[go: up one dir, main page]

Academia.eduAcademia.edu
punktum. SBAP. Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie Association Professionnelle Suisse de Psychologie Appliquée Associazione Professionale Svizzera della Psicologia Applicata Juni 2007 Leben Die Kunst des bejahenswerten Seins Boomtown im Boomland: Shanghai Im Kloster bei Pater Kassian Wie unpolitisch darf ein Leben sein? Haben oder Sein im Second Life 56. SBAP.-Mitgliederversammlung 2 Editorial Leben heisst wahre Geschichten erfinden Liebe SBAP.-Mitglieder, liebe punktum.-LeserInnen Was den Menschen gemeinsam ist: Sie werden von Eltern gezeugt. Sie werden von Müttern geboren. Von Geburt an beginnt ein Prozess von der totalen Abhängigkeit in Richtung Autonomie. Kinder werden aufs Erwachsensein vorbereitet. Als Erwachsene haben die Menschen verschiedene gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Bewegen etwas in ihren Leben. Bringen Bewegung zu andern Lebenden. Erlernen einen oder besser mehrere Berufe. Zeugen selber Kinder. Machen Karriere. Dann, nach diesem Lebenshochleistungsmarathonlauf, steht die Lösung der Aufgabe des sinnvollen Alterns an. Und früher oder später sterben sie. Abstrakt und aus grösserer Distanz betrachtet gleichen sich alle Menschen. Was sie voneinander unterscheidet, fördert der Nahblick auf die konkreten Geschichten, die ihr Leben schreibt, zutage. In meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin bekomme ich ungezählte Lebensgeschichten zu hören. Keine ist wie die andere, denn kein Leben ist wie ein anderes. Das Dasein der Menschen, unser Dasein, wird von Einzelerlebnissen geprägt. Alle hinterlassen sie Spuren und bilden in ihrer Summe unsere ureigene Lebensgeschichte. Die Palette der Erlebnisse, die unser Leben ausmachen, ist sehr reich, und je älter wir werden, desto umfangreicher wird unsere Geschichtensammlung. Erlebnisse gehen mit Gefühlen einher. Wir erinnern uns gerne an Geschehnisse, die mit angenehmen Gefühlen verbunden waren. Doch die Wege der Abrufbarkeit sind verschlungen: Nicht immer gehorchen sie unserem Willen. Bei unangenehmen Erlebnissen kennen wir die Möglichkeit des Verdrängens, des Vergessens oder gar des Abspaltens. Auch dies klappt indes nicht immer. Uns allen haften Lebensspuren an, deren wir überdrüssig sind oder auf die wir liebend gern verzichten könnten. Neulich schaute ich mir einen Dokumentarfilm an. Auf einem Sofa sitzen zwei alte Männer mit ziemlich zerfurchten Gesichtern. Die Tochter des einen, eine palästinensiche Musikerin, fragt ihren Vater, wie es denn gewesen sei, damals, als die Israeli in Jerusalem einmarschiert sind. Dieser, ein Instrumentenbauer, beginnt zu erzählen und beschreibt die enge Bewegungsfreiheit des damaligen Lebens. Plötzlich hält er in seiner Erzählung inne und macht mit der Hand eine abweisende Geste. Der andere Mann setzt derweil emotionslos fort mit der Erzählung: Alle Männer seien von den Israeli eingesammelt und abtransportiert und danach über ein Feld geschickt worden. Von der einen Seite her hätten die Israeli, von der andern her die Araber geschossen. Wer überlebt habe, habe überlebt. Nun schweigen beide. Die Tochter fragt ihren Vater, weshalb er ihr das nie erzählt habe. Er: «Was soll ich erzählen? Wir leben hier, und es ist, wie es ist. Ich habe mich trotz allem entschieden, in Jerusalem zu leben.» Weltgeschichte mischt sich mit individuellen Lebensgeschichten. Das Nicht-erzählen-Können ist nicht weniger eindrücklich als die emotionslose Darstellung. Beide Männer haben erlebt und überlebt. Ihre Erlebnisse hinterlassen Spuren, bei ihnen selbst, in ihrer unmittelbaren Umwelt. Und durch den Film schliesslich auch bei mir. Eben habe ich ein Buch des irakischen Erzählers Najem Wali gelesen: «Die Reise nach Tell al-Lahm» (Carl Hanser Verlag, ISBN 3-446-20538-1). Der Autor flüchtete 1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-Krieges nach Deutschland ins Exil. In seinem Buch beschreibt er die Auswirkungen eines korrupten, chauvinistischen Regimes auf das Leben der Menschen in deren Alltag. Im Roman kehrt Najem von der kuwaitischen Front zurück nach Hause und wird nicht von seiner Frau, sondern von seiner Nachbarin empfangen. Mit einem gestohlenen Auto reisen die beiden durch den kriegsversehrten Irak – in die geisterhafte Stadt Tell al-Lahm. Nach und nach enthüllt der Autor die Lebensgeschichten seiner Figuren. Und auch diese hinterlassen Spuren bei mir, indem sich die Szenerie im Roman mit meinen persönlichen Erlebnissen mischt. Dem Autor gelingt es darzustellen, wie entscheidend der eigene Standpunkt, der subjektive Blick auf das Erlebte, ist. Najem Wali stellt seinem Roman unter anderem ein Zitat von Boris Vian als Motto voran: «Diese Geschichte ist wahr, weil ich sie erfunden habe.» Zeit, um auf Spurensuche zu gehen und aber auch neue Spuren zu legen. Zeit, um wahre Geschichten zu erfinden. Zeit, um zu leben. Viel Spass dabei! Heidi Aeschlimann Thema Philosophie der Lebenskunst «Sich vorstellen, was bejahenswert wäre, um zum Leben Ja zu sagen» Philosophie ist paradox: Menschen, die mitten im Alltagsleben stehen, stellen sich Fragen, die losgelöst vom Lebensalltag sind. Und: Das Einzige, was sie wissen, ist, dass sie auf ihre Fragen niemals abschliessende Antworten finden. Konkrete Lebenshilfe erwartet von der Philosophie jedenfalls kaum jemand. – Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid findet, dass die Philosophie geradezu aufgefordert sei, sich ums Leben allgemein und um die Kunst des Lebens im Speziellen zu kümmern. erst hervor. Sehr vieles musste ich erst existenziell lernen, das heisst: Meine Existenz stand auf dem Spiel. Das liegt schon über zwanzig Jahre zurück. Von diesem Nullpunkt aus wurde mein Leben anders, ganz anders. Seither weiss ich, welche Bedeutung auch die negativen Seiten des Lebens haben. Und die Beziehungen zu anderen Menschen. Dass man restlos verloren ist ohne sie. Dass sie aber unter modernen Bedingungen nicht mehr einfach so da sind, sondern gepflegt werden müssen. punktum.: Herr Schmid, was ist dies: das Leben? Wilhelm Schmid: Das Leben ist ein Durcheinander aus Affekten, Erfahrungen, Beziehungen, Begegnungen, Träumen, Gedanken, Ängsten, Schmerzen, Wünschen, Lüsten, Zufällen, Zwängen usw. Eine amorphe Masse, die der Formung und Gestaltung bedarf, will sie sich nicht im Disparaten, im Diffusen, im unentwegt in Transformation Befindlichen verlieren. Das ist ein Tun ebenso wie ein Lassen: manches herauszugreifen, um ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, anderes einfach zu lassen, wie es ist. Eine existenzielle Reduktion, um sich in der unüberschaubaren Vielfalt des Erlebten zu konzentrieren auf das, was aus eigener Sicht wesentlich erscheint. Worin sehen Sie den Sinn des Lebens? Sinn ist wohl das Wichtigste und Faszinierendste des Lebens. Vermutlich immer dann, wenn ein Zusammenhang sichtbar und erfahrbar wird, kann von Sinn gesprochen werden. Auf vier Ebenen kann er gefunden und entfaltet werden: sinnlicher Sinn, der mit Hilfe aller körperlichen Sinne gewonnen werden kann und vielfältige Zusammenhänge zwischen Selbst und Welt herstellt – wenn auch immer nur im jeweiligen Moment. Seelischer Sinn, der aus gefühlten Beziehungen zu anderen hervorgeht, aus Liebe, Freundschaft, Geselligkeit; aber auch aus der gefühlten Beziehung zur Natur, weit über den Moment hinaus. Geistiger Sinn, bei dem gedankliche Zusammenhänge hergestellt werden, vor allem teleologischer Art: das Ziel, das vor Augen steht, der Zweck, für den gearbeitet und gelebt wird. Und schliesslich transzendenter Sinn, der gefühlte und gedachte Zusammenhang über die Endlichkeit und Wirklichkeit hinaus, im Bezug zu einer anderen Dimension. Wie meistern Sie persönlich Ihr Leben? Ich konzentriere alle meine Kräfte auf meine Familie und meine Arbeit. Und ich versuche, die Ebenen von Körper, Seele und Geist gleichberechtigt zu behandeln. So gehe ich hin und her zwischen Theorie und Praxis, setze mir Ziele, teile den Weg dorthin in Etappen ein. Und ich pflege hingebungsvoll ein paar Gewohnheiten, die den Rahmen dafür bieten, ständig auch Neues in mein Leben eindringen zu lassen. Manchmal passiert es mir, dass ich zittere vor Freude über mein Leben und meine Arbeit. Hilft Ihnen diese hingebungsvolle Lebensführung auch in Lebenskrisen? Aus Lebenskrisen ging sie überhaupt Was kann die Philosophie für die konkrete Lebensführung allgemein leisten? Sie kann Momente der Besinnung vermitteln, eine Besinnung auf Begriffe, die wir oft recht unbedacht verwenden, beispielsweise den Begriff «Leben». Was Menschen darunter verstehen, hat grossen Einfluss auf ihr wirklich gelebtes Leben. Die Philosophie kann auf grundsätzliche Zusammenhänge aufmerksam machen, beispielsweise dass es offenkundig eine Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin. Er wurde 1953 geboren. Er lehrt Philosophie als ausserplanmässiger Professor an der Universität Erfurt. 1991 promovierte er mit einer Arbeit über die «Lebenskunst bei Michel Foucault». 1997 folgte die Habilitation mit der Grundlegung einer Philosophie der Lebenskunst. Tätigkeit als Gastdozent an den Universitäten im lettischen Riga und im georgischen Tiflis. Seit Jahren verbringt Wilhelm Schmid jährlich zwei Wochen als «philosophischer Seelsorger» im Spital Affoltern am Albis – dieses Jahr zwischen dem 17. und 28. September. Polarität des Lebens gibt, die es unmöglich macht, nur das Positive haben zu wollen, Negatives wie Unlust, Schmerz, Leid und Tod hingegen auszuschliessen. Sie kann die grossen Probleme rechtzeitig in den Blick nehmen, mit denen die Lebensführung zu tun hat, beispielsweise die ökologische Zerstörung. Ich habe 1998 im Buch «Philosophie der Lebenskunst» ein umfangreiches Kapitel dazu publiziert, das lange kaum jemanden interessiert hat. Jetzt ändert sich das. Mit Ihren Büchern haben Sie im deutschsprachigen Raum die Diskussion über die Lebenskunst wieder angestossen und vorangetrieben. Was verstehen Sie unter Lebenskunst? 3 4 Thema Philosophie der Lebenskunst Bewusst geführtes Leben. Keine Sorge: Das geht nicht pausenlos. Ich meine damit nur die gelegentlichen Momente, die wir doch haben und zum Überdenken unseres Lebens sowie zur Neuorientierung nutzen können. Ich glaube auch nicht an die totale Freiheit, auf das eigene Leben Einfluss nehmen zu können. Frei sind wir allenfalls zu 5 Prozent. Aber das ist die entscheidende Frage: Wo sind meine 5 Prozent? Es käme darauf an, sie zu kennen, um alle Kräfte darauf zu konzentrieren, statt sie auf die 95 Prozent zu verschwenden, auf die wir ohnehin keinen Einfluss haben. Viele Menschen wollen 100 Prozent Freiheit, aber sie bewältigen noch nicht mal ihre 5 Prozent. Gerade die akademische Philosophie hat in den letzten 200 Jahren die Frage nach der Lebenskunst weitgehend vernachlässigt. Wieso diese Lücke? Die Philosophie selbst trägt die Verantwortung dafür, dass sie eines ihrer vornehmsten Gebiete aus den Augen verloren hat. Dies geschah aus Gründen der Konzeption der Moderne durch die Philosophen, die Aufklärer waren: Mit Hilfe von Wissenschaft, Technik und freier Wirtschaft sollte die Moderne die kleinen und grossen Lebensprobleme lösen und das «grösste Glück der grössten Zahl» realisieren. Die Philosophie fand ihre Aufgabe fortan darin, der Wissenschaft theoretisch zuzuarbeiten. Wo alle Lebensprobleme gelöst werden, wird eine Lebenskunst überflüssig. Es scheint jedoch, dass das Kalkül nicht gänzlich aufgegangen ist, und der Optimismus, dass es jemals aufgehen wird, ist geschwunden. Konsequenterweise kommt es zu einer Rückkehr der Lebenskunst. Wir leben in einer Zeit, die ein hohes Mass an Komplexität aufweist. Der einzelne Mensch sieht sich ständig der Aufgabe ausgesetzt, Entscheidungen zu treffen, also zu wählen. Sie schenken in diesem Zusammenhang der Klugheit viel Beachtung. Was meinen Sie damit? Eine Ausbildung des Gespürs. Zwar kann das Gespür Bestandteil der na- vom Vorgegebenen abheben, nicht mehr nur Widerstand und Widrigkeit zum Gehalt nehmen kann, sondern selbst zu einer Setzung und Umsetzung kommen muss. Das geht nicht ad hoc von selbst, sondern muss mühsam erlernt werden, mit Hilfe von Asketik, von täglicher Übung (griechisch áskesis). Das ist schwer, aber ich sehe keine Alternative dazu. Jedes Misslingen bringt eine wertvolle Erfahrung mit sich und stärkt wiederum das Gespür. türlichen Grundausstattung des Individuums und ihm angeboren sein, seine bewusste Ausbildung und Einübung geschieht jedoch durch Erfahrung und durch die Besinnung auf die jeweils gemachte Erfahrung. Die Erfahrung wiederum, die das ausmacht, was dem Individuum begegnet und widerfährt, muss nicht etwa nur passiv erwartet, sondern kann aktiv gesucht werden. Erfahrung zu gewinnen, lohnt daher nahezu jede existenzielle Investition, um aus unterschiedlichsten Perspektiven blicken zu lernen und in den unterschiedlichsten Situationen zu leben. Wir können einen grossen Reichtum gemachter, auch historisch vermittelter Erfahrungen in uns ansammeln und den Horizont denkbarer und möglicher Erfahrungen erkunden, um uns selbst mit einem Gespür auszustatten, das ein kluges, also rücksichtsvolles, umsichtiges, vorsichtiges, vorausschauendes Vorgehen ermöglicht. Die «kluge Wahl» ist also entscheidend, um die eigene Autonomie angesichts vielfältiger Verpflichtungen und Anforderungen des modernen Lebens zu bewahren. Kann man diese Kunst des klugen Wählens erlernen? Selbstbestimmt, «autonom», ist nicht schon das Selbst, das sich befreit, sondern erst dasjenige, das zur Formgebung aus Freiheit, zur Selbstgesetzgebung, in der Lage ist, denn das ist der Wortsinn der Autonomie: sich selbst (autós) das Gesetz (nómos) zu geben. Schwieriger noch als die Befreiung ist die Formgebung, die sich nicht mehr Klugheit und Vernunft sind das eine. Gefühle, Lüste und Empfindungen das andere. Wer regiert da über wen? In einer Selbstbefreundung, wie sie mir vorschwebt, regieren alle mit, aber nicht alle gleichzeitig. Das ist weitaus komplizierter, als nur Rationalität und Emotionalität unter einen Hut zu bekommen. Denn innerhalb der rationalen Überlegungen gibt es gegensätzliche Bestrebungen. Und ebenso innerhalb der emotionalen Bewegungen: etwas zwischen Zärtlichkeit und Zorn. Ein Teil im Selbst muss sich darauf spezialisieren, für Integration und Ausgleich zwischen allen Seiten zu sorgen. Daher spreche ich von der Integrität, nicht von der Identität des Selbst. Das geht nicht ohne Kompromisse und Kuhhandel – ganz wie in der grossen Politik. Sie haben den Begriff der «Sorge um sich selbst» wiederbelebt. Wie lässt sich diese Selbstsorge mit den verschiedenen Beziehungen zu anderen vereinbaren? Sie ist die Grundlage für die Beziehungen zu anderen. Wie sollte sich ein Selbst, das sich nicht um sich selbst kümmert, um andere kümmern? Diese Einsicht ist eigentlich tief in unserer Kultur verankert, nicht nur in der Philosophie bei Aristoteles, sondern auch im Christentum in dem einen Satz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es heisst ja ganz bewusst nicht: anstelle deiner selbst. Dieses «wie dich selbst» zu negieren, macht in der Konsequenz auch die Zuwendung zum Nächsten unmöglich. Deshalb hat die Nächstenliebe historisch so schlecht funktioniert. Thema Philosophie der Lebenskunst Menschen suchen Glück, Liebe und Erfüllung – oder das «gute Leben». Wie würden Sie das gute Leben erklären? Vom guten Leben spreche ich nicht. Die Philosophen verstehen darunter das moralische Leben, aber ein Grossteil unseres Lebens ist gar nicht moralisch relevant. Viele andere Menschen verstehen unter dem guten Leben das rein positive, angenehme Leben, aber da spielt das Leben nicht mit. So bevorzuge ich, vom «schönen Leben» zu sprechen, im Sinne von bejahenswert: das Leben, zu dem man Ja sagen kann. Ich sage nicht, dass das bestehende Leben bejahenswert ist. Aber dass es sinnvoll ist, sich eine Vorstellung davon zu machen, was bejahenswert wäre, um dann darauf hinzuarbeiten. Gestalte dein Leben so, dass es bejahenswert ist: Das ist der existenzielle Imperativ der Lebenskunst. Seit 1998 verbringen Sie jedes Jahr zwei Wochen am Bezirksspital Affoltern am Albis. Dort wirken Sie als «philosophischer Seelsorger». Wie kam es dazu? Den Anfang machte mein Text «Vom Sinn der Schmerzen», den ich 1995 in der «Basler Zeitung» publizierte. Auf Umwegen kam er zum Chefarzt in Affoltern, der mich einlud, über dieses Thema im Rahmen der hauseigenen Weiterbildung zu referieren. Der Vortrag zog die Frage nach sich, ob es nicht sinnvoll sein könne, regelmässig am Spital zu arbeiten und in der Kon- frontation mit der Praxis die Idee einer neuen Lebenskunst zu erproben, und zwar gerade dort, wo Menschen ihrer offenkundig am meisten bedürfen. Ich selbst war äusserst skeptisch: Was soll ein Philosoph am Spital? Heute frage ich mich: Wie kommen eigentlich diese vielen Spitäler ohne Philosophen aus? Was tun Sie dort genau? Ich halte Vorträge, moderiere Gesprächsgruppen und führe vor allem viele Gespräche. Das Gespräch wird zu einem «Lebensgespräch» und betrifft alles, was eine Rolle fürs Leben für den betreffenden Menschen spielt; nicht notwendigerweise mit pathologischem oder dysfunktionalem Hintergrund. Menschen haben Fragen an das Leben: Das ist weder krank noch gestört. Sie können sich im Gespräch klarer über sich selbst werden, alte Anschauungen überprüfen und neue Anregungen aufnehmen. Die Menschen dort kommen zu Einsichten und vielleicht auf neue Gedanken. Und ich auch. Ihre Bücher sind sehr erfolgreich. Welche Aufgaben haben sie? Meine Bücher sind Anregungen, das eigene Leben zu überdenken und gegebenenfalls anders als zuvor auszurichten. Es geht darum, eine eigene, gut begründete Lebensphilosophie zu finden. Ich sehe mich in der Tradition der Aufklärung, bemühe mich aber, ein aufgeklärter Aufklärer zu sein, der sich selbst nicht im Besitz der alleini- gen Wahrheit wähnt. Ich träume auch nicht von künftigen idealen Verhältnissen, glaube aber daran, dass sich Veränderungen und Verbesserungen vornehmen lassen, individuell und gesellschaftlich, auch wenn manchmal dabei Verschlechterungen herauskommen. Interview: Claudio Moro Bücher von Wilhelm Schmid Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks. Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2006, ISBN 3-458-34899-9 Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst. Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2005, ISBN 3-458-34820-4 Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Suhrkamp-Reihe «Bibliothek der Lebenskunst», Frankfurt/M. 2004, ISBN 3-518-41656-1 Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Suhrkamp-Reihe «Bibliothek der Lebenskunst», Frankfurt/M. 2000, ISBN 3-518-41207-8 (Taschenbuchausgabe: ISBN 3-518-45664-4) Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Suhrkamp TB Wissenschaft 1385, Frankfurt/M. 1998, ISBN 3-518-28985-3 Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Suhrkamp TB Wissenschaft 1487, Frankfurt/M. 2000, ISBN 3-518-29087-8 Im August 2007 erscheint im Insel Verlag: Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist. 5 6 Fachwissen Entwicklungspsychologie Vom Wunsch, irgendwo ankommen und bleiben zu dürfen Viele erleben sich lebensphasenweise als von äusseren Zwängen sowie inneren Prägungen gesteuert. Dann möchten sie ihrem Leben eine eigene Note und Richtung geben und sich auf das für sie Wesentliche konzentrieren. Immer mehr Menschen benötigen Begleitung auf dem Weg zu einer bewussteren, umfassenderen und selbstbestimmteren Lebensführung. «Alles hat man herausgefunden, nur nicht, wie man lebt», lautet ein viel verwendetes Zitat Jean-Paul Sartres. Es mahnt uns daran, dass Entwicklung als autonomer Veränderungsprozess auf bewusst getroffenen Lebensentscheidungen basiert. Diese setzen Entwicklung als eine individuelle – und eben bewusste – Konstruktion und Lebenslaufgestaltung in Gang. Anstoss dazu ist die sich aufbauende Spannung, wenn ausgetretene Lebenspfade schal und langweilig geworden sind. Der Wunsch nach Neuem und Unbekanntem wird drängender, das Bedürfnis, bisher noch nicht oder nur rudimentär gelebten Potenzialen und Optionen Raum zu geben, führt zu Verhaltensänderungen in Richtung Selbstaktualisierung. Verbunden damit ist ein sehr grosses Bedürfnis, Neues aufzunehmen, zu lernen, sich anregen zu lassen, um daraus neue Orientierungen ableiten zu können. In einer Befragung von erwachsenen Personen unterschiedlichen Alters nach ihren Entwicklungszielen haben 28 Prozent Autonomie und Weiterentwicklung genannt (Zöllner: Dem eigenen Leben Gestalt geben. Kreuz Verlag, Stuttgart 1996). Aber auch die Annahme der eigenen Person und den Gewinn von Weisheit nannten besonders Frauen als übergreifende Zielsetzungen. Dabei wurde deutlich, dass das Leben mehrheitlich als Aufgabe gesehen wird, der man sich ausbalanciert, mit Gelassenheit und Vertrauen stellen möchte, um sie zu meistern. Angestossene Entwicklung Solche autonomen Entwicklungsprozesse werden häufig aber auch durch eine innere Entwicklung mitbeeinflusst. Biologisches Älterwerden korrespondiert mit psychologischem Altern und Reifen des Individuums hin zu komplexeren Strukturen und zu einer qualitativen Veränderung der Selbst- und Weltsicht, was einen entsprechenden Veränderungswunsch nach sich zieht. In diesem Zusammenhang sind auch Lebensereignisse bedeutsame Motoren in einer Biografie. Wir unterscheiden zwischen normativen, zu jeder Biografie gehörenden «Standardereignissen» und nichtnormativen Life Events, also individuellen Ereignissen. Dabei ist kennzeichnend, dass in pluralistischen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen sozial akzeptierten Lebensentwürfen die normativen Ereignisse abnehmen und zugleich nichtnormative Ereignisse zu normativen werden können. Solche Lebensereignisse bewirken Entwicklungsschübe quantitativer und qualitativer Art – die Krise als Chance. Ressourcenaktivierung und der Erwerb von Copingstrategien führen zu einem spezifischen Entwicklungsgewinn. Ferner stellen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontextbedingungen immer wichtiger werdende Herausforderungen zur Entwicklung dar. Rasch wechselnde, umwertende gesamtgesellschaftliche Sozialisationsprozesse bedingen ein lebenslanges Lernen. Die Verkürzung der Halbwertszeiten von Wissen und Können ist ein Anreiz, aber auch eine Verpflichtung, die manche Menschen an die Grenzen ihrer Veränderungstoleranz bringt. Dem Wunsch, irgendwo auch ankommen und bleiben zu dürfen, als Ausdruck eines menschlichen Grundbedürfnisses nach psychologischer Heimat begegnen wir in der Beratungspraxis wohl genauso häufig wie dem Wunsch nach Veränderung – nur wird dieser sehr direkt ausgesprochen, jener aber mehr versteckt und über Symptombildungen artikuliert. Erzwungene Entwicklung Eine angestossene Entwicklung nimmt – wenn auch vielleicht verzögert und nach Bearbeitung von Widerständen – den Entwicklungsimpuls auf und setzt ihn um. Bei einer erzwungenen Entwicklung dominiert der Widerstand und löst Fixierung oder Regression aus. Auch wenn äussere Schritte vollzogen sind, zum Beispiel in einer neuen beruflichen Stellung oder im ungewollten Single-Status, fehlt die innere Annahme der neuen Lebenssituation. Der betreffende Mensch bleibt als System unverändert, agiert lediglich in einer neuen, diktierten Rolle. Externe Attribuierung, Anklagen und Aggressionen persistieren, die Erfahrungen im Prozessverlauf werden erlebnismässig isoliert, abgestossen und bleiben deshalb ohne Veränderungseffekt auf die Person. Unbearbeitete erzwungene Veränderungen sind nicht selten Ursache für ein lebenslanges Ressentiment, sie können einen Knick in der Lebenslinie bewirken, die in der Folge dauerhaft von einer unterschwelligen Kränkung geprägt ist, was den auch sozialwirtschaftlichen Wert einer psychologischen Intervention unterstreicht. Lebensthemen und Entwicklungsaufgaben Biografien lassen sich in grafische Muster übersetzen. Selten findet man monothematische Verläufe, in denen nur ein Thema und ein Muster statisch gelebt werden. Meist sind Wechsel, Abfolgen, Kontraste mit unterschiedlicher Häufigkeit und Dauer zu verzeichnen. Die ansteigende Linie des Erprobens kann abgelöst werden von der linearen Linie des konsolidierten Auslebens einer Struktur. Nach mehr gegen aussen hin gerichteten Lebensphasen tritt das Ich wieder vermehrt ins Zentrum, krisenhafte Verläufe beruhigen sich, und eine sachlichrationale Lebenseinstellung gewinnt wieder Oberhand. Entwicklungsthemen lassen sich nicht verbindlich an Lebensaltern festmachen, sondern oszillieren als Vordergrund- und Hintergrundthematik, abhängig von Lebenssituation und Lebensbedingungen. Das Leben erproben Stichworte für Menschen, die dieses Lebensthema in den Vordergrund stellen, sind gemäss der genannten Befragung zum Beispiel: Aufbruch, Herausforderung, Grenz- und Platzsuche, Freiheit, Unbeschwertheit, Offenheit, Spontaneität, Impulsivität, Energie, Draufgängertum, Tatendrang, Ideale, Ideen, Lern- und Leistungswille. Hier steht die Identitätsdifferenzierung im Vordergrund. Das Leben wird als Fachwissen Entwicklungspsychologie higkeiten, sich festlegen, einen Platz einnehmen, Wurzeln schlagen. Deutlich wird auch der Wunsch, diese gewonnene Lebensform eine Weile umsetzen und ausleben zu können. Nach der Differenzierung stehen dann wieder Festigung und Bindungsaufbau in Sachund Beziehungsbereichen im Vordergrund. Ulrike Zöllner, Prof. Dr., ist Dozentin für Psychodiagnostik und Entwicklungspsychologie an der Hochschule für Angewandte Psychologie (HAP) in Zürich. Tätigkeit als Referentin für Entwicklungs-, Erziehungs- und Lebensführungsfragen in der Erwachsenenbildung. Herausforderung genommen, der man sich mit Neugier, Wagemut, auch Naivität stellt, an der man sich messen und die man erfahren will. Sammeln von Erfahrungen, Entdecken von Möglichkeiten, Ausloten der Spielbreite dienen dazu, einen ersten – oder auch einen folgenden – Lebensplan zu finden. Eine typische Erprobungsphase ist das frühe Erwachsenenalter. Das gleiche Muster finden wir aber auch als ausagierendes Übergangsmuster, wenn die Fragen «Wer bin ich?» und «Wohin will ich?» erneut gestellt werden oder werden müssen. Strukturen und Muster leben Nach Phasen der Orientierungssuche erleben sich viele Menschen dann wieder kanalisierter und zielbewusster, haben mehr Vertrauen und Zutrauen zu sich selbst gewonnen, sind vernünftiger und pragmatischer und berichten von vermehrter Selbstannahme, sie sind «abgeschliffener und gerundeter», wie eine befragte Person es formuliert hat. Weitere Stichworte für ein konsolidiertes Lebensmuster sind unter anderem: sich begrenzen und abgrenzen, Sicherheit, Selbstbewusstsein, Wissen um Fä- Rückbesinnungen Mit dem Thema der Rückbesinnung tritt die Zeitdimension der Vergangenheit in den Vordergrund. Erfahrungen werden ausgewertet und auf mögliche Konsequenzen und nötige Korrekturen hin befragt. Rückbesinnungen leiten in der Regel Neuorientierungen und erneute Erprobungsphasen ein. Im Unterschied zu krisenhaften Übergängen, die mit zum Teil erheblicher emotionaler Beunruhigung verbunden sind, stellen sie kognitive und wertende psychologische Prozesse in den Vordergrund, sind bilanzierend und schlussfolgernd ausgerichtet. Personen, die wir mit diesem Hintergrund begleiten, haben in der Regel eine hohe Selbstkompetenz in der Bewertung ihrer Situation und benötigen uns vor allem als Ansprech- und Spiegelungspersonen im Prozess ihrer Selbstreflexion. In der Selbstbeschreibung sind Begriffe wie Ressourcenwahrnehmung, Aufbauwünsche, Erstarkung und Profilierung, Eigenständigkeit und Akzentuierung des persönlichen Stils kennzeichnend. Krisen Lebenskrisen können angestossen werden von äusseren Lebensereignissen und treten dann zeitlich beliebig in einer Biografie auf. Als phasentypisches Geschehen begleiten krisenhafte Verläufe vor allem besonders herausfordernde Übergänge im Leben: Empty-nest-Situation, Berentung usw. Von Betroffenen wurden genannt: Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Wurzeln, der dunklen Seite und den Verdrängungen, Abschied von den Träumen, Zukunftsängste, Verunsicherung. Emotional besteht ein hoher Grad an Labilisierung, der Antrieb schwankt zwischen Resignation, depressiver Selbstaufgabe und panikartigem Aktionismus. Das Verhalten kann regressive Züge tragen, zu Überkompensation und Forcierung des bisherigen Lebensstils tendieren oder durch Überreaktionen mit überstürzten Lebensplanänderungen und grundlegenden Wechseln gekennzeichnet sein. Während für extern ausgelöste Krisen die fachliche Begleitung durch Krisenintervention in der Regel unerlässlich ist, gilt für Übergangskrisen im Lebenslauf häufig eine alte Psychiatrieweisheit: Die Konfliktlösung erfolgt in der Regel von selbst in der Zeit. Hemmende und unterstützende Faktoren für Lebenserfolg Die Frage, was Lebenserfolg ausmacht, kann eigentlich nur individuell beantwortet werden. Mit der folgenden psychologischen Formel versuchen wir eine generelle Antwort: Lebenserfolg ist die Summe der Lebensbemühungen unter der Zielsetzung, die persönlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die eigene Form zu finden und lebenspraktisch zu tun, was es zu tun gilt. Dafür haben die befragten Personen unterschiedliche psychische Ressourcen eingesetzt. Im Vordergrund standen die intellektuellen Fähigkeiten (Einsicht, Auswertung von Erfahrungen, Lernen), die Ich-Kräfte (Wille, Beständigkeit, Durchhaltefähigkeit) sowie ein tragendes soziales Netzwerk. Als erfolgshemmend wird vor allem die persönliche Unsicherheit in Bezug auf Risiko und Zielorientierung genannt. Auch Autoritätskonflikte und das Verhaftetsein an Normen stellen Hemmnisse für eine erfolgreiche Lebensbewältigung dar. Häufig genannt wurden auch erhöhte Aggressivität und Perfektionismus als Ursachen für geringe Lebenszufriedenheit – womit uns auch die therapeutischen Zielsetzungen mit an die Hand gegeben sind. Die Frage nach dem guten, das heisst balancierten und zufrieden stellenden Leben lässt unseren professionellen Grundkonflikt wieder aufbrechen: Müssen wir selbst lebenserfolgsreich sein, um andere begleiten zu können? Lebensbegleitung im weitesten Sinne ist wohl das psychologische Tätigkeitsgebiet, in dem sich für uns ein Maximum an Anstössen für das eigene Wachstum ergibt und ergeben darf. Ulrike Zöllner 7 8 Fachwissen Leben in Boomtown Shanghai: «Better City, Better Life» Shanghai ist eine vibrierende Handelsstadt. Das grosse Wirtschaftswachstum bietet den Einwohnern viele Möglichkeiten, und dennoch ist ein Leben im Wohlstand noch keine Selbstverständlichkeit. Die Menschen verdienen ihr Geld hart und träumen von ein bisschen mehr Komfort. Der Durchreisende schlendert in Shanghai durch die Nanjing-Strasse und handelt sich an zahlreichen Strassenständen tiefere Preise für seine Souvenirs aus. Am Ufer des HangpuFlusses bewundert er den östlichen Stadtteil Shanghais, dessen ehemalige Gemüsegärten in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten in ein neues Wirtschafts- und Hightech-Viertel verwandelt worden sind. Mancher wundert sich, wie sich eine Stadt so schnell verändern kann. Doch was steckt hinter der Fassade? Vor allem in den letzten 15 Jahren haben sich die Bewohner Shanghais an die permanente Präsenz der Ausländer gewöhnt. Sie bringen neue Geschäftsideen und Produkte in die Stadt, und gleichzeitig lassen sich mit ihnen lukrative Geschäfte abschliessen. Für die Fremden aus dem Westen geben sich die Chinesen einen englischen Namen und erleichtern ihnen damit das Memorisieren. Die Stadt kennt ihren eigenen Dialekt – nur im Umgang mit Zuwanderern greifen die Leute in Shanghai auf das allen Chinesen vertraute Mandarin zurück. Ihre Landesgenossen in der nördlichen Hauptstadt Peking nennen sie spöttisch «Bauern», und gegenüber Neulingen ist eine gewisse Überheblichkeit spürbar. Eine Vorzeigestadt Shanghai geniesst in Peking einen gewissen Sonderstatus. Derzeit investiert die Regierung, zulasten anderer Regionen, sehr viel Geld in die Entwicklung der chinesischen Metropole. Im Urban Planing Center legt die Stadtregierung ihre ehrgeizigen Ziele offen, die bis 2010 erreicht werden sollten. Für die bevorstehende Weltausstellung unter dem Motto «Better City, Better Life» wird die Infrastruktur massiv verbessert, moderne Hochhäuser werden errichtet sowie Grünanlagen für die seelische Erholung angelegt. Bereits vor ein paar Jahren hat man die grossen Fabriken aus der Stadt verbannt und damit die Luft merklich verbessert. Man ist sich darüber im Klaren, was die Besucher an einer Grossstadt schätzen, und fasst langfristig den Aufbau eines asiatischen Finanzzentrums ins Auge. Die Pläne der Politiker spielen für das persönliche Glück der einzelnen Bewohner meistens keine Rolle. Die Menschen in Shanghai haben keine Zeit, sich um die Politik zu kümmern, und sind froh, wenn deren Projekte sie nicht tangieren. Manche Ziele, die sich die Regierung gesteckt hat, sind noch nicht erreicht. Gewisse Quartiere wurden einst für den Abriss gekennzeichnet, sind aber immer noch im alten Zustand erhalten. Die Chinesen nehmen dies zur Kenntnis und zucken mit den Schultern. Sie kennen ihre Schranken und nutzen die Freiräume für den Handel. In einer Stadt, die sich so schnell verändert, setzt man sich ein mittelfristiges Ziel und ist flexibel in der Anpassung. Last des Einzelkindes Stanley, ein Chinesischlehrer aus Shanghai, empfindet das Leben in der Boomtown als hart und den Leistungs- druck als gross. Er gehört zur Generation der Einzelkinder. Obwohl seit ein paar Jahren ein Ehepaar, das aus zwei Einzelkindern besteht, zwei Kinder grossziehen darf, winkt Stanley ab: «Die Verantwortung für ein Kind ist bereits belastend genug, zwei Kinder sind zu viel.» Von den Kindern wird in China sehr viel verlangt. Nur die besten Primarschüler und musikalisch begabte Kinder erhalten in Shanghai die Chance, eine renommierte Mittelschule zu besuchen. Nach der Mittelschule werden die Anwärter für die Universität nach ihren Noten selektioniert. Die Kinder opfern deshalb einen Grossteil der Schulferien dem Lernen. Nicht selten besuchen sie bereits mit vier Jahren am Samstagmorgen einen Englischkurs. Dafür sorgen die Eltern. Beziehungen als Sprungbrett Floyd fühlt sich auch noch als junger Erwachsener den Eltern gegenüber verpflichtet und ist darum bemüht, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Er konnte zwar sein Studium selber wählen, will seinen Vater aber trotzdem nicht enttäuschen. Dieser hat sich für die erste Arbeitsstelle seines Sohnes nämlich umgehört und über einen Kollegen ein Vorstellungsgespräch bei Fachwissen Leben in Boomtown einer grossen Frachtschifffabrik organisiert. Floyd wird die Möglichkeit genau prüfen und kann das Angebot nur ausschlagen, wenn er eine bessere Arbeit findet. Widersprechen gehört nicht zur traditionellen chinesischen Erziehung, und die ältere Generation ist der Meinung, dass sich ein Kind damit nur schadet. Die Generation der achtziger Jahre traut sich aber je länger, je mehr, ihre Meinung frei zu äussern. Wie Floyd stammen zahlreiche Studenten in Shanghai aus anderen Provinzen. Sie hoffen, nach dem Studium in Shanghai Fuss zu fassen, und erträumen sich von der Grossstadt eine bessere berufliche Chance. Doch trotz einem offiziellen Wirtschaftswachstum von bisher rund zehn Prozent per annum ist die Stellensuche für Universitätsabgänger nicht einfach. Da hilft eine Beziehung zu einem hohen Staatsangestellten oder einem wichtigen Manager in der oberen Etage. Das grösste Geschenk an die Eltern ist, sich eine sichere Existenz aufzubauen. Wer keine gute Arbeit findet, kehrt deshalb nach Hause zurück. Die Eltern vermissen ihr einziges Kind, und nur eine gute Stelle kann die Entbehrung rechtfertigen. Im Kaufrausch Das Leben in Shanghai ist noch weit davon entfernt, bequem zu sein. Gearbeitet wird viel, und 15-StundenTage sind eher Regel denn Ausnahme. Ziel ist es, in kurzer Zeit möglichst viel zu verdienen. Die mangelnde Loyalität zum Arbeitgeber ist für manche Firmen ein Problem. Denn sobald von aussen ein höherer Lohn angeboten wird, sind die eingearbeiteten Mitarbeitenden wieder weg. Doch abspringen können nicht alle. Ein Universitätsprofessor meinte, diese Wahl habe er nicht. Er arbeite an der Universität, die ihm die beste Pension in Aussicht stelle, nicht an jener, wo er am liebsten arbeiten würde. Das gefalle ihm an Amerika: Man erhalte eine gewisse soziale Sicherheit und damit ein Stück Freiheit, das zu tun, wozu man Lust habe. Wenige Menschen in Shanghai haben genügend Geld, um losgelöst von fi- nanziellen Zwängen ihre Träume verwirklichen und ihrer Passion nachgehen zu können. Die prallvollen Kaufhäuser deuten aber auf wachsenden Wohlstand hin. Einkaufen ist das grösste Hobby der chinesischen Frauen, und mit Einkaufen verbringen sie ihr Wochenende. Stanley, der Chinesischlehrer, erzählt schmunzelnd, wie seine Frau Stunden damit verbringen kann, das Geschäft zu finden, das ein bestimmtes Kleid zum günstigsten Preis anbietet. Feilschen kann man in Shanghai um fast alles: Kleider, Früchte, Miete. Nur grosse Kaufhäuser haben fixe Preise. Die Frauen sind besonders hartnäckig und verstehen es, bis zum letzten Yuan zu kämpfen. Aus diesem Grund verwalten sie in der Regel auch den Geldbeutel ihres Mannes. Die Hausarbeiten überlassen sie hingegen gerne ihrem Gatten. Vor allem die Männer aus Shanghai sind bekannt dafür, dass sie im Haushalt und bei der Kindererziehung mithelfen. Stanley meint dazu verschmitzt: «Einen Mann aus Shanghai zu heiraten, ist eine gute Partie, eine Frau aus Shanghai zu heiraten, eine schlechte.» Feierabend ohne Bier Die jungen Chinesen erhoffen sich von ihrer Zukunft genügend Freizeit, um ihr Leben geniessen zu können. Am Wochenende gehen sie mit Freunden Karaoke singen oder laden diese zu sich nach Hause ein. Floyd kennt das Nachtleben als 23-Jähriger wie manche seiner Altersgruppe nicht. Ihm fehlt das Geld dazu, anderen die Zeit. Mit Kollegen ein Feierabendbier zu trinken, ist ihm fremd. Alkohol trinken die Chinesen in der Regel mit Geschäftskollegen und zum Essen. Sobald Floyd in der Geschäftswelt einsteigen wird, wird er sich an den Alkoholkonsum gewöhnen – nicht zwingend jedoch ans Nachtleben. Der nächtliche Spass ist vielen zu teuer, das Geld sparen sie für ihre Ferien. Alle Chinesen erhalten zur selben Zeit drei Wochen Ferien. Diese Zeit nutzt Stanley, um mit seiner Familie zusammen zu sein. Auf seiner Hochzeitsreise wollte er nach Europa reisen, doch seine Hoffnung zerschlug sich schon Ariuscha Davatz, geboren 1973, wuchs in den USA und der Schweiz auf. Sie ist Juristin, Kommunikationsfachfrau und Journalistin. Nach dem Rechtsstudium wechselte sie in die Kommunikationsbranche. In verschiedenen Unternehmen sammelte sie Erfahrungen in der integrierten Kommunikation. In Asien hat sie unter anderem Burma, Vietnam, Kambodscha und China bereist und schrieb darüber. Derzeit lebt sie in Shanghai. bald: Als Individualtourist kann er nur nach Europa reisen, wenn er mehr als einen Jahreslohn auf einem Sperrkonto hinterlegt. Und einer Reisegruppe will er sich nicht anschliessen. Deshalb haben sich er und seine Frau für die Malediven entschieden und die Europareise aufgeschoben. Manche Chinesen träumen davon, dass der schnelle Wandel die Tore zu Amerika und Europa schon bald öffnen wird. Die Leidtragenden Neben Studenten ziehen zahlreiche Menschen mit schlechter Ausbildung in die chinesische Metropole, weil sie hier mehr verdienen als zu Hause. Nach dem chinesischen Neujahr werden vor allem Bauarbeiter am Zentralbahnhof von Arbeitgebern aufgelesen. Wer auf dem Bau arbeitet, arbeitet Tag und Nacht. 9 10 Fachwissen Leben in Boomtown Die Bauarbeiter schlafen in den zur Verfügung gestellten Schlafsälen und waschen sich in öffentlichen Duschanlagen. Nicht nur sogenannte Saisonniers duschen dort, auch Einheimische nutzen diese Einrichtungen im Winter. Die Anzahl lässt sich nicht beziffern, doch es dürften ziemlich viele sein. Überhaupt: Was genaue Zahlen anbelangt, so meint eine junge Frau lachend, so sei unter allen Informationen in der Zeitung das Datum am wahrsten. Ihr Freund fügt bei, selbst die Temperatur stimme im Sommer manchmal nicht. Laut Zeitung klettere die Temperatur in Shanghai nie über 37 Grad Celsius, weil den Arbeitnehmern bei wärmeren Temperaturen Hitzeferien gewährt werden müssten. Tatsächlich zeige das Thermometer aber nicht selten 40 Grad an. Ohne Arbeitskräfte findet kein Wandel statt. Und in diesem Wandel zählt jeder Tag. Die Unterschicht ist für jedermann sichtbar, der mit offenen Augen durch die Stadt geht. In vielen Quartieren leben sowohl arme wie wohlhabende Chinesen dicht nebeneinander. Wer in alten und heruntergekommenen Häusern lebt, muss sich darauf gefasst machen, dass sein Zuhause schon bald durch ein Hochhaus ersetzt wird. Jedem enteigneten Chinesen wird eine neue Wohnung, meistens am Stadtrand, zugewiesen. Wo genau, das wissen sie nicht. Sie sind Opfer des Wandels, aber sie haben keine Wahl. Stanley und Floyd sind sich der Unterschicht und deren Problemen bewusst, aber viel dagegen unternehmen können sie nicht. Auch in ihrem eigenen Leben fehlt ein sicheres Fundament. Die Lebensbedingungen wandeln sich. In Shanghai gibt es unzählige Chancen, und ein jeder versucht eine günstige Gelegenheit zu ergreifen, um mehr Geld zu verdienen und sein Leben bequemer gestalten zu können. Man sehnt sich nach ein bisschen Vergnügen. Es heisst, die Menschen in Shanghai seien schlau im Kleinen, aber nicht im Grossen – keine Abenteurer also. Vielleicht sind sie sich aber auch nur bewusst, dass sie bereits heute mehr besitzen als die meisten ihrer Landesgenossen und dass es gilt, das bereits Erreichte zu bewahren. Ariuscha Davatz Das aktuelle Kursangebot 2007 Weiterbildung für Psychologinnen und Psychologen Psychotherapie/Erwachsene MAS Systemische Psychotherapie mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt Einführung in die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) der Borderline Persönlichkeit ADHS/ADS im Erwachsenenalter Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch 6 – 8 Semester ½ Tag 1½ Tage Kinder und Jugendliche MAS* Kinder- und Jugendpsychologie (*MAS wird beantragt) CAS Diagnostik und Erziehungsberatung CAS Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters Gewalt in der Schule Bindungsentwicklung und Bindungsstörungen Mächtige Jugendliche – ohnmächtige Eltern? Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch 6 Semester 2 Semester 3 Semester 3 Tage 1½ Tage 1 Tag Alter CAS Gerontopsychologie 3 Semester Berufs- und Laufbahnberatung MAS* Berufs- und Laufbahnberatung (*MAS wird beantragt) 4 Semester Ausgewählte Themen Autogenes Training und Stressbewältigung Einführung in die Pharmakotherapie psychischer Störungen Burnout – Massnahmen zur Prävention und Intervention Stressabbau, Gesundheit und Leistungsfähigkeit Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch Anmeldung und Information: Telefon +41 (0)44 268 33 33 info@iapzh.ch, www.iapzh.ch IAP Institut für Angewandte Psychologie Merkurstrasse 43, Postfach, CH-8032 Zürich Hochschule für Angewandte Psychologie 12 Lektionen 1 Tag 2 Tage 32 Lektionen Fachwissen Im Kloster «Ich deute das Wort Gegenwart gerne in der Formel ‹Gegen das Warten›» Das Kloster Einsiedeln ist ein Ort der Begegnung und der Ruhe. Im rund 300 Jahre alten Gemäuer leben Benediktinermönche, die ihr Leben der Suche Gottes widmen. Sie tun dies in der Gemeinschaft der Brüder und im Wechsel von Arbeit und Gebet. punktum. sprach mit Pater Kassian über dessen Lebenserfahrungen und den Lebensraum Kloster. punktum.: Pater Kassian, was ist für Sie Wahrheit? Pater Kassian: Sie beginnen mit einer schwierigen Frage. Es gibt verschiedene Arten von Wahrheit, das hängt von der Fragestellung ab. Märchen, Kunst, Musik, Religion oder Naturwissenschaft, alle besitzen einen Wahrheitsgehalt. Für mich ist letztlich weniger die Frage nach der Wahrheit interessant, sondern die nach der letzten Wirklichkeit. Was verstehen Sie darunter? Wenn man gottgläubig ist, ist die letzte Wirklichkeit einzig Gott. Wieso sind Sie so sicher, dass es so ist? Diese Überzeugung hat viel mit meiner Lebenserfahrung zu tun und mit meinem Entscheid, Mönch zu werden. Inwiefern? In meiner Jugend habe ich nie daran gedacht, Mönch zu werden. Erst im Alter von 18 Jahren spielte ich mit diesem Gedanken. Dabei kam dieser Gedanke mit einer unglaublichen Energie und Unmittelbarkeit auf mich zu. Vielleicht verstehen Sie es, wenn ich es mit dem Verliebtsein vergleiche. Plötzlich zündet etwas, das nicht mehr lockerlässt. Die Stärke und die Unmittelbarkeit des Gedankens sind etwas, das ich nicht erklären kann. Es muss aber von irgendwoher stammen. Ich habe meinen Weg intuitiv gespürt. Ihre Überzeugung hat also etwas mit dieser Intuition zu tun? Ja, auf jeden Fall. Wie lange haben Sie den Gedanken in sich getragen? Ein Jahr lang, dann war der Entschluss so weit gereift, ins Kloster einzutreten. Aber glauben Sie nicht, dass es einfach war. Innerlich musste ich einige Kämpfe austragen. Mal ging es einfacher, mal überhaupt nicht. Am Ende war die Glaubensüberzeugung stärker. Haben Sie diesen einschneidenden Lebensentscheid nie bereut? Nein, niemals, ansonsten wäre ich ausgetreten. Aber es gab natürlich auch schwierige Phasen. Ist das Kloster Ihre Heimat? Ja, meine Bindung zum Kloster Einsiedeln ist sehr stark. Welche Rolle spielt das Gebet in Ihrem Leben? Das gemeinsame Beten ist ein Grundpfeiler unseres Lebens hier im Kloster. Wir treffen uns sechs Mal täglich zum Gebet. Das beginnt bereits morgens um halb sechs. Bei diesen Gebeten erleben wir unsere Gemeinschaft. Das Gebet gibt unserem Alltag auch eine Struktur. Diese Struktur hilft uns, Abstand und Ruhe zu finden. Letztlich hilft sie uns zu leben. Was schöpfen Sie aus Ihrem Glauben? Mein Glaube an Gott hat personalen Charakter. Ich lebe im Grunde alleine, bin aber nie einsam. Denn Gott ist mein Begleiter. Ich führe mit ihm einen Dialog. Sie spüren also Gottes Nähe? Ja, hin und wieder hatte ich sogar sehr intensive Erlebnisse, die ich auf die Nähe Gottes zurückführe. Es ist schwer, das in Worte zu fassen. Subjektiv haben solche Erlebnisse für mich eine Bedeutung, die sie für andere vielleicht nicht hätten. In meinem Leben haben sie einen hohen Realitätsgehalt. Für mich ist es gelebte Wirklichkeit. Die subjektive Erfahrung ist also entscheidend? Ja. Ich betreue seit einigen Jahren das «Goldene Ohr» des Klosters. Menschen suchen hier Rat und Unterstützung. Auch Menschen, die berichten, sie seien von bösen Geistern besessen. Subjektiv leiden diese Menschen sehr. An diesem Punkt setze ich an. Ich versuche nicht, sie zu überzeugen, dass es keine bösen Geister gebe, sondern zeige ihnen einen Weg auf, wie sie auch gute Geister oder Schutzengel erkennen. Das hilft diesen Menschen. Auch wenn sich objektiv gesehen das Problem der Geister nur verlagert hat. Pater Kassian Etter ist 78 Jahre alt und lebt seit 1949 im Kloster Einsiedeln. Der Sohn von Alt-Bundesrat Philipp Etter hat Theologie und Physik studiert, war über lange Jahre Präfekt des vom Kloster geführten Internats und überzeugt heute auch als Schauspieler auf der Bühne des Einsiedler Welttheaters auf dem grossen Klosterplatz. Sie haben in Ihrem Leben viele Menschen kennen gelernt und vielen Menschen geholfen. Welchen Begriff haben Sie vom Leben? Der Mensch lebt in der Gegenwart. Das ist das Wichtigste. Menschen, die nur in der Vergangenheit oder Zukunft leben, verpassen das Leben. Der Mensch kann nur in der Gegenwart leben. Seine existenzielle Erfahrung beschränkt sich auf diese Gegenwart, auf das Jetzt. Ich deute das Wort Gegenwart gerne in der Formel «Gegen das Warten». Das dürfte sprachwissenschaftlich nicht stimmen, aber es enthält viel Wahrheit. Es heisst, dass die Hoffnung immer als Letztes stirbt. Die Hoffnung weist stets in die Zukunft. Wie verträgt sich die Hoffnung mit Ihrem Gedanken der Gegenwart? Die Gegenwart ist nicht losgelöst von der Zukunft. Es ist das falsche Warten auf die Zukunft, die es verunmöglicht, im Jetzt zu leben. Die Hoffnung hat mit diesem Warten eigentlich wenig zu tun. 11 12 Fachwissen Im Kloster Hoffnung kann den Weg aufzeigen, wie man die Gegenwart begehen soll. Und die Vergangenheit? Das Leben ist etwas Einmaliges. Kein Leben gleicht dem anderen. Dazu gehört die Vergangenheit. Die Erfahrungen eines Lebens, die vergangenen Begegnungen mit Menschen spielen in der Gegenwart immer mit. Aber leben muss man in der Gegenwart. Zum Leben gehört der Tod. Wie gehen Sie als Mönch damit um? Im monastischen Leben spielt der Tod eine wichtige Rolle. Ein Mönch richtet sich ja nicht richtig ein im Leben. Er heiratet nicht, er besitzt keine Güter. Er lebt in gewisser Weise auf die Begegnung mit Christus hin nach dem Tod. Das Sterben ist die letzte Leistung unseres Lebens. Was aber immer bleibt – und da bilden Mönche keine Ausnahme –, ist eine gewisse Angst vor dem Tod. Gibt es einen Sinn des Lebens? Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass man nur daran glauben kann, dass es einen Sinn gebe. Gerade wenn man leidet, wird die Frage nach dem Sinn drängender. Das Hadern mit Gott ist dann Teil der Bewältigung des Schmerzens. Was würden Sie einem Menschen auf den Weg geben? Ich würde einfach mal zuhören. Und nach dem Zuhören? Je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir eine innere Haltung der Dankbarkeit. Dankbar sein, dass man Begegnungen mit anderen Menschen hat, dass man etwas erleben darf. Dankbar sein, dass man Fehler macht, dass man so ist, wie man ist. Ich wiederhole mich: Jedes Leben ist einmalig. Diese Einmaligkeit fordert Dank. Interview: Claudio Moro Familiendramen verhindern: Eine Tagung sucht nach Lösungen «Vater erschiesst Familie», «Mutter entführt Kinder»: Schlagzeilen wie diese finden sich wöchentlich in den Medien. Sind diese Ereignisse als Schicksalsschläge hinzunehmen, oder Fortbildung Integrative Körperpsychotherapie IBP Anerkannt von der Schweizer Charta für Psychotherapie, FSP, SPV und SBAP. Diese 3jährige, berufsbegleitende Fortbildung richtet sich an Fachpersonen, denen die vertiefte Integration der psychosomatischen Dimension in ihre therapeutische Tätigkeit ein Anliegen ist. IBP verbindet Somatik, Emotion, Kognition und Verhalten zu einer ganzheitlichen Diagnostik und Therapie. Die Fortbildung ist ausgesprochen praxisorientiert und bietet viele wertvolle Tools, die in die eigene Arbeit integriert werden können. Fortbildungsinhalte sind unter anderem die Arbeit mit Ressourcen, Stress, Trauma, somatische Resonanz, Umgang mit Schutzstil, Widerstand und körperlichen Blockaden, Mental Health Tools sowie Sexualität. Einführungskurs: 27.- 29.9.2007 Beginn: 27. November 2007 Gesamtleitung: Dr. med. Markus Fischer, FMH Psychiatrie und Psychotherapie Informationen und Ausbildungsrichtlinien: IBP-Institut, Wartstrasse 3, 8400 Winterthur, Tel. 052 212 34 30, www.ibp-institut.ch Neue IEF-Weiterbildungen Jubiläumstagung Hochkonflikthafte Familiensysteme – Strategien und Interventionen ReferentInnen: Saskia Böcking, Cristina Diday, Heiner Krabbe,Christina Marty, Christine Meier Rey, Marianne Schwander, Corinna Seith, Heidi Simoni, Max J. van Trommel, Kathrin Widmer Termine: 21. und 22. September 2007 Ich schaffs – das lösungsorientierte Programm für die Arbeit mit Kindern Tagung mit Ben Furmann, Helsinki Termine: 1. und 2. Juni 2007 Beraten mit Wirkung Systemisch klientenzentrierte Beratung für Fachleute ohne psychologische oder therapeutische Vorbildung Termine: 6. - 7. 9. und 26. - 27. 9. und 10. - 11. 10. und 25. - 26. 10. 2007 Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln Systemisches Lerncoaching nach der Marte-Meo-Methode Tagung für Fachleute im Schulbereich Josje Aarts, Eindhoven (NL) Termine: 31. Aug. und 1. Sept. 2007 Informationen: IEF Institut für systemische Entwicklung und Fortbildung, Hofackerstr. 44, 8032 Zürich Tel. 044 362 84 84, Fax 044 362 84 81 E-Mail: ief@ief-zh.ch Programme/Anmeldung: www.ief-zh.ch gibt es Präventionsstrategien? Das Institut für systemische Entwicklung und Fortbildung IEF, das dieses Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert, sucht nach hilfreichen Interventionen. Die Jubiläumstagung vom 21. und 22. September in Zürich bringt unterschiedliche Professionen miteinander ins Gespräch, um gemeinsam neue Strategien zur Bewältigung hochkonflikthafter Familiensysteme zu entwickeln. Informationen und Anmeldung: IEF, Hofackerstrasse 44, 8032 Zürich, Tel. +41 (0)44 362 84 84, www.ief-zh.ch Fachwissen Buch über das Leben als «flüchtiger Geist» Veronika Peters: Was in zwei Koffer passt Veronika Peters beschreibt im Buch «Was in zwei Koffer passt» ihr Leben in einem Benediktinerinnenkloster. Mit 21 Jahren beschliesst sie, dem heiligen Benedikt von Nursia nachzufolgen und in ein benediktinisches Kloster einzutreten. Nach zwölf Jahren tritt sie wieder aus. Und nun liegt die Verarbeitung der Klosterjahre der Autorin, die sich selbst als «flüchtigen Geist» bezeichnet, in Buchform vor. Sie ist ein wenig flach geraten. Veronika Peters beschreibt detailliert ihr zwölf Jahre dauerndes Klosterleben, mit präzisen Berichten über ihre facettenreichen Mitschwestern, über die vielschichtigen traditionellen Rituale, aber auch über die internen menschlichen Konflikte im Zusammenleben hinter Klostermauern. Es sind zwölf Jahre des Suchens nach dem «Gegenteil vom Rückzug in eine kleine private Religiosität, die allein um das persönliche Seelenheil besorgt ist. Ich möchte mit meiner Existenz ein Zeichen setzen gegen eine Innerlichkeit, die nur mit sich selbst befasst ist. Ich will mich nicht gut fühlen, ich will gut sein, gut leben, in einem tieferen Sinn. Mit meinem Leben ... sage ich: Schaut her, es geht anders, es gibt mehr als in Zahlen messbare Erfolge.» Mit 33 Jahren erreicht Veronika Peters einen Punkt der geistigen Erschöpfung. Sie stösst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, einerseits im Zusammenleben mit den Schwestern in der Klostergemeinschaft, andererseits aber auch mit ihrer Suche nach dem tieferen Lebenssinn. Immer weiter entfernt sie sich von der Glaubensgemeinschaft. Örtlich, indem sie die abseits gelegene Buchhandlung des Klosters neu organisiert und nach wirtschaftlichen Aspekten als lukrative Einnahmequelle umfunktioniert, geistig, indem sie auch nach all den Jahren auf ihrer inneren Unabhängigkeit beharrt und gegen die engen Grenzen des Klosterlebens ankämpft. Während ihrer Arbeit in der klösterlichen Buchhandlung findet sie einen Seelenfreund, den Schriftsteller Christoph Peters. Aus dieser Begegnung wächst langsam eine tiefe Geistesverwandtschaft und Liebe, die schliesslich dazu führt, dass Schwester Veronika das Kloster verlässt. Sie sieht diesen Rückzug aus der religiösen Gemeinschaft der Benediktinerinnen nicht als ein Scheitern oder Versagen, sondern nimmt diese zwölf Jahre als «geistiges und geistliches» Wegstück auf ihrer weiteren Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens. Heute lebt Veronika Peters mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter in Berlin. Der Klappentext lässt mehr erwarten, als das Buch hält. Es ist wohl eine interessante Reportage über das Leben in einem Benediktinerinnenkloster, NEUE TITEL AUS IHREM INTERESSENGEBIET Glasl, F.: Konflikt, Krise, Katharsis Und die Verwandlung des Doppelgängers 2007. 133 S., Abb., geb., CHF 38.60 (Geistesleben) 978-3-7725-2127-0 «So wie ein Genesungsprozess durch Krankheit, Krisis und Katharsis zu einer Wandlung führen kann, so kann auch eine konstruktive Bearbeitung von Konflikten zu einer inneren und äusseren Wandlung führen. Vor allem die verantwortungsvoll vorbereitete Begegnung mit dem Doppelgänger wird dann zu einem Schlüssel- und Wendeerlebnis.» Friedrich Glasl Bestellen ist ganz einfach: Rufen Sie uns an: 0848 482 482 (Normaltarif) oder schreiben Sie uns eine E-Mail: contact@huberlang.com Veronika Peters: Was in zwei Koffer passt. Klosterjahre. Goldmann Verlag, München 2007, 256 Seiten, Fr. 31.90, ISBN 3-442-31116-0. und man erfährt mit den Augen von Veronika Peters einiges über Rituale, Regeln und Gebräuche, lernt auch die Mitschwestern in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit kennen. Die tieferen Gründe jedoch, wieso Veronika Peters überhaupt ins Kloster eintritt, bleiben am Ende verschwommen. Ihre Einstellung zu Gott, ihre Glaubenszweifel, vor allem ihre Entwicklung in dieser Zeit bleiben weitgehend verborgen. Ihre Auseinandersetzung mit dem Kloster als religiöse Gemeinschaft, als Ort von spiritueller Nähe und menschlicher Solidarität geht wenig über die praktischen Seiten des Zusammenlebens hinaus. Das Buch mit seinem Anspruch, etwas über den Sinn des Lebens auszusagen, wirkt etwas flach und erscheint eher wie der Bericht über eine persönliche Vergangenheitsbewältigung. Dennoch: «Was in zwei Koffer passt» vermittelt auf informative und durchaus unterhaltsame Art einen Blick auf das Leben hinter Klostermauern. Barbara Fehlbaum 13 14 Fachwissen Leben mit Mut zum Dienen Das christliche Konzept der Demut All die Bücher, die es in den Lebenshilfe- und Ratgeberecken der Buchhandlungen dieser Welt zu kaufen gibt, scheinen eine Grundsehnsucht der Menschen zu spiegeln: wie das Leben gelingen kann. Das christliche Konzept der Demut wirkt unzeitgemäss – dabei könnte es als Korrektiv wirken zu einer Lebenseinstellung, welche die schnelle Bedürfnisbefriedigung und die unbedingte Leistungsfähigkeit zum obersten Prinzip erklärt. Wie bedroht das Lebensglück offensichtlich ist, zeigt ein einfacher Blick auf einige Statistiken: Fast jede zweite Ehe wird in der Schweiz geschieden, die Zahl der psychisch kranken Menschen nimmt ständig zu, und der Alkoholkonsum unter Jugendlichen ist verbreitet. Ratschläge für gelingendes Leben sind gefragt. Eine lange Tradition in der christlichen Spiritualität hat das Konzept der Demut. Bei einer spontanen Befragung unter Passanten, was für ein gelingendes Leben wichtig sei, werden wohl die wenigsten Befragten antworten, Demut sei wichtig. «Demut» ist eher ein Begriff mit zwielichtigem Ruf. Viele Menschen bringen Demut mit Unterwerfung und Unterdrückung oder dem Verlust der Selbstachtung in Verbindung. Friedrich Dürenmatt zum Beispiel schreibt im «Nächtlichen Gespräch mit einem verachteten Menschen»: «Man soll in dieser Zeit nicht demütig sein, Bube! Man soll auch nicht demütig sterben. Diese Tugend ist heute unanständig geworden.» Eckhard Zemmrich (2006) stellt denn auch ernüchtert fest, dass Demut selbst in der theologischen Fachdiskussion kaum jene Rolle spiele, die diesem Begriff zustehe. Dabei kann richtig verstandene Demut zu einem Leitmotiv fürs Leben werden. Sie kann als Korrektiv wirken zu einer Lebenseinstellung, welche die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die eigene Leistungsfähigkeit zum obersten Prinzip erklärt, nach dem Motto «I want it all, and I want it now». Mit der Gesinnung eines Dienenden Das deutsche Wort «Demut» weist einen interessanten Hintergrund auf. Es setzt sich zusammen aus dem althochdeutschen «dio» (Knecht, Diener) und dem Wort «mout» (Gesinnung, Mut). Demut bezeichnet also die «Gesinnung eines Dienenden» oder den «Mut zum Dienen». Demut ist von seinem Ursprung her ein durchaus aktiver Vorgang, keine passive Haltung. Die Gesinnung des Dienens hat also nichts mit Unterwürfigkeit, sondern mit Kraft und Mut zu tun. Diesen positiven Klang hat Demut auch im «Ersten Testament» (siehe auch meinen Artikel zum Paradies im punktum. vom Dezember 2006). Im Buch der Sprüche heisst es: «Gottesfurcht erzieht zur Weisheit, und Demut geht der Ehre voran» (Spr 15,33). Wer Demut übe, der werde mit Reichtum, Ehre und Leben belohnt (Spr 22,4). Demut erwächst aus der Erkenntnis, dass der Mensch bei all seiner Leistungsfähigkeit, Stärke und Macht letztlich doch von der Güte und Barmherzigkeit Gottes abhängig ist. Gott ist als Schöpfer Ursprung allen Lebens. Dies bringt ganz eindrücklich Psalm 8 zum Ausdruck: «Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde; über den Himmel breitest du deine Hoheit aus. Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?» (Ps 8,1.5). Demut äussert sich demnach in drei wichtigen Grundhaltungen. Gott gegenüber zeigt sich Demut im Anerkennen der Grösse Gottes und im Befolgen seiner Gebote. Dem Mitmenschen gegenüber zeigt sich Demut durch die Solidarität mit unterdrückten Menschen und sozial Benachteiligten, wie Kranken, Witwen und Waisen. Denn Gott selbst steht den Erniedrigten bei, wie es im Buch des Propheten Jesaja 57,15 heisst. Die dritte Deutung erwächst konsequenterweise aus den ersten beiden: Da der Mensch Gott gegenüber demütig ist, setzt er sich für seine Mitmenschen in Not ein und kann sich deswegen selbst als Person zurücknehmen, ohne selber seine Würde zu verlieren. Urbild der Demut Diese Grundhaltung der Demut findet seine Fortsetzung in der Person Jesu. Jesus kann als Urbild der christlichen Manfred Kulla, Dr. theol., Studium der Theologie, der Philosophie und der Erziehungswissenschaften in Münster und Bonn. Religionslehrer, Pfarrei- und Jugendseelsorger, zurzeit pastoraler Leiter der grössten Pfarrei von Zürich. Tätigkeit in der Erwachsenen- und der Lehrerweiterbildung; zahlreiche Veröffentlichungen. Demut bezeichnet werden. Die Kernaussage seiner Botschaft lautet: «Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben.» Wie ein Leben in Fülle aussehen kann, hat Jesus beispielhaft vorgelebt. Die Kraft für sein Handeln schöpfte er aus einem unerschütterlichen Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der alle Menschen liebt. Herkunft, Geschlecht und gesellschaftliche Stellung spielten für ihn keine Rolle. Sein besonderes Augenmerk galt den Menschen am Rand der Gesellschaft. Die vielen Wundererzählungen, welche die Evangelien überliefern, wollen verdeutlichen, dass Menschen aus Situationen der Not und des Unglücks herausgeführt werden. Unheilbar Kranke erhalten eine neue Perspektive, Ausgestossene wie Prostituierte und Zöllner werden in die Gemeinschaft neu integriert. Jesus betrachtet seinen selbstlosen Einsatz für die Mitmenschen als Dienst Fachwissen 15 Leben mit Mut zum Dienen aus Liebe zum Nächsten und zu Gott. Die Evangelien schildern, wie Jesus am Tag vor seinem Tod zusammen mit seinen Jüngern das Paschamahl – oder, wie es in der liturgischen Tradition heisst, das letzte Abendmahl – feiert. Vor dem Mahl übernimmt Jesus die Aufgabe des geringsten Dieners und wäscht seinen Jüngern die Füsse. Zur Zeit Jesu war es üblich, sich beim Betreten des Hauses zu reinigen. In Häusern reicherer Bürger halfen Sklaven bei diesem Reinigungsritual. Dieser Dienst an seinen Jüngern erniedrigt Jesus nicht, er nimmt ihm auch nicht seine Würde, sondern zeichnet ihn als den Gesalbten Gottes, als Messias, aus. Seinen Erfolg als Wanderprediger wertet er indes nicht als persönliche Leistung. Er weiss sich immer gebunden an Gott, den er liebevoll «Vater» nennt. Sein Erfolg ist ein Zeichen für die Wirkkraft Gottes. Sein Einsatz für einen Gott, der «die Niedrigen erhöht und die Mächtigen vom Thron stürzt», wie es im Magnifikat, dem Loblied Marias, heisst, fordert die weltliche und religiöse Obrigkeit auf den Plan. Den Weg, der im Prozess und letztlich in seinem Tod am Kreuz endet, nimmt er erhobenen Hauptes unter die Füsse. Sein Tod ist kein Scheitern. Er ist die konsequente Umsetzung seines Lebensmottos: «Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat grössere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde» (Joh 15,12–13). Demut ist nicht mit Unterwürfigkeit zu verwechseln, die Ungerechtigkeit wortlos hinnimmt. Als Jesus während des Verhörs geschlagen wird, entgegnet er dem Täter, er solle ihm das Unrecht nachweisen. Könne er dies nicht, dann gebe es keinen Grund für die Gewalt. Jesus besteht auf seinem Recht. Gelassen kann Jesus angesichts des Todes am Kreuz sagen: «In deine Hände lege ich meinen Geist» (Lk 23,46). Ein frühchristlicher Hymnus fordert die Christen auf, der Demut Jesu zu folgen: «Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht. Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäusserte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist» (Phil 2,5–9). Demut: Fluch oder Segen? Ob Demut zum Segen oder Fluch wird, hängt davon ab, wie diese Grundhaltung gelebt wird. Demut kann auch für einen nicht religiös orientierten Menschen zum Segen werden. Segen bedeutet ja, sich einer transzendenten Wegbegleitung bewusst zu sein, die dem gesegneten Menschen die Sicherheit gibt, den Lebensweg zu meistern. Demut setzt immer den freien Willen voraus, den Mut zum Dienen aus eigenen Stücken aufzubringen. Ein Mensch, der demütig lebt, weiss, dass seine persönliche Leistung immer von vielen Faktoren abhängt, die er selbst nicht bestimmen kann. Bereits unser Leben, ja selbst unsere Begabungen sind ein Geschenk. Zum Beispiel sind jeweils viele Mitarbeiter am Erfolg einer Abteilung beteiligt, nicht nur deren innovative Führungskraft. Demut kann in solchen Glückmomenten vor Überheblichkeit und Selbstüberschätzung bewahren. Topmanager, die ernsthaft behaupten, sie würden ein Salär in einer zwei- oder dreistelligen Millionenhöhe verdienen, sind bereits der Gefahr der Überheblichkeit erlegen. Sie stören damit nicht nur den sozialen Frieden, sondern reduzieren auch die Leistungsfähigkeit der MitarbeiterInnen. Dies ist volkswirtschaftlich betrachtet ein grosser Verlust. Die Überheblichkeit und der Hochmut sind nach Augustinus grosse Übel, die nur durch die Demut zu überwinden sind. Demut führt zu einer Haltung der Dankbarkeit, welche die Leistung des anderen ohne Neid anerkennt. Der andere wird nicht als Konkurrent betrachtet. Der heilige Paulus fordert seine Gemeinde sogar auf, den anderen in Demut höher zu achten als sich selbst (Phil 2,3). Der Fussballstar Valé- rien Ismaël etwa, der 2004 mit Werder Bremen deutscher Meister wurde, nannte als Erfolgsrezept seiner damaligen Mannschaft die demütige Haltung der Leistungsfähigkeit der gegnerischen Mannschaft gegenüber. Zum Fluch kann Demut hingegen werden, wenn ich sie als Aufforderung missverstehe, ständig die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Ansichten leugnen zu müssen. Dann stellt sich nicht Zufriedenheit ein, sondern Zwang. Hier wird dann auch gegen das Gebot der Liebe verstossen: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Sich realistisch einschätzen Demut kann idealerweise zu einer Haltung der Gelassenheit führen, die gerade in unserem heutigen hektischen Alltag bitter notwendig ist. Gelassen kann dann die eigene Person realistisch betrachtet werden. Der legendäre Papst Johannes XXIII. sagte über sich selbst: «Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.» Einer Legende nach wird der heilige Franziskus von einem Mitbruder gefragt, warum gerade ihm alle Welt hinterherlaufe. Franziskus gibt ihm zu Antwort: «Da nun diese heiligen Augen Gottes unter den Sündern keinen erblickt haben, der geringer als ich, untauglicher und sündhafter als ich gewesen wäre, und er auf der ganzen Erde keine geringere Kreatur finden konnte, um jenes wunderbare Werk zu vollenden, das er zu tun gedenkt, so hat er mich erwählt, die Welt in all ihrem Adel und Stolz, in ihrer Kraft, ihrer Schönheit und ihrer Weisheit zu beschämen» (Rotzetter 1990). Demut kontra Demütigung Die Haltung der Demut beginnt immer mit der Reflexion der eigenen Standpunkte. Demut kann ich zuerst nur von mir selbst fordern. Von Menschen Demut zu verlangen, die erniedrigt werden, ist Verhöhnung ihrer Würde. Was diese benötigen, ist zuerst die Erfahrung von Selbstbewusstsein und Würde. Hingegen sollten Menschen, die oben sind und über anderen stehen – zum Beispiel als Amtsträger –, die Haltung üben, die Jesus vorgelebt hat: «Sich >>> 16 Fachwissen Im Second Life Ich bin du bist sie ist wir Das Second Life: Dieser jüngst oft beschriebene virtuelle Raum ist der Entwurf eines anderen, eben zweiten Lebens. Insgesamt 5,5 Millionen User waren schon da. Sie kommunizieren miteinander, treiben Handel, treffen sich in Clubs oder haben Cybersex. Sie erfinden sich immer wieder neu, sie wechseln ihr Aussehen, sie lassen sich eine neue Frisur verpassen, sie fliegen. Alles gegen Bezahlung. >>> gung. Er schien weder für Tiepolo noch für mich Zeit und Interesse zu haben. So ist es hier. Ich bin völlig uninteressant, ich biete nichts, ich verkaufe nichts. Wenig später traf ich ein Paar. Mann und Frau. Alter unbestimmt. Ich sprach die beiden auf Englisch an. Die Frau antwortete mir, er blieb stumm. Sie hiess Clarissa und fragte mich, wieso ich sie anspreche. Ich: «’Cause I feel lonely here.» Sie: «Nice tie. Do you sell it?» Ich verneinte. Sie: «Have fun.» Klares Zeichen, dass ich gehen musste. Willkommen im Second Life. Meine Welt ist ein digitaler Datenstrom. Hier bin ich Semantico Morigi. Ein Name, genauso künstlich wie alles andere, was ich bin. Ich benötige weder Wasser noch Brot, ich schlafe nie und bin niemals müde. Geboren wurde ich vor genau sieben Stunden. Ich trage ein weisses T-Shirt, eine lachsfarbene Krawatte und braune Hosen. Auf Schuhe stehe ich nicht, trotzdem gehe ich stets zu Fuss – oder ich fliege. Ich arbeite nicht und pflege auch keine Hobbys. Ich schaue mich in der Stadt um, flaniere in den Abend hinein und plaudere mit meinen Mitbürgern. Manchmal gebe ich mich als Musiker aus, manchmal als Professor für Schlangen-Orthopädie. Hin und wieder gebe ich auch offen zu, dass ich doch eigentlich eine Frau bin. In dieser Welt ist alles möglich. Gestern sprach ich an einer Ecke einen Künstler – er schien eigene Gemälde zu verkaufen – auf Italienisch an und berichtete ihm, dass ich gerade bei einem Kollegen auf Besuch gewesen sei, der eine Kopie einer Freske von Tiepolo an der Wand hängen habe. Venezianische Kunst eben, er wisse doch Bescheid, oder? – Er beachtete mich nicht. Keine Antwort, keine Bewe- Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa schrieb einst, dass Romane schreiben ein Aufstand gegen die Wirklichkeit, gegen die Schöpfung Gottes sei. Der Schriftsteller wird selbst zum Schöpfer einer anderen Wirklichkeit. Er schreibt gegen die Lebenswirklichkeit an und kreiert einen neuen Lebensraum mit eigener zeitlichräumlicher Orientierung. Jeder Roman entwirft eine ganz eigene Parallelwelt. Diese Welt eröffnet jedem Lesenden die Möglichkeit, eine bis dato unbekannte Reise zu unternehmen – eine Reise, die auf der Grundlage der Romanhandlung von der eigenen Vorstellungskraft getragen wird. Romanfiguren wird Leben eingehaucht, ihre Konturen, ihre Mimik und Gestik werden sichtbar, man nimmt ihre Stimmen wahr, und die jeweilige Lebensumwelt wird auf einer inneren Leinwand mehr oder weniger minuziös ausgemalt. Es entstehen Häuser, Strassen, ja ganze niederbeugen zum Kleinen und Unscheinbaren, sich auf der Ebene der Schwachen ansiedeln und in konsequenter Solidarität mit den Armen, Schwachen, Leidenden und Opfern leben» (Rotzetter 1990). Demut kann zu der Erkenntnis führen, dass ich aus Solidarität mit Menschen in Not meinen Lebensstandard herunterfahre. Demut setzt immer Entscheidungsfreiheit voraus. Dort, wo Menschen aber gezwungen werden, auf einen Teil ihres Lohnes zu verzichten, oder ihrer Rechte beraubt werden, offenbaren sich die Mechanismen der Demütigung. Denn Demut hat nichts mit der Erniedrigung anderer Menschen zu tun. Demütigung hingegen tritt die Würde der Menschen mit Füssen. Demut bekämpft Demütigung. Sie nivelliert Hierarchie und soziale Unterschiede: «Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füsse gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füsse waschen» (Joh. 13,14), wie Jesus sagt. Manfred Kulla Städte. Pferdekutschen, Ruderboote oder Flugzeuge dienen als Fortbewegungsmittel. Es treten unbekannte Menschen auf, junge Frauen, Kinder oder ganze Familien. Die einen bleiben, andere wiederum verschwinden bereits nach wenigen Seiten. Wenige schliesst man ins Herz, viele vergisst man schon nach kurzer Zeit. Ein Roman ist wie eine riesengrosse Blaupause. Sie leitet uns beim Lesen an, eine neue Welt zu erschaffen. Somit nimmt nicht nur der Schriftsteller am Aufstand gegen die Wirklichkeit teil, sondern im Grunde auch jede Leserin und jeder Leser. Ich stehe auf einer Brücke. Unter einer Strassenlaterne steht eine Gruppe Menschen. Ich gehe auf sie zu und schaue mich als Erstes näher um. Keine Ahnung, was das hier soll. Eine Versammlung, eine Demonstration oder einfach nur ein Treffen einsamer Herzen? – Ich spreche eine junge Frau an. Gut gebaut, auffällig gekleidet. Sie erinnert mich an Ursula Andress. Ich: «Hi, Bond girl.» Sie: «Hi, Goldfinger.» Ich: «What’s up?» Sie: «We are looking for Dr. No.» Ich muss lachen, so viel Humor hätte ich nicht erwartet: «Dr. No is a bitch. A loser. The most wanted criminal, that’s me! Me, Goldfinger. I am the best.» Sie: «Sure, you are the best. And where is your Bond, your James Bond?» Ich: «I killed him last night. A smart guy. But not smart enough.» Sie: «I like you.» Ich: «Me, too.» Literatur Anton Rotzetter: Von Demut, Frieden und anderen Torheiten. Freiburg i. Ue. 1990. Donata Schoeller Reisch: Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme. Freiburg/München 1999. Eckhart Zemmrich: Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs. Berlin 2006. Fachwissen Im Second Life Sie: «My name is Frida.» Ich: «My name is Semantico.» Frida ist meine erste gute Freundin in meiner Welt. Ich würde ihr meine Krawatte schenken. Der Mensch besitzt eine Kraft des «Welt-Schöpfenden». Jede Schauspielerin schlüpft ständig in neue Rollen und richtet sich für die Dauer ihres Auftritts in einer anderen Existenz ein. Die Lebenswirklichkeit wird erhellt durch das Licht einer anderen Wirklichkeit. Die Grenzen beginnen zu mäandern, sie fliessen ineinander über. Die eine Ich-Variante wird abgelöst durch ein andere. Einen Höhepunkt dieses menschlichen Verwandlungsvermögens, dieser Spielart der Kraft des «Welt-Schöpfenden», könnte man im Treiben des Karnevals erblicken: Die Maskerade ist die Sichtbarmachung einer anderen Ich-Variante. Wer ich bin, wird unvermittelt zu einer Frage nach der wahrnehmbaren IchVariation – und am Ende zur Frage des Identitätsverständnisses. Frida ist eine feine Person. Sie ist schon einige Monate alt, hat bereits vieles erlebt und möchte gerne heiraten oder einer Terrororganisation beitreten. Deshalb wohl ihr Interesse für mich beziehungsweise Goldfinger. Sie mag Männer, aber auch Frauen. Sie schläft auch nie, selbst nach einem Sexabenteuer nicht. Sex ist in meiner Welt allgegenwärtig. Frida weiss da Bescheid. Sagt sie. Sie: «Do you like sex?» Ich: «No, not at all.» Sie: «Like Goldfinger or any other criminal, I suppose. Too much criminal energy. It’s not good for sex life.» Ich: «Right. Killing people is funnier.» Sie: «I want to be your pupil. You’ve to teach me everything.» Ich: «You know, you have to pay for that.» Sie: «No prob, I give you sex, you let me know how to kill.» Frida war ein feiner Mensch. Nach dieser Unterhaltung fand ich sie eher langweilig. Ich treffe sie nicht mehr. Sie war meine erste gute Freundin. Meine Krawatte habe ich ihr nicht gegeben. Dass der Mensch womöglich verschiedene Identitäten leben kann, wird geradezu exemplarisch im Second Life. Dieser in den letzten Monaten oft beschriebene und diskutierte Internet3-D-Raum ist der Entwurf eines anderen, eben zweiten Lebens. In Form eines Avatar, einer individuell kreierten Kunstgestalt, verbringen Tausende von Menschen täglich etliche Stunden in diesem übergrossen Interaktionsraum. Second Life zählte Mitte April rund 5,5 Millionen User, wovon durchschnittlich rund 40 000 täglich online sind. Entwickelt wurde Second Life bereits vor Jahren, richtig bekannt wurde diese Internet-Kunstwelt erst gegen Ende letzten Jahres. Grundlage von Second Life ist Interaktion. Avatare können miteinander wie in herkömmlichen Chaträumen kommunizieren, sie treiben Handel, treffen sich in Clubs oder gönnen sich auch mal «intime» Kontakte. Die Nachbildung der wirklichen Lebenswirklichkeit ist ein zweites Merkmal im Second Life: Es gibt eine eigene Währung, Bordelle, Erholungsoasen und sogar eine Tageszeitung. Grosse Firmen wie Sony, Toyota oder IBM unterhalten einen eigenen Standort im Second Life – einige Unternehmen weisen diese sogar auf ihrem Briefpapier aus. Avatare wechseln ihr Aussehen, indem sie sich neu einkleiden oder sich eine neue Frisur verpassen lassen. Natürlich gegen Bezahlung. Im Second Life ist man ohne Geld ein Nichts. Man kann Land kaufen oder gleich eine ganze Insel. Alles hat seinen Preis, selbst die kleinste Dienstleistung. Nach Angaben von Linden-Lab, der kalifornischen Gründerfirma von Second Life, wird täglich rund eine Million Dollar umgesetzt – die Second-Life-Währung kann in ganz normale Dollars gewechselt werden. Bereits soll eine gewiefte Immobilienmaklerin ihr erste Dollarmillion im Second Life erwirtschaftet haben. Die meisten Second-Life-User stammen aus den USA, aus Frankreich und Deutschland. Die grösste Gruppe stellen die 25- bis 34-Jährigen dar, gefolgt von den 18- bis 24-Jährigen. Das zweite Leben im Second Life erinnert stark an das erste Leben, nur gilt hier keine Schwerkraft, und der Mensch muss nicht als Mensch sichtbar sein, sondern darf auch ein Kuscheltier oder ein feuerspeiender Drachen sein. Der Mensch lebt in vielen Erzählungen, und die Welt ist wie jede Romanvorlage eine eigentliche Bühne, auf der wir unser Leben aufführen. Menschen sind Rollenträger, sie sind die Hauptfiguren ihrer unterschiedlichen Erzählungen. Second Life stellt eine weitere Bühne für eine neue Erzählung dar. Nichts mehr, aber auch nichts weniger. Claudio Moro www.secondlife.com 17 18 Fachwissen Im Second Life – Theorie und Thesen «Wie eine Strohpuppe auf dem Kornfeld» Unsere Wahrnehmung beginnt und endet im Kopf. Was wir sehen, ertasten oder hören, ist nicht dasselbe, was unser Nachbar sieht, ertastet oder hört. Realität verlangt eine Deutung. Im Zeitalter von Second Life wird diese Deutungsarbeit noch brisanter: Wie real ist virtuelles Leben? – Ein Gespräch mit Kommunikationswissenschaftler Tilo Hartmann. punktum.: Herr Hartmann, was ist nun «Realität»? Tilo Hartmann: Realität ist eine Konstruktion. Davon zeugen bereits einfache wahrnehmungspsychologische Experimente. Die Konstruktion von Realität ist zwar letztlich subjektiv, aber sie verläuft nicht bei jedem Menschen komplett anders, denn sonst wäre so etwas wie Verständigung ja gar nicht möglich. Menschen konstruieren ihre je eigene Realität auf Grundlage des gemeinsamen evolutionären und kulturellen Hintergrunds auf ähnliche Weise. Realität ist dabei eine Art subjektiver Nacherzählung der Wirklichkeit, die wir über unsere Sinnesorgane erfassen. Je kohärenter die Sinneseindrücke sind und je schlüssiger die Logik des Dargestellten ist, desto überzeugender, realer finden wir die daraus entwickelte Nacherzählung. Nach demselben Prinzip funktionieren überzeugende virtuelle Realitäten. Wo beginnt die Virtualität? Virtualität ist dasselbe wie Medialität. Sie ist ein Merkmal der Sinnesumwelt, die wir wahrnehmen, und liegt dann vor, wenn die natürliche Umwelt von Menschen manipuliert wurde, um eine Illusion zu generieren. Zum Beispiel ist eine Strohpuppe auf dem Kornfeld bereits virtuell, denn die geformten Strohballen sollen ja einen Menschen simulieren. Virtuell sind also alle mit Hilfe menschlicher Technologien entwickelten Kopien, Nachahmungen und Imitate von Dingen oder Begebenheiten aus der Wirklichkeit. Medien produzieren daher per Definition eine virtuelle Realität, selbst wenn sie diese lediglich kopieren, zum Beispiel mittels Kameraaufnahme. Mitunter erschaffen Medien fiktionale virtuelle Welten, etwa in Fantasy-Büchern oder auch im Internet. In diesen Welten wird vieles aus der Wirklichkeit kopiert und imitiert: Handlungsabläufe, Gut und Böse usw. Dennoch gibt es kein direktes Pendant zu den medialen Welten in der Wirklichkeit, weswegen sie zugleich virtuell und fiktional sind. Im Second Life nimmt man eine andere Identität an, die doch Teil des Selbst ist. Wie viel Ichs besitzen wir? Das kommt natürlich darauf an, welchem Identitätsverständnis man folgt. Identität kann als eine Art Selbstverständnis begriffen werden, das eine Person von sich aufbaut, das relativ beständig ist und nach Schlüssigkeit strebt, aber zugleich über die gesamte Lebensspanne immer wieder angepasst werden muss. Verschiedene Sphären, in denen sich ein Mensch im Alltag bewegt, vermitteln unterschiedliche Teile des Selbstverständnisses, die nicht selten unvereinbar nebeneinanderstehen. Virtuelle Welten wie das Second Life bieten ebenfalls eine Sphäre, um sich selbst zu erfahren, vor allem in Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Sie tragen daher zur Identitätsarbeit bei. Die Arbeit am Ich kann dann konfliktreich werden, wenn die virtuelle Welt den Nutzern ein Selbstverständnis nahelegt, dass kaum mit den Eindrücken zu kombinieren ist, welche die Nutzer in anderen Sphären ihres Alltags über sich gewinnen. Die virtuelle Welt kann eine Gegenthese zum Alltags-Ich sein. Eine Welt, in der wir unsere Träume zum Teil ausleben können. Eine patente Sache, oder? Ein entscheidendes Merkmal virtueller Welten ist: Sie bieten realistische Alltagserfahrungen unter geschönten Bedingungen an. Virtuelle Welten ermöglichen die Interaktion mit der Umwelt unter spielerischen Umständen. Letztlich hat der Nutzer immer die Möglichkeit, sich zu distanzieren und die Umwelt als Illusion zu enttarnen. Das verhilft zu weniger Ernsthaftigkeit. Auch wenn es um soziale Interaktion geht, bieten virtuelle Welten die Möglichkeit, die Ernsthaftigkeit des Geschehens stufenweise zu regulieren. Der Nutzer kann nämlich selbst ent- Tilo Hartmann ist Kommunikationswissenschaftler am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Er beschäftigt sich eingehend mit der Nutzung, Wahrnehmung sowie Entwicklung virtueller Welten. scheiden, wie sehr sein wirkliches Ich durch eine Maske – zum Beispiel einen Avatar – verdeckt oder durch entsprechende Informationen in Text und Bild preisgegeben werden soll. Soziale Interaktionen sind natürlich weniger beängstigend, wenn man dabei eine Maske aufhat. Jedoch: Je stärker ein Nutzer auf die Erfahrungen in seiner virtuellen Rolle im Alltag angewiesen ist, desto eher tritt der Spielcharakter in den Hintergrund. Da kann es schon wehtun, wenn die fiktionale Spielfigur von anderen beleidigt wird. Wie verändert sich das Sozialleben eines Second-Life-Users wirklich? Nehmen wir einen schüchternen, aber im Grunde geselligen Vielspieler an. Zunächst einmal dürfte sich der Freundeskreis des Nutzers zu seiner Freude vergrössern. Dank der Anonymität hinter der Maske des Avatars überwindet er seine Schüchternheit, um seinem Bedürfnis nach Geselligkeit nachzukommen. Der Spieler knüpft dauerhafte Kontakte zu anderen Nutzern. Sein Avatar trifft sich immer wieder mit Fachwissen Im Second Life – Theorie und Thesen deren Spielfiguren im Second Life. Infolge einer raschen intensiven Selbstoffenbarung entwickeln sich intensive Cyberbeziehungen, wohlmöglich sogar romantische Erlebnisse. Sofern die Erfahrungen, die der Nutzer in seiner virtuellen Rolle macht, die Attraktivität seiner Optionen im Alltag, etwa eines Discobesuchs, überstrahlen, kommt es zu einer verstärkten Abkehr von der Wirklichkeit und einer Zuwendung zur virtuellen Realität. Problematisch kann es sein, wenn sich dieser Zustand erhärtet, weil ein komplettes Leben in der virtuellen Welt nicht möglich ist, die Wirklichkeit aber umso unbefriedigender erscheinen mag. Womöglich ist der Nutzer aber auch interessiert, eine romantische Cyberbeziehung in die Wirklichkeit zu übersetzen, zum Beispiel um körperliche Erfahrungen möglich werden zu lassen. Vorsichtig wird dann die Anonymität zugunsten eines direkteren Kontakts aufgelöst: SMS, Briefaustausch, Telefon, Face-toFace-Treffen. Was kommt noch auf uns zu im Bereich der virtuellen Welt? Virtuelle Welten werden in vielen Facetten realistischer werden. Vor allem die Ansprache der Sinneskanäle wird sich verbessern – zu besser stimulierten Sinnen. Zurzeit haben wir es zu Hause häufig mit Umgebungen zu tun ohne richtige grafische Tiefe, mit nur spärlichem räumlichem Klang, ohne haptische oder olfaktorische Eindrücke oder Empfindungen von Gleichgewicht und Wärme. Das wird sich in Zu- 'ENERATIONENPSYCHIATRIE *AHRESKONGRESS 3'+*00 UND 3'00  /RT .XUVDDO %HUQ .RUQKDXVVWUDVVH  %HUQ "EGINN DES +ONGRESSES 'RQQHUVWDJ   8KU %NDE DES +ONGRESSES )UHLWDJ   8KU 4HEMA *HQHUDWLRQHQSV\FKLDWULH 2AHMENVERANSTALTUNGEN ‡ 3RVWHUDXVVWHOOXQJ PLW 3UlPLHUXQJ ‡ 3UlPLHUXQJ EHVWH )DFKDU]WSUIXQJ 6*.-33 XQG 6*33 ‡ ,QGXVWULHDXVVWHOOXQJ ‡ 0LWWDJVV\PSRVLHQ ‡ .XQVWDXVVWHOOXQJ ©PXU pGXFDWLIª !NMELDUNG ZZZSV\FKLDWULHFK -RKDQQ /WKL )DPLOLH ,,, FD  ‹ 3V\FKLDWULH0XVHXP %HUQ kunft ändern und zu einem stärkeren Präsenzerleben in den virtuellen Realitäten führen. Der Mensch hat sich von seiner natürlichen Umgebung und seiner angestammten Veranlagung im Zuge der kulturellen Evolution immer unabhängiger gemacht; man denke nur an die Fortschritte in der Medizin. Medientechnologie spielt hierbei ebenfalls eine entscheidende Rolle: Durch Medien haben wir unsere Umwelt neu gestaltet, unsere Fähigkeiten erweitert und uns zugleich von unserer ursprünglichen Veranlagung, zum Beispiel unserem Körper, entfernt. Ich denke, virtuelle Realitäten wie das Second Life sind ein weiterer Schritt in dieser Entwicklung, und vermute daher, dass sich in Zukunft ein nicht unbedeutender Teil unseres Alltagslebens in virtuellen Realitäten abspielen wird. Ganz einfach deshalb, weil sich dort viele Limitationen der menschlichen Natur und der Wirklichkeit per Technik überwinden lassen. Werden wir dann glücklicher sein? Glück ist ein flüchtiger Gefühlszustand. Und der Mensch gewöhnt sich erstaunlich rasch an eine veränderte Umwelt, ob diese nun eher lebensfreundlich oder -feindlich ist. Aber der träge Partner des Glücks, die Lebenszufriedenheit eines Menschen, die auf Erfahrungen von Autonomie, Kompetenz und sozialer Zugehörigkeit beruht, könnte durch virtuelle Welten schon erhöht werden. Denn alle drei Aspekte lassen sich in der virtuellen Welt ja gut erfahren. In Zeiten einer flexiblen und globalen Arbeitswelt brauchen wir zum Beispiel Möglichkeiten, um soziale Zugehörigkeiten aufrechtzuerhalten. Vielleicht teleportieren wir uns in Zukunft zu Freunden, die am anderen Ende der Welt leben – aber eben in der virtuellen Realität, weil es in der Wirklichkeit prinzipiell unmöglich ist. Natürlich können wir uns aber von der Wirklichkeit nicht in jeder Hinsicht und für alle Zeiten lösen. Ein entscheidender Punkt wird daher sein, die virtuelle und die reale Welt sinnvoll miteinander zu verknüpfen, damit es nicht zu Brüchen kommt. Interview: Claudio Moro 19 20 Fachwissen Wenn Lebensträume platzen Untergang im Klangmeer Die ausgebildete Cellistin Karin Linsi hat ihren Traum, von der Musik ein Lebensauskommen zu finden, entschwinden sehen. Sie scheiterte am extremen Leistungsdruck, den das Geschäft mit der Musik ihr abverlangte. Stattdessen hat sie ein Buch über ihre Erfahrungen verfasst: «Tasten auf dünnem Eis». «Aus dem grossen Saal der Musikhochschule dringt erneut Applaus in den Raum hinter der Bühne. Mara steht auf, spürt dabei leichten Schwindel, setzt sich im Nebenzimmer ans Klavier, spielt nochmals die ersten Takte ihrer Beethovensonate. – So, genau so soll es nachher im Saal auch klingen! Diesem Stück ist sie das einfach schuldig! Mara greift nach dem Fläschchen in ihrer Hosentasche, schüttet ungezählte homöopathische Globuli in die Hand und versucht an deren Wirksamkeit zu glauben. Dann geht sie nochmals zur Toilette. Als sie zurückkehrt, hört sie ihren Vorgänger bereits die letzte Passage spielen. ‹Hey, Mara, du bist ja kreideweiss!› Carlo betrachtet Mara amüsiert. Er hat bereits vorgespielt und schlendert nun mit einer Zigarette in der Hand und aufgeräumtem Gesicht hinter der Bühne herum. ‹Ja?› Mara lacht nervös. ‹Ich bin einfach unmöglich. Aber jetzt bin ich gleich dran …›» So, wie ich es in meinem autobiografischen Roman «Tasten auf dünnem Eis» beschreibe, habe ich unzählige Male hinter einer Bühne gewartet, gezittert und gelitten – und es doch immer wieder freiwillig getan. Ich habe Musik studiert, mit Hauptfach Violoncello. Doch mein Diplom liegt seit meinem Studienabschluss ungenutzt in der Schublade. Der Berufstraum Musikerin ist ausgeträumt. Schon als Mädchen litt ich unter diffusen, belastenden Ängsten, hoffte aber immer, die würden sich dann schon von selbst legen. Ich wollte einfach unbedingt Musikerin werden, mit viel Lob bestätigt und gefördert von meiner Cellolehrerin. Ich liebte mein Cello, mein Klavier, die Musik, und ich fand es faszinierend, mich einem Stück anzunähern und musikalisch sowie technisch an ihm zu feilen. Ich litt aber auch unter enormem Lampenfieber, drückte mich jeweils vor Schülerkonzerten, bis mich meine Lehrerin zwingen musste. Musikerin blieb mein Traumberuf. Musik an sich ist ja auch etwas Wunderbares. Ich denke, ihren Wert kennt jeder Mensch für sich persönlich. Musik vermag wie keine andere Kunstform ganz unmittelbar zu berühren, Stimmungen zu erzeugen, blockierte Tränen hervorzulocken – so an Beerdigungen, wo erst beim Einsetzen der Musik beherrschte Menschen überwältigt werden. Jedes Lebewesen kann von Musik berührt werden, schon Ungeborene und Säuglinge, sogar Pflanzen. Lebewesen, die mit Malerei oder Literatur keine Reaktion zeigen könnten. Und wahrscheinlich kennt jeder das Gefühl, dass er sich beim Erklingen eines bestimmten Musikstücks sofort an ein berührendes Ereignis erinnert, auch wenn es lange zurückliegt. Musik kann Stimmungen erzeugen, man kann beim Zuhören die Augen schliessen, eintauchen, den Alltag vergessen. Sie kann aber auch so mitreissen, dass man sich beinahe zwangsläufig bewegen muss. Musik lässt viele Mensche zu mehr innerer Harmonie finden. Mein späteres Studium an der Musikhochschule war eine bereichernde Zeit. Die Begabung bestätigte sich durchaus. Und cellistisch glaubte ich hoffnungsvoll und blauäugig an eine spätere Existenz als Kammermusikerin, mit ein paar ergänzenden Unterrichtsstunden und gelegentlichen Kammerorchestereinsätzen zur finanziellen Sicherheit: ein Traum vieler Musikstudenten. Parallel zu Erfolg und Anerkennung hatte sich aber schleichend meine Angst (Agoraphobie, soziale Phobie, Zwanghaftigkeit) immer tiefer in mir eingegraben. Immer mehr Situationen bereiteten mir Herzklopfen und andere Symptome. In einem Umfeld, in dem es permanent um Auftreten und Exponieren geht, eine eigentlich unerträgliche Situation. Zudem spürte ich, wie sehr ich mich während des Spiels Karin Linsi, geboren 1967, studierte Violoncello in Luzern und Utrecht (NL). Später erledigte sie Text- und Übersetzungsaufträge. Nach einigen Jahren wurde ihre Sehnsucht, sich wieder kreativ auszudrücken, immer drängender. Sie begann zu schreiben und sich damit einer Ausdrucksform zu widmen, die sie lange zugunsten der Musik zurückgestellt hatte. Heute lebt sie in Luzern. verspannte, buchstäblich atemlos wurde. Getrieben vom Wunsch, bei der Interpretation eines Werkes dem Komponisten gerecht zu werden und seine Absichten zu verwirklichen, entfernte ich mich von mir selbst, verlor mich gleichsam in meiner hohen Konzentration. Dennoch: Meine Diplomprüfung gelang schliesslich und öffnete mir das Tor zur Welt der Berufsmusik. Ein Jahr Auslandstudium hängte ich noch an. Danach war die Gnadenfrist verstrichen. Ich konnte mir nicht länger einreden, meine psychische Labilität würde sich schon auswachsen. Die Zeit war gekommen, Arbeit zu suchen. Ich kapitulierte. «Mara steht vor einer langen Werkbank mit Stapeln von Schuhkartons und klebt Preisetiketten in Hunderte von Turnschuhen, Stöckelschuhen, Pantoffeln … Aus einem Radio, das seit Jahrzehnten in der Fabrikhalle zu stehen scheint, schallt ein Countrysong. Fachwissen Wenn Lebensträume platzen Das Diplom der Musikhochschule liegt zu Hause in einer Schublade – überflüssig beim Schuhpreiskleben, für die Arbeit als Aufseherin im Kunstmuseum, beim Bestücken von Weihnachtsgeschenkkörben mit Delikatessen. Sobald Mara sich ans Klavier setzt, wird sie traurig. Deshalb lässt sie es bleiben. Klassische Musik hören macht sie auch traurig, deshalb hört sie Jazz oder gar nichts. Die Zukunft liegt in einem Nebel aus Zweifeln, wo sich neue Wurzeln schlagen liessen.» Arbeit als Musiker bedeutet normalerweise entweder Unterrichtstätigkeit oder eine Orchesterstelle. Beide Arten der Berufsausübung erschienen mir undenkbar: Beim Thema Unterrichten waren es die Angst vor dem engen Kontakt mit Schülern und Eltern sowie das subjektive Gefühl des Eingeschlossenseins während der Lektionen. Bei der Variante Orchestermusikerin war die Angst vor dem Eingesperrtsein noch viel ausgeprägter. Während eines Konzertes die Bühne verlassen wegen akuter Angst? Unvorstellbar! Und selbst während Proben «tut man das nicht», daher hatten mir während des Studiums auch diese zunehmend Herzklopfen bereitet. Zudem war ich viel zu wenig nervenstark, um beim Probespielen, bei der Bewerbung für ein Orchester, mit der gnadenlos verlangten Perfektion vorzuspielen, mich innerhalb von vielleicht dreier Minuten auf Knopfdruck und ohne zitternde Finger zu beweisen und mein musikalisches Potenzial auszubreiten. Dass ich nun meinen jahrelang vorgezeichneten Berufsweg verlassen musste, löste eine tiefe Krise und Sinnsuche aus. Wenn ich heute sehe, was ein Dasein als Cellistin bedeutet hätte, sehe ich den Abbruch allerdings auch positiv. Die Konzertbesucher verklären oft das Leben eines Berufsmusikers. Beneidenswert, sich mit etwas so Schönem wie Musik den Lebensunterhalt verdienen zu dürfen … Was das Publikum nicht weiss: dass sich beispielsweise auf eine einzige Streicher-Orchesterstelle oft weit über hundert Musiker bewerben und dass Probespiele Stress pur sind. Überhaupt besteht eine Diskrepanz zwischen der allgemein verbreiteten Vorstellung, Musiker seien besonders sensibel, und der Tatsache, dass gerade diese Künstlergruppe über eine ausgesprochen hohe psychische Belastbarkeit verfügen muss. Obwohl natürlich Sensibilität für eine einfühlsame, inspirierte Interpretation wiederum tatsächlich notwendig ist beziehungsweise wäre. Hat man dann die Orchesterstelle bekommen, beginnt die Härte des Alltags. Die Arbeit geschieht immer im Angesicht einer kritischen Öffentlichkeit, die verwöhnt ist von instrumenten- und aufnahmetechnisch makellosen CD-Aufnahmen und daher ganz selbstverständlich Höchstleistung verlangt. Ungünstige Dienstzeiten – morgens Probe und abends Vorstellungen – kommen hinzu, wobei im Fall einer abendfüllenden Opernaufführung nach dem letzten Applaus nur wenige Stunden Ruhezeit bleiben bis zur täglichen morgendlichen Probe. Tourneen sind zusätzlich anstrengend, mit oft dichtem Konzertprogramm und wenig Rücksicht auf Zeitverschiebung. Dazu kommt, dass durch die hohen Anforderungen an Orchestermusiker heute jene Musiker im Orchester sitzen, die von der Begabung und vom Ehrgeiz her eigentlich eine Solo- oder eine Kammermusikerkarriere angestrebt hatten. Bei dieser persönlichen Qualifikation kann es besonders frustrierend wirken, im Orchester einer unter vielen zu sein. Oder allenfalls unter einer uninspirierten, unfähigen Orchesterleitung spielen zu müssen. Musik ist ein Markt geworden, Plattenlabels kreieren Stars ungefähr so, wie neue Produkte lanciert werden, und bestimmen weitgehend, ob klassische Musiker und Ensembles international berühmt werden, denn ohne Label ist das schier unmöglich. Alkohol- oder Tablettensucht sind unter (Orchester-)Musikern auffallend weit verbreitet. Sehr viele Berufsmusiker haben zudem instrumentenspezifische körperliche Beschwerden wie Muskelverspannungen, Rückenbeschwerden oder Gehörschäden, da sie stundenlang in unnatürlichen Körperhaltungen und in höchster Konzentration verharren müssen. Auch nur eine Anstellung als Lehrkraft an einer ganz gewöhnlichen staatlichen Musikschule zu finden, ist heute sehr schwer. Zudem können an einer Musikschule oft nur wenige Stunden unterrichtet werden; ein weiter Anfahrtsweg ist aber trotzdem in Kauf zu nehmen. Dabei wird dieser Beruf finanziell zunehmend unsicher. Sicher ist bei all diesen problematischen Aspekten die Liebe zur Musik für Berufsmusiker ein tragendes Element, das viele, jedoch nicht alle schwierigen Umstände ausgleichen kann. Für mich persönlich ist heute die Hauptsache, mich künstlerisch betätigen zu können, sei es durch Schreiben, Malen, Handarbeiten. Beim Musizieren habe ich nämlich noch nicht den Weg gefunden von der Berufsmusikerin mit professionellem Anspruch zur entspannten Hobbymusikerin. Karin Linsi Karin Linsi: Tasten auf dünnem Eis. Books on Demand, 2006, 232 Seiten, Fr. 24.–, ISBN 978-3-83346107-1. Mara, Patientin und genaue Beobachterin, nimmt den Leser mit in die psychosomatische Klinik Dornhof und lässt ihn deren Welt miterleben: Gruppentherapie, Familienaufstellung, tiefe Gespräche, Situationskomik. Dazwischen zeichnen Erinnerungsszenen Maras Weg vom begabten Mädchen zur vielversprechenden Pianistin, die an ihren Ängsten scheitert und nicht zurechtkommt mit dieser Welt. Sie gibt ihr Berufsziel auf, gerät in eine Spirale von Angst, Depression und Magersucht. Bis sie mit dreissig in die Klinik eintritt und zaghaft neue Schritte wagt. 21 22 Fachwissen Leben ohne Politik? Schweizer Käse und Mortadella di Bologna Politik prägt unser Leben insofern, als sie einen Rahmen herstellt, der ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Tendenziell sinkende Stimm- und Wahlbeteiligungen sind ein Indiz für so etwas wie politisches Desinteresse. Wie unpolitisch darf Leben sein? In der Schweiz? In Italien? Der in Zürich wohnhafte Italiener Valerio Bonadei sucht Antworten. Mit Politik sind wir täglich konfrontiert. Am Morgen reisst uns der Radiowecker aus dem Schlaf. Das Radioprogramm ist nicht nur ein «Ufsteller» – es ist auch staatlich konzessioniert. Alsbald suchen wir für unsere Morgentoilette das Bad auf. Wasserwerke und Kläranlagen sorgen dafür, dass Wasser in und aus unseren Haushalten fliesst. Kurzum: Was immer wir als Errungenschaften unserer Zivilisation betrachten, wäre ohne eine gut funktionierende politische Gemeinschaft kaum möglich. Unser Leben ist auch ein politisches Leben. Dennoch interessiert sich ein beträchtlicher Bevölkerungsteil kaum für Politik: Die durchschnittliche Wahl- und Stimmbeteiligung liegt bei rund 50 Prozent. Der Zürcher Regierungsrat Markus Notter lässt auf seiner Website richtigerweise verlauten: «Die wichtigsten Menschen für die Politik sind die politisch Desinteressierten.» In der Tat sind die Nichtwähler, die schweigende Mehrheit, sowohl für die Politpraxis als auch für deren Theorie relevant. Politiker gewinnen Wahlen, wenn es ihnen gelingt, die Verdrossenheit in «Politikbegeisterung» umzumünzen. Schweizer Politologen stellten im Rahmen einer Nachuntersuchung zu den Parlamentswahlen 1999 fest, dass die schweigende Mehrheit ausgesprochen vielfältig ist: Zu den eigentlich Politikverdrossenen – sie haben kein Vertrauen mehr in die Politik – wurden in der Erhebung nur gerade sieben Prozent der Nichtwähler gezählt. Rund ein Viertel der Abstinenten hat zwar grundsätzlich Vertrauen in die Politik, ist aber entweder schlecht informiert und fühlt sich nicht kompetent oder aber ist sozial isoliert und hat niemanden, um sich über politische Fragen auszutauschen. Ein weiteres Drittel der Nichtwähler fühlt sich zwar kompetent und integriert, ist aber ganz einfach desinteressiert: Diese Abstinenten kümmern sich nicht um das politische Tagesgeschäft und bleiben somit auch am Wahltag den Urnen fern. Schliesslich nehmen gemäss Studie 36 Prozent der schweigenden Mehrheit als politisch Interessierte nicht bei nationalen Wahlen, wohl aber bei Sachabstimmungen teil – wenn sie sich von einer Vorlage persönlich betroffen fühlen, sei dies emotional oder materiell. Mit den Mitteln des Verstandes lässt sich feststellen, dass Politik im Leben jedes Einzelnen eigentlich eine wichtige Rolle spielen müsste. Ohne sie wäre das Leben «brutish and nasty», wie es Thomas Hob- bes (1588–1679), der Vater der Politischen Philosophie, formulierte. Einen blutigen Kampf «jeder gegen jeden» würden wir uns liefern, wenn eine neutrale Instanz das Zusammenleben nicht organisierte und regelte. Die Vertragstheoretiker (Hobbes, Rousseau, Kant u.a.) erkannten, dass das Leben besser wird, wenn wir proaktiv aus diesem ungemütlichen Naturzustand heraustreten. Sämtliche Gesellschaftsmitglieder vereinbaren hierzu untereinander den Verzicht auf ihr Gewaltrecht – auch das Recht, sich selber zu verteidigen – und treten es monopolmässig an den Staat ab. In der Praxis ist dieser «Staatsbildungsprozess» aus logistischen Gründen undurchführbar. Man stelle sich vor, wie wir mit sämtlichen Mitbürgern und mit allen Neugeborenen einen Rechteabtretungsvertrag abschliessen. Die Vertragstheorie benennt somit ein allgegenwärtiges Legitimationsproblem der Politik, das auch eine Ursache dafür sein könnte, weshalb Politik im Leben vieler keine Rolle spielt: Unser Leben spielt sich unter politischen Spielregeln und Strukturen ab, in die wir ungefragt hineingeboren worden sind. Unsere Vorfahren haben uns Regeln des Zusammenlebens aufoktroyiert. Trotzt folglich die schweigende Mehrheit dem politischen System durch politische Abstinenz? Die Frage nach der Bedeutung, welche die Politik im Leben des Einzelnen einnimmt, wurde seit den Vertragstheoreti- WIRKSAM HELFEN BEI GEWALT, KRISEN, TRAUMA Weiterbildung zum Die Weiterbildung befähigt Sie Gewalterfahrung und Psychotrauma bei Einzelnen, Familien, Gruppen und Institutionen zu erkennen und geeignete Interventionen durchzuführen. Mit erfolgreichem Abschluss der Weiterbildung erhalten Sie die Lizenz zur Durchführung der Methode Neuroimagination® und die Berechtigung den geschützten Titel «Gewalt-Krisen-Trauma-Coach» (GKT-Coach®) zu führen. Deutscher Bundesverband Coaching e.V GKT-Coach ® Einführungstage mit Horst Kraemer Ein zweitägiger Workshop gibt einen Überblick über die Weiterbildung sowie einen Einblick in die Trauma-Arbeit anhand einer Livesitzung. Beginn der Weiterbildung INSTITUT FÜR INTEGRATIVE FORSCHUNG UND LEHRE Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 02.04.2008 Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.04.2008 Die Weiterbildung ist berufsbegleitend und dauert zwei Jahre. Kosten . . . . . . . . . . . CHF 420.– / EUR 280.– Termine 2007 (Schweiz / Deutschland) Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. – 29.09.2007 / 18. – 19.01.2008 Lüneburg . . . . . . . . . . . . . . 05. – 06.10.2007 / 01. – 02.02.2008 Saarland . . . . . . . . . . . . . . . 25. – 26.01.2008 I PAS AG Hauptsitz und Schulungscenter Säntisstrasse 2 CH-9500 Wil Tel. +41 71 911 56 53 www.ipas-inst.ch Fachwissen Leben ohne Politik? Valerio Bonadei, 1974 geboren, ist italienischer Staatsbürger. Er hat in Zürich Politologie und Staatsrecht studiert. Während des Studiums hat er die Jugendzeitschrift «affékt» herausgegeben. Nach Studienabschluss arbeitete er als Erwachsenenbildner. Heute ist er bei einem Filmverleih für die Pressearbeit und Projektentwicklung zuständig. Er lebt in Zürich. kern in dieser Form und Genauigkeit nicht mehr untersucht. Der deutsche Soziologe Max Weber erläuterte in seinem Traktat «Politik als Beruf» diesen Zusammenhang nur annähernd. Das Politikersein ist eine Berufung, ein sinnstiftender Lebensinhalt. Ein Politiker verfüge über Fertigkeiten wie Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmass, die er als Machtmensch auch intrigant oder im Dienste der guten Sache einsetzen soll. Einen politisch ambitionierten Machtmenschen per Stimme mit einem Amt oder einem politischen Mandat zu belohnen, mag nicht jedermanns Sache sein. Damit lässt sich eine weniger philosophische als vielmehr psychologische Erklärung für politische Abstinenz ableiten: Die Beurteilungskriterien für die Wahl eines politischen Repräsenten sind zu komplex und stimmen nicht mit unseren Idealvorstellungen eines guten Menschen überein. Die Politische Ökonomie geht davon aus, dass jeder Mensch, auch der unpolitischste, ein Nutzenmaximierer ist. Das Individuum verhält sich erst dann politisch, wenn es mit einem minimalen Aufwand seinen Nutzen (Lebensglück) maximieren kann (Optimumsprinzip). Mit anderen Worten: Die wahlberechtigten Eltern zweier Kinder empfinden mehr Glück, mit der Familie einen Sonntagsausflug zu unternehmen, als ihre sowieso nicht ausschlaggebende Stimme für eine Sachabstimmung abzugeben, zum Beispiel über die Finanzierung von Kläranlagen. So zumindest lässt sich das politische Desinteresse der Politik im Leben einer durchschnittlichen Familie begründen: mangelnde Betroffenheit, mangelnde Macht und das Wissen, etwas Besseres mit der Zeit anzufangen. Dennoch bleibt die Frage offen, weshalb Politik bei der anderen Hälfte der Bevölkerung eine Rolle spielt. Mitentscheidend für politische Aktivitäten seien die Rahmenbedingungen des politischen Systems, nimmt der Rationale Institutionalismus an, ein Theoriefortsatz der Politischen Ökonomie: Das institutionelle Gefüge, in dem unser politisches Leben eingenistet ist, prägt unser politisches Verhalten. Schweizer sind beispielsweise sehr zufrieden mit ihren politischen Institutionen, weil der Mitgestaltungsspielraum selbst für den Unpolitischsten und Macht- und Mittellosesten vergleichsweise sehr gross ist. In Italien etwa oder in Deutschland geht man alle fünf Jahre eine Regierung wählen, basta. Zwischen «spettacolo» und langweiligen Kompromissen Die Schweiz verfügt über eine unglaubliche Dichte politisch aktiver Nichtregierungsorganisationen. Für eine Vielzahl von gesellschaftlichen Anliegen gibt es einen entsprechenden Verband, insgesamt ungefähr 3000. Dies ist auch dem politischen System der Schweiz zu verdanken: Im Entscheidungsfindungsprozess beziehen die Regierenden die Regierten in Form von Interessengruppen als Experten und Betroffene ein. Politik ist dadurch erleb- und beeinflussbar. Auch im Gesetzesvollzug benötigen Behörden die Unterstützung von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Die Regierten werden so zu Regierenden und bestimmen mit, wovon sie auch betroffen sind. In Italien beispielsweise ist die Verbandsdemokratie kaum ausgebildet: Lediglich Gewerkschaften und das Unternehmertum setzen sich mit dem Staat regelmässig an einen Tisch. Differenzierte gesellschaftliche Anliegen haben es schwerer. Der «gute schweizerische Kompromiss» sorgt zudem dafür, dass Sonderinteressen bei der Regelgestaltung schon vorab berücksichtigt werden. Zwischen Regierten und Regierenden ist der Abstand damit um ein Vielfaches kleiner. Das Phänomen der Politikverdrossenheit ist in der Schweiz eher weniger ausgeprägt – ganz im Gegensatz zu Italien. Der Italiener winkt mit einer verächtlichen Handbewegung ab, wenn man mit ihm über Politik redet. Mein Vater, ein eingewanderter Italiener, gab mir bei zahlreichen politischen Diskussionen beim sonntäglichen Essen zu verstehen, dass sich der Italiener als (schlecht) regierte Manövriermasse von Obliegenheiten beziehungsweise als ohnmächtiger Beobachter versteht. Italienische Politik ist spektakulär, weil kompromisslos. Jeden Abend prasseln endlose Diskussionen in Polittalkshows über die Mattscheibe auf die müden, unterhaltungshungrigen Augen des italienischen TV-Bürgers. Opposition und Regierung führen sich dabei erbarmungslos auf: Intrigen, Machtspielchen, Doppelzüngigkeiten nehmen dem Italiener die Lust und das Selbstverständnis, Politik als interessanten Bestandteil seines Lebens zu sehen. Umso geringer ist sein Vertrauen in die politischen Institutionen. Jedes Kind weiss, dass man im politischen Zusammenhang mit «Mortadella», der Bezeichnung für eine fetthaltige Wurst, den aus Bologna stammenden aktuellen Ministerpräsidenten Romano Prodi meint. Politisches Desinteresse ist so gesehen eher strukturell als kulturell bedingt. Die politischen Institutionen liefern die Spielregeln und Handlungsalternativen, die das alltägliche politische Verhalten prägen. Valerio Bonadei 23 24 Fachwissen Leben ohne Politik? – Gespräch mit Massimo Rocchi «In der Schweiz fehlt der grössere internationale Wirkungskreis» Gute Menschen wählen gute Politiker, die gute Gesetze machen – so einfach könnte das sein. Meint der wirblige Sprachjongleur und mit dem «Salzburger Stier» sowie dem «Prix Walo» ausgezeichnete Komiker Massimo Rocchi. punktum.: Massimo, bist du mit deinem Leben zufrieden? Massimo Rocchi: Ja. Ich lege viel Wert darauf, Erfahrungen zu machen. Mein Leben ist ein Work in progress. Ich bin ein sehr sensibler Mensch, der seine Umwelt stark wahrnimmt. Ich bin dankbar für all jene Erfahrungen, die ich bis jetzt gemacht habe, und ich freue mich auf all jene Erfahrungen und Erlebnisse, die mir noch bevorstehen. Ich bin von wunderbaren Mitmenschen umgeben, meinem Publikum kann ich Freude bereiten. Viele Seiten von mir habe ich entdeckt und ausgelebt, und ich weiss, dass in meiner Seele noch weitere unbekannte Seiten schlummern. Diese würde ich gerne noch entdecken. Woher rührt aus deiner Sicht die Tatsache, dass für viele Leute Politik schlicht uninteressant ist? Unsere Vätergenerationen haben den Krieg miterlebt. Sie haben das Versagen von Politik hautnah erfahren. Heute ist es schwer, politische Taten zu erkennen, weshalb Politik nicht erfahrbar ist. In der Schweiz fehlt es an nichts. Uns geht es gut. In der Schweiz trennt selbst Christoph Blocher den Abfall, es ist total normal. – Die Schweizer Politik ist zu unbemerkbar, weil sie zu lokal ist. Es fehlt ihr im Vergleich zu Deutschland oder Spanien der grössere internationale Wirkungskreis. Ein Beispiel: Joschka Fischer wollte während seiner Amtszeit nichts mit den Amerikanern zu tun haben, heute lehrt er an amerikanischen Universitäten Politik. Al Gore geht mit dem Thema Umweltpolitik auf Tournee. Deutschland oder sogar Zapateros Spanien sind auf globaler Ebene viel wichtiger und präsenter als die Schweiz. In der Politik geht es um Macht, um Taten. Für junge, impulsive Menschen ist Politik im kleinen Rahmen zu wenig anziehend. Bei der alltäglich spürbaren Politik, wie sie uns in Auseinandersetzungen im Fernsehen gezeigt wird, sind Ergebnisse und Taten kaum ersichtlich. Kann Politik das Leben verändern? Nur wenn sie ein Gesetz schreibt und verabschiedet. Sonst ist Politik umsonst. Muss ein Politiker ein guter Mensch sein? Ein guter Politiker ist der, der gute Gesetze macht. Gut sind diejenigen Gesetze, die Toleranz und Entwicklung bei allen fördern. Braucht das gute Leben die Politik? Nicht das Leben, sondern das Zusammenleben braucht die Politik. Kannst du dich an deinen ersten politischen Gedanken erinnern? Wann war das? Als ich 13 Jahre alt war, beschloss die Schulleitung eines Tages, dass ein Teil der Schüler aus Platzmangel am Morgen und ein anderer Teil am Nachmittag zur Schule kommen müsse. Einer meiner Freunde warf aus Protest einen Stein in ein Fenster. Wir wurden zunächst alle zum Schulleiter zitiert. Er fragte zuerst, wer es gewesen sei, und meinte im selben Atemzug: «Du, Massimo, kannst es nicht gewesen sein.» Ich war empört darüber, dass der Schulleiter mich nicht als Täter in Betracht zog, nur weil ich Sohn von Professore Rocchi war. Ich kämpfte darum, dass ich es sehr wohl hätte sein können. Diese erfahrene Ungleichbehandlung ist wohl der Ursprung für meine Politikleidenschaft. Die Politik soll Gerechtigkeit herstellen – darum geht es. Talente und Fähigkeiten sind bei der Geburt nicht gerecht verteilt. Kann die Politik einen Ausgleich schaffen? Nein, kann sie nicht. Es könnte aber sein, dass ich morgen durch eine Erfahrung das Gegenteil behaupte. Ich bin wie ein Heft mit vielen unbeschriebenen Seiten. Natürlich ist jemand, der in den Banlieues aufwächst, weniger begünstigt als jemand, der wohlbehütet ist. Ich habe in den 50 Jahren meines Lebens gelernt, dass man den Menschen mit Erziehung und Bildung vor viel Leid und Unglück schützen kann. Ich rede auch als Vater von zwei Kindern. Bildung ist wohl die beste Investition in die Zukunft unserer Jugend. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, weshalb Psychologie nicht als Fach in der Schule angeboten wird. Ich Massimo Rocchi (50) lebt «in Europa und in der Schweiz» und ist einer der erfolgreichsten Komiker des Landes. Er hat in Bologna und Paris Theaterwissenschaft studiert. Gegenwärtig ist er mit seinem Programm «Circo Massimo» in der Schweiz unterwegs (www.massimorocchi.ch). bin ein sehr sensibler Mensch mit Ängsten, wie jeder andere auch. Wichtig ist, dass man diese Ängste akzeptiert. Der psychologisch geschulte Umgang mit Affekten wie Wut oder Angst liesse die Gesellschaft anders aussehen und damit wohl auch die Bedeutung von Politik steigen. In deiner neuen Show spielst du auf die anrüchige Verbandelung zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen von Silvio Berlusconi an. Kann man Berlusconi mit Blocher vergleichen? Nein. Heutzutage gibt es diese Tendenz, dass Industrielle vermehrt im politischen Betrieb mitmachen – «es isch eso». Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Charakteren. Christoph Blocher hat sich gesagt: Okay, ich war ein erfolgreicher Wirtschaftsboss, ich bin reich, jetzt gehe ich in die Politik. Fachwissen Leben ohne Politik? – Gespräch mit Massimo Rocchi Natürlich ist er noch Aktionär seiner ehemaligen Betriebe, und bestimmt gibt er seine Empfehlungen ab. Aber Silvio Berlusconi ist dank der Politik zu einem erfolgreichen Geschäftsmann geworden. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Dieser Mann besitzt Medien, er hat kurz vor den Wahlen das Wahlgesetz zu seinen Gunsten geändert. In der Schweiz wäre das kaum vorstellbar. Stellst du einen unterschiedlichen Stellenwert der Politik bei Schweizern und Italienern fest? Ganz sicher. In der Schweiz geniesst die Politik einen viel höheren Stellenwert als in Italien. Der Italiener ist ein Egoist, er führt ständig einen Überlebenskampf, er ist ein «Furbo», ein Schlaumeier. Ich bewundere den englischen Schauspieler Rowan Atkinson in seiner Paraderolle des Mr. Bean. Einfach wunderbar. Mr. Bean ist ein gieriger Opportunist, er verschaukelt Menschen, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Das trifft auch auf den Durchschnittsitaliener zu. Gäbe es morgen um 8 Uhr einen Ausverkauf im Media-Markt, stünde Mr. Bean um 7 Uhr 45 in der ersten Reihe. Wehe, jemand würde sich vordrängeln. Beim Italiener kommt noch etwas hinzu: Er ist auch ein sehr sensibler Mensch mit der wohl besten Wahrnehmung. Aber er ist unfähig, seine Emotionen zu artikulieren und zu verarbeiten. Der Schweizer hingegen ist sozial eingestellt. Mein Nachbar geht mich etwas an. Der oder das andere ist nicht so fremd, wie es in Italien ist. In der Schweiz ist das Bewusstsein, dass Strassen, Lampen und Häuser 0SYCHIATRIE Ì TRAVERS LES GÏNÏRATIONS #ONGRÒS ANNUEL 3300%! ET 3300  ,IEU .XUVDDO %HUQH .RUQKDXVVWUDVVH  %HUQH $ÏBUT DU CONGRÒS -HXGL  K erbaut und unterhalten werden müssen, präsenter. In Italien sind diese Dinge eine Selbstverständlichkeit. Zuweilen ist der Spürsinn für soziale Gerechtigkeit in der Schweiz vergleichsweise fast zu stark ausgebildet: Ein Beispiel: Ich kenne einen Kontrolleur bei der SBB. Am Morgen treffe ich ihn im Zug, und obwohl er mich kennt, fragt er nach meinem Generalabonnement. Er weiss, dass ich eins habe, denn er ist mein Freund. Aber «es isch eso». Und wenn ich am Abend mit dem Zug nach Hause fahre und er mich wieder im Zug antrifft, dann muss ich ihm wieder das Generalabonnement zeigen. So etwas ist kaum vorstellbar in Italien. Findest du es gut, wie es in der Schweiz läuft? Schwierig zu sagen. Ein anderes Beispiel: Es gilt, einen Job zu vergeben, und ich kenne jemanden, von dem ich sagen kann, dass er die Kompetenzen für die Stelle hat. In Italien ist klar: Ich gebe diesen Job diesem Bekannten – weshalb sollte ich mir die unnötige Mühe nehmen weiterzusuchen? Hier in der Schweiz teile ich meinem Team mit: Ich kenne da jemanden, ich finde, er passt hervorragend zur Stelle, er kann das. Dennoch schaltet man ein Stelleninserat, und es werden alle Kandidatenprofile gecheckt. Ich finde, dies zeichnet die Schweiz aus. Das ist gelebte Fairness. Kennst du die Redewendung «Soihäfeli, Soideckeli»? Nein. &IN DU CONGRÒS 9HQGUHGL  K 4HÒME 3V\FKLDWULH j WUDYHUV OHV JpQpUDWLRQV -ANIFESTATIONS INTEGRÏES ‡ H[SRVLWLRQ SRVWHUV DYHF UHPLVH GH SUL[ ‡ UHPLVH GH SUL[ SRXU OHV PHLOOHXUV WUDYDX[ GHV H[DPHQV 36< 6633($ HW 6633 ‡ H[SRVLWLRQ LQGXVWULHOOH ‡ V\PSRVLXPV j PLGL ‡ H[SRVLWLRQ G·DUW ©PXU pGXFDWLIª 36< )NSCRIPTION ZZZSV\FKLDWULHFK -RKDQQ /WKL )DPLOLH ,,, FD  ‹ 3V\FKLDWULH0XVHXP %HUQ Sie bedeutet: Hilfst du mir bei diesem Problem, helfe ich dir beim anderen. Die Schweizer Politik ist für ihre Durchlässigkeit verschiedenster Interessen bekannt. Über 3000 gut organisierte Verbände nehmen Einfluss auf die Gesetzgebung und helfen bei der Durchsetzung der Gesetze. In Italien gibt es lediglich Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat. Die Schweizer Demokratie ist wohl die perfektere? Ich gebe dir recht, aber die Schweiz gibt es schon seit über 700 Jahren, während die italienische Demokratie etwa 150 Jahre alt ist. Insofern kann ich diesen Unterschied gut nachvollziehen. Interview: Valerio Bonadei 25 Fachwissen Wenn Leben wehtut «Schmerz»: Eine Kunstausstellung in Berlin Noch bis zum 5. August ist in Berlin die Ausstellung «Schmerz» zu sehen. Kunst leidet oft: Erst im Schmerz kommt Identität unmittelbar zustande – im Überwinden(müssen) der Selbstdistanz. In zwei Museen parallel werden Werke unter anderem von Francis Bacon, Joseph Beuys, Louise Bourgeois, Bruce Nauman, Giovanni Battista Tiepolo und Bill Viola präsentiert. Der Schmerz ist fester Bestandteil unseres Lebens. Es gibt Schmerzen, die mit der Zeit nachlassen, andere Schmerzen reissen eine tiefe Wunde auf, die nie richtig verheilt. Die Erfahrung von physischem oder psychischem Schmerz ist radikal subjektiv – gleichwohl kann sie bis zu einem gewissen Grad beschreibend mitgeteilt werden und wird dann auch Thema von künstlerischem Schaffen. «Ob und wie man Schmerz darstellen und somit kommunizieren kann, ist eine strittige und vielfach diskutierte Frage», erläutert Annemarie Hürlimann, Kuratorin der Ausstellung «Schmerz», die gegenwärtig in Berlin zu sehen ist. Die Ausstellung, die noch bis zum 5. August zu besichtigen ist, spürt den vielfältigen Darstellungen und Äusserungen des Schmerzes nach wie beispielsweise in einem frühneuzeitlichen Kreuzigungsgemälde, dem Präparat einer Gichthand oder den flimmernden elektrischen Impulsen einer Nervenzelle. Die gemeinschaftsstiftende Funktion des Schmerzes nimmt die Ausstellung Francis Bacon (1909–1992): Crucifixion, 1965. Foto: Bruno Hartinger 26 dabei genauso in den Blick wie die Versuche, ihn zu beobachten, zu analysieren, zu suchen oder wieder loszuwerden. Sie zeigt, dass der Schmerz womöglich immer beides sein kann: subjektiv und objektiv, kreativ und destruktiv. Nach Meinung von Annemarie Hürlimann versucht jeder Mensch, seinem Schmerz auf eine ihm und seiner Situation angemessene Weise Ausdruck zu verleihen. «Damit stellt er einen Weltbezug her», betont die Ausstellungsmacherin. «Er bedient sich dabei der Wörter, Bilder und anderer Zeichen, welche die jeweilige Kultur für den Ausdruck des Schmerzes anbietet.» Mit Kombinationen und Konfrontationen von künstlerischen Arbeiten einerseits und medizinischen, volkskundlichen, religiösen und alltäglichen Objekten andererseits begibt sich die Ausstellung auf einen Grenzgang zwischen Kunst, Medizin und Kulturgeschichte. Gesucht wird Ausdruck, Form und Sinn des Schmerzes. Die Kapitel der Ausstellung, die jeweils mit einem lateinischen oder griechischen Begriff überschrieben sind – «crux», «exstasis» oder «pharmakon» – verteilen sich auf insgesamt vier Schwerpunkte: «Ansichten des Schmerzes», «Reiz des Schmerzes», «Die Zeit des Schmerzes» und «Der Ausdruck des Schmerzes». Zur Ausstellung ist ein Begleitband mit Bildblöcken erschienen, die der Gliederung der Ausstellung entsprechen. 22 Essays vertiefen darin Aspekte des Schmerzes, die im Rahmen der Ausstellung nur angedeutet werden können, und greifen Grundgedanken zum Schmerz aus Philosophie, Literatur, Kunstgeschichte, Medizin und Theologie auf. Claudio Moro ernst jandl (1925–2000): painful love the leg is not loved the leg ist not loved, oh no the leg ist not loved – cut it off the arm is not loved the arm is not loved, oh no the arm is not loved – tear it out the chest is not loved the chest is not loved, oh no the chest is not loved – beat it flat the head is not loved the head is not loved, oh no the head is not loved – chop it off «Schmerz» Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin; Medizinhistorisches Museum in der Charité, Berlin. Katalog: «Schmerz. Eine Kulturgeschichte». DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2007, 320 Seiten, 100 Abbildungen, Fr. 69.90, ISBN 978-3-8321-7766-9. Fachwissen Arbeit und Pension Dringend gesucht: bedürfnisgerechtere (Vor-)Ruhestandsmodelle Die demografische Alterung legt spätere Pensionierungen nahe, als dies heute der Fall ist. Dann müsste allerdings den veränderten Bedürfnissen der Noch-nicht-Ruheständler Rechnung getragen werden. Die Arbeitsund Organisationspsychologin Regula Dobmann hat ein Buch zum Thema publiziert. Mit ihrer Darstellung von Konzepten altersgerechter Arbeit bereichert sie die aktuelle Diskussion über Pensionierungsmodelle. Fortschritte in der Medizin, ausgewogene Ernährung, konstantes Wirtschaftswachstum und gute Bildung haben Europa eine höhere Lebenserwartung gebracht, was als grosse gesellschaftliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts gilt. Im Gegensatz dazu tut sich die Gesellschaft schwer mit dem Prozess der Alterung und alten Menschen im Allgemeinen. Auch in der Wirtschaft ist diese gesellschaftliche Tendenz sichtbar, bevorzugen doch viele Unternehmen junge Belegschaften und Führungskräfte. Parallel dazu tauchen in den Medien Schlagworte wie «Überalterung», «Altersfalle» oder «Rentnerschwemme» auf. Eine demografische Katastrophe und der Kollaps der Altersvorsorge werden prophezeit. Die Alterung der Bevölkerung stellt die Altersversicherungssysteme in der Tat vor Finanzierungsprobleme. Von verschiedenen Seiten wird daher eine Erhöhung des Pensionierungsalters vorgeschlagen. Eine solche Massnahme ist allerdings nur von Nutzen, wenn ältere Arbeitnehmende eine Beschäftigung finden und motiviert sind, länger zu arbeiten. Gerade Kaderleute scheiden aber gerne vor dem gesetzlichen Pensionierungsalter aus dem Erwerbsleben aus, weil zu wenig auf ihre veränderten Bedürfnisse am Arbeitsplatz eingegangen wird und Unternehmen es sich (noch) leisten können, erfahrene Mitarbeitende durch jüngere Kräfte zu ersetzen. Oftmals wird der Austritt gar mit finanziellen Anreizen gefördert. Die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene Verknappung der Arbeitskräfte werden dieser Tendenz jedoch bald ein Ende setzen. Personalverantwortliche sollten sich deshalb schon heute mit den Bedürfnissen ihrer älter werdenden Belegschaft auseinandersetzen und Massnahmen erarbeiten, damit sich ihre Unternehmung im veränderten Arbeitsmarkt der nahen Zukunft optimal positionieren kann. Auch aus arbeitspsychologischen Überlegungen wird eine stärkere Auseinandersetzung mit den veränderten Bedürfnissen und Ressourcen älterer Arbeitnehmenden für eine Unternehmung äusserst wichtig. Eine differenzierte Betrachtung zeigt bei älteren Kaderpersonen im körperlichen Bereich nur einen minimalen Abbau der Leistungsfähigkeit, die sich jedoch nicht auf die Arbeitstätigkeit auswirkt. Im geistigen Bereich halten sich die zu- und abnehmenden Fähigkeiten die Waage, wodurch die Gesamtqualität der Arbeitstätigkeit etwa gleich bleibt. Das Älterwerden bringt aber einen Wandel der Verhaltensweisen mit sich, weshalb ein altersspezifisch differenziertes Personalmanagement angezeigt ist. Bleibende Leistungsfähigkeit Die OECD definiert «ältere Mitarbeitende» als Personen, die in der zweiten Hälfte ihres Berufslebens stehen, noch nicht pensioniert und – im Sinne von arbeitsfähig – gesund sind. Noch immer hartnäckig hält sich das Vorurteil, dass die Leistungsfähigkeit ab vierzig kontinuierlich abnehme. Auch wird Älteren beispielsweise ein tieferes berufliches Engagement oder grösserer Widerstand gegenüber technologischen Veränderungen unterstellt, obwohl Fakten aus der Praxis dazu fehlen. Ändernde Bedürfnisse Folgende Bedürfnisse werden von älteren Kaderpersonen oft genannt: – Längere Regenerationszeit: Es wird eine zunehmende Müdigkeit wahrgenommen. Leistungsfähigkeit und -bereitschaft werden dabei aber als kaum abnehmend beurteilt. Die Zeit der Erholung geht auf Kosten der Freizeit. – Reduktion des Arbeitspensums zur Erholung und Aktivierung von Freizeittätigkeiten und Hobbys (auch für die Zeit nach der Pensionierung). – Selbstständigkeit: Ältere Arbeitnehmende kennen ihre Aufgaben und Ältere Arbeitnehmende sind wichtige Ressourcen, denn sie… … sind loyale Mitarbeitende. … weisen sich durch erhöhte Konfliktfähigkeit aus. … verfügen über umfangreichere Netzwerke. … verfügen über grosses (Fach-)Wissen. … sind effizient bei Routinearbeiten. … haben Sinn für das Mach- und Umsetzbare. … sind zeitlich flexibler, weil die Familienphase vorbei ist und die Zeit nach eigenen Prioritäten eingeteilt werden kann. … stehen am Ende der Karriere, haben weniger Ambitionen auf Beförderungen und neue Stellen. Ihre Energie wird in Fachaufgaben gesteckt. … verfügen über grössere Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu lösen, behalten leichter den Überblick und lassen sich weniger auf Machtspiele ein. … gehen Probleme ruhiger und gelassener an. … verfügen über eine realistischere Selbsteinschätzung. … sind kompetente Kommunikationspartner. … wirken in einem Team integrierend (altersdurchmischte Teams fördern Toleranz unter den Mitarbeitenden); können in der Funktion als Mentorin oder Coach genutzt werden. 27 28 Fachwissen Arbeit und Pension wollen die Arbeit selber einteilen und eigenständig arbeiten. – Arbeiten ohne unnötigen Zeitdruck. – Selbstbestimmung über den Arbeitsrhythmus. – Kein unnötiger Druck von aussen: Erfahrene Kaderleute haben hohe Ansprüche an sich selber, diese treiben an. – Abgeben von Führungsverantwortung und/oder grossen Verantwortungen; sich vermehrt Sachaufgaben widmen können. – Beim Lernen von Neuem: Verknüpfung mit der Praxis und konkretes Üben unter Einbezug von praxisbezogener Didaktik und Methodik. Bedürfnisorientiertes Pensionierungsmodell Aus psychologischer Sicht müsste ein bedürfnisgerechtes Pensionierungsmodell deshalb folgendermassen aussehen (siehe Kasten unten): Betroffene sollten… … Verantwortung für die Gestaltung der Arbeitszeit und der Pensionierung übernehmen (Alter ist gestaltbar). … Verantwortung für geistige und körperliche Fitness übernehmen. … sich von der Vorstellung verabschieden, dass mit zunehmendem Alter auch der Lohn ansteigt (finanzieller Höhepunkt einer Karriere soll nicht an das Alter geknüpft sein). Selbstbild beeinflusst Umgang mit Pensionierung Die Wahrnehmung der eigenen Arbeit, aber auch diejenige der Lebensbereiche Partnerschaft, Freizeit, Gesundheit, Status oder Finanzen wirken sich auf die Bewertung der Pensionierung und damit auf deren Bewältigung aus. Das individuelle Selbstbild spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das Erleben der eigenen Wirksamkeit im Beruf wird auch durch Umwelt und gesellschaftliche Strukturen beeinflusst. So führt eine latente Abwertung des Alters durch die Gesellschaft oft zu einer Selbstentwertung der Betroffenen, wodurch ein konstruktiver Umgang mit der Pensionierung behindert werden kann. Die überfällige Revision der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Alters wäre ein erster, aber wichtiger Schritt. Die Wirtschaft wird zwangsläufig den nächsten machen und auch aus ökonomischen Unternehmen sollten… … dem differenziellen Altern Rechnung tragen und den Arbeitskräften nach Möglichkeit Selbstbestimmung bei der Wahl eines Pensionierungsmodells gewähren. … eine Unternehmenskultur und Leitbilder schaffen, die keine Diskriminierung von Älteren zulassen und eine Personalpolitik für die Bedürfnisse aller Altersgruppen etablieren. … Teilzeitarbeit ermöglichen. … altersgemischte Teams einsetzen und fördern. … Weiterbildung für Ältere ermöglichen und dabei die Veränderungen im Lernverhalten berücksichtigen. … durch Erfahrung gewonnene Fertigkeiten von Älteren nutzen und sie zum Beispiel als MentorInnen oder Beratende einsetzen. … ihren Arbeitenden einen Ausstieg aus schädigenden Arbeitsfeldern ermöglichen. … Führungskräfte für Themen Älterer sensibilisieren. … mit Zielvereinbarungen führen (Management by Objectives). Überlegungen zu einem bedürfnisund ressourcenorientierteren Umgang mit älteren Arbeitskräften übergehen müssen. Regula Dobmann Buchtipp Regula Dobmann: Ältere Arbeitnehmende. Bedürfnisse in Bezug auf Arbeit und Pension. Darstellung in Theorie und Praxis. Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2006, 145 Seiten, Fr. 79.–, ISBN 3-86550-353-5. Politik und Gesellschaft sollten… … in der Frage nach den Pensionierungmodellen zwischen Personen, die körperlich hart arbeiten und durch die Arbeit geschädigt werden, und solchen, die vor allem im Dienstleistungssektor tätig sind, differenzieren. (Schädigungen müssen mit früherer wahlweiser Pensionierung kompensiert werden können.) … das Modell einer Lebensarbeitszeit prüfen. … Vorurteile gegenüber älteren und alten Menschen abbauen und Diskriminierungen verhindern. … wissenschaftliche Forschung zum Alter ermöglichen und die Resultate publizieren und diskutieren. Porträt Die Autorin: Regula Dobmann «Berufung klingt mir zu fremdbestimmt» «Ich bin neugierig und mag keine Extreme.» Das ist das Erste, was Regula Dobmann zu ihrer Persönlichkeit einfällt. Die 35-jährige HAP-Absolventin lebt und arbeitet heute in Bern, «der schönsten Stadt der Schweiz», wie sie en passant erwähnt. Dies sagt sie mit einer nicht alltäglichen Gewissheit; ihre Antworten sind überlegt und spontan zugleich. Wo man in Gesprächen leise Zweifel an irgendetwas erahnen kann, stösst man bei Regula Dobmann auf Prägnanz und fast schon virtuose Klarheit. Dazu passt auch, dass sie sich als zuweilen ungeduldig und hartnäckig bezeichnet. «Wenn ich etwas erreichen will, dann bleibe ich dran», sagt sie. Eine Eigenschaft, ja vielleicht sogar eine Tugend, die ihr beim Schreiben ihres ersten Buches mit Sicherheit viel geholfen hat. Regula Dobmann liess sich nach der obligatorischen Schule vorerst einmal zur Primarlehrerin ausbilden. Es folgten einige Lehrstationen in der Umgebung von Bern, bis sie im Jahre 2001 das Studium der Psychologie an der HAP in Zürich in Angriff nahm. «Schon immer interessierte mich, was den Menschen zu dem macht, was er ist», beschreibt sie ihre Motivation, sich zur Psychologin ausbilden zu lassen. «Ich wollte mehr über Themen des Erlebens und des Verhaltens von Menschen erfahren. Insbesondere auch im Zusammenhang mit der be- ruflichen Tätigkeit.» Der Mensch sei Teil eines Ganzen, sagt die junge Psychologin. Er sei nicht rational handelnd, sondern eine individuelle Einheit aus Körper, Seele und Geist – das mache seine Faszination aus. «Ein ehrlicher und interessierter Umgang mit meinen Mitmenschen ist mir wichtig. Ich will mitbekommen, was sie bewegt und beschäftigt, will aber auch meine Gefühle, Freuden und Ängste mit ihnen teilen dürfen.» An Menschen mag sie Humor, Geist, Grosszügigkeit und Belesenheit – wogegen sie auf Lieblosigkeit, Dogmatik und Engstirnigkeit eher abweisend reagiert. 2005 schloss Regula Dobmann das HAP-Studium mit Vertiefungsrichtung Arbeits- und Organisationspsychologie ab. Sie spricht in diesem Zusammenhang von Beruf und nicht von einer eigentlichen Berufung. «Berufung klingt mir zu fremdbestimmt», entgegnet sie mit ihrer abgeklärten Prägnanz. Heute arbeitet Regula Dobmann als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alters- und Behindertenamt der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern. Dort ist sie mit Aufgaben der Aufsicht im Behindertenbereich betraut. «Ich besuche Institutionen, berate Heimleitungen zu verschiedenen Anliegen und erteile Auskünfte an Versorgende von Menschen mit einer Behinderung.» Ein anderer Teil ihrer Arbeit ist eher «studierender» Art: Sie liest Konzepte, überprüft, ob gesetzliche Grundlagen eingehalten werden, oder widmet sich der Erarbeitung von konzeptionellen Grundlagen. Und nun ist Regula Dobmann auch Buchautorin. «Ich fühle mich noch nicht als solche», sagt sie nach kurzem Überlegen. Die gewohnte Klarheit ist etwas gewichen. «Das vorliegende Buch kam durch Zufall zustande. Der Verleger kam auf mich zu, da er auf meine HAP-Diplomarbeit gestossen war.» Nach einem Hin und Her entschied sie sich, das Buch zu schreiben. «Es war ein Riesenstück Arbeit», fasst sie ihre Erfahrungen zusammen. «Ich weiss heute nicht, ob ich ein weiteres Buch schreiben würde.» Bis dahin bleibt zum Glück noch Zeit. Regula Dobmann konzentriert sich gegenwärtig auf ihre Arbeit und auf das nahende Mutterglück. In den kommenden Monaten steht eine neue Herausforderung an – die Vereinbarung von Familie und Beruf. «Das Leben ist eine vielfältige Reise mit zahlreichen nicht geplanten Pausen und Rastmöglichkeiten», sagt sie. Das grosse Geheimnis des Lebens scheint auch für Regula Dobmann offen zu bleiben: Wie sieht die Reise zwischen diesen Pausen und Rastmöglichkeiten aus? «Der Weg ist das Ziel», entkräftet sie. Und ja, die Gewissheit in ihren Aussagen ist wieder da. Porträt: Claudio Moro NEUE TITEL AUS IHREM INTERESSENGEBIET Klingenberg, N.: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindler-Arbeit 2007. 194 S., kart., inkl. Audio-CD. CHF 45.40 (Klett-Cotta) 978-3-608-89040-2 Die Fähigkeit des Menschen zu bewusster Wahrnehmung wird im Achtsamkeitstraining genutzt, um körperlich spürbares Wohlbefinden aufzubauen. 20 Übungsanleitungen für Therapeuten und Trainer zeigen diesen Weg auf. Bestellen ist ganz einfach: Rufen Sie uns an: 0848 482 482 (Normaltarif) oder schreiben Sie uns eine E-Mail: contact@huberlang.com 29 30 SBAP. aktuell Berufspolitische News Psychologieberufegesetz (PsyG) Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 18. April 2007 – von uns lange ersehnt – über das weitere Vorgehen bezüglich PsyG beschlossen. Im Vorfeld der bundesrätlichen Sitzung war der SBAP. nicht untätig geblieben, denn das Auf-die-lange-Bank-Schieben der Gesetzesvorlage musste seine Gründe haben. Gegenüber der FSP machte der SBAP. deutlich, dass nach verantwortbaren und möglichen Lösungen gesucht werden soll. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach – es wäre ja nicht das erste Mal, dass die Psychotherapieverbände wegen unrealistischer Forderungen scheitern würden. Seit der Erarbeitung des Gesetzesentwurfes hat sich einiges verändert: – Das Bolognamodell wird konkret umgesetzt (Bachelor, Master). – SPV, FSP und SBAP. sind sich darüber einig, dass ein Grundstudium in Psychologie zur Weiterbildung in Psychotherapie führen soll. – Das revidierte Binnenmarktgesetz ist in der Umsetzungsphase (siehe auch «Das Binnenmarktgesetz auf dem Vormarsch» von Beat Messerli auf Seite 32). Es wird noch Anpassungen im Gesetz geben müssen. Am 21. Mai 2007 hat das Bundesamt für Gesundheit die Berufsverbände zu einem ersten Informationstreffen eingeladen. Doch insgesamt müssen wir uns abermals in Geduld üben, denn der Bundesrat erwartet den Gesetzesentwurf und die Botschaft des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) erst 2009. IV-Vertrag Die Verbände haben sich mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) über einen IV-Vertrag geeinigt. Sobald der Kontrakt in Kraft ist, werden wir Sie per E-Mail informieren. Lösung altrechtlicher Titel Die Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz (KFH) hat erkannt, dass nicht alle FH-Abschlüsse über einen Leisten geschlagen werden können. Sie hat zugesichert, dass die Fachverbände für die Beratungen zugezogen werden. Master in Angewandter Psychologie Der SBAP. setzt sich mit allen Mitteln für die Realisierung ein. Er wird dabei tatkräftig von der FH SCHWEIZ unterstützt. Letztinstanzlich wird das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) zu entscheiden haben. Vernehmlassung zum Entwurf Leitfaden zur Psychiatrieplanung Die Antwort des SBAP. lesen Sie auf: www.sbap.ch/newsagenda.html. Heidi Aeschlimann Knapp ein Drittel mit Lohn unzufrieden Zum ersten Mal wurden bei der Lohnstudie der FH SCHWEIZ auch SBAP.Mitglieder eingeladen, bei der Befragung mitzumachen. Den Fragebogen haben 151 Mitglieder zur Auswertung zurückgesandt – 111 Frauen und 40 Männer. Im Schnitt wird ein SBAP.Mitglied dieses Jahr 101 300 Franken verdienen. Über die Hälfte ist mit dem Einkommen zufrieden, knapp 30 Prozent dagegen nicht beziehungsweise überhaupt nicht zufrieden. Drei Viertel der Antwortenden sind älter als 40 Jahre. 40 Prozent sind therapeutisch tätig, der Rest mehrheitlich im Bereich Beratung und Coaching. Zwei Prozent arbeiten in Forschung oder Entwicklung. 35 sind selbstständig erwerbend, davon 23 Frauen. Der Rest ist in einem festen Arbeitsverhältnis beschäftigt. Knapp die Hälfte ist im Kanton Zürich tätig, gefolgt von den Kantonen Aargau und St. Gallen. Nach Studienabschluss haben fast 70 Prozent sofort eine Stelle gefunden, etwa 20 Prozent mussten länger als drei Monate eine Anstellung suchen. Die Lohnstudie der FH SCHWEIZ erscheint Mitte Juni. Die Mai-Ausgabe von «Inline», der Zeitschrift des Dachverbands Absolventinnen und Absolventen Fachhochschulen, stellt die wichtigsten Resultate aller Fachhochschulbereiche näher vor. Claudio Moro Neues Mitglied Roland Heuberger, Schaffhausen Neue Studentenmitglieder Doris Caflisch, Netstal Lea Casagrande, Hornussen Janina Elsener-Elendt, Birmensdorf Olivier Favre, Zürich Adrian Müller, Winterthur Urs Müller, Schwanden Eva Nick, Uster Stephanie Pfister, Luzern Marco Riva, Basel Agnes Rovelli-Müller, Arlesheim Doris Schiesser, Adliswil Miriam Schlüter, Zürich Edith Willi Narozny, Zürich Herzlich willkommen! PsychotherapeutInnen SBAP. Clarina Barell, Clavadel Roland Blunier, Luzern Monika Gafner Ruh, Kaltenbach Heinz Marty, Winterthur Sandra Rumpel, Zumikon Fachpsychologin SBAP. in Kinder- und Jugendpsychologie Ania Chumachenco, Zürich Fachpsychologe SBAP. in Laufbahnund Rehabilitationspsychologie Roland Heuberger, Schaffhausen Fachpsychologe SBAP. in Klinischer Psychologie Heinz Marty, Winterthur Der SBAP. gratuliert! Das Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) hat die 14., aktualisierte und erweiterte Auflage des Verzeichnisses der Testverfahren mit 5682 Testnachweisen, «Psyndex Tests», ins Netz gestellt: http://www.zpid.de. SBAP. aktuell Vorstandsnews Marke SBAP. SBAP. wurde im Markenregister eingetragen und im «Schweizerischen Handelsblatt» publiziert. Damit sind unsere Fachtitel wirksam geschützt. FH SCHWEIZ Am 30. März 2007 fand in Chur die Delegiertenversammlung der FH SCHWEIZ statt. Heidi Aeschlimann wurde neu in den Vorstand gewählt. Sie wird dort für das Ressort Berufsund Standespolitik zuständig sein. Der SBAP. wird am 4. April 2008 in Zürich die nächste DV – zugleich das Fünf-Jahr-Jubiläum von FH SCHWEIZ – organisieren. Swiss Public Health Conference Am 21. und 22. Juni findet in Olten die Swiss Public Health Conference statt. Der SBAP. wird in diesem Rahmen den SBAP.-Preis in Angewandter Psychologie vorstellen. Auf der Geschäftsstelle liegen vier vergünstigte Konferenztickets zum Abholen bereit! Für Anmeldungen und Infos: www.public-health.ch. 5. Tagung des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT) vom 3.5.2007 Am 3. Mai hat die 5. Tagung des BBT stattgefunden. Thema: Frauen aus den Fachhochschulen in die Arbeitswelt. Der Fachbereich Psychologie wurde beim Podium «Praxis der FHAbsolventinnen» von Heidi Aeschlimann vertreten. Der 3. Kongress der CH-Psy-Verbände wird 2008 in Zürich stattfinden. Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) Frau Prof. Brigitte Liebig arbeitet in der Forschung der FHNW. Bereits fand ein Kontakt zwischen Heidi Aeschlimann und ihr statt. Wir freuen uns auf eine konstruktive Zusammenarbeit. 56. ordentliche Mitgliederversammlung 2007 Am 13. März fand im Restaurant Neumarkt in Zürich die ordentliche MV 2007 des SBAP. in aufgeräumter Stimmung statt. Die Präsidentin Heidi Aeschlimann durfte 72 Mitglieder begrüssen und als Gäste eine Musikerin des Ensembles Dezi Belle und den Musiker Gerold Lotmar, der unser Mitglied ist. Sie spielten wunderbare Weisen zum Apéro und später auch zu Ehren des neuen Ehrenmitgliedes Fred Hürlimann. Roland Käser hielt die Laudatio, und der SBAP. dankte Fred Hürlimann mit Süssigkeiten für sein tolles Engagement im SBAP.. Sara Meyer tritt infolge beruflicher Neuorientierung aus dem Vorstand aus. Der Vorstand dankt auch ihr für das engagierte Wirken! Berufs- und standespolitisch war das Jahr 2006 ein sehr arbeitsreiches Jahr. Ein besonderes Highlight war die 3. Verleihung des SBAP.-Preises an Evelin Gerda Lindner. Damit wurde der SBAP. auch international wahrgenommen. Mit grossem Applaus verabschiedeten die Anwesenden den Jahresbericht der Präsidentin und der RessortleiterInnen. Jahresrechnung 2006, Revisionsbericht und Budget 2007 wurden einstimmig genehmigt. Die Jahresrechnung 2006 schliesst mit einem Gewinn von Fr. 23 954.95. Der Mitgliederbeitrag 2007 bleibt unverändert. Die Ziele für 2007: – Das Psychologieberufegesetz (PsyG) hat weiterhin erste Priorität; – Regelung Mastertitel alt- und neurechtlich; – Passerellenlösungen FH zu Universitäten und umgekehrt; – Web aktualisieren und neuen Datenbank erstellen; – Vorbereitung SBAP.-Preisverleihung 2008; – Vorbereitung Psy-Kongress 2008 in Zürich; – Vorbereitung DV FH SCHWEIZ 2008 in Zürich; – Entwicklung unseres Berufsverbandes: Schaffen von Strukturen, welche die Zukunft sichern. Das neue Ehrenmitglied Fred Hürlimann Regula Weber hat ihren Austritt aus dem Vorstand gegeben. Sie hat wesentlich zur Realisierung der SBAP.Studie EmaP beigetragen, deren Resultate hoffentlich bald publiziert werden können. Auch in ihre Zeit fällt die Zertifizierung des Instituts Form und Wandlung. Wir danken ihr für die geleistete Arbeit und wünschen ihr alles Gute. Wir freuen uns, dass Uwe Lehmann sich für das frei gewordene Amt zur Verfügung stellt. Zum ersten Mal dürfen wir einen universitären Absolventen im Vorstand willkommen heissen! Zudem trägt er mit seinem Jahrgang 1966 wesentlich zur Verjüngung des Durchschnittsalters des Vorstandes bei… Dies und das – Der SBAP.-Preis macht offenbar Schule. So schenkt sich das Psychoanalytische Seminar Zürich (PSZ) nun zu seinem 30-Jahre-Jubiläum ebenfalls eine Preisvergabe, nämlich die Auszeichnung für interdisziplinären Austausch der Psychoanalyse mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. – Das «Psychoscope», die Zeitschrift der Föderation der Schweizer PsychologInnen (FSP), kommt in neuem Kleid daher. Wir gratulieren zum neuen Outfit und freuen uns darüber, dass einige punktum.-Rubriken Eingang im «Psychoscope» gefunden haben. Heidi Aeschlimann 31 32 SBAP. aktuell Das Binnenmarktgesetz auf dem Vormarsch Der SBAP. konnte in der punktum.-Ausgabe vom Dezember 2006 über einen Fall berichten, in dem die Gesundheitsbehörde des Kantons Basel-Landschaft das Gesuch einer IAP-Absolventin um Anerkennung ihrer im Kanton Solothurn ausgestellten Bewilligung zur selbstständigen Ausübung der Psychotherapie gutgeheissen hatte. Die Behörde sprach die Anerkennung gestützt auf das revidierte Binnenmarktgesetz (BGBM) aus, und zwar ungeachtet dessen, dass gemäss der kantonsinternen Gesetzgebung und Praxis ein IAP-Diplom grundsätzlich nicht als Ausweis eines anerkannten Grundstudiums gilt. Das revidierte BGBM bestimmt, dass ein Kanton den Marktzutritt eines Inhabers einer ausserkantonalen Berufsausübungsbewilligung gundsätzlich nicht mehr verweigern, sondern höchstens noch in Form von Auflagen oder Bedingungen beschränken kann. Eine Beschränkung ist indessen nur zulässig, wenn der betreffende Kanton den Nachweis erbringt, dass überwiegende öffentliche Interessen bestehen, welche durch die Vorschriften im Herkunftskanton nicht hinreichend gewahrt werden. Dies bedeutet konkret, dass sich ein Kanton nicht mehr bloss darauf berufen kann, seine eigene Gesetzgebung sei strenger als diejenige des Herkunftskantons; es bedarf des weiter gehenden Nachweises, dass zwischen den beiden Kanton ein bedeutendes Schutzgefälle besteht, sodass eigene wichtige Interessen durch die Zulassung des Bewilligungsinhabers «nicht hinreichend» gewahrt werden. Zudem kann ein nachgewiesenes relevantes Schutzgefälle dadurch kompensiert werden, dass sich der Bewilligungsinhaber über eine ausreichende praktische Tätigkeit ausweist. Die Botschaft zum revidierten BGBM bezeichnet in Anlehnung an die Verwaltungsvereinbarung Espace Mitteland über reglementierte gewerbliche Tätigkeiten eine Berufstätigkeit während dreier aufeinanderfolgender Jahre als genügend. Inzwischen ist ein weiterer erfolgreicher Fall bekannt geworden. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat das auf das BGBM gestützte Gesuch eines Psychotherapeuten und Psychologen FH (mit IAP-Abschluss) um Anerkennung der im Kanton Schaffhausen ausgestellten Berufsausübungsbewilligung gutgeheissen. Das Ergebnis ist zwar insofern nicht überraschend, als der Kanton Zürich in seiner eigenen Bewilligungspraxis von jeher IAP-Abschlüsse zugelassen hat. Trotzdem kommt dem Fall eine wegweisende Bedeutung zu. Der Gesuchsteller hat nämlich nicht nur die Anerkennung seines Fähigkeitsausweises verlangt, sondern zusätzlich geltend gemacht, er betreibe im Kanton Schaffhausen eine Praxis und sei daher nach dem revidierten Recht ohne weiteres autorisiert, im Kanton Zürich eine Zweitniederlassung zu begründen. Die rechtliche Grundlage für dieses Begehren findet sich in Art. 2 Abs. 4 BGBM. Diese Bestimmung lautet: «Jede Person, die eine Erwerbstätigkeit rechtmässig ausübt, hat das Recht, sich zwecks Ausübung dieser Tätigkeit auf dem gesamten Gebiet der Schweiz niederzulassen und diese Tätigkeit … nach den Vorschriften des Ortes der Erstniederlassung auszuüben. Dies gilt, auch wenn die Tätigkeit am Ort der Erstniederlassung aufgegeben wird. Die Aufsicht über die Einhaltung der Vorschriften der Erstniederlassung obliegt den Behörden des Bestimmungskantons.» Die Gesundheitsdirektion hat den offensichtlich ersten Anwendungsfall zum Anlass genommen, in der Frage der Beaufsichtigung einen Grundsatzentscheid zu fällen. Sie vertritt die Meinung, die Berufsausübung des Kantons Zürich unterliege ausschliesslich den gesetzlichen Vorschriften dieses Kantons. Damit setzt sie sich unverblümt über die zitierte Bestimmung hinweg, die besagt, dass die Berufsausübung am Ort der Zweitniederlassung nach dem Recht der Erstniederlassung zu beurteilen ist. Der Gesuchsteller hat diesen Entscheid nicht angefochten, weil er nichts dagegen einzuwenden hat, seinen Beruf im Kanton Zürich nach dessen Vorschriften auszuüben. Die grundsätzliche Frage bleibt jedoch im Raum, ob der Kanton Zürich mit seinem Entscheid eine gesetzwidrige Praxis eingeleitet hat. Der SBAP. wird die Frage der Wettbewerbskommission unterbreiten, die nach dem revidierten Binnenmarktgesetz eine deutlich stärkere Überwachungsfunktion als früher ausübt. Beat Messerli Master of Advanced Studies in Psychotraumatology Die Universität Zürich bietet ab dem 1.10.2007 einen berufsbegleitenden, zwei Jahre dauernden, Studiengang an, der mit einem «Master of Advanced Studies in Psychotraumatology» abgeschlossen wird. Dieser umfasst: die Grundlagen der Psychotraumatologie Verfahren zur Behandlung komplexer posttraumatischer Belastungsstörungen Therapiemethoden wie «Prolonged Exposure», «Brief Eclectic Psychotherapy», «Eye Movement Desensitization and Reprocessing» und «Narrative Exposure Therapy». Weitere Informationen: Lic. phil. Regula Flury Programmdirektorin MAS-PT Psychiatrische Poliklinik USZ Culmannstrasse 8 «Blended Learning», die Kombination von Präsenzveranstaltungen mit eLearCH-8091 Zürich ning, erlaubt den Studierenden sich einen Teil der Inhalte orts- und zeitunabTel: +41 (0)44 255 89 16 hängig über das Internet anzueignen. regula.flury@access.uzh.ch www.mas- psychotraumatology.uzh.ch Ort der Präsenzveranstaltungen: Zürich Gelesen Kann Leben Kunst sein? Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenkunst «Avoir approché Foucault est une des chances, un des bonheurs de ma vie», schrieb einst der französische Romancier Claude Mauriac. Michel Foucault (1926–1984) sah sich selbst niemals als Philosoph. Der «maskierte Philosoph» bestand stets darauf, dass nicht er als Person, sondern vielmehr sein Werk im Vordergrund stehe. Er verstand seine Bücher als «Einladungen, öffentliche Gesten», wie er 1980 in einem Interview erklärte. Für Foucault kam das Schreiben eines Buches einer unwiederholbaren Lebenserfahrung gleich. Er erhoffte sich, jeweils verändert daraus hervorzugehen. «Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiss, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt.» Im Schreiben erklärte er sich die Welt, erklärte er sich das Leben. Er setzte sich eingehend mit Psychiatrie und Medizin auseinander und analysierte die Strukturen und Beziehungen, die Wissen generieren beziehungsweise Machtverhältnisse ermöglichen. Anfang Jahr ist nun eine dieser «Einladungen, öffentlichen Gesten» erschienen. Im Band «Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst» sind 23 Jahre nach seinem Tod Vorträge, Vorlesungen und elf Interviews mit Michel Foucault versammelt, die um «Lebenskunst» kreisen. Diesem Thema und damit auch der Ethik und der Wahrheit schenkte Michel Foucault gegen Ende seines Lebens seine Schaffenskraft. Er postuliert darin das Leben des Einzelnen als eigenständiges Kunstwerk, das weniger Normen oder strukturiertem Wissen gehorcht, als dass es dem Ziel einer «gewissen Erfüllung des Lebens» verpflichtet ist. Hierbei spielt die antike Formel der Sorge um sich selbst die zentrale Rolle. In der «Technologie des Selbst» sieht er die Losung, um «aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer» Denken, Seele, Verhalten und Existenzweise auf eine Art zu verändern, dass die Erlangung «eines gewissen Zustandes des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit» möglich wird. Michel Foucault ortet die Lösung für anstehende Probleme beim Einzelnen. Wer an sich arbeitet, arbeitet für die anderen, arbeitet für die Welt, arbeitet für das Leben. Ein Ansatz, der heute genauso aktuell ist wie vor 20 Jahren – oder vor über 2000 in Athen und Rom der Antike. Dieser lesenswerte Band setzt keine philosophischen Kenntnisse voraus. Ausdauer ist hin und wieder gefordert, was in unserer teilweise vibrierenden Zeit im ersten Moment abschrecken könnte, aber letztlich nur ein wenig Übung erfordert. In diesem Zusammenhang können insbesondere die Interviews mit dem «maskierten Philosophen» für etwas Entspannung sorgen. Sie zeichnen ein faszinierendes Bild eines Menschen, der die Auseinandersetzung mit zentralen Fragen unseres Lebens nie gemieden hat. Claudio Moro Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1814, Frankfurt a. M. 2007, 346 Seiten. Fr. 23.40. ISBN 978-3-518-29414-7. Zertifikatskurs Zielorientierte Beratung bei Störungen der psychosozialen Gesundheit Bei Störungen der psychosozialen Gesundheit mit spezifischen Methoden beraten und intervenieren können. Im Zertifikatskurs (Certificate of Advanced Studies CAS) werden abhängig von den Problemsituationen unter Einbezug der individuellen Bereitschaften zielorientierte Beratungsinterventionen vermittelt. Störungen der Gesundheit können beispielsweise durch chronische somatische oder psychische Erkrankungen verursacht werden. Es werden wissenschaftlich fundierte Methoden und Konzepte der psychosozialen Arbeit vorgestellt und kritisch hinterfragt. Leitung Prof. Dr. Günther Wüsten Beginn 25. Januar 2008 Information und Anmeldung Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit Tanja Steiner Riggenbachstrasse 16, 4600 Olten +41 62 311 96 19, tanja.steiner@fhwn.ch www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung 33 34 Gelesen Sternenhimmel über Meereswellen Ulrike Zöllner: Persönlichkeitsdiagnostik mit dem Sterne-Wellen-Test «Zeichne einen Sternenhimmel über Meereswellen»: So lautet die simple Testanweisung für den Sterne-WellenTest (SWT), der 1978 von der Psychologin und Graphologin Ursula Avé-Lallement entwickelt worden ist. Der Test gehört zur Gruppe der themengebundenen projektiven Zeichenverfahren und erlaubt die Entwicklung eines ganzheitlich ausgerichteten Verständniszusammenhanges zum Wesen und Streben eines Menschen. Das Testergebnis kann einerseits nach schriftpsychologischen Kriterien (Bewegungs-, Form-, Raumbild) untersucht werden. Andererseits zeigen sich darin unbewusste Inhalte und Konflikte, die nach tiefenpsychologischen Ansätzen interpretiert werden können. Die Zeichnung kann Inhalten Ausdruck verleihen, die sich dem direkten Zugang über die Sprache unter Umständen zunächst verschliessen. Der Sterne-Wellen-Test kann so in den verschiedenen Anwendungsgebieten von Beratung und Therapie zu einem wertvollen zusätzlichen Begleiter werden Ulrike Zöllner beschreibt im Vorwort zu ihrem Buch, wie sie vor mehr als zehn Jahren ein Schlüsselerlebnis bei der Berufsberatung eines Jugendlichen hatte, der von den Eltern zu ihr geschickt worden war. Der Junge habe wenig motiviert gewirkt und sei offenbar mehr am raschen Ende der Beratungsstunde als an der Gestaltung seiner Zukunft interessiert gewesen. Da forderte sie ihn auf, einen Sternenhimmel über Meereswellen zu zeichnen. Er habe ein paar flüchtige Wellenlinien und einige Punktsterne aufs Blatt geworfen und schliesslich ironisch lächelnd noch eine Bühne im Vordergrund mit einem halbgeschlossenen Vorhang dazugefügt. Damit sei das Eis gebrochen gewesen und ein ergiebiges Gespräch über das Leben als Theater auf einer Bühne oder an einem selber bestimmten Lebensplatz lanciert. Vor allem aber habe das Gespräch nun die Erwartungen und Ängste des Jugendlichen zutage gebracht und die Beratungssituation unmittelbar mit Gefühlen und Identifikationen gefüllt. In der Folge hat sich Ulrike Zöllner in ihrer diagnostischen Praxis und in der Lehre intensiver mit dem Sterne-Wellen-Test befasst. Mit dem vorliegenden Buch verfolgt sie zusammen mit ihren Mitautorinnen die Absicht, «diesem Verfahren einen grösseren Bekanntheitsgrad in der Praxis zu verschaffen und mit diesem Verfahren zugleich eine Bresche zu schlagen für die Gruppe der projektiven Tests, die im Zuge der naturwissenschaftlich ausgerichteten Kritik einen schweren Stand haben neben den metrisch abgesicherten Instrumenten». Die Autorinnen hoffen, damit «den Kreis der psychodiagnostischen Fachkolleginnen und -kollegen, die sich einen Zugang bewahren wollen für die phänomenologische und verstehensorientierte Psychodiagnostik, ansprechen und befruchten zu können». Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im theoretischen Teil widmet sich Ulrike Zöllner der Kontroverse um die projektiven Tests. Sie arbeitet den Gegensatz heraus zwischen einer psychometrisch ausgerichteten Diagnostik, die auf Basis von standardisierten, normierten und den Gütekriterien entsprechenden psychometrischen Tests vor allem an der Feststellung des Status interessiert ist, und einer holistischen Konzeption, welche in einer phänomenologisch-hermeneutischen Methodentradition steht und die Aufgabe der Diagnostik «in der Wesensschau und im Erstellen eines individuellen Gesamtbildes mit Akzentuierung der besonderen und unverwechselbaren Eigenart» sieht. Denn nur dieser Ansatz erlaube die Beschreibung eines einmaligen Gesamtbildes mit seiner inneren Dynamik und äusseren Bezogenheit. Im zweiten Teil führt Ulrike Zöllner in das Verfahren ein, beschreibt ausführlich die Durchführung, die Auswertung und vor allem die Interpretation. Dabei geht sie über die ursprüngliche Absicht Ursula Avé-Lallements hinaus und empfiehlt, den Test ausschliesslich als Einzeltest durchzuführen und ein Beobachtungsprotokoll zu erstellen, wie die Probandin / der Proband bei der Lösung der Aufgabe vorgegangen ist. Dieser Teil bringt in präziser, dichter Formulierung auf den Punkt, wie Ulrike Zöllner, unter Mitarbeit von Claudia Arter, Sabina Hammer, Andrea Seiriger und Mario Gmür: Persönlichkeitsdiagnostik mit dem Sterne-Wellen-Test. Ernst Reinhardt Verlag, München 2006, ca. 200 Seiten, Fr. 57.30, ISBN 3-497-01838-4. und nach welchen Gesichtspunkten der Test ausgewertet werden kann. Im dritten Teil erfolgen zunächst zwei exemplarische Falldarstellungen, die anhand des Testprotokolls den Deutungsgang illustrieren und nachvollziehbar aufzeigen, wie die diagnostisch tätige Fachperson aus den ermittelten Befunden und Merkmale eine Synthese bilden und Hypothesen gewinnen kann. Dabei weist die Autorin darauf hin, dass nicht von einem abgesicherten Gültigkeitsbereich des Tests ausgegangen werden kann und dass sich darauf auch zu Recht die Kritik richte. Die Testinterpreation muss darum zwingend mit den Probanden besprochen werden. Dieses ausführliche Gespräch bringt zentrale Themen und Lebensaspekte auf den Tisch, sodass das Testergebnis mit dem wirklichen Erleben und Denken der Zeichner abgeglichen ist. Dies ergibt eine Validierung wenn auch nicht für den ganzen Test, so aber doch für diese eine Durchführung und für diesen einen, einmaligen Fall. Auf diese Weise wird die Testbesprechung mindestens im gleichen Mass auch zu einem weiterführenden Erkundungsgespräch, das dazu geeignet ist, sehr viel Substanz für die gemeinsame Arbeit in Beratung und Therapie zu generieren. Sabine Hammer gibt einen lebensnahen Einblick über die Einsatzmöglich- Gelesen Von der Problemzu einer Lösungsbeschreibung Peter Müri, Barbara Steiner: Coaching auf den Punkt gebracht keiten des SWT in der Berufs-, und Laufbahnberatung, Andrea Seringer erzählt in ihrem Kapitel über die Besonderheiten der Anwendung in der Gerontopsychologie. Das Buch wird abgerundet durch den Anhang mit einer stichwortartigen Kurzübersicht über die Grundlagen und die inhaltliche beziehungsweise graphologische Interpretation, einem Schema zur Raumsymbolik sowie je einem Protokoll- und Auswertungsblatt zum Test. Eine spielerisch leicht anmutende Aufgabe mit der kürzesten Testinstruktion, die ich kenne – und trotzdem ist aus dem Buch von Ulrike Zöllner und ihren Mitautorinnen keine leichtfüssige Lektüre fürs Nachttischchen oder für zwischendurch geworden. Vielmehr ist ein eindrückliches, gleichermassen kompakt wie präzis verfasstes Fachbuch von bleibendem Wert entstanden, das mich in seiner Verbindung von theoretischem Überbau, fundierter Beschreibung und Anleitung zum Verfahren sowie seinem praxisorientierten Fokus voll überzeugt. Ich bin 1998 im Rahmen meines Studiums erstmals mit dem Sterne-Wellen-Test in Kontakt gekommen, habe das eine oder andere, was jetzt in dem Buch niedergelegt ist, schon einmal gehört, das Verfahren aber bisher nicht in mein Repertoire aufgenommen. Das hat sich durch die Lektüre geändert. Ulrike Zöllner und ihre Mitautorinnen schaffen eine solide Arbeitsgrundlage für die diagnostisch tätige Fachperson. Obwohl erst 1978 entwickelt, steht der SWT im Grunde in einer Reihe mit alten Tests wie Wartegg-, Zulliger- und Rorschachtest oder auch dem NST. Alle diese Verfahren nähern sich dem Menschen in einer ganzheitlichen Sichtweise und suchen zu ergründen, wie das Individuum im Leben steht, wo Ressourcen, aber auch Konflikte und Blockaden liegen, wo die Ansatzpunkte für eine nachhaltige und positive Entwicklung liegen und wie sie genutzt werden können. Angesichts des derzeit auch in der Psychologie herrschenden einseitigen Wissenschaftsverständnisses kann dies gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Rolf Allemann, Psychologe FH/SBAP. Peter Müris und Barbara Steiners «Coaching auf den Punkt gebracht. Rüstzeug für den Praktiker» ist ein für interessierte Laien wie für erfahrene Coachs gleichermassen flüssig zu lesender, aufs Thema neugierig machender Beitrag. Schon in den ersten Zeilen spürt und erfährt man einiges vom Erfahrungsreichtum der Autoren. Die Sorgfalt und Professionalität, mit der sie Coaching beschreiben, zieht sich als roter Faden durch alle 134 Seiten. «Haben Sie Lust auf ein Experiment?» Mit dieser Frage aus ihrem Methodenkoffer leiten die Autoren nach einer kurzen Einstiegsphase ins Coaching eine Phase ein, die sie «Switch» nennen: ein zentrales Konzept der Autoren. Diese Frage ist auch gleichsam die Frage nach der persönlichen Haltung. Eine Prise Experimentierlust oder zumindest Neugier ist von Vorteil, um etwas vom Geist des Buchs zu verstehen. Postuliert wird darin im Wesentlichen, dass es auf die Haltung des Coachs ankommt, und weniger auf die technisch perfekte Anwendung von Methoden und Coachingtechniken. Coaching ist zuallererst eine Frage der persönlichen Reife und damit eben auch der Haltung des Coachs. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Wer aus wissenschaftlichem Interesse im vorliegenden Buch nach differenziert abgehandelten Coachingmodellen und -theorien sucht, ist mit diesem Werk falsch beraten. Die Autoren stellen gleich selber klar, dass das Forschungsobjekt Coaching mit streng wissenschaftlichen Methoden nicht zu fassen ist, ja dass jeder Versuch, das Phänomen nach akademischen Kriterien zu beschreiben, scheitern muss. Da ist zu vieles, was zwischen Coach und Coachee passiert und mit wissenschaftlichen Methoden kaum messbar ist. Müri und Steiner leiten ihre eigene Coachingtheorie aus Modellen der Psychoanalyse, des Konstruktivismus, der Klientenzentrierung Rogers’, der Prozessorientierung, der Systemtheorie und der Lösungsorientierung ab. Ihre Beschreibung einer Standard-Prozessdynamik im Coaching mit dem Peter Müri, Barbara Steiner: Coaching auf den Punkt gebracht. Rüstzeug für den Praktiker. Ott Verlag und Druckerei, Thun 2006, 134 Seiten, Fr. 48.–, ISBN 3-7225-0058-3. Kunstwort KAKRI (Kontrakt, Abholen, Kern erfassen, Ressourcen suchen und Implementierung) weicht nicht wesentlich von der gängigen Literatur ab. Einen grossen Raum nimmt der Begriff des Switchens ein. Mit diesem Begriff meinen die Autoren alle Bemühungen, den Coachee mittels methodischer Interventionen in eine «andere Welt» zu bringen, das heisst, sie aus der Problem- hin zu einer Lösungsbeschreibung zu führen. Der zweite, praktische Teil des Buchs mit zwei Coachingprotokollen ist eine Fundgrube für jeden Coach, der seine eigenen Methoden reflektieren möchte oder auf der Suche nach neuen Methoden ist. In diesem zweiten Teil brechen die Autoren in einem gewissen Sinn mit ihrer im ersten Teil des Buchs verkündeten Botschaft, nämlich dass Coaching in erster Linie eine Frage der Haltung und erst in zweiter Linie die Angelegenheit eines geschickt angewendeten Methodenrepertoires sei. Hier erliegen die Autoren der Versuchung, das eigene Können in seiner ganzen Breite zu präsentieren. Aber warum auch nicht? Solange das Ergebnis der Könnerschaft so herauskommt wie in diesem Buch. Auf alle Fälle kommt das Buch in der aktuellen Coaching-Diskussion gerade zur rechten Zeit. Sergio Jost, dipl. Psych. FH, Coach und Supervisor 35 36 SBAP.-Agenda 27.06.2007 Prof. Dr. med. R. Largo, SBAP.-Preisträger, spricht über «Pubertät» im Rahmen des Elternforums um 19.30 Uhr in der Mehrzweckhalle Steinboden in Eglisau. 25.09.2007 Forum 13: Personal- und Organisationsentwicklung auf dem Weg in die Zukunft. Referentin: Christine Ledergerber. Restaurant Rigihof, Zürich. Ab 18 Uhr Apéro. 19 Uhr Referat. Gäste herzlich willkommen. 21.11.2007 14.00 –16.00 Uhr Betriebsbesichtigung Chocolat Bernrain in Kreuzlingen. Redaktionskommission: Heidi Aeschlimann Barbara Fehlbaum Claudio Moro MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Heidi Aeschlimann Rolf Allemann Valerio Bonadei Ariuscha Davatz Regula Dobmann Pater Kassian Etter Barbara Fehlbaum Tilo Hartmann Sergio Jost Manfred Kulla Karin Linsi Beat Messerli Claudio Moro Massimo Rocchi Wilhelm Schmid Ulrike Zöllner Koordination / Inserate und Beilagen: SBAP. Geschäftsstelle Auflage: 1100 Exemplare Redaktionsschluss Nr. 3/2007: 16. Juli 2007 Druck und Ausrüsten: Druckerei Peter & Co., Zürich Lektorat: Thomas Basler, Winterthur Konzept und Gestaltung: greutmann bolzern zürich Adresse: SBAP. Geschäftsstelle Merkurstrasse 36 8032 Zürich Tel. 043 268 04 05 Fax 043 268 04 06 info@sbap.ch www.sbap.ch ISSN 1662-1778