punktum.
SBAP.
Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie
Association Professionnelle Suisse de Psychologie Appliquée
Associazione Professionale Svizzera della Psicologia Applicata
Juni 2007
Leben
Die Kunst des bejahenswerten Seins
Boomtown im Boomland: Shanghai
Im Kloster bei Pater Kassian
Wie unpolitisch darf ein Leben sein?
Haben oder Sein im Second Life
56. SBAP.-Mitgliederversammlung
2
Editorial
Leben heisst wahre Geschichten erfinden
Liebe SBAP.-Mitglieder,
liebe punktum.-LeserInnen
Was den Menschen gemeinsam ist:
Sie werden von Eltern gezeugt. Sie
werden von Müttern geboren. Von
Geburt an beginnt ein Prozess von der
totalen Abhängigkeit in Richtung Autonomie. Kinder werden aufs Erwachsensein vorbereitet. Als Erwachsene
haben die Menschen verschiedene
gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Bewegen etwas in ihren Leben.
Bringen Bewegung zu andern Lebenden. Erlernen einen oder besser mehrere Berufe. Zeugen selber Kinder.
Machen Karriere. Dann, nach diesem
Lebenshochleistungsmarathonlauf,
steht die Lösung der Aufgabe des
sinnvollen Alterns an. Und früher oder
später sterben sie.
Abstrakt und aus grösserer Distanz
betrachtet gleichen sich alle Menschen. Was sie voneinander unterscheidet, fördert der Nahblick auf die
konkreten Geschichten, die ihr Leben
schreibt, zutage.
In meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin bekomme ich ungezählte Lebensgeschichten zu hören. Keine ist
wie die andere, denn kein Leben ist
wie ein anderes. Das Dasein der Menschen, unser Dasein, wird von Einzelerlebnissen geprägt. Alle hinterlassen
sie Spuren und bilden in ihrer Summe
unsere ureigene Lebensgeschichte.
Die Palette der Erlebnisse, die unser
Leben ausmachen, ist sehr reich, und
je älter wir werden, desto umfangreicher wird unsere Geschichtensammlung.
Erlebnisse gehen mit Gefühlen einher.
Wir erinnern uns gerne an
Geschehnisse, die mit angenehmen
Gefühlen verbunden waren. Doch die
Wege der Abrufbarkeit sind verschlungen: Nicht immer gehorchen sie
unserem Willen. Bei unangenehmen
Erlebnissen kennen wir die Möglichkeit des Verdrängens, des Vergessens
oder gar des Abspaltens. Auch dies
klappt indes nicht immer. Uns allen
haften Lebensspuren an, deren wir
überdrüssig sind oder auf die wir liebend gern verzichten könnten.
Neulich schaute ich mir einen Dokumentarfilm an. Auf einem Sofa sitzen
zwei alte Männer mit ziemlich zerfurchten Gesichtern. Die Tochter des
einen, eine palästinensiche Musikerin,
fragt ihren Vater, wie es denn gewesen sei, damals, als die Israeli in
Jerusalem einmarschiert sind. Dieser,
ein Instrumentenbauer, beginnt zu erzählen und beschreibt die enge
Bewegungsfreiheit des damaligen Lebens. Plötzlich hält er in seiner
Erzählung inne und macht mit der
Hand eine abweisende Geste. Der andere Mann setzt derweil emotionslos
fort mit der Erzählung: Alle Männer
seien von den Israeli eingesammelt
und abtransportiert und danach über
ein Feld geschickt worden. Von der einen Seite her hätten die Israeli, von
der andern her die Araber geschossen.
Wer überlebt habe, habe überlebt.
Nun schweigen beide. Die Tochter
fragt ihren Vater, weshalb er ihr das
nie erzählt habe. Er: «Was soll ich erzählen? Wir leben hier, und es ist, wie
es ist. Ich habe mich trotz allem entschieden, in Jerusalem zu leben.»
Weltgeschichte mischt sich mit individuellen Lebensgeschichten. Das
Nicht-erzählen-Können ist nicht weniger eindrücklich als die emotionslose
Darstellung. Beide Männer haben erlebt und überlebt. Ihre Erlebnisse hinterlassen Spuren, bei ihnen selbst, in
ihrer unmittelbaren Umwelt. Und
durch den Film schliesslich auch bei
mir.
Eben habe ich ein Buch des irakischen
Erzählers Najem Wali gelesen: «Die
Reise nach Tell al-Lahm» (Carl Hanser
Verlag, ISBN 3-446-20538-1). Der
Autor flüchtete 1980 nach Ausbruch
des Iran-Irak-Krieges nach Deutschland ins Exil. In seinem Buch beschreibt er die Auswirkungen eines
korrupten, chauvinistischen Regimes
auf das Leben der Menschen in deren
Alltag. Im Roman kehrt Najem von
der kuwaitischen Front zurück nach
Hause und wird nicht von seiner Frau,
sondern von seiner Nachbarin empfangen. Mit einem gestohlenen Auto
reisen die beiden durch den kriegsversehrten Irak – in die geisterhafte Stadt
Tell al-Lahm. Nach und nach enthüllt
der Autor die Lebensgeschichten seiner Figuren. Und auch diese hinterlassen Spuren bei mir, indem sich die Szenerie im Roman mit meinen persönlichen Erlebnissen mischt.
Dem Autor gelingt es darzustellen,
wie entscheidend der eigene Standpunkt, der subjektive Blick auf das Erlebte, ist. Najem Wali stellt seinem
Roman unter anderem ein Zitat von
Boris Vian als Motto voran: «Diese
Geschichte ist wahr, weil ich sie erfunden habe.»
Zeit, um auf Spurensuche zu gehen
und aber auch neue Spuren zu legen.
Zeit, um wahre Geschichten zu erfinden. Zeit, um zu leben. Viel Spass dabei!
Heidi Aeschlimann
Thema
Philosophie der Lebenskunst
«Sich vorstellen, was bejahenswert wäre, um zum Leben Ja zu sagen»
Philosophie ist paradox: Menschen,
die mitten im Alltagsleben stehen,
stellen sich Fragen, die losgelöst vom
Lebensalltag sind. Und: Das Einzige,
was sie wissen, ist, dass sie auf ihre
Fragen niemals abschliessende Antworten finden. Konkrete Lebenshilfe
erwartet von der Philosophie jedenfalls kaum jemand. – Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid findet, dass
die Philosophie geradezu aufgefordert sei, sich ums Leben allgemein
und um die Kunst des Lebens im Speziellen zu kümmern.
erst hervor. Sehr vieles musste ich erst
existenziell lernen, das heisst: Meine
Existenz stand auf dem Spiel. Das liegt
schon über zwanzig Jahre zurück. Von
diesem Nullpunkt aus wurde mein
Leben anders, ganz anders. Seither
weiss ich, welche Bedeutung auch die
negativen Seiten des Lebens haben.
Und die Beziehungen zu anderen
Menschen. Dass man restlos verloren
ist ohne sie. Dass sie aber unter
modernen Bedingungen nicht mehr
einfach so da sind, sondern gepflegt
werden müssen.
punktum.: Herr Schmid, was ist dies:
das Leben?
Wilhelm Schmid: Das Leben ist ein
Durcheinander aus Affekten, Erfahrungen, Beziehungen, Begegnungen,
Träumen, Gedanken, Ängsten,
Schmerzen, Wünschen, Lüsten, Zufällen, Zwängen usw. Eine amorphe
Masse, die der Formung und Gestaltung bedarf, will sie sich nicht im Disparaten, im Diffusen, im unentwegt in
Transformation Befindlichen verlieren.
Das ist ein Tun ebenso wie ein Lassen:
manches herauszugreifen, um ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen,
anderes einfach zu lassen, wie es ist.
Eine existenzielle Reduktion, um sich
in der unüberschaubaren Vielfalt des
Erlebten zu konzentrieren auf das,
was aus eigener Sicht wesentlich erscheint.
Worin sehen Sie den Sinn des Lebens?
Sinn ist wohl das Wichtigste und Faszinierendste des Lebens. Vermutlich
immer dann, wenn ein Zusammenhang sichtbar und erfahrbar wird,
kann von Sinn gesprochen werden.
Auf vier Ebenen kann er gefunden
und entfaltet werden: sinnlicher Sinn,
der mit Hilfe aller körperlichen Sinne
gewonnen werden kann und vielfältige Zusammenhänge zwischen Selbst
und Welt herstellt – wenn auch immer
nur im jeweiligen Moment. Seelischer
Sinn, der aus gefühlten Beziehungen
zu anderen hervorgeht, aus Liebe,
Freundschaft, Geselligkeit; aber auch
aus der gefühlten Beziehung zur Natur, weit über den Moment hinaus.
Geistiger Sinn, bei dem gedankliche
Zusammenhänge hergestellt werden,
vor allem teleologischer Art: das Ziel,
das vor Augen steht, der Zweck, für
den gearbeitet und gelebt wird. Und
schliesslich transzendenter Sinn, der
gefühlte und gedachte Zusammenhang über die Endlichkeit und Wirklichkeit hinaus, im Bezug zu einer anderen Dimension.
Wie meistern Sie persönlich Ihr Leben?
Ich konzentriere alle meine Kräfte auf
meine Familie und meine Arbeit. Und
ich versuche, die Ebenen von Körper,
Seele und Geist gleichberechtigt zu
behandeln. So gehe ich hin und her
zwischen Theorie und Praxis, setze mir
Ziele, teile den Weg dorthin in Etappen ein. Und ich pflege hingebungsvoll ein paar Gewohnheiten, die den
Rahmen dafür bieten, ständig auch
Neues in mein Leben eindringen zu
lassen. Manchmal passiert es mir, dass
ich zittere vor Freude über mein Leben
und meine Arbeit.
Hilft Ihnen diese hingebungsvolle Lebensführung auch in Lebenskrisen?
Aus Lebenskrisen ging sie überhaupt
Was kann die Philosophie für die konkrete Lebensführung allgemein leisten?
Sie kann Momente der Besinnung vermitteln, eine Besinnung auf Begriffe,
die wir oft recht unbedacht verwenden, beispielsweise den Begriff «Leben». Was Menschen darunter verstehen, hat grossen Einfluss auf ihr
wirklich gelebtes Leben. Die Philosophie kann auf grundsätzliche Zusammenhänge aufmerksam machen, beispielsweise dass es offenkundig eine
Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin. Er wurde 1953
geboren. Er lehrt Philosophie als
ausserplanmässiger Professor an
der Universität Erfurt. 1991 promovierte er mit einer Arbeit über die
«Lebenskunst bei Michel Foucault». 1997 folgte die Habilitation
mit der Grundlegung einer Philosophie der Lebenskunst. Tätigkeit als
Gastdozent an den Universitäten
im lettischen Riga und im georgischen Tiflis. Seit Jahren verbringt
Wilhelm Schmid jährlich zwei Wochen als «philosophischer Seelsorger» im Spital Affoltern am Albis –
dieses Jahr zwischen dem 17. und
28. September.
Polarität des Lebens gibt, die es unmöglich macht, nur das Positive haben zu wollen, Negatives wie Unlust,
Schmerz, Leid und Tod hingegen auszuschliessen. Sie kann die grossen Probleme rechtzeitig in den Blick nehmen, mit denen die Lebensführung zu
tun hat, beispielsweise die ökologische Zerstörung. Ich habe 1998 im
Buch «Philosophie der Lebenskunst»
ein umfangreiches Kapitel dazu publiziert, das lange kaum jemanden interessiert hat. Jetzt ändert sich das.
Mit Ihren Büchern haben Sie im
deutschsprachigen Raum die Diskussion über die Lebenskunst wieder angestossen und vorangetrieben. Was
verstehen Sie unter Lebenskunst?
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Thema
Philosophie der Lebenskunst
Bewusst geführtes Leben. Keine Sorge: Das geht nicht pausenlos. Ich meine damit nur die gelegentlichen Momente, die wir doch haben und zum
Überdenken unseres Lebens sowie zur
Neuorientierung nutzen können. Ich
glaube auch nicht an die totale Freiheit, auf das eigene Leben Einfluss
nehmen zu können. Frei sind wir allenfalls zu 5 Prozent. Aber das ist die
entscheidende Frage: Wo sind meine
5 Prozent? Es käme darauf an, sie zu
kennen, um alle Kräfte darauf zu konzentrieren, statt sie auf die 95 Prozent
zu verschwenden, auf die wir ohnehin
keinen Einfluss haben. Viele Menschen wollen 100 Prozent Freiheit,
aber sie bewältigen noch nicht mal
ihre 5 Prozent.
Gerade die akademische Philosophie
hat in den letzten 200 Jahren die Frage nach der Lebenskunst weitgehend
vernachlässigt. Wieso diese Lücke?
Die Philosophie selbst trägt die Verantwortung dafür, dass sie eines ihrer
vornehmsten Gebiete aus den Augen
verloren hat. Dies geschah aus Gründen der Konzeption der Moderne
durch die Philosophen, die Aufklärer
waren: Mit Hilfe von Wissenschaft,
Technik und freier Wirtschaft sollte die
Moderne die kleinen und grossen Lebensprobleme lösen und das «grösste
Glück der grössten Zahl» realisieren.
Die Philosophie fand ihre Aufgabe
fortan darin, der Wissenschaft theoretisch zuzuarbeiten. Wo alle Lebensprobleme gelöst werden, wird eine Lebenskunst überflüssig. Es scheint jedoch, dass das Kalkül nicht gänzlich
aufgegangen ist, und der Optimismus, dass es jemals aufgehen wird, ist
geschwunden. Konsequenterweise
kommt es zu einer Rückkehr der Lebenskunst.
Wir leben in einer Zeit, die ein hohes
Mass an Komplexität aufweist. Der
einzelne Mensch sieht sich ständig
der Aufgabe ausgesetzt, Entscheidungen zu treffen, also zu wählen. Sie
schenken in diesem Zusammenhang
der Klugheit viel Beachtung. Was
meinen Sie damit?
Eine Ausbildung des Gespürs. Zwar
kann das Gespür Bestandteil der na-
vom Vorgegebenen abheben, nicht
mehr nur Widerstand und Widrigkeit
zum Gehalt nehmen kann, sondern
selbst zu einer Setzung und Umsetzung kommen muss. Das geht nicht
ad hoc von selbst, sondern muss mühsam erlernt werden, mit Hilfe von Asketik, von täglicher Übung (griechisch
áskesis). Das ist schwer, aber ich sehe
keine Alternative dazu. Jedes Misslingen bringt eine wertvolle Erfahrung
mit sich und stärkt wiederum das
Gespür.
türlichen Grundausstattung des Individuums und ihm angeboren sein, seine bewusste Ausbildung und Einübung geschieht jedoch durch Erfahrung und durch die Besinnung auf die
jeweils gemachte Erfahrung. Die Erfahrung wiederum, die das ausmacht,
was dem Individuum begegnet und
widerfährt, muss nicht etwa nur passiv erwartet, sondern kann aktiv gesucht werden. Erfahrung zu gewinnen, lohnt daher nahezu jede existenzielle Investition, um aus unterschiedlichsten Perspektiven blicken zu lernen und in den unterschiedlichsten
Situationen zu leben. Wir können einen grossen Reichtum gemachter,
auch historisch vermittelter Erfahrungen in uns ansammeln und den Horizont denkbarer und möglicher Erfahrungen erkunden, um uns selbst mit
einem Gespür auszustatten, das ein
kluges, also rücksichtsvolles, umsichtiges, vorsichtiges, vorausschauendes
Vorgehen ermöglicht.
Die «kluge Wahl» ist also entscheidend, um die eigene Autonomie angesichts vielfältiger Verpflichtungen
und Anforderungen des modernen
Lebens zu bewahren. Kann man diese Kunst des klugen Wählens erlernen?
Selbstbestimmt, «autonom», ist nicht
schon das Selbst, das sich befreit, sondern erst dasjenige, das zur Formgebung aus Freiheit, zur Selbstgesetzgebung, in der Lage ist, denn das ist der
Wortsinn der Autonomie: sich selbst
(autós) das Gesetz (nómos) zu geben.
Schwieriger noch als die Befreiung ist
die Formgebung, die sich nicht mehr
Klugheit und Vernunft sind das eine.
Gefühle, Lüste und Empfindungen
das andere. Wer regiert da über wen?
In einer Selbstbefreundung, wie sie
mir vorschwebt, regieren alle mit, aber
nicht alle gleichzeitig. Das ist weitaus
komplizierter, als nur Rationalität und
Emotionalität unter einen Hut zu bekommen. Denn innerhalb der rationalen Überlegungen gibt es gegensätzliche Bestrebungen. Und ebenso innerhalb der emotionalen Bewegungen: etwas zwischen Zärtlichkeit und
Zorn. Ein Teil im Selbst muss sich darauf spezialisieren, für Integration und
Ausgleich zwischen allen Seiten zu
sorgen. Daher spreche ich von der Integrität, nicht von der Identität des
Selbst. Das geht nicht ohne Kompromisse und Kuhhandel – ganz wie in
der grossen Politik.
Sie haben den Begriff der «Sorge um
sich selbst» wiederbelebt. Wie lässt
sich diese Selbstsorge mit den verschiedenen Beziehungen zu anderen
vereinbaren?
Sie ist die Grundlage für die Beziehungen zu anderen. Wie sollte sich ein
Selbst, das sich nicht um sich selbst
kümmert, um andere kümmern? Diese Einsicht ist eigentlich tief in unserer
Kultur verankert, nicht nur in der Philosophie bei Aristoteles, sondern auch
im Christentum in dem einen Satz:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Es heisst ja ganz bewusst nicht: anstelle deiner selbst. Dieses «wie dich
selbst» zu negieren, macht in der Konsequenz auch die Zuwendung zum
Nächsten unmöglich. Deshalb hat die
Nächstenliebe historisch so schlecht
funktioniert.
Thema
Philosophie der Lebenskunst
Menschen suchen Glück, Liebe und
Erfüllung – oder das «gute Leben».
Wie würden Sie das gute Leben erklären?
Vom guten Leben spreche ich nicht.
Die Philosophen verstehen darunter
das moralische Leben, aber ein Grossteil unseres Lebens ist gar nicht moralisch relevant. Viele andere Menschen
verstehen unter dem guten Leben das
rein positive, angenehme Leben, aber
da spielt das Leben nicht mit. So bevorzuge ich, vom «schönen Leben»
zu sprechen, im Sinne von bejahenswert: das Leben, zu dem man Ja sagen kann. Ich sage nicht, dass das bestehende Leben bejahenswert ist.
Aber dass es sinnvoll ist, sich eine Vorstellung davon zu machen, was bejahenswert wäre, um dann darauf hinzuarbeiten. Gestalte dein Leben so,
dass es bejahenswert ist: Das ist der
existenzielle Imperativ der Lebenskunst.
Seit 1998 verbringen Sie jedes Jahr
zwei Wochen am Bezirksspital Affoltern am Albis. Dort wirken Sie als
«philosophischer Seelsorger». Wie
kam es dazu?
Den Anfang machte mein Text «Vom
Sinn der Schmerzen», den ich 1995 in
der «Basler Zeitung» publizierte. Auf
Umwegen kam er zum Chefarzt in Affoltern, der mich einlud, über dieses
Thema im Rahmen der hauseigenen
Weiterbildung zu referieren. Der Vortrag zog die Frage nach sich, ob es
nicht sinnvoll sein könne, regelmässig
am Spital zu arbeiten und in der Kon-
frontation mit der Praxis die Idee einer
neuen Lebenskunst zu erproben, und
zwar gerade dort, wo Menschen ihrer
offenkundig am meisten bedürfen. Ich
selbst war äusserst skeptisch: Was soll
ein Philosoph am Spital? Heute frage
ich mich: Wie kommen eigentlich diese vielen Spitäler ohne Philosophen
aus?
Was tun Sie dort genau?
Ich halte Vorträge, moderiere Gesprächsgruppen und führe vor allem
viele Gespräche. Das Gespräch wird
zu einem «Lebensgespräch» und betrifft alles, was eine Rolle fürs Leben
für den betreffenden Menschen spielt;
nicht notwendigerweise mit pathologischem oder dysfunktionalem Hintergrund. Menschen haben Fragen an
das Leben: Das ist weder krank noch
gestört. Sie können sich im Gespräch
klarer über sich selbst werden, alte
Anschauungen überprüfen und neue
Anregungen aufnehmen. Die Menschen dort kommen zu Einsichten und
vielleicht auf neue Gedanken. Und ich
auch.
Ihre Bücher sind sehr erfolgreich.
Welche Aufgaben haben sie?
Meine Bücher sind Anregungen, das
eigene Leben zu überdenken und gegebenenfalls anders als zuvor auszurichten. Es geht darum, eine eigene,
gut begründete Lebensphilosophie zu
finden. Ich sehe mich in der Tradition
der Aufklärung, bemühe mich aber,
ein aufgeklärter Aufklärer zu sein, der
sich selbst nicht im Besitz der alleini-
gen Wahrheit wähnt. Ich träume auch
nicht von künftigen idealen Verhältnissen, glaube aber daran, dass sich
Veränderungen und Verbesserungen
vornehmen lassen, individuell und gesellschaftlich, auch wenn manchmal
dabei Verschlechterungen herauskommen.
Interview: Claudio Moro
Bücher von Wilhelm Schmid
Die Fülle des Lebens.
100 Fragmente des Glücks.
Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M.
2006, ISBN 3-458-34899-9
Die Kunst der Balance.
100 Facetten der Lebenskunst.
Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M.
2005, ISBN 3-458-34820-4
Mit sich selbst befreundet sein.
Von der Lebenskunst im Umgang
mit sich selbst.
Suhrkamp-Reihe «Bibliothek der
Lebenskunst», Frankfurt/M. 2004,
ISBN 3-518-41656-1
Schönes Leben?
Einführung in die Lebenskunst.
Suhrkamp-Reihe «Bibliothek der
Lebenskunst», Frankfurt/M. 2000,
ISBN 3-518-41207-8 (Taschenbuchausgabe: ISBN 3-518-45664-4)
Philosophie der Lebenskunst.
Eine Grundlegung.
Suhrkamp TB Wissenschaft 1385,
Frankfurt/M. 1998,
ISBN 3-518-28985-3
Auf der Suche nach einer neuen
Lebenskunst. Die Frage nach dem
Grund und die Neubegründung der
Ethik bei Foucault.
Suhrkamp TB Wissenschaft 1487,
Frankfurt/M. 2000,
ISBN 3-518-29087-8
Im August 2007 erscheint im Insel
Verlag: Glück.
Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist.
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Fachwissen
Entwicklungspsychologie
Vom Wunsch, irgendwo ankommen und bleiben zu dürfen
Viele erleben sich lebensphasenweise
als von äusseren Zwängen sowie inneren Prägungen gesteuert. Dann möchten sie ihrem Leben eine eigene Note
und Richtung geben und sich auf das für
sie Wesentliche konzentrieren. Immer
mehr Menschen benötigen Begleitung
auf dem Weg zu einer bewussteren,
umfassenderen und selbstbestimmteren
Lebensführung.
«Alles hat man herausgefunden, nur
nicht, wie man lebt», lautet ein viel verwendetes Zitat Jean-Paul Sartres. Es
mahnt uns daran, dass Entwicklung als
autonomer Veränderungsprozess auf
bewusst getroffenen Lebensentscheidungen basiert. Diese setzen Entwicklung als eine individuelle – und eben bewusste – Konstruktion und Lebenslaufgestaltung in Gang.
Anstoss dazu ist die sich aufbauende
Spannung, wenn ausgetretene Lebenspfade schal und langweilig geworden
sind. Der Wunsch nach Neuem und
Unbekanntem wird drängender, das
Bedürfnis, bisher noch nicht oder nur
rudimentär gelebten Potenzialen und
Optionen Raum zu geben, führt zu Verhaltensänderungen in Richtung Selbstaktualisierung. Verbunden damit ist ein
sehr grosses Bedürfnis, Neues aufzunehmen, zu lernen, sich anregen zu lassen, um daraus neue Orientierungen
ableiten zu können.
In einer Befragung von erwachsenen
Personen unterschiedlichen Alters nach
ihren Entwicklungszielen haben 28 Prozent Autonomie und Weiterentwicklung
genannt (Zöllner: Dem eigenen Leben
Gestalt geben. Kreuz Verlag, Stuttgart
1996). Aber auch die Annahme der eigenen Person und den Gewinn von
Weisheit nannten besonders Frauen als
übergreifende Zielsetzungen. Dabei
wurde deutlich, dass das Leben mehrheitlich als Aufgabe gesehen wird, der
man sich ausbalanciert, mit Gelassenheit und Vertrauen stellen möchte, um
sie zu meistern.
Angestossene Entwicklung
Solche autonomen Entwicklungsprozesse werden häufig aber auch durch eine
innere Entwicklung mitbeeinflusst. Biologisches Älterwerden korrespondiert
mit psychologischem Altern und Reifen
des Individuums hin zu komplexeren
Strukturen und zu einer qualitativen
Veränderung der Selbst- und Weltsicht,
was einen entsprechenden Veränderungswunsch nach sich zieht.
In diesem Zusammenhang sind auch Lebensereignisse bedeutsame Motoren in
einer Biografie. Wir unterscheiden zwischen normativen, zu jeder Biografie gehörenden «Standardereignissen» und
nichtnormativen Life Events, also individuellen Ereignissen. Dabei ist kennzeichnend, dass in pluralistischen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen sozial akzeptierten Lebensentwürfen die
normativen Ereignisse abnehmen und
zugleich nichtnormative Ereignisse zu
normativen werden können. Solche Lebensereignisse bewirken Entwicklungsschübe quantitativer und qualitativer
Art – die Krise als Chance. Ressourcenaktivierung und der Erwerb von Copingstrategien führen zu einem spezifischen
Entwicklungsgewinn.
Ferner stellen die gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Kontextbedingungen
immer wichtiger werdende Herausforderungen zur Entwicklung dar. Rasch
wechselnde, umwertende gesamtgesellschaftliche Sozialisationsprozesse
bedingen ein lebenslanges Lernen. Die
Verkürzung der Halbwertszeiten von
Wissen und Können ist ein Anreiz, aber
auch eine Verpflichtung, die manche
Menschen an die Grenzen ihrer Veränderungstoleranz bringt. Dem Wunsch,
irgendwo auch ankommen und bleiben
zu dürfen, als Ausdruck eines menschlichen Grundbedürfnisses nach psychologischer Heimat begegnen wir in der Beratungspraxis wohl genauso häufig wie
dem Wunsch nach Veränderung – nur
wird dieser sehr direkt ausgesprochen,
jener aber mehr versteckt und über
Symptombildungen artikuliert.
Erzwungene Entwicklung
Eine angestossene Entwicklung nimmt –
wenn auch vielleicht verzögert und nach
Bearbeitung von Widerständen – den
Entwicklungsimpuls auf und setzt ihn
um.
Bei einer erzwungenen Entwicklung
dominiert der Widerstand und löst Fixierung oder Regression aus. Auch wenn
äussere Schritte vollzogen sind, zum Beispiel in einer neuen beruflichen Stellung
oder im ungewollten Single-Status, fehlt
die innere Annahme der neuen Lebenssituation. Der betreffende Mensch
bleibt als System unverändert, agiert lediglich in einer neuen, diktierten Rolle.
Externe Attribuierung, Anklagen und
Aggressionen persistieren, die Erfahrungen im Prozessverlauf werden erlebnismässig isoliert, abgestossen und bleiben
deshalb ohne Veränderungseffekt auf
die Person. Unbearbeitete erzwungene
Veränderungen sind nicht selten Ursache für ein lebenslanges Ressentiment,
sie können einen Knick in der Lebenslinie bewirken, die in der Folge dauerhaft
von einer unterschwelligen Kränkung
geprägt ist, was den auch sozialwirtschaftlichen Wert einer psychologischen
Intervention unterstreicht.
Lebensthemen und Entwicklungsaufgaben
Biografien lassen sich in grafische Muster übersetzen. Selten findet man monothematische Verläufe, in denen nur
ein Thema und ein Muster statisch gelebt werden. Meist sind Wechsel, Abfolgen, Kontraste mit unterschiedlicher
Häufigkeit und Dauer zu verzeichnen.
Die ansteigende Linie des Erprobens
kann abgelöst werden von der linearen
Linie des konsolidierten Auslebens einer
Struktur.
Nach mehr gegen aussen hin gerichteten Lebensphasen tritt das Ich wieder
vermehrt ins Zentrum, krisenhafte Verläufe beruhigen sich, und eine sachlichrationale Lebenseinstellung gewinnt
wieder Oberhand. Entwicklungsthemen
lassen sich nicht verbindlich an Lebensaltern festmachen, sondern oszillieren
als Vordergrund- und Hintergrundthematik, abhängig von Lebenssituation
und Lebensbedingungen.
Das Leben erproben
Stichworte für Menschen, die dieses Lebensthema in den Vordergrund stellen,
sind gemäss der genannten Befragung
zum Beispiel: Aufbruch, Herausforderung, Grenz- und Platzsuche, Freiheit,
Unbeschwertheit, Offenheit, Spontaneität, Impulsivität, Energie, Draufgängertum, Tatendrang, Ideale, Ideen,
Lern- und Leistungswille.
Hier steht die Identitätsdifferenzierung
im Vordergrund. Das Leben wird als
Fachwissen
Entwicklungspsychologie
higkeiten, sich festlegen, einen Platz
einnehmen, Wurzeln schlagen.
Deutlich wird auch der Wunsch, diese
gewonnene Lebensform eine Weile umsetzen und ausleben zu können. Nach
der Differenzierung stehen dann wieder
Festigung und Bindungsaufbau in Sachund Beziehungsbereichen im Vordergrund.
Ulrike Zöllner, Prof. Dr., ist Dozentin
für Psychodiagnostik und Entwicklungspsychologie an der Hochschule
für Angewandte Psychologie (HAP)
in Zürich. Tätigkeit als Referentin für
Entwicklungs-, Erziehungs- und Lebensführungsfragen in der Erwachsenenbildung.
Herausforderung genommen, der man
sich mit Neugier, Wagemut, auch Naivität stellt, an der man sich messen und
die man erfahren will. Sammeln von Erfahrungen, Entdecken von Möglichkeiten, Ausloten der Spielbreite dienen
dazu, einen ersten – oder auch einen
folgenden – Lebensplan zu finden. Eine
typische Erprobungsphase ist das frühe
Erwachsenenalter. Das gleiche Muster
finden wir aber auch als ausagierendes
Übergangsmuster, wenn die Fragen
«Wer bin ich?» und «Wohin will ich?»
erneut gestellt werden oder werden
müssen.
Strukturen und Muster leben
Nach Phasen der Orientierungssuche
erleben sich viele Menschen dann wieder kanalisierter und zielbewusster, haben mehr Vertrauen und Zutrauen zu
sich selbst gewonnen, sind vernünftiger
und pragmatischer und berichten von
vermehrter Selbstannahme, sie sind
«abgeschliffener und gerundeter», wie
eine befragte Person es formuliert hat.
Weitere Stichworte für ein konsolidiertes Lebensmuster sind unter anderem:
sich begrenzen und abgrenzen, Sicherheit, Selbstbewusstsein, Wissen um Fä-
Rückbesinnungen
Mit dem Thema der Rückbesinnung tritt
die Zeitdimension der Vergangenheit in
den Vordergrund. Erfahrungen werden
ausgewertet und auf mögliche Konsequenzen und nötige Korrekturen hin
befragt. Rückbesinnungen leiten in der
Regel Neuorientierungen und erneute
Erprobungsphasen ein. Im Unterschied
zu krisenhaften Übergängen, die mit
zum Teil erheblicher emotionaler Beunruhigung verbunden sind, stellen sie
kognitive und wertende psychologische
Prozesse in den Vordergrund, sind bilanzierend und schlussfolgernd ausgerichtet. Personen, die wir mit diesem Hintergrund begleiten, haben in der Regel eine
hohe Selbstkompetenz in der Bewertung
ihrer Situation und benötigen uns vor
allem als Ansprech- und Spiegelungspersonen im Prozess ihrer Selbstreflexion. In
der Selbstbeschreibung sind Begriffe wie
Ressourcenwahrnehmung, Aufbauwünsche, Erstarkung und Profilierung, Eigenständigkeit und Akzentuierung des persönlichen Stils kennzeichnend.
Krisen
Lebenskrisen können angestossen werden von äusseren Lebensereignissen
und treten dann zeitlich beliebig in einer
Biografie auf. Als phasentypisches Geschehen begleiten krisenhafte Verläufe
vor allem besonders herausfordernde
Übergänge im Leben: Empty-nest-Situation, Berentung usw.
Von Betroffenen wurden genannt: Auseinandersetzung mit Vergangenheit,
Wurzeln, der dunklen Seite und den
Verdrängungen, Abschied von den
Träumen, Zukunftsängste, Verunsicherung. Emotional besteht ein hoher Grad
an Labilisierung, der Antrieb schwankt
zwischen Resignation, depressiver
Selbstaufgabe und panikartigem Aktionismus. Das Verhalten kann regressive
Züge tragen, zu Überkompensation und
Forcierung des bisherigen Lebensstils
tendieren oder durch Überreaktionen
mit überstürzten Lebensplanänderungen und grundlegenden Wechseln gekennzeichnet sein.
Während für extern ausgelöste Krisen
die fachliche Begleitung durch Krisenintervention in der Regel unerlässlich ist,
gilt für Übergangskrisen im Lebenslauf
häufig eine alte Psychiatrieweisheit: Die
Konfliktlösung erfolgt in der Regel von
selbst in der Zeit.
Hemmende und unterstützende Faktoren für Lebenserfolg
Die Frage, was Lebenserfolg ausmacht,
kann eigentlich nur individuell beantwortet werden. Mit der folgenden psychologischen Formel versuchen wir eine
generelle Antwort: Lebenserfolg ist die
Summe der Lebensbemühungen unter
der Zielsetzung, die persönlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die eigene
Form zu finden und lebenspraktisch zu
tun, was es zu tun gilt.
Dafür haben die befragten Personen
unterschiedliche psychische Ressourcen
eingesetzt. Im Vordergrund standen die
intellektuellen Fähigkeiten (Einsicht,
Auswertung von Erfahrungen, Lernen),
die Ich-Kräfte (Wille, Beständigkeit,
Durchhaltefähigkeit) sowie ein tragendes soziales Netzwerk.
Als erfolgshemmend wird vor allem die
persönliche Unsicherheit in Bezug auf
Risiko und Zielorientierung genannt.
Auch Autoritätskonflikte und das Verhaftetsein an Normen stellen Hemmnisse für eine erfolgreiche Lebensbewältigung dar. Häufig genannt wurden auch
erhöhte Aggressivität und Perfektionismus als Ursachen für geringe Lebenszufriedenheit – womit uns auch die therapeutischen Zielsetzungen mit an die
Hand gegeben sind.
Die Frage nach dem guten, das heisst
balancierten und zufrieden stellenden
Leben lässt unseren professionellen
Grundkonflikt wieder aufbrechen: Müssen wir selbst lebenserfolgsreich sein,
um andere begleiten zu können? Lebensbegleitung im weitesten Sinne ist
wohl das psychologische Tätigkeitsgebiet, in dem sich für uns ein Maximum
an Anstössen für das eigene Wachstum
ergibt und ergeben darf.
Ulrike Zöllner
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Fachwissen
Leben in Boomtown
Shanghai: «Better City, Better Life»
Shanghai ist eine vibrierende Handelsstadt. Das grosse Wirtschaftswachstum bietet den Einwohnern viele Möglichkeiten, und dennoch ist ein
Leben im Wohlstand noch keine
Selbstverständlichkeit. Die Menschen
verdienen ihr Geld hart und träumen
von ein bisschen mehr Komfort.
Der Durchreisende schlendert in
Shanghai durch die Nanjing-Strasse
und handelt sich an zahlreichen Strassenständen tiefere Preise für seine
Souvenirs aus. Am Ufer des HangpuFlusses bewundert er den östlichen
Stadtteil Shanghais, dessen ehemalige
Gemüsegärten in den vergangenen
eineinhalb Jahrzehnten in ein neues
Wirtschafts- und Hightech-Viertel verwandelt worden sind. Mancher wundert sich, wie sich eine Stadt so schnell
verändern kann. Doch was steckt hinter der Fassade?
Vor allem in den letzten 15 Jahren haben sich die Bewohner Shanghais an
die permanente Präsenz der Ausländer
gewöhnt. Sie bringen neue Geschäftsideen und Produkte in die Stadt, und
gleichzeitig lassen sich mit ihnen lukrative Geschäfte abschliessen. Für die
Fremden aus dem Westen geben sich
die Chinesen einen englischen Namen
und erleichtern ihnen damit das Memorisieren. Die Stadt kennt ihren eigenen Dialekt – nur im Umgang mit
Zuwanderern greifen die Leute in
Shanghai auf das allen Chinesen vertraute Mandarin zurück. Ihre Landesgenossen in der nördlichen Hauptstadt
Peking nennen sie spöttisch «Bauern»,
und gegenüber Neulingen ist eine gewisse Überheblichkeit spürbar.
Eine Vorzeigestadt
Shanghai geniesst in Peking einen gewissen Sonderstatus. Derzeit investiert
die Regierung, zulasten anderer Regionen, sehr viel Geld in die Entwicklung der chinesischen Metropole. Im
Urban Planing Center legt die Stadtregierung ihre ehrgeizigen Ziele offen,
die bis 2010 erreicht werden sollten.
Für die bevorstehende Weltausstellung unter dem Motto «Better City,
Better Life» wird die Infrastruktur massiv verbessert, moderne Hochhäuser
werden errichtet sowie Grünanlagen
für die seelische Erholung angelegt.
Bereits vor ein paar Jahren hat man die
grossen Fabriken aus der Stadt verbannt und damit die Luft merklich
verbessert. Man ist sich darüber im
Klaren, was die Besucher an einer
Grossstadt schätzen, und fasst langfristig den Aufbau eines asiatischen
Finanzzentrums ins Auge.
Die Pläne der Politiker spielen für das
persönliche Glück der einzelnen Bewohner meistens keine Rolle. Die
Menschen in Shanghai haben keine
Zeit, sich um die Politik zu kümmern,
und sind froh, wenn deren Projekte sie
nicht tangieren. Manche Ziele, die sich
die Regierung gesteckt hat, sind noch
nicht erreicht. Gewisse Quartiere wurden einst für den Abriss gekennzeichnet, sind aber immer noch im alten
Zustand erhalten.
Die Chinesen nehmen dies zur Kenntnis und zucken mit den Schultern. Sie
kennen ihre Schranken und nutzen die
Freiräume für den Handel. In einer
Stadt, die sich so schnell verändert,
setzt man sich ein mittelfristiges Ziel
und ist flexibel in der Anpassung.
Last des Einzelkindes
Stanley, ein Chinesischlehrer aus
Shanghai, empfindet das Leben in der
Boomtown als hart und den Leistungs-
druck als gross. Er gehört zur Generation der Einzelkinder. Obwohl seit ein
paar Jahren ein Ehepaar, das aus zwei
Einzelkindern besteht, zwei Kinder
grossziehen darf, winkt Stanley ab:
«Die Verantwortung für ein Kind ist
bereits belastend genug, zwei Kinder
sind zu viel.»
Von den Kindern wird in China sehr
viel verlangt. Nur die besten Primarschüler und musikalisch begabte Kinder erhalten in Shanghai die Chance,
eine renommierte Mittelschule zu besuchen. Nach der Mittelschule werden
die Anwärter für die Universität nach
ihren Noten selektioniert. Die Kinder
opfern deshalb einen Grossteil der
Schulferien dem Lernen. Nicht selten
besuchen sie bereits mit vier Jahren am
Samstagmorgen einen Englischkurs.
Dafür sorgen die Eltern.
Beziehungen als Sprungbrett
Floyd fühlt sich auch noch als junger
Erwachsener den Eltern gegenüber
verpflichtet und ist darum bemüht, ihren Erwartungen gerecht zu werden.
Er konnte zwar sein Studium selber
wählen, will seinen Vater aber trotzdem nicht enttäuschen. Dieser hat sich
für die erste Arbeitsstelle seines Sohnes
nämlich umgehört und über einen
Kollegen ein Vorstellungsgespräch bei
Fachwissen
Leben in Boomtown
einer grossen Frachtschifffabrik organisiert. Floyd wird die Möglichkeit genau prüfen und kann das Angebot nur
ausschlagen, wenn er eine bessere Arbeit findet. Widersprechen gehört
nicht zur traditionellen chinesischen
Erziehung, und die ältere Generation
ist der Meinung, dass sich ein Kind damit nur schadet. Die Generation der
achtziger Jahre traut sich aber je länger, je mehr, ihre Meinung frei zu äussern.
Wie Floyd stammen zahlreiche Studenten in Shanghai aus anderen Provinzen. Sie hoffen, nach dem Studium
in Shanghai Fuss zu fassen, und erträumen sich von der Grossstadt eine
bessere berufliche Chance. Doch trotz
einem offiziellen Wirtschaftswachstum
von bisher rund zehn Prozent per
annum ist die Stellensuche für Universitätsabgänger nicht einfach. Da hilft
eine Beziehung zu einem hohen
Staatsangestellten oder einem wichtigen Manager in der oberen Etage.
Das grösste Geschenk an die Eltern ist,
sich eine sichere Existenz aufzubauen.
Wer keine gute Arbeit findet, kehrt
deshalb nach Hause zurück. Die Eltern
vermissen ihr einziges Kind, und nur
eine gute Stelle kann die Entbehrung
rechtfertigen.
Im Kaufrausch
Das Leben in Shanghai ist noch weit
davon entfernt, bequem zu sein. Gearbeitet wird viel, und 15-StundenTage sind eher Regel denn Ausnahme.
Ziel ist es, in kurzer Zeit möglichst viel
zu verdienen. Die mangelnde Loyalität
zum Arbeitgeber ist für manche Firmen ein Problem. Denn sobald von
aussen ein höherer Lohn angeboten
wird, sind die eingearbeiteten Mitarbeitenden wieder weg.
Doch abspringen können nicht alle. Ein
Universitätsprofessor meinte, diese
Wahl habe er nicht. Er arbeite an der
Universität, die ihm die beste Pension
in Aussicht stelle, nicht an jener, wo er
am liebsten arbeiten würde. Das gefalle ihm an Amerika: Man erhalte eine
gewisse soziale Sicherheit und damit
ein Stück Freiheit, das zu tun, wozu
man Lust habe.
Wenige Menschen in Shanghai haben
genügend Geld, um losgelöst von fi-
nanziellen Zwängen ihre Träume verwirklichen und ihrer Passion nachgehen zu können. Die prallvollen Kaufhäuser deuten aber auf wachsenden
Wohlstand hin. Einkaufen ist das
grösste Hobby der chinesischen Frauen, und mit Einkaufen verbringen sie
ihr Wochenende.
Stanley, der Chinesischlehrer, erzählt
schmunzelnd, wie seine Frau Stunden
damit verbringen kann, das Geschäft
zu finden, das ein bestimmtes Kleid
zum günstigsten Preis anbietet. Feilschen kann man in Shanghai um fast
alles: Kleider, Früchte, Miete. Nur grosse Kaufhäuser haben fixe Preise. Die
Frauen sind besonders hartnäckig und
verstehen es, bis zum letzten Yuan zu
kämpfen. Aus diesem Grund verwalten sie in der Regel auch den Geldbeutel ihres Mannes. Die Hausarbeiten
überlassen sie hingegen gerne ihrem
Gatten. Vor allem die Männer aus
Shanghai sind bekannt dafür, dass sie
im Haushalt und bei der Kindererziehung mithelfen. Stanley meint dazu
verschmitzt: «Einen Mann aus Shanghai zu heiraten, ist eine gute Partie,
eine Frau aus Shanghai zu heiraten,
eine schlechte.»
Feierabend ohne Bier
Die jungen Chinesen erhoffen sich von
ihrer Zukunft genügend Freizeit, um
ihr Leben geniessen zu können. Am
Wochenende gehen sie mit Freunden
Karaoke singen oder laden diese zu
sich nach Hause ein. Floyd kennt das
Nachtleben als 23-Jähriger wie manche seiner Altersgruppe nicht. Ihm
fehlt das Geld dazu, anderen die Zeit.
Mit Kollegen ein Feierabendbier zu
trinken, ist ihm fremd. Alkohol trinken
die Chinesen in der Regel mit Geschäftskollegen und zum Essen.
Sobald Floyd in der Geschäftswelt einsteigen wird, wird er sich an den Alkoholkonsum gewöhnen – nicht zwingend jedoch ans Nachtleben. Der
nächtliche Spass ist vielen zu teuer, das
Geld sparen sie für ihre Ferien.
Alle Chinesen erhalten zur selben Zeit
drei Wochen Ferien. Diese Zeit nutzt
Stanley, um mit seiner Familie zusammen zu sein. Auf seiner Hochzeitsreise
wollte er nach Europa reisen, doch seine Hoffnung zerschlug sich schon
Ariuscha Davatz, geboren 1973,
wuchs in den USA und der Schweiz
auf. Sie ist Juristin, Kommunikationsfachfrau und Journalistin. Nach
dem Rechtsstudium wechselte sie
in die Kommunikationsbranche. In
verschiedenen Unternehmen sammelte sie Erfahrungen in der integrierten Kommunikation. In Asien
hat sie unter anderem Burma, Vietnam, Kambodscha und China bereist und schrieb darüber. Derzeit
lebt sie in Shanghai.
bald: Als Individualtourist kann er nur
nach Europa reisen, wenn er mehr als
einen Jahreslohn auf einem Sperrkonto hinterlegt. Und einer Reisegruppe
will er sich nicht anschliessen. Deshalb
haben sich er und seine Frau für die
Malediven entschieden und die Europareise aufgeschoben.
Manche Chinesen träumen davon,
dass der schnelle Wandel die Tore zu
Amerika und Europa schon bald öffnen wird.
Die Leidtragenden
Neben Studenten ziehen zahlreiche
Menschen mit schlechter Ausbildung
in die chinesische Metropole, weil sie
hier mehr verdienen als zu Hause.
Nach dem chinesischen Neujahr werden vor allem Bauarbeiter am Zentralbahnhof von Arbeitgebern aufgelesen.
Wer auf dem Bau arbeitet, arbeitet Tag
und Nacht.
9
10
Fachwissen
Leben in Boomtown
Die Bauarbeiter schlafen in den zur Verfügung gestellten Schlafsälen und waschen sich in öffentlichen Duschanlagen. Nicht nur sogenannte Saisonniers
duschen dort, auch Einheimische nutzen diese Einrichtungen im Winter. Die
Anzahl lässt sich nicht beziffern, doch es
dürften ziemlich viele sein.
Überhaupt: Was genaue Zahlen anbelangt, so meint eine junge Frau lachend,
so sei unter allen Informationen in der
Zeitung das Datum am wahrsten. Ihr
Freund fügt bei, selbst die Temperatur
stimme im Sommer manchmal nicht.
Laut Zeitung klettere die Temperatur in
Shanghai nie über 37 Grad Celsius, weil
den Arbeitnehmern bei wärmeren Temperaturen Hitzeferien gewährt werden
müssten. Tatsächlich zeige das Thermometer aber nicht selten 40 Grad an.
Ohne Arbeitskräfte findet kein Wandel
statt. Und in diesem Wandel zählt jeder
Tag.
Die Unterschicht ist für jedermann sichtbar, der mit offenen Augen durch die
Stadt geht. In vielen Quartieren leben
sowohl arme wie wohlhabende Chinesen dicht nebeneinander. Wer in alten
und heruntergekommenen Häusern
lebt, muss sich darauf gefasst machen,
dass sein Zuhause schon bald durch ein
Hochhaus ersetzt wird. Jedem enteigneten Chinesen wird eine neue Wohnung,
meistens am Stadtrand, zugewiesen.
Wo genau, das wissen sie nicht. Sie sind
Opfer des Wandels, aber sie haben keine Wahl.
Stanley und Floyd sind sich der Unterschicht und deren Problemen bewusst,
aber viel dagegen unternehmen können
sie nicht. Auch in ihrem eigenen Leben
fehlt ein sicheres Fundament.
Die Lebensbedingungen wandeln sich.
In Shanghai gibt es unzählige Chancen,
und ein jeder versucht eine günstige Gelegenheit zu ergreifen, um mehr Geld zu
verdienen und sein Leben bequemer gestalten zu können. Man sehnt sich nach
ein bisschen Vergnügen. Es heisst, die
Menschen in Shanghai seien schlau im
Kleinen, aber nicht im Grossen – keine
Abenteurer also. Vielleicht sind sie sich
aber auch nur bewusst, dass sie bereits
heute mehr besitzen als die meisten ihrer Landesgenossen und dass es gilt, das
bereits Erreichte zu bewahren.
Ariuscha Davatz
Das aktuelle Kursangebot 2007
Weiterbildung
für Psychologinnen
und Psychologen
Psychotherapie/Erwachsene
MAS Systemische Psychotherapie mit
kognitiv-behavioralem Schwerpunkt
Einführung in die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
der Borderline Persönlichkeit
ADHS/ADS im Erwachsenenalter
Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch
6 – 8 Semester
½ Tag
1½ Tage
Kinder und Jugendliche
MAS* Kinder- und Jugendpsychologie (*MAS wird beantragt)
CAS Diagnostik und Erziehungsberatung
CAS Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters
Gewalt in der Schule
Bindungsentwicklung und Bindungsstörungen
Mächtige Jugendliche – ohnmächtige Eltern?
Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch
6 Semester
2 Semester
3 Semester
3 Tage
1½ Tage
1 Tag
Alter
CAS Gerontopsychologie
3 Semester
Berufs- und Laufbahnberatung
MAS* Berufs- und Laufbahnberatung (*MAS wird beantragt)
4 Semester
Ausgewählte Themen
Autogenes Training und Stressbewältigung
Einführung in die Pharmakotherapie psychischer Störungen
Burnout – Massnahmen zur Prävention und Intervention
Stressabbau, Gesundheit und Leistungsfähigkeit
Weitere Kurse siehe www.iapzh.ch
Anmeldung und Information:
Telefon +41 (0)44 268 33 33
info@iapzh.ch, www.iapzh.ch
IAP
Institut für Angewandte Psychologie
Merkurstrasse 43, Postfach, CH-8032 Zürich
Hochschule für Angewandte Psychologie
12 Lektionen
1 Tag
2 Tage
32 Lektionen
Fachwissen
Im Kloster
«Ich deute das Wort Gegenwart gerne in der Formel ‹Gegen das Warten›»
Das Kloster Einsiedeln ist ein Ort der
Begegnung und der Ruhe. Im rund 300
Jahre alten Gemäuer leben Benediktinermönche, die ihr Leben der Suche
Gottes widmen. Sie tun dies in der Gemeinschaft der Brüder und im Wechsel
von Arbeit und Gebet. punktum.
sprach mit Pater Kassian über dessen
Lebenserfahrungen und den Lebensraum Kloster.
punktum.: Pater Kassian, was ist für Sie
Wahrheit?
Pater Kassian: Sie beginnen mit einer
schwierigen Frage. Es gibt verschiedene Arten von Wahrheit, das hängt von
der Fragestellung ab. Märchen, Kunst,
Musik, Religion oder Naturwissenschaft, alle besitzen einen Wahrheitsgehalt. Für mich ist letztlich weniger die
Frage nach der Wahrheit interessant,
sondern die nach der letzten Wirklichkeit.
Was verstehen Sie darunter?
Wenn man gottgläubig ist, ist die letzte Wirklichkeit einzig Gott.
Wieso sind Sie so sicher, dass es so ist?
Diese Überzeugung hat viel mit meiner
Lebenserfahrung zu tun und mit meinem Entscheid, Mönch zu werden.
Inwiefern?
In meiner Jugend habe ich nie daran
gedacht, Mönch zu werden. Erst im Alter von 18 Jahren spielte ich mit diesem
Gedanken. Dabei kam dieser Gedanke
mit einer unglaublichen Energie und
Unmittelbarkeit auf mich zu. Vielleicht
verstehen Sie es, wenn ich es mit dem
Verliebtsein vergleiche. Plötzlich zündet etwas, das nicht mehr lockerlässt.
Die Stärke und die Unmittelbarkeit des
Gedankens sind etwas, das ich nicht erklären kann. Es muss aber von irgendwoher stammen. Ich habe meinen Weg
intuitiv gespürt.
Ihre Überzeugung hat also etwas mit
dieser Intuition zu tun?
Ja, auf jeden Fall.
Wie lange haben Sie den Gedanken in
sich getragen?
Ein Jahr lang, dann war der Entschluss
so weit gereift, ins Kloster einzutreten.
Aber glauben Sie nicht, dass es einfach
war. Innerlich musste ich einige Kämpfe austragen. Mal ging es einfacher,
mal überhaupt nicht. Am Ende war die
Glaubensüberzeugung stärker.
Haben Sie diesen einschneidenden Lebensentscheid nie bereut?
Nein, niemals, ansonsten wäre ich ausgetreten. Aber es gab natürlich auch
schwierige Phasen.
Ist das Kloster Ihre Heimat?
Ja, meine Bindung zum Kloster Einsiedeln ist sehr stark.
Welche Rolle spielt das Gebet in Ihrem
Leben?
Das gemeinsame Beten ist ein Grundpfeiler unseres Lebens hier im Kloster.
Wir treffen uns sechs Mal täglich zum
Gebet. Das beginnt bereits morgens
um halb sechs. Bei diesen Gebeten erleben wir unsere Gemeinschaft. Das
Gebet gibt unserem Alltag auch eine
Struktur. Diese Struktur hilft uns, Abstand und Ruhe zu finden. Letztlich hilft
sie uns zu leben.
Was schöpfen Sie aus Ihrem Glauben?
Mein Glaube an Gott hat personalen
Charakter. Ich lebe im Grunde alleine,
bin aber nie einsam. Denn Gott ist mein
Begleiter. Ich führe mit ihm einen Dialog.
Sie spüren also Gottes Nähe?
Ja, hin und wieder hatte ich sogar sehr
intensive Erlebnisse, die ich auf die
Nähe Gottes zurückführe. Es ist schwer,
das in Worte zu fassen. Subjektiv haben
solche Erlebnisse für mich eine Bedeutung, die sie für andere vielleicht nicht
hätten. In meinem Leben haben sie einen hohen Realitätsgehalt. Für mich ist
es gelebte Wirklichkeit.
Die subjektive Erfahrung ist also entscheidend?
Ja. Ich betreue seit einigen Jahren das
«Goldene Ohr» des Klosters. Menschen suchen hier Rat und Unterstützung. Auch Menschen, die berichten,
sie seien von bösen Geistern besessen.
Subjektiv leiden diese Menschen sehr.
An diesem Punkt setze ich an. Ich versuche nicht, sie zu überzeugen, dass es
keine bösen Geister gebe, sondern zeige ihnen einen Weg auf, wie sie auch
gute Geister oder Schutzengel erkennen. Das hilft diesen Menschen. Auch
wenn sich objektiv gesehen das Problem der Geister nur verlagert hat.
Pater Kassian Etter ist 78 Jahre alt
und lebt seit 1949 im Kloster Einsiedeln. Der Sohn von Alt-Bundesrat Philipp Etter hat Theologie und
Physik studiert, war über lange Jahre Präfekt des vom Kloster geführten Internats und überzeugt heute
auch als Schauspieler auf der Bühne des Einsiedler Welttheaters auf
dem grossen Klosterplatz.
Sie haben in Ihrem Leben viele Menschen kennen gelernt und vielen
Menschen geholfen. Welchen Begriff
haben Sie vom Leben?
Der Mensch lebt in der Gegenwart. Das
ist das Wichtigste. Menschen, die nur
in der Vergangenheit oder Zukunft leben, verpassen das Leben. Der Mensch
kann nur in der Gegenwart leben. Seine existenzielle Erfahrung beschränkt
sich auf diese Gegenwart, auf das Jetzt.
Ich deute das Wort Gegenwart gerne in
der Formel «Gegen das Warten». Das
dürfte sprachwissenschaftlich nicht
stimmen, aber es enthält viel Wahrheit.
Es heisst, dass die Hoffnung immer als
Letztes stirbt. Die Hoffnung weist stets
in die Zukunft. Wie verträgt sich die
Hoffnung mit Ihrem Gedanken der Gegenwart?
Die Gegenwart ist nicht losgelöst von
der Zukunft. Es ist das falsche Warten
auf die Zukunft, die es verunmöglicht,
im Jetzt zu leben. Die Hoffnung hat mit
diesem Warten eigentlich wenig zu tun.
11
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Fachwissen
Im Kloster
Hoffnung kann den Weg aufzeigen,
wie man die Gegenwart begehen soll.
Und die Vergangenheit?
Das Leben ist etwas Einmaliges. Kein
Leben gleicht dem anderen. Dazu gehört die Vergangenheit. Die Erfahrungen eines Lebens, die vergangenen Begegnungen mit Menschen spielen in
der Gegenwart immer mit. Aber leben
muss man in der Gegenwart.
Zum Leben gehört der Tod. Wie gehen
Sie als Mönch damit um?
Im monastischen Leben spielt der Tod
eine wichtige Rolle. Ein Mönch richtet
sich ja nicht richtig ein im Leben. Er heiratet nicht, er besitzt keine Güter. Er
lebt in gewisser Weise auf die Begegnung mit Christus hin nach dem Tod.
Das Sterben ist die letzte Leistung unseres Lebens. Was aber immer bleibt –
und da bilden Mönche keine Ausnahme –, ist eine gewisse Angst vor dem
Tod.
Gibt es einen Sinn des Lebens?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass man nur daran glauben kann,
dass es einen Sinn gebe. Gerade wenn
man leidet, wird die Frage nach dem
Sinn drängender. Das Hadern mit Gott
ist dann Teil der Bewältigung des
Schmerzens.
Was würden Sie einem Menschen auf
den Weg geben?
Ich würde einfach mal zuhören.
Und nach dem Zuhören?
Je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir eine innere Haltung der
Dankbarkeit. Dankbar sein, dass man
Begegnungen mit anderen Menschen
hat, dass man etwas erleben darf.
Dankbar sein, dass man Fehler macht,
dass man so ist, wie man ist. Ich wiederhole mich: Jedes Leben ist einmalig.
Diese Einmaligkeit fordert Dank.
Interview: Claudio Moro
Familiendramen verhindern:
Eine Tagung sucht nach Lösungen
«Vater erschiesst Familie», «Mutter
entführt Kinder»: Schlagzeilen wie
diese finden sich wöchentlich in den
Medien. Sind diese Ereignisse als
Schicksalsschläge hinzunehmen, oder
Fortbildung Integrative
Körperpsychotherapie IBP
Anerkannt von der Schweizer Charta für Psychotherapie, FSP, SPV und SBAP.
Diese 3jährige, berufsbegleitende Fortbildung richtet sich an Fachpersonen,
denen die vertiefte Integration der psychosomatischen Dimension in ihre therapeutische Tätigkeit ein Anliegen ist. IBP verbindet Somatik, Emotion, Kognition
und Verhalten zu einer ganzheitlichen Diagnostik und Therapie. Die Fortbildung
ist ausgesprochen praxisorientiert und bietet viele wertvolle Tools, die in die
eigene Arbeit integriert werden können.
Fortbildungsinhalte sind unter anderem die Arbeit mit Ressourcen, Stress, Trauma, somatische Resonanz, Umgang mit Schutzstil, Widerstand und körperlichen
Blockaden, Mental Health Tools sowie Sexualität.
Einführungskurs: 27.- 29.9.2007
Beginn: 27. November 2007
Gesamtleitung: Dr. med. Markus Fischer,
FMH Psychiatrie und Psychotherapie
Informationen und Ausbildungsrichtlinien:
IBP-Institut, Wartstrasse 3, 8400 Winterthur, Tel. 052 212 34 30, www.ibp-institut.ch
Neue IEF-Weiterbildungen
Jubiläumstagung
Hochkonflikthafte Familiensysteme –
Strategien und Interventionen
ReferentInnen: Saskia Böcking, Cristina
Diday, Heiner Krabbe,Christina Marty,
Christine Meier Rey, Marianne
Schwander, Corinna Seith, Heidi Simoni,
Max J. van Trommel, Kathrin Widmer
Termine: 21. und 22. September 2007
Ich schaffs – das lösungsorientierte
Programm für die Arbeit mit Kindern
Tagung mit Ben Furmann, Helsinki
Termine: 1. und 2. Juni 2007
Beraten mit Wirkung
Systemisch klientenzentrierte Beratung für
Fachleute ohne psychologische oder therapeutische Vorbildung
Termine: 6. - 7. 9. und 26. - 27. 9. und
10. - 11. 10. und 25. - 26. 10. 2007
Entwicklung unterstützen –
Unterstützung entwickeln
Systemisches Lerncoaching nach der
Marte-Meo-Methode
Tagung für Fachleute im Schulbereich
Josje Aarts, Eindhoven (NL)
Termine: 31. Aug. und 1. Sept. 2007
Informationen:
IEF Institut für systemische Entwicklung und
Fortbildung, Hofackerstr. 44, 8032 Zürich
Tel. 044 362 84 84, Fax 044 362 84 81
E-Mail: ief@ief-zh.ch
Programme/Anmeldung: www.ief-zh.ch
gibt es Präventionsstrategien? Das Institut für systemische Entwicklung und
Fortbildung IEF, das dieses Jahr sein
40-jähriges Bestehen feiert, sucht
nach hilfreichen Interventionen. Die
Jubiläumstagung vom 21. und 22.
September in Zürich bringt unterschiedliche Professionen miteinander
ins Gespräch, um gemeinsam neue
Strategien zur Bewältigung hochkonflikthafter Familiensysteme zu entwickeln.
Informationen und Anmeldung: IEF,
Hofackerstrasse 44, 8032 Zürich, Tel.
+41 (0)44 362 84 84, www.ief-zh.ch
Fachwissen
Buch über das Leben als «flüchtiger Geist»
Veronika Peters: Was in zwei Koffer passt
Veronika Peters beschreibt im Buch
«Was in zwei Koffer passt» ihr Leben
in einem Benediktinerinnenkloster.
Mit 21 Jahren beschliesst sie, dem
heiligen Benedikt von Nursia nachzufolgen und in ein benediktinisches
Kloster einzutreten. Nach zwölf Jahren tritt sie wieder aus. Und nun liegt
die Verarbeitung der Klosterjahre der
Autorin, die sich selbst als «flüchtigen
Geist» bezeichnet, in Buchform vor.
Sie ist ein wenig flach geraten.
Veronika Peters beschreibt detailliert
ihr zwölf Jahre dauerndes Klosterleben, mit präzisen Berichten über ihre
facettenreichen Mitschwestern, über
die vielschichtigen traditionellen Rituale, aber auch über die internen
menschlichen Konflikte im Zusammenleben hinter Klostermauern. Es
sind zwölf Jahre des Suchens nach
dem «Gegenteil vom Rückzug in eine
kleine private Religiosität, die allein
um das persönliche Seelenheil besorgt
ist. Ich möchte mit meiner Existenz ein
Zeichen setzen gegen eine Innerlichkeit, die nur mit sich selbst befasst ist.
Ich will mich nicht gut fühlen, ich will
gut sein, gut leben, in einem tieferen
Sinn. Mit meinem Leben ... sage ich:
Schaut her, es geht anders, es gibt
mehr als in Zahlen messbare Erfolge.»
Mit 33 Jahren erreicht Veronika Peters
einen Punkt der geistigen Erschöpfung. Sie stösst an die Grenzen ihrer
Möglichkeiten, einerseits im Zusammenleben mit den Schwestern in der
Klostergemeinschaft, andererseits
aber auch mit ihrer Suche nach dem
tieferen Lebenssinn. Immer weiter
entfernt sie sich von der Glaubensgemeinschaft. Örtlich, indem sie die abseits gelegene Buchhandlung des
Klosters neu organisiert und nach
wirtschaftlichen Aspekten als lukrative Einnahmequelle umfunktioniert,
geistig, indem sie auch nach all den
Jahren auf ihrer inneren Unabhängigkeit beharrt und gegen die engen
Grenzen des Klosterlebens ankämpft.
Während ihrer Arbeit in der klösterlichen Buchhandlung findet sie einen
Seelenfreund, den Schriftsteller Christoph Peters. Aus dieser Begegnung
wächst langsam eine tiefe Geistesverwandtschaft und Liebe, die schliesslich
dazu führt, dass Schwester Veronika
das Kloster verlässt. Sie sieht diesen
Rückzug aus der religiösen Gemeinschaft der Benediktinerinnen nicht als
ein Scheitern oder Versagen, sondern
nimmt diese zwölf Jahre als «geistiges
und geistliches» Wegstück auf ihrer
weiteren Suche nach dem tieferen
Sinn des Lebens. Heute lebt Veronika
Peters mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter in Berlin.
Der Klappentext lässt mehr erwarten,
als das Buch hält. Es ist wohl eine interessante Reportage über das Leben
in einem Benediktinerinnenkloster,
NEUE TITEL AUS IHREM INTERESSENGEBIET
Glasl, F.: Konflikt, Krise, Katharsis
Und die Verwandlung des Doppelgängers
2007. 133 S., Abb., geb., CHF 38.60 (Geistesleben) 978-3-7725-2127-0
«So wie ein Genesungsprozess durch Krankheit, Krisis und Katharsis zu
einer Wandlung führen kann, so kann auch eine konstruktive Bearbeitung
von Konflikten zu einer inneren und äusseren Wandlung führen. Vor
allem die verantwortungsvoll vorbereitete Begegnung mit dem
Doppelgänger wird dann zu einem Schlüssel- und Wendeerlebnis.»
Friedrich Glasl
Bestellen ist ganz einfach: Rufen Sie uns an:
0848 482 482 (Normaltarif)
oder schreiben Sie uns eine E-Mail: contact@huberlang.com
Veronika Peters: Was in zwei Koffer passt. Klosterjahre.
Goldmann Verlag, München 2007,
256 Seiten, Fr. 31.90,
ISBN 3-442-31116-0.
und man erfährt mit den Augen von
Veronika Peters einiges über Rituale,
Regeln und Gebräuche, lernt auch die
Mitschwestern in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit kennen. Die tieferen
Gründe jedoch, wieso Veronika Peters
überhaupt ins Kloster eintritt, bleiben
am Ende verschwommen. Ihre Einstellung zu Gott, ihre Glaubenszweifel,
vor allem ihre Entwicklung in dieser
Zeit bleiben weitgehend verborgen.
Ihre Auseinandersetzung mit dem
Kloster als religiöse Gemeinschaft, als
Ort von spiritueller Nähe und menschlicher Solidarität geht wenig über die
praktischen Seiten des Zusammenlebens hinaus.
Das Buch mit seinem Anspruch, etwas
über den Sinn des Lebens auszusagen,
wirkt etwas flach und erscheint eher
wie der Bericht über eine persönliche
Vergangenheitsbewältigung. Dennoch: «Was in zwei Koffer passt» vermittelt auf informative und durchaus
unterhaltsame Art einen Blick auf das
Leben hinter Klostermauern.
Barbara Fehlbaum
13
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Fachwissen
Leben mit Mut zum Dienen
Das christliche Konzept der Demut
All die Bücher, die es in den Lebenshilfe- und Ratgeberecken der Buchhandlungen dieser Welt zu kaufen
gibt, scheinen eine Grundsehnsucht
der Menschen zu spiegeln: wie das Leben gelingen kann. Das christliche
Konzept der Demut wirkt unzeitgemäss – dabei könnte es als Korrektiv
wirken zu einer Lebenseinstellung,
welche die schnelle Bedürfnisbefriedigung und die unbedingte Leistungsfähigkeit zum obersten Prinzip erklärt.
Wie bedroht das Lebensglück offensichtlich ist, zeigt ein einfacher Blick
auf einige Statistiken: Fast jede zweite
Ehe wird in der Schweiz geschieden,
die Zahl der psychisch kranken Menschen nimmt ständig zu, und der Alkoholkonsum unter Jugendlichen ist
verbreitet. Ratschläge für gelingendes
Leben sind gefragt.
Eine lange Tradition in der christlichen
Spiritualität hat das Konzept der Demut. Bei einer spontanen Befragung
unter Passanten, was für ein gelingendes Leben wichtig sei, werden wohl
die wenigsten Befragten antworten,
Demut sei wichtig. «Demut» ist eher
ein Begriff mit zwielichtigem Ruf.
Viele Menschen bringen Demut mit
Unterwerfung und Unterdrückung
oder dem Verlust der Selbstachtung in
Verbindung. Friedrich Dürenmatt zum
Beispiel schreibt im «Nächtlichen Gespräch mit einem verachteten Menschen»: «Man soll in dieser Zeit nicht
demütig sein, Bube! Man soll auch
nicht demütig sterben. Diese Tugend
ist heute unanständig geworden.»
Eckhard Zemmrich (2006) stellt denn
auch ernüchtert fest, dass Demut
selbst in der theologischen Fachdiskussion kaum jene Rolle spiele, die diesem
Begriff zustehe.
Dabei kann richtig verstandene Demut
zu einem Leitmotiv fürs Leben werden.
Sie kann als Korrektiv wirken zu einer
Lebenseinstellung, welche die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die
eigene Leistungsfähigkeit zum obersten Prinzip erklärt, nach dem Motto «I
want it all, and I want it now».
Mit der Gesinnung eines Dienenden
Das deutsche Wort «Demut» weist einen interessanten Hintergrund auf. Es
setzt sich zusammen aus dem althochdeutschen «dio» (Knecht, Diener) und
dem Wort «mout» (Gesinnung, Mut).
Demut bezeichnet also die «Gesinnung eines Dienenden» oder den
«Mut zum Dienen». Demut ist von
seinem Ursprung her ein durchaus aktiver Vorgang, keine passive Haltung.
Die Gesinnung des Dienens hat also
nichts mit Unterwürfigkeit, sondern
mit Kraft und Mut zu tun.
Diesen positiven Klang hat Demut
auch im «Ersten Testament» (siehe
auch meinen Artikel zum Paradies im
punktum. vom Dezember 2006). Im
Buch der Sprüche heisst es: «Gottesfurcht erzieht zur Weisheit, und Demut geht der Ehre voran» (Spr 15,33).
Wer Demut übe, der werde mit Reichtum, Ehre und Leben belohnt (Spr
22,4). Demut erwächst aus der Erkenntnis, dass der Mensch bei all seiner Leistungsfähigkeit, Stärke und
Macht letztlich doch von der Güte und
Barmherzigkeit Gottes abhängig ist.
Gott ist als Schöpfer Ursprung allen Lebens. Dies bringt ganz eindrücklich
Psalm 8 zum Ausdruck: «Herr, unser
Herrscher, wie gewaltig ist dein Name
auf der ganzen Erde; über den Himmel
breitest du deine Hoheit aus. Was ist
der Mensch, dass du an ihn denkst, des
Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?» (Ps 8,1.5). Demut äussert
sich demnach in drei wichtigen Grundhaltungen. Gott gegenüber zeigt sich
Demut im Anerkennen der Grösse Gottes und im Befolgen seiner Gebote.
Dem Mitmenschen gegenüber zeigt
sich Demut durch die Solidarität mit unterdrückten Menschen und sozial Benachteiligten, wie Kranken, Witwen
und Waisen. Denn Gott selbst steht
den Erniedrigten bei, wie es im Buch
des Propheten Jesaja 57,15 heisst. Die
dritte Deutung erwächst konsequenterweise aus den ersten beiden: Da der
Mensch Gott gegenüber demütig ist,
setzt er sich für seine Mitmenschen in
Not ein und kann sich deswegen selbst
als Person zurücknehmen, ohne selber
seine Würde zu verlieren.
Urbild der Demut
Diese Grundhaltung der Demut findet
seine Fortsetzung in der Person Jesu.
Jesus kann als Urbild der christlichen
Manfred Kulla, Dr. theol., Studium
der Theologie, der Philosophie und
der Erziehungswissenschaften in
Münster und Bonn. Religionslehrer,
Pfarrei- und Jugendseelsorger, zurzeit pastoraler Leiter der grössten
Pfarrei von Zürich. Tätigkeit in der
Erwachsenen- und der Lehrerweiterbildung; zahlreiche Veröffentlichungen.
Demut bezeichnet werden. Die Kernaussage seiner Botschaft lautet: «Ich
bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben.» Wie ein
Leben in Fülle aussehen kann, hat Jesus beispielhaft vorgelebt. Die Kraft für
sein Handeln schöpfte er aus einem
unerschütterlichen Glauben an den
Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der
alle Menschen liebt. Herkunft, Geschlecht und gesellschaftliche Stellung
spielten für ihn keine Rolle. Sein besonderes Augenmerk galt den Menschen am Rand der Gesellschaft.
Die vielen Wundererzählungen, welche die Evangelien überliefern, wollen
verdeutlichen, dass Menschen aus Situationen der Not und des Unglücks
herausgeführt werden. Unheilbar
Kranke erhalten eine neue Perspektive, Ausgestossene wie Prostituierte
und Zöllner werden in die Gemeinschaft neu integriert.
Jesus betrachtet seinen selbstlosen
Einsatz für die Mitmenschen als Dienst
Fachwissen
15
Leben mit Mut zum Dienen
aus Liebe zum Nächsten und zu Gott.
Die Evangelien schildern, wie Jesus am
Tag vor seinem Tod zusammen mit seinen Jüngern das Paschamahl – oder,
wie es in der liturgischen Tradition
heisst, das letzte Abendmahl – feiert.
Vor dem Mahl übernimmt Jesus die
Aufgabe des geringsten Dieners und
wäscht seinen Jüngern die Füsse. Zur
Zeit Jesu war es üblich, sich beim Betreten des Hauses zu reinigen. In Häusern reicherer Bürger halfen Sklaven
bei diesem Reinigungsritual. Dieser
Dienst an seinen Jüngern erniedrigt Jesus nicht, er nimmt ihm auch nicht seine Würde, sondern zeichnet ihn als
den Gesalbten Gottes, als Messias,
aus.
Seinen Erfolg als Wanderprediger wertet er indes nicht als persönliche Leistung. Er weiss sich immer gebunden
an Gott, den er liebevoll «Vater»
nennt. Sein Erfolg ist ein Zeichen für
die Wirkkraft Gottes. Sein Einsatz für
einen Gott, der «die Niedrigen erhöht
und die Mächtigen vom Thron stürzt»,
wie es im Magnifikat, dem Loblied
Marias, heisst, fordert die weltliche
und religiöse Obrigkeit auf den Plan.
Den Weg, der im Prozess und letztlich
in seinem Tod am Kreuz endet, nimmt
er erhobenen Hauptes unter die Füsse. Sein Tod ist kein Scheitern. Er ist die
konsequente Umsetzung seines Lebensmottos: «Das ist mein Gebot, dass
ihr euch untereinander liebt, wie ich
euch liebe. Niemand hat grössere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für
seine Freunde» (Joh 15,12–13).
Demut ist nicht mit Unterwürfigkeit zu
verwechseln, die Ungerechtigkeit
wortlos hinnimmt. Als Jesus während
des Verhörs geschlagen wird, entgegnet er dem Täter, er solle ihm das Unrecht nachweisen. Könne er dies nicht,
dann gebe es keinen Grund für die Gewalt. Jesus besteht auf seinem Recht.
Gelassen kann Jesus angesichts des
Todes am Kreuz sagen: «In deine Hände lege ich meinen Geist» (Lk 23,46).
Ein frühchristlicher Hymnus fordert
die Christen auf, der Demut Jesu zu
folgen: «Seid so unter euch gesinnt,
wie es auch der Gemeinschaft in
Christus Jesus entspricht. Er, der in
göttlicher Gestalt war, hielt es nicht
für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäusserte sich selbst und
nahm Knechtsgestalt an, ward den
Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er
erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode
am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott
erhöht und hat ihm den Namen
gegeben, der über alle Namen ist»
(Phil 2,5–9).
Demut: Fluch oder Segen?
Ob Demut zum Segen oder Fluch
wird, hängt davon ab, wie diese
Grundhaltung gelebt wird. Demut
kann auch für einen nicht religiös orientierten Menschen zum Segen werden. Segen bedeutet ja, sich einer
transzendenten Wegbegleitung bewusst zu sein, die dem gesegneten
Menschen die Sicherheit gibt, den Lebensweg zu meistern. Demut setzt immer den freien Willen voraus, den Mut
zum Dienen aus eigenen Stücken aufzubringen. Ein Mensch, der demütig
lebt, weiss, dass seine persönliche Leistung immer von vielen Faktoren abhängt, die er selbst nicht bestimmen
kann. Bereits unser Leben, ja selbst unsere Begabungen sind ein Geschenk.
Zum Beispiel sind jeweils viele Mitarbeiter am Erfolg einer Abteilung beteiligt, nicht nur deren innovative Führungskraft. Demut kann in solchen
Glückmomenten vor Überheblichkeit
und Selbstüberschätzung bewahren.
Topmanager, die ernsthaft behaupten,
sie würden ein Salär in einer zwei- oder
dreistelligen Millionenhöhe verdienen,
sind bereits der Gefahr der Überheblichkeit erlegen. Sie stören damit nicht
nur den sozialen Frieden, sondern reduzieren auch die Leistungsfähigkeit
der MitarbeiterInnen. Dies ist volkswirtschaftlich betrachtet ein grosser
Verlust.
Die Überheblichkeit und der Hochmut
sind nach Augustinus grosse Übel, die
nur durch die Demut zu überwinden
sind. Demut führt zu einer Haltung der
Dankbarkeit, welche die Leistung des
anderen ohne Neid anerkennt. Der andere wird nicht als Konkurrent betrachtet. Der heilige Paulus fordert seine Gemeinde sogar auf, den anderen
in Demut höher zu achten als sich
selbst (Phil 2,3). Der Fussballstar Valé-
rien Ismaël etwa, der 2004 mit Werder
Bremen deutscher Meister wurde,
nannte als Erfolgsrezept seiner damaligen Mannschaft die demütige Haltung der Leistungsfähigkeit der gegnerischen Mannschaft gegenüber.
Zum Fluch kann Demut hingegen werden, wenn ich sie als Aufforderung
missverstehe, ständig die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Ansichten
leugnen zu müssen. Dann stellt sich
nicht Zufriedenheit ein, sondern
Zwang. Hier wird dann auch gegen
das Gebot der Liebe verstossen: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.»
Sich realistisch einschätzen
Demut kann idealerweise zu einer Haltung der Gelassenheit führen, die gerade in unserem heutigen hektischen
Alltag bitter notwendig ist. Gelassen
kann dann die eigene Person realistisch betrachtet werden. Der legendäre Papst Johannes XXIII. sagte über
sich selbst: «Giovanni, nimm dich nicht
so wichtig.»
Einer Legende nach wird der heilige
Franziskus von einem Mitbruder gefragt, warum gerade ihm alle Welt hinterherlaufe. Franziskus gibt ihm zu
Antwort: «Da nun diese heiligen Augen Gottes unter den Sündern keinen
erblickt haben, der geringer als ich, untauglicher und sündhafter als ich gewesen wäre, und er auf der ganzen
Erde keine geringere Kreatur finden
konnte, um jenes wunderbare Werk
zu vollenden, das er zu tun gedenkt, so
hat er mich erwählt, die Welt in all ihrem Adel und Stolz, in ihrer Kraft, ihrer Schönheit und ihrer Weisheit zu beschämen» (Rotzetter 1990).
Demut kontra Demütigung
Die Haltung der Demut beginnt immer
mit der Reflexion der eigenen Standpunkte. Demut kann ich zuerst nur
von mir selbst fordern. Von Menschen
Demut zu verlangen, die erniedrigt
werden, ist Verhöhnung ihrer Würde.
Was diese benötigen, ist zuerst die Erfahrung von Selbstbewusstsein und
Würde.
Hingegen sollten Menschen, die oben
sind und über anderen stehen – zum
Beispiel als Amtsträger –, die Haltung
üben, die Jesus vorgelebt hat: «Sich
>>>
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Fachwissen
Im Second Life
Ich bin du bist sie ist wir
Das Second Life: Dieser jüngst oft beschriebene virtuelle Raum ist der Entwurf eines anderen, eben zweiten Lebens. Insgesamt 5,5 Millionen User
waren schon da. Sie kommunizieren
miteinander, treiben Handel, treffen
sich in Clubs oder haben Cybersex. Sie
erfinden sich immer wieder neu, sie
wechseln ihr Aussehen, sie lassen sich
eine neue Frisur verpassen, sie fliegen.
Alles gegen Bezahlung.
>>>
gung. Er schien weder für Tiepolo
noch für mich Zeit und Interesse zu
haben. So ist es hier. Ich bin völlig uninteressant, ich biete nichts, ich verkaufe nichts. Wenig später traf ich ein
Paar. Mann und Frau. Alter unbestimmt. Ich sprach die beiden auf Englisch an. Die Frau antwortete mir, er
blieb stumm. Sie hiess Clarissa und
fragte mich, wieso ich sie anspreche.
Ich: «’Cause I feel lonely here.»
Sie: «Nice tie. Do you sell it?»
Ich verneinte.
Sie: «Have fun.»
Klares Zeichen, dass ich gehen musste. Willkommen im Second Life. Meine Welt ist ein digitaler Datenstrom.
Hier bin ich Semantico Morigi. Ein
Name, genauso künstlich wie alles andere, was ich bin. Ich benötige weder
Wasser noch Brot, ich schlafe nie und
bin niemals müde. Geboren wurde ich
vor genau sieben Stunden. Ich trage
ein weisses T-Shirt, eine lachsfarbene
Krawatte und braune Hosen. Auf
Schuhe stehe ich nicht, trotzdem gehe
ich stets zu Fuss – oder ich fliege. Ich
arbeite nicht und pflege auch keine
Hobbys. Ich schaue mich in der Stadt
um, flaniere in den Abend hinein und
plaudere mit meinen Mitbürgern.
Manchmal gebe ich mich als Musiker
aus, manchmal als Professor für
Schlangen-Orthopädie. Hin und wieder gebe ich auch offen zu, dass ich
doch eigentlich eine Frau bin. In dieser Welt ist alles möglich. Gestern
sprach ich an einer Ecke einen Künstler – er schien eigene Gemälde zu verkaufen – auf Italienisch an und berichtete ihm, dass ich gerade bei einem
Kollegen auf Besuch gewesen sei, der
eine Kopie einer Freske von Tiepolo
an der Wand hängen habe. Venezianische Kunst eben, er wisse doch Bescheid, oder? – Er beachtete mich
nicht. Keine Antwort, keine Bewe-
Der peruanische Schriftsteller Mario
Vargas Llosa schrieb einst, dass Romane schreiben ein Aufstand gegen die
Wirklichkeit, gegen die Schöpfung
Gottes sei. Der Schriftsteller wird selbst
zum Schöpfer einer anderen Wirklichkeit. Er schreibt gegen die Lebenswirklichkeit an und kreiert einen neuen
Lebensraum mit eigener zeitlichräumlicher Orientierung. Jeder Roman
entwirft eine ganz eigene Parallelwelt.
Diese Welt eröffnet jedem Lesenden
die Möglichkeit, eine bis dato unbekannte Reise zu unternehmen – eine
Reise, die auf der Grundlage der Romanhandlung von der eigenen Vorstellungskraft getragen wird. Romanfiguren wird Leben eingehaucht, ihre
Konturen, ihre Mimik und Gestik werden sichtbar, man nimmt ihre Stimmen
wahr, und die jeweilige Lebensumwelt
wird auf einer inneren Leinwand mehr
oder weniger minuziös ausgemalt. Es
entstehen Häuser, Strassen, ja ganze
niederbeugen zum Kleinen und Unscheinbaren, sich auf der Ebene der
Schwachen ansiedeln und in konsequenter Solidarität mit den Armen,
Schwachen, Leidenden und Opfern leben» (Rotzetter 1990). Demut kann
zu der Erkenntnis führen, dass ich aus
Solidarität mit Menschen in Not meinen Lebensstandard herunterfahre.
Demut setzt immer Entscheidungsfreiheit voraus. Dort, wo Menschen aber
gezwungen werden, auf einen Teil ihres Lohnes zu verzichten, oder ihrer
Rechte beraubt werden, offenbaren
sich die Mechanismen der Demütigung. Denn Demut hat nichts mit der
Erniedrigung anderer Menschen zu
tun. Demütigung hingegen tritt die
Würde der Menschen mit Füssen. Demut bekämpft Demütigung. Sie nivelliert Hierarchie und soziale Unterschiede: «Wenn nun ich, euer Herr und
Meister, euch die Füsse gewaschen
habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füsse waschen» (Joh. 13,14),
wie Jesus sagt.
Manfred Kulla
Städte. Pferdekutschen, Ruderboote
oder Flugzeuge dienen als Fortbewegungsmittel. Es treten unbekannte
Menschen auf, junge Frauen, Kinder
oder ganze Familien. Die einen bleiben, andere wiederum verschwinden
bereits nach wenigen Seiten. Wenige
schliesst man ins Herz, viele vergisst
man schon nach kurzer Zeit. Ein Roman ist wie eine riesengrosse Blaupause. Sie leitet uns beim Lesen an, eine
neue Welt zu erschaffen. Somit nimmt
nicht nur der Schriftsteller am Aufstand gegen die Wirklichkeit teil, sondern im Grunde auch jede Leserin und
jeder Leser.
Ich stehe auf einer Brücke. Unter einer
Strassenlaterne steht eine Gruppe
Menschen. Ich gehe auf sie zu und
schaue mich als Erstes näher um. Keine Ahnung, was das hier soll. Eine
Versammlung, eine Demonstration
oder einfach nur ein Treffen einsamer
Herzen? – Ich spreche eine junge Frau
an. Gut gebaut, auffällig gekleidet. Sie
erinnert mich an Ursula Andress.
Ich: «Hi, Bond girl.»
Sie: «Hi, Goldfinger.»
Ich: «What’s up?»
Sie: «We are looking for Dr. No.»
Ich muss lachen, so viel Humor hätte
ich nicht erwartet: «Dr. No is a bitch.
A loser. The most wanted criminal,
that’s me! Me, Goldfinger. I am the
best.»
Sie: «Sure, you are the best. And where is your Bond, your James Bond?»
Ich: «I killed him last night. A smart
guy. But not smart enough.»
Sie: «I like you.»
Ich: «Me, too.»
Literatur
Anton Rotzetter: Von Demut, Frieden
und anderen Torheiten. Freiburg i. Ue.
1990.
Donata Schoeller Reisch: Enthöhter
Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von
Meister Eckhart und Jakob Böhme.
Freiburg/München 1999.
Eckhart Zemmrich: Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs. Berlin 2006.
Fachwissen
Im Second Life
Sie: «My name is Frida.»
Ich: «My name is Semantico.»
Frida ist meine erste gute Freundin in
meiner Welt. Ich würde ihr meine Krawatte schenken.
Der Mensch besitzt eine Kraft des
«Welt-Schöpfenden». Jede Schauspielerin schlüpft ständig in neue Rollen und richtet sich für die Dauer ihres
Auftritts in einer anderen Existenz ein.
Die Lebenswirklichkeit wird erhellt
durch das Licht einer anderen Wirklichkeit. Die Grenzen beginnen zu mäandern, sie fliessen ineinander über.
Die eine Ich-Variante wird abgelöst
durch ein andere. Einen Höhepunkt
dieses menschlichen Verwandlungsvermögens, dieser Spielart der Kraft
des «Welt-Schöpfenden», könnte
man im Treiben des Karnevals erblicken: Die Maskerade ist die Sichtbarmachung einer anderen Ich-Variante.
Wer ich bin, wird unvermittelt zu einer
Frage nach der wahrnehmbaren IchVariation – und am Ende zur Frage des
Identitätsverständnisses.
Frida ist eine feine Person. Sie ist
schon einige Monate alt, hat bereits
vieles erlebt und möchte gerne heiraten oder einer Terrororganisation beitreten. Deshalb wohl ihr Interesse für
mich beziehungsweise Goldfinger. Sie
mag Männer, aber auch Frauen. Sie
schläft auch nie, selbst nach einem
Sexabenteuer nicht. Sex ist in meiner
Welt allgegenwärtig. Frida weiss da
Bescheid. Sagt sie.
Sie: «Do you like sex?»
Ich: «No, not at all.»
Sie: «Like Goldfinger or any other criminal, I suppose. Too much criminal
energy. It’s not good for sex life.»
Ich: «Right. Killing people is funnier.»
Sie: «I want to be your pupil. You’ve
to teach me everything.»
Ich: «You know, you have to pay for
that.»
Sie: «No prob, I give you sex, you let
me know how to kill.»
Frida war ein feiner Mensch. Nach
dieser Unterhaltung fand ich sie eher
langweilig. Ich treffe sie nicht mehr.
Sie war meine erste gute Freundin.
Meine Krawatte habe ich ihr nicht gegeben.
Dass der Mensch womöglich verschiedene Identitäten leben kann, wird geradezu exemplarisch im Second Life.
Dieser in den letzten Monaten oft beschriebene und diskutierte Internet3-D-Raum ist der Entwurf eines anderen, eben zweiten Lebens. In Form eines Avatar, einer individuell kreierten
Kunstgestalt, verbringen Tausende
von Menschen täglich etliche Stunden
in diesem übergrossen Interaktionsraum. Second Life zählte Mitte April
rund 5,5 Millionen User, wovon
durchschnittlich rund 40 000 täglich
online sind. Entwickelt wurde Second
Life bereits vor Jahren, richtig bekannt
wurde diese Internet-Kunstwelt erst
gegen Ende letzten Jahres. Grundlage
von Second Life ist Interaktion. Avatare können miteinander wie in herkömmlichen Chaträumen kommunizieren, sie treiben Handel, treffen sich
in Clubs oder gönnen sich auch mal
«intime» Kontakte. Die Nachbildung
der wirklichen Lebenswirklichkeit ist
ein zweites Merkmal im Second Life:
Es gibt eine eigene Währung, Bordelle, Erholungsoasen und sogar eine Tageszeitung. Grosse Firmen wie Sony,
Toyota oder IBM unterhalten einen eigenen Standort im Second Life – einige Unternehmen weisen diese sogar
auf ihrem Briefpapier aus. Avatare
wechseln ihr Aussehen, indem sie sich
neu einkleiden oder sich eine neue Frisur verpassen lassen. Natürlich gegen
Bezahlung. Im Second Life ist man
ohne Geld ein Nichts. Man kann Land
kaufen oder gleich eine ganze Insel.
Alles hat seinen Preis, selbst die kleinste Dienstleistung. Nach Angaben von
Linden-Lab, der kalifornischen Gründerfirma von Second Life, wird täglich
rund eine Million Dollar umgesetzt –
die Second-Life-Währung kann in
ganz normale Dollars gewechselt werden. Bereits soll eine gewiefte Immobilienmaklerin ihr erste Dollarmillion im Second Life erwirtschaftet haben. Die meisten Second-Life-User
stammen aus den USA, aus Frankreich
und Deutschland. Die grösste Gruppe
stellen die 25- bis 34-Jährigen dar, gefolgt von den 18- bis 24-Jährigen. Das
zweite Leben im Second Life erinnert
stark an das erste Leben, nur gilt hier
keine Schwerkraft, und der Mensch
muss nicht als Mensch sichtbar sein,
sondern darf auch ein Kuscheltier oder
ein feuerspeiender Drachen sein. Der
Mensch lebt in vielen Erzählungen,
und die Welt ist wie jede Romanvorlage eine eigentliche Bühne, auf der
wir unser Leben aufführen. Menschen
sind Rollenträger, sie sind die Hauptfiguren ihrer unterschiedlichen Erzählungen. Second Life stellt eine weitere Bühne für eine neue Erzählung dar.
Nichts mehr, aber auch nichts weniger.
Claudio Moro
www.secondlife.com
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Fachwissen
Im Second Life – Theorie und Thesen
«Wie eine Strohpuppe auf dem Kornfeld»
Unsere Wahrnehmung beginnt und
endet im Kopf. Was wir sehen, ertasten oder hören, ist nicht dasselbe, was
unser Nachbar sieht, ertastet oder
hört. Realität verlangt eine Deutung.
Im Zeitalter von Second Life wird diese Deutungsarbeit noch brisanter: Wie
real ist virtuelles Leben? – Ein Gespräch mit Kommunikationswissenschaftler Tilo Hartmann.
punktum.: Herr Hartmann, was ist
nun «Realität»?
Tilo Hartmann: Realität ist eine Konstruktion. Davon zeugen bereits einfache wahrnehmungspsychologische
Experimente. Die Konstruktion von
Realität ist zwar letztlich subjektiv,
aber sie verläuft nicht bei jedem Menschen komplett anders, denn sonst
wäre so etwas wie Verständigung ja
gar nicht möglich. Menschen konstruieren ihre je eigene Realität auf Grundlage des gemeinsamen evolutionären
und kulturellen Hintergrunds auf ähnliche Weise. Realität ist dabei eine Art
subjektiver Nacherzählung der Wirklichkeit, die wir über unsere Sinnesorgane erfassen. Je kohärenter die Sinneseindrücke sind und je schlüssiger
die Logik des Dargestellten ist, desto
überzeugender, realer finden wir die
daraus entwickelte Nacherzählung.
Nach demselben Prinzip funktionieren
überzeugende virtuelle Realitäten.
Wo beginnt die Virtualität?
Virtualität ist dasselbe wie Medialität.
Sie ist ein Merkmal der Sinnesumwelt,
die wir wahrnehmen, und liegt dann
vor, wenn die natürliche Umwelt von
Menschen manipuliert wurde, um eine
Illusion zu generieren. Zum Beispiel ist
eine Strohpuppe auf dem Kornfeld bereits virtuell, denn die geformten
Strohballen sollen ja einen Menschen
simulieren. Virtuell sind also alle mit
Hilfe menschlicher Technologien entwickelten Kopien, Nachahmungen
und Imitate von Dingen oder Begebenheiten aus der Wirklichkeit. Medien produzieren daher per Definition
eine virtuelle Realität, selbst wenn sie
diese lediglich kopieren, zum Beispiel
mittels Kameraaufnahme. Mitunter
erschaffen Medien fiktionale virtuelle
Welten, etwa in Fantasy-Büchern oder
auch im Internet. In diesen Welten
wird vieles aus der Wirklichkeit kopiert
und imitiert: Handlungsabläufe, Gut
und Böse usw. Dennoch gibt es kein
direktes Pendant zu den medialen
Welten in der Wirklichkeit, weswegen
sie zugleich virtuell und fiktional sind.
Im Second Life nimmt man eine andere Identität an, die doch Teil des Selbst
ist. Wie viel Ichs besitzen wir?
Das kommt natürlich darauf an, welchem Identitätsverständnis man folgt.
Identität kann als eine Art Selbstverständnis begriffen werden, das eine
Person von sich aufbaut, das relativ
beständig ist und nach Schlüssigkeit
strebt, aber zugleich über die gesamte
Lebensspanne immer wieder angepasst werden muss. Verschiedene
Sphären, in denen sich ein Mensch im
Alltag bewegt, vermitteln unterschiedliche Teile des Selbstverständnisses, die
nicht selten unvereinbar nebeneinanderstehen. Virtuelle Welten wie das
Second Life bieten ebenfalls eine
Sphäre, um sich selbst zu erfahren, vor
allem in Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Sie tragen daher zur
Identitätsarbeit bei. Die Arbeit am Ich
kann dann konfliktreich werden, wenn
die virtuelle Welt den Nutzern ein
Selbstverständnis nahelegt, dass kaum
mit den Eindrücken zu kombinieren ist,
welche die Nutzer in anderen Sphären
ihres Alltags über sich gewinnen.
Die virtuelle Welt kann eine Gegenthese zum Alltags-Ich sein. Eine Welt,
in der wir unsere Träume zum Teil ausleben können. Eine patente Sache,
oder?
Ein entscheidendes Merkmal virtueller
Welten ist: Sie bieten realistische Alltagserfahrungen unter geschönten
Bedingungen an. Virtuelle Welten ermöglichen die Interaktion mit der Umwelt unter spielerischen Umständen.
Letztlich hat der Nutzer immer die
Möglichkeit, sich zu distanzieren und
die Umwelt als Illusion zu enttarnen.
Das verhilft zu weniger Ernsthaftigkeit.
Auch wenn es um soziale Interaktion
geht, bieten virtuelle Welten die Möglichkeit, die Ernsthaftigkeit des Geschehens stufenweise zu regulieren.
Der Nutzer kann nämlich selbst ent-
Tilo Hartmann ist Kommunikationswissenschaftler am Institut für
Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Er beschäftigt sich eingehend
mit der Nutzung, Wahrnehmung
sowie Entwicklung virtueller Welten.
scheiden, wie sehr sein wirkliches Ich
durch eine Maske – zum Beispiel einen
Avatar – verdeckt oder durch entsprechende Informationen in Text und Bild
preisgegeben werden soll. Soziale Interaktionen sind natürlich weniger beängstigend, wenn man dabei eine
Maske aufhat. Jedoch: Je stärker ein
Nutzer auf die Erfahrungen in seiner
virtuellen Rolle im Alltag angewiesen
ist, desto eher tritt der Spielcharakter
in den Hintergrund. Da kann es schon
wehtun, wenn die fiktionale Spielfigur
von anderen beleidigt wird.
Wie verändert sich das Sozialleben eines Second-Life-Users wirklich?
Nehmen wir einen schüchternen, aber
im Grunde geselligen Vielspieler an.
Zunächst einmal dürfte sich der Freundeskreis des Nutzers zu seiner Freude
vergrössern. Dank der Anonymität
hinter der Maske des Avatars überwindet er seine Schüchternheit, um seinem Bedürfnis nach Geselligkeit nachzukommen. Der Spieler knüpft dauerhafte Kontakte zu anderen Nutzern.
Sein Avatar trifft sich immer wieder mit
Fachwissen
Im Second Life – Theorie und Thesen
deren Spielfiguren im Second Life. Infolge einer raschen intensiven Selbstoffenbarung entwickeln sich intensive
Cyberbeziehungen, wohlmöglich sogar romantische Erlebnisse. Sofern die
Erfahrungen, die der Nutzer in seiner
virtuellen Rolle macht, die Attraktivität
seiner Optionen im Alltag, etwa eines
Discobesuchs, überstrahlen, kommt es
zu einer verstärkten Abkehr von der
Wirklichkeit und einer Zuwendung zur
virtuellen Realität. Problematisch kann
es sein, wenn sich dieser Zustand erhärtet, weil ein komplettes Leben in
der virtuellen Welt nicht möglich ist,
die Wirklichkeit aber umso unbefriedigender erscheinen mag. Womöglich
ist der Nutzer aber auch interessiert,
eine romantische Cyberbeziehung in
die Wirklichkeit zu übersetzen, zum
Beispiel um körperliche Erfahrungen
möglich werden zu lassen. Vorsichtig
wird dann die Anonymität zugunsten
eines direkteren Kontakts aufgelöst:
SMS, Briefaustausch, Telefon, Face-toFace-Treffen.
Was kommt noch auf uns zu im Bereich der virtuellen Welt?
Virtuelle Welten werden in vielen Facetten realistischer werden. Vor allem
die Ansprache der Sinneskanäle wird
sich verbessern – zu besser stimulierten Sinnen. Zurzeit haben wir es zu
Hause häufig mit Umgebungen zu tun
ohne richtige grafische Tiefe, mit nur
spärlichem räumlichem Klang, ohne
haptische oder olfaktorische Eindrücke
oder Empfindungen von Gleichgewicht und Wärme. Das wird sich in Zu-
'ENERATIONENPSYCHIATRIE
*AHRESKONGRESS 3'+*00 UND 3'00
/RT
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"EGINN DES +ONGRESSES
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%NDE DES +ONGRESSES
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!NMELDUNG
ZZZSV\FKLDWULHFK
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3V\FKLDWULH0XVHXP %HUQ
kunft ändern und zu einem stärkeren
Präsenzerleben in den virtuellen Realitäten führen. Der Mensch hat sich von
seiner natürlichen Umgebung und seiner angestammten Veranlagung im
Zuge der kulturellen Evolution immer
unabhängiger gemacht; man denke
nur an die Fortschritte in der Medizin.
Medientechnologie spielt hierbei
ebenfalls eine entscheidende Rolle:
Durch Medien haben wir unsere Umwelt neu gestaltet, unsere Fähigkeiten
erweitert und uns zugleich von unserer ursprünglichen Veranlagung, zum
Beispiel unserem Körper, entfernt. Ich
denke, virtuelle Realitäten wie das Second Life sind ein weiterer Schritt in
dieser Entwicklung, und vermute daher, dass sich in Zukunft ein nicht unbedeutender Teil unseres Alltagslebens
in virtuellen Realitäten abspielen wird.
Ganz einfach deshalb, weil sich dort
viele Limitationen der menschlichen
Natur und der Wirklichkeit per Technik
überwinden lassen.
Werden wir dann glücklicher sein?
Glück ist ein flüchtiger Gefühlszustand. Und der Mensch gewöhnt sich
erstaunlich rasch an eine veränderte
Umwelt, ob diese nun eher lebensfreundlich oder -feindlich ist. Aber der
träge Partner des Glücks, die Lebenszufriedenheit eines Menschen, die auf
Erfahrungen von Autonomie, Kompetenz und sozialer Zugehörigkeit beruht, könnte durch virtuelle Welten
schon erhöht werden. Denn alle drei
Aspekte lassen sich in der virtuellen
Welt ja gut erfahren. In Zeiten einer
flexiblen und globalen Arbeitswelt
brauchen wir zum Beispiel Möglichkeiten, um soziale Zugehörigkeiten
aufrechtzuerhalten. Vielleicht teleportieren wir uns in Zukunft zu Freunden,
die am anderen Ende der Welt leben
– aber eben in der virtuellen Realität,
weil es in der Wirklichkeit prinzipiell
unmöglich ist. Natürlich können wir
uns aber von der Wirklichkeit nicht in
jeder Hinsicht und für alle Zeiten lösen. Ein entscheidender Punkt wird
daher sein, die virtuelle und die reale
Welt sinnvoll miteinander zu verknüpfen, damit es nicht zu Brüchen
kommt.
Interview: Claudio Moro
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Fachwissen
Wenn Lebensträume platzen
Untergang im Klangmeer
Die ausgebildete Cellistin Karin Linsi
hat ihren Traum, von der Musik ein
Lebensauskommen zu finden, entschwinden sehen. Sie scheiterte am
extremen Leistungsdruck, den das Geschäft mit der Musik ihr abverlangte.
Stattdessen hat sie ein Buch über ihre
Erfahrungen verfasst: «Tasten auf
dünnem Eis».
«Aus dem grossen Saal der Musikhochschule dringt erneut Applaus in
den Raum hinter der Bühne. Mara
steht auf, spürt dabei leichten Schwindel, setzt sich im Nebenzimmer ans
Klavier, spielt nochmals die ersten
Takte ihrer Beethovensonate. – So, genau so soll es nachher im Saal auch
klingen! Diesem Stück ist sie das einfach schuldig!
Mara greift nach dem Fläschchen in
ihrer Hosentasche, schüttet ungezählte homöopathische Globuli in die
Hand und versucht an deren Wirksamkeit zu glauben. Dann geht sie
nochmals zur Toilette. Als sie zurückkehrt, hört sie ihren Vorgänger bereits
die letzte Passage spielen.
‹Hey, Mara, du bist ja kreideweiss!›
Carlo betrachtet Mara amüsiert. Er hat
bereits vorgespielt und schlendert nun
mit einer Zigarette in der Hand und
aufgeräumtem Gesicht hinter der
Bühne herum.
‹Ja?› Mara lacht nervös. ‹Ich bin einfach unmöglich. Aber jetzt bin ich
gleich dran …›»
So, wie ich es in meinem autobiografischen Roman «Tasten auf dünnem
Eis» beschreibe, habe ich unzählige
Male hinter einer Bühne gewartet, gezittert und gelitten – und es doch immer wieder freiwillig getan. Ich habe
Musik studiert, mit Hauptfach Violoncello. Doch mein Diplom liegt seit meinem Studienabschluss ungenutzt in
der Schublade. Der Berufstraum Musikerin ist ausgeträumt.
Schon als Mädchen litt ich unter diffusen, belastenden Ängsten, hoffte aber
immer, die würden sich dann schon
von selbst legen. Ich wollte einfach unbedingt Musikerin werden, mit viel
Lob bestätigt und gefördert von meiner Cellolehrerin. Ich liebte mein Cello, mein Klavier, die Musik, und ich
fand es faszinierend, mich einem Stück
anzunähern und musikalisch sowie
technisch an ihm zu feilen. Ich litt aber
auch unter enormem Lampenfieber,
drückte mich jeweils vor Schülerkonzerten, bis mich meine Lehrerin zwingen musste. Musikerin blieb mein
Traumberuf.
Musik an sich ist ja auch etwas Wunderbares. Ich denke, ihren Wert kennt
jeder Mensch für sich persönlich. Musik vermag wie keine andere Kunstform ganz unmittelbar zu berühren,
Stimmungen zu erzeugen, blockierte
Tränen hervorzulocken – so an Beerdigungen, wo erst beim Einsetzen der
Musik beherrschte Menschen überwältigt werden. Jedes Lebewesen
kann von Musik berührt werden,
schon Ungeborene und Säuglinge, sogar Pflanzen. Lebewesen, die mit Malerei oder Literatur keine Reaktion zeigen könnten.
Und wahrscheinlich kennt jeder das
Gefühl, dass er sich beim Erklingen eines bestimmten Musikstücks sofort an
ein berührendes Ereignis erinnert,
auch wenn es lange zurückliegt. Musik kann Stimmungen erzeugen, man
kann beim Zuhören die Augen schliessen, eintauchen, den Alltag vergessen.
Sie kann aber auch so mitreissen, dass
man sich beinahe zwangsläufig bewegen muss. Musik lässt viele Mensche
zu mehr innerer Harmonie finden.
Mein späteres Studium an der Musikhochschule war eine bereichernde
Zeit. Die Begabung bestätigte sich
durchaus. Und cellistisch glaubte ich
hoffnungsvoll und blauäugig an eine
spätere Existenz als Kammermusikerin,
mit ein paar ergänzenden Unterrichtsstunden und gelegentlichen Kammerorchestereinsätzen zur finanziellen Sicherheit: ein Traum vieler Musikstudenten.
Parallel zu Erfolg und Anerkennung
hatte sich aber schleichend meine
Angst (Agoraphobie, soziale Phobie,
Zwanghaftigkeit) immer tiefer in mir
eingegraben. Immer mehr Situationen
bereiteten mir Herzklopfen und andere Symptome. In einem Umfeld, in
dem es permanent um Auftreten und
Exponieren geht, eine eigentlich unerträgliche Situation. Zudem spürte ich,
wie sehr ich mich während des Spiels
Karin Linsi, geboren 1967, studierte Violoncello in Luzern und Utrecht
(NL). Später erledigte sie Text- und
Übersetzungsaufträge. Nach einigen Jahren wurde ihre Sehnsucht,
sich wieder kreativ auszudrücken,
immer drängender. Sie begann zu
schreiben und sich damit einer Ausdrucksform zu widmen, die sie lange zugunsten der Musik zurückgestellt hatte. Heute lebt sie in Luzern.
verspannte, buchstäblich atemlos
wurde. Getrieben vom Wunsch, bei
der Interpretation eines Werkes dem
Komponisten gerecht zu werden und
seine Absichten zu verwirklichen, entfernte ich mich von mir selbst, verlor
mich gleichsam in meiner hohen Konzentration.
Dennoch: Meine Diplomprüfung gelang schliesslich und öffnete mir das
Tor zur Welt der Berufsmusik. Ein Jahr
Auslandstudium hängte ich noch an.
Danach war die Gnadenfrist verstrichen. Ich konnte mir nicht länger einreden, meine psychische Labilität würde sich schon auswachsen. Die Zeit
war gekommen, Arbeit zu suchen.
Ich kapitulierte.
«Mara steht vor einer langen Werkbank
mit Stapeln von Schuhkartons und
klebt Preisetiketten in Hunderte von
Turnschuhen, Stöckelschuhen, Pantoffeln … Aus einem Radio, das seit Jahrzehnten in der Fabrikhalle zu stehen
scheint, schallt ein Countrysong.
Fachwissen
Wenn Lebensträume platzen
Das Diplom der Musikhochschule
liegt zu Hause in einer Schublade –
überflüssig beim Schuhpreiskleben,
für die Arbeit als Aufseherin im Kunstmuseum, beim Bestücken von Weihnachtsgeschenkkörben mit Delikatessen. Sobald Mara sich ans Klavier
setzt, wird sie traurig. Deshalb lässt
sie es bleiben. Klassische Musik hören
macht sie auch traurig, deshalb hört
sie Jazz oder gar nichts. Die Zukunft
liegt in einem Nebel aus Zweifeln, wo
sich neue Wurzeln schlagen liessen.»
Arbeit als Musiker bedeutet normalerweise entweder Unterrichtstätigkeit
oder eine Orchesterstelle. Beide Arten
der Berufsausübung erschienen mir
undenkbar: Beim Thema Unterrichten
waren es die Angst vor dem engen
Kontakt mit Schülern und Eltern sowie
das subjektive Gefühl des Eingeschlossenseins während der Lektionen. Bei
der Variante Orchestermusikerin war
die Angst vor dem Eingesperrtsein
noch viel ausgeprägter.
Während eines Konzertes die Bühne
verlassen wegen akuter Angst? Unvorstellbar! Und selbst während Proben «tut man das nicht», daher hatten
mir während des Studiums auch diese
zunehmend Herzklopfen bereitet. Zudem war ich viel zu wenig nervenstark,
um beim Probespielen, bei der Bewerbung für ein Orchester, mit der gnadenlos verlangten Perfektion vorzuspielen, mich innerhalb von vielleicht
dreier Minuten auf Knopfdruck und
ohne zitternde Finger zu beweisen und
mein musikalisches Potenzial auszubreiten.
Dass ich nun meinen jahrelang vorgezeichneten Berufsweg verlassen musste, löste eine tiefe Krise und Sinnsuche
aus.
Wenn ich heute sehe, was ein Dasein als
Cellistin bedeutet hätte, sehe ich den
Abbruch allerdings auch positiv. Die
Konzertbesucher verklären oft das Leben eines Berufsmusikers. Beneidenswert, sich mit etwas so Schönem wie
Musik den Lebensunterhalt verdienen
zu dürfen … Was das Publikum nicht
weiss: dass sich beispielsweise auf eine
einzige Streicher-Orchesterstelle oft
weit über hundert Musiker bewerben
und dass Probespiele Stress pur sind.
Überhaupt besteht eine Diskrepanz
zwischen der allgemein verbreiteten
Vorstellung, Musiker seien besonders
sensibel, und der Tatsache, dass gerade
diese Künstlergruppe über eine ausgesprochen hohe psychische Belastbarkeit
verfügen muss. Obwohl natürlich Sensibilität für eine einfühlsame, inspirierte
Interpretation wiederum tatsächlich
notwendig ist beziehungsweise wäre.
Hat man dann die Orchesterstelle bekommen, beginnt die Härte des Alltags. Die Arbeit geschieht immer im
Angesicht einer kritischen Öffentlichkeit, die verwöhnt ist von instrumenten- und aufnahmetechnisch makellosen CD-Aufnahmen und daher ganz
selbstverständlich Höchstleistung verlangt. Ungünstige Dienstzeiten – morgens Probe und abends Vorstellungen
– kommen hinzu, wobei im Fall einer
abendfüllenden Opernaufführung
nach dem letzten Applaus nur wenige
Stunden Ruhezeit bleiben bis zur täglichen morgendlichen Probe. Tourneen
sind zusätzlich anstrengend, mit oft
dichtem Konzertprogramm und wenig
Rücksicht auf Zeitverschiebung.
Dazu kommt, dass durch die hohen
Anforderungen an Orchestermusiker
heute jene Musiker im Orchester sitzen, die von der Begabung und vom
Ehrgeiz her eigentlich eine Solo- oder
eine Kammermusikerkarriere angestrebt hatten. Bei dieser persönlichen
Qualifikation kann es besonders frustrierend wirken, im Orchester einer
unter vielen zu sein. Oder allenfalls unter einer uninspirierten, unfähigen Orchesterleitung spielen zu müssen.
Musik ist ein Markt geworden, Plattenlabels kreieren Stars ungefähr so,
wie neue Produkte lanciert werden,
und bestimmen weitgehend, ob klassische Musiker und Ensembles international berühmt werden, denn ohne
Label ist das schier unmöglich.
Alkohol- oder Tablettensucht sind unter (Orchester-)Musikern auffallend
weit verbreitet. Sehr viele Berufsmusiker haben zudem instrumentenspezifische körperliche Beschwerden wie
Muskelverspannungen, Rückenbeschwerden oder Gehörschäden, da sie
stundenlang in unnatürlichen Körperhaltungen und in höchster Konzentration verharren müssen.
Auch nur eine Anstellung als Lehrkraft
an einer ganz gewöhnlichen staatlichen Musikschule zu finden, ist heute
sehr schwer. Zudem können an einer
Musikschule oft nur wenige Stunden
unterrichtet werden; ein weiter Anfahrtsweg ist aber trotzdem in Kauf zu
nehmen. Dabei wird dieser Beruf finanziell zunehmend unsicher.
Sicher ist bei all diesen problematischen Aspekten die Liebe zur Musik
für Berufsmusiker ein tragendes Element, das viele, jedoch nicht alle
schwierigen Umstände ausgleichen
kann.
Für mich persönlich ist heute die
Hauptsache, mich künstlerisch betätigen zu können, sei es durch Schreiben,
Malen, Handarbeiten. Beim Musizieren habe ich nämlich noch nicht den
Weg gefunden von der Berufsmusikerin mit professionellem Anspruch zur
entspannten Hobbymusikerin.
Karin Linsi
Karin Linsi: Tasten auf dünnem Eis.
Books on Demand, 2006, 232 Seiten, Fr. 24.–, ISBN 978-3-83346107-1.
Mara, Patientin und genaue Beobachterin, nimmt den Leser mit in die
psychosomatische Klinik Dornhof
und lässt ihn deren Welt miterleben: Gruppentherapie, Familienaufstellung, tiefe Gespräche, Situationskomik. Dazwischen zeichnen
Erinnerungsszenen Maras Weg
vom begabten Mädchen zur vielversprechenden Pianistin, die an ihren Ängsten scheitert und nicht zurechtkommt mit dieser Welt. Sie
gibt ihr Berufsziel auf, gerät in eine
Spirale von Angst, Depression und
Magersucht. Bis sie mit dreissig in
die Klinik eintritt und zaghaft neue
Schritte wagt.
21
22
Fachwissen
Leben ohne Politik?
Schweizer Käse und Mortadella di Bologna
Politik prägt unser Leben insofern, als sie
einen Rahmen herstellt, der ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Tendenziell sinkende Stimm- und Wahlbeteiligungen sind ein Indiz für so etwas
wie politisches Desinteresse. Wie unpolitisch darf Leben sein? In der Schweiz?
In Italien? Der in Zürich wohnhafte Italiener Valerio Bonadei sucht Antworten.
Mit Politik sind wir täglich konfrontiert.
Am Morgen reisst uns der Radiowecker
aus dem Schlaf. Das Radioprogramm ist
nicht nur ein «Ufsteller» – es ist auch
staatlich konzessioniert. Alsbald suchen
wir für unsere Morgentoilette das Bad
auf. Wasserwerke und Kläranlagen sorgen dafür, dass Wasser in und aus unseren Haushalten fliesst. Kurzum: Was immer wir als Errungenschaften unserer Zivilisation betrachten, wäre ohne eine gut
funktionierende politische Gemeinschaft
kaum möglich. Unser Leben ist auch ein
politisches Leben. Dennoch interessiert
sich ein beträchtlicher Bevölkerungsteil
kaum für Politik: Die durchschnittliche
Wahl- und Stimmbeteiligung liegt bei
rund 50 Prozent.
Der Zürcher Regierungsrat Markus Notter lässt auf seiner Website richtigerweise verlauten: «Die wichtigsten Menschen
für die Politik sind die politisch Desinteressierten.» In der Tat sind die Nichtwähler, die schweigende Mehrheit, sowohl
für die Politpraxis als auch für deren
Theorie relevant. Politiker gewinnen
Wahlen, wenn es ihnen gelingt, die Verdrossenheit in «Politikbegeisterung» umzumünzen.
Schweizer Politologen stellten im Rahmen einer Nachuntersuchung zu den Parlamentswahlen 1999 fest, dass die
schweigende Mehrheit ausgesprochen
vielfältig ist: Zu den eigentlich Politikverdrossenen – sie haben kein Vertrauen
mehr in die Politik – wurden in der Erhebung nur gerade sieben Prozent der
Nichtwähler gezählt. Rund ein Viertel der
Abstinenten hat zwar grundsätzlich Vertrauen in die Politik, ist aber entweder
schlecht informiert und fühlt sich nicht
kompetent oder aber ist sozial isoliert und
hat niemanden, um sich über politische
Fragen auszutauschen. Ein weiteres Drittel der Nichtwähler fühlt sich zwar kompetent und integriert, ist aber ganz einfach desinteressiert: Diese Abstinenten
kümmern sich nicht um das politische Tagesgeschäft und bleiben somit auch am
Wahltag den Urnen fern. Schliesslich
nehmen gemäss Studie 36 Prozent der
schweigenden Mehrheit als politisch Interessierte nicht bei nationalen Wahlen,
wohl aber bei Sachabstimmungen teil –
wenn sie sich von einer Vorlage persönlich betroffen fühlen, sei dies emotional
oder materiell.
Mit den Mitteln des Verstandes lässt sich
feststellen, dass Politik im Leben jedes
Einzelnen eigentlich eine wichtige Rolle
spielen müsste. Ohne sie wäre das Leben
«brutish and nasty», wie es Thomas Hob-
bes (1588–1679), der Vater der Politischen Philosophie, formulierte. Einen blutigen Kampf «jeder gegen jeden» würden
wir uns liefern, wenn eine neutrale Instanz das Zusammenleben nicht organisierte und regelte.
Die Vertragstheoretiker (Hobbes, Rousseau, Kant u.a.) erkannten, dass das Leben besser wird, wenn wir proaktiv aus
diesem ungemütlichen Naturzustand heraustreten. Sämtliche Gesellschaftsmitglieder vereinbaren hierzu untereinander
den Verzicht auf ihr Gewaltrecht – auch
das Recht, sich selber zu verteidigen –
und treten es monopolmässig an den
Staat ab.
In der Praxis ist dieser «Staatsbildungsprozess» aus logistischen Gründen undurchführbar. Man stelle sich vor, wie wir mit
sämtlichen Mitbürgern und mit allen Neugeborenen einen Rechteabtretungsvertrag
abschliessen. Die Vertragstheorie benennt
somit ein allgegenwärtiges Legitimationsproblem der Politik, das auch eine Ursache
dafür sein könnte, weshalb Politik im Leben vieler keine Rolle spielt: Unser Leben
spielt sich unter politischen Spielregeln und
Strukturen ab, in die wir ungefragt hineingeboren worden sind. Unsere Vorfahren
haben uns Regeln des Zusammenlebens
aufoktroyiert. Trotzt folglich die schweigende Mehrheit dem politischen System
durch politische Abstinenz?
Die Frage nach der Bedeutung, welche
die Politik im Leben des Einzelnen einnimmt, wurde seit den Vertragstheoreti-
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Fachwissen
Leben ohne Politik?
Valerio Bonadei, 1974 geboren, ist
italienischer Staatsbürger. Er hat in
Zürich Politologie und Staatsrecht
studiert. Während des Studiums hat
er die Jugendzeitschrift «affékt»
herausgegeben. Nach Studienabschluss arbeitete er als Erwachsenenbildner. Heute ist er bei einem
Filmverleih für die Pressearbeit und
Projektentwicklung zuständig. Er
lebt in Zürich.
kern in dieser Form und Genauigkeit nicht
mehr untersucht. Der deutsche Soziologe Max Weber erläuterte in seinem Traktat «Politik als Beruf» diesen Zusammenhang nur annähernd. Das Politikersein ist
eine Berufung, ein sinnstiftender Lebensinhalt. Ein Politiker verfüge über Fertigkeiten wie Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmass, die er als
Machtmensch auch intrigant oder im
Dienste der guten Sache einsetzen soll.
Einen politisch ambitionierten Machtmenschen per Stimme mit einem Amt
oder einem politischen Mandat zu belohnen, mag nicht jedermanns Sache sein.
Damit lässt sich eine weniger philosophische als vielmehr psychologische Erklärung für politische Abstinenz ableiten: Die
Beurteilungskriterien für die Wahl eines
politischen Repräsenten sind zu komplex
und stimmen nicht mit unseren Idealvorstellungen eines guten Menschen überein.
Die Politische Ökonomie geht davon aus,
dass jeder Mensch, auch der unpolitischste, ein Nutzenmaximierer ist. Das Individuum verhält sich erst dann politisch,
wenn es mit einem minimalen Aufwand
seinen Nutzen (Lebensglück) maximieren
kann (Optimumsprinzip). Mit anderen
Worten: Die wahlberechtigten Eltern
zweier Kinder empfinden mehr Glück, mit
der Familie einen Sonntagsausflug zu unternehmen, als ihre sowieso nicht ausschlaggebende Stimme für eine Sachabstimmung abzugeben, zum Beispiel über
die Finanzierung von Kläranlagen. So zumindest lässt sich das politische Desinteresse der Politik im Leben einer durchschnittlichen Familie begründen: mangelnde Betroffenheit, mangelnde Macht
und das Wissen, etwas Besseres mit der
Zeit anzufangen.
Dennoch bleibt die Frage offen, weshalb
Politik bei der anderen Hälfte der Bevölkerung eine Rolle spielt.
Mitentscheidend für politische Aktivitäten seien die Rahmenbedingungen des
politischen Systems, nimmt der Rationale Institutionalismus an, ein Theoriefortsatz der Politischen Ökonomie: Das institutionelle Gefüge, in dem unser politisches Leben eingenistet ist, prägt unser
politisches Verhalten.
Schweizer sind beispielsweise sehr zufrieden mit ihren politischen Institutionen,
weil der Mitgestaltungsspielraum selbst
für den Unpolitischsten und Macht- und
Mittellosesten vergleichsweise sehr gross
ist. In Italien etwa oder in Deutschland
geht man alle fünf Jahre eine Regierung
wählen, basta.
Zwischen «spettacolo» und langweiligen Kompromissen
Die Schweiz verfügt über eine unglaubliche Dichte politisch aktiver Nichtregierungsorganisationen. Für eine Vielzahl
von gesellschaftlichen Anliegen gibt es einen entsprechenden Verband, insgesamt
ungefähr 3000. Dies ist auch dem politischen System der Schweiz zu verdanken:
Im Entscheidungsfindungsprozess beziehen die Regierenden die Regierten in
Form von Interessengruppen als Experten
und Betroffene ein. Politik ist dadurch erleb- und beeinflussbar.
Auch im Gesetzesvollzug benötigen Behörden die Unterstützung von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Die Regierten werden so zu Regierenden und bestimmen mit, wovon sie
auch betroffen sind. In Italien beispielsweise ist die Verbandsdemokratie kaum
ausgebildet: Lediglich Gewerkschaften
und das Unternehmertum setzen sich mit
dem Staat regelmässig an einen Tisch.
Differenzierte gesellschaftliche Anliegen
haben es schwerer. Der «gute schweizerische Kompromiss» sorgt zudem dafür,
dass Sonderinteressen bei der Regelgestaltung schon vorab berücksichtigt werden. Zwischen Regierten und Regierenden ist der Abstand damit um ein Vielfaches kleiner.
Das Phänomen der Politikverdrossenheit
ist in der Schweiz eher weniger ausgeprägt – ganz im Gegensatz zu Italien. Der
Italiener winkt mit einer verächtlichen
Handbewegung ab, wenn man mit ihm
über Politik redet. Mein Vater, ein eingewanderter Italiener, gab mir bei zahlreichen politischen Diskussionen beim sonntäglichen Essen zu verstehen, dass sich
der Italiener als (schlecht) regierte Manövriermasse von Obliegenheiten beziehungsweise als ohnmächtiger Beobachter
versteht.
Italienische Politik ist spektakulär, weil
kompromisslos. Jeden Abend prasseln
endlose Diskussionen in Polittalkshows
über die Mattscheibe auf die müden, unterhaltungshungrigen Augen des italienischen TV-Bürgers. Opposition und Regierung führen sich dabei erbarmungslos
auf: Intrigen, Machtspielchen, Doppelzüngigkeiten nehmen dem Italiener die
Lust und das Selbstverständnis, Politik als
interessanten Bestandteil seines Lebens
zu sehen.
Umso geringer ist sein Vertrauen in die
politischen Institutionen. Jedes Kind
weiss, dass man im politischen Zusammenhang mit «Mortadella», der Bezeichnung für eine fetthaltige Wurst, den aus
Bologna stammenden aktuellen Ministerpräsidenten Romano Prodi meint.
Politisches Desinteresse ist so gesehen
eher strukturell als kulturell bedingt. Die
politischen Institutionen liefern die Spielregeln und Handlungsalternativen, die
das alltägliche politische Verhalten prägen.
Valerio Bonadei
23
24
Fachwissen
Leben ohne Politik? – Gespräch mit Massimo Rocchi
«In der Schweiz fehlt der grössere internationale Wirkungskreis»
Gute Menschen wählen gute Politiker,
die gute Gesetze machen – so einfach
könnte das sein. Meint der wirblige
Sprachjongleur und mit dem «Salzburger
Stier» sowie dem «Prix Walo» ausgezeichnete Komiker Massimo Rocchi.
punktum.: Massimo, bist du mit deinem
Leben zufrieden?
Massimo Rocchi: Ja. Ich lege viel Wert
darauf, Erfahrungen zu machen. Mein
Leben ist ein Work in progress. Ich bin ein
sehr sensibler Mensch, der seine Umwelt
stark wahrnimmt. Ich bin dankbar für all
jene Erfahrungen, die ich bis jetzt gemacht habe, und ich freue mich auf all
jene Erfahrungen und Erlebnisse, die mir
noch bevorstehen. Ich bin von wunderbaren Mitmenschen umgeben, meinem
Publikum kann ich Freude bereiten. Viele Seiten von mir habe ich entdeckt und
ausgelebt, und ich weiss, dass in meiner
Seele noch weitere unbekannte Seiten
schlummern. Diese würde ich gerne noch
entdecken.
Woher rührt aus deiner Sicht die Tatsache, dass für viele Leute Politik schlicht
uninteressant ist?
Unsere Vätergenerationen haben den
Krieg miterlebt. Sie haben das Versagen
von Politik hautnah erfahren. Heute ist es
schwer, politische Taten zu erkennen,
weshalb Politik nicht erfahrbar ist. In der
Schweiz fehlt es an nichts. Uns geht es
gut. In der Schweiz trennt selbst Christoph Blocher den Abfall, es ist total normal. – Die Schweizer Politik ist zu unbemerkbar, weil sie zu lokal ist. Es fehlt ihr
im Vergleich zu Deutschland oder Spanien der grössere internationale Wirkungskreis. Ein Beispiel: Joschka Fischer
wollte während seiner Amtszeit nichts
mit den Amerikanern zu tun haben, heute lehrt er an amerikanischen Universitäten Politik. Al Gore geht mit dem Thema
Umweltpolitik auf Tournee. Deutschland
oder sogar Zapateros Spanien sind auf
globaler Ebene viel wichtiger und präsenter als die Schweiz. In der Politik geht
es um Macht, um Taten. Für junge, impulsive Menschen ist Politik im kleinen
Rahmen zu wenig anziehend. Bei der alltäglich spürbaren Politik, wie sie uns in
Auseinandersetzungen im Fernsehen gezeigt wird, sind Ergebnisse und Taten
kaum ersichtlich.
Kann Politik das Leben verändern?
Nur wenn sie ein Gesetz schreibt und
verabschiedet. Sonst ist Politik umsonst.
Muss ein Politiker ein guter Mensch
sein?
Ein guter Politiker ist der, der gute Gesetze macht. Gut sind diejenigen Gesetze,
die Toleranz und Entwicklung bei allen
fördern.
Braucht das gute Leben die Politik?
Nicht das Leben, sondern das Zusammenleben braucht die Politik.
Kannst du dich an deinen ersten politischen Gedanken erinnern? Wann war
das?
Als ich 13 Jahre alt war, beschloss die
Schulleitung eines Tages, dass ein Teil der
Schüler aus Platzmangel am Morgen und
ein anderer Teil am Nachmittag zur Schule kommen müsse. Einer meiner Freunde
warf aus Protest einen Stein in ein Fenster. Wir wurden zunächst alle zum Schulleiter zitiert. Er fragte zuerst, wer es gewesen sei, und meinte im selben Atemzug: «Du, Massimo, kannst es nicht gewesen sein.» Ich war empört darüber,
dass der Schulleiter mich nicht als Täter
in Betracht zog, nur weil ich Sohn von
Professore Rocchi war. Ich kämpfte darum, dass ich es sehr wohl hätte sein können. Diese erfahrene Ungleichbehandlung ist wohl der Ursprung für meine
Politikleidenschaft. Die Politik soll Gerechtigkeit herstellen – darum geht es.
Talente und Fähigkeiten sind bei der Geburt nicht gerecht verteilt. Kann die Politik einen Ausgleich schaffen?
Nein, kann sie nicht. Es könnte aber sein,
dass ich morgen durch eine Erfahrung
das Gegenteil behaupte. Ich bin wie ein
Heft mit vielen unbeschriebenen Seiten.
Natürlich ist jemand, der in den Banlieues aufwächst, weniger begünstigt als jemand, der wohlbehütet ist. Ich habe in
den 50 Jahren meines Lebens gelernt,
dass man den Menschen mit Erziehung
und Bildung vor viel Leid und Unglück
schützen kann. Ich rede auch als Vater
von zwei Kindern. Bildung ist wohl die
beste Investition in die Zukunft unserer
Jugend. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, weshalb Psychologie nicht als
Fach in der Schule angeboten wird. Ich
Massimo Rocchi (50) lebt «in
Europa und in der Schweiz» und ist
einer der erfolgreichsten Komiker
des Landes. Er hat in Bologna und
Paris Theaterwissenschaft studiert.
Gegenwärtig ist er mit seinem Programm «Circo Massimo» in der
Schweiz unterwegs
(www.massimorocchi.ch).
bin ein sehr sensibler Mensch mit Ängsten, wie jeder andere auch. Wichtig ist,
dass man diese Ängste akzeptiert. Der
psychologisch geschulte Umgang mit
Affekten wie Wut oder Angst liesse die
Gesellschaft anders aussehen und damit
wohl auch die Bedeutung von Politik
steigen.
In deiner neuen Show spielst du auf die
anrüchige Verbandelung zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen
von Silvio Berlusconi an. Kann man Berlusconi mit Blocher vergleichen?
Nein. Heutzutage gibt es diese Tendenz,
dass Industrielle vermehrt im politischen
Betrieb mitmachen – «es isch eso». Es
gibt aber einen wesentlichen Unterschied
zwischen diesen beiden Charakteren.
Christoph Blocher hat sich gesagt: Okay,
ich war ein erfolgreicher Wirtschaftsboss,
ich bin reich, jetzt gehe ich in die Politik.
Fachwissen
Leben ohne Politik? – Gespräch mit Massimo Rocchi
Natürlich ist er noch Aktionär seiner ehemaligen Betriebe, und bestimmt gibt er
seine Empfehlungen ab. Aber Silvio Berlusconi ist dank der Politik zu einem erfolgreichen Geschäftsmann geworden.
Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Dieser Mann besitzt Medien, er hat kurz
vor den Wahlen das Wahlgesetz zu seinen Gunsten geändert. In der Schweiz
wäre das kaum vorstellbar.
Stellst du einen unterschiedlichen Stellenwert der Politik bei Schweizern und
Italienern fest?
Ganz sicher. In der Schweiz geniesst die
Politik einen viel höheren Stellenwert als
in Italien. Der Italiener ist ein Egoist, er
führt ständig einen Überlebenskampf, er
ist ein «Furbo», ein Schlaumeier. Ich bewundere den englischen Schauspieler
Rowan Atkinson in seiner Paraderolle
des Mr. Bean. Einfach wunderbar. Mr.
Bean ist ein gieriger Opportunist, er verschaukelt Menschen, ohne sich um die
Folgen zu kümmern. Das trifft auch auf
den Durchschnittsitaliener zu. Gäbe es
morgen um 8 Uhr einen Ausverkauf im
Media-Markt, stünde Mr. Bean um 7
Uhr 45 in der ersten Reihe. Wehe, jemand würde sich vordrängeln. Beim Italiener kommt noch etwas hinzu: Er ist
auch ein sehr sensibler Mensch mit der
wohl besten Wahrnehmung. Aber er ist
unfähig, seine Emotionen zu artikulieren
und zu verarbeiten. Der Schweizer hingegen ist sozial eingestellt. Mein Nachbar geht mich etwas an. Der oder das
andere ist nicht so fremd, wie es in Italien ist. In der Schweiz ist das Bewusstsein, dass Strassen, Lampen und Häuser
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erbaut und unterhalten werden müssen,
präsenter. In Italien sind diese Dinge eine
Selbstverständlichkeit. Zuweilen ist der
Spürsinn für soziale Gerechtigkeit in der
Schweiz vergleichsweise fast zu stark
ausgebildet: Ein Beispiel: Ich kenne einen
Kontrolleur bei der SBB. Am Morgen
treffe ich ihn im Zug, und obwohl er
mich kennt, fragt er nach meinem Generalabonnement. Er weiss, dass ich eins
habe, denn er ist mein Freund. Aber «es
isch eso». Und wenn ich am Abend mit
dem Zug nach Hause fahre und er mich
wieder im Zug antrifft, dann muss ich
ihm wieder das Generalabonnement zeigen. So etwas ist kaum vorstellbar in Italien.
Findest du es gut, wie es in der Schweiz
läuft?
Schwierig zu sagen. Ein anderes Beispiel:
Es gilt, einen Job zu vergeben, und ich
kenne jemanden, von dem ich sagen
kann, dass er die Kompetenzen für die
Stelle hat. In Italien ist klar: Ich gebe diesen Job diesem Bekannten – weshalb
sollte ich mir die unnötige Mühe nehmen
weiterzusuchen? Hier in der Schweiz teile ich meinem Team mit: Ich kenne da jemanden, ich finde, er passt hervorragend
zur Stelle, er kann das. Dennoch schaltet
man ein Stelleninserat, und es werden
alle Kandidatenprofile gecheckt. Ich finde, dies zeichnet die Schweiz aus. Das ist
gelebte Fairness.
Kennst du die Redewendung «Soihäfeli,
Soideckeli»?
Nein.
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Sie bedeutet: Hilfst du mir bei diesem
Problem, helfe ich dir beim anderen. Die
Schweizer Politik ist für ihre Durchlässigkeit verschiedenster Interessen bekannt.
Über 3000 gut organisierte Verbände
nehmen Einfluss auf die Gesetzgebung
und helfen bei der Durchsetzung der Gesetze. In Italien gibt es lediglich Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat. Die
Schweizer Demokratie ist wohl die perfektere?
Ich gebe dir recht, aber die Schweiz gibt
es schon seit über 700 Jahren, während
die italienische Demokratie etwa 150
Jahre alt ist. Insofern kann ich diesen Unterschied gut nachvollziehen.
Interview: Valerio Bonadei
25
Fachwissen
Wenn Leben wehtut
«Schmerz»: Eine Kunstausstellung in Berlin
Noch bis zum 5. August ist in Berlin die
Ausstellung «Schmerz» zu sehen. Kunst
leidet oft: Erst im Schmerz kommt Identität unmittelbar zustande – im Überwinden(müssen) der Selbstdistanz. In
zwei Museen parallel werden Werke
unter anderem von Francis Bacon, Joseph Beuys, Louise Bourgeois, Bruce
Nauman, Giovanni Battista Tiepolo und
Bill Viola präsentiert.
Der Schmerz ist fester Bestandteil unseres Lebens. Es gibt Schmerzen, die mit
der Zeit nachlassen, andere Schmerzen
reissen eine tiefe Wunde auf, die nie
richtig verheilt. Die Erfahrung von physischem oder psychischem Schmerz ist
radikal subjektiv – gleichwohl kann sie
bis zu einem gewissen Grad beschreibend mitgeteilt werden und wird dann
auch Thema von künstlerischem Schaffen.
«Ob und wie man Schmerz darstellen
und somit kommunizieren kann, ist eine
strittige und vielfach diskutierte Frage»,
erläutert Annemarie Hürlimann, Kuratorin der Ausstellung «Schmerz», die
gegenwärtig in Berlin zu sehen ist. Die
Ausstellung, die noch bis zum 5. August
zu besichtigen ist, spürt den vielfältigen
Darstellungen und Äusserungen des
Schmerzes nach wie beispielsweise in einem frühneuzeitlichen Kreuzigungsgemälde, dem Präparat einer Gichthand
oder den flimmernden elektrischen Impulsen einer Nervenzelle.
Die gemeinschaftsstiftende Funktion
des Schmerzes nimmt die Ausstellung
Francis Bacon (1909–1992):
Crucifixion, 1965. Foto: Bruno Hartinger
26
dabei genauso in den Blick wie die
Versuche, ihn zu beobachten, zu analysieren, zu suchen oder wieder loszuwerden. Sie zeigt, dass der Schmerz
womöglich immer beides sein kann:
subjektiv und objektiv, kreativ und destruktiv.
Nach Meinung von Annemarie Hürlimann versucht jeder Mensch, seinem
Schmerz auf eine ihm und seiner Situation angemessene Weise Ausdruck zu
verleihen. «Damit stellt er einen Weltbezug her», betont die Ausstellungsmacherin. «Er bedient sich dabei der Wörter, Bilder und anderer Zeichen, welche
die jeweilige Kultur für den Ausdruck
des Schmerzes anbietet.»
Mit Kombinationen und Konfrontationen von künstlerischen Arbeiten einerseits und medizinischen, volkskundlichen, religiösen und alltäglichen Objekten andererseits begibt sich die Ausstellung auf einen Grenzgang zwischen
Kunst, Medizin und Kulturgeschichte.
Gesucht wird Ausdruck, Form und Sinn
des Schmerzes. Die Kapitel der Ausstellung, die jeweils mit einem lateinischen
oder griechischen Begriff überschrieben
sind – «crux», «exstasis» oder «pharmakon» – verteilen sich auf insgesamt vier
Schwerpunkte: «Ansichten des Schmerzes», «Reiz des Schmerzes», «Die Zeit
des Schmerzes» und «Der Ausdruck des
Schmerzes».
Zur Ausstellung ist ein Begleitband mit
Bildblöcken erschienen, die der Gliederung der Ausstellung entsprechen. 22
Essays vertiefen darin Aspekte des
Schmerzes, die im Rahmen der Ausstellung nur angedeutet werden können,
und greifen Grundgedanken zum
Schmerz aus Philosophie, Literatur,
Kunstgeschichte, Medizin und Theologie auf.
Claudio Moro
ernst jandl (1925–2000):
painful love
the leg is not loved
the leg ist not loved, oh no
the leg ist not loved – cut it off
the arm is not loved
the arm is not loved, oh no
the arm is not loved – tear it out
the chest is not loved
the chest is not loved, oh no
the chest is not loved – beat it flat
the head is not loved
the head is not loved, oh no
the head is not loved – chop it off
«Schmerz»
Hamburger Bahnhof, Museum für
Gegenwart, Berlin; Medizinhistorisches Museum in der Charité, Berlin.
Katalog: «Schmerz. Eine Kulturgeschichte». DuMont Literatur und
Kunst Verlag, Köln 2007, 320 Seiten, 100 Abbildungen, Fr. 69.90,
ISBN 978-3-8321-7766-9.
Fachwissen
Arbeit und Pension
Dringend gesucht: bedürfnisgerechtere (Vor-)Ruhestandsmodelle
Die demografische Alterung legt spätere Pensionierungen nahe, als dies
heute der Fall ist. Dann müsste allerdings den veränderten Bedürfnissen
der Noch-nicht-Ruheständler Rechnung getragen werden. Die Arbeitsund Organisationspsychologin Regula Dobmann hat ein Buch zum Thema
publiziert. Mit ihrer Darstellung von
Konzepten altersgerechter Arbeit bereichert sie die aktuelle Diskussion
über Pensionierungsmodelle.
Fortschritte in der Medizin, ausgewogene Ernährung, konstantes Wirtschaftswachstum und gute Bildung
haben Europa eine höhere Lebenserwartung gebracht, was als grosse gesellschaftliche Errungenschaft des 20.
Jahrhunderts gilt. Im Gegensatz dazu
tut sich die Gesellschaft schwer mit
dem Prozess der Alterung und alten
Menschen im Allgemeinen. Auch in
der Wirtschaft ist diese gesellschaftliche Tendenz sichtbar, bevorzugen
doch viele Unternehmen junge Belegschaften und Führungskräfte. Parallel
dazu tauchen in den Medien Schlagworte wie «Überalterung», «Altersfalle» oder «Rentnerschwemme» auf.
Eine demografische Katastrophe und
der Kollaps der Altersvorsorge werden
prophezeit.
Die Alterung der Bevölkerung stellt
die Altersversicherungssysteme in der
Tat vor Finanzierungsprobleme. Von
verschiedenen Seiten wird daher eine
Erhöhung des Pensionierungsalters
vorgeschlagen. Eine solche Massnahme ist allerdings nur von Nutzen,
wenn ältere Arbeitnehmende eine Beschäftigung finden und motiviert sind,
länger zu arbeiten. Gerade Kaderleute scheiden aber gerne vor dem gesetzlichen Pensionierungsalter aus
dem Erwerbsleben aus, weil zu wenig
auf ihre veränderten Bedürfnisse am
Arbeitsplatz eingegangen wird und
Unternehmen es sich (noch) leisten
können, erfahrene Mitarbeitende
durch jüngere Kräfte zu ersetzen. Oftmals wird der Austritt gar mit finanziellen Anreizen gefördert. Die Alterung der Gesellschaft und die damit
verbundene Verknappung der Arbeitskräfte werden dieser Tendenz
jedoch bald ein Ende setzen.
Personalverantwortliche sollten sich
deshalb schon heute mit den Bedürfnissen ihrer älter werdenden Belegschaft auseinandersetzen und Massnahmen erarbeiten, damit sich ihre
Unternehmung im veränderten Arbeitsmarkt der nahen Zukunft optimal
positionieren kann.
Auch aus arbeitspsychologischen
Überlegungen wird eine stärkere Auseinandersetzung mit den veränderten
Bedürfnissen und Ressourcen älterer
Arbeitnehmenden für eine Unternehmung äusserst wichtig.
Eine differenzierte Betrachtung zeigt
bei älteren Kaderpersonen im körperlichen Bereich nur einen minimalen
Abbau der Leistungsfähigkeit, die sich
jedoch nicht auf die Arbeitstätigkeit
auswirkt. Im geistigen Bereich halten
sich die zu- und abnehmenden Fähigkeiten die Waage, wodurch die Gesamtqualität der Arbeitstätigkeit etwa
gleich bleibt. Das Älterwerden bringt
aber einen Wandel der Verhaltensweisen mit sich, weshalb ein altersspezifisch differenziertes Personalmanagement angezeigt ist.
Bleibende Leistungsfähigkeit
Die OECD definiert «ältere Mitarbeitende» als Personen, die in der zweiten Hälfte ihres Berufslebens stehen,
noch nicht pensioniert und – im Sinne
von arbeitsfähig – gesund sind.
Noch immer hartnäckig hält sich das
Vorurteil, dass die Leistungsfähigkeit
ab vierzig kontinuierlich abnehme.
Auch wird Älteren beispielsweise ein
tieferes berufliches Engagement oder
grösserer Widerstand gegenüber
technologischen Veränderungen unterstellt, obwohl Fakten aus der Praxis
dazu fehlen.
Ändernde Bedürfnisse
Folgende Bedürfnisse werden von älteren Kaderpersonen oft genannt:
– Längere Regenerationszeit: Es wird
eine zunehmende Müdigkeit wahrgenommen. Leistungsfähigkeit und
-bereitschaft werden dabei aber als
kaum abnehmend beurteilt. Die Zeit
der Erholung geht auf Kosten der
Freizeit.
– Reduktion des Arbeitspensums zur
Erholung und Aktivierung von Freizeittätigkeiten und Hobbys (auch
für die Zeit nach der Pensionierung).
– Selbstständigkeit: Ältere Arbeitnehmende kennen ihre Aufgaben und
Ältere Arbeitnehmende sind wichtige Ressourcen, denn sie…
… sind loyale Mitarbeitende.
… weisen sich durch erhöhte Konfliktfähigkeit aus.
… verfügen über umfangreichere Netzwerke.
… verfügen über grosses (Fach-)Wissen.
… sind effizient bei Routinearbeiten.
… haben Sinn für das Mach- und Umsetzbare.
… sind zeitlich flexibler, weil die Familienphase vorbei ist und die Zeit nach
eigenen Prioritäten eingeteilt werden kann.
… stehen am Ende der Karriere, haben weniger Ambitionen auf Beförderungen und neue Stellen. Ihre Energie wird in Fachaufgaben gesteckt.
… verfügen über grössere Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu lösen, behalten
leichter den Überblick und lassen sich weniger auf Machtspiele ein.
… gehen Probleme ruhiger und gelassener an.
… verfügen über eine realistischere Selbsteinschätzung.
… sind kompetente Kommunikationspartner.
… wirken in einem Team integrierend (altersdurchmischte Teams fördern Toleranz unter den Mitarbeitenden); können in der Funktion als Mentorin
oder Coach genutzt werden.
27
28
Fachwissen
Arbeit und Pension
wollen die Arbeit selber einteilen
und eigenständig arbeiten.
– Arbeiten ohne unnötigen Zeitdruck.
– Selbstbestimmung über den Arbeitsrhythmus.
– Kein unnötiger Druck von aussen:
Erfahrene Kaderleute haben hohe
Ansprüche an sich selber, diese treiben an.
– Abgeben von Führungsverantwortung und/oder grossen Verantwortungen; sich vermehrt Sachaufgaben widmen können.
– Beim Lernen von Neuem: Verknüpfung mit der Praxis und konkretes
Üben unter Einbezug von praxisbezogener Didaktik und Methodik.
Bedürfnisorientiertes
Pensionierungsmodell
Aus psychologischer Sicht müsste ein
bedürfnisgerechtes Pensionierungsmodell deshalb folgendermassen aussehen (siehe Kasten unten):
Betroffene sollten…
… Verantwortung für die Gestaltung
der Arbeitszeit und der Pensionierung übernehmen (Alter ist gestaltbar).
… Verantwortung für geistige und
körperliche Fitness übernehmen.
… sich von der Vorstellung verabschieden, dass mit zunehmendem
Alter auch der Lohn ansteigt (finanzieller Höhepunkt einer Karriere soll nicht an das Alter geknüpft
sein).
Selbstbild beeinflusst Umgang mit
Pensionierung
Die Wahrnehmung der eigenen Arbeit, aber auch diejenige der Lebensbereiche Partnerschaft, Freizeit, Gesundheit, Status oder Finanzen wirken
sich auf die Bewertung der Pensionierung und damit auf deren Bewältigung aus. Das individuelle Selbstbild
spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Das Erleben der eigenen Wirksamkeit
im Beruf wird auch durch Umwelt und
gesellschaftliche Strukturen beeinflusst. So führt eine latente Abwertung des Alters durch die Gesellschaft
oft zu einer Selbstentwertung der Betroffenen, wodurch ein konstruktiver
Umgang mit der Pensionierung behindert werden kann. Die überfällige
Revision der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Alters wäre ein erster,
aber wichtiger Schritt. Die Wirtschaft
wird zwangsläufig den nächsten machen und auch aus ökonomischen
Unternehmen sollten…
… dem differenziellen Altern Rechnung tragen und den Arbeitskräften nach Möglichkeit Selbstbestimmung bei der Wahl eines Pensionierungsmodells gewähren.
… eine Unternehmenskultur und
Leitbilder schaffen, die keine Diskriminierung von Älteren zulassen
und eine Personalpolitik für die
Bedürfnisse aller Altersgruppen
etablieren.
… Teilzeitarbeit ermöglichen.
… altersgemischte Teams einsetzen
und fördern.
… Weiterbildung für Ältere ermöglichen und dabei die Veränderungen im Lernverhalten berücksichtigen.
… durch Erfahrung gewonnene Fertigkeiten von Älteren nutzen und
sie zum Beispiel als MentorInnen
oder Beratende einsetzen.
… ihren Arbeitenden einen Ausstieg
aus schädigenden Arbeitsfeldern
ermöglichen.
… Führungskräfte für Themen Älterer sensibilisieren.
… mit Zielvereinbarungen führen
(Management by Objectives).
Überlegungen zu einem bedürfnisund ressourcenorientierteren Umgang
mit älteren Arbeitskräften übergehen
müssen.
Regula Dobmann
Buchtipp
Regula Dobmann: Ältere Arbeitnehmende. Bedürfnisse in Bezug auf Arbeit und Pension. Darstellung in
Theorie und Praxis.
Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2006,
145 Seiten, Fr. 79.–,
ISBN 3-86550-353-5.
Politik und Gesellschaft sollten…
… in der Frage nach den Pensionierungmodellen zwischen Personen,
die körperlich hart arbeiten und
durch die Arbeit geschädigt werden, und solchen, die vor allem im
Dienstleistungssektor tätig sind,
differenzieren. (Schädigungen müssen mit früherer wahlweiser Pensionierung kompensiert werden
können.)
… das Modell einer Lebensarbeitszeit
prüfen.
… Vorurteile gegenüber älteren und
alten Menschen abbauen und
Diskriminierungen verhindern.
… wissenschaftliche Forschung zum
Alter ermöglichen und die Resultate publizieren und diskutieren.
Porträt
Die Autorin: Regula Dobmann
«Berufung klingt mir zu fremdbestimmt»
«Ich bin neugierig und mag keine Extreme.» Das ist das Erste, was Regula
Dobmann zu ihrer Persönlichkeit einfällt. Die 35-jährige HAP-Absolventin
lebt und arbeitet heute in Bern, «der
schönsten Stadt der Schweiz», wie sie
en passant erwähnt. Dies sagt sie mit
einer nicht alltäglichen Gewissheit;
ihre Antworten sind überlegt und
spontan zugleich. Wo man in Gesprächen leise Zweifel an irgendetwas
erahnen kann, stösst man bei Regula
Dobmann auf Prägnanz und fast
schon virtuose Klarheit. Dazu passt
auch, dass sie sich als zuweilen ungeduldig und hartnäckig bezeichnet.
«Wenn ich etwas erreichen will, dann
bleibe ich dran», sagt sie. Eine Eigenschaft, ja vielleicht sogar eine Tugend,
die ihr beim Schreiben ihres ersten Buches mit Sicherheit viel geholfen hat.
Regula Dobmann liess sich nach der
obligatorischen Schule vorerst einmal
zur Primarlehrerin ausbilden. Es folgten einige Lehrstationen in der Umgebung von Bern, bis sie im Jahre
2001 das Studium der Psychologie an
der HAP in Zürich in Angriff nahm.
«Schon immer interessierte mich, was
den Menschen zu dem macht, was er
ist», beschreibt sie ihre Motivation,
sich zur Psychologin ausbilden zu lassen. «Ich wollte mehr über Themen
des Erlebens und des Verhaltens von
Menschen erfahren. Insbesondere
auch im Zusammenhang mit der be-
ruflichen Tätigkeit.» Der Mensch sei
Teil eines Ganzen, sagt die junge Psychologin. Er sei nicht rational handelnd, sondern eine individuelle
Einheit aus Körper, Seele und Geist –
das mache seine Faszination aus.
«Ein ehrlicher und interessierter Umgang mit meinen Mitmenschen ist mir
wichtig. Ich will mitbekommen, was
sie bewegt und beschäftigt, will aber
auch meine Gefühle, Freuden und
Ängste mit ihnen teilen dürfen.» An
Menschen mag sie Humor, Geist,
Grosszügigkeit und Belesenheit – wogegen sie auf Lieblosigkeit, Dogmatik
und Engstirnigkeit eher abweisend
reagiert.
2005 schloss Regula Dobmann das
HAP-Studium mit Vertiefungsrichtung
Arbeits- und Organisationspsychologie ab. Sie spricht in diesem Zusammenhang von Beruf und nicht von
einer eigentlichen Berufung. «Berufung klingt mir zu fremdbestimmt»,
entgegnet sie mit ihrer abgeklärten
Prägnanz.
Heute arbeitet Regula Dobmann als
wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Alters- und Behindertenamt der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des
Kantons Bern. Dort ist sie mit Aufgaben der Aufsicht im Behindertenbereich betraut. «Ich besuche Institutionen, berate Heimleitungen zu
verschiedenen Anliegen und erteile
Auskünfte an Versorgende von Menschen mit einer Behinderung.» Ein
anderer Teil ihrer Arbeit ist eher «studierender» Art: Sie liest Konzepte,
überprüft, ob gesetzliche Grundlagen
eingehalten werden, oder widmet sich
der Erarbeitung von konzeptionellen
Grundlagen.
Und nun ist Regula Dobmann auch
Buchautorin. «Ich fühle mich noch
nicht als solche», sagt sie nach kurzem
Überlegen. Die gewohnte Klarheit ist
etwas gewichen. «Das vorliegende
Buch kam durch Zufall zustande. Der
Verleger kam auf mich zu, da er auf
meine HAP-Diplomarbeit gestossen
war.» Nach einem Hin und Her entschied sie sich, das Buch zu schreiben.
«Es war ein Riesenstück Arbeit», fasst
sie ihre Erfahrungen zusammen. «Ich
weiss heute nicht, ob ich ein weiteres
Buch schreiben würde.» Bis dahin
bleibt zum Glück noch Zeit. Regula
Dobmann konzentriert sich gegenwärtig auf ihre Arbeit und auf das nahende Mutterglück. In den kommenden Monaten steht eine neue Herausforderung an – die Vereinbarung von
Familie und Beruf. «Das Leben ist eine
vielfältige Reise mit zahlreichen nicht
geplanten Pausen und Rastmöglichkeiten», sagt sie. Das grosse Geheimnis des Lebens scheint auch für Regula Dobmann offen zu bleiben: Wie
sieht die Reise zwischen diesen Pausen und Rastmöglichkeiten aus? «Der
Weg ist das Ziel», entkräftet sie. Und
ja, die Gewissheit in ihren Aussagen ist
wieder da.
Porträt: Claudio Moro
NEUE TITEL AUS IHREM INTERESSENGEBIET
Klingenberg, N.: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie
Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindler-Arbeit
2007. 194 S., kart., inkl. Audio-CD. CHF 45.40 (Klett-Cotta)
978-3-608-89040-2
Die Fähigkeit des Menschen zu bewusster Wahrnehmung wird im
Achtsamkeitstraining genutzt, um körperlich spürbares Wohlbefinden
aufzubauen. 20 Übungsanleitungen für Therapeuten und Trainer zeigen
diesen Weg auf.
Bestellen ist ganz einfach: Rufen Sie uns an:
0848 482 482 (Normaltarif)
oder schreiben Sie uns eine E-Mail: contact@huberlang.com
29
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SBAP. aktuell
Berufspolitische News
Psychologieberufegesetz (PsyG)
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung
vom 18. April 2007 – von uns lange
ersehnt – über das weitere Vorgehen
bezüglich PsyG beschlossen. Im Vorfeld der bundesrätlichen Sitzung war
der SBAP. nicht untätig geblieben,
denn das Auf-die-lange-Bank-Schieben der Gesetzesvorlage musste seine
Gründe haben. Gegenüber der FSP
machte der SBAP. deutlich, dass nach
verantwortbaren und möglichen Lösungen gesucht werden soll. Lieber
den Spatz in der Hand als die Taube
auf dem Dach – es wäre ja nicht das
erste Mal, dass die Psychotherapieverbände wegen unrealistischer Forderungen scheitern würden.
Seit der Erarbeitung des Gesetzesentwurfes hat sich einiges verändert:
– Das Bolognamodell wird konkret
umgesetzt (Bachelor, Master).
– SPV, FSP und SBAP. sind sich darüber einig, dass ein Grundstudium
in Psychologie zur Weiterbildung in
Psychotherapie führen soll.
– Das revidierte Binnenmarktgesetz ist
in der Umsetzungsphase (siehe auch
«Das Binnenmarktgesetz auf dem
Vormarsch» von Beat Messerli auf
Seite 32).
Es wird noch Anpassungen im Gesetz
geben müssen. Am 21. Mai 2007 hat
das Bundesamt für Gesundheit die
Berufsverbände zu einem ersten Informationstreffen eingeladen. Doch
insgesamt müssen wir uns abermals in
Geduld üben, denn der Bundesrat erwartet den Gesetzesentwurf und die
Botschaft des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) erst 2009.
IV-Vertrag
Die Verbände haben sich mit dem
Bundesamt für Sozialversicherungen
(BSV) über einen IV-Vertrag geeinigt.
Sobald der Kontrakt in Kraft ist, werden wir Sie per E-Mail informieren.
Lösung altrechtlicher Titel
Die Konferenz der Fachhochschulen
der Schweiz (KFH) hat erkannt, dass
nicht alle FH-Abschlüsse über einen
Leisten geschlagen werden können.
Sie hat zugesichert, dass die Fachverbände für die Beratungen zugezogen
werden.
Master in Angewandter Psychologie
Der SBAP. setzt sich mit allen Mitteln
für die Realisierung ein. Er wird dabei
tatkräftig von der FH SCHWEIZ
unterstützt. Letztinstanzlich wird das
Bundesamt für Berufsbildung und
Technologie (BBT) zu entscheiden
haben.
Vernehmlassung zum Entwurf Leitfaden zur Psychiatrieplanung
Die Antwort des SBAP. lesen Sie auf:
www.sbap.ch/newsagenda.html.
Heidi Aeschlimann
Knapp ein Drittel
mit Lohn unzufrieden
Zum ersten Mal wurden bei der Lohnstudie der FH SCHWEIZ auch SBAP.Mitglieder eingeladen, bei der Befragung mitzumachen. Den Fragebogen
haben 151 Mitglieder zur Auswertung
zurückgesandt – 111 Frauen und 40
Männer. Im Schnitt wird ein SBAP.Mitglied dieses Jahr 101 300 Franken
verdienen. Über die Hälfte ist mit dem
Einkommen zufrieden, knapp 30 Prozent dagegen nicht beziehungsweise
überhaupt nicht zufrieden.
Drei Viertel der Antwortenden sind
älter als 40 Jahre. 40 Prozent sind therapeutisch tätig, der Rest mehrheitlich
im Bereich Beratung und Coaching.
Zwei Prozent arbeiten in Forschung
oder Entwicklung. 35 sind selbstständig erwerbend, davon 23 Frauen. Der
Rest ist in einem festen Arbeitsverhältnis beschäftigt. Knapp die Hälfte ist im
Kanton Zürich tätig, gefolgt von den
Kantonen Aargau und St. Gallen.
Nach Studienabschluss haben fast 70
Prozent sofort eine Stelle gefunden,
etwa 20 Prozent mussten länger als
drei Monate eine Anstellung suchen.
Die Lohnstudie der FH SCHWEIZ erscheint Mitte Juni. Die Mai-Ausgabe
von «Inline», der Zeitschrift des Dachverbands Absolventinnen und Absolventen Fachhochschulen, stellt die
wichtigsten Resultate aller Fachhochschulbereiche näher vor.
Claudio Moro
Neues Mitglied
Roland Heuberger, Schaffhausen
Neue Studentenmitglieder
Doris Caflisch, Netstal
Lea Casagrande, Hornussen
Janina Elsener-Elendt, Birmensdorf
Olivier Favre, Zürich
Adrian Müller, Winterthur
Urs Müller, Schwanden
Eva Nick, Uster
Stephanie Pfister, Luzern
Marco Riva, Basel
Agnes Rovelli-Müller, Arlesheim
Doris Schiesser, Adliswil
Miriam Schlüter, Zürich
Edith Willi Narozny, Zürich
Herzlich willkommen!
PsychotherapeutInnen SBAP.
Clarina Barell, Clavadel
Roland Blunier, Luzern
Monika Gafner Ruh, Kaltenbach
Heinz Marty, Winterthur
Sandra Rumpel, Zumikon
Fachpsychologin SBAP.
in Kinder- und Jugendpsychologie
Ania Chumachenco, Zürich
Fachpsychologe SBAP. in Laufbahnund Rehabilitationspsychologie
Roland Heuberger, Schaffhausen
Fachpsychologe SBAP.
in Klinischer Psychologie
Heinz Marty, Winterthur
Der SBAP. gratuliert!
Das Zentrum für Psychologische
Information und Dokumentation
(ZPID) hat die 14., aktualisierte und
erweiterte Auflage des Verzeichnisses der Testverfahren mit 5682
Testnachweisen, «Psyndex Tests»,
ins Netz gestellt:
http://www.zpid.de.
SBAP. aktuell
Vorstandsnews
Marke SBAP.
SBAP. wurde im Markenregister eingetragen und im «Schweizerischen
Handelsblatt» publiziert. Damit sind
unsere Fachtitel wirksam geschützt.
FH SCHWEIZ
Am 30. März 2007 fand in Chur die
Delegiertenversammlung der FH
SCHWEIZ statt. Heidi Aeschlimann
wurde neu in den Vorstand gewählt.
Sie wird dort für das Ressort Berufsund Standespolitik zuständig sein.
Der SBAP. wird am 4. April 2008 in
Zürich die nächste DV – zugleich das
Fünf-Jahr-Jubiläum von FH SCHWEIZ
– organisieren.
Swiss Public Health Conference
Am 21. und 22. Juni findet in Olten die
Swiss Public Health Conference statt.
Der SBAP. wird in diesem Rahmen
den SBAP.-Preis in Angewandter
Psychologie vorstellen. Auf der Geschäftsstelle liegen vier vergünstigte
Konferenztickets zum Abholen bereit!
Für Anmeldungen und Infos:
www.public-health.ch.
5. Tagung des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT)
vom 3.5.2007
Am 3. Mai hat die 5. Tagung des BBT
stattgefunden. Thema: Frauen aus
den Fachhochschulen in die Arbeitswelt. Der Fachbereich Psychologie
wurde beim Podium «Praxis der FHAbsolventinnen» von Heidi Aeschlimann vertreten.
Der 3. Kongress der CH-Psy-Verbände
wird 2008 in Zürich stattfinden.
Fachhochschule Nordwestschweiz
(FHNW)
Frau Prof. Brigitte Liebig arbeitet in
der Forschung der FHNW. Bereits fand
ein Kontakt zwischen Heidi Aeschlimann und ihr statt. Wir freuen uns auf
eine konstruktive Zusammenarbeit.
56. ordentliche
Mitgliederversammlung 2007
Am 13. März fand im Restaurant Neumarkt in Zürich die ordentliche MV
2007 des SBAP. in aufgeräumter
Stimmung statt. Die Präsidentin Heidi
Aeschlimann durfte 72 Mitglieder begrüssen und als Gäste eine Musikerin
des Ensembles Dezi Belle und den
Musiker Gerold Lotmar, der unser
Mitglied ist. Sie spielten wunderbare
Weisen zum Apéro und später auch zu
Ehren des neuen Ehrenmitgliedes Fred
Hürlimann. Roland Käser hielt die
Laudatio, und der SBAP. dankte Fred
Hürlimann mit Süssigkeiten für sein
tolles Engagement im SBAP.. Sara
Meyer tritt infolge beruflicher Neuorientierung aus dem Vorstand aus. Der
Vorstand dankt auch ihr für das engagierte Wirken!
Berufs- und standespolitisch war das
Jahr 2006 ein sehr arbeitsreiches Jahr.
Ein besonderes Highlight war die 3.
Verleihung des SBAP.-Preises an Evelin Gerda Lindner. Damit wurde der
SBAP. auch international wahrgenommen. Mit grossem Applaus verabschiedeten die Anwesenden den
Jahresbericht der Präsidentin und der
RessortleiterInnen.
Jahresrechnung 2006, Revisionsbericht und Budget 2007 wurden einstimmig genehmigt. Die Jahresrechnung 2006 schliesst mit einem Gewinn von Fr. 23 954.95. Der Mitgliederbeitrag 2007 bleibt unverändert.
Die Ziele für 2007:
– Das Psychologieberufegesetz (PsyG)
hat weiterhin erste Priorität;
– Regelung Mastertitel alt- und neurechtlich;
– Passerellenlösungen FH zu Universitäten und umgekehrt;
– Web aktualisieren und neuen Datenbank erstellen;
– Vorbereitung SBAP.-Preisverleihung
2008;
– Vorbereitung Psy-Kongress 2008 in
Zürich;
– Vorbereitung DV FH SCHWEIZ
2008 in Zürich;
– Entwicklung unseres Berufsverbandes: Schaffen von Strukturen, welche die Zukunft sichern.
Das neue Ehrenmitglied Fred Hürlimann
Regula Weber hat ihren Austritt aus
dem Vorstand gegeben. Sie hat wesentlich zur Realisierung der SBAP.Studie EmaP beigetragen, deren Resultate hoffentlich bald publiziert werden können. Auch in ihre Zeit fällt die
Zertifizierung des Instituts Form und
Wandlung. Wir danken ihr für die geleistete Arbeit und wünschen ihr alles
Gute.
Wir freuen uns, dass Uwe Lehmann
sich für das frei gewordene Amt zur
Verfügung stellt. Zum ersten Mal dürfen wir einen universitären Absolventen im Vorstand willkommen heissen!
Zudem trägt er mit seinem Jahrgang
1966 wesentlich zur Verjüngung des
Durchschnittsalters des Vorstandes
bei…
Dies und das
– Der SBAP.-Preis macht offenbar
Schule. So schenkt sich das Psychoanalytische Seminar Zürich (PSZ)
nun zu seinem 30-Jahre-Jubiläum
ebenfalls eine Preisvergabe, nämlich
die Auszeichnung für interdisziplinären Austausch der Psychoanalyse
mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen.
– Das «Psychoscope», die Zeitschrift
der Föderation der Schweizer PsychologInnen (FSP), kommt in neuem Kleid daher. Wir gratulieren zum
neuen Outfit und freuen uns darüber, dass einige punktum.-Rubriken
Eingang im «Psychoscope» gefunden haben.
Heidi Aeschlimann
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32
SBAP. aktuell
Das Binnenmarktgesetz auf dem Vormarsch
Der SBAP. konnte in der punktum.-Ausgabe vom Dezember 2006 über einen Fall
berichten, in dem die Gesundheitsbehörde des Kantons Basel-Landschaft das Gesuch einer IAP-Absolventin um Anerkennung ihrer im Kanton Solothurn ausgestellten Bewilligung zur selbstständigen
Ausübung der Psychotherapie gutgeheissen hatte. Die Behörde sprach die Anerkennung gestützt auf das revidierte Binnenmarktgesetz (BGBM) aus, und zwar
ungeachtet dessen, dass gemäss der kantonsinternen Gesetzgebung und Praxis
ein IAP-Diplom grundsätzlich nicht als
Ausweis eines anerkannten Grundstudiums gilt.
Das revidierte BGBM bestimmt, dass ein
Kanton den Marktzutritt eines Inhabers
einer ausserkantonalen Berufsausübungsbewilligung gundsätzlich nicht
mehr verweigern, sondern höchstens
noch in Form von Auflagen oder Bedingungen beschränken kann. Eine Beschränkung ist indessen nur zulässig,
wenn der betreffende Kanton den Nachweis erbringt, dass überwiegende öffentliche Interessen bestehen, welche durch
die Vorschriften im Herkunftskanton
nicht hinreichend gewahrt werden. Dies
bedeutet konkret, dass sich ein Kanton
nicht mehr bloss darauf berufen kann,
seine eigene Gesetzgebung sei strenger
als diejenige des Herkunftskantons; es
bedarf des weiter gehenden Nachweises,
dass zwischen den beiden Kanton ein bedeutendes Schutzgefälle besteht, sodass
eigene wichtige Interessen durch die Zulassung des Bewilligungsinhabers «nicht
hinreichend» gewahrt werden. Zudem
kann ein nachgewiesenes relevantes
Schutzgefälle dadurch kompensiert werden, dass sich der Bewilligungsinhaber
über eine ausreichende praktische Tätigkeit ausweist. Die Botschaft zum revidierten BGBM bezeichnet in Anlehnung an
die Verwaltungsvereinbarung Espace
Mitteland über reglementierte gewerbliche Tätigkeiten eine Berufstätigkeit während dreier aufeinanderfolgender Jahre
als genügend.
Inzwischen ist ein weiterer erfolgreicher
Fall bekannt geworden. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat das auf
das BGBM gestützte Gesuch eines Psychotherapeuten und Psychologen FH
(mit IAP-Abschluss) um Anerkennung der
im Kanton Schaffhausen ausgestellten
Berufsausübungsbewilligung gutgeheissen. Das Ergebnis ist zwar insofern nicht
überraschend, als der Kanton Zürich in
seiner eigenen Bewilligungspraxis von
jeher IAP-Abschlüsse zugelassen hat.
Trotzdem kommt dem Fall eine wegweisende Bedeutung zu.
Der Gesuchsteller hat nämlich nicht nur
die Anerkennung seines Fähigkeitsausweises verlangt, sondern zusätzlich geltend gemacht, er betreibe im Kanton
Schaffhausen eine Praxis und sei daher
nach dem revidierten Recht ohne weiteres autorisiert, im Kanton Zürich eine
Zweitniederlassung zu begründen. Die
rechtliche Grundlage für dieses Begehren
findet sich in Art. 2 Abs. 4 BGBM.
Diese Bestimmung lautet: «Jede Person,
die eine Erwerbstätigkeit rechtmässig
ausübt, hat das Recht, sich zwecks Ausübung dieser Tätigkeit auf dem gesamten
Gebiet der Schweiz niederzulassen und
diese Tätigkeit … nach den Vorschriften
des Ortes der Erstniederlassung auszuüben. Dies gilt, auch wenn die Tätigkeit
am Ort der Erstniederlassung aufgegeben wird. Die Aufsicht über die Einhaltung der Vorschriften der Erstniederlassung obliegt den Behörden des Bestimmungskantons.»
Die Gesundheitsdirektion hat den offensichtlich ersten Anwendungsfall zum Anlass genommen, in der Frage der Beaufsichtigung einen Grundsatzentscheid zu
fällen. Sie vertritt die Meinung, die Berufsausübung des Kantons Zürich unterliege ausschliesslich den gesetzlichen Vorschriften dieses Kantons. Damit setzt sie
sich unverblümt über die zitierte Bestimmung hinweg, die besagt, dass die
Berufsausübung am Ort der Zweitniederlassung nach dem Recht der Erstniederlassung zu beurteilen ist.
Der Gesuchsteller hat diesen Entscheid
nicht angefochten, weil er nichts dagegen einzuwenden hat, seinen Beruf im
Kanton Zürich nach dessen Vorschriften
auszuüben. Die grundsätzliche Frage
bleibt jedoch im Raum, ob der Kanton
Zürich mit seinem Entscheid eine gesetzwidrige Praxis eingeleitet hat.
Der SBAP. wird die Frage der Wettbewerbskommission unterbreiten, die nach
dem revidierten Binnenmarktgesetz eine
deutlich stärkere Überwachungsfunktion
als früher ausübt.
Beat Messerli
Master of Advanced Studies
in Psychotraumatology
Die Universität Zürich bietet ab dem 1.10.2007 einen berufsbegleitenden, zwei
Jahre dauernden, Studiengang an, der mit einem «Master of Advanced
Studies in Psychotraumatology» abgeschlossen wird. Dieser umfasst:
die Grundlagen der Psychotraumatologie
Verfahren zur Behandlung komplexer posttraumatischer
Belastungsstörungen
Therapiemethoden wie «Prolonged Exposure», «Brief
Eclectic Psychotherapy», «Eye Movement Desensitization
and Reprocessing» und «Narrative Exposure Therapy».
Weitere Informationen:
Lic. phil. Regula Flury
Programmdirektorin MAS-PT
Psychiatrische Poliklinik USZ
Culmannstrasse 8
«Blended Learning», die Kombination von Präsenzveranstaltungen mit eLearCH-8091 Zürich
ning, erlaubt den Studierenden sich einen Teil der Inhalte orts- und zeitunabTel: +41 (0)44 255 89 16
hängig über das Internet anzueignen.
regula.flury@access.uzh.ch
www.mas- psychotraumatology.uzh.ch
Ort der Präsenzveranstaltungen: Zürich
Gelesen
Kann Leben Kunst sein?
Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenkunst
«Avoir approché Foucault est une des
chances, un des bonheurs de ma vie»,
schrieb einst der französische Romancier Claude Mauriac. Michel Foucault
(1926–1984) sah sich selbst niemals
als Philosoph. Der «maskierte Philosoph» bestand stets darauf, dass nicht
er als Person, sondern vielmehr sein
Werk im Vordergrund stehe. Er verstand seine Bücher als «Einladungen,
öffentliche Gesten», wie er 1980 in
einem Interview erklärte. Für Foucault
kam das Schreiben eines Buches einer
unwiederholbaren Lebenserfahrung
gleich. Er erhoffte sich, jeweils verändert daraus hervorzugehen. «Ich
schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiss, was ich von dem halten
soll, was mich so sehr beschäftigt.» Im
Schreiben erklärte er sich die Welt, erklärte er sich das Leben. Er setzte sich
eingehend mit Psychiatrie und Medizin auseinander und analysierte die
Strukturen und Beziehungen, die
Wissen generieren beziehungsweise
Machtverhältnisse ermöglichen.
Anfang Jahr ist nun eine dieser
«Einladungen, öffentlichen Gesten»
erschienen. Im Band «Ästhetik der
Existenz. Schriften zur Lebenskunst»
sind 23 Jahre nach seinem Tod Vorträge, Vorlesungen und elf Interviews
mit Michel Foucault versammelt, die
um «Lebenskunst» kreisen.
Diesem Thema und damit auch der
Ethik und der Wahrheit schenkte
Michel Foucault gegen Ende seines
Lebens seine Schaffenskraft. Er postuliert darin das Leben des Einzelnen als
eigenständiges Kunstwerk, das weniger Normen oder strukturiertem Wissen gehorcht, als dass es dem Ziel einer «gewissen Erfüllung des Lebens»
verpflichtet ist. Hierbei spielt die antike Formel der Sorge um sich selbst die
zentrale Rolle. In der «Technologie des
Selbst» sieht er die Losung, um «aus
eigener Kraft oder mit Hilfe anderer»
Denken, Seele, Verhalten und Existenzweise auf eine Art zu verändern,
dass die Erlangung «eines gewissen
Zustandes des Glücks, der Reinheit,
der Weisheit, der Vollkommenheit
oder der Unsterblichkeit» möglich
wird.
Michel Foucault ortet die Lösung für
anstehende Probleme beim Einzelnen.
Wer an sich arbeitet, arbeitet für die
anderen, arbeitet für die Welt, arbeitet für das Leben. Ein Ansatz, der heute genauso aktuell ist wie vor 20 Jahren – oder vor über 2000 in Athen und
Rom der Antike.
Dieser lesenswerte Band setzt keine
philosophischen Kenntnisse voraus.
Ausdauer ist hin und wieder gefordert, was in unserer teilweise vibrierenden Zeit im ersten Moment abschrecken könnte, aber letztlich nur
ein wenig Übung erfordert. In diesem
Zusammenhang können insbesondere die Interviews mit dem «maskierten
Philosophen» für etwas Entspannung
sorgen. Sie zeichnen ein faszinierendes Bild eines Menschen, der die Auseinandersetzung mit zentralen Fragen
unseres Lebens nie gemieden hat.
Claudio Moro
Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst.
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1814, Frankfurt a. M. 2007,
346 Seiten. Fr. 23.40.
ISBN 978-3-518-29414-7.
Zertifikatskurs
Zielorientierte Beratung bei Störungen
der psychosozialen Gesundheit
Bei Störungen der psychosozialen Gesundheit mit spezifischen
Methoden beraten und intervenieren können. Im Zertifikatskurs
(Certificate of Advanced Studies CAS) werden abhängig von
den Problemsituationen unter Einbezug der individuellen Bereitschaften zielorientierte Beratungsinterventionen vermittelt.
Störungen der Gesundheit können beispielsweise durch chronische
somatische oder psychische Erkrankungen verursacht werden.
Es werden wissenschaftlich fundierte Methoden und Konzepte
der psychosozialen Arbeit vorgestellt und kritisch hinterfragt.
Leitung
Prof. Dr. Günther Wüsten
Beginn
25. Januar 2008
Information und Anmeldung
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
Tanja Steiner
Riggenbachstrasse 16, 4600 Olten
+41 62 311 96 19, tanja.steiner@fhwn.ch
www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung
33
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Gelesen
Sternenhimmel über Meereswellen
Ulrike Zöllner: Persönlichkeitsdiagnostik mit dem Sterne-Wellen-Test
«Zeichne einen Sternenhimmel über
Meereswellen»: So lautet die simple
Testanweisung für den Sterne-WellenTest (SWT), der 1978 von der Psychologin und Graphologin Ursula Avé-Lallement entwickelt worden ist. Der Test
gehört zur Gruppe der themengebundenen projektiven Zeichenverfahren
und erlaubt die Entwicklung eines
ganzheitlich ausgerichteten Verständniszusammenhanges zum Wesen und
Streben eines Menschen.
Das Testergebnis kann einerseits nach
schriftpsychologischen Kriterien (Bewegungs-, Form-, Raumbild) untersucht werden. Andererseits zeigen sich
darin unbewusste Inhalte und Konflikte, die nach tiefenpsychologischen Ansätzen interpretiert werden können.
Die Zeichnung kann Inhalten Ausdruck verleihen, die sich dem direkten
Zugang über die Sprache unter Umständen zunächst verschliessen. Der
Sterne-Wellen-Test kann so in den
verschiedenen Anwendungsgebieten
von Beratung und Therapie zu einem
wertvollen zusätzlichen Begleiter werden
Ulrike Zöllner beschreibt im Vorwort
zu ihrem Buch, wie sie vor mehr als
zehn Jahren ein Schlüsselerlebnis bei
der Berufsberatung eines Jugendlichen
hatte, der von den Eltern zu ihr geschickt worden war. Der Junge habe
wenig motiviert gewirkt und sei offenbar mehr am raschen Ende der Beratungsstunde als an der Gestaltung seiner Zukunft interessiert gewesen. Da
forderte sie ihn auf, einen Sternenhimmel über Meereswellen zu zeichnen.
Er habe ein paar flüchtige Wellenlinien und einige Punktsterne aufs Blatt
geworfen und schliesslich ironisch
lächelnd noch eine Bühne im Vordergrund mit einem halbgeschlossenen
Vorhang dazugefügt.
Damit sei das Eis gebrochen gewesen
und ein ergiebiges Gespräch über das
Leben als Theater auf einer Bühne
oder an einem selber bestimmten Lebensplatz lanciert. Vor allem aber habe
das Gespräch nun die Erwartungen
und Ängste des Jugendlichen zutage
gebracht und die Beratungssituation
unmittelbar mit Gefühlen und Identifikationen gefüllt.
In der Folge hat sich Ulrike Zöllner in
ihrer diagnostischen Praxis und in der
Lehre intensiver mit dem Sterne-Wellen-Test befasst. Mit dem vorliegenden Buch verfolgt sie zusammen mit
ihren Mitautorinnen die Absicht, «diesem Verfahren einen grösseren Bekanntheitsgrad in der Praxis zu verschaffen und mit diesem Verfahren zugleich eine Bresche zu schlagen für die
Gruppe der projektiven Tests, die im
Zuge der naturwissenschaftlich ausgerichteten Kritik einen schweren Stand
haben neben den metrisch abgesicherten Instrumenten». Die Autorinnen hoffen, damit «den Kreis der psychodiagnostischen Fachkolleginnen
und -kollegen, die sich einen Zugang
bewahren wollen für die phänomenologische und verstehensorientierte
Psychodiagnostik, ansprechen und befruchten zu können».
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im
theoretischen Teil widmet sich Ulrike
Zöllner der Kontroverse um die projektiven Tests. Sie arbeitet den Gegensatz heraus zwischen einer psychometrisch ausgerichteten Diagnostik, die
auf Basis von standardisierten, normierten und den Gütekriterien entsprechenden psychometrischen Tests
vor allem an der Feststellung des Status interessiert ist, und einer holistischen Konzeption, welche in einer
phänomenologisch-hermeneutischen
Methodentradition steht und die Aufgabe der Diagnostik «in der Wesensschau und im Erstellen eines individuellen Gesamtbildes mit Akzentuierung
der besonderen und unverwechselbaren Eigenart» sieht. Denn nur dieser
Ansatz erlaube die Beschreibung eines einmaligen Gesamtbildes mit seiner inneren Dynamik und äusseren
Bezogenheit.
Im zweiten Teil führt Ulrike Zöllner in
das Verfahren ein, beschreibt ausführlich die Durchführung, die Auswertung und vor allem die Interpretation.
Dabei geht sie über die ursprüngliche
Absicht Ursula Avé-Lallements hinaus
und empfiehlt, den Test ausschliesslich
als Einzeltest durchzuführen und ein
Beobachtungsprotokoll zu erstellen,
wie die Probandin / der Proband bei
der Lösung der Aufgabe vorgegangen
ist. Dieser Teil bringt in präziser, dichter Formulierung auf den Punkt, wie
Ulrike Zöllner, unter Mitarbeit von
Claudia Arter, Sabina Hammer,
Andrea Seiriger und Mario Gmür:
Persönlichkeitsdiagnostik mit dem
Sterne-Wellen-Test.
Ernst Reinhardt Verlag, München
2006, ca. 200 Seiten, Fr. 57.30,
ISBN 3-497-01838-4.
und nach welchen Gesichtspunkten
der Test ausgewertet werden kann.
Im dritten Teil erfolgen zunächst zwei
exemplarische Falldarstellungen, die
anhand des Testprotokolls den Deutungsgang illustrieren und nachvollziehbar aufzeigen, wie die diagnostisch tätige Fachperson aus den ermittelten Befunden und Merkmale eine
Synthese bilden und Hypothesen gewinnen kann. Dabei weist die Autorin
darauf hin, dass nicht von einem abgesicherten Gültigkeitsbereich des
Tests ausgegangen werden kann und
dass sich darauf auch zu Recht die Kritik richte. Die Testinterpreation muss
darum zwingend mit den Probanden
besprochen werden. Dieses ausführliche Gespräch bringt zentrale Themen
und Lebensaspekte auf den Tisch, sodass das Testergebnis mit dem wirklichen Erleben und Denken der Zeichner
abgeglichen ist.
Dies ergibt eine Validierung wenn
auch nicht für den ganzen Test, so aber
doch für diese eine Durchführung und
für diesen einen, einmaligen Fall. Auf
diese Weise wird die Testbesprechung
mindestens im gleichen Mass auch zu
einem weiterführenden Erkundungsgespräch, das dazu geeignet ist, sehr
viel Substanz für die gemeinsame Arbeit in Beratung und Therapie zu generieren.
Sabine Hammer gibt einen lebensnahen Einblick über die Einsatzmöglich-
Gelesen
Von der Problemzu einer Lösungsbeschreibung
Peter Müri, Barbara Steiner: Coaching auf den Punkt gebracht
keiten des SWT in der Berufs-, und
Laufbahnberatung, Andrea Seringer
erzählt in ihrem Kapitel über die Besonderheiten der Anwendung in der
Gerontopsychologie. Das Buch wird
abgerundet durch den Anhang mit einer stichwortartigen Kurzübersicht
über die Grundlagen und die inhaltliche beziehungsweise graphologische
Interpretation, einem Schema zur
Raumsymbolik sowie je einem Protokoll- und Auswertungsblatt zum Test.
Eine spielerisch leicht anmutende Aufgabe mit der kürzesten Testinstruktion, die ich kenne – und trotzdem ist
aus dem Buch von Ulrike Zöllner und
ihren Mitautorinnen keine leichtfüssige Lektüre fürs Nachttischchen oder
für zwischendurch geworden. Vielmehr ist ein eindrückliches, gleichermassen kompakt wie präzis verfasstes
Fachbuch von bleibendem Wert entstanden, das mich in seiner Verbindung von theoretischem Überbau,
fundierter Beschreibung und Anleitung zum Verfahren sowie seinem praxisorientierten Fokus voll überzeugt.
Ich bin 1998 im Rahmen meines Studiums erstmals mit dem Sterne-Wellen-Test in Kontakt gekommen, habe
das eine oder andere, was jetzt in dem
Buch niedergelegt ist, schon einmal
gehört, das Verfahren aber bisher nicht
in mein Repertoire aufgenommen. Das
hat sich durch die Lektüre geändert.
Ulrike Zöllner und ihre Mitautorinnen
schaffen eine solide Arbeitsgrundlage
für die diagnostisch tätige Fachperson.
Obwohl erst 1978 entwickelt, steht
der SWT im Grunde in einer Reihe mit
alten Tests wie Wartegg-, Zulliger- und
Rorschachtest oder auch dem NST.
Alle diese Verfahren nähern sich dem
Menschen in einer ganzheitlichen
Sichtweise und suchen zu ergründen,
wie das Individuum im Leben steht,
wo Ressourcen, aber auch Konflikte
und Blockaden liegen, wo die Ansatzpunkte für eine nachhaltige und positive Entwicklung liegen und wie sie genutzt werden können. Angesichts des
derzeit auch in der Psychologie herrschenden einseitigen Wissenschaftsverständnisses kann dies gar nicht
hoch genug gewürdigt werden.
Rolf Allemann,
Psychologe FH/SBAP.
Peter Müris und Barbara Steiners
«Coaching auf den Punkt gebracht.
Rüstzeug für den Praktiker» ist ein für
interessierte Laien wie für erfahrene
Coachs gleichermassen flüssig zu lesender, aufs Thema neugierig machender Beitrag. Schon in den ersten
Zeilen spürt und erfährt man einiges
vom Erfahrungsreichtum der Autoren.
Die Sorgfalt und Professionalität, mit
der sie Coaching beschreiben, zieht
sich als roter Faden durch alle 134 Seiten.
«Haben Sie Lust auf ein Experiment?»
Mit dieser Frage aus ihrem Methodenkoffer leiten die Autoren nach einer kurzen Einstiegsphase ins
Coaching eine Phase ein, die sie
«Switch» nennen: ein zentrales Konzept der Autoren. Diese Frage ist auch
gleichsam die Frage nach der persönlichen Haltung. Eine Prise Experimentierlust oder zumindest Neugier ist
von Vorteil, um etwas vom Geist des
Buchs zu verstehen.
Postuliert wird darin im Wesentlichen,
dass es auf die Haltung des Coachs
ankommt, und weniger auf die technisch perfekte Anwendung von Methoden und Coachingtechniken.
Coaching ist zuallererst eine Frage der
persönlichen Reife und damit eben
auch der Haltung des Coachs. Das ist
die gute Nachricht. Die schlechte ist:
Wer aus wissenschaftlichem Interesse
im vorliegenden Buch nach differenziert abgehandelten Coachingmodellen und -theorien sucht, ist mit diesem
Werk falsch beraten. Die Autoren stellen gleich selber klar, dass das Forschungsobjekt Coaching mit streng
wissenschaftlichen Methoden nicht zu
fassen ist, ja dass jeder Versuch, das
Phänomen nach akademischen Kriterien zu beschreiben, scheitern muss.
Da ist zu vieles, was zwischen Coach
und Coachee passiert und mit wissenschaftlichen Methoden kaum messbar
ist.
Müri und Steiner leiten ihre eigene
Coachingtheorie aus Modellen der
Psychoanalyse, des Konstruktivismus,
der Klientenzentrierung Rogers’, der
Prozessorientierung, der Systemtheorie und der Lösungsorientierung ab.
Ihre Beschreibung einer Standard-Prozessdynamik im Coaching mit dem
Peter Müri, Barbara Steiner:
Coaching auf den Punkt gebracht.
Rüstzeug für den Praktiker.
Ott Verlag und Druckerei, Thun
2006, 134 Seiten, Fr. 48.–,
ISBN 3-7225-0058-3.
Kunstwort KAKRI (Kontrakt, Abholen,
Kern erfassen, Ressourcen suchen und
Implementierung) weicht nicht wesentlich von der gängigen Literatur
ab. Einen grossen Raum nimmt der
Begriff des Switchens ein. Mit diesem
Begriff meinen die Autoren alle Bemühungen, den Coachee mittels methodischer Interventionen in eine «andere Welt» zu bringen, das heisst, sie aus
der Problem- hin zu einer Lösungsbeschreibung zu führen.
Der zweite, praktische Teil des Buchs
mit zwei Coachingprotokollen ist eine
Fundgrube für jeden Coach, der seine
eigenen Methoden reflektieren möchte oder auf der Suche nach neuen
Methoden ist. In diesem zweiten Teil
brechen die Autoren in einem gewissen Sinn mit ihrer im ersten Teil des
Buchs verkündeten Botschaft, nämlich
dass Coaching in erster Linie eine Frage der Haltung und erst in zweiter Linie die Angelegenheit eines geschickt
angewendeten Methodenrepertoires
sei. Hier erliegen die Autoren der Versuchung, das eigene Können in seiner
ganzen Breite zu präsentieren. Aber
warum auch nicht? Solange das Ergebnis der Könnerschaft so herauskommt wie in diesem Buch. Auf alle
Fälle kommt das Buch in der aktuellen
Coaching-Diskussion gerade zur rechten Zeit.
Sergio Jost,
dipl. Psych. FH, Coach und Supervisor
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SBAP.-Agenda
27.06.2007
Prof. Dr. med. R. Largo, SBAP.-Preisträger, spricht über «Pubertät» im Rahmen des Elternforums um
19.30 Uhr in der Mehrzweckhalle Steinboden in Eglisau.
25.09.2007
Forum 13: Personal- und Organisationsentwicklung auf dem Weg in die Zukunft.
Referentin: Christine Ledergerber. Restaurant Rigihof, Zürich. Ab 18 Uhr Apéro. 19 Uhr Referat.
Gäste herzlich willkommen.
21.11.2007
14.00 –16.00 Uhr Betriebsbesichtigung Chocolat Bernrain in Kreuzlingen.
Redaktionskommission:
Heidi Aeschlimann
Barbara Fehlbaum
Claudio Moro
MitarbeiterInnen dieser Ausgabe:
Heidi Aeschlimann
Rolf Allemann
Valerio Bonadei
Ariuscha Davatz
Regula Dobmann
Pater Kassian Etter
Barbara Fehlbaum
Tilo Hartmann
Sergio Jost
Manfred Kulla
Karin Linsi
Beat Messerli
Claudio Moro
Massimo Rocchi
Wilhelm Schmid
Ulrike Zöllner
Koordination /
Inserate und Beilagen:
SBAP. Geschäftsstelle
Auflage:
1100 Exemplare
Redaktionsschluss
Nr. 3/2007: 16. Juli 2007
Druck und Ausrüsten:
Druckerei Peter & Co., Zürich
Lektorat:
Thomas Basler, Winterthur
Konzept und Gestaltung:
greutmann bolzern zürich
Adresse:
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8032 Zürich
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www.sbap.ch
ISSN 1662-1778