Nr. 11 2016 RGOW
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Sergej Tschapnin
Das Panorthodoxe Konzil
ohne Russische Orthodoxe Kirche
Die Russische Orthodoxe Kirche sagte kurzfristig ihre Teilnahme am Panorthodoxen Konzil ab. Als
offiziellen Grund nannte sie die Absage von drei anderen orthodoxen Kirchen und das somit verletzte
Konsensprinzip. Doch der eigentliche Grund für den Rückzug scheint die unerwartet heftige Kritik
in Russland an den Entwürfen der Konzilsdokumente gewesen zu sein. Die Ergebnisse des Konzils
hingegen werden in Russland kaum rezipiert. – N. Z.
Mehr als ein halbes Jahr ist seit dem Ende des Panorthodoxen
Konzils auf der Insel Kreta (18.–26. Juni 2016) vergangen. Kann
man von einer Rezeption des Konzils in Russland sprechen, oder
weigert sich die russische Kirche vielmehr, seine Schlussdokumente anzunehmen? Seltsamerweise ist weder das eine noch
das andere der Fall. Vielmehr scheint sich eine dritte Variante
durchzusetzen – das Vergessen. Das ist kein Zufall, wenn man
das Konzil als Kampfarena um Einfluss in der orthodoxen Welt
betrachtet. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat nicht am
Konzil teilgenommen und damit in den Augen der Mehrheit der
orthodoxen Kirchen viel verloren. Zugleich gibt es in verschiedenen Kirchen Gruppen, die diese Entscheidung unterstützen.
Heute möchte die ROK diese für sie misslungene Seite in der
Kirchengeschichte umschreiben oder wenigstens umblättern.
In diesem Artikel werden Themen wie die Polemik um das
Reglement des Konzils oder die inhaltliche Kritik seiner Dokumente bewusst nicht angesprochen. Ich stelle mir eine bescheidenere Aufgabe: Auf Dokumente gestützt werde ich versuchen,
die Logik des Vorgehens der ROK und, teilweise, des Patriarchen
Kirill (Gundjaev) während der Konzilsvorbereitung, im Moment
der Absage der Teilnahme und danach in Bezug auf die am Konzil verabschiedeten Dokumente zu rekonstruieren.
Absage „aus Solidarität“
Das Panorthodoxe Konzil war 2016 für die orthodoxe Welt das
zentrale Ereignis. Es war freilich kein Symbol panorthodoxer
Einheit: nur zehn von 14 Kirchen reisten zum Konzil, während
vier im letzten Moment absagten.
Die ROK sagte als letzte ab. Der offizielle Grund, formuliert
in einer Botschaft des Hl. Synods vom 13. Juni, war der fehlende Konsens unter den Vorstehern aller anerkannten, lokalen,
autokephalen orthodoxen Kirchen.1 Das heißt, die Absagen der
Antiochenischen, Georgischen und Bulgarischen Kirche hätten die Durchführung des Konzils verunmöglicht, und deshalb
schloss die ROK sich an. Antiochien sagte seine Teilnahme wegen
des Konflikts mit Jerusalem ab, Bulgariens Gründe waren nicht
sehr klar formuliert (finanzielle Gründe sind nicht ausgeschlossen), Georgien sagte aufgrund der Ablehnung einer Reihe von
Dokumenten ab und die ROK sozusagen aus Solidarität. Offenbar
wurde das in der Vorbereitungsphase als grundlegend betrachtete
Konsensprinzip zum Hauptgrund für das Misslingen des Konzils.
Die Teilnehmer und die Ferngebliebenen beschuldigen sich
gegenseitig. Die Annahme liegt nahe, dass für die ROK der Konsens nicht nur ein deklariertes Prinzip war, sondern im Falle
des Konzils auch ein diplomatischer Schachzug. Immerhin wird
nirgends in der Praxis der ROK das Konsensprinzip angewendet,
sogar im Hl. Synod können abweichende Meinungen ignoriert
werden.
Wo liegt also das tatsächliche Problem? Allem Anschein
nach ging Patriarch Kirill davon aus, dass der Erfolg oder das
Scheitern des Konzils v. a. mit der Qualität der dort verabschiedeten Dokumente zusammenhängt. Er denkt Konziliarität
(russ. sobornost’) nicht als Prozess, sondern in erster Linie als
konkretes, greifbares Resultat. Wenn sich die Delegationen der
Lokalkirchen versammelt haben, dann genügt die Tatsache eines
offenen, vertrauensvollen Gesprächs nicht. Qualitative, glatte,
konsistente Dokumente sind für ihn unabdingbar.
Wenn Patriarch Kirill Konziliarität als Prozess verstehen
würde, dann wäre die Qualität der Dokumente von weniger entscheidender Bedeutung. Es wäre möglich gewesen, sie entweder
noch einmal zu überarbeiten, oder sie beiseite zu legen und später
zu verabschieden, oder sie sogar anzunehmen und in ein paar
Jahren eine neue Fassung zu erarbeiten. Diese Position vertrat der
Ökumenische Patriarch Bartholomaios: Die Tatsache des Treffens und des Beginns eines gemeinsamen Gesprächs betrachtete
er als wichtigste Errungenschaft und die zehn teilnehmenden
Kirchen stimmten darin mit ihm überein.
Konzilsvorbereitungen: unerwartete Kritik
Bis Februar 2016 verliefen die Konzilsvorbereitungen erfreulich: Bei der Synaxis in Chambésy im Januar erklärten sich die
Vertreter der orthodoxen Kirchen mit allen, recht wesentlichen
Änderungsvorschlägen von Patriarch Kirill an den Dokumenten einverstanden. Patriarch Kirill setzte ohne Vorbehalte seine
Unterschrift unter den Entscheid über die Durchführung des
Panorthodoxen Konzils (s. RGOW 2/2016, S. 6).
Anfangs Februar standen die Entwürfe der Konzilsdokumente als Haupttraktandum auf der Tagesordnung des Bischofskonzils der ROK. Dennoch hielt der Patriarch deren Bestätigung am
Bischofskonzil für eine reine Formalität. Er war davon überzeugt, dass ihre Qualität ausgezeichnet sei und sie keiner weiteren Diskussionen bedurften. Deshalb plante er lediglich Zeit für
die Abstimmung ein. Sein Vorgehen rief keine Kritik hervor. Die
Bischöfe Russlands, der Ukraine und Weißrusslands waren mit
der Position von Patriarch Kirill einverstanden und nahmen alle
Entwürfe mit einer klaren, zweifellos positiven Formulierung
an: „Die Mitglieder der Bischofskonferenz bestätigen, dass die
Entwürfe der Dokumente des Panorthodoxen Konzils in ihrer
derzeitigen Form die Reinheit der orthodoxen Lehre nicht verletzen und nicht von der kanonischen Überlieferung der Kirche
abweichen.“ 2 Das war eine äußerst wichtige Entscheidung, die –
wie es damals vielen schien – grünes Licht für die letzte Etappe
der Konzilsvorbereitungen gab.
Dennoch bereitete das Panorthodoxe Konzil Patriarch Kirill
bereits wenige Wochen nach dem Bischofskonzil fürchterliche
Kopfschmerzen. Weshalb? Im Februar wurden die Entwürfe
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offiziell publiziert: Alle konnten sich mit den Positionen der Vertreter der orthodoxen Kirchen in Fragen der Autonomie, Diaspora, Ehe, des Fastens, der Mission der Kirche in der heutigen Welt
und zu den Beziehungen zur übrigen christlichen Welt vertraut
machen. Unerwartet für den Patriarchen kam es nach der Publikation der Entwürfe in der ROK (aber nicht nur) zu einer Welle
von Kritik. Nach dem deutlichen Beschluss des Bischofskonzils
hätte der Patriarch eigentlich jegliche Kritik an den Dokumenten
zumindest ruhig aufnehmen können. Doch allem Anschein nach
fürchtet er Kritik vom rechten Flügel seiner Kirche, da er diese
für die mächtigste und einflussreichste Gruppe unter den Klerikern und Laien der ROK hält. Die Kritik orthodoxer Fundamentalisten war für Patriarch Kirill sehr schmerzlich, weil allen
bestens bekannt war, dass er in den letzten Jahren persönlich die
Vorbereitung dieser Dokumente betreut und an ihrer Redaktion
teilgenommen hatte.
Eigentlich war die harsche Reaktion der Fundamentalisten
völlig vorhersehbar. In der Mehrheit der Dokumente wurde
versucht ein „Gleichgewicht der Interessen“ zu berücksichtigen, aber letztlich befriedigte das weder die Liberalen noch die
Fundamentalisten. In Schlüsselfragen wie der Beziehung zur
Ökumene und zu anderen Konfessionen war ein Gleichgewicht
unmöglich, denn hier treffen zwei verschiedene ekklesiologische
Modelle ohne gemeinsame Berührungspunkte aufeinander. Als
großen Erfolg des Vorbereitungsprozesses und der Diskussionen
am Konzil selbst muss man übrigens die Tatsache anerkennen,
dass diese Widersprüche für viele offensichtlich wurden.
Im Kreuzfeuer der Kritik seitens der Fundamentalisten fanden
sich viele Leiter von Lokalkirchen. Was konnte man in dieser Situation tun? Diejenigen, die zum Konzil reisten, stimmten dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios zu, der eine ausgewogene
Entscheidung getroffen hatte: Die Kirche darf keine Abhängigkeit
von Fundamentalisten zeigen, und wenn der Entscheid über die
Durchführung des Konzils einmal getroffen ist, dann darf ihn niemand ändern. Patriarch Kirill traf die gegenteilige Entscheidung.
Die Entscheidung von Patriarch Kirill war offensichtlich verfehlt. Sie zeigt lediglich eines überzeugend: die ROK ist nicht
zum Dialog von Angesicht zu Angesicht mit anderen Kirchen
bereit. Abstrakte Prinzipien haben sich als wichtiger erwiesen
als reale Konziliarität. Indes gab es mindestens drei Alternativen. Erstens hätte Patriarch Kirill, wie auch die Vorsteher der
anderen nicht teilnehmenden Kirchen, für einen Tag nach Kreta
reisen können, um an der gemeinsamen Pfingst-Liturgie teilzunehmen. Zweitens hätte er zur Kleinen Synaxis3 anreisen können, um dort seine Befürchtungen oder Forderungen zu äußern,
ohne am Konzil teilzunehmen. Drittens hätte die Delegation
der ROK am Konzil teilnehmen und die Dokumente, die eine
weitere Redaktion benötigten, blockieren können.
Weshalb Kirill auf die letzte Möglichkeit zur Änderungen der
Dokumente, an denen er so lange gearbeitet hatte, verzichtete,
bleibt unklar. Im Endeffekt wurde sowohl seinem persönlichen
Ruf als auch der Autorität der ROK viel Schaden zugefügt.
Im Februar 2016 hat das Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche
die Entwürfe der Konzilsdokumente angenommen.
Foto: patriarchia.ru
Auf diese Weise weigert sich der Hl. Synod de facto anzuerkennen, dass das Heilige und Große Konzil stattgefunden hat und
dementsprechend seine Dokumente verpflichtend sind.
Die Erklärung, die normalerweise mit der Entscheidung des
Hl. Synods publiziert wird, enthält noch eine wichtige Aussage:
„Laut Berichten erklärte eine Reihe von Hierarchen verschiedener
orthodoxer Lokalkirchen, die am Konzil teilnahmen, sie hätten sich
angesichts ihrer Ablehnung seines Inhalts geweigert, das Dokument
„Die Beziehungen der orthodoxen Kirche zur übrigen christlichen
Welt“ zu unterschreiben.“ Dieser Satz verdeutlicht, dass der Hl.
Synod fürchtete, in einer zweideutigen Situation zu landen: Einerseits tauchten Vorbehalte gegen die Dokumente auf, aber andererseits waren ja alle Entwürfe im Februar von der Bischofskonferenz der ROK ohne jegliche Änderungen bestätigt worden. Heißt
das, die Befürwortung der Dokumente sei überstürzt und nicht
durchdacht gewesen? Das konnte Patriarch Kirill offenbar nicht
so präsentieren, deshalb beschlossen er und der Hl. Synod, sich
hinter dem Rücken der serbischen Bischöfe zu verstecken, die am
Konzil das Dokument mehrheitlich nicht unterstützten. Dennoch
anerkennen die russischen Bischöfe das Konzil im ersten Punkt
ihrer Sitzungsbeschlüsse als „wichtiges Ereignis in der Geschichte des konziliaren Prozesses der Orthodoxen Kirche, der mit der
ersten panorthodoxen Beratung auf der Insel Rhodos 1961 begann“.
Im zweiten Punkt wird unterstrichen, dass „das Konsensprinzip die Grundlage der panorthodoxen Zusammenarbeit im
Verlauf des ganzen konziliaren Prozesses bildete“. Im dritten
Punkt wird festgehalten, dass die Durchführung des Konzils
trotz des fehlenden Einverständnisses einer Reihe autokephaler
orthodoxer Kirchen gegen das Konsensprinzip verstößt, und
deshalb „das auf Kreta durchgeführte Konzil nicht als panorthodox und die dort verabschiedeten Dokumente nicht als Ausdruck
eines panorthodoxen Konsenses betrachtet werden können“.
Der besondere Akzent auf dem Konsensprinzip in den
Beschlüssen des Hl. Synods erlaubt die Annahme, dass sich die
hitzigen Diskussionen dieser Frage in den nächsten Jahren fortsetzen werden. Wie bereits erwähnt, wird das Konsensprinzip in
Nach dem Konzil
Drei Wochen nach dem Ende des Konzils traf sich der Hl. Synod der ROK nicht angewendet, auch bei ökumenischen Konzilen ist
der ROK zu einer Sitzung und widmete den Ergebnissen des es nicht üblich. Und angesichts des unverantwortlichen VerhältKonzils ein Sonderprotokoll. Die Beschlüsse des Hl. Synods nisses zur panorthodoxen Einheit, das einige Kirchen mit ihrer
(Protokoll Nr. 48, 15. Juli 2016) 4 beschreiben ziemlich ausführ- Abwesenheit demonstriert haben, kann die Anwendung dieses
lich die Position des Moskauer Patriarchats. Bezeichnenderweise Prinzips dazu führen, dass die Durchführung eines panorthowird die offizielle Bezeichnung des Konzils – „Heiliges und Gro- doxen Konzils grundsätzlich unmöglich wird.
ßes Konzil der Orthodoxen Kirche“ – in den Dokumenten des
Im vierten Punkt klingt ein Verweis auf die Dokumente der
Hl. Synods nur bei der Beschreibung der Konzilsvorbereitungen antiochenischen Kirche sehr lakonisch. Anscheinend geht es um
verwendet, hinsichtlich seiner Ergebnisse tauchen hingegen zwei die Erklärung5 des Sekretariats des Hl. Synods der antiochenischen
neue Bezeichnungen auf: „Konzil der Vorsteher und Hierarchen Kirche vom 27. Juni 2016. Unter anderem wird dort gesagt: „Die
von zehn orthodoxen Lokalkirchen“ und „Konzil auf Kreta“. Versammlung auf Kreta ist als vorläufiges Treffen auf dem Weg zu
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einem panorthodoxen Konzil zu betrachten und demzufolge sind
seine Dokumente nicht als endgültige, sondern als nach der Einberufung des Großen Panorthodoxen Konzils, das in Anwesenheit
und mit der Teilnahme aller autokephalen orthodoxen Kirchen
stattfinden wird, zur Diskussion und Ergänzung offen stehende zu
betrachten“. Bezeichnenderweise hat sich der Hl. Synod der ROK
nicht dazu entschlossen, diese Erklärung direkt zu zitieren, aber
er hat deutlich seine Solidarität mit dieser Haltung ausgedrückt.
Im fünften und letzten Punkt weist der Hl. Synod die synodale biblisch-theologische Kommission an, „nach dem Erhalt
offiziell beglaubigter Kopien der am Konzil auf Kreta verabschiedeten Dokumente diese zu publizieren und zu untersuchen, unter
Berücksichtigung allfälliger Reaktionen und Bemerkungen der
hochwürdigen Bischöfe, geistlicher wissenschaftlicher Einrichtungen, von Theologen, Klerikern, Mönchen und Laien. Auf Grundlage dieser umfassenden Untersuchung sind dem Hl. Synod die
Schlussfolgerungen vorzulegen.“
Trotz aller scheinbaren Einfachheit und Klarheit ist das der
vieldeutigste Punkt des synodalen Entscheids, denn er sanktioniert das Vergessen. Man denke an die Redensart: „Möchtest Du,
dass eine Angelegenheit untergeht, dann setz eine Kommission
ein.“ So ist es auch hier – der Kommission wird ein Auftrag
erteilt, aber wie und wann er erfüllt sein muss, wird nicht gesagt.
Das bedeutet, dass es nicht eilt. Offiziell publiziert wurden die
Dokumente des Konzils auf der wenig besuchten Website der
synodalen biblisch-theologischen Kommission;6 weder im Journal des Moskauer Patriarchats noch auf der offiziellen Website
patriarchia.ru wurden sie bisher veröffentlicht. Zudem stammen
im Abschnitt „Panorthodoxes Konzil“7 auf der offiziellen Internetseite der ROK alle Publikationen von Ende Januar 2016.
„… gut, dass sie nicht hingefahren sind“
Dem Moskauer Patriarchat ist es gelungen, in den russischen
Medien praktisch hundertprozentige Unterstützung für seine
Position zu gewinnen. Zu den seltenen Ausnahmen zählt das
Spezialprojekt „Panorthodoxes Konzil. Kreta. 2016“8 des Portals
rublev.com, das sich bemüht hat, die Vorbereitung, den Verlauf
und die Ergebnisse des Konzils ausgewogen zu beleuchten: Es
hat Meinungen und Kommentare sowohl von Befürwortern wie
auch Gegnern der Durchführung des Konzils publiziert. Diese
Website bot ein einzigartiges Präsentationsformat der Dokumente – die Gegenüberstellung der Entwürfe und ihrer endgültigen Version ermöglichte es, die letzten Änderungen zu sehen
und zu analysieren. Zu den Ausnahmen gehört auch der runde
Tisch „Das Heilige und Große Konzil der Orthodoxen Kirche
2016: Bedeutung, Probleme, Perspektiven“9 im Kulturzentrum
Pokrovskij-Tor. Dennoch stellte sich die überwältigende Mehrheit der russischen Medien – sowohl der kirchlichen, wie auch
der staatlichen – auf die Seite des Moskauer Patriarchats.
Beabsichtigt oder nicht, aber mit seiner Absage an das Konzil
hat Patriarch Kirill einer neuen Welle isolationistischer Stimmung innerhalb der ROK grünes Licht gegeben. Um in den
Augen der Kirchenmitglieder die offizielle Absage nicht zu
einer skandalösen, sondern zu einer positiven Entscheidung zu
machen, wurde inoffiziell jegliche, darunter auch die radikalste
Kritik am Konzil erlaubt. Dabei taten sich nicht nur fundamentalistische Gruppen besonders hervor, sondern auch ein so respektables Medium wie die von Bischof Tichomir (Schevkunov)
kontrollierte Internetzeitschrift pravoslavie.ru.
In der ROK nahm Anfang 2016, kurz nach dem Treffen von
Patriarch Kirill und Papst Franziskus, die Aktivität von Fundamentalisten zu (s. RGOW 3/2016, S. 6–7). Damals richtete sich
ihre Kritik ausschließlich auf Patriarch Kirill und seine Entscheidung, sich mit Papst Franziskus zu treffen, aber bis zum
Frühling legte sich ihr Elan wieder. Das Moskauer Patriarchat
jedoch beschloss, die Energie der Fundamentalisten erneut zu
wecken und ihre Kritik auf das Konzil und den Ökumenischen
Patriarchen Bartholomaios zu richten, der nicht auf die Stimme
der vier Kirchen gehört hatte, und deshalb päpstlicher Allüren
beschuldigt werden kann.
Das wurde in den meisten Fällen im groben Stil staatlicher
Propaganda umgesetzt. So zitierte die staatliche Nachrichtenagentur TASS Diakon Vladimir Vasilik, Dozent an der St. Petersburger Universität, der behauptet, dass „die orthodoxe Kirche
Konstantinopels versucht, im Verhältnis zu den anderen 13 orthodoxen Lokalkirchen eine Diktatur zu errichten. […] Die Bürokraten des Patriarchats von Konstantinopel verachten überheblich und mit idiotischer Sturheit ihre Mitbrüder und wollen nichts
ändern.“ 10 Hier sind nicht nur die Argumente aufschlussreich,
sondern auch der Ton des Gesagten. Es ist bemerkenswert, dass
Vjatscheslav Nikonov, Vorsitzender der Stiftungsleitung von
Russkij mir, den ersten Satz des obigen Zitats in seinem Artikel
im Vorfeld des Konzils wörtlich anführt.11
Sogar Patriarch Kirill Nahestehende begannen, sich ziemlich
radikale Äußerungen zu erlauben. So erklärte der Geschäftsführer des Rechtszentrums des Weltkonzils des russischen Volkes,
Roman Silantjev, gegenüber dem Sender TVC: „Patriarch Bartholomaios ist ein Instrument der Amerikaner und Erdoğans. Mit
seiner Hilfe wollen sie Russland, der ROK einen Schlag versetzen.
Sie wollen der Weltorthodoxie einen Schlag versetzen. Sie wollen die Annahme solcher Dokumente erzwingen, die bei einem
bedeutenden Teil der Gläubigen Ablehnung hervorrufen.“ 12
Insgesamt hat sich das Moskauer Patriarchat geschickt die
antieuropäische und isolationistische Stimmung in der russischen
Gesellschaft zunutze gemacht. Die staatliche Propaganda hat dem
einen günstigen Boden bereitet und ihre medialen Ressourcen der
Verbreitung des Standpunkts der ROK zur Verfügung gestellt.
Das Heilige und Große Konzil ist bereits Geschichte, aber der
Kampf um die Interpretation seiner Resultate geht weiter und
anscheinend erwartet die Orthodoxe Kirche erneut eine Spaltung: In der medialen und politischen Einflusszone des Ökumenischen Patriarchats werden die Ergebnisse des Konzils positiv
bewertet werden, im Einflussbereich Russlands hingegen negativ.
Anmerkungen
1) http://www.patriarchia.ru/db/text/4538241.html.
2) http://www.patriarchia.ru/db/text/4367700.html.
3) Die Kleine Synaxis ist die Besprechung der Vorsteher der
orthodoxen Kirchen.
4) http://www.patriarchia.ru/db/text/4561903.html.
5) http://antiochpatriarchate.org/en/page/1448/#English.
6) http://theolcom.ru/events/114-opublikovany-dokumentykritskogo-sobora-18-26-iyunya-2016-goda.
7) http://www.patriarchia.ru/db/document/4361821/.
8) http://sobor2016.rublev.com/.
9) http://blagovest-info.ru/index.php?ss=2&s=3&id=68834.
10) http://tass.ru/obschestvo/3343819.
11) http://expert.ru/2016/06/10/sobor/.
12) http://www.tvc.ru/news/show/id/94635.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
Sergej Tschapnin, Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Konlikte in der postsäkularen Gesellschaft“ am soziologischen Institut der Universität Innsbruck, Chefredakteur des Almanachs der
modernen christlichen Kultur „Dary“.
Dieser Artikel wurde mit der Unterstützung des Europäischen
Forschungsrats (ERC STG 2015 676804) verfasst.