspiegel
Berliner Morgenpost
Bild
V04
Ausgabe-Jahr
1
2
2001
2002
V05
Ausgabe-Monat
01-12
Monat (1=Januar, 2=Februar ...)
Es werden nur diejenigen Variablen dokumentiert, die bei der vorliegenden Untersuchung tatsächlich ausgewertet
wurden.
4
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Artikel-Ebene
109
V06
Ausgabe-Tag
01-31
Tag
V07
Artikelnummer
001...n
laufende Artikelnummer pro Ausgabe (Numerierung in Leserichtung);
bei jeder Ausgabe erneut mit „1“ beginnen
[ART_ID]
Artikel_ID = 9-stellige Ziffer zusammengesetzt aus: V03, V04, V05, V06, V07
V08
Kurztext
01...n
Schlagworte: A macht x, A sagt (zu B, zu x) etc. (siehe Überschrift!)
2.
Formale Merkmale des Artikels
V11
Genre
1
2
3
4
5
6
9
Nachrichtenform: Meldung, Kurznachricht, Nachrichtenbericht
‚Subjektiv eingefärbte Form: Reportage, Feature, Analyse, Hintergrundbericht
‚Subjektiv eingefärbte Form: Interview
Kommentarform: Leitartikel, Kommentar, Kolumne, Glosse, Pressestimmen
Dokumentation
Leserbrief
Sonstiges
V13
Artikelumfang (inkl. Überschrift, Foto etc.)
1
2
3
4
5
Sehr klein (einspaltig, max. 1/16 der Seitenfläche)
Klein (1/16 bis max. 1/8 der Seitenfläche)
Mittel (1/8 bis max. 1/4 der Seitenfläche)
Groß (1/4 bis 1/2 der Seitenfläche)
Sehr groß (größer als 1/2 der Seitenfläche)
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Artikel-Ebene
2.3
110
CODEERLÄUTERUNGEN AUF ARTIKEL-EBENE
A.
Basisvariablen
ART_ID
Artikel-ID
Die Artikel-ID dient zur Identifizierung der Artikel. Jeder Fall/ Artikel bekommt eine eigene 9stellige ID, die sich aus den Variablen V03, V04, V05, V06 und V07 zusammensetzt. Die
Variable wird nicht eingegeben, sondern nach der Dateneingabe errechnet.
V01
Coder-Nr.
00...n
Die Coder-Nr. geht aus der Teilnehmer-Liste hervor.
V03
Zeitung
Im Rahmen des Seminars werden zunächst nur Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel oder Bild
codiert.
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Süddeutsche Zeitung (SZ)
Frankfurter Rundschau (FR)
Die Welt
taz
Berliner Zeitung
Tagesspiegel
Berliner Morgenpost
Bild
V04
01,02
Ausgabe-Jahr
Jahr
V05
Ausgabe-Monat
01-12
Monat (1=Januar, 2=Februar ...)
V06
Ausgabe-Tag
01-31
Tag
Die drei Variablen V04, V06 und V06 können zu einer Datumsvariable zusammengerechnet
werden, so dass die Beiträge zeitlich verortet werden können. Zudem werden die Angaben
benötigt, um die ID-Variable ART_ID zu konstruieren. Da nicht alle Zeitungen eine
Sonntagsausgabe haben, wird bei zwei- oder mehrtägigen Wochenend- oder
Feiertagsausgaben jeweils der erste Herausgabetag codiert.
V07
Artikelnummer
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Artikel-Ebene
111
Die Variable ist notwendig, da manche Ausgaben der Zeitungen mehrere für uns relevante
Artikel beinhalten. Um eine zweifelsfreie Identifizierung jedes Artikels zu erlauben, werden die
Artikel deshalb pro Ausgabetag einer Zeitung fortlaufend numeriert. Bei jeder Ausgabe wird
wieder mit „1“ begonnen. Die Artikel-Nummer wird nicht nur in den Codierbogen eingetragen,
sondern auch neben dem jeweiligen Artikel in der Zeitung notiert.
01...n
laufende Artikelnummer pro Ausgabe (Numerierung in Leserichtung);
bei jeder Ausgabe erneut mit „1“ beginnen
V08
Kurztext
Die Variable soll die Hauptaussage des Textes erfassen. In der Regel ist diese in der
Überschrift angegeben, z.T. kann die Überschrift allein jedoch in die Irre führen (z.B. bei
Kommentaren). Die Hauptaussage muß dann aus dem Text bestimmt werden. Die
Klartexteingabe erfolgt in Form von Schlagworten nach dem Muster A macht x, A sagt (zu B, zu
x) etc.
B.
Formale Merkmale des Artikels
Dieses Analysemodul dient dazu, wichtige formale Präsentationsmerkmale der Artikel zu
erfassen. Grundlage der Codierung ist der gesamte Artikel.
V11
Genre
Die Variable erfaßt das Genre eines Artikels. Es sollen Nachrichten- und Meinungsformen
unterschieden werden. Dokumentationen (5) sind Wortlautprotokolle, die unkommentiert in der
Zeitung erscheinen (z.B. Bundestagsdebatten oder offene Briefe). Pressestimmen werden als
Kommentarform (4) codiert.
1
2
3
4
5
6
9
Nachrichtenform: Meldung, Kurznachricht, Nachrichtenbericht
‚Subjektiv eingefärbte Form: Reportage, Feature, Analyse, Hintergrundbericht
‚Subjektiv eingefärbte Form: Interview
Kommentarform: Leitartikel, Kommentar, Kolumne, Glosse, Pressestimmen
Dokumentation
Leserbrief
Sonstiges
V13
Größe (inkl. Überschrift, Foto etc.)
Die Artikelgröße kann als ein Indikator für die Bedeutung gewertet werden, die dem
betreffenden Thema/ Ereignis von der Redaktion zugesprochen wird. Die Größe des Artikels
soll als Anteil an der Seitengröße ungefähr abgeschätzt werden. Überschriften, Illustrationen
und Fotos werden mitgezählt, wenn sie dem Artikel eindeutig zugeordnet sind. Grundlage ist
immer eine ganze Zeitungsseite ohne Seitenränder – auch wenn bspw. die untere Hälfte durch
Werbung belegt ist.
1
2
3
4
Sehr klein (einspaltig, max. 1/16 der Seitenfläche)
Klein (1/16 bis max. 1/8 der Seitenfläche)
Mittel (1/8 bis max. 1/4 der Seitenfläche)
Groß (1/4 bis 1/2 der Seitenfläche)
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
5
3
112
Sehr groß (größer als 1/2 der Seitenfläche)
CODIERUNG AUF ARGUMENT-EBENE
Im Vergleich zur klassischen quantitativen Inhaltsanalyse besteht die Problematik einer
Argument-Analyse darin, daß die Codiereinheit – das Argument – häufig nicht als manifester
Inhalt vorliegt, wie etwa die Aussage als klassische Codiereinheit. Argumente werden vielmehr
durch Aussagen mehr oder weniger eindeutig zum Ausdruck gebracht. Die erste Aufgabe bei
jeder Codierung einer Argument-Analyse besteht also in der Identifikation des Arguments. Wie
dies geschieht und wie Argumente von anderen Argumenten abgegrenzt werden, wird in den
allgemeinen Codieranweisungen im folgenden Abschnitt erläutert. Im Abschnitt 3.2 wird das
Kategorienschema für die Codierung der Argumente dargestellt und erläutert. Sonderfälle und
weitere Erläuterungen zur Codierung problematischer Fälle werden in Abschnitt 3.4 gegeben.
3.1
ALLGEMEINE CODIERANWEISUNGEN
3.1.1 Analysebereich
Im Gegensatz zur Analyse auf Artikelebene wird nun der gesamte Artikel analysiert. Dazu wird
der Artikel zunächst einmal ganz gelesen, um grob zu erkennen, wie die
Argumentationsstruktur ist, also ob z.B. am Ende noch einmal auf Argumente vom Anfang
eingegangen wird etc. Danach wird der Artikel von Anfang bis Ende nach Argumenten
abgesucht (siehe dazu 3.1.2). Sobald ein Argument gefunden wird, wird dieses codiert. Dabei
sind insbesondere ablehnende und zustimmende Äußerungen im ganzen Artikel zu beachten.
Sollten begründete Ablehnungen vorliegen, so werden als nächstes diese als neues Argument
codiert (siehe Abschnitt 3.1.4), um das Basisargument, auf das sie sich beziehen, nicht aus den
Augen zu verlieren. Es wird also zuerst „in die Tiefe“ codiert, bevor das nächste Argument im
Artikel gesucht wird.
3.1.2 Identifikation eines Arguments
Argumente verfolgen den Zweck, eine strittige Aussage in eine unstrittige Aussage zu
überführen. Argumente sind also dort zu erwarten, wo strittige Aussagen thematisiert werden.
Dabei kann es grundsätzlich um die Wahrheit einer deskriptiven Aussage gehen („Ist es wirklich
so, wie behauptet wird?“) oder um die Richtigkeit einer normativen Aussage („Soll es so sein,
wie gefordert wird?“). Im Rahmen dieser Argumentanalyse werden nur normative5 Argumente
analysiert, also Forderungen, daß etwas so oder so sein soll, und zwar bezogen auf die Frage
der Gestaltung des deutschen Zuwanderungs- und Ausländerrechts. Dabei werden nur aktuelle
Forderungen beachtet, die noch nicht umgesetzt worden sind. Die nachträgliche Rechtfertigung
der Verschärfung des Asylrechts im Jahr 1993 stellt also kein Argument im Sinne dieser
Untersuchung dar.
Kritik oder Zustimmung zu deskriptiven Äußerungen wird lediglich berücksichtigt, wenn es sich um Begründungen
von normativen Forderungen handelt. (Z.B.: „Es sollen Green Cards für IT-Fachkräfte ausgegeben werden, da ein
Mangel an diesen Fachkräften besteht.“) In diesem Fall handelt es sich ja trotzdem um ein normatives Argument,
das lediglich durch einen Sachverhalt begründet wird. Wer die Forderung dieses Arguments nicht teilt, kann
natürlich bestreiten, daß der behauptete Sachverhalt zutrifft. („Es gibt gar keinen Fachkräftemangel“) Codiert wird
dann neben der negativen Bewertung des genannten (positiven) Arguments auch das negative Argument codiert:
„Es sollen keine Green Cards an IT-Fachkräfte ausgegeben werden, da es gar keinen Fachkräftemangel gibt.“
(siehe hierzu 0)
5
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
113
Im Zuwanderungsdiskurs werden von den diversen Akteuren aus Gesellschaft und Politik
Forderungen vorgetragen, die das Zuwanderungs- und Ausländerrecht betreffen.6 Diese
Forderungen werden einerseits nicht immer begründet, andererseits werden manchmal nur
Begründungen genannt, die ganz offensichtlich eine bestimmte Forderung implizieren (sollen).
Beispielsweise impliziert „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – auch ohne daß dies
expliziert wird – im Kontext des Zuwanderungsdiskurses „Also soll Zuwanderung mehr
beschränkt werden.“ Für die Identifizierung eines zu codierenden Arguments sind beide
Anhaltspunkte relevant:
Ein Argument kann sowohl an einer expliziten Forderung zur Gestaltung des
Zuwanderungsrechts festgemacht werden als auch an einer Begründung, die offensichtlich eine
solche Forderung impliziert. Während also eine Begründung nicht vorhanden sein muß, ist eine
implizite oder explizite Forderung notwendige und hinreichende Bedingung für das Vorliegen
eines Arguments im Sinne dieses Codeplans.
Dabei wird ein Argument des gleichen Inhalts innerhalb eines Artikels für jeden Akteur, der
es äußert nur einmal codiert, auch wenn es an verschiedenen Stellen des Artikels immer wieder
aufgegriffen wird. Die Mehrfacherwähnungen dienen bei der Codierung dann der Präzisierung
und Vervollständigung des Arguments.
Wenn also zum Beispiel die Begründung für eine Forderung erst ganz am Ende des Artikels
genannt wird, obwohl die Forderung schon zu Beginn des Artikels steht, wird trotzdem ein
einziges Argument mit dieser Forderung und dieser Begründung codiert, vorausgesetzt, die
Forderung stammt nicht von einem anderen Akteur. Vertreten zwei Akteure das gleiche
Argument, wird es auch zweimal codiert, ggf. einmal mit und einmal ohne Begründung.
3.1.3 Argumente und ‚Unterargumente‘
Jedes Argument eines Akteurs sollte immer so spezifisch wie möglich codiert werden. Wenn in
einem Artikel ein eher allgemein formuliertes Argument auftaucht (z.B. „der Gesetzesentwurf
der Bundesregierung“, „die Forderungen der Wirtschaft“), aus dem dann aber anschließend ein
konkreteres ‚Unterargument‘ herausgegriffen wird („z.B. es soll keine feste Quote für die Zahl
der Zuwanderer geben“), dann wird die allgemeine Form des Arguments nicht codiert, es sei
denn
- es wird in seiner allgemeinen Form bewertet. Um diese Bewertung codieren zu können,
muß das Argument zusätzlich auch in seiner allgemeinen bzw. abstrakten Form codiert
werden, obwohl eigentlich genauere Informationen über das Argument vorliegen, oder
- es erhält in seiner allgemeinen Form eine zentrale Stellung in dem Artikel (A13=2),
während die spezifische Form nur eine mittelwichtige oder randständige Bedeutung hat
(A13=1 oder A13=0). Auch in diesem Fall muß das Argument in seiner allgemeinen Form
codiert werden um dessen herausragenden Stellenwert innerhalb des Artikels codieren zu
können.
- es wird anders begründet als die Unterargumente.
Dies wurde bereits bei der Fallauswahl als Kriterium für die Aufnahme eines Artikels in die Stichprobe
berücksichtigt. (Vgl. oben Abschnitt 2.1.12.1.1)
6
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
114
3.1.4 Codierung von Gegenvorschlägen
Wenn der Vorschlag von Akteur A von Akteur B zurückgewiesen wird, indem er einen
Gegenvorschlag macht, so wird einmal der Vorschlag von Akteur A mit Bs negativer Kritik
codiert, sowie der Vorschlag von B als Argument (ggf. mit weiterer Kritik oder Lob).
Das gleiche gilt, wenn der ‚ursprüngliche‘ Vorschlag gar nicht von einem anderen Akteur A
vorgebracht wurde (jedenfalls geht dies nicht aus dem Artikel hervor), sondern lediglich als
Alternativvorschlag im Raum steht, von dem sich B mit seinem Vorschlag abgrenzt. In diesem
Fall wird zuerst die Forderung codiert, die B ablehnt.
Wenn ein Argument lediglich abgelehnt wird (mit oder ohne Begründung), so handelt es sich
nicht um einen Gegenvorschlag, sondern um eine Ablehnung. Siehe dazu 3.1.5.
Beispiel: Schily will keine feste Zuwanderer-Quote. Die Zahl der Zuwanderer soll nach dem
jeweiligen Arbeitskräftebedarf geregelt werden.
Hier wird zunächst die Forderung nach einer Zuwanderer-Quote codiert, dessen Urheber
unbekannt ist bzw. nicht benannt ist. Schily bewertet diese Forderung eindeutig negativ
(A09c=1).
Da Schily die feste Quote nicht nur ablehnt, sondern einen Gegenvorschlag macht, wird ein
weiteres Argument codiert, mit der Forderung „Die Zahl der Zuwanderer soll nach dem
jeweiligen Arbeitskräftebedarf geregelt werden.“ Eine Begründung läßt sich zumindest ohne
Kenntnis des Kontextes hier nicht rekonstruieren.
3.1.5 Codierung von Ablehnung/Zustimmung
Lehnt ein Akteur B das Argument (die Forderung) eines anderen Akteurs A ab bzw. stimmt ihm
zu, so handelt es sich um eine negative bzw. positive Bewertung des Arguments, die in den
Variablen A09c bis A12c entsprechend codiert wird. Eine zusätzliche Codierung des
‚Arguments‘ von B findet nicht statt, da dies eine bloße Verdopplung der bereits codierten Kritik
bzw. Zustimmung wäre. Zu dieser Regel gibt es jedoch zwei Ausnahmen. Das Argument von B
wird zusätzlich als eigenständiges Argument codiert, wenn
1. die Zustimmung oder Kritik von B an A wiederum bewertet wird (entweder von einem dritten
Akteur C oder von A). Ansonsten wäre eine Codierung dieser Bewertung nicht möglich.
2. B seine Kritik begründet.
In beiden Fällen wird in einem weiteren Argument die Forderung „Ablehnung von Argument A“
codiert. Im ersten Fall wird die entsprechende weitere Bewertung in der Kontexteinheit codiert.
Im zweiten Fall wird der angegebene Grund der Ablehnung als Begründung codiert. Natürlich
ist auch eine Kombination aus beiden Fällen möglich.
Der oben beschriebene Fall eines Gegenarguments kann übrigens als Spezialfall einer
begründeten Ablehnung verstanden werden, bei der nicht nur eine Begründung sondern sogar
eine alternative Forderung vorgelegt wird.
3.1.6 Fragen bei der Codierung des Arguments
Grundsätzlich geht es im Rahmen der Codierung eines Arguments immer um die Beantwortung
der folgenden vier Fragen:
1. Wer fordert was?
2. Mit welcher Begründung?
3. An welche normative Grundannahme wird dabei (meist implizit) apelliert? (Topos)
4. Welche Reaktionen (Bewertungen) gibt es darauf?
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
3.2
115
CODEPLAN AUF ARGUMENTEBENE7
A.
Codiereinheit: Das Argument
A01
Artikel ID
Die neunstellige Artikel ID wird aus der Codierung auf Artikel-Ebene übernommen.
(Vgl. die Variable ART_ID)
A02
Argument-ID
01...n
Wird pro Artikel laufend numeriert.
A04a
Forderung als Code
99
03
04
05
06
10
12
13
14
16
17
18
Forderung ist nicht in der Liste der häufigen Forderungen enthalten
Liste der häufigen Forderungen
Das Zuwanderungs- und Ausländerrecht soll so gestaltet werden, wie der
vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung / von Schily vorsieht
Opfer von nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung sollen als
Flüchtling anerkannt werden
Die Aufenthaltsgenehmigung für anerkannte Asylberechtigte soll befristet werden
Es soll Flüchtlingskontingente für Kirchen-Asyl geben
Zuwanderung soll nach einem Punktesystem geregelt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 6 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 10 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 12 Jahre festgesetzt werden
Es soll Integrationskurse für Zuwanderer geben
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 14 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 16 Jahre festgesetzt werden
Es soll einen Abschiebeschutz für in Deutschland geborene Kinder geben
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 18 Jahre festgesetzt werden
A04b
Forderung als Kurztext
01
02
Eintragung der wesentlichen Forderung als Kurztext.
Variablen die zwar erhoben, aber nicht ausgewertet wurden, sind hier der Übersichtlichkeit wegen nicht
aufgeführt. Dies sind v.a. der Argumenturheber, der Urheber der Bewertung, von einem Argument positiv und
negativ Betroffene sowie, falls vorhanden, die ID des Bezugsargument zur Rekonstruktion von
Argumentationssträngen. Außerdem wurde bei der Bewertung noch differenziert, ob sich die Bewertung auf die
Forderung, die Begründung oder den Urheber des Arguments bezieht. Da solch differenzierte Urteile jedoch nicht
vorkamen, erwies sich diese Variable als überflüssig.
7
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
116
A04c
Implizite Forderung
0
1
Die Forderung steht als Forderung explizit im Text
Die Forderung geht eindeutig aus der Formulierung der Begründung oder einer
anderen Aussage hervor
Die Forderung geht nicht eindeutig aus der Begründung oder anderen Äußerungen
des Argumenturhebers hervor, wird aber durch sie nahegelegt
2
A05a
Begründung als Code
99
00
02
03
Begründung ist nicht in der Liste der häufigen Begründungen enthalten
keine Begründung
Liste der häufigen Begründungen
Weil man in Übereinstimmung mit den Menschenrechten und anderen Grundwerten
handeln soll (humanitäre Gründe)
Weil dies der Wirtschaft nutzen würde (wirtschaftliche Gründe)
Weil dies bestimmten Personen bzw. Gruppen nutzen würde
A05b
Begründung als Kurztext
01
Eintragung der wesentlichen Begründung als Kurztext
A05c
Implizite Begründung
0
1
2
3
4
5
Die Begründung steht explizit im Text
Die Begründung wurde eindeutig anhand der Formulierung der Forderung
erschlossen
Die Begründung wurde durch die Formulierung der Forderung nahegelegt
Die Begründung wurde aus dem übrigen Artikel erschlossen
Die Begründung wurde aus dem diskursiven Kontext erschlossen
Die Begründung wurde aus dem Status des Akteurs erschlossen
A06t
Topos/Schlußregel
00
01...n
99
nicht eindeutig zuordenbar
Siehe Liste der Topoi
Sonstige
A08a
Tendenz bezogen auf Zuwanderungsproblematik
0
1
2
3
9
trifft nicht zu (Zuwanderung nicht thematisiert)
In der Tendenz für Zuwanderungsbegrenzung / gegen mehr Zuwanderung
Keine eindeutige Tendenz / abwägend
In der Tendenz für die Öffnung von Deutschland als Zuwanderungsland
Sonstiges / Nicht entscheidbar
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
A08b
Tendenz bezogen auf Integrationsproblematik
0
1
2
3
9
trifft nicht zu (Integrationsproblematik nicht thematisiert)
In der Tendenz für Restriktionen gegen MigrantInnen / für Assimilation
Keine eindeutige Tendenz / abwägend
In der Tendenz für die Förderung von MigrantInnen / für Multikulturalität
Sonstiges / Nicht entscheidbar
2.
Kontexteinheit: Die Bewertung des Arguments
117
Die Variablen A09c bis A12c haben identische Codes, die hier nur einmal aufgeführt werden.
A..c
Bewertung
0
1
2
3
4
5
6
Keine Bewertung
eindeutig negative Bewertung
negative Bewertung mit kleiner Einschränkung
nicht eindeutig negativ oder positiv / ambivalent / abwägend
positive Bewertung mit kleiner Einschränkung
eindeutig positive Bewertung
grundsätzlich positive Bewertung der Tendenz, aber Kritik, daß nicht weitgehend
genug
A13
Bedeutung des Arguments im Artikel
0
1
2
völlig randständig / eher unwichtig
wichtig neben anderen, Teil einer größeren Argumentation
ein zentrales Argument des Artikels
3.3
CODEERLÄUTERUNGEN AUF ARGUMENT-EBENE
A.
Codiereinheit: Das Argument
A01
Artikel ID
9-stellige Nummer zur eindeutigen Identifikation jedes Artikels. Sie setzt sich
zusammen aus Zeitung (2, 7, 9), Jahr (01, 02), Monat (01...12), Tag (01...31) und
die laufende Artikel-Nr. (wird pro Ausgabe in Leserichtung gezählt). Die Artikel ID
wird aus der Codierung auf Artikel-Ebene übernommen. (Vgl. die Variable ART_ID)
A02
Argument-ID
01...n
Wird pro Artikel laufend numeriert. Dient vor allem in Kombination mit A01der
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
118
eindeutigen Numerierung aller Argumente. Ist zum Wiederfinden eines bestimmten
Arguments jedoch nur bedingt geeignet, da die Reihenfolge der Argumente nicht
immer eindeutig ist, da manche Argumente über den ganzen Artikel verteilt sein
können. Zum Wiederfinden von Argumenten im Text siehe A04a/b und A05a/b.
A04a
Forderung als Code
03
04
05
06
10
12
14
15
16
18
Diese Variable dient der Vereinfachung der Codierarbeit. Häufig vorkommende
Forderungen werden hier als Code eingegeben, statt sie in A04b als Kurztext
auszuformulieren. Die Variable A04b wird dann bei der Datenaufbereitung mit dem
Forderungstext des jeweiligen Codes aus A04a aufgefüllt. Wenn die zu codierende
Forderung nicht in der Liste der häufigen Forderungen enthalten ist, wird 99 codiert.
In diesem Fall muß die Forderung als Kurztext in A04b formuliert werden.
→ Wird codiert, wenn die Forderung nicht in der Liste der häufigen Forderungen
enthalten ist. (→ weiter mit A04b)
Liste der häufigen Forderungen (→ weiter mit A04c)
Das Zuwanderungs- und Ausländerrecht soll so gestaltet werden, wie der
vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung / von Schily vorsieht
Diskussionsgegenstand im Zuwanderungsdiskurs sind nicht ausschließlich die
Entwürfe der Bundesregierung zu einem Zuwanderungsgesetz, sondern die
Gestaltung des Zuwanderungs- und Ausländerrechts in Deutschland allgemein.
Deshalb stellen die Entwürfe der Bundesregierung bzw. von Innenminister Schily
eine Forderung (und damit ein Argument) dar, wie dieses Recht gestaltet werden
soll. Befürwortet oder kritisiert also jemand einen solchen Entwurf, muß zunächst
das Basisargument „Zuwanderungsgesetzentwurf“ codiert werden.
→ Wird codiert, wenn vom Zuwanderungsgesetz bzw. einem der vorliegenden
Gesetzentwürfe ganz allgemein die Rede ist, d.h. wenn es nicht um konkrete
Regelungen aus diesen Entwürfen geht.
Opfer von nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung sollen als
Flüchtling anerkannt werden
Die Aufenthaltsgenehmigung für anerkannte Asylberechtigte soll befristet werden
Es soll Flüchtlingskontingente für Kirchen-Asyl geben
Zuwanderung soll nach einem Punktesystem geregelt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 6 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 10 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 12 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 14 Jahre festgesetzt werden
Es soll eine Zuwanderer-Quote geben
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 16 Jahre festgesetzt werden
Das maximale Nachzugsalter für Kinder soll auf 18 Jahre festgesetzt werden
A04b
Forderung als Kurztext
99
01
02
Die Eintragung der wesentlichen Forderung als Kurztext ermöglicht (zusammen mit
A05a/b) das Wiederfinden eines Arguments im Text, so daß nachvollzogen werden
kann, welche Argumente in einem Artikel überhaupt identifiziert wurden. Zugleich
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
119
soll diese Variable dem Coder bei der eindeutigen Identifikation und Rekonstruktion
eines Arguments helfen und verhindern, daß im Laufe des Codierprozesses nicht
plötzlich versehentlich ein anderes Argument codiert wird, etwa weil dieses im Text
eng mit dem anderen verknüpft ist.
Diese Variable wird nur ausgefüllt, wenn in A04a 99 codiert wurde.
(Zur Unterscheidung von Forderung und Begründung siehe auch 3.4.5)
A04c
0
1
2
A05a
99
Implizite Forderung
Mit dieser Variable kann bei der Auswertung festgestellt werden, welche Rolle
Anspielungen bei politischen Diskussionen haben.
Außerdem trägt sie der Unsicherheit Rechnung, die mit den interpretativen Schritten
bei der Rekonstruktion von Argumentteilen (hier der Forderung) verbunden ist.
Die Forderung steht explizit im Text
→ Wird codiert, wenn ein Akteur explizit eine Aussage dazu macht, welche
Maßnahme in Bezug auf Zuwanderung und Ausländer durchgeführt werden soll,
also eine Forderung diesbezüglich aufstellt oder sich die eines anderen Akteurs zu
eigen macht, die dann in A04a/b codiert wurde. Dies gilt auch, wenn ein Akteur gar
nicht selbst spricht, sondern von einem anderen Akteur oder von der Quelle des
Beitrags referiert wird.
Die Forderung geht eindeutig aus der Formulierung der Begründung oder einer
anderen Aussage hervor
→ Wird codiert, wenn mit einer formal nicht als Forderung formulierten Aussage
eindeutig die Forderung impliziert ist, die in A04a/b codiert wurde.
Beispiel: „Die Bedingungen in den Unterkünften der Asylbewerber sind
menschenverachtend.“ Hier kann eindeutig die Forderung unterstellt werden: „Die
Bedingungen in den Unterkünften für Asylbewerber müssen verbessert werden.“
Die Forderung geht nicht eindeutig aus der Begründung oder anderen Äußerungen
des Argumenturhebers hervor, wird aber durch sie nahegelegt
→ Wird codiert, wenn die Aussagen im Artikel eine bestimmte Forderung
nahelegen, jedoch auch eine oder mehrere andere Forderungen denkbar wären und
daher keine völlige Eindeutigkeit darüber besteht, ob genau die in A04a/b codierte
Forderung zutrifft.
Begründung als Code
Diese Variable dient der Vereinfachung der Codierarbeit. Häufig vorkommende
Begründungen werden hier als Code eingegeben, statt sie in A05b als Kurztext
auszuformulieren. Die Variable A05b wird dann bei der Datenaufbereitung mit dem
Begründungstext des jeweiligen Codes aus A05a aufgefüllt. Wenn die zu
codierende Forderung nicht in der Liste der häufigen Forderungen enthalten ist, wird
99 codiert. In diesem Fall muß die Forderung als Kurztext in A05b formuliert werden.
→ Wird codiert, wenn eine Begründung vorliegt, diese aber nicht in der Liste der
häufigen Begründungen enthalten ist. (→ weiter mit A05b)
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
00
120
02
03
keine Begründung
→ Wird codiert, wenn eine Forderung nicht weiter begründet wird und eine konkrete
Begründung auch nicht aus dem Kontext erschlossen werden kann, entweder weil
es keine Anhaltspunkte für mögliche Begründungen gibt oder weil mehrere
Begründung plausibel wären. (→ weiter mit A06t)
Liste der häufigen Begründungen (→ weiter mit A05c)
Weil man in Übereinstimmung mit den Menschenrechten und anderen Grundwerten
handeln soll (humanitäre Gründe)
Weil dies der Wirtschaft nutzen würde (wirtschaftliche Gründe)
Weil dies bestimmten Personen bzw. Gruppen nutzen würde
A05b
Begründung als Kurztext
01
Die Eintragung der wesentlichen Begründung als Kurztext ermöglicht (zusammen
mit A04a/b) das Wiederfinden eines Arguments im Text, so daß nachvollzogen
werden kann, welche Argumente in einem Artikel überhaupt identifiziert wurden.
Zugleich soll diese Variable dem Coder bei der eindeutigen Identifikation und
Rekonstruktion eines Arguments helfen und verhindern, daß im Laufe des
Codierprozesses nicht plötzlich versehentlich ein anderes Argument codiert wird,
etwa weil dieses im Text eng mit dem anderen verknüpft ist.
Diese Variable wird nur ausgefüllt, wenn in A05a 99 codiert wurde.
Die Rekonstruktion der Begründung, insofern sie nicht explizit im Text steht, ist
anhand verschiedener Hinweise möglich (vgl. dazu die Ausprägungen von A05c)
Generell gilt, daß implizit rekonstruierte Begründungen möglichst allgemein gehalten
werden sollten. Wenn zum Beispiel Schily fordert, die Aufenthaltsgenehmigung für
anerkannte Asylberechtigte auf zwei Jahre zu befristen, so kann als implizite
Begründung codiert werden, daß dadurch die Belastung durch Asylberechtigte
reduziert werde, nicht aber daß dadurch die finanzielle Belastung reduziert werde,
da es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, warum nur oder insbesondere die finanzielle
Belastung gemeint sein sollte.
(Zur Unterscheidung von Forderung und Begründung siehe auch 3.4.5)
A05c
0
Implizite Begründung
Viele Forderungen werden von den Akteuren, die sie aufstellen, nicht begründet. Da
im Rahmen der Rekonstruktion eines Arguments in A04a/b und A05a/b versucht
wird, auch implizite Begründungen festzuhalten, muß hier festgehalten werden,
welchen Status die ggf. in A05a/b codierte Begründung hat. Die Variable gibt also
gewissermaßen an, wie zuverlässig die angegebene Begründung und damit auch
der codierte Topos ist.
Die Begründung steht explizit im Text
→ Wird codiert, wenn die Begründung in A05a/b nicht implizit rekonstruiert wurde,
sondern eindeutig vom Argumenturheber zum Ausdruck gebracht wird bzw. diesem
von einem anderen Akteur oder der Quelle des Artikels referiert wird.
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
1
2
3
4
5
A06t
121
Die Begründung wurde eindeutig anhand der Formulierung der Forderung
erschlossen
→ Wird codiert, wenn die Begründung zwar nicht als solche explizit im Text steht,
aber aus der Formulierung der Forderung eindeutig hervorgeht, so daß diese vom
Codierer implizit in A05a/b rekonstruiert werden konnte. (Beispiel: „Die
menschenunwürdigen Bedingungen der Abschiebeeinrichtungen müssen verbessert
werden.“ Hier ist die Begründung bereits implizit in der Forderung enthalten, denn
aus der Formulierung „menschenunwürdige Bedingungen“ wird deutlich, daß die
Forderung aus humanitären Gründen erfolgt.)
Die Begründung wurde durch die Formulierung der Forderung nahegelegt
→ Wird codiert, wenn die Begründung nicht als solche explizit im Text steht und
auch nicht eindeutig aus der Formulierung der Forderung hervorgeht, die Forderung
selbst aber die in A05a/b codierte Begründung nahelegt, d.h. daß diese Begründung
mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, wenngleich prinzipiell
vielleicht auch andere Begründungen denkbar wären.
Die Begründung wurde vom Codierer aus dem übrigen Artikel erschlossen
→ Wird codiert, wenn die Begründung nicht als solche explizit im Text steht und
auch nicht aus der Formulierung der Forderung erschlossen werden kann, sondern
erst anhand des restlichen Artikels erschlossen werden konnte. Weiteres Wissen
über den Zuwanderungsdiskurs und die dort vertretenen Positionen spielte dabei
allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle.
Die Begründung wurde aus dem diskursiven Kontext erschlossen
→ Wird codiert, wenn die Begründung nicht als solche explizit im Text steht und
auch nicht aus der Formulierung der Forderung oder dem restlichen Artikel
erschlossen werden kann, sondern erst anhand des diskursiven Kontextes, in dem
die Forderung steht. Bei der Rekonstruktion der Begründung wurde also auch das
Hintergrundwissen des Codierers über den größeren Diskussionszusammenhang
herangezogen.
Die Begründung wurde aus dem Status des Akteurs erschlossen
→ Wird codiert, wenn die Begründung nicht explizit im Text steht und auch nicht
aus der Formulierung der Forderung oder dem Kontext erschlossen werden kann,
sondern erst der Status des Argumenturhebers bzw. das allgemeine Wissen über
häufige Begründungsmuster dieses Akteurs Aufschluß über die (wahrscheinliche)
Begründung der Forderung gibt.
Topos/Schlußregel
Der Topos ist die Antwort auf die Frage nach der allgemeinen Norm, deren
Akzeptanz auch die Akzeptanz des Arguments wahrscheinlich macht, bzw. deren
Ablehnung die Akzeptanz des Arguments unwahrscheinlich macht. Der Topos stellt
eine verallgemeinerte Form der Begründung dar bzw. die Begründung schöpft ihre
Plausibilität aus der Gültigkeit des Topos, aus dem sie abgeleitet ist.
Der Topos ist zu verwechseln mit dem Motiv, das einen Akteur dazu bringt, das
Argument zu äußern.
Wenn keine Begründung codiert werden konnte. d.h. wenn völlig uneindeutig bleibt,
was der Forderung im Zweifel Plausibilität verleihen könnte, kann kein Topos codiert
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
122
werden (Code 00)
Codiertechnisch handelt es sich beim Topos um eine verallgemeinerte Form der
Begründung. Es wird also derjenige Topos aus der Liste der Topoi herausgesucht,
auf den die in A05a/b codierte Begründung implizit bezug nimmt bzw. dessen
Gültigkeit sie voraussetzt.
Anwendung der Topoi-Liste:
Bei der Anwendung der Liste ist zu beachten:
- Wenn ein Topos ausgewählt wurde, so muß noch überprüft werden, ob im
vorliegenden Fall nicht einer der zu diesem Topos angegebenen Spezialfälle
verwendet wurde, der dann statt der allgemeineren Version codiert werden
müßte. (Wenn z.B. der Gefahren-Topos als passender Topos entdeckt wurde,
ist sicherheitshalber nochmals zu prüfen, ob nicht eine spezielle Gefahr, z.B.
Fremdenfeindlichkeit thematisiert wird, so daß dann der FremdenfeindlichkeitsTopos zu codieren wäre.)
- Umgekehrt gilt, daß bei stark impliziten Begründungen (A05c=2,3 oder 4) keine
speziellen Topoi codiert werden dürfen, d.h. wenn der ausgewählte Topos in der
Liste als „Möglicher Spezialfall von ...“ klassifiziert ist, so sollte i.d.R. die
allgemeinere Version des Topos codiert werden. Lediglich wenn es klare
Hinweise darauf gibt, daß im vorliegenden Fall tatsächlich die spezielle Variante
zutrifft, kann auch die spezielle Version codiert werden.
- Außerdem enthält die Liste Abgrenzungen zu verwandten Topoi, so daß
überprüft werden kann, ob nicht ein ähnlicher Topos zutreffender ist.
- Kommen mehrere Topoi in Frage, muß der Topos gewählt werden, der näher
am kommunikativen Fokus des Arguments bzw. des Artikels liegt. Der
kommunikative Fokus ist jener Diskussionspunkt, der in einem Artikel bzw.
Argument im Vordergrund steht, um den es nach allgemeinem
Spachverständnis in einer Argumentation das primär geht.
00
01...n
99
A08a
nicht eindeutig zuordenbar
→ Wird codiert, wenn keine Begründung rekonstruiert werden konnte, so daß auch
kein Topos rekonstruiert werden kann, der ja eine verallgemeinerte Version der
Begründung darstellt.
→ Siehe Liste der Topoi
Sonstige
→ Diese Kategorie sollte eigentlich unbesetzt bleiben, da es möglich sein sollte, für
jede Begründung einen passenden Topos zu finden.
Tendenz bezogen auf Zuwanderungsproblematik
Die Zuwanderungsproblematik betrifft die Frage, ob und welche Menschen aus
anderen Ländern nach Deutschland einreisen dürfen, d.h. es geht darum, wie
Menschen behandelt werden sollen, die sich noch nicht in Deutschland aufhalten.
Hier wird codiert, ob sich das Argument eher für eine Erweiterung oder eher für eine
Begrenzung der Zuwanderung ausspricht. Die Tendenz ist relativ zum Status quo
bzw. zu den Forderungen anderer Akteure zu verstehen, auf die Bezug genommen
wird.
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
0
1
2
3
9
A08b
123
trifft nicht zu (Zuwanderung nicht thematisiert)
→ Wird codiert, wenn das Argument keine Forderung zur Zuwanderung enthält.
Wenn Zuwanderung thematisiert wird, aber die Tendenz nicht feststellbar ist, wird 9
codiert! (s.u.)
In der Tendenz für Zuwanderungsbegrenzung / gegen mehr Zuwanderung
→ Dies ist ggf. im konkreten Argumentationskontext relativ zu verstehen: d.h. für
mehr Begrenzung als im Status quo gegeben bzw. von anderen Akteuren
vorgeschlagen.
Keine eindeutige Tendenz / abwägend
→ Wird codiert, wenn das Argument sowohl Tendenzen für als auch gegen mehr
Zuwanderung enthält bzw. wenn gruppenspezifisch differenziert (z.B. weniger Asyl,
mehr Green Card) oder auch neutrale Formulierungen verwendet werden, die keine
eindeutige Tendenz im Argumentationskontext erkennen lassen (z.B. begrenzte
Zuwanderung / Zuwanderungssteuerung). Im Unterschied zu Code 9 sind also beide
Tendenzen explizit im Text erkennbar.
In der Tendenz für die Öffnung von Deutschland als Zuwanderungsland
→ Dies ist ggf. im konkreten Argumentationskontext relativ zu verstehen: d.h. für
weniger Begrenzung als im Status quo gegeben bzw. von anderen Akteuren
vorgeschlagen.
Sonstiges / Nicht entscheidbar
→ Wird codiert, wenn das Argument offensichtlich Aussagen zur
Zuwanderungsproblematik enthält bzw. impliziert, deren Tendenz jedoch nicht
eindeutig feststellbar ist. (z.B. wenn vom Gesetzesentwurf der Bundesregierung die
Rede ist, so ist bekannt, daß dieser Gesetzentwurf u.a. Zuwanderung regelt, die
Regelungen aber zu komplex sind, um ihnen insgesamt eine bestimmte Tendenz
zuzuordnen).
Tendenz bezogen auf Integrationsproblematik
Die Integrationsproblematik betrifft die Frage, wie die Menschen nicht-deutscher
Herkunft, die sich bereits in Deutschland aufhalten, behandelt werden sollen (Also
auch Fragen wie Abschiebung und Aufenthaltsgenemigung sowie Nachzugsalter für
Kinder, da dies nicht nur eine Zuwanderungsfrage ist, sondern auch ein Recht hier
Lebender Ausländer auf Familiennachzug.) Dies schließt die Frage mit ein, wer für
Integrationsprobleme verantwortlich gemacht werden soll bzw. von wem die
Anstrengungen zur Lösung dieser Probleme ausgehen soll.
Hier wird also codiert, ob sich das Argument eher dafür ausspricht, MigrantInnen
das Leben in Deutschland zu vereinfachen oder es zu erschweren. Die Forderung
nach Assimilation ist dabei grundsätzlich als eine Erschwernis zu verstehen, da eine
Anpassungsleistung gefordert wird. Die Forderung nach Multikulturalität stellt
entsprechend grundsätzlich eine Erleichterung für MigrantInnen dar. Argumente, die
nicht Erleichterung vs. Erschwernis für MigrantInnen thematisieren, sondern für die
deutsche Mehrheitsgesellschaft, sind entsprechend umgekehrt zu codieren.
Wichtig: Die Semantik in der öffentlichen Diskussion ist meist eine andere als die
hier verwendete: Dort wird selten von Assimilation gesprochen sondern meist von
Integration. Es ist daher wichtig zu beachten, ob Integration im jeweiligen Fall eher
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
0
1
2
3
9
2.
124
im Gegensatz zu Assimilation verwendet wird, oder mehr oder weniger als Synonym
für Assimilation.
trifft nicht zu (Integrationsproblematik nicht thematisiert)
→ Wird codiert, wenn das Argument keine Forderung zur Integrationsproblematik
enthält. Wenn Integration thematisiert wird, aber die Tendenz nicht feststellbar ist,
wird 9 codiert! (s.u.)
In der Tendenz für Restriktionen gegen in Deutschland lebende MigrantInnen / für
Assimilation
→ Dies ist ggf. im konkreten Argumentationskontext relativ zu verstehen: d.h. gegen
mehr Autonomie vom Minderheiten als im Status quo gegeben bzw. von anderen
Akteuren vorgeschlagen.
Keine eindeutige Tendenz / abwägend
→ Wird codiert, wenn das Argument sowohl Tendenzen zu Gunsten als auch zu
Lasten der zugewanderten Menschen enthält bzw. wenn gruppenspezifisch
differenziert (z.B. Sprachkurse als Pflicht, aber ohne Teilnahmegebühr) oder auch
neutrale Formulierungen verwendet werden, die keine eindeutige Tendenz im
Argumentationskontext erkennen lassen (z.B. „es soll Integrationsangebote geben“).
Im Unterschied zu Code 9 sind also beide Tendenzen explizit im Text erkennbar.
In der Tendenz für die Förderung von MigrantInnen / für Multikulturalität
→ Dies ist ggf. im konkreten Argumentationskontext relativ zu verstehen: d.h. für
mehr Autonomie vom Minderheiten als im Status quo gegeben bzw. von anderen
Akteuren vorgeschlagen.
Sonstiges / Nicht entscheidbar
→ Wird codiert, wenn das Argument offensichtlich Aussagen zur
Integrationsproblematik enthält bzw. impliziert, deren Tendenz jedoch wegen der
Komplexität oder des Abstraktionsgrads des Arguments oder wegen mangelnden
Wissens beim Codierer nicht eindeutig feststellbar ist. (z.B. wenn vom
Gesetzesentwurf der Bundesregierung die Rede ist, so ist bekannt, daß dieser
Gesetzentwurf u.a. Integration regelt, die Regelungen aber zu komplex sind, um
ihnen insgesamt eine bestimmte Tendenz zuzuordnen.)
Kontexteinheit: Die Bewertung des Arguments
Nachdem die Äußerung eines Akteurs als ein Argument codiert wurde („Wer fordert was auf
welcher normativen Grundlage?“), wird der gesamte Artikel nach Stellungnahmen zu diesem
Argument abgesucht. Jeder positive, negative oder neutrale bzw. abwägende Bezug auf das
soeben codierte Argument wird nachfolgend als eine Bewertung des Arguments codiert.
Es können bis zu vier Bewertungen des Arguments codiert werden. Wenn der Artikel mehr als
vier Bewertungen des Arguments enthält, werden die ersten drei und die letzte Bewertung
codiert, die eine Begründung enthält. Die letzte Bewertung ist die, deren Urheber zuletzt
genannt wird.
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
125
A..c
Bewertung
0
1
Keine Bewertung
eindeutig negative Bewertung
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand eindeutig negativ bewertet wird, d.h. daß
seitens des Bewerters keine Einschränkungen hinsichtlich dieser Bewertung vorgebracht
werden.
negative Bewertung mit kleiner Einschränkung
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand zwar negativ bewertet wird, diese
negative Bewertung aber mit einem oder mehreren Vorbehalten eingeschränkt wird, wenn
also auch etwas positives zugestanden wird.
nicht eindeutig negativ oder positiv / ambivalent / abwägend
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand weder positiv noch negativ bewertet
wird, sondern positive und negative Aspekte gegeneinander abgewogen werden und
letztlich keine Entscheidung für die eine oder andere Richtung getroffen wird.
positive Bewertung mit kleiner Einschränkung
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand zwar positiv bewertet wird, diese positive
Bewertung aber mit einem oder mehreren Vorbehalten eingeschränkt wird, wenn also auch
etwas negatives gesehen wird.
eindeutig positive Bewertung
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand eindeutig positiv bewertet wird, d.h. daß
seitens des Bewerters keine Einschränkungen hinsichtlich dieser Bewertung vorgebracht
werden.
grundsätzlich positive Bewertung der Tendenz, aber Kritik, daß nicht weitgehend genug
→ Wird codiert, wenn der Bewertungsgegenstand grundsätzlich positiv bewertet wird,
jedoch kritisiert wird, daß die Forderung nicht weit genug gehe. (z.B. Eine Maßnahme zur
Bekämpfung des Asylmißbrauchs wird begrüßt, jedoch kritisiert, daß sie nicht konsequent
gegen Asylbewerber vorgehe.)
2
3
4
5
6
A13
0
1
2
Bedeutung des Arguments im Artikel
Hier soll vom Coder eingeschätzt werden, wie zentral das Argument bezogen auf den
ganzen Artikel ist.
völlig randständig, eher unwichtig
→ Wird codiert, wenn das Argument weder 1 noch 2 codiert werden kann
wichtig neben anderen / Teil einer größeren Argumentation
→ Wird codiert, wenn das Argument nicht in Überschrift, Untertitel, Lead oder anderen
hervorgehobenen Elementen (Bilder, Grafiken...) erwähnt wird oder darauf bezug
genommen wird, das Argument aber trotzdem eine gewisse Bedeutung innerhalb des
Artikels hat, etwa als Antwort auf ein zentrales Argument oder als wichtiger Teil einer
umfangreicheren Argumentation. Das Argument könnte nicht ohne weiteres aus dem Artikel
weggekürzt werden.
ein zentrales Argument des Artikels
→ Wird codiert, wenn das Argument in Überschrift, Untertitel, Lead oder anderen
hervorgehobenen Elementen (Bilder, Grafiken...) erwähnt wird oder darauf bezug
genommen wird.
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
3.4
126
SONDERFÄLLE UND WEITERE ERLÄUTERUNGEN
1.1.1 Berichte über Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse
Wenn berichtet wird, daß ein Akteur A mit einer bestimmten Forderung in Verhandlungen mit
Akteur B gegangen ist und sich mit dieser Forderung in den Verhandlungen durchsetzen bzw.
nicht durchsetzen konnte, dann wird dieser Vorgang prinzipiell so codiert, als ob Akteur A seine
Forderung geäußert hätte und Akteur B ihm darin zugestimmt bzw. ihn darin kritisiert hätte.
3.4.2 Artikel ohne Argument
Enthält ein Artikel aus der Stichprobe kein einziges Argument (d.h. keine Forderung zur
Gestaltung des Zuwanderungs- und Ausländerrechts), so wird trotzdem ein Argument mit der
Argument-ID 00 (A02=00) codiert. Alle anderen Felder bleiben leer. Dies ermöglicht am Ende
die Überprüfung, ob auch alle Artikel durchgesehen wurden. Würde in einem „leeren“ Artikel
kein Argument codiert, würde auch die Artikel-ID nicht im Datensatz vorkommen.
3.4.3 Befürchtungen
Äußert ein Akteur Befürchtungen über negative Folgen, die eine geforderte Maßnahme haben
könnte, so stellen diese Befürchtungen eine oder ggf. mehrere Begründungen für die
Ablehnung dieser Maßnahme dar. Codiert werden also zunächst eine oder mehrere negative
Bewertungen im Kontext der ursprünglichen Forderung. Zusätzlich wird für jede begründete
Ablehnung ein entsprechendes Ablehnungsargument codiert.
Beispiel: „Die fortgeschrittenen Überlegungen des Innenministeriums zur Einrichtung von
Spezialunterkünften haben die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Elisabeth
Köhler, alarmiert. ‚Da sollen Abschiebe-Knäste entstehen‘, in die künftig auch Mütter mit ihren
Kindern, sowie Jugendliche eingewiesen werden, befürchtet die Abgeordnete. Bislang werden
in den Justizvollzugsanstalten nur Männer in Abschiebehaft genommen.“
Hier wird zunächst bei der Forderung des Innenministeriums nach Spezialunterkünften für
geduldete Flüchtlinge eine negative Bewertung codiert (Bewerter = 166,
Bewertungsgegenstand = 9, Bewertung = 1). Da die Ablehnung des Arguments begründet wird,
wird sie auch als eigenständiges Argument codiert. Hier ist dann die Forderung „Es sollen keine
Spezialunterkünfte für geduldete Flüchtlinge eingerichtet werden“ und die Begründung „Weil
dann auch Frauen und Kinder in Abschiebehaft genommen werden würden.“ usw.
3.4.4 Eine ‚Forderung‘ als Begründung für eine Ablehnung
Nicht immer stellen Aussagen, die als Forderung formuliert sind eine Forderung im Sinne dieser
Argument-Analyse dar. Wenn beispielsweise Argumentiert wird „Wir lehnen den Entwurf zum
Zuwanderungsgesetz in der vorliegenden Form ab, da wir schon immer eine Begrenzung der
Zuwanderung gefordert haben und dies auch in Zukunft tun“, so wird hier nicht „Begrenzung der
Zuwanderung“ als Forderung codiert, da hier nicht für eine Begrenzung sondern gegen das
Zuwanderungsgesetz argumentiert wird. Codiert wird zunächst die negative Bewertung des
Zuwanderungsgesetzes (vgl. 0) und dann in einem neuen Argument die Ablehnung des
Zuwanderungsgesetzes als Forderung und als Begründung etwa „Zuwanderungsbegrenzung ist
schon immer unsere Forderung gewesen“. Als Topos würde dann der Topos aus
Widerspruchsfreiheit codiert (Code 43).
Anhang A - Codebuch: Codierung auf Argument-Ebene
127
3.4.5 Die Unterscheidung von Forderung und Begründung
In der politischen Diskussion wird fast immer zweckrational argumentiert, d.h. geforderte
Maßnahmen werden vor allem damit begründet, daß sie geeignete Mittel seien, ein
übergeordnetes Ziel zu verwirklichen. Bei der Codierung der Argumente kann es deshalb
passieren, daß zunächst Unklarheit besteht, was die Forderung und was die Begründung ist,
denn die Verwirklichung des übergeordneten Ziels wird ja gewissermaßen auch gefordert. Bei
der Codierung der Forderung muß daher immer überprüft werden, ob es sich dabei um eine
aktuell strittige Maßnahme handelt, oder um ein übergeordnetes Ziel, über das eine gewisse
Einigkeit besteht, bzw. so getan wird, als ob diese Einigkeit bestünde. Wenn ein
übergeordnetes Ziel als Forderung codiert wurde, ist die Codierung falsch. Forderungen
müssen immer strittige Forderungen sein. Diese werden dann meist mit dem Verweis auf ein
übergeordnetes Ziel begründet.
Es gilt also:
Strittige Forderungen/Ziele/Maßnahmen sind als Forderungen zu codieren.
Relativ unstrittige Ziele/übergeordnete Ziele sind keine Forderungen, sondern dienen häufig als
Begründungen bzw. stellen den Topos dar, auf den sich die Begründung beruft und sind dann
entsprechend zu codieren.
Für die Unterscheidung ist der aktuelle Artikel maßgeblich, d.h. was in einem Artikel eher
unstrittig ist und als Begründung für eine strittige Forderung herangezogen wird, kann in einem
anderen Artikel selbst problematisiert und als strittige Forderung wiederum begründet werden.
Beispiel:
Artikel 1: „Es soll unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen für hochqualifizierte Arbeitskräfte
geben, damit Deutschland für sie attraktiver wird.“
Forderung: Unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen für hochqualifizierte Arbeitskräfte.
Begründung: Hochqualifizierte Arbeitskräfte sollen nach Deutschland kommen.
Artikel 2: „Hochqualifizierte Arbeitskräfte sollen nicht nach Deutschland kommen, da sie
deutschen Akademikern die Arbeitsplätze wegnehmen.“
Forderung: Hochqualifizierte Arbeitskräfte sollen nicht nach Deutschland kommen.
Begründung: Weil sie Arbeitsplätze wegnehmen.
Artikel 3: „Hochqualifizierte Arbeitskräfte sollen nach Deutschland kommen, weil die Wirtschaft
sie braucht“
Forderung: Hochqualifizierte Arbeitskräfte sollen nach Deutschland kommen.
Begründung: Weil die Wirtschaft sie braucht.
Anhang B - Liste der Topoi
128
Anhang B
Liste der Topoi
(Zur Codierung der Variable A06t)
Anhang B - Liste der Topoi
129
Inhaltsverzeichnis
(Code in V06t) Name des Topos
(01) entfällt*......................................................................................................................................... 130
(02) Der Ausbeutungs-Topos ................................................................................................................ 130
(03) Der Belastungs-Topos ................................................................................................................... 130
(04) Der Bürokratie-Topos* ................................................................................................................... 130
(05) Der Definitions-Topos.................................................................................................................... 130
(06) Der Demagogie-Topos .................................................................................................................. 130
(07) Der Demographie-Topos* .............................................................................................................. 130
(08) Der Demokratie-Topos* ................................................................................................................. 131
(09) Der Dezentralitäts-Topos* .............................................................................................................. 131
(10) Der Effizienz-Topos*...................................................................................................................... 131
(11) Der Emotions-Topos* .................................................................................................................... 131
(12) Der Entwicklungshilfe-Topos .......................................................................................................... 131
(13) Der Europa-Topos......................................................................................................................... 131
(14) Der Extremisten-Topos.................................................................................................................. 131
(15) Der Fortschritts-Topos*.................................................................................................................. 132
(16) Der Fremdenfeindlichkeits-Topos ................................................................................................... 132
(17) Der Finanz-Topos ......................................................................................................................... 132
(18) Der Gefahren-Topos ..................................................................................................................... 132
(19) Der Gerechtigkeits-Topos .............................................................................................................. 132
(20) Der Geschichts-Topos ................................................................................................................... 133
(21) Der Gesetzes-Topos ..................................................................................................................... 133
(22) Der Hierarchie-Topos* ................................................................................................................... 133
(23) Der Humanitäts-Topos................................................................................................................... 133
(24) Der Image-Topos .......................................................................................................................... 133
(25) Der Kriminalitäts-Topos ................................................................................................................. 133
(26) Der Kultur-Topos........................................................................................................................... 134
(27) Der Machbarkeits-Topos................................................................................................................ 134
(28) entfällt*......................................................................................................................................... 134
(29) Der Mißbrauchs-Topos .................................................................................................................. 134
(30) Der Topos vom menschlichen Nutzen ............................................................................................. 134
(31) Der Topos vom politischen Nutzen.................................................................................................. 135
(32) Der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen........................................................................................... 135
(33) Der Nutzlosigkeits-Topos ............................................................................................................... 135
(34) Der Realitäts-Topos ...................................................................................................................... 135
(35) Der Rechts-Topos ......................................................................................................................... 136
(36) Der Relativierungs-Topos .............................................................................................................. 136
(37) Der Topos der inneren Stabilität ..................................................................................................... 136
(38) Der Veränderungs-Topos* ............................................................................................................. 136
(39) Der Verantwortlichkeits-Topos........................................................................................................ 136
(40) Der Verlagerungs-Topos................................................................................................................ 137
(41) Der Verständnis-Topos.................................................................................................................. 137
(42) Der Vorurteils-Topos ..................................................................................................................... 137
(43) Der Topos aus der Widerspruchsfreiheit.......................................................................................... 137
* Die mit einem * gekennzeichneten Topoi wurden der Düsseldorfer Liste hinzugefügt
Anhang B - Liste der Topoi
130
(01) entfällt*
(02) Der Ausbeutungs-Topos
Wenn durch bestimmte Handlungen Menschen ausgenutzt und ausgebeutet werden, dann
sollten diese Handlungen unterbunden/ verhindert werden. (Spezialfall des Humanitäts-Topos)
(03) Der Belastungs-Topos
Wenn eine Person / eine Institution / ein Land mit bestimmten Problemen stark belastet oder
überlastet ist - oder Wenn eine solche Belastung droht, dann sollten Handlungen ausgeführt
werden, die diese Belastung vermindern bzw. verhindern. (Mögliche Spezialfälle:
Fremdenfeindlichkeits-Topos, Finanz-Topos, Mißbrauchs-Topos)
In normativer Weise wird von einem Grund (der Belastung) auf eine Folge (die Notwendigkeit
der die Belastung vermindernden Maßnahmen) geschlossen oder umgekehrt von der
befürchteten Folge (der Belastung) auf die Notwendigkeit der Verhinderung ihres Grundes.
(04) Der Bürokratie-Topos*
Wenn eine Entscheidung/Handlung mit einer Reduzierung des bürokratischen Aufwandes
verbunden ist, dann soll diese Entscheidung getroffen / diese Handlung durchgeführt werden,
bzw. wenn dies nicht der Fall ist, dann sollte die Handlung nicht ausgeführt / die Entscheidung
nicht getroffen werden. (Möglich als Spezialfall des Topos vom wirtschaftlichen Nutzen, des
Fortschritts-Topos, des Effizienz-Topos)
(05) Der Definitions-Topos
Wenn für ein Wort eine bestimmte Definition gilt oder unterstellt wird, dann sollen daraus die
dieser Definition enstprechenden Folgerungen gezogen/Handlungen abgeleitet werden.
Mit diesem Topos kann z.B. aus der unterstellten Bedeutung von Gastarbeiter abgeleitet
werden, daß diese nach einer gewissen Zeit ihres „Gast“-Aufenthaltes wieder zurückzukehren
haben oder als "Gast" freundlich zu behandeln sind. Oder es können aus einem bestimmten
Verständnis von Integration oder politischer Verfolgung, das ausgeführt oder unterstellt wird,
Schlußfolgerungen gezogen werden.
(06) Der Demagogie-Topos
Wenn politisch Verantwortliche ein Problem erst herbeigeredet haben, ist eine Stimmung in der
Bevölkerung entstanden, die nun zur Rechtfertigung bestimmter
Entscheidungen/Handlungen/Maßnahmen herangezogen wird. Daher muß über das Thema
anders geredet werden, wodurch sich auch die öffentliche Stimmung ändert und andere
Maßnahmen bzw. Entscheidungen getroffen werden können bzw. keine neuen
Maßnahmen/Entscheidungen getroffen werden brauchen.
(07) Der Demographie-Topos*
Wenn die demographische Entwicklung einer Gesellschaft eine Maßnahme / eine Entscheidung
nahelegt, dann soll diese Maßnahme durchgeführt / diese Entscheidung gefällt werden.
(Möglich als Spezialfall des Topos vom wirtschaftlichen Nutzen)
Anhang B - Liste der Topoi
131
(08) Der Demokratie-Topos*
Wenn etwas den Werten der Demokratie entspricht oder der Demokratie dienlich ist, dann
sollen bestimmte Entscheidungen getroffen / bestimmte Handlungen ausgeführt werden, bzw.
wenn dies nicht der Fall ist, dann sollen bestimmte Entscheidungen nicht getroffen / bestimmte
Handlungen nicht ausgeführt werden. (Möglich als Spezialfall des Topos vom politischen
Nutzen)
(09) Der Dezentralitäts-Topos*
Wenn Entscheidungen auf niedrigerer / dezentraler Ebene gefällt werden können / wenn
Probleme auf niedrigerer / dezentraler Ebene gelöst werden können, dann sollen diese
Entscheidungen nicht an zentraler Stelle gefällt / diese Probleme nicht an zentraler Stelle gelöst
werden.
(10) Der Effizienz-Topos*
Wenn eine Entscheidung/Handlung effizient umgesetzt werden kann oder durch eine
Entscheidung/Handlung andere Prozesse effektiver gestaltet werden können, dann sollte diese
Entscheidung getroffen / diese Handlung durchgeführt werden bzw. wenn dies nicht der Fall ist,
dann sollte die Handlung nicht ausgeführt / die Entscheidung nicht getroffen werden. (Mögliche
Spezialfälle: Bürokratie-Topos. Möglicher Spezialfall des Fortschritts-Topos)
(11) Der Emotions-Topos*
Wenn eine Handlung/eine Entscheidung eng mit einer bestimmten Emotion verbunden ist oder
eine bestimmte Emotion fördert/hemmt, dann soll diese Handlung (nicht) ausgeführt / diese
Entscheidung (nicht) getroffen werden.
Im Unterschied zum den meisten anderen inhaltlichen Topoi, mit denen ja auch positive (z.B.
Fortschritts-Topos, Nutzen-Topoi) oder negative Emotionen (z.B. Gefahren-Topos,
Kriminalitäts-Topos) verbunden sein können, stehen beim Emontionstopos die Emotionen stark
im Vordergrund, d.h. das Ziel ist die Herstellung oder Vermeidung dieser Emotionen bzw. die
Ursache liegt in einem bestimmten emotionalen Zustand.
(12) Der Entwicklungshilfe-Topos
Wenn bestimmte Entscheidungen/Handlungen der wirtschaftlichen Entwicklung in den
Herkunftsländern der Zuwanderer nutzen/nicht nutzen, dann sollten diese Entscheidungen
getroffen/diese Handlungen ausgeführt werden. (Möglicher Spezialfall der Nutzen-Topoi)
Im Unterschied zum Verlagerungs-Topos wird die Verlagerung der Arbeitsplätzen nicht wegen
des Fortbleibens der ausländischen Arbeiter, sondern wegen der entwicklungspolitischen
Wirkungen in den Herkunftsländern befürwortet.
(13) Der Europa-Topos
Wenn etwas der Idee und Praxis der europäischen Vereinigung (nicht) förderlich ist oder auf der
Ebene der EU (nicht) gewollt ist, dann sollten bestimmte Handlungen (nicht) ausgeführt werden.
(14) Der Extremisten-Topos
Wenn eine Entscheidung/ eine Handlung dem Programm einer extremistischen Partei
entspricht, nützt sie dieser Partei, gefährdet somit langfristig das demokratische System und ist
daher abzulehnen. (Möglicher Spezialfall des Gefahren-Topos und des Topos vom politischen
Nutzen)
Anhang B - Liste der Topoi
132
(15) Der Fortschritts-Topos*
Wenn eine Maßnahme / Handlung (nicht) modern / fortschrittlich ist oder zur Modernisierung /
zum Fortschritt von etwas beiträgt, dann soll diese Maßnahme / Handlung (nicht) durchgeführt
werden. (Mögliche Spezialfälle: Effizienz-Topos, Bürokratie-Topos)
Im Unterschied zu den Nutzen-Topoi wird im Fortschritts-Topos keine spezifischer Nutzen
angesprochen sondern lediglich abstrakt Fortschritt oder Modernität behauptet.
(16) Der Fremdenfeindlichkeits-Topos
Wenn bestimmte Handlungen/Entscheidungen/Entwicklungen die Ablehnung der „Fremden“ in
der „einheimischen“ Bevölkerung fördern, dann sollten sie nicht ausgeführt/nicht getroffen/sollte
ihnen entgegengewirkt werden. (Möglich als Spezialfall des Gefahren-Topos, sowie des
Belastungs-Topos)
Dieser Topos wird auch codiert, wenn es um die Förderung der Weltoffenheit Deutschlands
bzw. der deutschen Gesellschaft geht.
(17) Der Finanz-Topos
Wenn etwas viel/ wenig Geld kostet, dann empfehlen sich Handlungen, durch die sich das
investierte Geld rentiert/ sollten Handlungen ausgeführt werden, die die Kosten verringern /
brauchen keine Handlungen ausgeführt werden, die die Kosten verringern. (Möglich als
Spezialfall des Belastungs-Topos, sowie des Topos vom wirtschaftlichen Nutzen)
(18) Der Gefahren-Topos
Wenn eine politische Handlung / Entscheidung bestimmte gefährliche Folgen hat, dann sollte
sie nicht ausgeführt werden / ist sie abzulehnen. (Mögliche Spezialfälle: Extremisten-Topos,
Fremdenfeindlichkeits-Topos, Topos von der inneren Stabilität)
Im Unterschied zu den Nutzen-Topoi, die mit erwarteten negativen Folgen argumentieren, die
also keinen Nutzen, sondern einen Schaden z.B. aus einer bestimmten Handlung als Grund
dafür nehmen, diese abzulehnen, werden beim Gefahren-Topos besonders drastische Folgen
geschildert, während es bei den Nutzen-Topoi eher um die Vermeidung von Fehlern und
Fehlentwicklungen geht. Moderate Formulierungen negativer solcher Folgen (die verhindert
werden sollen) werden also den Nutzen-Topoi, drastischere Folgen-Ausmalungen dem
Gefahren-Topos zugeordnet. Ein Indiz für diese Zuordnung kann das Vorkommen der Wörter
Gefahr und Katastrophe und ihrer Ableitungen sein.
(19) Der Gerechtigkeits-Topos
Wenn Personen / Handlungen / Situationen in relevanter Hinsicht gleich oder ähnlich sind, dann
sollten sie gleich behandelt werden. (Gleiches Recht für alle. Wie du mir, so ich dir.) (Möglicher
Spezialfall des Humanitäts-Topos)
Wenn es darum geht, durch rechtliche Regelungen Gerechtigkeit herzustellen bzw.
Gerechtigkeit dadurch erzielt wird, daß man sich an geltendes Recht hält, werden nicht der
Rechts-Topos und auch nicht der Gesetzes-Topos codiert, sondern immer der GerechtigkeitsTopos.
In Abgrenzung zum Topos aus der Widerspruchsfreiheit betont der Gerechtigkeits-Topos, daß
die geforderten Handlungen oder Entscheidungen der Norm der Gerechtigkeit entsprechen,
während der Topos aus der Widerspruchsfreiheit sich auf die Stimmigkeit der Argumentation
eines Akteurs bezieht.
Anhang B - Liste der Topoi
133
(20) Der Geschichts-Topos
Wenn die Geschichte lehrt, daß bestimmte Handlungen bestimmte Folgen haben, dann sollte
die anstehende Handlung (von der unterstellt wird, daß sie in relevanter Hinsicht dem aus der
Geschichte entnommenen Beispiel gleich ist) ausgeführt / nicht ausgeführt werden.
(21) Der Gesetzes-Topos
Wenn ein Gesetz oder eine anderweitig kodifizierte Norm (auch Kirchenrecht) oder eine
gerichtliche Entscheidung eine bestimmte Handlung vorschreibt bzw. nahelegt / verbietet, dann
sollte diese ausgeführt / nicht ausgeführt werden.
Entscheidend bei der Verwendung dieses juristisch argumentierenden Topos ist, daß das
entsprechende Gesetz explizit genannt wird bzw. aus dem Kontext klar wird, auf welches
Gesetz oder welche Gerichtsentscheidung sich berufen wird. Demgegenüber wird die
allgemeine Berufung darauf, daß man sich an Gesetze bzw. die Rechtsnormen halten solle, als
Rechts-Topos gewertet und die allgemeine Berufung auf die Idee der Menschenrechte als
Variante des Humanitäts-Topos aufgefaßt.
Wenn es darum geht, durch Gesetze Gerechtigkeit herzustellen bzw. Gerechtigkeit dadurch
erzielt wird, daß man sich an geltende Gesetze hält, wird nicht der Gesetzes-Topos codiert,
sondern immer der Gerechtigkeits-Topos.
(22) Der Hierarchie-Topos*
Wenn bestimmte Entscheidungen / Probleme von entsprechender Wichtigkeit sind, dann sollen
sie an der Spitze einer Hierarchie / an zentraler Stelle gefällt / gelöst werden.
(23) Der Humanitäts-Topos
Wenn eine Entscheidung / Handlung oder deren Folgen mit den Menschenrechten
übereinstimmen / ihnen entgegenstehen bzw. aus humanitären Überlegungen geboten /
abzulehnen sind, ist die Entscheidung / Handlung zu befürworten / abzulehnen bzw.
auszuführen / nicht auszuführen. (Mögliche Spezialfälle: Ausbeutungs-Topos,
Verantwortlichkeits-Topos, Gerechtigkeits-Topos, Topos aus der Widerspruchsfreiheit)
Im Unterschied zum Topos vom menschlichen Nutzen steht hier das Motiv für die Handlung /
Entscheidung im Vordergrund, nämlich ihre Übereinstimmung mit Grundwerten oder den
Menschenrechten. Beim Topos vom menschlichen Nutzen steht der Nutzen für die einzelnen
Individuen im Vordergrund, also die erwartete Folge einer Handlung.
(24) Der Image-Topos
Wenn eine politische Handlung dazu führt, daß das Ausland positiv über Deutschland denkt,
soll diese Handlung ausgeführt werden bzw. wenn dies nicht der Fall ist, nicht
ausgeführt/verhindert werden.
Der Image-Topos schlägt alle anderen inhaltlichen Topoi, da der letztliche Grund im ImageGewinn liegt, und nicht beipielsweise in der Humanität, die mit den geforderten Maßnahmen
verbunden sein könnte. Wird also z.B. die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit aus ImageGründen gefordert, wird nicht der Fremdenfeindlichkeits-Topos, sondern der Image-Topos
codiert.
(25) Der Kriminalitäts-Topos
Wenn Menschen kriminelle Handlungen (nicht) begehen, dadurch andere Menschen (nicht)
bedrohen oder die innere Sicherheit eines Gebietes/ eines Landes (nicht) gefährden, dann
sollten (brauchen keine) Maßnahmen ergriffen werden, die zur Unterlassung dieser Handlungen
Anhang B - Liste der Topoi
134
führen oder den entprechenden Menschen bzw. den Menschengruppen, zu denen sie gehören,
den Aufenthalt unmöglich machen. (Möglicher Spezialfall des Realitäts-Topos)
(26) Der Kultur-Topos
Wenn Menschen bestimmte ethnisch-kulturell geprägte Eigenschaften bzw. Mentalitäten haben,
gibt es bestimmte beklagens- oder begrüßenswerte Zustände, die jeweils verändert oder
gefördert werden sollen, und / oder wenn politische Handlungen bestimmte ethnisch-kulturell zu
fassende Auswirkungen haben, dann sollten sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden.
(Mögliche Spezialfall: Verständigungs-Topos)
Der Kultur-Topos könnte in seiner Verwendung gegen Zuwanderung auch als ÜberfremdungsTopos bezeichnet werden bzw. in seiner Verwendung für Zuwanderung als Multikulti-Topos
Der Unterschied zum Vorurteils-Topos liegt darin, daß dieser auf einer Meta-Ebene angesiedelt
ist, indem er die Probleme thematisiert, die von Vorurteilen (nicht von Kultur) ausgehen.
(27) Der Machbarkeits-Topos
Wenn ein bestimmtes Ziel/ eine Forderung praktisch (nicht) durchführbar/ (nicht) umsetzbar ist
oder aus politischen Gründen (nicht) durchsetzbar ist, dann sollte dieses Ziel/ diese Forderung
vertreten/ aufgegeben werden.
(28) entfällt*
(29) Der Mißbrauchs-Topos
Wenn ein Recht / ein Hilfsangebot o. ä. mißbraucht wird, dann sollte das Recht geändert / die
Hilfe gestrichen oder gekürzt werden bzw. es sollten bestimmte Maßnahmen gegen den
Mißbrauch durchgeführt werden. (Möglicher Spezialfall des Realitäts-Topos,sowie des
Belastungs-Topos)
(30) Der Topos vom menschlichen Nutzen
Wenn eine Handlung für einzelne Menschen oder Gruppen bzw. für das Verhältnis zwischen
diesen einen / keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht
ausgeführt werden. (Möglicher Spezialfall: Entwicklungshilfe-Topos)
Im Unterschied zum Humanitäts-Topos steht hier der Nutzen für die einzelnen Individuen im
Vordergrund, also die erwartete Folge einer Handlung. Der Humanitäts-Topos dagegen soll
Argumente erfassen, die das Motiv der Handlung, nämlich ihre Übereinstimmung mit
Grundwerten oder Menschenrechten, beinhalten.
Insbesondere wenn es um den Arbeitsmarkt geht, liegt der Unterschied zum Topos vom
wirtschaflichen Nutzen darin, daß hier nicht die Anforderungen der Wirtschaft im Vordergrund
stehen, sondern der Nutzen für einzelne Menschen. („Karl-Heinz würde endlich Arbeit finden“)
Im Unterschied zum Topos vom politischen Nutzen wird hier nicht die Lösung eines politischen
Problems betont, sondern der Nutzen für einzelne Menschen.
Wenn der Nutzen darin besteht, negative Folgen abzuwenden, besteht der Unterschied zum
Gefahren-Topos darin, daß beim Gefahren-Topos besonders drastische Folgen geschildert
werden, während es bei den Nutzen-Topoi eher um die Vermeidung von Fehlern und
Fehlentwicklungen geht. Moderate Formulierungen negativer solcher Folgen (die verhindert
werden sollen) werden also den Nutzen-Topoi, drastischere Folgen-Ausmalungen dem
Gefahren-Topos zugeordnet. Ein Indiz für die Zuordnung zum Gefahren-Topos kann das
Vorkommen der Wörter Gefahr und Katastrophe und ihrer Ableitungen sein.
Anhang B - Liste der Topoi
135
(31) Der Topos vom politischen Nutzen
Wenn eine Handlung unter politischen Gesichtspunkten, für einen Staat/ ein Gemeinwesen
einen / keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt
werden. (Mögliche Spezialfälle: Demokratie-Topos, Entwicklungshilfe-Topos, ExtremistenTopos)
Insbesondere wenn es um den Arbeitsmarkt geht, liegt der Unterschied zum Topos vom
wirtschaflichen Nutzen darin, daß hier nicht die Anforderungen der Wirtschaft im Vordergrund
stehen, sondern die Lösung eines politischen Problems (Arbeitslosigkeit). Im Unterschied zum
Topos vom menschlichen Nutzen wird hier nicht der Nutzen für einzelne Menschen betont
(„Karl-Heinz würde endlich Arbeit finden“), sondern die Lösung des politischen Problems der
Arbeitslosigkeit.
Wenn der Nutzen darin besteht, negative Folgen abzuwenden, besteht der Unterschied zum
Gefahren-Topos darin, daß beim Gefahren-Topos besonders drastische Folgen geschildert
werden, während es bei den Nutzen-Topoi eher um die Vermeidung von Fehlern und
Fehlentwicklungen geht. Moderate Formulierungen negativer solcher Folgen (die verhindert
werden sollen) werden also den Nutzen-Topoi, drastischere Folgen-Ausmalungen dem
Gefahren-Topos zugeordnet. Ein Indiz für die Zuordnung zum Gefahren-Topos kann das
Vorkommen der Wörter Gefahr und Katastrophe und ihrer Ableitungen sein.
(32) Der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen
Wenn eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen / keinen Nutzen bzw.
Schaden erbringt, dann sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden. (Mögliche Spezialfälle:
Demographie-Topos, Finanz-Topos, Entwicklungshilfe-Topos)
Wenn der wirtschaftliche Nutzen eindeutig als finanzieller Nutzen z.B. für einen Betrieb oder für
die Sozialversicherungssysteme angegeben wird, wird der Finanz-Topos codiert.
Insbesondere wenn es um den Arbeitsmarkt geht, ist der Unterschied zum zum Topos vom
menschlichen Nutzen hervorzuheben: Beim Topos vom wirtschaftlichen Nutzen wird nicht der
Nutzen für einzelne Menschen betont („Karl-Heinz würde endlich Arbeit finden“), sondern der
Markt als ganzer steht in Vordergrund. Und im Unterschied zum Topos vom politischen Nutzen
steht hier nicht die Lösung eines politischen Problems (Arbeitslosigkeit) im Vordergrund,
sondern die Anforderungen der Wirtschaft, also der Arbeitgeber und/oder Arbeitnehmer.
Wenn der Nutzen darin besteht, negative Folgen abzuwenden, besteht der Unterschied zum
Gefahren-Topos darin, daß beim Gefahren-Topos besonders drastische Folgen geschildert
werden, während es bei den Nutzen-Topoi eher um die Vermeidung von Fehlern und
Fehlentwicklungen geht. Moderate Formulierungen negativer solcher Folgen (die verhindert
werden sollen) werden also den Nutzen-Topoi, drastischere Folgen-Ausmalungen dem
Gefahren-Topos zugeordnet. Ein Indiz für die Zuordnung zum Gefahren-Topos kann das
Vorkommen der Wörter Gefahr und Katastrophe und ihrer Ableitungen sein.
(33) Der Nutzlosigkeits-Topos
Wenn es abzusehen ist, daß prognostizierte / erwartete Folgen einer Entscheidung oder
Handlung nicht eintreten oder wenn andere politische Handlungen dem erklärten Ziel eher
dienen, ist die Entscheidung abzulehnen, bzw. wenn bestehende Regelungen den erklärten
Zielen nicht genutzt haben, sind sie zu ändern.
(34) Der Realitäts-Topos
Wenn die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, dann sollte eine bestimmte Handlung / Entscheidung
ausgeführt / getroffen bzw. nicht ausgeführt / nicht getroffen werden. (Mögliche Spezialfälle:
Kriminalitäts-Topos, Belastungs-Topos, Mißbrauchs-Topos, Veränderungs-Topos)
Anhang B - Liste der Topoi
136
Die bestehende Realität wird als Grund dafür angeführt, daß bestimmte Maßnahmen
durchgeführt, Entscheidungen getroffen oder Handlungen ausgeführt werden sollten. Dabei
wird mehr oder weniger explizit definiert, wie aus Sprechersicht die Wirklichkeit ist, oder seine
Sichtweise der Realität wird stillschweigend als "die Realität" vorausgesetzt. Daraus wird dann
die eigene Konklusion abgeleitet. In der Funktion von Gegenargumenten wird mehr oder
weniger explizit gesagt, daß die Realität anders sei, als vom Proponenten behauptet oder
unterstellt. Prototypisch für die Einwanderungsdiskussion ist die folgende Realisierung: Die
Realität sei, daß Deutschland (k)ein Einwanderungsland sei, und daher müßten bestimmte
politische Folgerungen gezogen werden.
(35) Der Rechts-Topos
Wenn wir uns an die Gesetze/ das bestehende/ kodifizierte Recht halten sollten, dann ist eine
Entscheidung/ Handlung zu befürworten/ abzulehnen.
Im Unterschied zum Gesetzes-Topos sind hier solche Äußerungen gemeint, in denen das
konkrete Gesetz oder die Gerichtsentscheidung nicht explizit genannt werden, sondern in
denen allgemein auf rechtliche Kodifizierungen, auf „die Verfassung“, „die Rechtsordnung“, „die
Gesetze“ verwiesen wird
(36) Der Relativierungs-Topos
Wenn die vorgebrachten Zahlen/Argumente, wenn sie in andere Relationen gesetzt werden, ein
anderes Bild der Wirklichkeit vermitteln und andere, gegenteilige Schlußfolgerungen nahelegen,
dann sollte auf eine bestimmte Handlung/ Entscheidung verzichtet bzw. eine andere
durchgeführt/ beschlossen werden.
Dieser Topos wird vor allem in Gegenargumenten verwendet, d.h. das Argument des Gegners
wird abgeschwächt indem es relativiert wird.
(37) Der Topos der inneren Stabilität
Wenn die Stabilität des Staates, die innere Sicherheit, der gesellschaftliche Frieden gefährdet
ist, müssen bestimmte Entscheidungen/ Handlungen getroffen/ ausgeführt werden. (Möglicher
Spezialfall des Gefahren-Topos)
Wird codiert, wenn eine Gefahr / ein Problem als so groß beschrieben wird, daß sie die innere
Stabilität der Bundesrepublik gefährdet. Dazu gehört auch die Gefahr, daß das Vertrauen der
Menschen in den Staat und staatliche Institutionen schwindet.
(38) Der Veränderungs-Topos*
Wenn die Realität sich verändert bzw. verändern könnte, dann sind ggf. andere Maßnahmen
nötig als vorher und diese sollen deshalb durchgeführt werden/ermöglicht werden. (Möglicher
Spezialfall des Realitäts-Topos)
(39) Der Verantwortlichkeits-Topos
Wenn ein Land / eine Gruppe / eine Person (mit)verantwortlich ist für die Entstehung von
Problemen, dann sollte es / sie sich an der Lösung der so entstandenen Probleme beteiligen.
(Möglicher Spezialfall des Humanitäts-Topos)
Wird auch codiert, wenn beispielsweise der Staat für die Lösung bestimmter Probleme
verantwortlich gemacht wird, auch wenn er sie vielleicht nicht selbst verursacht hat.
Anhang B - Liste der Topoi
137
(40) Der Verlagerungs-Topos
Wenn die Menschen einwandern, um Arbeit und Verdienst zu finden, dann sollten Arbeitsplätze
in die Herkunftsländer der Zuwanderer „verlagert“ werden, „die Maschinen zu den Menschen
und nicht die Menschen zu den Maschinen gebracht werden“, um die Zahl der Zuwandernden
zu begrenzen.
Im Unterschied zum Entwicklungshilfe-Topos wird die Verlagerung der Arbeitsplätze nicht
wegen der entwicklungspolitischen Wirkungen in den Herkunftsländern befürwortet, sondern
wegen des Fortbleibens der ausländischen Arbeiter.
(41) Der Verständnis-Topos
Wenn Einheimische und Zuwanderer sich besser kennenlernen und mehr Verständnis
füreinander aufbringen, können die mit Zuwanderung und Integration verbundenen Probleme
und Konflikte gelöst werden. (Möglicher Spezialfall des Kultur-Topos)
(42) Der Vorurteils-Topos
Wenn Vorurteile gegen bestimmte Gruppen/ Handlungen bestehen, gibt es ein bestimmtes
Problem. Wenn solche Vorurteile beibehalten/ aufgegeben werden, kann das Problem (nicht)
gelöst werden.
Im Unterschied zum Kultur-Topos, der auch Vorurteile behandeln kann, ist der Vorurteils-Topos
auf einer Meta-Ebene angesiedelt, indem er die Probleme thematisiert, die von Vorurteilen
(nicht von Kultur) ausgehen.
(43) Der Topos aus der Widerspruchsfreiheit
Wenn eine Gruppe oder Person in der Vergangenheit eine bestimmte Position vertreten hat/ in
bestimmter Weise gehandelt hat oder wenn sie in der Gegenwart bestimmte Positionen vertritt,
dann sollte sie in vergleichbaren Fragen auch aktuell diese Position einnehmen/ diese
Handlung ausführen bzw. die den Positionen entsprechenden Handlungen ausführen.
(Möglicher Spezialfall des Humanitäts-Topos)
Im Unterschied zu den anderen inhaltlichen Topoi wird hier nicht auf inhaltliche Gründe
rekurriert sondern auf die Logik der Argumentation des Gegners (oder auch der eigenen). Eine
Position, die man früher vertreten hat, sollte man auch heute vertreten. In Abgrenzung zum
Gerechtigkeits-Topos betont der Topos aus der Widerspruchsfreiheit die Stimmigkeit der
Argumentation eines Akteurs, während der Gerechtigkeits-Topos aus der Gerechtigkeit von
Maßnahmen argumentiert. Dies kann sogar das Abweichen eines Akteurs von früheren
Positionen bedeuten.
Anhang C - Tabellen
138
Anhang C
Tabellen zu Kap. 5.5:
5.5: Ergebnisse
Tabelle A 1:
Argumentdichte sowie mittlere Artikelgröße und
Argumentzahl je Zeitung
Zeitung
SZ
Tagesspiegel
Bild
Mittlere Artikelgröße
(Anteil an einer Seite)
,18
,12
,07
Durchschnittliche
Zahl der Argumente
pro Artikel
8,6
5,9
4,4
Argumentdichte
(Zahl der Argumente
pro Seite)*
58
79
64
*. Hochrechnung der Argumentzahl jedes einzelnen Artikels auf eine
ganze Seite und anschließende Mittelwertbildung
Tabelle A 2:
Anteil der Argumente mit expliziter bzw. implizit rekonstruierter
Begründung
Zeitung
SZ
Tagesspiegel
Gesamt
Bild
n=189
47,6%
n=124
37,1%
n=35
22,9%
n=348
41,4%
eindeutig rekonstruiertb
12,7%
14,5%
17,1%
13,8%
c
12,2%
7,3%
8,6%
10,1%
2,6%
1,6%
8,6%
2,9%
diskursiver Kontext
10,6%
21,0%
20,0%
15,2%
keine Begründung
14,3%
18,5%
22,9%
16,7%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
a
explizit
nahegelegt
d
Artikel
e
Gesamt
a. Die Begründung steht explizit im Text
b. Die Begründung konnte eindeutig anhand der Formulierung der Forderung
rekonstruiert werden.
c. Die Begründung wurde durch die Formulierung der Forderung nahegelegt
d. Die Begründung wurde anhand anderer Aussagen im Artikel rekonstruiert
e.
Die Begründung wurden anhand von Wissen über den diskursiven Kontext erschossen.
Anhang C - Tabellen
139
Tabellen zu Kap. 5.5.2:
5.5.2: Integration: Übereinstimmende Verwendung
von Topoi
Tabelle A 3:
Korrelationen der Toposhäufigkeiten (Toposrelevanz1)
SZ
SZ
Korrelation (r)
Signifikanz
,370*
,040
,
,002
31
31
Korrelation (r)
,524**
1
,758**
Signifikanz
,002
,
,000
31
31
31
Korrelation (r)
,370*
,758**
1
Signifikanz
,040
,000
,
31
31
31
N
BILD
BILD
,524**
31
N
TGSP
TGSP
1
N
**. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
*. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.
Tabelle A 4:
Korrelationen der gewichteten Bedeutung (Toposrelevanz2)
SZ
SZ
,515**
,372*
Signifikanz
,
,003
,039
31
31
31
Korrelation (r)
,515**
1
,763**
Signifikanz
,003
,
,000
31
31
31
Korrelation (r)
,372*
,763**
1
Signifikanz
,039
,000
,
31
31
31
N
BILD
BILD
1
N
TGSP
TGSP
Korrelation (r)
N
**. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
*. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.
Tabelle A 5:
Korrelationen des Toposrelevanz3
SZ
SZ
,586**
,188
Signifikanz
,
,001
,312
31
31
31
Korrelation (r)
,586**
1
,513**
Signifikanz
,001
,
,003
31
31
31
1
N
BILD
BILD
1
N
TGSP
TGSP
Korrelation (r)
Korrelation (r)
,188
,513**
Signifikanz
,312
,003
,
31
31
31
N
**. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
Anhang C - Tabellen
140
Tabellen zu Kap 5.5.3:
5.5.3: Exkurs: Wie werden die Topoi interpretiert?
Tabelle A 6:
Mittlere Argumenttendenzen bezogen auf Zuwanderung bzw. Integration
Zeitung
SZ
Tendenz
bezogen auf
Zuwanderung
Topos
Bild
Tendenz
bezogen auf
Integration
Tendenz
bezogen auf
Zuwanderung
Tendenz
bezogen auf
Integration
Tendenz
bezogen auf
Integration
Tendenz
bezogen auf
Zuwanderung
Tendenz
bezogen auf
Integration
,21
-,40
,50
,00
,50
-,33
,33
-,16
Belastung
-1,00
-1,00
-1,00
Bürokratie
1,00
1,00
,
-1,00
-1,00
-1,00
-1,00
-1,00
-1,00
,
,
1,00
Definition
1,00
,
,00
,00
,00
,
,
,50
,33
,00
,
1,00
,
1,00
,
,60
,
-1,00
,
,
,
,
,
-1,00
,
Dezentralität
,
,
,00
,00
,
,
,00
,00
Effizienz
,
-1,00
,00
,00
,
,
,00
-,75
Europa
,
1,00
1,00
1,00
,
,
1,00
1,00
nicht eindeutig
zuordenbar
Demographie
Demokratie
Extremisten
Tendenz
bezogen auf
Zuwanderung
,
,
,
1,00
,
,
,
1,00
Fortschritt
1,00
1,00
,
,
,
,
1,00
1,00
Fremdenfeindlichkeit
1,00
,
,
,
,
,
1,00
,
-1,00
-1,00
,
1,00
,
,
-1,00
-,60
Finanz
Gerechtigkeit
,
1,00
,
,
,
,
,
1,00
-1,00
1,00
1,00
1,00
,
,
,00
1,00
Hierarchie
,
,
,
,
,
,
,
,
Humanität
1,00
,83
1,00
,92
1,00
1,00
1,00
,89
Gesetz
Kultur
,
-1,00
-1,00
-1,00
,
,
-1,00
-1,00
-,20
-1,00
1,00
1,00
,
,
,00
-,50
-1,00
-,50
,
-1,00
,00
-1,00
-,60
-,71
menschlicher Nutzen
,45
,71
1,00
1,00
,
,
,50
,77
politischer Nutzen
,27
-,14
,
1,00
,
,
,27
,00
wirtschaftlicher Nutzen
,50
1,00
,89
,33
,00
1,00
,60
,56
-1,00
1,00
,50
,50
-,50
-1,00
-,33
,25
,57
,67
,
,
,
,
,57
,67
Recht
,
,20
,
-,50
,
,00
,
,00
Innere Stabilität
,
,
,
1,00
,
,
,
1,00
Veränderung
,
,
1,00
-,33
,
-1,00
1,00
-,43
Verantwortlichkeit
,
1,00
,
,
,
,
,
1,00
Machbarkeit
Mißbrauch
Nutzlosigkeit
Realität
Gesamt
Gesamt
Tagesspiegel
Verständnis
-,25
-,90
-1,00
-,50
,
-1,00
-,40
-,80
Vorurteil
1,00
1,00
,
,
,
,
1,00
1,00
Widerspruchsfreiheit
1,00
1,00
,00
1,00
,
,
,33
1,00
,28
,04
,50
,19
,10
-,47
,32
,06
Anhang C - Tabellen
141
Tabelle A 7:
Korrelationen111 der Argumenttendenz zur Zuwanderungsproblematik
(pro/kontra Zuwanderung)
SZ
SZ
TGSP
BILD
Korrelation (r)
1
TGSP
,756
BILD
,870
Signifikanz
,
,139
,055
Korrelation (r)
,756
1
,824
Signifikanz
,139
,
,086
Korrelation (r)
,870
,824
1
Signifikanz
,055
,086
,
Tabelle A 8:
Korrelationen112 der Argumenttendenz zur Integrationsproblematik
(pro/kontra Multikuliti bzw. pro/kontra Restriktionen gegen MigrantInnen)
SZ
SZ
TGSP
TGSP
TGSP
BILD
Korrelation (r)
1
,877**
,673
Signifikanz
,
,010
,097
Korrelation (r)
,877**
1
,666
Signifikanz
,010
,
,103
Korrelation (r)
,673
,666
1
Signifikanz
,097
,103
,
**. Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig)
111
Berücksichtigt wurden hier jeweils nur die Topoi, die in allen drei Zeitungen in bezug auf die
Zuwanderungsproblematik verwendet wurden (N=5).
112 Berücksichtigt wurden hier jeweils nur die Topoi, die in allen drei Zeitungen in bezug auf die
Integrationsproblematik verwendet wurden (N=7).
Anhang C - Tabellen
142
Tabellen zu Kap 5.5.4:
5.5.4: Wie werden die Topoi bewertet?
Tabelle A 9:
Bewertung113 der Topoi
Zeitung
SZ
Mittlere
Bewertung
Topos
nicht eindeutig
zuordenbar
Gesamt
Tagesspiegel
n*
bew.
n**
Mittlere
Bewertung
n
Bild
bew.
n
Mittlere
Bewertung
n
bew.
n
Mittlere
Bewertung
bew.
n
n
-,22
27
14
-,78
23
18
,00
8
5
-,41
58
37
Belastung
-1,43
7
4
-1,00
11
5
,40
5
1
-,83
23
10
Bürokratie
-,33
3
1
-,67
3
1
,
,
-,50
6
2
Definition
,00
1
0
,00
1
0
,
,
,00
2
0
Demographie
,00
3
0
2,00
1
1
-2,00
1
,00
5
2
Demokratie
,00
1
0
,00
1
0
,
,
,00
2
0
,
,00
2
0
,
,
,00
2
0
0
-,13
8
1
Dezentralität
,
1
Effizienz
-,33
3
1
,00
4
0
,00
Europa
,00
1
0
,00
2
0
,
,
,00
3
0
Extremisten
,00
1
0
,00
1
0
,
,
,00
2
0
Fortschritt
,00
3
0
1,00
2
1
,
,
,40
5
1
Fremdenfeindlichkeit
,67
3
1
,
,
,
,
,67
3
1
Finanz
,00
8
2
,00
2
,
,
,00
11
4
2,00
1
1
,
,
,
,
2,00
1
1
-1,00
2
1
-,25
1
,
,
-,50
6
2
Hierarchie
,00
3
0
,
,
,00
1
0
,00
4
0
Humanität
-,31
13
1
-,13
15
7
1,00
2
1
-,13
30
9
,00
1
0
1,00
1
1
,
,
,50
2
1
Machbarkeit
-,14
7
2
2,00
2
1
,
,
,33
9
3
Mißbrauch
-,67
6
1
-1,00
1
1
,50
1
-,27
11
3
menschlicher Nutzen
-,57
21
10
-,20
5
1
,
,
-,50
26
11
politischer Nutzen
,00
17
2
,00
1
0
,
,
,00
18
2
wirtschaftlicher Nutzen
,06
16
7
,05
20
7
,00
7
0
,05
43
14
Nutzlosigkeit
,00
3
0
,00
2
0
,00
2
0
,00
7
0
Realität
,00
9
2
,00
1
0
,
,
,00
10
2
-,20
10
3
,00
5
0
,00
0
-,12
17
3
,
,00
1
0
0
,43
7
2
,
,00
4
0
0
-,27
15
4
0
Gerechtigkeit
Gesetz
Kultur
Recht
3
4
1
4
2
Innere Stabilität
,
,
,00
1
0
,
Veränderung
,
,
,50
6
2
,00
,
,
2
,00
,
,
,
,00
3
,
,00
4
0
9
-,18
348
115
Verantwortlichkeit
,00
4
0
,
-,60
10
2
,50
Vorurteil
,00
3
0
,
Widerspruchsfreiheit
,00
2
0
,00
2
0
,
-,23
189
55
-,17
124
51
,11
Verständnis
Gesamt
4
1
1
35
*. Anzahl der Argumente
**. Anzahl bewerteter Argumente
113
Bei einer Skala von -2 (eindeutig negativ) bis +2 (eindeutig positiv). ‚Keine Wertung‘ wurde als ‚neutral‘
(0) gewertet.
Anhang C - Tabellen
144
Tabellen zu Kap 5.5.5:
5.5.5: Konformität: Die übereinstimmende Bewertung
von Topoi
Tabelle A 11:
Die Korrelationen114 der Toposrelevanz (Integration) und der Toposbewertung
(Konformität)
TGSP/SZ
SZ/BILD
TGSP/BILD
Integration
Konformität
Integration
Konformität
Integration
Konformität
Gesamt
.524**
.515**
.586**
.465*
.562**
.313
.491*
.370*
.372*
.188
-.390
-.654*
-.477
-.824**
.758**
.763**
.513**
-.852
-.658*
-.860**
-.696*
objektive
Genres
.464*
.415*
.267
-.245
.080
-.210
-.001
.376
.383
.583**
-.150
-.763
-.361
-.886*
.586**
.558**
.306
.276
-.167
-.053
-.486
subjektive
Genres
.311
.258
.123
-.003
.376
.584*
.729
.280
.266
-.153
-.054
0
-.054
0
.745*
.739**
.039
-.779*
-.236
-.759*
-.225
Tabelle A 12: Integration und
Konformität der Zeitungstypen
Boulevard/Abo
Gesamt
objektive
Integration
Konformität
.553***
-.674***
.552***
-.398*
.380**
-.294
Genres
subjektive
Genres
114 Der jeweils oberste Wert ist die Korrelation von Toposstellenwert bzw. Toposbewertung , der zweite
1
1
die von Toposstellenwert2 bzw. Toposbewertung2 usw.
Versicherung
Hiermit erkläre ich, daß ich diese Arbeit selbständig verfaßt und keine anderen als die
angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die anderen
Werken im Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden unter Angabe der
Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Dies gilt auch für Zeichnungen, Skizzen,
graphische Darstellungen u.ä. Weiterhin versichere ich, daß diese Arbeit bei keiner
anderen Prüfungsbehörde zur Begutachtung vorgelegen hat bzw. vorliegt.
Berlin, den 19.5.03 __________________________
Christoph Haug