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Unverkäuliche Leseprobe aus: Achim Landwehr Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit Essay zur Geschichtstheorie Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugs­ weise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und straf­ bar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwen­ dung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 5 Inhalt Gottersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Anfangen – Zeitreisen – Probleme mit der Zeitreise – Geschichtsrede – Paradoxien des Historischen – Gang der Argumentation Vergangenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Reise ins All – Schwierige Vergangenheit – Wie haben wir Vergangenheit? – Präsentismus – Gegenwart versus Vergangenheit Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Negative Geschichtstheorie – Mit Zwischenraum, hinein­ zuschauen – Sinnfreiheit Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die ›Quelle‹ – Vergangenheitsrecht – Oberlächlichkeit – Historisches Material / Materialität des Historischen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Medialität des Historischen – Das Medium verschwindet Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brandans Reise – Unfassbarkeit der Wirklichkeit – Wie wirklich ist die historische Wirklichkeit? – Ist die Realität in Wirklichkeit ganz anders? – Voraus­Setzungen – Selbst­ verständlichkeit – Eine Geschichte der Wirklichkeiten 90 6 Inhalt Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Unwiderrulich und widerrufbar – Christoferens – Nicht­ dualisierende Redeweisen – Zirkulierende Referenz – Rela­ tionierung Chronoferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Zeitbezüge – Dinosaurier, Quanten, Tode Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Verspätete Ereignisse – Ereignis in Chronoferenzen Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Überlieferungslücken – Ort des Ereignisses – Archiv­ maschine Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Wahrheitsfragen – Wahrheitskommissionen – Wahrheit, historisch gesehen – Wahre Geschichten Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Das Beschreiben beschreiben – Eine papierne Utopie – Mandeville – Beschreibung als produktive Praxis – Be­ schreibung als Ver­Wirklichung – Komplexe Beispiele Möglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Kontingenz und Potenz – Symmetrische Geschichtsschrei­ bung – Mannigfaltigkeit – Xigagaí Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Verunsicherung – Gegenstand der Kritik – Spiel über die Bande – Alternativität Inhalt Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Welche Vergangenheit? – Un / Sinn – Das Unvorherge­ sehene – Antworten – Geschichtsethisches Gebot Zeitschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Linearität – Alternative zur ›Geschichte‹ – Anstelle der Li­ nearität – Kollektivsingular ›Geschichte‹ – Das Historische und die Hantologie – Zeitraum / Raumzeit – Zeitschaft – Wirklich nicht Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 319 343 369 372 7 9 Gottersatz Herkunft, Lebensablauf – Unsinn! Gottfried Benn1 Ich müsste nicht mit einer Zeitreise begin nen. Ich könnte auch durchaus anders einsetzen, mit der einen oder an­ deren Begriffsdeinition beispielsweise oder mit einer näheren Beschreibung des Themas. Ich könnte versuchen, im Allgemei­ nen wie im Besonderen die Probleme des Gegenstands zu disku­ tieren, könnte die Schwierigkeiten andeuten, die sich mit dem ehrfurchtgebietenden Ausdruck ›Geschichte‹ verbinden. Aber dann würde ich so tun, als sei das, worum es hier gehen soll, be­ reits klar. Und das ist es nicht. Die Zeitreise scheint mir – so befremdlich das zunächst klin­ gen mag – der einfachere Weg. Sie wird notwendig sein zum Verständnis all der folgenden Verwicklungen. Zugegeben, man könnte das eine oder andere Argument inden, um ausgerech­ net die Zeitreise für einen weniger gelungenen Einstieg zu hal­ ten. Aber anfangen muss man ja. Das ist einer der vielen Punkte im Umgang mit vergangenen Zeiten, die sich als Fluch und Segen zugleich herausstellen: gezwungen zu sein, irgendwo und irgendwie anfangen zu müssen, um im Anschluss genau diese Anfänge wieder historisch zu unterspülen.2 Bekanntlich wartet vor jedem Anfang ja schon ein anderer, früherer Anfang, der dem ersten vorausgeht. So kann man sich die Zeitleiter hinunterhangeln, bis man beim ›ersten Menschen‹ oder beim ›Urknall‹ angelangt ist: nichts anderes als mehr oder minder ik­ tive Modelle der Ursprünglichkeit. Wenn man einen Anfang hat, hat man ein Problem. 10 Gottersatz Was letztlich für die Zeitreise spricht, ist ein Ausschlusskrite­ rium. Wie sollte man ansonsten den Weg hineininden in einen Gegenstand, der eine alles überragende Totalität darstellt? Schließlich bezeichnet dieses so selbstverständlich und unpro­ blematisch erscheinende Wort ›Geschichte‹ nichts weniger als die Gesamtheit alles Geschehenen (in einem sinnvollen Zusam­ menhang), mithin alles, was wir potentiell wissen können. Wie soll man damit halbwegs angemessen umgehen? Sich der Tat­ sache bewusst zu sein, dass diese Totalität der Geschichte nicht zu erfassen ist, macht die Sache eigentlich nur noch schlimmer. Denn wie sollte man ein alles überwölbendes Etwas, das schluss­ endlich alles den Menschen Betreffende in sich fasst und das gerade deswegen unfassbar bleibt, anders bezeichnen denn als göttlich? Geschichte als Gottersatz – und Geschichtsschreibung als Ersatzreligion. Gibt es noch irgendetwas, von dem es keine Geschichte geben kann? Nicht nur alles Lebende, Materielle, Immaterielle oder Ideelle ist der totalen Historisierung unter­ worfen worden, auch von der Geschichte selbst gibt es eine Geschichte. Und vom Nichts. Wenn eine Beschreibungsform bereits sich selbst und die eigene Negation enthält, wie kann man sie dann noch angemessenerweise bezeichnen? Was für ein Monster haben wir da gezüchtet, wenn zwar die einzelnen Ergebnisse historischer Arbeit bezweifelt werden können, aber nicht mehr die Idee einer ›Geschichte‹ in ihrer Gesamtheit?3 Geschichte als Gottersatz zu begreifen, ist nicht gar so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn so­ wohl die Geschichtsphilosophie jüngerer Prägung als auch die akademisch installierte Geschichtswissenschaft haben ihre Ge­ burtsstunde in der Zeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhun­ derts – also in genau jenem Zeitraum, der nicht selten als Beginn der ›Moderne‹ apostrophiert wird und der sich entscheidend von den traditionellen Weltbildern und religiösen Erklärungs­ mustern der sogenannten ›Vormoderne‹ verabschiedet haben soll. Gottersatz Dass solche Erklärungsmuster nicht selten säkularisiert ge­ wandelte Varianten vormals religiöser Deutungen sind, kann man am Beispiel der Geschichtsphilosophie ablesen. Sie betrat zu einer Zeit die Bühne, als religiöse Erklärungsmodelle und heilsgeschichtliche Deutungen allmählich verblassten. Bis da­ hin dominierende Antworten auf die Fragen, woher wir kom­ men und wohin wir gehen, verloren merklich und nachhaltig an Überzeugungskraft. Die Frage nach dem Sinn, der hinter all den Veränderungen steckte, konnte nicht mehr überzeugend durch den Verweis auf die göttliche Vorsehung beantwortet werden. Abgang Religion, Auftritt Geschichtsphilosophie, wie sie nicht zuletzt durch Georg Friedrich Wilhelm Hegel wesent­ lich geprägt wurde. An die Stelle Gottes war nun ›die Geschichte‹ getreten, die aufgrund der ihr inhärenten Sinnhaftigkeit und Zielstrebigkeit einen Prozess abspulen ließ, der – wenn auch unter Irrungen und Wirrungen – einen sinnhaften Ablauf nach­ vollziehbar machte. Das säkulare Unternehmen der Geschichts­ philosophie machte es möglich, Transzendenz und Heilsver­ sprechen von der Vertikalen in die Horizontale zu kippen. Die Aussicht auf das Heil wurde nicht zum Verschwinden gebracht, sondern in die Geschichte verlegt.4 Die Geschichtsphilosophie und in ihrem Gefolge die sich als eigene Universitätsdisziplin etablierende Geschichtswissen­ schaft schienen für einen Moment in der Lage zu sein, die Be­ deutung des Weltgeschehens erklären zu können – ihre eigene Historizität dabei gelissentlich übersehend. Dass beide zu die­ ser Verantwortung aufsteigen konnten, lag nicht zuletzt in dem Versprechen, etwas diesseitig überblicken zu können, dessen man bis dahin nur jenseitig ansichtig werden konnte: die zu­ sammenhängende Bewegung der Menschheit durch die Zeit. Um derartige Abläufe in ihrer Gesamtheit nicht nur erkennen, sondern auch anschaulich machen zu können, brauchte es wahrlich eine göttliche Perspektive. Und man darf Zweifel daran hegen, ob sich die Auffassungen 11 12 Gottersatz des frühen 21. Jahrhunderts von ›der Geschichte‹ tatsächlich gänzlich frei gemacht haben von solchen quasi­göttlichen Per­ spektiven. Selbst als Jean­François Lyotard in seinem Plädoyer für das postmoderne Wissen aus dem Jahr 1979 das Ende der großen Erzählungen verkündet hat, also das Verblassen der Fortschrittsgeschichten von Liberalismus und Marxismus, spiel­ ten sich diese Erzählungen immer noch in einem historischen Rahmen ab. Die größte aller großen Erzählungen blieb von Lyo­ tard ausgeklammert: die Geschichte selbst.5 Robert Menasse konnte daher mit Recht davon sprechen, dass es sich bei ›der Ge­ schichte‹ um den größten historischen Irrtum handele: »Wenn es einen ›Misthaufen der Geschichte‹ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.«6 Mit einer Zeitreise zu begin nen, ist also möglicherweise nicht der offensichtliche Weg. Aber wenn es stimmt, dass Um­ wege die Ortskenntnisse erweitern, dann könnte das auch für die Zeitkenntnisse zutreffen. Das scheint nicht zuletzt die Hoffnung vieler zu sein, die sich auf Vergangenheit und ›Geschichte‹ einlassen: nicht nur die Zeitkenntnisse zu erhöhen, sondern auch Möglichkeiten zu inden, Reisen in diese vergangenen Zeiten anzutreten. Die Rede von der »Reise in die Vergangenheit« bleibt dabei zwar me­ taphorisch, so dass man gemeinhin nicht davon ausgeht, einen solchen Auslug physisch tatsächlich antreten zu können; aller­ dings machen die zahlreich vorhandenen iktionalen Beschrei­ bungen solcher Zeitreisen deutlich, wie groß die Sehnsucht ist, einmal die eigene Gegenwart verlassen zu dürfen.7 Das Faszinosum des Temporaltourismus bleibt aber nicht auf den Bereich des Fiktionalen beschränkt, sondern indet sich als (zumindest vage) Hoffnung auch in der Begegnung mit histo­ rischen Gegenständen. Möglich werden soll die unmittelbare Gottersatz Teilhabe an der Aura des Vergangenen durch den Besuch histori­ scher Stätten, durch die Begegnung mit bestimmten Menschen (der bekannte Klassentreffen­ beziehungsweise Zeitzeugen­Effekt) oder durch den Kontakt mit historischen Dokumenten. Jeman­ dem eine mittelalterliche Urkunde nicht nur hinter Glas im Museum vorzuführen, sondern tatsächlich in die Hand zu geben, setzt nicht nur bestimmte intellektuelle Vorgänge frei, sondern führt auch zu gewissen körperlichen Reaktionen: Die Ausstrahlung des Originals und die Ehrfurcht vor dem jahrhun­ dertealten Schriftstück, wie sie sich in Archiven und Bibliothe­ ken bei entsprechenden Situationen regelmäßig beobachten lassen (und die in abgeschwächter, weil sicherheitsglasgeschütz­ ter Form auch im Museum eintritt), haben nicht nur etwas mit dem objektiven materiellen Wert des seltenen Objekts zu tun. Sie funktionieren auch bei minderwertigen Schriftstücken aus der Massenproduktion – und zwar weil dieses Material bereits mehrere Jahrhunderte Zeitreise hinter sich gebracht hat. Zu­ mindest unterschwellig scheint hier die Vorstellung vorzuherr­ schen, es sei möglich, mittels eines solchen Dokuments den Weg zurück anzutreten: nicht auf dem Papier haltzumachen, son­ dern gewissermaßen durch das Papier hindurch in die Vergan­ genheit zu schreiten – und wie Alice hinter den Spiegel zu treten. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, der ins­ besondere durch sein 1919 erschienenes Buch »Herbst des Mit­ telalters« bekannt geblieben ist, hat für dieses Überschreiten historischer Distanzen eigens den Begriff der ›historischen Emp­ indung‹ geprägt. Es war die vage Ahnung historischer Unmit­ telbarkeit, die sich ihm in der Arbeit mit dem Material aus der Vergangenheit erschloss: »Es kann sein, daß solch ein histori­ sches Detail, in einem Bild, aber es könnte ebenso gut in einer Notariatsakte sein, während es mir als solches unwichtig ist, mir auf einmal das Gefühl eines unmittelbaren Kontaktes mit der Vergangenheit gibt, eine Erregung ebenso intensiv wie der rein­ ste Kunstgenuß, eine (lache nicht) beinahe ekstatische Empin­ 13 14 Gottersatz dung des Nicht­mehr­ich­selbst­Seins, des Überließens in die Außenwelt, der Berührung mit dem Wesen der Dinge, des Erle­ bens der Wahrheit durch die Geschichte.«8 Der Geschichtstheoretiker und ­philosoph Frank R. Ankersmit baut explizit auf Huizinga auf, wenn er in einem erstmals 1993 erschienenen Beitrag ebenfalls die historische Erfahrung als eine Form des unmittelbaren Kontakts mit der Vergangenheit hervorhebt. Diese Erfahrung sei zu verstehen als »das Ergebnis einer lüchtigen Aufhebung der Zeitdimension« und »führt uns damit in eine vor­erkenntnistheoretische Denkwelt zurück, innerhalb derer die Frage, ob man sich in Sachen historischer Erfahrung irre oder nicht, ein ›Kategorienfehler‹ ist«.9 Hier kommt er also zum Ausdruck, der Wunsch nach Authen­ tizität in historischen Angelegenheiten. Fragen nach ›wahr‹ oder ›falsch‹ stellen sich nicht mehr, weil die Unmittelbarkeit des nachträglichen Sichhineinversetzens (anstatt des unmittel­ baren Dabeigewesenseins) jegliche Infragestellung ad absurdum führt. Kritische Nachfragen müssen bei einem solchen Ver­ ständnis historischer Erfahrung oder Empindung außen vor bleiben – damit aber auch jede methodische Kontrolle oder wis­ senschaftliche Relexion. Der Wunsch nach geschichtlicher Unmittelbarkeit rückt die historisch Arbeitenden unweigerlich in die Nähe von Genies, denn über eine solche Form der Einfühlung in die Vergangen­ heit zu verfügen kann nicht jedem gegeben sein. Sind Histori­ kerinnen10 also Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft, eingeweiht in die Geheimnisse des Überwindens temporaler Hindernisse und in der Lage, aus einem schnöden, jahrhun­ dertealten Dokument vergangene Welten wiederauferstehen zu lassen? Gelingt ihnen aufgrund besonderer, in der Gegen­ wart erworbener Qualitäten der Sprung in ein weit zurücklie­ gendes Gestern? Populäre Darstellungen der historischen Praxis evozieren zumindest regelmäßig solche Bilder einer detektivi­ schen Forschungsarbeit, an deren Ende vergangenes Leben wie­ Gottersatz deraufersteht. Und selbst in so unschuldig anmutenden Formu­ lierungen wie der ›Rekonstruktion der Vergangenheit‹ offen­ baren sich noch solche Wünsche. Denn rekonstruieren kann man strenggenommen nur, was einstmals existierte, in trüm­ merhafter Form noch vorhanden und des Wiederaufbaus fähig ist. Es ist genau diese historische Gretchenfrage, wie wir es näm­ lich mit der Bedeutung der Geschichte in unserem Leben halten wollen, die historistisch anmutende Bauprojekte wie die Wie­ dererrichtung längst zerstörter Schlösser oder den Neubau un­ tergegangener Altstädte immer wieder so umstritten macht. Dass Zeitreisen möglich sind, w urde empirisch schon längst bewiesen. Einstein hatte im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie bereits vorausgesagt, dass ein Astro­ naut, der mit nahezu Lichtgeschwindigkeit den Weltraum durchquert, nach seiner Rückkehr auf die Erde deutlich weniger gealtert sein müsste als sein daheimgebliebener Zwillingsbru­ der. Er würde sich nicht nur durch den Raum, sondern auch in die Zukunft bewegen. 1971 haben die amerikanischen Physiker Joseph Hafele und Richard Keating den empirischen Beleg für diese These erbracht, und zwar ohne großen technischen Auf­ wand. Sie reisten in Begleitung einer Atomuhr auf einem Linien­ lug Richtung Osten einmal um die ganze Erde, während eine weitere Atomuhr als Vergleichsmaßstab an ihrem Ausgangs­ beziehungsweise Zielpunkt zurückblieb. Nach Beendigung des Flugs stellten sie fest, tatsächlich in die Zukunft gereist zu sein – wenn auch nur um 60 Nanosekunden. Hafele und Keating hat­ ten damit den Jungbrunnen entdeckt, der in der menschlichen Phantasie eine so herausragende Rolle spielt, auch wenn dieser nun nicht mehr im Wasser, sondern in der Luft lag. Alterung lässt sich seither auch ohne plastische Chirurgie verlangsamen, wenn man nur beständig ostwärts die Erde in einem hin­ reichend schnellen Flugzeug umrundet. Allerdings, so die Phy­ 15 16 Gottersatz siker, würde dieser Gewinn an Lebenszeit wohl wieder durch die Verplegung zunichtegemacht, die man bei solchen Flügen ser­ viert bekäme.11 Zeitreisen sind also möglich. Allerdings gelingt das nur in eine, in die zukünftige Richtung. Gegen Vergangenheitsreisen sprechen zwei gravierende Gründe logischer und physikali­ scher Art. Das logische Problem ist jeder Zuschauerin von Fil­ men und jedem Leser von Romanen bekannt, in denen Zeitrei­ sen unternommen werden: Welche Auswirkungen hat es auf eine Gegenwart, wenn man in deren Vergangenheit reist, um sie zu beeinlussen? Dadurch entstehen verschiedene Unverein­ barkeiten, die in der Logik zum Beispiel unter dem Stichwort des Großvater­Paradoxons diskutiert werden: Wenn man in die Vergangenheit reist, um den eigenen Großvater zu töten, damit dieser den eigenen Vater nicht zeugen kann (weil dieser bei­ spielsweise eine mörderische Diktatur errichtet), dann kann sich logischerweise auch der Zeitreisende selbst gar nicht mehr auf den Weg machen, weil er niemals geboren wurde. Reist er aber nicht in die Vergangenheit, kann er auch nicht verhin­ dern, dass sein Vater geboren wird.12 Paradoxien dieser Art versucht man dadurch einzudämmen, dass man Reisen in die Vergangenheit an bestimmte Konsis­ tenzbedingungen knüpft, gewissermaßen eine freiwillige Selbst­ verplichtung für Vergangenheitsreisende entwirft, die nicht nur den Passus enthält, dass man den eigenen Großvater nicht töten soll, sondern dass man sich in der Vergangenheit über­ haupt nur als passive Zuschauerin aufhalten darf, die keinerlei Veränderungen vornimmt. Bevor ein solcher Kodex zum Einsatz kommt, muss aber das nicht unerhebliche physikalische Problem gelöst werden, wie man denn überhaupt dorthin gelangen kann, wo man hin­ möchte. Das ist schwierig, weil hierbei die Gravitation der Raumzeit von Belang ist, man deshalb von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie wechseln muss. Könnte man Gottersatz nämlich die Gravitation der Raumzeit hinreichend beeinlus­ sen, dann wäre es möglich, diese Raumzeit so weit zu krümmen, dass sie möglicherweise an ihren Ausgangspunkt zurückkehrte, dass also geschlossene kausale Kurven erzeugt werden könnten, mit denen ein Weg in die Vergangenheit tatsächlich eröffnet wäre. Dafür müsste man zwar einige abenteuerliche Gedanken­ sprünge vollführen, aber theoretisch wäre es möglich. Man darf diese Experimente aber getrost im Bereich der Theorie belassen, denn ganz praktisch wäre dazu die Erzeugung einer so astrono­ misch großen Energiemenge vonnöten, dass wir auf absehbare Zeit auf den Gedanken verzichten können, tatsächlich in die Vergangenheit zu reisen. Und man kann sogar mit einiger Be­ rechtigung die absolute praktische Unmöglichkeit von Vergan­ genheitsreisen annehmen: Oder haben Sie schon einmal Tou­ risten aus der Zukunft gesehen?13 Auch wenn solche Reisen physisch nicht zu bewerkstelligen sind, will man zumindest auf die Möglichkeit des gedanklichen Unterwegsseins ins Gestern nicht verzichten. Man betrachte nur die eindrücklich große Zahl an Menschen, die sich in soge­ nannten Reenactments engagieren, die also den Versuch einer Wiedererlebbarkeit von Geschichte unternehmen, indem teil­ weise mit tausenden Teilnehmenden römische Feldlager, mit­ telalterliche Märkte, Wikingerraubzüge und vor allem Schlach­ ten aus diversen Kriegen der Weltgeschichte möglichst detailge­ treu nachgestellt werden. Ganz praktisch kann es den Historiker in mir nur freuen, wenn durch solche Formen der Wissens­ popularisierung (und dieser Begriff sei hier mit ausdrücklich positiver Konnotation verwendet) das Interesse und das Bewusst­ sein für historische Vorgänge geweckt werden. Denn Formen des Reenactments, die teils große Zuschauermengen anlocken, sind in wesentlich höherem Maß als akademische Verlautbarungen dazu in der Lage, historischen Themen in breiten Bevölkerungskreisen zur Aufmerksamkeit zu verhelfen. Der Geschichtstheoretiker in mir kann jedoch nicht umhin, den Wunsch, Vergangenes in der 17 18 Gottersatz Gegenwart wieder lebendig werden zu lassen, zweifelnd zu be­ trachten. Das betrifft noch nicht einmal den naheliegenden Verdacht des Anachronismus, dass man also spätestens dann, wenn beim nachgestellten Wikingerüberfall auf die lauschig gelegene Dorfkirche das Mobiltelefon klingelt, weiß, in welcher Zeit man sich tatsächlich beindet. Nein, es sind viel eher die vermeintliche Eindeutigkeit vergangener Zustände, die Eindi­ mensionalität des Zeitmodells und die einseitigen Verbindun­ gen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die ausschließlich vom Heute dominiert werden, die an solchen Veranstaltungen Kritik aufkommen lassen müssen. Ähnlich wie bei Reisen durch wenig bis gar nicht bekannte Räume sollte man sich also auch beim Aufbruch in andere Zeiten bei der Reisevorbereitung einige Fragen hinsichtlich der grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten stellen. Denn selbst wenn sich das Problem der physischen Zeitreise lösen ließe, bliebe die Frage unbeantwortet, was man vorfände, wäre man erst einmal dort angekommen, wo man hinmöchte (abgesehen von der Frage, was in diesem Fall ›dort‹ genau heißen soll). Jede Zeitreise, jede Entdeckungsfahrt in Richtung des großen Kontinents ›Vergangenheit‹ hat daher mit einem unüberwind­ lichen Paradox zu kämpfen: Anscheinend muss man immer schon wissen, was man dort vorindet, noch bevor man sich aufmacht. Man muss ›die Geschichte‹ immer schon kennen (zu­ mindest in ihren allergröbsten Bestandteilen), um zu wissen, was man eigentlich sucht. Neue Erkenntnisse sind dadurch nicht ausgeschlossen, bewegen sich aber eher im homöopa­ thischen Bereich. Es geht dem Zeitreisenden so wie Christoph Kolumbus. Auch er wusste schon vor seiner Reise, wo er an ihrem Ende anlanden würde – an der Westküste Japans, um dort den großen Khan zu treffen.14 Da jede Reise in die Vergangen­ heit mit einer Frage beginnt, jeder Ahnenforscher, jede Schüle­ rin im Geschichtsunterricht, alle Menschen, die sich für die Geschichte ihrer Stadt interessieren, immer schon ein bestimm­ Gottersatz tes Problem als das ihrige benannt haben, kann (und muss) man ebenso die Frage stellen, woher sie eigentlich diese Frage haben. Wir stehen also in der Gefahr einer rückläuigen Herme­ neutik, bei der die möglicherweise irritierenden Entdeckungen im Reich des Gewesenen immer an die bereits bestehenden Vor­ erwartungen angepasst werden.15 (…) 19