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Aus: Frank Hartmann Hg.: Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der Wissensvisualisierung, Berlin: Avinus 2012, S. 11-61 Einleitung Die Logik der Datenbank Zwischen Leibniz und Google – Otlet der Weltbibliothekar Frank Hartmann Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts gibt es Internet für alle – die Verbindung zur Welt, mindestens zu jenen Teilen, die uns Telekommunikation und Digitalmedien preisgeben, ist jederzeit möglich. Bücher, Bilder, Filme, Sounds: Milliarden Dokumente sind in digitalisierter Fassung zuhanden, das maßgebliche Archiv der westlichen Kultur ist online oder wird es demnächst sein. Ungeahnte Informationsmengen wurden damit zugänglich, das dokumentierte Wissen ist instantan und prinzipiell ortsunabhängig abfragbar, ganze Bibliotheksbestände und Archive sind bequem durchsuchbar. Obwohl das vor wenigen Jahrzehnten noch eine völlig phantastische Vorstellung war, gab es bereits profunde Ideen in diese Richtung, und mehr noch: konkrete Ausarbeitungen einer Ordnung des Wissens jenseits der Gutenberg-Galaxis. Davon handelt der vorliegende Beitrag zum Werk von Paul Otlet, einem im deutschen Sprachraum eher unbekannten Pionier der Wissensgesellschaft. Das Format des Buches und dessen Organisation in Bibliotheken schien Otlet nicht länger angemessen, um im anbrechenden 20. Jahrhundert das relevante Wissen zu repräsentieren. Er wandte deshalb seine gesamte intellektuelle Energie dafür auf, die Dokumentation von Information und Wissen neu zu strukturieren. Angesichts vielfältiger Problemlagen, die mit der Industrialisierung des Druckwesens begannen, musste ein neues Paradigma jenseits des Prinzips der Monographie her, und für Otlet war das avant la lettre die Logik der Datenbank. Die Klärung dieser neuen Logik wurde zu Paul Otlets Lebenswerk: von der Überarbeitung der Dezimalklassifikation für Bibliotheksbestände zur Classification décimale universelle über die Professionalisierung des Dokumentationswesen mittels Karteikarten und Mikrofilm bis hin zum technisch natürlich noch unausgereiften Entwurf eines weltweiten Wissens- und Kommunikationsnetzes.1 Nach der Publikation seiner Gedanken im Jahr 1934 geriet dies alles jedoch völlig in Vergessenheit, bis 1968 der australische Wissenschaftler W. Boyd Rayward in Brüssel die verlassenen Bestände des Mundaneum zu erforschen begann, eine intellektuelle Biographie Paul Otlets publizierte und zwei Jahrzehnte später auch die englische Übersetzung einer Auswahl seiner Essays besorgte.2 Ansonsten liegen Otlets Schriften bislang weder in englischer noch in deutscher Übersetzung vor. Wer war dieser Paul Otlet? Als Industriellenerbe ohne existenzielle Sorgen, dessen Vater sein Vermögen mit dem internationalen Vertrieb von Straßenbahnen machte, erhielt er Privatunterricht und absolvierte eine Ausbildung zum Anwalt.3 Mit seiner juristischen 1 „Réseau de communication, de coopération et d’echanges à l’intervention d’un Centre Mondial“, Paul Otlet: Traité de Documentation. Le livre sur le livre. Théorie et pratique, Brüssel 1934, S.420. 2 W. Boyd Rayward: The Universe of Information. The Work of Paul Otlet for Documentation and International Organisation, Moskau 1975 (FID 520). Boyd Rayward (ed.): International Organisation and Dissemination of Knowledge. Selected Essays of Paul Otlet, Amsterdam, New York 1990 (FID 684). 3 Zu den biografischen Daten siehe die tabellarische Übersicht S.XXX. Qualifikation wurde er 1890 Mitarbeiter in der Brüsseler Kanzlei des renommierten Rechtsanwaltes und Schriftstellers Edmond Picard. Dieser beauftragte ihn mit der Einrichtung einer Bibliographie zur Rechtsprechung, wofür er unter anderem eine Zusammenarbeit mit Henri La Fontaine einging. La Fontaine wurde Senator im belgischen Parlament und Präsident des Bureau International Permanent de la Paix; für seine Tätigkeit wurde ihm 1913 der Friedensnobelpreis verliehen. Otlet und La Fontaine hatten ähnliche Interessen im Bereich des Dokumentierens und Bibliographierens und blieben nach ihrem ersten Arbeitsprojekt lebenslang Freunde und Arbeitskollegen. In Brüssel gründeten sie 1895 das Office International de Bibliographie und begannen mit dem ambitionierten Projekt einer Indizierung aller möglichen „Fakten“ aus und über Publikationen mittels eines Karteikartensystems, dem sogenannten Répertoire Bibliographique Universel. Dies sollte ein Aufbewahrungsort des gesamten bekannten Wissensbestandes werden, an dem bereits die Absicht erkennbar wird, das Buchformat bzw. das monographische Prinzip zugunsten eines flexiblen Wissensbestandes und einer Logik der Datenbank aufzulösen. Abbildung 1 – Paul Otlet, 1868-1944, © Mundaneum Mons, Belgien Obwohl in vorliegender Publikation Otlet auch unter Vorzeichen neuer Medientechnologien diskutiert wird, geht es dabei keineswegs darum, einen weiteren vermeintlichen Visionär von Computer und Internet zu identifizieren, sondern lediglich darum zu zeigen, dass die Artikulation eines entsprechenden Bedarfs an Innovation sehr viel früher registriert werden kann als die entsprechende Technik selbst. Während in der Medientheorie oft deterministisch gedacht wird, konnte die Techniksoziologie überzeugend argumentieren, dass technischer Fortschritt („Erfindungen“) im Zusammenhang mit einem sozialen Bedarf zu verstehen ist und hinsichtlich des Durchsetzungspotenzials sich überdies nicht in radikalen Brüchen, sondern in einer Politik der kleinen ingenieurstechnischen Optimierungsschritte manifestiert.4 Letztlich geht es bei Paul Otlet dann nicht einmal sosehr um die Person als vielmehr um jene technologische Leerstelle, die eine im 19. Jahrhundert beginnende, die typografische Epoche aufsprengende neue Wissenskultur produziert hat. Otlet machte den konsequenten Vorschlag, mit der Einrichtung einer neuen Infrastruktur und einer neuen Organisationsform des Wissens darauf zu reagieren, und es gelang ihm auch, Teile davon erfolgreich umzusetzen. Zwischen zwei Welten Erst die elektronischen Kommunikations- und Informationstechnologien sollten freilich dann die Antwort auf jene Leerstelle sein, die jener neue Bedarf an Generierung und Verteilung von Wissen erzeugt hat. Die übergeordnete Herausforderung bestand darin, der allgemeineren Teilhabe an Formen des Wissens in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit neuen Bildungsmöglichkeiten und Zugangsformen zu entsprechen. Man sollte, um die daraus folgenden Vorschläge zu würdigen, die Perspektive auch einmal umkehren und die Geschichte nicht vom Computer ausgehend betrachten: während sich die neuen Anforderungen der Wissensgesellschaft bereits bemerkbar machten, konnten die bestehenden Möglichkeiten des Buch- und Bibliothekswesens ihnen nicht mehr gerecht werden. Otlet war eine intellektuelle Figur zwischen diesen beiden Welten, oder auch zwischen der Weltanschauung des bürgerlichen synthetisch-harmonisierenden Denkens und jener der modernen analytisch-kombinatorischen Rationalität.5 Für die Vision einer Alternative zu Bibliotheken und Enzyklopädien aber gab es zu seiner 4 Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt/New York 1994. Zur Analyse dieser beiden Denkfiguren vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991. 5 Zeit noch kaum eine Vorstellung. Die Verbreitung von Wissen setzt dessen Aufbereitung voraus, und das wichtigste Element der Aufbereitung von Wissensbeständen ist deren Klassifikation. Wird Wissen nach bestimmten Kriterien klassifiziert, dann entsteht eine Taxonomie oder ein Kategoriensystem, das in unterschiedlichen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten höchst differente Formen annehmen kann. Wovon man denken möchte, es hätte seit langer Zeit Bestand, ist tatsächlich oft eher jüngeren Datums – so die systematische Ordnung im Reich der Bücher. Erst Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen über die einzelne Bücheransammlung hinausgehenden „Plan zur Anordnung einer Bibliothek“ (Idea bibliothecae ordinande), und erst der amerikanische Bibliothekar Melvil Dewey entwickelte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein allgemeines System zur Klassifikation in Bibliotheken.6 Das Wissen braucht Klassifikation sowie Organisation in materiellen Strukturen wie Archive und Bibliotheken, schließlich Datenbanken und Netzwerke, um über die subjektiv beschränkten Kapazitäten von Individuen hinaus kulturell wirksam werden zu können. Nun mag als Visionär bezeichnet werden, wem die Antizipation der Bedeutung einer technischen Entwicklung schon gelingt, wenn andere noch nicht einmal die Problemlage zu erkennen vermögen. Paul Otlet war in diesem Sinne Visionär einer Wissensgesellschaft, die aufgrund unterschiedlicher Medienrevolutionen neue technische Grundlagen erhalten sollte als bislang bekannt waren: zum einen war dies die Realaufzeichnung von Weltgeschehen, wie sie paradigmatisch die Fotografie ermöglicht hat, zum anderen die Verkabelung der Welt zu Zwecken der Telekommunikation.7 In diesen neuen Möglichkeiten der Medienmoderne erkannte Otlet die Chance, einen Teil der Lösung für jene Probleme zu erlangen, die sich mit der Proliferation gedruckter Publikationen ergaben: man würde methodisch, technisch und institutionell darauf reagieren müssen. In allen drei Bereichen leistete Otlet Grundlegendes. Er entwickelte die Universelle Dezimalklassifikation, entdeckte die Wichtigkeit einer Verwaltung von Metadaten (in Form von Karteikarten – files, folders, cabinets), und er betrieb die Institutionalisierung einer globalen Wissensbasis, deren Zentrum in Genf, Rom oder Brüssel angesiedelt sein sollte. So begriff Otlet das Ende des bürgerlichen Buchzeitalters im Geiste der Datenbank oder des universellen Buches, während die Allgemeinheit noch in den Kategorien von Nationalmuseen und Nationalbibliotheken dachte. Von der Weltausstellung zur Weltdatenbank Während Otlet vor allem mit seinen späten Texten ein sprichwörtlicher Visionär genannt werden darf, der über neue Medienanwendungen spekulativ nachdachte, so ging er beim Aufbau seiner Datenbank, der Implementierung einer abfrageorientierten Wissensordnung, höchst pragmatisch vor. Bei seiner Encyclopedia Universalis Mundaneum handelte es sich um eine systematische Aufarbeitung der Fragen unseres Umgangs mit Wissen und Informationen, sowie (darüber sollten die auch in vorliegender Publikation präsentierten manchmal naiv anmutenden Skizzen und Entwürfe nicht hinwegtäuschen) um die konkrete und funktionsfähige Umsetzung in einer analog strukturierten Datenbank. Heute noch sind im belgischen Mons die Überreste seiner lebenslangen Anstrengung zu sehen, eine Weltdatenbank einzurichten, die alle dokumentierbaren Informationen integriert. Sie führen in Form eines immensen Zettelkastens deutlich vor Augen, wie mühsam es einst gewesen sein muss, Wissensvernetzung im Papierformat zu betreiben. Abbildung 2 – Répertoire Bibliographique Universel, Teilansicht (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) 6 7 Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001, S. 127. Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Technik, Geschichte, Theorien, Wien 2006. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war bestimmt vom Ausbau einer erstmals internationalen Infrastruktur im Verkehrs- und Kommunikationswesen. Die 1851 in London begonnenen Weltausstellungen kulminierten in der Pariser Weltausstellung von 1889 (L’Exposition Universelle) und der Idee, die Welt wäre ein verallgemeinerbar homogener Ort der Erfahrung: sie wurde von 32 Millionen Menschen besucht, und der damals errichtete Eiffelturm wurde zum weithin bekannten Wahrzeichen der Stadt. Das Journal dieser Weltausstellung, mit vielen Stahlstichen von den Sensationen illustriert, sorgte für eine erweiterte Wahrnehmbarkeit und zugleich den Vorschein einer gesellschaftlichen Utopie vom Global Village.8 Der Einfluss dieser Weltausstellung auf Paul Otlets Projekt einer Weltdatenbank ist nicht zu unterschätzen. Beginnend mit der Idee, die Länderinformationen verfügbar zu halten, war er in den nun folgenden Jahrzehnten intensiv mit der Institutionalisierung seiner Obsession beschäftigt, sämtliches publizierte Wissen der Welt in neuer Form zu dokumentieren und damit besser nutzbar zu machen. So selbstverständlich uns heute die Tatsache scheint, auf alle möglichen Inhalte unabhängig von ihren Datenträgern zugreifen zu können, so unerhört war damals allein schon die Idee, Fragen des Wissensmanagements außerhalb der exklusiven Routinen einer Buch- und Bibliothekskultur anzusiedeln. Paradoxerweise blieb die Terminologie vorerst aber noch dem Bibliothekarischen angelehnt. Otlets Opus Magnum jedoch, sein 1934 publizierter Traité de documentation, handelt in spekulativen Ausführungen vom definitiven Jenseits der Schriftkultur, von der Zusammenführung aller Speicher- und Übertragungsmedien auf einer integrierten systemischen Ebene, die allein ein Management des dokumentierten Weltwissens erlauben würde. Man kann nun mehr oder weniger profund darüber streiten, ob dies eine Vorwegnahme des World Wide Web (als Verbindung von Dokumenten im Internet) oder von Google (als Suchmaschine im Web der Dokumente) gewesen ist.9 Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass Otlet sich bereits mit den Erfordernissen eines technisch gestützten Wissensmanagements auf der Grundlage vernetzter Ressourcen beschäftigt hat, also mit Fragen, die nach dem Zeitalter der Gutenberg-Technologie einfach auftauchen mussten und auf die heute das erweiterte Web mit seinen Suchmaschinen und sozialen Netzwerken eine Antwort ist.10 Abbildung 3 – Les formes ou les types du Mundaneum a unir de reseau – Vernetzung des Wissens, Skizze von Paul Otlet (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) Eine systematische Darstellung von Wissen und Künsten oder die Einrichtung einer Enzyklopädie als Wissensmaschine ist freilich keine neue Idee, davon zeugen schon die Bibliotheksbestände der Frühen Neuzeit.11 Auch mit der Veranschaulichung von Weltwissen arbeitete die Pädagogik recht früh, wofür etwa der Orbis sensualium pictus steht, ein 1658 von Johann Amos Comenius erstmals publiziertes, sehr populäres und daher vielfach kopiertes sowie lange gebrauchtes Kompendium für den Schulunterricht und Vorbild für Otto Neuraths Projekt einer volkspädagogischen Bildersprache.12 Mit der Erweiterung der Bibliothek um Kunstbestände und Bildmaterialien stehen Otlet und La Fontaine in ihrer Zeit ebenfalls nicht allein da – erinnert sei an den Aufbau der privaten kulturwissenschaftlichen Bibliothek von Aby Warburg in Hamburg, der schon in den 1880er Jahren begonnen hatte, eine fotografische Sammlung von Kunstwerken und kulturellen Artefakten aufzubauen.13 8 Beat Wyss: Die Pariser Weltausstellung 1889: Bilder von der Globalisierung, Berlin 2010. „Netzvisionär Paul Otlet“, in: Der Spiegel, 20. Juni 2011. 10 Alex Wright: Glut. Mastering Information through the Ages, Washington D.C. 2007, S.183ff. 11 Ulrich J. Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. 12 Frank Hartmann, Erwin Bauer: Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien 2006. 13 http://warburg.sas.ac.uk/photographic-collection/ 9 Das ausgehende 19. Jahrhundert war geprägt von neuen Medientechnologien wie noch kein anderes Zeitalter zuvor. Es gab dank der Fotografie und neuer grafischer Reproduktionstechnik mehr Bilder als je zuvor, jeder Winkel der Welt wurde dem Publikum vor Augen geführt und mit der Telegrafie war plötzlich weltweite Kommunikation möglich, zudem sorgte die Industrialisierung des Druckwesens für einen exponentiellen Anstieg an Publikationen. Sogar die Bibliothek selbst gehört zu den Neuerungen: neben Unviversitätsund Landesbibliotheken wurden erst jetzt im Rahmen volkspädagogischer Ideen die öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, nach dem Vorbild amerikanischer Public Libraries14. Kein Wunder also, dass man sich um Organisation und Strukturierung all dessen vermehrt Gedanken machte. Die Katalogisierung der Bücher und das Anlegen einer systematischen Ordnung blieb ein lange ungelöstes Problem – im konzeptionellen wie im technischen Sinne, denn die einzelnen Bibliothekskataloge waren noch handschriftlich verfasst und die Bestände völlig unterschiedlich angeordnet. Die Ordnung des Wissens in den Büchern einer Bibliothek abzubilden und zu katalogisieren wurde aufgrund der steigenden Buchproduktion zu einem anspruchsvollen Problem. Die quantitative Zunahme von gedrucktem Material bedeutete nicht zuletzt eine Informationsflut vor allem für die Professionalisten, die mit der Katalogisierung und Archivierung von Druckwerken zu tun hatten. Dass die Herstellung eines gedruckten Gesamtkataloges wie dem ab 1898 verfassten Preußischen Gesamtkatalog, der viele Jahrzehnte beanspruchte, letztlich zum Scheitern verurteilt war zeigt, „dass die Ordnung von Büchern weder sachlich noch alphabetisch auf der Ebene der Bücher erfolgen darf. […] Worauf es aber ankäme, wäre gerade eine Ordnung der Bücher auf einer anderen Ebene als der der Bücher.“ 15 Damit ist das Problem benannt, dem Otlet sein Lebenswerk widmete. Die traditionelle Weise, mit der sich Wissen in Buchform manifestiert, wird nicht nur durch die im 19. Jahrhundert auf Basis der Elektrizität entwickelten Teletechnologien herausgefordert, sondern ebenso durch die technische Massenproduktion, mit der die Industrialisierung auf die Kulturprodukte übergreift und sie überformt. Das betrifft zunächst den Datenträger analoger Informationen, das Papier. Mit dem von Friedrich G. Keller 1843 entwickelten Verfahren zur Herstellung von Holzschliffpapier reduzierten sich die Papierpreise um mehr als die Hälfte, es konnte also zu geringeren Kosten mehr gedruckt und mehr vertrieben werden, die Zeitung wandelt sich vom ‘Intelligenzblatt’ zum ersten Massenmedium. Bedingt durch die weltweiten Telegraphennetze entstehen die Presseagenturen und der Nachrichtenmarkt, mit dem Kursticker wächst der globale Finanzmarkt heran. Die industrielle Reproduktionstechnik, deren Rationalisierung mittels dampfgetriebener Schnellpressen und dem Rotationsdruckverfahren ließ die Auflagen von Druckerzeugnissen in die Höhe schnellen. Und neben der ‘Hardware’ betrifft es weiter die ‘Software’ der freilich immer noch analog und mechanisch organisierten Medienwelt. Zu nennen ist einerseits die Entwicklung rentabler Satzverfahren, vor allem Ottmar Mergenthalers Setzmaschine (Linotype, 1886), die mit dem Letternlinienguss die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Inhalte im Druckwesen erhöhte, und die Vertriebslogistik durch die neu entstandenen infrastrukturellen Netzwerke der Kommunikation (Telegraph) sowie des Transports (Eisenbahn). Welt erschloß sich für den modernen Menschen nun, da Medien Raum und Zeit neu definierten, ganz anders als je zuvor. Sie wird zunehmend sphärisch wahrgenommen, als ein supranationales Gebilde. Darauf läßt nicht zuletzt die 1865 erfolgte Gründung des 14 Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte, Stuttgart 2007, S.151ff. Ebd., S.149f – Jochum zeigt, wie der bildungsbürgerliche Anspruch, das humanistische Wissen in einer Universalbibliothek zu ordnen, sich vom Bibliothekarsberuf zugunsten der bloßen Verwaltungsdienstleistung ablöst. Alternativen, wie etwa der Fall Paul Otlet, werden bei Jochum nicht diskutiert. 15 Welttelegraphenvereins sowie 1874 des Weltpostvereins (Union postale universelle) schließen. Jetzt enstand die Synchronwelt als Imaginationsraum der zahlreichen Weltprojektemacher16, als verkabelter Kommunikationsraum einer sich infrastrukturell formierenden globalen Medienkultur, als jener Weltinnenraum des Kapitals, ein von nun an mit regelmäßig stattfindenden internationalen Weltausstellungen zelebriertes Komfortgebilde der globalisierten Handels- und Finanzwelt.17 Abbildung 4 – Die neue, weltumspannende Ästhetik: Denkmal des Weltpostvereins (Postkarte von 1914, Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Weltpostverein) Auch Paul Otlet entstammte ja einer Industriellenfamlilie, deren Reichtum – wie es zeitgenössischer Diktion wohl gesagt sein mag – dem der Arbeiterklasse abgepressten Mehrwert und der Ausbeutung von Ressourcen entsprang. Otlets Offenheit gegenüber dem Neuen, technisch ebenso wie intellektuell, mag durchaus damit zu tun haben, dass er der Welt etwas auf anderer Ebene zurückgeben und zum Fortschritt des globalen Bewußtseins beitragen wollte. So ist auch sein in fast allen Bezeichnungen ständig bemühter Universalismus mehrdeutig zu verstehen, sowohl im Sinne eines einigenden philosophischen Prinzips oder Ordnungsgesetzes, als auch der Weltprojekte, im empirischen Geist der seit London 1851 wiederkehrenden internationalen Weltausstellungen. Otlets Universelle Bibliothek bzw. das Mundaneum würde letztlich eine Art begehbare Welt-Enzyklopädie sein, in der durchaus auch angesammelt würde, was von den einzelnen Weltausstellungen bleibt. World Brain Einige Zeit später, in den 1930er-Jahren, sah der Schriftsteller und Sozialist H. G. Wells ein World Brain im Entstehen, wobei Bibliotheken, Archive, Universitäten etc. dessen einzelne Zellen bilden, die zunehmend besser vernetzt werden würden. Auch Wells bemühte die Metapher der Welt-Enzyklopädie, wenn es um die Organisation des Ganzen ging: The phrase „Permanent World Encyclopaedia“ conveys the gist of these ideas. As the core of such an institution would be a world synthesis of bibliography and documentation with the indexed archives of the world. A great number of workers would be engaged perpetually in perfecting this index of human knowledge and keeping it up to date. Concurrently, the resources of micro-photography, as yet only in their infancy, will be creating a concentrated visual record.18 Die Welt-Enzyklopädie würde in ihrer formalen Organisation ebenso wie in ihrer technischen Struktur die Gutenberg-Galaxis, die Welt der gedruckten Bücher hinter sich lassen: eine neue ontologische Form des Wissens (concentrated visual record) ist angedacht. Auch Otlets Vorstellung von einem integrativen Medium jenseits des Buches bemühte die Möglichkeiten neuer Datenträger wie Mikrofilm sowie neuer Übertragungsmedien wie Telegraphie, Telefonie, Radio und Fernsehen: Kino, Phono, Radio, Tele: als Substitute für das Buch genommen, sind diese Instrumente in der Tat das neue Buch geworden, die Werke mit dem höchsten Wirkungsgrad zur Verbreitung menschlichen Denkens. Durch das Radio wird man nicht nur überall hören können, sondern man wird von überall her sprechen können. Durch Television wird man nicht allein sehen können, was sich überall tut, sondern jedermann wird von dem Ort aus, wo er ist, sehbar machen können, was er will. Ansprachen, Musik, Theater, Schaustellung, Kundgebung, jeder wird sie auf diese Weise von seinem Lehnstuhl aus hören, sehen, an ihnen teilhaben können, und zugleich applaudieren, bejubeln, mitsingen, seine Zustimmung abgeben, zusammen mit all den anderen. [...] Durch diese Instrumente der Allgegenwart, der Universalität und der Ewigkeit wird der Mensch sich doch dem göttlichen Zustand nähern, [...] das heißt 16 Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005. 18 H.G. Wells: World Brain. The Idea of a Permanent World Encyclopedia, in: Encyclopédie Française, 1937. 17 einer allumfassenden Betrachtung der Gesamtwirklichkeit. Dies alles, nichts weniger, mehr vielleicht, findet sich in der Leistung des universellen Buches [„Livre“]!19 Auf den ersten Blick antizipierte Otlet damit nur eine multimediale Situation, doch es ging noch um viel mehr, vor allem auf der organisatorischen Ebene. Während Marshall McLuhans Metapher von Ende der Gutenberg-Galaxis in den 1960er Jahren auf das Fernsehen mit der Diagnose reagierte, dass der an der Druckkultur geschulte typographische Mensch nur mehr bedingt zukunftsfähig sei, fand der kanadische Medientheoretiker offenbar keinen Zugang zu der Alternative, die Jahrzehnte zuvor schon ausgearbeitet wurde.20 Auch bringt nicht erst der elektronisch geschaltete Rechner das Ende der Linearität, wie McLuhan im berühmten Schlusskapitel von Understanding Media ausführt. Jenseits der lange vorherrschenden Kulturtechnik Schrift und Buchdruck würden Menschen „plötzlich nomadische Informationssammler“, was einer Befreiung gleiche, da deren Welt wieder mit posttypographischen Bedeutungs- und Wahrnehmungsinhalten angereichert wird.21 Hiermit war die Chiffre einer neuen Zeit benannt, deren Zeichen aber schon seit Jahrzehnten andeuteten, dass neue mediale Grundlagen sich technisch und organisatorisch formieren. Ein mechanisches Gehirn Wesentlich festzuhalten bleibt, dass Paul Otlet ein neues, multimediales „Buch“ jenseits seiner traditionellen Form im Entstehen begriffen sah, und zwar als Meta-Medium: er schlug denn auch vor, den Wissensbestand mittels neuer Medien der Telekommunikation zugänglich zu machen und zu vernetzen. Nicht nur würden Telefon, Radio und Fernsehen erweiterte Möglichkeiten bieten, auf Dokumente zuzugreifen und sie zu verbreiten, auch könnte die Zerlegung des Wissensbestandes in seine Elemente dazu dienen, eben diese mit Informationen anzureichern, um Dokumente bzw. Inhalte über solche Zusatzinformation zu verbinden. Neue Verknüpfungen auf semantischer Ebene könnten entstehen. Dass mit der Verknüpfung von Bedeutungen ein qualitativer Sprung nicht nur in der Wissensorganisation, sondern auch in der Wissensformation selbst erreicht wäre, dessen war Otlet sich wohl bewusst. Wenn Medien das kognitive Vermögen von Menschen organisieren, dann entstünde mit dieser medientechnischen Reorganisation des kulturellen Wissensbestandes ein „cerveau mechanique“, eine Art künstlicher Intelligenz, vor allem aber eine qualitativ neue Dimension von globalem Wissen – von H. G. Wells als World Brain gefasst und von Teilhard de Chardin dann als Noosphäre spiritualistisch überhöht.22 Otlet fragte sich tatsächlich, welche Kategorisierungsmöglichkeiten es gibt, sodass Dokumente auf der Ebene ihrer Bedeutung verknüpft werden können. Sogar seine 19 „Ciné, phono, radio, télé: ces instruments tenus par les substituts du livre sont devenus en fait le livre nouveau, les oeuvres au degré le plus puissant pour la diffusion de la pensée humaine. Par radio, on ne pourra pas seulement entendre partout, mais on pourra parler de partout. Par télévision, on pourra non seulement voir ce qui se passe partout, mais chacun pourra faire voir ce qu’il voudra du point où il est. Ainsi, discours, musique, théâtre, musée, spectacle, manifestation, de son fauteuil chacun les entendra, les verra, y assistera et même pourra applaudir, ovationner, chanter en choer, clamer ses cris de participation, ensemble, avec tous les autres. [...] Par ces instruments d’ubiquité, d’universalité et d’éternité, l’homme se sera donc rapproche de l’état de divinité, de l’êtat présumé être celui des élus devant Dieu, c’est à dire la contemplation radieuse de la Réalité Totale. Tout cela, rien moins, plus peut-être, se trouve en puissance dans le Livre!“ – Paul Otlet: Traité de Documentation. Le livre sur le livre, théorie et pratique, Brüssel 1934, 431 20 Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, University of Toronto Press 1962. 21 Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, vgl. Kap.33, „Automation“. Dabei kannte McLuhan durchaus andere Beispiele der Zeit, etwa Otto Neuraths Bildersprache oder die Sinneserziehung der Bauhaus-Schule, vgl. ebd. Kap.11. 22 Wells, World Brain, a.a.O.; Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München 1959. persönlichen Dokumente zeugen von einer unermüdlichen Anstrengung in Sachen Klassifikation und Dokumentation.23 Auch hatte er erkannt, wie wichtig die Standardisierung und Verwaltung der Meta-Ebene von Informationen ist; um die Bedeutung dieses Schrittes auszuloten, müssen wir historisch etwas ausholen. Lange vor der Industrialisierung, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, stürzte „die schreckenerregende Vielzahl von Büchern, die ständig zunimmt“ einen europäischen Gelehrten in „unheilvolle Verzweiflung.“ Orientierungslosigkeit! Bei der anschwellenden Zahl der Dispute und den vielen Untersuchungen angeblich ohne erkennbaren oder auch nur nennenswerten Nutzen drohe unüberwindbare Unordnung und wohl bald der Rückfall in Barbarei. Diese frühe Klage über die Informationsflut wurde von einem geführt, der Bescheid wusste: vom deutschen Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz.24 Leibniz beschäftigte sich mit Büchern, genauer gesagt stand er zeitweise in Diensten von Barockfürsten in Hannover und in Wolfenbüttel, als Hofrat und als Hofbibliothekar. Der zum Zeitpunkt der Klage noch relativ junge Mann hatte bereits Rechenmaschinen entworfen, die mit einer reduzierten Zahlenbasis (dem Dualsystem, das Zahlen als Kombinationen von 0 und 1 repräsentiert) operieren sollten. Diese Vereinfachung durch systematische Aufhebung von Komplexität mittels Transposition auf eine nächste Ebene war nur bedingt ein Geniestreich, denn es ist eine altbekannte menschliche Taktik, die zur Entwicklung der Mathematik geführt hat: wiederholte Addition kann durch den Schritt auf eine höhere Ebene ersetzt werden, in diesem Fall wäre das die Operation der Multiplikation. Eine ähnliche Taktik sollte auch im Fall der publizistischen Informationsflut helfen. Wenn der Einzelne nicht mehr alles lesen kann, wenn die Vorteile des gedruckten Buches als (damals noch) neuem Medium sich bereits in ihr Gegenteil verkehren, dann muss eine neue Ebene, ein neues Orientierungssystem geschaffen werden. Leibniz schlug also vor, die besten Bücher zu exzerpieren, um damit Systeme gesicherten Wissens zu schaffen. Tatsächlich wurden damals, an der Wende zum 18. Jahrhundert, Wörterbücher, Lexika und Enzyklopädien populär – Bücher also über Bücher. Wissen bedeutet von nun an nicht mehr, alles gelesen, sondern bei Bedarf alles Publizierte verfügbar zu haben. Das Anlegen von Metadaten bedeutet unweigerlich Systematisierung, und als System, um das in Büchern vorhandene Wissen zu klassifizieren, entwickelte Leibniz die Dezimalklassifikation. Dies ist nichts weiter als ein Schema, um Bücher zu ordnen: hier die Schriften zur Wissenschaft, dort jene zum Recht, dann die zur Kunst, usw. Jeder Bereich erhält wieder seine Unterkategorien nach ähnlichen Prinzipien. Bibliotheksbestände erschließen sich damit nicht nur dem jeweiligen Bibliothekar, sondern in dieser Klassifikation kann sich jeder orientieren, der sie einmal kennen gelernt hat. Prinzipiell lässt sich auf diese Art nicht nur ein Bibliotheksbestand klassifizieren, sondern jede Form von Wissen. Ein allgemeines Klassifikationssystem gab es bis dahin noch nicht, nur unterschiedliche Mnemotechniken und gebundene handschriftliche Bibliothekskataloge. Die bibliothekarische Klassifikationspraxis ist übrigens bis heute nicht einheitlich; im Anschluss an Leibniz entwickelte Melvil Dewey sein amerikanisches Dewey Decimal System, das aber nicht überall übernommen wurde. 25 1895 wurde es von Otlet und La Fontaine zur Universellen Dezimalklassifikation erweitert, vor allem um den internationalen Gebrauch zu erleichtern. 23 Françoise Levie: L’Homme qui voulait classer le monde, Brüssel 2006. Das Buch folgt der gleichlautenden TV-Dokumentation der Autorin aus dem Jahr 2002. 24 Vgl. „Prèceptes pour avancer les sciences“ (1680), in: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf, München 1996, S.107-123. 25 Melvil Dewey: A Classification and Subject Index for Cataloguing and Arranging the Books and Pamphlets of a Library. (Dewey Decimal Classification), Amherst, Mass. 1876; wesentlich erweiterte Fassung: Boston 1885. Letztere enthält neben Klassifikationsziffern auch Sonderzeichen, die es erlauben, Dokumente nicht nur aufzufinden, sondern thematisch zueinander in Beziehung zu setzen. War schon Leibniz einem „blinden Denken“ auf der Spur, welches operiert mit Zeichen oder Charakteren operieren kann, deren Bedeutung es nicht unbedingt kennen muss. Es kann somit unabhängig von der semantischen Dimension des Symbolgefüges mechanisch ausgeführt werden – so suchte Otlet ebenfalls ein neues Format für Gedanken und nannte sein Klassifikationssystem une véritable langue nouvelle. Diese neue Sprache, oder besser: Syntax für gespeicherte Informationen, ordnet und systematisiert das Wissen und wird zu einer Art „künstlichem Gehirn aus Karteikarten“.26 Wenn man symbolische Operationen von der Semantik unabhängig macht, dann kann man sie theoretisch einen Apparat durchführen lassen. Leibniz ging es um die Idee der allgemeinen Berechenbarkeit, während Otlet dort, wo er vom mechanischen Gehirn sprach, die Verwaltungsoperationen der gespeicherten Gedanken letztlich in einem „Wissensapparat“ zu automatisieren trachtete. Für Otlet war das Buch evolutionsgeschichtlich gesehen nichts anderes als eine Exteriorisierung des Gehirns, mithin eine Ausweitung des Menschen.27 Da die Menschheitsgeschichte noch nicht als abgeschlossen gesehen werden kann, sind ihm die Gedanken zur Weiterentwicklung dieser quasi-organischen Anlagen in Automaten (Cerveaux mechaniques) geradezu Programm. Im Abschnitt „Inventions a faire“ seines Traité de documentation formulierte Otlet eine Art Pflichtenheft für Ingenieure, wobei die Automatisierung der Informationsarbeit als Desideratum vorgestellt wird: an die Stelle der Schreibfläche und des Datenträgers Papier träte dann ein universell zugänglicher Datenraum, die Arbeit am Schreibtisch würde durch eine neuartige Apparatur ersetzt: „La machinerie qui réaliserait ces […] desiderata serait un véritable cerveau mécanique et collectif.“28 In mehreren detaillierten Punkten wird die Reformation der intellektuellen Arbeit angekündigt, die vor allem über Telekommunikationsanwendungen laufen würde. Kunstgriffe – darum ging es schon Leibniz, und freilich auch darum, diese zu automatisieren: Rechenapparate nicht zum Ausdruck von Gedanken, sondern zur Klärung und Systematisierung des Denkens. Diese Idee, Maschinen die Berechnungen durchführen zu lassen, findet sich bei Otlet aber nur in der Form einer Organisation des Zugriffs auf klassifizierte Informationen mit mechanischem Gerät. Universales Wissen Die Idee des Computers, dem wir in seiner gegenwärtigen Form gar nicht mehr anmerken, dass er ein Rechner ist, ist wahrlich älter und komplexer als manch einäugig amerikanische Genealogie der modernen Tools for Thought es wahrhaben will.29 Es ist abstrus, wie die Forschungsliteratur hier die Ereignisse, nach denen technisch Neues in die Welt gekommen ist, als gleichsam ontologische Zufälle konstruiert: gerade weil dem offensichtlich nicht so ist, scheint es am wenigsten hinterfragt zu werden. Wir sollten uns mit der Idee anfreunden, dass Technik keine Erfinder hat, dass kein zum Apparat geronnener Geistesblitz jemals die Kultur verändert hat, in der Technik letztlich zum prägenden Merkmal wird. Sondern dass Ideen, die zu solcher Technik geführt haben, stets in der auf sie angewiesenen Kultur verankert sind, und die als solche einen Bedarf an regulatorischem Eingriff anzeigen, auf den technische 26 Paul Otlet: „Un peu de bibliographie“ (1892), zit. nach Rayward (ed.) 1990, S.17. Otlet, Traité, a.a.O., S.30, S.426 und passim – Zur Exteriorisierung vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1964/65), Frankfurt am Main 1988. 28 Otlet, Traité, a.a.O., S.391. 29 Etwa die von Howard Rheingold: Tools for Thought. The History and Future of Mind-Expanding Technology, New York 1985. 27 „Erfindungen“ fortwährend reagieren. Versuche jedenfalls, verlässliche Landkarten des Wissens zu zeichnen, sind so alt wie die Moderne selbst. Der Zweck dieser Ordnung besteht in einer Aufstellung in möglichst begrenztem Raum, und der Philosoph soll gewissermaßen über diesem Labyrinth stehen und von einem überlegenen Standpunkt aus gleichzeitig die hauptsächlichen Künste und Wissenschaften erfassen können; er soll die Gegenstände seiner theoretischen Erwägungen und die mögliche Arbeit an diesen Gegenständen mit einem schnellen Blick übersehen; er soll die allgemeinen Zweige des menschlichen Wissens mit ihren charakteristischen Unterschieden oder ihren Gemeinsamkeiten herausstellen und gelegentlich sogar die unsichtbaren Wege aufzeichnen, die von dem einen zum anderen führen. Man könnte an eine Art Weltkarte denken, auf der die wichtigsten Länder, ihre Lage und ihre Abhängigkeit voneinander sowie die Verbindung zwischen ihnen in Luftlinie verzeichnet sind; diese Verbindung wird immer wieder durch unzählige Hindernisse unterbrochen, die nur den Bewohnern oder Reisenden des in Frage kommenden Landes bekannt sind und nur auf bestimmten Spezialkarten verzeichnet werden können. Solche Spezialkarten stellen nun die verschiedenen Artikel der Enzyklopädie dar, und der Stammbaum oder die Gesamtübersicht wäre dann die Weltkarte. 30 Dictionnaires und Enzyklopädien waren nicht nur das markante intellektuelle Kennzeichen des 18. Jahrhunderts, sondern auch ein innovatives Geschäftsmodell.31 Dies hat einen guten Grund, denn Bücher waren teuer und selten in Privatbesitz, es gab zudem noch keine öffentlich zugänglichen Bibliotheken. Bildung war ein Privileg, und die akademisch Lehre fest in der Hand von Klerikern. Philosophes oder unabhängige Männer der Wissenschaft, die wir heute als Intellektuelle bezeichnen würden, entstanden als Berufsgruppe in Folge der Ausbreitung des Buchdrucks. Einerseits war das Publizieren eine neue und interessante Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen. Dabei entstanden textbasierte Gemeinschaften, und neue Zentren der Gelehrsamkeit wie die fortschrittlichen Akademien, während das Wissen in Europa sich eben durch den Buchmarkt gleichmäßig zu verbreiten begann.32 Andererseits kommt die Idee von Wissen und Wissensvermittlung in jener Zeit erst auf: es ist ein neues Wissen, das sich nach der Etablierung des Buchdrucks verbreitete: Humanismus, Reformation und Aufklärung. Neu an diesem Wissen ist, dass es nicht mehr zweckgebunden und kasuistisch angelegt ist, sondern universal. Mit anderen Worten: war Wissen bislang lokalisierbar, war es mit Orten, Zeiten und Personen oder mit bestimmten Traditionen der Zünfte eng verbunden gewesen, so transzendiert es nun solche Grenzen und man zeichnete über das „freie“ Wissen völlig neue „Landkarten des Wissens“ – ein Ausdruck, der auf Francis Bacon zurückgeht. Mit dem ständig expandierenden Buchmarkt entstand nun die Frage, wie man sich in der neuen Topographie des Wissens orientieren kann, und ob es tatsächlich eine Art Landkarte gibt, die einem hier den Überblick verschaffen kann. Enzyklopädien versprachen genau dies: „den Leser durch den ständig wachsenden Wald, um nicht zu sagen Dschungel, des gedruckten Wissens zu leiten“.33 Das zeitgenössische Wissen schwoll aufgrund steigender Reproduktion nicht nur rasant an, es verlor auch seine Verankerung in autoritären und klerikalen Strukturen. Die Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts waren neue Kulturtechniken eines aufgeklärten Bürgertums, welches sich in den Welten des Wissens frei zu bewegen beanspruchte. Es hatte sie zuvor so nicht gegeben, und vor allem die große französische Encyclopédie war ein selbstbewusstes 30 Jean Le Rond d’Alembert: Einleitung zur Encyclopédie, hg. von Günther Mensching, Frankfurt am Main 1989, S.46. 31 Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie, oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin 1993. 32 Elisabeth Eisenstein: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien/New York 1997. 33 Burke, Papier und Marktgeschrei, a.a.O., S.131. Statement gegen die staatliche und kirchliche Macht. Die ab 1751 von Denis Diderot, Jean Le Rond d’Alembert und dem ungenannt gebliebenen Chevalier de Jaucourt editierte Encyclopédie – ein Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers34 – kopierte als Aufnahme zeitgenössischen Wissensbestandes die von Ephraim Chambers in England zuvor publizierte Cyclopedia.35 Ein Produkt, das von privater Hand mit vehementem Geschäftsinteresse in die Wege gebracht und durchgeführt wurde. Als Landkarte des zeitgenössischen Wissens – „Die Nachwelt soll dann ihre Entdeckungen zu den von uns aufgezeichneten hinzufügen […]“, schrieb d’Alembert in der Einleitung – lagen schließlich 27 Bände mit insgesamt 16 500 Seiten und 2900 Illustrationen vor. 36 Wissen wird ab diesem Projekt kumulativ verstanden, es wird zusammengetragen und laufend erweitert; man konnte es historisch verstehen und, mit grandioser Ironie gegen die Macht des Glaubens und der Tradition gerichtet, als Garant kulturellen Fortschritts. Die Enzyklopädie soll eine geheiligte Stätte werden, in der das Wissen der Menschen vor den Zeitläuften und Revolutionen gesichert wird.37 Zudem wurden die Grenzen dieses säkularen Wissens neu definiert: was in die 72 000 Artikel der Encyclopédie Aufnahme fand, hing nicht allein von der akademischen Autorität der Gelehrten ab, die Herausgeber befragten ebenso die Arbeiter in den Werkstätten, um „ihrem Geist ans Licht zu verhelfen“, so d’Alembert. Wissenschaften, Künste und Handwerk generieren ihr je eigenes Wissen. Die überschaubare Form wurde in Gestalt eines neuen Stammbaums der Wissenschaften erstrebt, dessen dreigliedrige Ordnung alles zu erschließen verspricht, was die vom Menschen produzierte und beeinflussbare Welt betrifft – nach Gedächtnis (mémoire), Vernunft (raison) und Einbildungskraft (imagination). Das neuzeitliche Panorama des Wissens schafft es mit dieser innovativen Methode erstmals, das Wissen der Zeit als universales Wissen neu zu strukturieren und ihm zudem noch eine Art Klassifikationssystem zu verleihen, das die Orientierung erleichtert. Dies besänftigt also jene „epistemologische Angst“, welche die ungeordnete Natur bei Diderot auslöste, da sich doch im grenzenlosen Meer der Gegenstände, das uns umgibt, die ordnungsstiftende transzendente Macht verliert – daher die Suche und das Vertrauen in die enzyklopädische Ordnung.38 Visuelle Epistemologie Ein ganz wichtiger Punkt bei diesem Wechsel war, dass die Erschließung des Wissens auch mittels Visualisierung erfolgte. D’Alembert erwähnt Arbeiter, die über Jahrzehnte in den Werkstätten arbeiteten, ohne, wie er behauptet, das Geringste über die Maschinen zu wissen, 34 Auszüge vgl. Die Welt der Encyclopédie, ediert von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt am Main 2001. 35 1728 in London veröffentlicht, verspricht dieses technische Lexikon, das – Stichwort Hypertext – die ersten überlieferten Querverweise überhaupt enthält, eine Art publizistischer Weltabbildung schon in seinem barocken Untertitel: „An universal dictionary of arts and sciences: containing the definitions of the terms, and accounts of the things signify'd thereby, in the several arts, both liberal and mechanical, and the several sciences, human and divine: the figures, kinds, properties, productions, preparations, and uses, of things natural and artificial: the rise, progress, and state of things ecclesiastical, civil, military, and commercial: with the several systems, sects, opinions, &c: among philosophers, divines, mathematicians, physicians, antiquaries, criticks, &c: the whole intended as a course of antient and modern learning.” 36 Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d'Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie, Frankfurt am Main 2005. 37 d’Alembert, a.a.O., S.107 bzw. 108. 38 Robert Darnton: Eine kleine Geschichte der Encyclopédie und des enzyklopädischen Geistes, in: Die Welt der Encyclopédie, a.a.O., S.457. die sie bedienten. Die Bildtafeln der Encyclopédie zeigen nun Herstellungsprozesse und Maschinen, deren Funktionen und Innenleben. Aber der Mangel an Übung im Verfassen & Lesen von Schriften über die Künste erschwert die verständliche Erklärung der Gegenstände. Daher kommt das Bedürfnis nach Abbildungen. Wir könnten durch tausend Beispiele beweisen, dass ein bloßes, einfaches Wörterbuch der Sprache, so gut es auch sein mag, nicht auf Abbildungen verzichten kann, ohne in unklare oder unsichere Definitionen zu verfallen. Um wie viel mehr bedurften wir also dieses Hilfsmittels! Ein Blick auf den Gegenstand oder auf die Darstellung desselben sagt mehr als eine Seite voller Erläuterungen. Die Aufklärer wollten unter die Oberfläche der Dinge dringen, ungewohnte Einblicke und damit neue Einsichten ermöglichen. Wie schafft man Navigationen im damals schon endlos erscheinenden Meer des Wissens und stiftet Beziehungen zwischen all den Einzelheiten? Diderot fährt fort: Wir schickten Zeichner in die Werkstätten. Wir ließen Skizzen von Maschinen & Werkzeugen machen. Wir unterließen nichts, um sie deutlich vor Augen zu führen. Falls eine Maschine wegen der Bedeutung ihres Gebrauchs & wegen der Vielzahl ihrer Teile eine ausführliche Darstellung verdiente, gingen wir von Einfachen zum Zusammengesetzten über. Zunächst stellten wir auf einer ersten Abbildung so viele Bestandteile zusammen, wie man ohne Verwirrung wahrnehmen kann. Auf einer zweiten Abbildung sieht man die gleichen Bestandteile zusammen mit einigen anderen. So stellten wir nach & nach die komplizierteste Maschine dar, ohne irgend eine Verwirrung für den Geist oder für die Augen.39 Kupferstiche gab es freilich auch in anderen gelehrten Folianten jener Zeit, aber hier waren sie mehr als bloße Illustrationen, sie bildeten eine nützliche visuelle Epistemologie von eigenem Rang – und Diagramme oder Bildstatistiken spielten ansonsten ja noch keine große Rolle. Hervorgehoben sei, dass im Gegensatz zur französischen die deutsche Aufklärung absolut bilderfeindlich eingestellt war. So befand Immanuel Kant, das alttestamentarische Bilderverbot wäre eine große Kulturleistung, und da Bilder die menschliche Einbildungskraft beschränkten, müsse das Zeitalter der Aufklärung wieder daran anknüpfen.40 Neben der Konkurrenz von Schrift und Bild, die offensichtlich ist, gab es auch die Abwertung des enzyklopädischen Gedankens aus der Warte der poetischen Synthese. Im Journal meiner Reise im Jahr 1769 etwa schreibt Johann Gottfried Herder herablassend, die Enzyklopädie wäre den Franzosen wohl ein Triumph, ihm aber erscheine sie als Zeichen ihres kulturellen Zerfalls – sie würden Dictionnaires machen, weil sie nichts mehr zu schreiben hätten.41 Das ist natürlich Unsinn, denn im vorrevolutionären Frankreich gab es eine recht lebendige philosophische Publizistik, die teilweise allerdings pseudonym agieren musste.42 Ein kategoriales Missverständnis also, ähnlich jenem, das sich in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft findet. Es beruht auf dem Fehlurteil, die kulturelle Syntheseleistung der Schrift und des Buchdrucks zu verabsolutieren, die Alternativen einer visuellen Epistemologie von Diagrammatik und Bildstatistik zu unterschätzen und zugleich am typografischen System den kontingenten Aspekt der Informationsverarbeitung zu übersehen. Denn gedruckte Bücher sind nur eine Form unter anderen, um visuelle Informationen zu speichern. Sie haben, historisch betrachtet, ihren Anfang, und es liegt in der Natur der Sache, dass sie als kulturelle Leitmedien auch ihr Ende haben, wenn das wissensgenerierende System um neue Möglichkeiten erweitert wird. Das Buch als ein spezifisch modernes Medium zur 39 Denis Diderot: „Prospekt der Encyclopédie“ (1750), in: Die Welt der Encyclopédie, a.a.O., S.470. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke Band X, Frankfurt am Main 1974, S.201f. 41 Herder, in: Die Welt der Encyclopédie, a.a.O., S.70. 42 Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011. 40 „Parallelverarbeitung von Information“ sollte als ein Element des kulturellen Informationskreislaufes unter anderen betrachtet werden.43 Abbildung 5 – Industrialisierung des Druckwesens. Jahresproduktion Bücher und Periodika um 1900, Skizze von Paul Otlet (Quelle: Traité de Documentation, S.39) Diesbezügliche Dysfunktionalitäten werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts unübersehbar, was nicht der zunehmenden Konkurrenz von Bildern geschuldet ist, sondern dem industriell gesteigerten Druckwesen selbst. Seit der Reformationszeit war das Buch ein exklusives Medium zur Vermittlung höherer Werte, was eine zunehmend irrationale Wertschätzung für den technischen Datenträger (bedrucktes Papier) und damit eine Kulturideologie (Überhöhung aller Aspekte, die mit Büchern zu tun haben) nach sich zog, die Druckwerke gegenüber anderen kulturellen Artefakten bevorzugt prämiert. Doch mit der der modernen Druckindustrie wurde auch das Buch zu einem bloßen Massenprodukt unter vielen anderen. Aufzeichnung und Tradierung Jedes soziotechnische System, das Wissen organisiert, präsentiert und verteilt, konstruiert einen Geltungsraum für Dokumente: die kulturelle Wissensarchitektur. Doch die systematische Organisation des Wissens innerhalb dieser Architektur ist eine Aufgabe, die immer wieder jene Grenzen sprengt, die mit dem Buch als materiellem Datenträger gesetzt sind. Dass die Telekommunikationstechnik neue Ideen vor allem für die Diffusion des Wissens angeregt hat, kann nicht verwundern; seltsam ist nur, dass so wenig bekannt ist über jene Pioniere der Wissensgesellschaft, die Jahrzehnte vor der Ära des Internets bereits konkrete Vorstellungen davon entwickelt hatten, wie sich mittels Telegraphie, Telefon, Radio und Bildübertragung ein Wissensarchiv auf internationaler Ebene realisieren ließe. Als Mitgründer des Institut International de Bibliographie (1895) verschrieb Paul Otlet sich zunächst dem Ziel einer Systematisierung der bibliographischen Methode, um damit die Grundlage für eine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Dokumentation und Archivierung von Publikationen zu schaffen.44 Das aktuelle Weltwissen, der gesamte publizierte Wissensbestand der Menschheit, sollte erfasst und an einem zentralen Ort, einem von überall zugänglichen Wissenszentrum aufbewahrt werden. Nicht länger das Druckwesen sichert den Informationszugang, sondern die neuen Formen der Telekommunikation – was heute selbstverständlich scheint, wurde in den Jahren um 1900 antizipiert: neue Organisation des Wissens unter Bedingungen vernetzter Kommunikation. Nur: was eigentlich ist Wissen, was zählt dazu, und was davon ist dokumentiert? Welcher Typ von Aufzeichnung gilt überhaupt als Dokument? Je nach Perspektive, die man hier anlegt, ändert sich die Antwort auf die Grundlagen von Dokumentation und Information. „Quod non est in actis non est in mundo“ – wonach die Welt nicht alles wäre, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein), sondern nur jener Anteil, der davon auch in die Akten wandert.45 Der Charakter des Dokumentationswesens ist zudem abhängig von der jeweils zur Verfügung stehenden Medientechnik. Umgekehrt verändert sich die Dokumentation mit jeder Medienrevolution, und damit auch das Bild, das wir uns von der Geschichte machen. Zwei technische Zäsuren haben das revolutioniert, was als Dokument 43 Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 55f. 44 1931 umbenannt in Institut International de Documentation (IID), 1937 in Fédération Internationale de Documentation (FID). 45 Zum Sprichwort vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 89f. verstanden wird: einmal die Realaufzeichnung im neunzehnten und dann die Digitalisierung im zwanzigsten Jahrhundert. Im ersten Fall handelt es sich um eine Erweiterung des kulturellen Archivs durch postskripturale Bild- und Tonaufzeichnung – neue „Graphien“ oder medientechnisch potenzierte Aufschreibesysteme, die eine neue Ästhetik bzw. neue sinnliche Erfahrbarkeit begründen – im zweiten hingegen um nicht weniger als eine neue Logik der Organisation von Wissensbeständen auf Grundlage posttypographischer Computertechnologie. Abbildung 6 – Arbeit im Mundaneum um 1910 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) In jener Zwischenzeit, in den Jahren um 1900, war Otlets Werk als universelle Bibliothek, als Weltdokumentationsprojekt angelegt, dessen praktisch realisierte, sichtbare Seite noch aus einem Karteikastensystem bestand. Wer es heute besichtigt, sieht nur noch eine klägliche Ruine, die keine romantischen Gedanken aufkommen lässt: das Mundaneum als Institution, die sich 1910 im Brüsseler Palais du Cinquentenaire anlässlich einer Weltausstellung etablieren konnte, wurde 1934 geschlossen und geriet danach in Vergessenheit.46 Die Reste des Répertoire Bibliographique Universel zeugen von dem Bemühen, Wissen zu katalogisieren und in einem Welt-Wissenspalast zu präsentieren. Das Repertoire bestand aus einer endlosen Reihung von Karteikästen, die eine ständig wachsende Sammlung von Karteikarten mit bibliographischen Informationen enthielt. Bücher und andere Publikationen und Dokumente, auch Bilder, wurden von einem Mitarbeiterteam des Mundaneum in systematische Informationselemente zerlegt und nach einem Code, der universellen Dezimalklassifikation, abgelegt. Dazu kam die Übertragung Hundertausender Karteikarten der Library of Congress in Washington D.C., einer der bedeutendsten Forschungsbibliotheken der Welt, die durch Vermittlung des belgischen Botschafters in den Vereinigten Staaten per Schiffsfracht ausgeborgt wurden. Neben dem Répertoire Bibliographique, das 1895 als Karteikartensammlung angelegt wurde und nach der Weltausstellung von 1910 auf über 15 Millionen Einträge angewachsen war, entstand nach denselben Prinzipien ein Repertoire Iconographique, eine Bilddatenbank, sodann ein Répertoire Encyclopédique des Dossiers, welches Broschüren und Zeitschriften gewidmet war, und die Sammlung in ihrer enzyklopädischen Dimension komplettierte. Damit reagierte Otlet bereits mit einem erweiterten Begriff von Dokumentation auf den mit der neuen visuellen Kultur anbrechenden Zeitgeist mit einer Bilddatenbank. Konkret war es der Rasterdruck bzw. die autotypische Bildzerlegung, die es erlaubte, Fotografien in Druckwerken zu reproduzieren und damit für mehr Bildlichkeit in den Publikationen sorgte – eine eminente Herausforderung für das Dokumentationswesen. Fakten und Dokumente Die Idee, einen Überblick zum vorhandenen publizierten Wissen der Welt anzulegen, diente freilich nicht dem Selbstzweck. Über einen internationalen Suchdienst konnten postalisch Anfragen an das Mundanuem gestellt werden, die dann kostenpflichtig beantwortet wurden – aus dem Jahr 1912 etwa ist ein Bearbeitungsvolumen von 1500 jährlichen Anfragen überliefert. Otlet plante vollständige Kopien des Répertoire Bibliographique anzufertigen und über die Welt zu verteilen; genannt wurden die Städte Paris, Washington D.C und Rio de Janeiro. Zwischen 1900 und 1914 wurde dies tatsächlich in die Wege geleitet, allein schon 46 Zunächst als Institut International de Bibliographie etabliert, wurde das Mundaneum (vom lateinischen mundus = Welt) von Otlet bis zu seiner politisch erzwungenen Schließung 1934 betrieben. Die Reste des Kataloges befinden sich heute in Mons (Belgien), vgl. www.mundaneum.be aufgrund physischer Hemmnisse – die Karteikarten mussten handschriftlich kopiert werden und erzeugten in der Masse nicht unerheblich logistische Transportprobleme – blieb die Realisierung dieses Vernetzungsprojektes hinter seinem Anspruch zurück. Immerhin sollen einige hundertausend Karteikarten verteilt worden sein. 47 Fakten katalogisieren, diese Aufgabe wirft mehrere Fragen auf, wie etwa jene, was überhaupt dokumentiert werden kann bzw. was als ein Dokument gilt. Dass dies kein triviales Problem darstellt, zeigt die lange Diskussion über den Status von Texten bzw. Objekten, die der Information dienen. Als Dokument eines Ereignisses etwa gilt der Text, mit dem dieses Ereignis schriftlich dokumentiert wurde. Gibt aber ein Text, der in die Akten und damit in das Archiv eingeht, aber auch ein Ereignis faktisch wieder? Kann das Foto, kann ein Objekt nicht ebenso ein Ereignis dokumentieren? Im Falle eines Objekts, das als Beweis für ein Geschehen interpretiert werden kann, ist dies freilich möglich. Es dient dann der Erzeugung von Evidenz, was wiederum an die Tatsache gebunden ist, dass dieses Objekt in einer bedeutungsvollen Beziehung zu einem bestimmten Geschehen steht. Man wusste schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass man sich zu Dokumentationszwecken nicht allein auf verschriftete Dokumente würde verlassen können. Natürlich wird mit den neuen Medientechniken (Photographie, Phonographie, Film) der Begriff des Dokumentarischen ausgeweitet. Aber haben wir tatsächlich Fakten, die zur Dokumentation taugen, oder werden diese nicht auch durch die jeweilige Methode der Dokumentation erzeugt – „Un document est une preuve à l’appui d’un fait”? 48 Wird denn gelegentlich nicht alles und jedes zu einem Dokument? Was sollte das Répertoire Bibliographique eigentlich enthalten, wenn das Répertoire im engen Wortsinn gesprengt wird, wenn neben die Texte als schriftliche/typographische Dokumente also auch Ton- und Bilddokumente treten? In den Visualisierung von Paul Otlet, die Wissensorganisation betreffend, ist die Hierarchisierung von Text versus Bild aufgehoben, denn konsequenterweise haben alle Objekte das Potenzial, zu Wissensobjekten zu werden, sogar Spielzeuge (siehe Abbildung XX). Den Bedeutungsrahmen eines Dokuments dehnte er über jene Grenzen hinweg aus, die mit der typographischen Kulturtechnik gesetzt worden sind: nicht nur schriftliche oder andere visuelle Aufzeichnungen als Repräsentationen von Ideen oder von Objekten galten ihm als Dokument, sondern auch die Objekte selbst, sobald sie aufgrund einer Bedeutungsrelation zu Fakten werden. Mit solchen Möglichkeiten spielt bekanntlich die Kunst der Moderne spätestens seit Marcel Duchamp, der das Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation selbst zum Thema machte.49 Die Diskussion um Fakten und Dokumentation verweist auf eine Verschiebung im wissenschaftlichen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts, der schließlich mit einer neuen Quellenlage konfrontiert war, sowohl in Form von Fotografien, als auch in Form neuer Forschungsobjekte. So etwa aus der noch jungen Wissenschaft der Archäologie – war denn die Venus von Willendorf, 1908 gefunden, etwa kein „Dokument” frühgeschichtlicher Kunstfertigkeit? Und waren die 1886 in Altamira entdeckten steinzeitlichen Höhlenmalereien etwa kein „Dokument” der frühgeschichtlichen Lebenswelt? Offensichtlich kann ein Dokument physischer und/oder symbolischer Natur sein, und der Datenträger ist dabei weniger entscheidend als die Ebene der soziokulturellen Konstruktion von Bedeutung, die aus etwas Unbedeutendem ein bedeutsames Objekt und damit letztlich ein Faktum (lat. factum = 47 W. Boyd Rayward: „The International Federation for Information and Documentation“, in: Wayne A. Wiegand und Don G. Davis (Hg.): Encyclopedia of Library History, New York 1994, S.290f. 48 „Ein Dokument ist ein Beweis zur Stützung eins Faktums.“ – Suzanne Briet: Qu’est-ce que la documentation? Paris 1951, S.7. 49 Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992. etwas Gemachtes) werden läßt, das wert ist, dokumentiert zu werden.50 Dazu kommt wie erwähnt dass seit der Fotografie Ereignisse dokumentiert werden können, ohne dazu die Kulturtechnik Schrift verwenden zu müssen. Dies stellt einen fundamentalen Einschnitt in der Mediengeschichte dar: Dokumente entstehen nicht mehr nur, wie seit Beginn der Geschichtsschreibung, durch den Autor schriftlicher Aufzeichnung. Das Gesetz des kulturellen Gedächtnisses und die Logik des kulturellen Archivs werden auf neue Grundlagen gestellt. Im Traité de documentation dehnt Paul Otlet in diesem Sinne die Definition eines Dokuments weit über die als Schriftstück publizierte Fassung aus. Erwähnung finden neue mediale Typen der Aufzeichnung, die jenseits der Buchform dokumentarische Erschließung möglich machen: Telegraphie und Telefonie, Radio, Television, Kino, Schallplatten.51 Die Integration der durch diese neuen Datenträger gespeicherten und distribuierten Informationen in ein allgemeines Wissenssystem auf multimedialer Grundlage spielt eine sehr prominente Rolle in allen Visualisierungen, die Otlet selbst dazu anfertigte. Mikrofilm Dabei war Otlet selbstverständlich nicht nur wichtig, was in das Archiv kommt, sondern auch, wie es von dort abrufbar ist. Nach seiner Ansicht gab es dafür praktischere Medien als das Prinzip der Verwaltung von Wissen auf dem Datenträger Papier. Die Mikroverfilmung schien vielversprechend. Bereits im frühen 20. Jahrhundert steht die traditionelle Bibliothek vor einer Herausforderung: wenn am Anfang allen Wissens die empirischen Daten und Fakten sind, manifestiert sich die Form des Wissens dann ausschließlich in schriftlicher, gedruckter Fassung? Was ist mit all den anderen Zeichen, die im Prozeß der Wissensreproduktion anfallen, repräsentierende oder indexikalische Zeichen, die etwa eine Funktion in Beweisketten haben oder der Rekonstruktion von Zusammenhängen dienen?52 Mit solchen Reflexionen wurde die Dokumentation selbst als eine Kulturtechnik thematisiert, die überdacht und den Ansprüchen der Moderne angepaßt werden muss. Die emphatische Verwendung des Begriffs Dokumentation durch Otlet zeigt, dass er ihn in eine Art Überwindungsszenario gestellt hat, das die neue Logik der Datenbanken von der alten Logik der Bibliotheken und der Bibliographien trennt: Und hiermit hat eine neue Phase begonnen. Es ist nicht mehr diejenige des Bibliothekswesens, und auch nicht jene der Bibliographie, sondern es ist die einer Zusammenwirkung des Buches und des 53 Dokumentes, als die Dokumentation. Damit wird deutlich, dass Dokumentieren mehr ist als bloßes Archivieren, und dass Dokumentation bei Otlet zu einer Art kulturrevolutionärem Kampfbegriff wurde. Erst die sorgfältig organisierte Dokumentation könnte eine weltweite intellektuelle Kooperative ermöglichen, ein umfassendes und stets aktuelles Netz wissenschaftlicher Information.54 50 Michael K. Buckland: „What is a ‚document‘?“, in: T.B. Hahn und M. Buckland (Hg.): Historical Studies in Information Science, Medford, NJ 1998, S.215ff. 51 Documents dits ‚Substituts de Livre‘ – Otlet 1934, a.a.O., S.216. 52 Vgl. die visuelle Diagrammatik von Peirce: „I do not think I ever reflect in words: I employ visual diagrams.“ – Franz Engel, Moritz Queisner, Tuilo Viola (Hg): Das bildnerische Denken von Charles S. Peirce, Oldenbourg Akademieverlag 2012. 53 „Et maintenant voici qu’une nouvelle phase est commencée. Ce n’est plus ni celle de la Bibliothéconomie, ni celle de la Bibliographie, c’est celle de l’ensemble du Livre et du Document, la Documentation.“ – Otlet, Traité, a.a.O., S.38. 54 „réseau de distribution de l’information scientifique la plus complète, la plus récente, la plus autorisée“ – Otlet, Traité, a.a.O., S.401. Es ist die Klarheit und die Konsequenz, mit der Otlet sich die Reorganisation der Wissensinfrastruktur vorstellte, die heute noch beeindruckt. Das Buch wird in seine Komponenten aufgelöst, in die einzelnen Informationseinheiten, und jedes élément intellectuel d’un livre wird auf einem eigenen Datenträger (Karteikarte, fiche) fixiert. Es handelt sich um eine gewaltige andauernde Übersetzungsarbeit von Ideen (Schlagwörtern), Fakten und Publikationen in den UDC-Klassifikationscode, so würden die Wissensdaten nicht nur vervielfältigt, sondern auch neu assoziiert werden. Zur leichteren Handhabung der Karteikarten ließ Otlet spezielle Serien von Karteikästen anfertigen, dem neu entworfenen und in seinen Maßen standardisierten Meuble classeur. In 18 Reihen zu je 4 Schubladen, über zwei Meter hoch und mit einer ausziehbaren Ablagefläche in der Mitte, ließen sich in diesen leicht aufzustellenden Kästen Abertausende von Karten mittels Klassifikationscode systematisch anordnen. Abbildung 7 – Paul Otlet arbeitet am ‚meuble classeur‘ im Palais du Cinquentenaire, ca. 1910 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) Die Suche nach Informationen erfolgte per Hand, und sie verwies wie der Bibliothekskatalog auf den Standort des Buches auf den Ort, an dem sich die Inhalte befinden. Katalog und Archiv waren nicht identisch – ein Problem, das Otlet mit der Institutionalisierung eines Speichermediums zu lösen suchte. Diese Speicherinstitution wäre keine Bibliothek, sondern letztlich die Sammlung von Schautafeln im Gebäude des Mundaneums wie auch die geplanten Reproduktionen von Dokumenten, die er als eine Encyclopedia microphotica Mundaneum aufzubauen trachtete. Die sichtbare Ausstellung (Schautafeln, Bildstatistiken) sollte sich an ein allgemeines interessiertes Publikum richten, das Mikrofilmarchiv stünde wohl eher der Forschung zur Verfügung. Problemlage: Proliferation gedruckter Werke, Unüberschaubarkeit des publizierten Wissens, Dysfunktionalität des Bibliotheksystems Unübersichtlichkeit der Wissensbestände, neue Medieninhalte jenseits der Schrift, Unklarheit des Begriffs Dokument Singularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Gefährdung des Zugangs zu Wissensbeständen, Immobilität der Wissenselemente Lösungsansatz: Neue Methodik - Universale Dezimalklassifikation - Reform des Dokumentationswesens - Sicherung der Metadaten in einem Répertoire Neue Technik - Standardisierte Karteikarten und Kästen - Ausweitung der Dokumentation - Sicherung multimedialer Wissensbestände Neue Institution - Wissensvernetzung in einer Encyclopedia Universalis - Errichtung des Mundaneums als analoges Datenbanksystem - Mikrofilm-Archivierung Tabelle – Paul Otlets „Aktionsplan“ für den Weg in die Wissensgesellschaft. Das allgemein daraus resultierende Problem ist offensichtlich: die grafische Reproduktionstechnik war zu jener Zeit noch nicht so weit, den Aufbau eines derartigen Wissensspeichers leisten zu können. Auch die Systematisierung einer neuartigen Bildersprache zur Erstellung von reproduktionsfähigen Tafeln begann erst Mitte der 1920er – Jahre durch das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien unter der Leitung von Otto Neurath, mit dem Paul Otlet Kontakt hatte. Der konkrete Anlass war die geplante Zusammenarbeit an einem Zivilisationsatlas im Auftrag einer Genfer Erziehungskommission, der aber nicht mehr zustande kommen sollte. Dennoch eröffnete man eine Dependance des Mudaneum 1931 in Wien, nachdem Otlet dort auch Neurath besucht hatte.55 Sicher konnte man Schautafeln in Serie anfertigen und Dokumente mikroverfilmen, doch ein Problem trat auf der technischen Ebene deutlich hervor. Wie Charles van den Heuvel und W. Boyd Rayward nachfolgend argumentieren, war sich Otlet durchaus der neu entstehenden Interface-Problematik bewusst, die sich mit der Beziehung von Wissensbeständen an so unterschiedlichen Orten wie Museum, Bibliothek, Enzyklopädie sowie den Fragen ihrer Klassifikation ergeben. Wenn diese Assoziation oder Verknüpfung nach Parametern erfolgt, die abfrageabhängig sind, dann haben wir damit zwar schon das Prinzip einer Datenbank vor uns. Die bedarfsgerechte Darstellungsform kann allerdings erst die elektronische Datenverarbeitung leisten, mit Karteikarten ist dies eine viel zu mühsame Sache. Einstweilen schafften die Mitarbeiterinnen des Mundaneum die Bearbeitung von bis zu 2000 Karteikarten täglich. Als Lösung des Problems auf quantitativer Ebene setzte Otlet, wie andere in jener Zeit auch, auf eine Verringerung des Datenvolumens durch Mikrofotografie. Durch das Abfotografieren von Buchseiten steht der Inhalt in einem neue Format zur Verfügung – erst ein Jahrhundert später sollte Google Books das Projekt der Volltextsuche in eingescannten Büchern zur Realität machen. Doch auch hier gab es eben Pionierarbeit im analogen Feld. Zunächst sah Otlet, der 1907 gemeinsam mit dem belgischen Chemiker Robert B. Goldschmidt zu dieser „neuen Form“ des Buches publizierte, die Notwendigkeit einer Standardisierung von Microfiches. 56 In einem entsprechenden Möbel oder einer Machine à lire könnte dann durch die Verkleinerung das Äquivalent einer ganzen Bibliothek zur Verfügung stehen – die Microphotothèque als Lösung (siehe unten, Seite XXX). Texte und grafische Darstellungen auf dem filmischen Datenträger würden disponibel, durchsuchbar, tauschbar und miteinander verknüpfbar. Es handelt sich bei einem Microfiche um eine analoge Reproduktion von Text oder Grafik, die aufgrund des verkleinerten Formates aber mit freiem Auge nicht mehr lesbar sind. Man braucht also ein Lesegerät, einen Projektionsapparat. Auch müssen die Inhalte über einen Klassifizierungscode verwaltet werden, um die entsprechenden Dokumente zu finden. Würde all dies funktionieren, hätte man mit der Microphotothèque eine Art Bildschirmarbeitsplatz mit automatisierter Wissensverwaltung gehabt. Aber an dieser Stelle bleibt Otlet in seinem Traite, wo er die Idee wiederholte, ziemlich spekulativ: er spricht von einem Pflichtenheft für die Ingenieure, um irgendwann das Cervau mécanique et collectif entwickeln zu können. 57 Tatsächlich gab es fähige Ingenieure, die derartiges zu leisten imstande waren. Emanuel 55 Levie, L’Homme... a.a.O., S.335. Robert B. Goldschmidt, Paul Otlet, Sur une forme nouvelle du livre— le livre microphotographique, Bruxelles 1906; dies.: La Conservation et la diffusion international de la pensée: le livre microphotique, Bruxelles 1925 – Als ‚Erfinder‘ des Mikrofilms wird oft der französische Optiker René Dagron genannt, dieser hat jedoch 1859 nur das erste Patent dafür angemeldet. Der Brite John B. Dancer, der sich 1852 die Stereoskop-Kamera patentieren ließ, experimentierte bereits 1839 mit Mikrofotografie. Auch bei der ersten Weltausstellung in London (1851) wurde Mikrofotografie gezeigt und in Berichten als Speichermöglichkeit für Dokumente diskutiert. 57 „Inventions a faire“, Otlet, Traité, a.a.O., S.389ff. 56 Goldberg, technischer Direktor von Zeiss Ikon in Dresden, fertigte ab 1925 ein Gerät, das eine automatisierte Dokumentensuche auf der Basis von Mikrofilm möglich machte. Er nannte es Statistische Maschine und erwarb 1928 dafür ein deutsches und 1931 ein amerikanisches Patent. In dieser Maschine kamen unterschiedliche Technologien zusammen, wie Mikrofilm für das Speichern von Dokumenten und fotoelektrische Zellen zur automatischen Adressierung von Suchanfragen über eine Indexcodierung. Goldberg [...] beschreibt die Konstruktion einer Maschine für das Suchen, Auffinden und Anzeigen von beliebig vielen Dokumenten, die bestimmten, vor der Suche spezifizierten Kriterien entsprechen, unabhängig davon, in welcher Reihenfolge diese Dokumente auf dem Film abgelegt sind. Es handelte sich um ein richtungsweisendes Verfahren für die Suche und Anzeige von Dokumenten, bei dem Mikrofilm als Speichermedium für die Dokumente zum Einsatz kam, Fotozellen für das Abtasten der Indexkodierungen verwendet wurden und digitale Schaltungen für die Mustererkennung verantwortlich waren. 58 Unter dem Titel einer neuen Methode der „photographic registration“ berichtete 1932 das renommierte British Journal of Photography vom Vortrag Goldbergs, den dieser im Jahr zuvor am Internationalen Kongress für Fotografie in Dresden gehalten hatte. Bei dieser Gelegenheit demonstrierte Goldberg einen funktionierenden Prototyp seiner neuen „Wissensmaschine“. Andere Entwicklungen, wie die eben auch in den Vereinigten Staaten von Georges Sebille patentierte „Apparatur für das Lesen von Büchern und dergleichen“ zeugen von den damals neuen Ideen eines Wissensmanagements jenseits des Buches: die Bilder von Mikrofilmrollen konnten auf einen Bildschirm projiziert und dort betrachtet oder kopiert werden. Es handelt sich also um eine frühe Form der personalisierten ArbeitsplatzStation, im Fall von Sebille mit den Seiten von ganzen 1200 Büchern auf Mikrofilm.59 Während mit den Fotozellen erste Ansätze der Elektronik bereits erkennbar wurden, galt die Mikrofilm-Technologie in den 1930er-Jahren noch als absolut zukunftsweisend. Eine Apparatur auf visueller Grundlage der fotografischen Verkleinerungstechnik würde als Encyclopédie microphotique raschen Zugriff auf Dokumente ermöglichen und die Arbeit mit ihnen erleichtern. Gemeinsam mit Goldschmidt entwickelte Otlet nicht nur diese Idee des neuen Buches, er spekulierte in seinem Traité auch über die Integration in Entwicklung befindlicher neuer Medientechnologien wie dem Fernsehen für ein künftiges Wissenssystem; Telekommunikation, bestehend aus Telefon, Radio, Phonographie, Kinematographie und Television würde einen multimedialen Wissensraum hervorbringen. Wichtig war für ihn die Verbindung von systematischer Dokumentation und den Zugangsmöglichkeiten über die wachsende Infrastruktur der Telekommunikation. Denn dank der universellen Dezimalklassifikation würde der thematische Zugriff nicht nur auf Schriften, sondern auf alle diese Dokumente möglich sein, sofern sie klassifiziert und mikrofotografisch abgespeichert wurden; ein Wissensspeicher ungeahnten Ausmaßes würde so entstehen.60 58 Michael Buckland: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik, Berlin 2010, S.211. 59 Ebd., S.205f. – Es gibt genug Hinweise darauf, dass der MEMEX, den Vannevar Bush in seinem berühmten Artikel „As we may think“ (The Altantic Monthly, 1945) weder eine ‚hypothetische Maschine‘ noch eine ‚medienkombinatorische Fiktion‘ war, wie es oft heißt, sondern eben diese konkret existierenden Vorbilder gehabt hat – die Stilisierung von Bushs Beitrag ist ein Mythos einiger Medientheoretiker, denen die Quellenlage außerhalb der Computerentwicklung gänzlich unbekannt ist; so etwa in den Beiträgen bei Hans Dieter Hellige (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld 2008. 60 Von dieser analogen Technologie ist unsere Gegenwart übrigens nicht so weit entfernt, wie man gern glauben würde: historisch bedeutsame Urkunden, Verträge und andere Dokumente zwecks Langzeitarchivierung immer noch auf Mikrofilm kopiert, versiegelt und im Granit und Gneis des Barbarastollens versenkt. Dieser geschützte sogenannte „Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“ bei Freiburg im Breisgau ist Europas größtes Archiv für Dokumente von kulturhistorischer Bedeutung. Abbildung 8 – Paul Otlets Visualisierung einer multimedialen Verschmelzung von Dokumentation und Telekommunikation, aus der Encyclopaedia Universalis, ca. 1934 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) Paul Otlet war teils aus Begegnungen, teils aus Publikationen mit den Entwicklungen jener Ingenieure bestens bekannt, denen er dann im Traité seine Vorstellungen in ein Pflichtenheft diktiert hat. In der Geschäftswelt war man in jenen Jahren auch daran, die Verwaltung von Unterlagen wie die Handhabung von Schecks zu mechanisieren. Begründer der modernen maschinellen Datenverarbeitung war Herman Hollerith mit seiner Lochkartenmaschine, für die er bei der Pariser Weltausstellung 1889 die Goldmedaille erhielt. Ganze 43 dieser Maschinen kamen 1890 bei der amerikanischen Volkszählung zum Einsatz und verkürzten die Auswertung der erhobenen Daten in eindrucksvoller Weise. Der Bedarf an automatisierter Datenverarbeitung stieg in jener Zeit gewaltig an, sowohl bei den Behörden als auch im Handel und beim Militär. Die Hollerithmaschinen wurden aber erst ab den späten 1940erJahren von automatischen Elektronenrechnern ersetzt. 61 Für die Ideen zur automatisierten Datenselektion, die Otlet verfolgte, bezog er sich auf statistische Maschinen wie die von Hollerith, welche er im Traité erwähnte.62 Hyper-Medialität Zugleich jedoch trachtete Otlet nach einer Zusammenführung der unterschiedlichen Technologien der Verwaltung von Daten und des Zugangs zum Wissen. Neben der Erfassung und Verwaltung bibliographischer Angaben, für die eine automatisierte Statistik genügen würde, ging es ihm um einen spezifischen Mehrwert, und das war der Bildschirmleseplatz, an dem nicht nur die bibliographischen Einträge zugänglich wären (also die Verwaltung der Metadaten), sondern schon auch die Inhalte selbst. Unter der Voraussetzung nun, dass man nicht eine einzelne, sondern einen ganzen Komplex miteinander verbundener Maschinen zu Einsatz bringen würden, hätte man „uneingeschränkte mechanische Handhabung sämtlicher aufgezeichneter Informationen für die Gewinnung neuer Bestandskombinationen, neuer Ideenkonstellationen, neuer symbolischer Operationen“ – und damit das mechanische und kollektive Gehirn.63 Hier wurde nichts weniger als ein von Otlet wörtlich so genanntes Réseau mondial de communications intellectuelles antizipiert, tatsächlich eine sowohl im spekulativen Bereich der Technikentwicklung als auch in Organisationsfragen, wie durch zahlreiche Textstellen im Traité belegt, ziemlich erstaunliche Vision dessen, was gegen Ende des 20. Jahrhunderts als Vernetzung von Wissensressourcen auf der Grundlage von Telekommunikation und Informationsverarbeitung realisiert werden sollte. Es geht dabei um Wissenskommunikation auf globaler Ebene: eine Organisation mondiale, wie Otlet schrieb, die wie ein Weltgehirn funktionert, dessen zentral gesteuerte Organismen ein Réseau de communication, de coopération et d’échanges bilden. Abbildung 9 – Organisation Mondiale – Réseau de communication, de coopération et d‘échanges. Otlets Organigramm eines weltweiten Kommunikationsnetzes, 1934 (Quelle: Traité de Documentation, S.420) www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Kulturgutschutz/ZentralerBergungsort/zentralerbergungsort_no de.html 61 Herbert Matis: Die Wundermaschine. Die unendliche Geschichte der Datenverarbeitung: Von der Rechenuhr zum Internet, Frankfurt/Wien 2002. 62 Otlet, Traité, a.a.O., S.388ff. – Erwähnung findet außerdem das in den USA von Eugene Power entwickelte Mikrofilmgerät, ebd. 63 Otlet, Traité, a.a.O., S.391. Dieses hypermediale Prinzip der Weltinformation würde eine künftige Form der HyperIntelligenz organisieren, und Otlet dachte hierbei in ganz ähnlichen Kategorien wie andere europäische Gelehrte, die lange vor dem Computerzeitalter mit neuer, auf globale Wissenskommunikation angelegter Medientechnik den Schritt in die Medienmoderne konzeptionell vollzogen haben, obwohl die Technik selbst noch lange nicht so weit war – genannt seien nur Wilhelm Ostwald und Otto Neurath.64 Auch Otlet visionierte mit seiner Idee der Hyper-Medialität mehr als was damals realisierbar war. Etwa die partizipativen Möglichkeiten und neuen inhaltlichen Zugänge, die man de son fauteuil, von seinem privaten Lehnstuhl aus würde nutzen können, zu einer Zeit, als jede technische Möglichkeit noch weit hinter solche Vorstellungen zurückfallen musste. Er rationalisierte und systematisierte für sein bibliographisches System die Datenträger nach dem Principe des fiches mobiles, diese Fiches aber, die Karten, erwiesen sich als physisch widerständig. Dennoch schwebt über allem die Vision eines widerstandslosen Datenflusses, wobei die Terminologie recht emphatisch wurde. Für seine Agenda verwendete Otlet selbst den Begriff der Hyper-Dokumentation.65 Diese erlaubt ein Navigieren durch alle zur Verfügung stehenden Meta-Informationen. Da sie standardisiert sind und damit serialisiert werden können, bilden sie als ein Réseau Universel d’Information et Documentation die Basis globaler intellektueller Arbeit: wo immer die Information gebraucht wird, wäre sie verfügbar zu machen. Das Moment, welches diese Idee über herkömmliche bibliothekarische Methoden hinaustreibt, war eben die Einbindung der Möglichkeiten moderner Telekommunikation. Die Vereinheitlichung des Trägerformats von bibliographischen Metadaten auf der genormten Karteikarte war nur ein Aspekt eines neuen Informationsmanagements, das von Otlet und Mitarbeitern entworfen wurde. Das Speichern und Wiederauffinden von Daten sollte auf vollkommen neue Grundlagen gestellt werden, wobei neue Prinzipien auch für den Transport und die Verknüpfung von Dokumenten entwickelt wurden. Schreibmaschinen bieten neue Möglichkeiten, aber auch neue Arbeitsgeräte wie mit Elektromotoren verstärkte Classeurs, die das Auffinden und Ausheben von Dokumente besorgen.66 Schließlich ist niemand an Büchern interessiert, sondern an den Informationen, die diese enthalten – sie könnten idealerweise auf neuen Arbeitsmöbeln präsentiert werden, auf dem frei verfügbare Flächen die gewünschten Inhalte anzeigen (ganz nach Art der heutigen Desktops), die aus einem international vernetzten Reservoir an Dokumenten telekommunikativ abgerufen werden, eine Vorstellung, mit der Paul Otlet durchaus moderne Hypertext-Systeme antizipierte.67 Weltmuseum für den Weltfrieden Otlet dachte weit jenseits des Buches und blieb in alltäglichen Zusammenhängen dennoch noch an die Welt des Papiers gebunden. So blieben einige Tonnen davon sein Vermächtnis, das nach der im Jahr 1934 politisch erzwungenen Schließung des Mundaneums in Vergessenheit geriet. Die Wissensmaschine „Buch/Bibliothek“ sei wenig zukunftsgeeignet, ihre Grenzen müssen gesprengt werden, so lautete sein Mantra. In diese Richtung argumentierte schließlich der Traité de Documentation, obwohl wie gesagt eine technologische Alternative zur analogen Informationsverarbeitung nicht ernsthaft zur 64 Wilhelm Ostwald: Das Gehirn der Welt, München 1912; Otto Neurath: International Picture Language, London 1936 – Zur Diskussion vgl. W. Boyd Rayward (ed.): European Modernism and the Information Society. Informing the Present, Understanding the Past, Ashgate 2008. 65 „l‘Hyper-Documentation“ – Otlet, Traité, a.a.O., S.429. 66 Otlet, Traité, a.a.O., S.388f. 67 Vgl. W.Boyd Rayward: „Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868-1944) and Hypertext“, in: Journal of the American Society for Information Science, Nr.45, 1994, 235-250 Verfügung stand. Daher gab es bei Otlet stets noch die Vorstellung eines physischen Zentrums der Weltinformation, das Centre mondial, zu dem Informationssuchende weltweit per Ton-, Bild- und Textübertragung in Kontakt treten können sollten. Die Gefahr einer Totalisierung des Wissens, die im Fahrwasser einer Hegelschen Auffassung des Enzyklopädischen liegt, ist hier ebenso ein Problem wie die positivistische Wissenschaftshaltung verbunden mit der Emphase auf Weltverbesserung. Sind denn sozialpolitische Probleme durch Technologien des Wissens und der Kommunikation wirklich lösbar? Wirkt der Zugang zu Informationen per se schon friedensstiftend? Immer wieder taucht diese Idee auf, bei Otlet wie auch bei seinen Zeitgenossen. Die mit wissenschaftlicher Rationalität gestaltete Enzyklopädie soll politische Konflikte auflösen und sozial integrierend wirken. 68 Ein fraglos überspanntes Projekt. Neue Medien- und Kommunikationstechnologien beleben gleichwohl immer wieder die Aspirationen in diese Richtung. Mit ähnlichem Messianismus – „to organize the world’s information and make it universally accessible and useful“ – definiert heute noch das Suchmaschinenunternehmen Google sein übergeordnetes Ziel.69 Spätestens wenn die Digitaltechnik die Informationselemente in einer globalen Medienkultur disponibel werden läßt, wird klar, dass die Form eines Dokuments ihrer Funktion im Wissensuniversum untergeordnet sein würde. So kann die Dokumentationsaufgabe – in völliger Entgegensetzung zum starren positivistischen Konzept der archivarischen Erfassung und enzyklopädischen Ordnung – zu einer Transformationsleistung werden, die das Wissen dynamisiert und nicht festschreibt. Die Dokumentation stellt die Achsen zur Verfügung, auf denen zusätzlich zur traditionellen Überlieferung die Elemente des Wissens zweckdienlich verschoben und raumzeitlich gestreut verfügbar gemacht werden können, was eine neue Dimension der Wissensordnung schafft: damit würde letztlich das Gewicht mehr auf die Relation zwischen den Informationslementen gelegt und nicht auf die Informationen selbst, die nach der Logik von Datenbanken ihren Status ständig ändern, weil dieser abfrageabhängig geworden ist. Ein mechanisch-analoges System wie die Bibliothek oder auch Otlets Mundaneum wird ab genau dem Punkt dysfunktional, ab dem der Aufwand zur Verwaltung des ständig wachsenden Datenbestandes die vorhandenen Kapazitäten übersteigt. Die Logik der Datenbank hingegen ist eine radikal andere, denn die Bewältigung wachsender Datenmengen ist im Digitalzeitalter nicht mehr das Problem. Das Wissen automatisch zu organisieren heißt auch, es auf neuer Grundlage zu bewerten. Mit Elektronik und Digitalisierung entstehen Technologien, in die menschliche Logik implementiert wurde. Die Apparate – Computer, Server und Netzwerke – erscheinen uns in quasi verselbständigter Form. Sie vollführen heutzutage mittels Software-Agents bereits automatisch kleinere Aktionen und treffen Entscheidungen mittels eines Inferenz-Layers, der sie Aussagen, Verweise oder Empfehlungen aus einer bestehenden Wissensbasis ableiten lässt, die auf statistischer Grundlage erstellt wurde.70 Kommen mehr Daten in eine elektronische Datenbank, wird deren Abfragequalität automatisch mitwachsen; wenn der Gebrauch die Datenbasis selbst anwachsen lässt, dann steigt die Qualität der Suchergebnisse. Das ist gegenwärtig mit ein Grund für den Erfolg von Google. 68 Otto Neurath: Unified Science as Encyclopedic Integration, in: International Encyclopedia of Unified Science, Vol. 1.1, Chicago 1938 – Vgl. auch Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. von Rainer Hegselmann, Frankfurt am Main 1979. 69 www.google.com/corporate 70 „Statistische Inferenz“ bedeutet automatisiertes Schlussfolgern und Lernen aus Daten. Ein Beispiel wäre die automatisierte Verwaltung von Nutzerzugriffen auf Webseiten, aus denen sich ohne menschliches Zutun bestimmte Aussagen und Bewertungen generieren lassen. Zur Veranschaulichung vgl. die in diesem Sinn automatisierte Empfehlung bei Amazon: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“ oder „Welche anderen Artikel kaufen Kunden, nachdem sie diesen Artikel angesehen haben?“ Als der Informatiker Larry Page in den 1990er-Jahren den Algorithmus für Google entwickelte, dachte er sozusagen auch noch in den Bahnen der Buchkultur. In der akademischen Welt wächst bekanntlich die Bedeutung eines Textes, je mehr dieser in Texten von Kollegen des Autors zitiert wird. Die Übertragung der Prinzipien akademischer Zitierweise ins World Wide Web erklärt (ansatzweise) das Prinzip von Google mit seiner Entwicklung eines entsprechenden Algorithmus für die Rangreihung von Webseiten in Suchmaschinenergebnissen – je mehr eine Webseite von anderen verlinkt wird, desto weiter vorn in der Ergebnisliste wird sie bei einer Suchanfrage gereiht. Diese Wertung erfolgt durch eine mathematische Analyse innerhalb einer Datenbank, welche die Links von Webseiten enthält. So funktioniert Google: seine auf unzählige Server weltweit verteilte Datenbank bildet inzwischen ein künstliches Gedächtnis, es entspricht etwa jener Vorstellung vom Cerveau mechanique, von dem Paul Otlet phantasiert hat. Übrigens, die Realisierung von Otlets Mundaneum als Weltmuseum – für die er namhafte Künstler und Architekten wie Hendrik Christian Anderson71 und Le Corbusier (siehe dazu unten die Ausführungen Wouter Van Ackers) zu gewinnen suchte – war gar nicht so naiv wie es nachträglich scheinen mag. Wissen braucht Orte, an denen es gesammelt und verwaltet wird. In Zeiten der vermeintlichen Ortlosigkeit des Internets wird leicht vergessen, dass auch Google auf seine Hardware-Architektur und auf Computercluster in weltweit betriebenen Rechenzentren angewiesen ist. Abbildung 10 – Otlet (Mitte) und Mitarbeiterinnen mit einem Modell des Mundaneum im Palais du Cinquentenaire, ca. 1910 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien) Stand einst einem wachsenden Dokumentenbestand die Erfordernis eines wachsenden Indizierungsaufwandes entgegen, so wächst im Zeitalter der elektronisch-mathematischen Verwaltung von Relationen die Qualität einer Suchmaschine im Digitalzeitalter. Dass inzwischen jede Google-Suche – sie findet genau genommen nicht „im Internet“ statt, sondern im Cache-Memory von Googles Servern und ihren Datenbanken – von den Millisekunden profitiert, die damit eingebracht werden können, trägt zum Erfolgsgeheimnis bei. Und je weniger wir auf unser Gedächtnis vertrauen und je stärker wir uns an die Auffindbarkeit aller Inhalte durch ein intelligentes Searchtool gewöhnen, desto schlauer wird dieses World Brain, das wir ständig füttern während wir es benutzen.72 Das Unternehmen Google Books strebt eine umfassende Volltextsuche aller Printpublikationen an, sowohl von Verlagen als auch von Bibliotheksbeständen. Dessen Buchdigitalisierung begann 2004 und laut Presseberichten soll es möglich sein, dass bis 2020 alle weltweit vorhandenen Bücher (laut Schätzung sollen das ca. 130 Millionen Bücher sein) in digitaler Form vorliegen. Allein, der Rechtsstreit mit Verlagsverbänden und Interessenvertretungen von Autoren scheint endlos und so bleibt aufgrund der juristischen Grauzone weiterhin fraglich, ob und vor allem wann eine freie Online-Verfügbarkeit der Publikationen tatsächlich uneingeschränkt möglich sein wird. Trotzdem, Otlet wäre wohl verblüfft zu erfahren, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Bücher gibt, die man an ihren Standorten, den Bibliotheken (oder eben virtuell, als gescannte Textseiten) konsultieren muss, während uns doch längst eine alternative Kulturtechnik zur Verfügung steht. Er beabsichtigte, das publizierte Weltwissen überschaubar zu machen. Die Hyper-Dokumentation diente schließlich dem Zweck, einen raschen Überblick über komplexe Wissensgebiete zu 71 Hendrik Christian Andersen, Ernest Hébrard, et al.: Creation of a World Centre of Communication. Paris: 1913. 72 Nicholas Carr: The Shallows. What the Internet is Doing to Our Brains, New York 2010, Kap. 7. ermöglichen und die gewünschten Informationen auf jede technisch mögliche Art und Weise zu prozessieren. Die dokumentarische Arbeit würde zu einem Atlas der Weltinformation anwachsen, zur Encyclopedia Universalis Mundaneum, die das Wissen der entstehenden Weltgesellschaft repräsentiert.73 Seiner Idee, dass Texte aus Büchern über Telekommunikationsnetze zu den Leser kommen (und nicht umgekehrt), entsprach die technische Realität seiner Zeit noch nicht ganz. Sie war aber denkbar und schien technisch machbar, und das ist entscheidend. Paul Otlet bleibt ein interessanter Visionär, weil er die Logik einer alternativen Kulturtechnik antizipiert hat, während die mediale Technik selbst gar nichts bewirkt hat. Sie ist und bleibt eine Ermöglichungsbedingung, die von vielen anderen Faktoren abhängt – in den Worten eines anderen Visionäres der globalen Medienkultur: es ist jetzt nicht mehr die Technik, die unsere Möglichkeiten in der Kommunikation beschränkt, die Hindernisse sind allein wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Natur. 74 73 Paul Otlet: Monde. Essai d'universalisme: connaissance du monde, sentiment du monde, action organisée et plan du monde, Brüssel 1935. 74 „We have now reached the stage when virtually anything we want to do in the field of communciations is possible: the constraints are no longer technical, but economic, legal or political.“ (Rede zum UNWeltkommunikationstag 1983) – Arthur C. Clarke: How the World was One. Beyond the Global Village, London 1992, S.213.