Aus: Frank Hartmann Hg.: Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der
Wissensvisualisierung, Berlin: Avinus 2012, S. 11-61
Einleitung
Die Logik der Datenbank
Zwischen Leibniz und Google – Otlet der Weltbibliothekar
Frank Hartmann
Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts gibt es Internet für alle – die Verbindung zur Welt,
mindestens zu jenen Teilen, die uns Telekommunikation und Digitalmedien preisgeben, ist
jederzeit möglich. Bücher, Bilder, Filme, Sounds: Milliarden Dokumente sind in
digitalisierter Fassung zuhanden, das maßgebliche Archiv der westlichen Kultur ist online
oder wird es demnächst sein. Ungeahnte Informationsmengen wurden damit zugänglich, das
dokumentierte Wissen ist instantan und prinzipiell ortsunabhängig abfragbar, ganze
Bibliotheksbestände und Archive sind bequem durchsuchbar.
Obwohl das vor wenigen Jahrzehnten noch eine völlig phantastische Vorstellung war, gab es
bereits profunde Ideen in diese Richtung, und mehr noch: konkrete Ausarbeitungen einer
Ordnung des Wissens jenseits der Gutenberg-Galaxis. Davon handelt der vorliegende Beitrag
zum Werk von Paul Otlet, einem im deutschen Sprachraum eher unbekannten Pionier der
Wissensgesellschaft.
Das Format des Buches und dessen Organisation in Bibliotheken schien Otlet nicht länger
angemessen, um im anbrechenden 20. Jahrhundert das relevante Wissen zu repräsentieren. Er
wandte deshalb seine gesamte intellektuelle Energie dafür auf, die Dokumentation von
Information und Wissen neu zu strukturieren. Angesichts vielfältiger Problemlagen, die mit
der Industrialisierung des Druckwesens begannen, musste ein neues Paradigma jenseits des
Prinzips der Monographie her, und für Otlet war das avant la lettre die Logik der Datenbank.
Die Klärung dieser neuen Logik wurde zu Paul Otlets Lebenswerk: von der Überarbeitung der
Dezimalklassifikation für Bibliotheksbestände zur Classification décimale universelle über
die Professionalisierung des Dokumentationswesen mittels Karteikarten und Mikrofilm bis
hin zum technisch natürlich noch unausgereiften Entwurf eines weltweiten Wissens- und
Kommunikationsnetzes.1 Nach der Publikation seiner Gedanken im Jahr 1934 geriet dies alles
jedoch völlig in Vergessenheit, bis 1968 der australische Wissenschaftler W. Boyd Rayward
in Brüssel die verlassenen Bestände des Mundaneum zu erforschen begann, eine intellektuelle
Biographie Paul Otlets publizierte und zwei Jahrzehnte später auch die englische Übersetzung
einer Auswahl seiner Essays besorgte.2 Ansonsten liegen Otlets Schriften bislang weder in
englischer noch in deutscher Übersetzung vor.
Wer war dieser Paul Otlet? Als Industriellenerbe ohne existenzielle Sorgen, dessen Vater sein
Vermögen mit dem internationalen Vertrieb von Straßenbahnen machte, erhielt er
Privatunterricht und absolvierte eine Ausbildung zum Anwalt.3 Mit seiner juristischen
1
„Réseau de communication, de coopération et d’echanges à l’intervention d’un Centre Mondial“, Paul Otlet:
Traité de Documentation. Le livre sur le livre. Théorie et pratique, Brüssel 1934, S.420.
2
W. Boyd Rayward: The Universe of Information. The Work of Paul Otlet for Documentation and International
Organisation, Moskau 1975 (FID 520). Boyd Rayward (ed.): International Organisation and Dissemination of
Knowledge. Selected Essays of Paul Otlet, Amsterdam, New York 1990 (FID 684).
3
Zu den biografischen Daten siehe die tabellarische Übersicht S.XXX.
Qualifikation wurde er 1890 Mitarbeiter in der Brüsseler Kanzlei des renommierten
Rechtsanwaltes und Schriftstellers Edmond Picard. Dieser beauftragte ihn mit der Einrichtung
einer Bibliographie zur Rechtsprechung, wofür er unter anderem eine Zusammenarbeit mit
Henri La Fontaine einging. La Fontaine wurde Senator im belgischen Parlament und Präsident
des Bureau International Permanent de la Paix; für seine Tätigkeit wurde ihm 1913 der
Friedensnobelpreis verliehen. Otlet und La Fontaine hatten ähnliche Interessen im Bereich des
Dokumentierens und Bibliographierens und blieben nach ihrem ersten Arbeitsprojekt
lebenslang Freunde und Arbeitskollegen. In Brüssel gründeten sie 1895 das Office
International de Bibliographie und begannen mit dem ambitionierten Projekt einer
Indizierung aller möglichen „Fakten“ aus und über Publikationen mittels eines
Karteikartensystems, dem sogenannten Répertoire Bibliographique Universel. Dies sollte ein
Aufbewahrungsort des gesamten bekannten Wissensbestandes werden, an dem bereits die
Absicht erkennbar wird, das Buchformat bzw. das monographische Prinzip zugunsten eines
flexiblen Wissensbestandes und einer Logik der Datenbank aufzulösen.
Abbildung 1 – Paul Otlet, 1868-1944, © Mundaneum Mons, Belgien
Obwohl in vorliegender Publikation Otlet auch unter Vorzeichen neuer Medientechnologien
diskutiert wird, geht es dabei keineswegs darum, einen weiteren vermeintlichen Visionär von
Computer und Internet zu identifizieren, sondern lediglich darum zu zeigen, dass die
Artikulation eines entsprechenden Bedarfs an Innovation sehr viel früher registriert werden
kann als die entsprechende Technik selbst. Während in der Medientheorie oft deterministisch
gedacht wird, konnte die Techniksoziologie überzeugend argumentieren, dass technischer
Fortschritt („Erfindungen“) im Zusammenhang mit einem sozialen Bedarf zu verstehen ist
und hinsichtlich des Durchsetzungspotenzials sich überdies nicht in radikalen Brüchen,
sondern in einer Politik der kleinen ingenieurstechnischen Optimierungsschritte manifestiert.4
Letztlich geht es bei Paul Otlet dann nicht einmal sosehr um die Person als vielmehr um jene
technologische Leerstelle, die eine im 19. Jahrhundert beginnende, die typografische Epoche
aufsprengende neue Wissenskultur produziert hat. Otlet machte den konsequenten Vorschlag,
mit der Einrichtung einer neuen Infrastruktur und einer neuen Organisationsform des Wissens
darauf zu reagieren, und es gelang ihm auch, Teile davon erfolgreich umzusetzen.
Zwischen zwei Welten
Erst die elektronischen Kommunikations- und Informationstechnologien sollten freilich dann
die Antwort auf jene Leerstelle sein, die jener neue Bedarf an Generierung und Verteilung
von Wissen erzeugt hat. Die übergeordnete Herausforderung bestand darin, der allgemeineren
Teilhabe an Formen des Wissens in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit neuen
Bildungsmöglichkeiten und Zugangsformen zu entsprechen. Man sollte, um die daraus
folgenden Vorschläge zu würdigen, die Perspektive auch einmal umkehren und die
Geschichte nicht vom Computer ausgehend betrachten: während sich die neuen
Anforderungen der Wissensgesellschaft bereits bemerkbar machten, konnten die bestehenden
Möglichkeiten des Buch- und Bibliothekswesens ihnen nicht mehr gerecht werden. Otlet war
eine intellektuelle Figur zwischen diesen beiden Welten, oder auch zwischen der
Weltanschauung des bürgerlichen synthetisch-harmonisierenden Denkens und jener der
modernen analytisch-kombinatorischen Rationalität.5
Für die Vision einer Alternative zu Bibliotheken und Enzyklopädien aber gab es zu seiner
4
Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt/New York 1994.
Zur Analyse dieser beiden Denkfiguren vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und
Lebensform, Weinheim 1991.
5
Zeit noch kaum eine Vorstellung. Die Verbreitung von Wissen setzt dessen Aufbereitung
voraus, und das wichtigste Element der Aufbereitung von Wissensbeständen ist deren
Klassifikation. Wird Wissen nach bestimmten Kriterien klassifiziert, dann entsteht eine
Taxonomie oder ein Kategoriensystem, das in unterschiedlichen Kulturen und zu
verschiedenen Zeiten höchst differente Formen annehmen kann. Wovon man denken möchte,
es hätte seit langer Zeit Bestand, ist tatsächlich oft eher jüngeren Datums – so die
systematische Ordnung im Reich der Bücher. Erst Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte
gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen über die einzelne Bücheransammlung hinausgehenden
„Plan zur Anordnung einer Bibliothek“ (Idea bibliothecae ordinande), und erst der
amerikanische Bibliothekar Melvil Dewey entwickelte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein
allgemeines System zur Klassifikation in Bibliotheken.6 Das Wissen braucht Klassifikation
sowie Organisation in materiellen Strukturen wie Archive und Bibliotheken, schließlich
Datenbanken und Netzwerke, um über die subjektiv beschränkten Kapazitäten von Individuen
hinaus kulturell wirksam werden zu können.
Nun mag als Visionär bezeichnet werden, wem die Antizipation der Bedeutung einer
technischen Entwicklung schon gelingt, wenn andere noch nicht einmal die Problemlage zu
erkennen vermögen. Paul Otlet war in diesem Sinne Visionär einer Wissensgesellschaft, die
aufgrund unterschiedlicher Medienrevolutionen neue technische Grundlagen erhalten sollte
als bislang bekannt waren: zum einen war dies die Realaufzeichnung von Weltgeschehen, wie
sie paradigmatisch die Fotografie ermöglicht hat, zum anderen die Verkabelung der Welt zu
Zwecken der Telekommunikation.7 In diesen neuen Möglichkeiten der Medienmoderne
erkannte Otlet die Chance, einen Teil der Lösung für jene Probleme zu erlangen, die sich mit
der Proliferation gedruckter Publikationen ergaben: man würde methodisch, technisch und
institutionell darauf reagieren müssen. In allen drei Bereichen leistete Otlet Grundlegendes. Er
entwickelte die Universelle Dezimalklassifikation, entdeckte die Wichtigkeit einer
Verwaltung von Metadaten (in Form von Karteikarten – files, folders, cabinets), und er
betrieb die Institutionalisierung einer globalen Wissensbasis, deren Zentrum in Genf, Rom
oder Brüssel angesiedelt sein sollte. So begriff Otlet das Ende des bürgerlichen Buchzeitalters
im Geiste der Datenbank oder des universellen Buches, während die Allgemeinheit noch in
den Kategorien von Nationalmuseen und Nationalbibliotheken dachte.
Von der Weltausstellung zur Weltdatenbank
Während Otlet vor allem mit seinen späten Texten ein sprichwörtlicher Visionär genannt
werden darf, der über neue Medienanwendungen spekulativ nachdachte, so ging er beim
Aufbau seiner Datenbank, der Implementierung einer abfrageorientierten Wissensordnung,
höchst pragmatisch vor. Bei seiner Encyclopedia Universalis Mundaneum handelte es sich um
eine systematische Aufarbeitung der Fragen unseres Umgangs mit Wissen und Informationen,
sowie (darüber sollten die auch in vorliegender Publikation präsentierten manchmal naiv
anmutenden Skizzen und Entwürfe nicht hinwegtäuschen) um die konkrete und
funktionsfähige Umsetzung in einer analog strukturierten Datenbank. Heute noch sind im
belgischen Mons die Überreste seiner lebenslangen Anstrengung zu sehen, eine
Weltdatenbank einzurichten, die alle dokumentierbaren Informationen integriert. Sie führen in
Form eines immensen Zettelkastens deutlich vor Augen, wie mühsam es einst gewesen sein
muss, Wissensvernetzung im Papierformat zu betreiben.
Abbildung 2 – Répertoire Bibliographique Universel, Teilansicht (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien)
6
7
Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001, S. 127.
Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Technik, Geschichte, Theorien, Wien 2006.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war bestimmt vom Ausbau einer erstmals
internationalen Infrastruktur im Verkehrs- und Kommunikationswesen. Die 1851 in London
begonnenen Weltausstellungen kulminierten in der Pariser Weltausstellung von 1889
(L’Exposition Universelle) und der Idee, die Welt wäre ein verallgemeinerbar homogener Ort
der Erfahrung: sie wurde von 32 Millionen Menschen besucht, und der damals errichtete
Eiffelturm wurde zum weithin bekannten Wahrzeichen der Stadt. Das Journal dieser
Weltausstellung, mit vielen Stahlstichen von den Sensationen illustriert, sorgte für eine
erweiterte Wahrnehmbarkeit und zugleich den Vorschein einer gesellschaftlichen Utopie vom
Global Village.8 Der Einfluss dieser Weltausstellung auf Paul Otlets Projekt einer
Weltdatenbank ist nicht zu unterschätzen. Beginnend mit der Idee, die Länderinformationen
verfügbar zu halten, war er in den nun folgenden Jahrzehnten intensiv mit der
Institutionalisierung seiner Obsession beschäftigt, sämtliches publizierte Wissen der Welt in
neuer Form zu dokumentieren und damit besser nutzbar zu machen.
So selbstverständlich uns heute die Tatsache scheint, auf alle möglichen Inhalte unabhängig
von ihren Datenträgern zugreifen zu können, so unerhört war damals allein schon die Idee,
Fragen des Wissensmanagements außerhalb der exklusiven Routinen einer Buch- und
Bibliothekskultur anzusiedeln. Paradoxerweise blieb die Terminologie vorerst aber noch dem
Bibliothekarischen angelehnt. Otlets Opus Magnum jedoch, sein 1934 publizierter Traité de
documentation, handelt in spekulativen Ausführungen vom definitiven Jenseits der
Schriftkultur, von der Zusammenführung aller Speicher- und Übertragungsmedien auf einer
integrierten systemischen Ebene, die allein ein Management des dokumentierten Weltwissens
erlauben würde. Man kann nun mehr oder weniger profund darüber streiten, ob dies eine
Vorwegnahme des World Wide Web (als Verbindung von Dokumenten im Internet) oder von
Google (als Suchmaschine im Web der Dokumente) gewesen ist.9 Mit Sicherheit lässt sich
sagen, dass Otlet sich bereits mit den Erfordernissen eines technisch gestützten
Wissensmanagements auf der Grundlage vernetzter Ressourcen beschäftigt hat, also mit
Fragen, die nach dem Zeitalter der Gutenberg-Technologie einfach auftauchen mussten und
auf die heute das erweiterte Web mit seinen Suchmaschinen und sozialen Netzwerken eine
Antwort ist.10
Abbildung 3 – Les formes ou les types du Mundaneum a unir de reseau – Vernetzung des Wissens, Skizze von
Paul Otlet (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien)
Eine systematische Darstellung von Wissen und Künsten oder die Einrichtung einer
Enzyklopädie als Wissensmaschine ist freilich keine neue Idee, davon zeugen schon die
Bibliotheksbestände der Frühen Neuzeit.11 Auch mit der Veranschaulichung von Weltwissen
arbeitete die Pädagogik recht früh, wofür etwa der Orbis sensualium pictus steht, ein 1658
von Johann Amos Comenius erstmals publiziertes, sehr populäres und daher vielfach
kopiertes sowie lange gebrauchtes Kompendium für den Schulunterricht und Vorbild für Otto
Neuraths Projekt einer volkspädagogischen Bildersprache.12 Mit der Erweiterung der
Bibliothek um Kunstbestände und Bildmaterialien stehen Otlet und La Fontaine in ihrer Zeit
ebenfalls nicht allein da – erinnert sei an den Aufbau der privaten kulturwissenschaftlichen
Bibliothek von Aby Warburg in Hamburg, der schon in den 1880er Jahren begonnen hatte,
eine fotografische Sammlung von Kunstwerken und kulturellen Artefakten aufzubauen.13
8
Beat Wyss: Die Pariser Weltausstellung 1889: Bilder von der Globalisierung, Berlin 2010.
„Netzvisionär Paul Otlet“, in: Der Spiegel, 20. Juni 2011.
10
Alex Wright: Glut. Mastering Information through the Ages, Washington D.C. 2007, S.183ff.
11
Ulrich J. Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.
12
Frank Hartmann, Erwin Bauer: Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien 2006.
13
http://warburg.sas.ac.uk/photographic-collection/
9
Das ausgehende 19. Jahrhundert war geprägt von neuen Medientechnologien wie noch kein
anderes Zeitalter zuvor. Es gab dank der Fotografie und neuer grafischer
Reproduktionstechnik mehr Bilder als je zuvor, jeder Winkel der Welt wurde dem Publikum
vor Augen geführt und mit der Telegrafie war plötzlich weltweite Kommunikation möglich,
zudem sorgte die Industrialisierung des Druckwesens für einen exponentiellen Anstieg an
Publikationen. Sogar die Bibliothek selbst gehört zu den Neuerungen: neben Unviversitätsund Landesbibliotheken wurden erst jetzt im Rahmen volkspädagogischer Ideen die
öffentlichen Bibliotheken eingerichtet, nach dem Vorbild amerikanischer Public Libraries14.
Kein Wunder also, dass man sich um Organisation und Strukturierung all dessen vermehrt
Gedanken machte. Die Katalogisierung der Bücher und das Anlegen einer systematischen
Ordnung blieb ein lange ungelöstes Problem – im konzeptionellen wie im technischen Sinne,
denn die einzelnen Bibliothekskataloge waren noch handschriftlich verfasst und die Bestände
völlig unterschiedlich angeordnet. Die Ordnung des Wissens in den Büchern einer Bibliothek
abzubilden und zu katalogisieren wurde aufgrund der steigenden Buchproduktion zu einem
anspruchsvollen Problem. Die quantitative Zunahme von gedrucktem Material bedeutete nicht
zuletzt eine Informationsflut vor allem für die Professionalisten, die mit der Katalogisierung
und Archivierung von Druckwerken zu tun hatten. Dass die Herstellung eines gedruckten
Gesamtkataloges wie dem ab 1898 verfassten Preußischen Gesamtkatalog, der viele
Jahrzehnte beanspruchte, letztlich zum Scheitern verurteilt war zeigt, „dass die Ordnung von
Büchern weder sachlich noch alphabetisch auf der Ebene der Bücher erfolgen darf. […]
Worauf es aber ankäme, wäre gerade eine Ordnung der Bücher auf einer anderen Ebene als
der der Bücher.“ 15
Damit ist das Problem benannt, dem Otlet sein Lebenswerk widmete. Die traditionelle Weise,
mit der sich Wissen in Buchform manifestiert, wird nicht nur durch die im 19. Jahrhundert auf
Basis der Elektrizität entwickelten Teletechnologien herausgefordert, sondern ebenso durch
die technische Massenproduktion, mit der die Industrialisierung auf die Kulturprodukte
übergreift und sie überformt. Das betrifft zunächst den Datenträger analoger Informationen,
das Papier. Mit dem von Friedrich G. Keller 1843 entwickelten Verfahren zur Herstellung von
Holzschliffpapier reduzierten sich die Papierpreise um mehr als die Hälfte, es konnte also zu
geringeren Kosten mehr gedruckt und mehr vertrieben werden, die Zeitung wandelt sich vom
‘Intelligenzblatt’ zum ersten Massenmedium. Bedingt durch die weltweiten Telegraphennetze
entstehen die Presseagenturen und der Nachrichtenmarkt, mit dem Kursticker wächst der
globale Finanzmarkt heran. Die industrielle Reproduktionstechnik, deren Rationalisierung
mittels dampfgetriebener Schnellpressen und dem Rotationsdruckverfahren ließ die Auflagen
von Druckerzeugnissen in die Höhe schnellen. Und neben der ‘Hardware’ betrifft es weiter
die ‘Software’ der freilich immer noch analog und mechanisch organisierten Medienwelt. Zu
nennen ist einerseits die Entwicklung rentabler Satzverfahren, vor allem Ottmar
Mergenthalers Setzmaschine (Linotype, 1886), die mit dem Letternlinienguss die
Verarbeitungsgeschwindigkeit der Inhalte im Druckwesen erhöhte, und die Vertriebslogistik
durch die neu entstandenen infrastrukturellen Netzwerke der Kommunikation (Telegraph)
sowie des Transports (Eisenbahn).
Welt erschloß sich für den modernen Menschen nun, da Medien Raum und Zeit neu
definierten, ganz anders als je zuvor. Sie wird zunehmend sphärisch wahrgenommen, als ein
supranationales Gebilde. Darauf läßt nicht zuletzt die 1865 erfolgte Gründung des
14
Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte, Stuttgart 2007, S.151ff.
Ebd., S.149f – Jochum zeigt, wie der bildungsbürgerliche Anspruch, das humanistische Wissen in einer
Universalbibliothek zu ordnen, sich vom Bibliothekarsberuf zugunsten der bloßen Verwaltungsdienstleistung
ablöst. Alternativen, wie etwa der Fall Paul Otlet, werden bei Jochum nicht diskutiert.
15
Welttelegraphenvereins sowie 1874 des Weltpostvereins (Union postale universelle)
schließen. Jetzt enstand die Synchronwelt als Imaginationsraum der zahlreichen
Weltprojektemacher16, als verkabelter Kommunikationsraum einer sich infrastrukturell
formierenden globalen Medienkultur, als jener Weltinnenraum des Kapitals, ein von nun an
mit regelmäßig stattfindenden internationalen Weltausstellungen zelebriertes Komfortgebilde
der globalisierten Handels- und Finanzwelt.17
Abbildung 4 – Die neue, weltumspannende Ästhetik: Denkmal des Weltpostvereins (Postkarte von 1914, Quelle:
http://de.wikipedia.org/wiki/Weltpostverein)
Auch Paul Otlet entstammte ja einer Industriellenfamlilie, deren Reichtum – wie es
zeitgenössischer Diktion wohl gesagt sein mag – dem der Arbeiterklasse abgepressten
Mehrwert und der Ausbeutung von Ressourcen entsprang. Otlets Offenheit gegenüber dem
Neuen, technisch ebenso wie intellektuell, mag durchaus damit zu tun haben, dass er der Welt
etwas auf anderer Ebene zurückgeben und zum Fortschritt des globalen Bewußtseins
beitragen wollte. So ist auch sein in fast allen Bezeichnungen ständig bemühter
Universalismus mehrdeutig zu verstehen, sowohl im Sinne eines einigenden philosophischen
Prinzips oder Ordnungsgesetzes, als auch der Weltprojekte, im empirischen Geist der seit
London 1851 wiederkehrenden internationalen Weltausstellungen. Otlets Universelle
Bibliothek bzw. das Mundaneum würde letztlich eine Art begehbare Welt-Enzyklopädie sein,
in der durchaus auch angesammelt würde, was von den einzelnen Weltausstellungen bleibt.
World Brain
Einige Zeit später, in den 1930er-Jahren, sah der Schriftsteller und Sozialist H. G. Wells ein
World Brain im Entstehen, wobei Bibliotheken, Archive, Universitäten etc. dessen einzelne
Zellen bilden, die zunehmend besser vernetzt werden würden. Auch Wells bemühte die
Metapher der Welt-Enzyklopädie, wenn es um die Organisation des Ganzen ging:
The phrase „Permanent World Encyclopaedia“ conveys the gist of these ideas. As the core of such an
institution would be a world synthesis of bibliography and documentation with the indexed archives of
the world. A great number of workers would be engaged perpetually in perfecting this index of human
knowledge and keeping it up to date. Concurrently, the resources of micro-photography, as yet only in
their infancy, will be creating a concentrated visual record.18
Die Welt-Enzyklopädie würde in ihrer formalen Organisation ebenso wie in ihrer technischen
Struktur die Gutenberg-Galaxis, die Welt der gedruckten Bücher hinter sich lassen: eine neue
ontologische Form des Wissens (concentrated visual record) ist angedacht. Auch Otlets
Vorstellung von einem integrativen Medium jenseits des Buches bemühte die Möglichkeiten
neuer Datenträger wie Mikrofilm sowie neuer Übertragungsmedien wie Telegraphie,
Telefonie, Radio und Fernsehen:
Kino, Phono, Radio, Tele: als Substitute für das Buch genommen, sind diese Instrumente in der Tat das
neue Buch geworden, die Werke mit dem höchsten Wirkungsgrad zur Verbreitung menschlichen
Denkens. Durch das Radio wird man nicht nur überall hören können, sondern man wird von überall her
sprechen können. Durch Television wird man nicht allein sehen können, was sich überall tut, sondern
jedermann wird von dem Ort aus, wo er ist, sehbar machen können, was er will. Ansprachen, Musik,
Theater, Schaustellung, Kundgebung, jeder wird sie auf diese Weise von seinem Lehnstuhl aus hören,
sehen, an ihnen teilhaben können, und zugleich applaudieren, bejubeln, mitsingen, seine Zustimmung
abgeben, zusammen mit all den anderen. [...] Durch diese Instrumente der Allgegenwart, der
Universalität und der Ewigkeit wird der Mensch sich doch dem göttlichen Zustand nähern, [...] das heißt
16
Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006.
Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005.
18
H.G. Wells: World Brain. The Idea of a Permanent World Encyclopedia, in: Encyclopédie Française, 1937.
17
einer allumfassenden Betrachtung der Gesamtwirklichkeit. Dies alles, nichts weniger, mehr vielleicht,
findet sich in der Leistung des universellen Buches [„Livre“]!19
Auf den ersten Blick antizipierte Otlet damit nur eine multimediale Situation, doch es ging
noch um viel mehr, vor allem auf der organisatorischen Ebene. Während Marshall McLuhans
Metapher von Ende der Gutenberg-Galaxis in den 1960er Jahren auf das Fernsehen mit der
Diagnose reagierte, dass der an der Druckkultur geschulte typographische Mensch nur mehr
bedingt zukunftsfähig sei, fand der kanadische Medientheoretiker offenbar keinen Zugang zu
der Alternative, die Jahrzehnte zuvor schon ausgearbeitet wurde.20 Auch bringt nicht erst der
elektronisch geschaltete Rechner das Ende der Linearität, wie McLuhan im berühmten
Schlusskapitel von Understanding Media ausführt. Jenseits der lange vorherrschenden
Kulturtechnik Schrift und Buchdruck würden Menschen „plötzlich nomadische
Informationssammler“, was einer Befreiung gleiche, da deren Welt wieder mit
posttypographischen Bedeutungs- und Wahrnehmungsinhalten angereichert wird.21 Hiermit
war die Chiffre einer neuen Zeit benannt, deren Zeichen aber schon seit Jahrzehnten
andeuteten, dass neue mediale Grundlagen sich technisch und organisatorisch formieren.
Ein mechanisches Gehirn
Wesentlich festzuhalten bleibt, dass Paul Otlet ein neues, multimediales „Buch“ jenseits
seiner traditionellen Form im Entstehen begriffen sah, und zwar als Meta-Medium: er schlug
denn auch vor, den Wissensbestand mittels neuer Medien der Telekommunikation zugänglich
zu machen und zu vernetzen. Nicht nur würden Telefon, Radio und Fernsehen erweiterte
Möglichkeiten bieten, auf Dokumente zuzugreifen und sie zu verbreiten, auch könnte die
Zerlegung des Wissensbestandes in seine Elemente dazu dienen, eben diese mit
Informationen anzureichern, um Dokumente bzw. Inhalte über solche Zusatzinformation zu
verbinden. Neue Verknüpfungen auf semantischer Ebene könnten entstehen. Dass mit der
Verknüpfung von Bedeutungen ein qualitativer Sprung nicht nur in der Wissensorganisation,
sondern auch in der Wissensformation selbst erreicht wäre, dessen war Otlet sich wohl
bewusst. Wenn Medien das kognitive Vermögen von Menschen organisieren, dann entstünde
mit dieser medientechnischen Reorganisation des kulturellen Wissensbestandes ein „cerveau
mechanique“, eine Art künstlicher Intelligenz, vor allem aber eine qualitativ neue Dimension
von globalem Wissen – von H. G. Wells als World Brain gefasst und von Teilhard de Chardin
dann als Noosphäre spiritualistisch überhöht.22
Otlet fragte sich tatsächlich, welche Kategorisierungsmöglichkeiten es gibt, sodass
Dokumente auf der Ebene ihrer Bedeutung verknüpft werden können. Sogar seine
19
„Ciné, phono, radio, télé: ces instruments tenus par les substituts du livre sont devenus en fait le livre nouveau,
les oeuvres au degré le plus puissant pour la diffusion de la pensée humaine. Par radio, on ne pourra pas
seulement entendre partout, mais on pourra parler de partout. Par télévision, on pourra non seulement voir ce qui
se passe partout, mais chacun pourra faire voir ce qu’il voudra du point où il est. Ainsi, discours, musique,
théâtre, musée, spectacle, manifestation, de son fauteuil chacun les entendra, les verra, y assistera et même
pourra applaudir, ovationner, chanter en choer, clamer ses cris de participation, ensemble, avec tous les autres.
[...] Par ces instruments d’ubiquité, d’universalité et d’éternité, l’homme se sera donc rapproche de l’état de
divinité, de l’êtat présumé être celui des élus devant Dieu, c’est à dire la contemplation radieuse de la Réalité
Totale. Tout cela, rien moins, plus peut-être, se trouve en puissance dans le Livre!“ – Paul Otlet: Traité de
Documentation. Le livre sur le livre, théorie et pratique, Brüssel 1934, 431
20
Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, University of Toronto Press
1962.
21
Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, vgl. Kap.33,
„Automation“. Dabei kannte McLuhan durchaus andere Beispiele der Zeit, etwa Otto Neuraths Bildersprache
oder die Sinneserziehung der Bauhaus-Schule, vgl. ebd. Kap.11.
22
Wells, World Brain, a.a.O.; Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München 1959.
persönlichen Dokumente zeugen von einer unermüdlichen Anstrengung in Sachen
Klassifikation und Dokumentation.23 Auch hatte er erkannt, wie wichtig die Standardisierung
und Verwaltung der Meta-Ebene von Informationen ist; um die Bedeutung dieses Schrittes
auszuloten, müssen wir historisch etwas ausholen.
Lange vor der Industrialisierung, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, stürzte „die
schreckenerregende Vielzahl von Büchern, die ständig zunimmt“ einen europäischen
Gelehrten in „unheilvolle Verzweiflung.“ Orientierungslosigkeit! Bei der anschwellenden Zahl
der Dispute und den vielen Untersuchungen angeblich ohne erkennbaren oder auch nur
nennenswerten Nutzen drohe unüberwindbare Unordnung und wohl bald der Rückfall in
Barbarei. Diese frühe Klage über die Informationsflut wurde von einem geführt, der Bescheid
wusste: vom deutschen Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz.24
Leibniz beschäftigte sich mit Büchern, genauer gesagt stand er zeitweise in Diensten von
Barockfürsten in Hannover und in Wolfenbüttel, als Hofrat und als Hofbibliothekar. Der zum
Zeitpunkt der Klage noch relativ junge Mann hatte bereits Rechenmaschinen entworfen, die
mit einer reduzierten Zahlenbasis (dem Dualsystem, das Zahlen als Kombinationen von 0 und
1 repräsentiert) operieren sollten. Diese Vereinfachung durch systematische Aufhebung von
Komplexität mittels Transposition auf eine nächste Ebene war nur bedingt ein Geniestreich,
denn es ist eine altbekannte menschliche Taktik, die zur Entwicklung der Mathematik geführt
hat: wiederholte Addition kann durch den Schritt auf eine höhere Ebene ersetzt werden, in
diesem Fall wäre das die Operation der Multiplikation. Eine ähnliche Taktik sollte auch im
Fall der publizistischen Informationsflut helfen. Wenn der Einzelne nicht mehr alles lesen
kann, wenn die Vorteile des gedruckten Buches als (damals noch) neuem Medium sich bereits
in ihr Gegenteil verkehren, dann muss eine neue Ebene, ein neues Orientierungssystem
geschaffen werden. Leibniz schlug also vor, die besten Bücher zu exzerpieren, um damit
Systeme gesicherten Wissens zu schaffen. Tatsächlich wurden damals, an der Wende zum 18.
Jahrhundert, Wörterbücher, Lexika und Enzyklopädien populär – Bücher also über Bücher.
Wissen bedeutet von nun an nicht mehr, alles gelesen, sondern bei Bedarf alles Publizierte
verfügbar zu haben.
Das Anlegen von Metadaten bedeutet unweigerlich Systematisierung, und als System, um das
in Büchern vorhandene Wissen zu klassifizieren, entwickelte Leibniz die
Dezimalklassifikation. Dies ist nichts weiter als ein Schema, um Bücher zu ordnen: hier die
Schriften zur Wissenschaft, dort jene zum Recht, dann die zur Kunst, usw. Jeder Bereich
erhält wieder seine Unterkategorien nach ähnlichen Prinzipien. Bibliotheksbestände
erschließen sich damit nicht nur dem jeweiligen Bibliothekar, sondern in dieser Klassifikation
kann sich jeder orientieren, der sie einmal kennen gelernt hat. Prinzipiell lässt sich auf diese
Art nicht nur ein Bibliotheksbestand klassifizieren, sondern jede Form von Wissen. Ein
allgemeines Klassifikationssystem gab es bis dahin noch nicht, nur unterschiedliche
Mnemotechniken und gebundene handschriftliche Bibliothekskataloge. Die bibliothekarische
Klassifikationspraxis ist übrigens bis heute nicht einheitlich; im Anschluss an Leibniz
entwickelte Melvil Dewey sein amerikanisches Dewey Decimal System, das aber nicht überall
übernommen wurde. 25 1895 wurde es von Otlet und La Fontaine zur Universellen
Dezimalklassifikation erweitert, vor allem um den internationalen Gebrauch zu erleichtern.
23
Françoise Levie: L’Homme qui voulait classer le monde, Brüssel 2006. Das Buch folgt der gleichlautenden
TV-Dokumentation der Autorin aus dem Jahr 2002.
24
Vgl. „Prèceptes pour avancer les sciences“ (1680), in: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas
Leinkauf, München 1996, S.107-123.
25
Melvil Dewey: A Classification and Subject Index for Cataloguing and Arranging the Books and Pamphlets of
a Library. (Dewey Decimal Classification), Amherst, Mass. 1876; wesentlich erweiterte Fassung: Boston 1885.
Letztere enthält neben Klassifikationsziffern auch Sonderzeichen, die es erlauben, Dokumente
nicht nur aufzufinden, sondern thematisch zueinander in Beziehung zu setzen.
War schon Leibniz einem „blinden Denken“ auf der Spur, welches operiert mit Zeichen oder
Charakteren operieren kann, deren Bedeutung es nicht unbedingt kennen muss. Es kann somit
unabhängig von der semantischen Dimension des Symbolgefüges mechanisch ausgeführt
werden – so suchte Otlet ebenfalls ein neues Format für Gedanken und nannte sein
Klassifikationssystem une véritable langue nouvelle. Diese neue Sprache, oder besser: Syntax
für gespeicherte Informationen, ordnet und systematisiert das Wissen und wird zu einer Art
„künstlichem Gehirn aus Karteikarten“.26 Wenn man symbolische Operationen von der
Semantik unabhängig macht, dann kann man sie theoretisch einen Apparat durchführen
lassen. Leibniz ging es um die Idee der allgemeinen Berechenbarkeit, während Otlet dort, wo
er vom mechanischen Gehirn sprach, die Verwaltungsoperationen der gespeicherten
Gedanken letztlich in einem „Wissensapparat“ zu automatisieren trachtete. Für Otlet war das
Buch evolutionsgeschichtlich gesehen nichts anderes als eine Exteriorisierung des Gehirns,
mithin eine Ausweitung des Menschen.27 Da die Menschheitsgeschichte noch nicht als
abgeschlossen gesehen werden kann, sind ihm die Gedanken zur Weiterentwicklung dieser
quasi-organischen Anlagen in Automaten (Cerveaux mechaniques) geradezu Programm.
Im Abschnitt „Inventions a faire“ seines Traité de documentation formulierte Otlet eine Art
Pflichtenheft für Ingenieure, wobei die Automatisierung der Informationsarbeit als
Desideratum vorgestellt wird: an die Stelle der Schreibfläche und des Datenträgers Papier
träte dann ein universell zugänglicher Datenraum, die Arbeit am Schreibtisch würde durch
eine neuartige Apparatur ersetzt: „La machinerie qui réaliserait ces […] desiderata serait un
véritable cerveau mécanique et collectif.“28 In mehreren detaillierten Punkten wird die
Reformation der intellektuellen Arbeit angekündigt, die vor allem über
Telekommunikationsanwendungen laufen würde. Kunstgriffe – darum ging es schon Leibniz,
und freilich auch darum, diese zu automatisieren: Rechenapparate nicht zum Ausdruck von
Gedanken, sondern zur Klärung und Systematisierung des Denkens. Diese Idee, Maschinen
die Berechnungen durchführen zu lassen, findet sich bei Otlet aber nur in der Form einer
Organisation des Zugriffs auf klassifizierte Informationen mit mechanischem Gerät.
Universales Wissen
Die Idee des Computers, dem wir in seiner gegenwärtigen Form gar nicht mehr anmerken,
dass er ein Rechner ist, ist wahrlich älter und komplexer als manch einäugig amerikanische
Genealogie der modernen Tools for Thought es wahrhaben will.29 Es ist abstrus, wie die
Forschungsliteratur hier die Ereignisse, nach denen technisch Neues in die Welt gekommen
ist, als gleichsam ontologische Zufälle konstruiert: gerade weil dem offensichtlich nicht so ist,
scheint es am wenigsten hinterfragt zu werden. Wir sollten uns mit der Idee anfreunden, dass
Technik keine Erfinder hat, dass kein zum Apparat geronnener Geistesblitz jemals die Kultur
verändert hat, in der Technik letztlich zum prägenden Merkmal wird. Sondern dass Ideen, die
zu solcher Technik geführt haben, stets in der auf sie angewiesenen Kultur verankert sind, und
die als solche einen Bedarf an regulatorischem Eingriff anzeigen, auf den technische
26
Paul Otlet: „Un peu de bibliographie“ (1892), zit. nach Rayward (ed.) 1990, S.17.
Otlet, Traité, a.a.O., S.30, S.426 und passim – Zur Exteriorisierung vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und
Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1964/65), Frankfurt am Main 1988.
28
Otlet, Traité, a.a.O., S.391.
29
Etwa die von Howard Rheingold: Tools for Thought. The History and Future of Mind-Expanding Technology,
New York 1985.
27
„Erfindungen“ fortwährend reagieren. Versuche jedenfalls, verlässliche Landkarten des
Wissens zu zeichnen, sind so alt wie die Moderne selbst.
Der Zweck dieser Ordnung besteht in einer Aufstellung in möglichst begrenztem Raum, und der
Philosoph soll gewissermaßen über diesem Labyrinth stehen und von einem überlegenen Standpunkt
aus gleichzeitig die hauptsächlichen Künste und Wissenschaften erfassen können; er soll die
Gegenstände seiner theoretischen Erwägungen und die mögliche Arbeit an diesen Gegenständen mit
einem schnellen Blick übersehen; er soll die allgemeinen Zweige des menschlichen Wissens mit ihren
charakteristischen Unterschieden oder ihren Gemeinsamkeiten herausstellen und gelegentlich sogar die
unsichtbaren Wege aufzeichnen, die von dem einen zum anderen führen. Man könnte an eine Art
Weltkarte denken, auf der die wichtigsten Länder, ihre Lage und ihre Abhängigkeit voneinander sowie
die Verbindung zwischen ihnen in Luftlinie verzeichnet sind; diese Verbindung wird immer wieder
durch unzählige Hindernisse unterbrochen, die nur den Bewohnern oder Reisenden des in Frage
kommenden Landes bekannt sind und nur auf bestimmten Spezialkarten verzeichnet werden können.
Solche Spezialkarten stellen nun die verschiedenen Artikel der Enzyklopädie dar, und der Stammbaum
oder die Gesamtübersicht wäre dann die Weltkarte. 30
Dictionnaires und Enzyklopädien waren nicht nur das markante intellektuelle Kennzeichen
des 18. Jahrhunderts, sondern auch ein innovatives Geschäftsmodell.31 Dies hat einen guten
Grund, denn Bücher waren teuer und selten in Privatbesitz, es gab zudem noch keine
öffentlich zugänglichen Bibliotheken. Bildung war ein Privileg, und die akademisch Lehre
fest in der Hand von Klerikern. Philosophes oder unabhängige Männer der Wissenschaft, die
wir heute als Intellektuelle bezeichnen würden, entstanden als Berufsgruppe in Folge der
Ausbreitung des Buchdrucks. Einerseits war das Publizieren eine neue und interessante
Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen. Dabei entstanden
textbasierte Gemeinschaften, und neue Zentren der Gelehrsamkeit wie die fortschrittlichen
Akademien, während das Wissen in Europa sich eben durch den Buchmarkt gleichmäßig zu
verbreiten begann.32 Andererseits kommt die Idee von Wissen und Wissensvermittlung in
jener Zeit erst auf: es ist ein neues Wissen, das sich nach der Etablierung des Buchdrucks
verbreitete: Humanismus, Reformation und Aufklärung.
Neu an diesem Wissen ist, dass es nicht mehr zweckgebunden und kasuistisch angelegt ist,
sondern universal. Mit anderen Worten: war Wissen bislang lokalisierbar, war es mit Orten,
Zeiten und Personen oder mit bestimmten Traditionen der Zünfte eng verbunden gewesen, so
transzendiert es nun solche Grenzen und man zeichnete über das „freie“ Wissen völlig neue
„Landkarten des Wissens“ – ein Ausdruck, der auf Francis Bacon zurückgeht. Mit dem
ständig expandierenden Buchmarkt entstand nun die Frage, wie man sich in der neuen
Topographie des Wissens orientieren kann, und ob es tatsächlich eine Art Landkarte gibt, die
einem hier den Überblick verschaffen kann. Enzyklopädien versprachen genau dies: „den
Leser durch den ständig wachsenden Wald, um nicht zu sagen Dschungel, des gedruckten
Wissens zu leiten“.33
Das zeitgenössische Wissen schwoll aufgrund steigender Reproduktion nicht nur rasant an, es
verlor auch seine Verankerung in autoritären und klerikalen Strukturen. Die Enzyklopädien
des 17. und 18. Jahrhunderts waren neue Kulturtechniken eines aufgeklärten Bürgertums,
welches sich in den Welten des Wissens frei zu bewegen beanspruchte. Es hatte sie zuvor so
nicht gegeben, und vor allem die große französische Encyclopédie war ein selbstbewusstes
30
Jean Le Rond d’Alembert: Einleitung zur Encyclopédie, hg. von Günther Mensching, Frankfurt am Main
1989, S.46.
31
Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie, oder: Wie verkauft man
Wissen mit Gewinn?, Berlin 1993.
32
Elisabeth Eisenstein: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien/New York
1997.
33
Burke, Papier und Marktgeschrei, a.a.O., S.131.
Statement gegen die staatliche und kirchliche Macht. Die ab 1751 von Denis Diderot, Jean Le
Rond d’Alembert und dem ungenannt gebliebenen Chevalier de Jaucourt editierte
Encyclopédie – ein Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers34 – kopierte
als Aufnahme zeitgenössischen Wissensbestandes die von Ephraim Chambers in England
zuvor publizierte Cyclopedia.35 Ein Produkt, das von privater Hand mit vehementem
Geschäftsinteresse in die Wege gebracht und durchgeführt wurde. Als Landkarte des
zeitgenössischen Wissens – „Die Nachwelt soll dann ihre Entdeckungen zu den von uns
aufgezeichneten hinzufügen […]“, schrieb d’Alembert in der Einleitung – lagen schließlich
27 Bände mit insgesamt 16 500 Seiten und 2900 Illustrationen vor. 36
Wissen wird ab diesem Projekt kumulativ verstanden, es wird zusammengetragen und laufend
erweitert; man konnte es historisch verstehen und, mit grandioser Ironie gegen die Macht des
Glaubens und der Tradition gerichtet, als Garant kulturellen Fortschritts.
Die Enzyklopädie soll eine geheiligte Stätte werden, in der das Wissen der Menschen vor den
Zeitläuften und Revolutionen gesichert wird.37
Zudem wurden die Grenzen dieses säkularen Wissens neu definiert: was in die 72 000 Artikel
der Encyclopédie Aufnahme fand, hing nicht allein von der akademischen Autorität der
Gelehrten ab, die Herausgeber befragten ebenso die Arbeiter in den Werkstätten, um „ihrem
Geist ans Licht zu verhelfen“, so d’Alembert. Wissenschaften, Künste und Handwerk
generieren ihr je eigenes Wissen. Die überschaubare Form wurde in Gestalt eines neuen
Stammbaums der Wissenschaften erstrebt, dessen dreigliedrige Ordnung alles zu erschließen
verspricht, was die vom Menschen produzierte und beeinflussbare Welt betrifft – nach
Gedächtnis (mémoire), Vernunft (raison) und Einbildungskraft (imagination).
Das neuzeitliche Panorama des Wissens schafft es mit dieser innovativen Methode erstmals,
das Wissen der Zeit als universales Wissen neu zu strukturieren und ihm zudem noch eine Art
Klassifikationssystem zu verleihen, das die Orientierung erleichtert. Dies besänftigt also jene
„epistemologische Angst“, welche die ungeordnete Natur bei Diderot auslöste, da sich doch
im grenzenlosen Meer der Gegenstände, das uns umgibt, die ordnungsstiftende transzendente
Macht verliert – daher die Suche und das Vertrauen in die enzyklopädische Ordnung.38
Visuelle Epistemologie
Ein ganz wichtiger Punkt bei diesem Wechsel war, dass die Erschließung des Wissens auch
mittels Visualisierung erfolgte. D’Alembert erwähnt Arbeiter, die über Jahrzehnte in den
Werkstätten arbeiteten, ohne, wie er behauptet, das Geringste über die Maschinen zu wissen,
34
Auszüge vgl. Die Welt der Encyclopédie, ediert von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt am Main
2001.
35
1728 in London veröffentlicht, verspricht dieses technische Lexikon, das – Stichwort Hypertext – die ersten
überlieferten Querverweise überhaupt enthält, eine Art publizistischer Weltabbildung schon in seinem barocken
Untertitel: „An universal dictionary of arts and sciences: containing the definitions of the terms, and accounts of
the things signify'd thereby, in the several arts, both liberal and mechanical, and the several sciences, human
and divine: the figures, kinds, properties, productions, preparations, and uses, of things natural and artificial:
the rise, progress, and state of things ecclesiastical, civil, military, and commercial: with the several systems,
sects, opinions, &c: among philosophers, divines, mathematicians, physicians, antiquaries, criticks, &c: the
whole intended as a course of antient and modern learning.”
36
Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d'Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie,
Frankfurt am Main 2005.
37
d’Alembert, a.a.O., S.107 bzw. 108.
38
Robert Darnton: Eine kleine Geschichte der Encyclopédie und des enzyklopädischen Geistes, in: Die Welt der
Encyclopédie, a.a.O., S.457.
die sie bedienten. Die Bildtafeln der Encyclopédie zeigen nun Herstellungsprozesse und
Maschinen, deren Funktionen und Innenleben.
Aber der Mangel an Übung im Verfassen & Lesen von Schriften über die Künste erschwert die
verständliche Erklärung der Gegenstände. Daher kommt das Bedürfnis nach Abbildungen. Wir könnten
durch tausend Beispiele beweisen, dass ein bloßes, einfaches Wörterbuch der Sprache, so gut es auch
sein mag, nicht auf Abbildungen verzichten kann, ohne in unklare oder unsichere Definitionen zu
verfallen. Um wie viel mehr bedurften wir also dieses Hilfsmittels! Ein Blick auf den Gegenstand oder
auf die Darstellung desselben sagt mehr als eine Seite voller Erläuterungen.
Die Aufklärer wollten unter die Oberfläche der Dinge dringen, ungewohnte Einblicke und
damit neue Einsichten ermöglichen. Wie schafft man Navigationen im damals schon endlos
erscheinenden Meer des Wissens und stiftet Beziehungen zwischen all den Einzelheiten?
Diderot fährt fort:
Wir schickten Zeichner in die Werkstätten. Wir ließen Skizzen von Maschinen & Werkzeugen machen.
Wir unterließen nichts, um sie deutlich vor Augen zu führen. Falls eine Maschine wegen der Bedeutung
ihres Gebrauchs & wegen der Vielzahl ihrer Teile eine ausführliche Darstellung verdiente, gingen wir
von Einfachen zum Zusammengesetzten über. Zunächst stellten wir auf einer ersten Abbildung so viele
Bestandteile zusammen, wie man ohne Verwirrung wahrnehmen kann. Auf einer zweiten Abbildung
sieht man die gleichen Bestandteile zusammen mit einigen anderen. So stellten wir nach & nach die
komplizierteste Maschine dar, ohne irgend eine Verwirrung für den Geist oder für die Augen.39
Kupferstiche gab es freilich auch in anderen gelehrten Folianten jener Zeit, aber hier waren
sie mehr als bloße Illustrationen, sie bildeten eine nützliche visuelle Epistemologie von
eigenem Rang – und Diagramme oder Bildstatistiken spielten ansonsten ja noch keine große
Rolle. Hervorgehoben sei, dass im Gegensatz zur französischen die deutsche Aufklärung
absolut bilderfeindlich eingestellt war. So befand Immanuel Kant, das alttestamentarische
Bilderverbot wäre eine große Kulturleistung, und da Bilder die menschliche Einbildungskraft
beschränkten, müsse das Zeitalter der Aufklärung wieder daran anknüpfen.40
Neben der Konkurrenz von Schrift und Bild, die offensichtlich ist, gab es auch die Abwertung
des enzyklopädischen Gedankens aus der Warte der poetischen Synthese. Im Journal meiner
Reise im Jahr 1769 etwa schreibt Johann Gottfried Herder herablassend, die Enzyklopädie
wäre den Franzosen wohl ein Triumph, ihm aber erscheine sie als Zeichen ihres kulturellen
Zerfalls – sie würden Dictionnaires machen, weil sie nichts mehr zu schreiben hätten.41 Das
ist natürlich Unsinn, denn im vorrevolutionären Frankreich gab es eine recht lebendige
philosophische Publizistik, die teilweise allerdings pseudonym agieren musste.42 Ein
kategoriales Missverständnis also, ähnlich jenem, das sich in Immanuel Kants Kritik der
Urteilskraft findet. Es beruht auf dem Fehlurteil, die kulturelle Syntheseleistung der Schrift
und des Buchdrucks zu verabsolutieren, die Alternativen einer visuellen Epistemologie von
Diagrammatik und Bildstatistik zu unterschätzen und zugleich am typografischen System den
kontingenten Aspekt der Informationsverarbeitung zu übersehen. Denn gedruckte Bücher sind
nur eine Form unter anderen, um visuelle Informationen zu speichern. Sie haben, historisch
betrachtet, ihren Anfang, und es liegt in der Natur der Sache, dass sie als kulturelle
Leitmedien auch ihr Ende haben, wenn das wissensgenerierende System um neue
Möglichkeiten erweitert wird. Das Buch als ein spezifisch modernes Medium zur
39
Denis Diderot: „Prospekt der Encyclopédie“ (1750), in: Die Welt der Encyclopédie, a.a.O., S.470.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke Band X, Frankfurt am Main 1974, S.201f.
41
Herder, in: Die Welt der Encyclopédie, a.a.O., S.70.
42
Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011.
40
„Parallelverarbeitung von Information“ sollte als ein Element des kulturellen
Informationskreislaufes unter anderen betrachtet werden.43
Abbildung 5 – Industrialisierung des Druckwesens. Jahresproduktion Bücher und Periodika um 1900, Skizze
von Paul Otlet (Quelle: Traité de Documentation, S.39)
Diesbezügliche Dysfunktionalitäten werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts unübersehbar,
was nicht der zunehmenden Konkurrenz von Bildern geschuldet ist, sondern dem industriell
gesteigerten Druckwesen selbst. Seit der Reformationszeit war das Buch ein exklusives
Medium zur Vermittlung höherer Werte, was eine zunehmend irrationale Wertschätzung für
den technischen Datenträger (bedrucktes Papier) und damit eine Kulturideologie (Überhöhung
aller Aspekte, die mit Büchern zu tun haben) nach sich zog, die Druckwerke gegenüber
anderen kulturellen Artefakten bevorzugt prämiert. Doch mit der der modernen
Druckindustrie wurde auch das Buch zu einem bloßen Massenprodukt unter vielen anderen.
Aufzeichnung und Tradierung
Jedes soziotechnische System, das Wissen organisiert, präsentiert und verteilt, konstruiert
einen Geltungsraum für Dokumente: die kulturelle Wissensarchitektur. Doch die
systematische Organisation des Wissens innerhalb dieser Architektur ist eine Aufgabe, die
immer wieder jene Grenzen sprengt, die mit dem Buch als materiellem Datenträger gesetzt
sind. Dass die Telekommunikationstechnik neue Ideen vor allem für die Diffusion des
Wissens angeregt hat, kann nicht verwundern; seltsam ist nur, dass so wenig bekannt ist über
jene Pioniere der Wissensgesellschaft, die Jahrzehnte vor der Ära des Internets bereits
konkrete Vorstellungen davon entwickelt hatten, wie sich mittels Telegraphie, Telefon, Radio
und Bildübertragung ein Wissensarchiv auf internationaler Ebene realisieren ließe.
Als Mitgründer des Institut International de Bibliographie (1895) verschrieb Paul Otlet sich
zunächst dem Ziel einer Systematisierung der bibliographischen Methode, um damit die
Grundlage für eine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Dokumentation und
Archivierung von Publikationen zu schaffen.44 Das aktuelle Weltwissen, der gesamte
publizierte Wissensbestand der Menschheit, sollte erfasst und an einem zentralen Ort, einem
von überall zugänglichen Wissenszentrum aufbewahrt werden. Nicht länger das Druckwesen
sichert den Informationszugang, sondern die neuen Formen der Telekommunikation – was
heute selbstverständlich scheint, wurde in den Jahren um 1900 antizipiert: neue Organisation
des Wissens unter Bedingungen vernetzter Kommunikation. Nur: was eigentlich ist Wissen,
was zählt dazu, und was davon ist dokumentiert? Welcher Typ von Aufzeichnung gilt
überhaupt als Dokument?
Je nach Perspektive, die man hier anlegt, ändert sich die Antwort auf die Grundlagen von
Dokumentation und Information. „Quod non est in actis non est in mundo“ – wonach die Welt
nicht alles wäre, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein), sondern nur jener Anteil, der davon
auch in die Akten wandert.45 Der Charakter des Dokumentationswesens ist zudem abhängig
von der jeweils zur Verfügung stehenden Medientechnik. Umgekehrt verändert sich die
Dokumentation mit jeder Medienrevolution, und damit auch das Bild, das wir uns von der
Geschichte machen. Zwei technische Zäsuren haben das revolutioniert, was als Dokument
43
Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt
am Main 2002, S. 55f.
44
1931 umbenannt in Institut International de Documentation (IID), 1937 in Fédération Internationale de
Documentation (FID).
45
Zum Sprichwort vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 89f.
verstanden wird: einmal die Realaufzeichnung im neunzehnten und dann die Digitalisierung
im zwanzigsten Jahrhundert. Im ersten Fall handelt es sich um eine Erweiterung des
kulturellen Archivs durch postskripturale Bild- und Tonaufzeichnung – neue „Graphien“ oder
medientechnisch potenzierte Aufschreibesysteme, die eine neue Ästhetik bzw. neue sinnliche
Erfahrbarkeit begründen – im zweiten hingegen um nicht weniger als eine neue Logik der
Organisation von Wissensbeständen auf Grundlage posttypographischer
Computertechnologie.
Abbildung 6 – Arbeit im Mundaneum um 1910 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien)
In jener Zwischenzeit, in den Jahren um 1900, war Otlets Werk als universelle Bibliothek, als
Weltdokumentationsprojekt angelegt, dessen praktisch realisierte, sichtbare Seite noch aus
einem Karteikastensystem bestand. Wer es heute besichtigt, sieht nur noch eine klägliche
Ruine, die keine romantischen Gedanken aufkommen lässt: das Mundaneum als Institution,
die sich 1910 im Brüsseler Palais du Cinquentenaire anlässlich einer Weltausstellung
etablieren konnte, wurde 1934 geschlossen und geriet danach in Vergessenheit.46
Die Reste des Répertoire Bibliographique Universel zeugen von dem Bemühen, Wissen zu
katalogisieren und in einem Welt-Wissenspalast zu präsentieren. Das Repertoire bestand aus
einer endlosen Reihung von Karteikästen, die eine ständig wachsende Sammlung von
Karteikarten mit bibliographischen Informationen enthielt. Bücher und andere Publikationen
und Dokumente, auch Bilder, wurden von einem Mitarbeiterteam des Mundaneum in
systematische Informationselemente zerlegt und nach einem Code, der universellen
Dezimalklassifikation, abgelegt. Dazu kam die Übertragung Hundertausender Karteikarten
der Library of Congress in Washington D.C., einer der bedeutendsten Forschungsbibliotheken
der Welt, die durch Vermittlung des belgischen Botschafters in den Vereinigten Staaten per
Schiffsfracht ausgeborgt wurden.
Neben dem Répertoire Bibliographique, das 1895 als Karteikartensammlung angelegt wurde
und nach der Weltausstellung von 1910 auf über 15 Millionen Einträge angewachsen war,
entstand nach denselben Prinzipien ein Repertoire Iconographique, eine Bilddatenbank,
sodann ein Répertoire Encyclopédique des Dossiers, welches Broschüren und Zeitschriften
gewidmet war, und die Sammlung in ihrer enzyklopädischen Dimension komplettierte. Damit
reagierte Otlet bereits mit einem erweiterten Begriff von Dokumentation auf den mit der
neuen visuellen Kultur anbrechenden Zeitgeist mit einer Bilddatenbank. Konkret war es der
Rasterdruck bzw. die autotypische Bildzerlegung, die es erlaubte, Fotografien in
Druckwerken zu reproduzieren und damit für mehr Bildlichkeit in den Publikationen sorgte –
eine eminente Herausforderung für das Dokumentationswesen.
Fakten und Dokumente
Die Idee, einen Überblick zum vorhandenen publizierten Wissen der Welt anzulegen, diente
freilich nicht dem Selbstzweck. Über einen internationalen Suchdienst konnten postalisch
Anfragen an das Mundanuem gestellt werden, die dann kostenpflichtig beantwortet wurden –
aus dem Jahr 1912 etwa ist ein Bearbeitungsvolumen von 1500 jährlichen Anfragen
überliefert. Otlet plante vollständige Kopien des Répertoire Bibliographique anzufertigen und
über die Welt zu verteilen; genannt wurden die Städte Paris, Washington D.C und Rio de
Janeiro. Zwischen 1900 und 1914 wurde dies tatsächlich in die Wege geleitet, allein schon
46
Zunächst als Institut International de Bibliographie etabliert, wurde das Mundaneum (vom lateinischen
mundus = Welt) von Otlet bis zu seiner politisch erzwungenen Schließung 1934 betrieben. Die Reste des
Kataloges befinden sich heute in Mons (Belgien), vgl. www.mundaneum.be
aufgrund physischer Hemmnisse – die Karteikarten mussten handschriftlich kopiert werden
und erzeugten in der Masse nicht unerheblich logistische Transportprobleme – blieb die
Realisierung dieses Vernetzungsprojektes hinter seinem Anspruch zurück. Immerhin sollen
einige hundertausend Karteikarten verteilt worden sein. 47
Fakten katalogisieren, diese Aufgabe wirft mehrere Fragen auf, wie etwa jene, was überhaupt
dokumentiert werden kann bzw. was als ein Dokument gilt. Dass dies kein triviales Problem
darstellt, zeigt die lange Diskussion über den Status von Texten bzw. Objekten, die der
Information dienen. Als Dokument eines Ereignisses etwa gilt der Text, mit dem dieses
Ereignis schriftlich dokumentiert wurde. Gibt aber ein Text, der in die Akten und damit in das
Archiv eingeht, aber auch ein Ereignis faktisch wieder? Kann das Foto, kann ein Objekt nicht
ebenso ein Ereignis dokumentieren? Im Falle eines Objekts, das als Beweis für ein Geschehen
interpretiert werden kann, ist dies freilich möglich. Es dient dann der Erzeugung von Evidenz,
was wiederum an die Tatsache gebunden ist, dass dieses Objekt in einer bedeutungsvollen
Beziehung zu einem bestimmten Geschehen steht. Man wusste schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, dass man sich zu Dokumentationszwecken nicht allein auf verschriftete
Dokumente würde verlassen können. Natürlich wird mit den neuen Medientechniken
(Photographie, Phonographie, Film) der Begriff des Dokumentarischen ausgeweitet.
Aber haben wir tatsächlich Fakten, die zur Dokumentation taugen, oder werden diese nicht
auch durch die jeweilige Methode der Dokumentation erzeugt – „Un document est une preuve
à l’appui d’un fait”? 48 Wird denn gelegentlich nicht alles und jedes zu einem Dokument? Was
sollte das Répertoire Bibliographique eigentlich enthalten, wenn das Répertoire im engen
Wortsinn gesprengt wird, wenn neben die Texte als schriftliche/typographische Dokumente
also auch Ton- und Bilddokumente treten? In den Visualisierung von Paul Otlet, die
Wissensorganisation betreffend, ist die Hierarchisierung von Text versus Bild aufgehoben,
denn konsequenterweise haben alle Objekte das Potenzial, zu Wissensobjekten zu werden,
sogar Spielzeuge (siehe Abbildung XX). Den Bedeutungsrahmen eines Dokuments dehnte er
über jene Grenzen hinweg aus, die mit der typographischen Kulturtechnik gesetzt worden
sind: nicht nur schriftliche oder andere visuelle Aufzeichnungen als Repräsentationen von
Ideen oder von Objekten galten ihm als Dokument, sondern auch die Objekte selbst, sobald
sie aufgrund einer Bedeutungsrelation zu Fakten werden. Mit solchen Möglichkeiten spielt
bekanntlich die Kunst der Moderne spätestens seit Marcel Duchamp, der das
Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation selbst zum Thema machte.49
Die Diskussion um Fakten und Dokumentation verweist auf eine Verschiebung im
wissenschaftlichen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts, der schließlich mit einer neuen
Quellenlage konfrontiert war, sowohl in Form von Fotografien, als auch in Form neuer
Forschungsobjekte. So etwa aus der noch jungen Wissenschaft der Archäologie – war denn
die Venus von Willendorf, 1908 gefunden, etwa kein „Dokument” frühgeschichtlicher
Kunstfertigkeit? Und waren die 1886 in Altamira entdeckten steinzeitlichen Höhlenmalereien
etwa kein „Dokument” der frühgeschichtlichen Lebenswelt? Offensichtlich kann ein
Dokument physischer und/oder symbolischer Natur sein, und der Datenträger ist dabei
weniger entscheidend als die Ebene der soziokulturellen Konstruktion von Bedeutung, die aus
etwas Unbedeutendem ein bedeutsames Objekt und damit letztlich ein Faktum (lat. factum =
47
W. Boyd Rayward: „The International Federation for Information and Documentation“, in: Wayne A.
Wiegand und Don G. Davis (Hg.): Encyclopedia of Library History, New York 1994, S.290f.
48
„Ein Dokument ist ein Beweis zur Stützung eins Faktums.“ – Suzanne Briet: Qu’est-ce que la documentation?
Paris 1951, S.7.
49
Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992.
etwas Gemachtes) werden läßt, das wert ist, dokumentiert zu werden.50
Dazu kommt wie erwähnt dass seit der Fotografie Ereignisse dokumentiert werden können,
ohne dazu die Kulturtechnik Schrift verwenden zu müssen. Dies stellt einen fundamentalen
Einschnitt in der Mediengeschichte dar: Dokumente entstehen nicht mehr nur, wie seit Beginn
der Geschichtsschreibung, durch den Autor schriftlicher Aufzeichnung. Das Gesetz des
kulturellen Gedächtnisses und die Logik des kulturellen Archivs werden auf neue Grundlagen
gestellt. Im Traité de documentation dehnt Paul Otlet in diesem Sinne die Definition eines
Dokuments weit über die als Schriftstück publizierte Fassung aus. Erwähnung finden neue
mediale Typen der Aufzeichnung, die jenseits der Buchform dokumentarische Erschließung
möglich machen: Telegraphie und Telefonie, Radio, Television, Kino, Schallplatten.51 Die
Integration der durch diese neuen Datenträger gespeicherten und distribuierten Informationen
in ein allgemeines Wissenssystem auf multimedialer Grundlage spielt eine sehr prominente
Rolle in allen Visualisierungen, die Otlet selbst dazu anfertigte.
Mikrofilm
Dabei war Otlet selbstverständlich nicht nur wichtig, was in das Archiv kommt, sondern auch,
wie es von dort abrufbar ist. Nach seiner Ansicht gab es dafür praktischere Medien als das
Prinzip der Verwaltung von Wissen auf dem Datenträger Papier. Die Mikroverfilmung schien
vielversprechend. Bereits im frühen 20. Jahrhundert steht die traditionelle Bibliothek vor einer
Herausforderung: wenn am Anfang allen Wissens die empirischen Daten und Fakten sind,
manifestiert sich die Form des Wissens dann ausschließlich in schriftlicher, gedruckter
Fassung? Was ist mit all den anderen Zeichen, die im Prozeß der Wissensreproduktion
anfallen, repräsentierende oder indexikalische Zeichen, die etwa eine Funktion in
Beweisketten haben oder der Rekonstruktion von Zusammenhängen dienen?52
Mit solchen Reflexionen wurde die Dokumentation selbst als eine Kulturtechnik thematisiert,
die überdacht und den Ansprüchen der Moderne angepaßt werden muss. Die emphatische
Verwendung des Begriffs Dokumentation durch Otlet zeigt, dass er ihn in eine Art
Überwindungsszenario gestellt hat, das die neue Logik der Datenbanken von der alten Logik
der Bibliotheken und der Bibliographien trennt:
Und hiermit hat eine neue Phase begonnen. Es ist nicht mehr diejenige des Bibliothekswesens, und auch
nicht jene der Bibliographie, sondern es ist die einer Zusammenwirkung des Buches und des
53
Dokumentes, als die Dokumentation.
Damit wird deutlich, dass Dokumentieren mehr ist als bloßes Archivieren, und dass
Dokumentation bei Otlet zu einer Art kulturrevolutionärem Kampfbegriff wurde. Erst die
sorgfältig organisierte Dokumentation könnte eine weltweite intellektuelle Kooperative
ermöglichen, ein umfassendes und stets aktuelles Netz wissenschaftlicher Information.54
50
Michael K. Buckland: „What is a ‚document‘?“, in: T.B. Hahn und M. Buckland (Hg.): Historical Studies in
Information Science, Medford, NJ 1998, S.215ff.
51
Documents dits ‚Substituts de Livre‘ – Otlet 1934, a.a.O., S.216.
52
Vgl. die visuelle Diagrammatik von Peirce: „I do not think I ever reflect in words: I employ visual diagrams.“
– Franz Engel, Moritz Queisner, Tuilo Viola (Hg): Das bildnerische Denken von Charles S. Peirce, Oldenbourg
Akademieverlag 2012.
53
„Et maintenant voici qu’une nouvelle phase est commencée. Ce n’est plus ni celle de la Bibliothéconomie, ni
celle de la Bibliographie, c’est celle de l’ensemble du Livre et du Document, la Documentation.“ – Otlet, Traité,
a.a.O., S.38.
54
„réseau de distribution de l’information scientifique la plus complète, la plus récente, la plus autorisée“ –
Otlet, Traité, a.a.O., S.401.
Es ist die Klarheit und die Konsequenz, mit der Otlet sich die Reorganisation der
Wissensinfrastruktur vorstellte, die heute noch beeindruckt. Das Buch wird in seine
Komponenten aufgelöst, in die einzelnen Informationseinheiten, und jedes élément
intellectuel d’un livre wird auf einem eigenen Datenträger (Karteikarte, fiche) fixiert. Es
handelt sich um eine gewaltige andauernde Übersetzungsarbeit von Ideen (Schlagwörtern),
Fakten und Publikationen in den UDC-Klassifikationscode, so würden die Wissensdaten nicht
nur vervielfältigt, sondern auch neu assoziiert werden. Zur leichteren Handhabung der
Karteikarten ließ Otlet spezielle Serien von Karteikästen anfertigen, dem neu entworfenen
und in seinen Maßen standardisierten Meuble classeur. In 18 Reihen zu je 4 Schubladen, über
zwei Meter hoch und mit einer ausziehbaren Ablagefläche in der Mitte, ließen sich in diesen
leicht aufzustellenden Kästen Abertausende von Karten mittels Klassifikationscode
systematisch anordnen.
Abbildung 7 – Paul Otlet arbeitet am ‚meuble classeur‘ im Palais du Cinquentenaire, ca. 1910 (Quelle ©
Mundaneum Mons, Belgien)
Die Suche nach Informationen erfolgte per Hand, und sie verwies wie der Bibliothekskatalog
auf den Standort des Buches auf den Ort, an dem sich die Inhalte befinden. Katalog und
Archiv waren nicht identisch – ein Problem, das Otlet mit der Institutionalisierung eines
Speichermediums zu lösen suchte. Diese Speicherinstitution wäre keine Bibliothek, sondern
letztlich die Sammlung von Schautafeln im Gebäude des Mundaneums wie auch die geplanten
Reproduktionen von Dokumenten, die er als eine Encyclopedia microphotica Mundaneum
aufzubauen trachtete. Die sichtbare Ausstellung (Schautafeln, Bildstatistiken) sollte sich an
ein allgemeines interessiertes Publikum richten, das Mikrofilmarchiv stünde wohl eher der
Forschung zur Verfügung.
Problemlage:
Proliferation gedruckter Werke,
Unüberschaubarkeit des publizierten
Wissens, Dysfunktionalität des
Bibliotheksystems
Unübersichtlichkeit der Wissensbestände,
neue Medieninhalte jenseits der Schrift,
Unklarheit des Begriffs Dokument
Singularisierung wissenschaftlicher
Erkenntnisse,
Gefährdung des Zugangs zu
Wissensbeständen,
Immobilität der Wissenselemente
Lösungsansatz:
Neue Methodik
- Universale Dezimalklassifikation
- Reform des Dokumentationswesens
- Sicherung der Metadaten in einem
Répertoire
Neue Technik
- Standardisierte Karteikarten und
Kästen
- Ausweitung der Dokumentation
- Sicherung multimedialer
Wissensbestände
Neue Institution
- Wissensvernetzung in einer
Encyclopedia Universalis
- Errichtung des Mundaneums als
analoges Datenbanksystem
- Mikrofilm-Archivierung
Tabelle – Paul Otlets „Aktionsplan“ für den Weg in die Wissensgesellschaft.
Das allgemein daraus resultierende Problem ist offensichtlich: die grafische
Reproduktionstechnik war zu jener Zeit noch nicht so weit, den Aufbau eines derartigen
Wissensspeichers leisten zu können. Auch die Systematisierung einer neuartigen
Bildersprache zur Erstellung von reproduktionsfähigen Tafeln begann erst Mitte der 1920er –
Jahre durch das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien unter der Leitung von Otto
Neurath, mit dem Paul Otlet Kontakt hatte. Der konkrete Anlass war die geplante
Zusammenarbeit an einem Zivilisationsatlas im Auftrag einer Genfer Erziehungskommission,
der aber nicht mehr zustande kommen sollte. Dennoch eröffnete man eine Dependance des
Mudaneum 1931 in Wien, nachdem Otlet dort auch Neurath besucht hatte.55
Sicher konnte man Schautafeln in Serie anfertigen und Dokumente mikroverfilmen, doch ein
Problem trat auf der technischen Ebene deutlich hervor. Wie Charles van den Heuvel und W.
Boyd Rayward nachfolgend argumentieren, war sich Otlet durchaus der neu entstehenden
Interface-Problematik bewusst, die sich mit der Beziehung von Wissensbeständen an so
unterschiedlichen Orten wie Museum, Bibliothek, Enzyklopädie sowie den Fragen ihrer
Klassifikation ergeben. Wenn diese Assoziation oder Verknüpfung nach Parametern erfolgt,
die abfrageabhängig sind, dann haben wir damit zwar schon das Prinzip einer Datenbank vor
uns. Die bedarfsgerechte Darstellungsform kann allerdings erst die elektronische
Datenverarbeitung leisten, mit Karteikarten ist dies eine viel zu mühsame Sache. Einstweilen
schafften die Mitarbeiterinnen des Mundaneum die Bearbeitung von bis zu 2000 Karteikarten
täglich.
Als Lösung des Problems auf quantitativer Ebene setzte Otlet, wie andere in jener Zeit auch,
auf eine Verringerung des Datenvolumens durch Mikrofotografie. Durch das Abfotografieren
von Buchseiten steht der Inhalt in einem neue Format zur Verfügung – erst ein Jahrhundert
später sollte Google Books das Projekt der Volltextsuche in eingescannten Büchern zur
Realität machen. Doch auch hier gab es eben Pionierarbeit im analogen Feld. Zunächst sah
Otlet, der 1907 gemeinsam mit dem belgischen Chemiker Robert B. Goldschmidt zu dieser
„neuen Form“ des Buches publizierte, die Notwendigkeit einer Standardisierung von
Microfiches. 56 In einem entsprechenden Möbel oder einer Machine à lire könnte dann durch
die Verkleinerung das Äquivalent einer ganzen Bibliothek zur Verfügung stehen – die
Microphotothèque als Lösung (siehe unten, Seite XXX). Texte und grafische Darstellungen
auf dem filmischen Datenträger würden disponibel, durchsuchbar, tauschbar und miteinander
verknüpfbar.
Es handelt sich bei einem Microfiche um eine analoge Reproduktion von Text oder Grafik,
die aufgrund des verkleinerten Formates aber mit freiem Auge nicht mehr lesbar sind. Man
braucht also ein Lesegerät, einen Projektionsapparat. Auch müssen die Inhalte über einen
Klassifizierungscode verwaltet werden, um die entsprechenden Dokumente zu finden. Würde
all dies funktionieren, hätte man mit der Microphotothèque eine Art Bildschirmarbeitsplatz
mit automatisierter Wissensverwaltung gehabt. Aber an dieser Stelle bleibt Otlet in seinem
Traite, wo er die Idee wiederholte, ziemlich spekulativ: er spricht von einem Pflichtenheft für
die Ingenieure, um irgendwann das Cervau mécanique et collectif entwickeln zu können. 57
Tatsächlich gab es fähige Ingenieure, die derartiges zu leisten imstande waren. Emanuel
55
Levie, L’Homme... a.a.O., S.335.
Robert B. Goldschmidt, Paul Otlet, Sur une forme nouvelle du livre— le livre microphotographique, Bruxelles
1906; dies.: La Conservation et la diffusion international de la pensée: le livre microphotique, Bruxelles 1925 –
Als ‚Erfinder‘ des Mikrofilms wird oft der französische Optiker René Dagron genannt, dieser hat jedoch 1859
nur das erste Patent dafür angemeldet. Der Brite John B. Dancer, der sich 1852 die Stereoskop-Kamera
patentieren ließ, experimentierte bereits 1839 mit Mikrofotografie. Auch bei der ersten Weltausstellung in
London (1851) wurde Mikrofotografie gezeigt und in Berichten als Speichermöglichkeit für Dokumente
diskutiert.
57
„Inventions a faire“, Otlet, Traité, a.a.O., S.389ff.
56
Goldberg, technischer Direktor von Zeiss Ikon in Dresden, fertigte ab 1925 ein Gerät, das eine
automatisierte Dokumentensuche auf der Basis von Mikrofilm möglich machte. Er nannte es
Statistische Maschine und erwarb 1928 dafür ein deutsches und 1931 ein amerikanisches
Patent. In dieser Maschine kamen unterschiedliche Technologien zusammen, wie Mikrofilm
für das Speichern von Dokumenten und fotoelektrische Zellen zur automatischen
Adressierung von Suchanfragen über eine Indexcodierung.
Goldberg [...] beschreibt die Konstruktion einer Maschine für das Suchen, Auffinden und Anzeigen von
beliebig vielen Dokumenten, die bestimmten, vor der Suche spezifizierten Kriterien entsprechen,
unabhängig davon, in welcher Reihenfolge diese Dokumente auf dem Film abgelegt sind. Es handelte
sich um ein richtungsweisendes Verfahren für die Suche und Anzeige von Dokumenten, bei dem
Mikrofilm als Speichermedium für die Dokumente zum Einsatz kam, Fotozellen für das Abtasten der
Indexkodierungen verwendet wurden und digitale Schaltungen für die Mustererkennung verantwortlich
waren. 58
Unter dem Titel einer neuen Methode der „photographic registration“ berichtete 1932 das
renommierte British Journal of Photography vom Vortrag Goldbergs, den dieser im Jahr
zuvor am Internationalen Kongress für Fotografie in Dresden gehalten hatte. Bei dieser
Gelegenheit demonstrierte Goldberg einen funktionierenden Prototyp seiner neuen
„Wissensmaschine“. Andere Entwicklungen, wie die eben auch in den Vereinigten Staaten
von Georges Sebille patentierte „Apparatur für das Lesen von Büchern und dergleichen“
zeugen von den damals neuen Ideen eines Wissensmanagements jenseits des Buches: die
Bilder von Mikrofilmrollen konnten auf einen Bildschirm projiziert und dort betrachtet oder
kopiert werden. Es handelt sich also um eine frühe Form der personalisierten ArbeitsplatzStation, im Fall von Sebille mit den Seiten von ganzen 1200 Büchern auf Mikrofilm.59
Während mit den Fotozellen erste Ansätze der Elektronik bereits erkennbar wurden, galt die
Mikrofilm-Technologie in den 1930er-Jahren noch als absolut zukunftsweisend. Eine
Apparatur auf visueller Grundlage der fotografischen Verkleinerungstechnik würde als
Encyclopédie microphotique raschen Zugriff auf Dokumente ermöglichen und die Arbeit mit
ihnen erleichtern. Gemeinsam mit Goldschmidt entwickelte Otlet nicht nur diese Idee des
neuen Buches, er spekulierte in seinem Traité auch über die Integration in Entwicklung
befindlicher neuer Medientechnologien wie dem Fernsehen für ein künftiges Wissenssystem;
Telekommunikation, bestehend aus Telefon, Radio, Phonographie, Kinematographie und
Television würde einen multimedialen Wissensraum hervorbringen. Wichtig war für ihn die
Verbindung von systematischer Dokumentation und den Zugangsmöglichkeiten über die
wachsende Infrastruktur der Telekommunikation. Denn dank der universellen
Dezimalklassifikation würde der thematische Zugriff nicht nur auf Schriften, sondern auf alle
diese Dokumente möglich sein, sofern sie klassifiziert und mikrofotografisch abgespeichert
wurden; ein Wissensspeicher ungeahnten Ausmaßes würde so entstehen.60
58
Michael Buckland: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und
Politik, Berlin 2010, S.211.
59
Ebd., S.205f. – Es gibt genug Hinweise darauf, dass der MEMEX, den Vannevar Bush in seinem berühmten
Artikel „As we may think“ (The Altantic Monthly, 1945) weder eine ‚hypothetische Maschine‘ noch eine
‚medienkombinatorische Fiktion‘ war, wie es oft heißt, sondern eben diese konkret existierenden Vorbilder
gehabt hat – die Stilisierung von Bushs Beitrag ist ein Mythos einiger Medientheoretiker, denen die Quellenlage
außerhalb der Computerentwicklung gänzlich unbekannt ist; so etwa in den Beiträgen bei Hans Dieter Hellige
(Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld 2008.
60
Von dieser analogen Technologie ist unsere Gegenwart übrigens nicht so weit entfernt, wie man gern glauben
würde: historisch bedeutsame Urkunden, Verträge und andere Dokumente zwecks Langzeitarchivierung immer
noch auf Mikrofilm kopiert, versiegelt und im Granit und Gneis des Barbarastollens versenkt. Dieser geschützte
sogenannte „Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“ bei Freiburg im Breisgau ist Europas
größtes Archiv für Dokumente von kulturhistorischer Bedeutung.
Abbildung 8 – Paul Otlets Visualisierung einer multimedialen Verschmelzung von Dokumentation und
Telekommunikation, aus der Encyclopaedia Universalis, ca. 1934 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien)
Paul Otlet war teils aus Begegnungen, teils aus Publikationen mit den Entwicklungen jener
Ingenieure bestens bekannt, denen er dann im Traité seine Vorstellungen in ein Pflichtenheft
diktiert hat. In der Geschäftswelt war man in jenen Jahren auch daran, die Verwaltung von
Unterlagen wie die Handhabung von Schecks zu mechanisieren. Begründer der modernen
maschinellen Datenverarbeitung war Herman Hollerith mit seiner Lochkartenmaschine, für
die er bei der Pariser Weltausstellung 1889 die Goldmedaille erhielt. Ganze 43 dieser
Maschinen kamen 1890 bei der amerikanischen Volkszählung zum Einsatz und verkürzten die
Auswertung der erhobenen Daten in eindrucksvoller Weise. Der Bedarf an automatisierter
Datenverarbeitung stieg in jener Zeit gewaltig an, sowohl bei den Behörden als auch im
Handel und beim Militär. Die Hollerithmaschinen wurden aber erst ab den späten 1940erJahren von automatischen Elektronenrechnern ersetzt. 61 Für die Ideen zur automatisierten
Datenselektion, die Otlet verfolgte, bezog er sich auf statistische Maschinen wie die von
Hollerith, welche er im Traité erwähnte.62
Hyper-Medialität
Zugleich jedoch trachtete Otlet nach einer Zusammenführung der unterschiedlichen
Technologien der Verwaltung von Daten und des Zugangs zum Wissen. Neben der Erfassung
und Verwaltung bibliographischer Angaben, für die eine automatisierte Statistik genügen
würde, ging es ihm um einen spezifischen Mehrwert, und das war der Bildschirmleseplatz, an
dem nicht nur die bibliographischen Einträge zugänglich wären (also die Verwaltung der
Metadaten), sondern schon auch die Inhalte selbst. Unter der Voraussetzung nun, dass man
nicht eine einzelne, sondern einen ganzen Komplex miteinander verbundener Maschinen zu
Einsatz bringen würden, hätte man „uneingeschränkte mechanische Handhabung sämtlicher
aufgezeichneter Informationen für die Gewinnung neuer Bestandskombinationen, neuer
Ideenkonstellationen, neuer symbolischer Operationen“ – und damit das mechanische und
kollektive Gehirn.63
Hier wurde nichts weniger als ein von Otlet wörtlich so genanntes Réseau mondial de
communications intellectuelles antizipiert, tatsächlich eine sowohl im spekulativen Bereich
der Technikentwicklung als auch in Organisationsfragen, wie durch zahlreiche Textstellen im
Traité belegt, ziemlich erstaunliche Vision dessen, was gegen Ende des 20. Jahrhunderts als
Vernetzung von Wissensressourcen auf der Grundlage von Telekommunikation und
Informationsverarbeitung realisiert werden sollte. Es geht dabei um Wissenskommunikation
auf globaler Ebene: eine Organisation mondiale, wie Otlet schrieb, die wie ein Weltgehirn
funktionert, dessen zentral gesteuerte Organismen ein Réseau de communication, de
coopération et d’échanges bilden.
Abbildung 9 – Organisation Mondiale – Réseau de communication, de coopération et d‘échanges. Otlets
Organigramm eines weltweiten Kommunikationsnetzes, 1934 (Quelle: Traité de Documentation, S.420)
www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Kulturgutschutz/ZentralerBergungsort/zentralerbergungsort_no
de.html
61
Herbert Matis: Die Wundermaschine. Die unendliche Geschichte der Datenverarbeitung: Von der Rechenuhr
zum Internet, Frankfurt/Wien 2002.
62
Otlet, Traité, a.a.O., S.388ff. – Erwähnung findet außerdem das in den USA von Eugene Power entwickelte
Mikrofilmgerät, ebd.
63
Otlet, Traité, a.a.O., S.391.
Dieses hypermediale Prinzip der Weltinformation würde eine künftige Form der HyperIntelligenz organisieren, und Otlet dachte hierbei in ganz ähnlichen Kategorien wie andere
europäische Gelehrte, die lange vor dem Computerzeitalter mit neuer, auf globale
Wissenskommunikation angelegter Medientechnik den Schritt in die Medienmoderne
konzeptionell vollzogen haben, obwohl die Technik selbst noch lange nicht so weit war –
genannt seien nur Wilhelm Ostwald und Otto Neurath.64
Auch Otlet visionierte mit seiner Idee der Hyper-Medialität mehr als was damals realisierbar
war. Etwa die partizipativen Möglichkeiten und neuen inhaltlichen Zugänge, die man de son
fauteuil, von seinem privaten Lehnstuhl aus würde nutzen können, zu einer Zeit, als jede
technische Möglichkeit noch weit hinter solche Vorstellungen zurückfallen musste. Er
rationalisierte und systematisierte für sein bibliographisches System die Datenträger nach dem
Principe des fiches mobiles, diese Fiches aber, die Karten, erwiesen sich als physisch
widerständig. Dennoch schwebt über allem die Vision eines widerstandslosen Datenflusses,
wobei die Terminologie recht emphatisch wurde. Für seine Agenda verwendete Otlet selbst
den Begriff der Hyper-Dokumentation.65 Diese erlaubt ein Navigieren durch alle zur
Verfügung stehenden Meta-Informationen. Da sie standardisiert sind und damit serialisiert
werden können, bilden sie als ein Réseau Universel d’Information et Documentation die Basis
globaler intellektueller Arbeit: wo immer die Information gebraucht wird, wäre sie verfügbar
zu machen. Das Moment, welches diese Idee über herkömmliche bibliothekarische Methoden
hinaustreibt, war eben die Einbindung der Möglichkeiten moderner Telekommunikation.
Die Vereinheitlichung des Trägerformats von bibliographischen Metadaten auf der genormten
Karteikarte war nur ein Aspekt eines neuen Informationsmanagements, das von Otlet und
Mitarbeitern entworfen wurde. Das Speichern und Wiederauffinden von Daten sollte auf
vollkommen neue Grundlagen gestellt werden, wobei neue Prinzipien auch für den Transport
und die Verknüpfung von Dokumenten entwickelt wurden. Schreibmaschinen bieten neue
Möglichkeiten, aber auch neue Arbeitsgeräte wie mit Elektromotoren verstärkte Classeurs,
die das Auffinden und Ausheben von Dokumente besorgen.66 Schließlich ist niemand an
Büchern interessiert, sondern an den Informationen, die diese enthalten – sie könnten
idealerweise auf neuen Arbeitsmöbeln präsentiert werden, auf dem frei verfügbare Flächen
die gewünschten Inhalte anzeigen (ganz nach Art der heutigen Desktops), die aus einem
international vernetzten Reservoir an Dokumenten telekommunikativ abgerufen werden, eine
Vorstellung, mit der Paul Otlet durchaus moderne Hypertext-Systeme antizipierte.67
Weltmuseum für den Weltfrieden
Otlet dachte weit jenseits des Buches und blieb in alltäglichen Zusammenhängen dennoch
noch an die Welt des Papiers gebunden. So blieben einige Tonnen davon sein Vermächtnis,
das nach der im Jahr 1934 politisch erzwungenen Schließung des Mundaneums in
Vergessenheit geriet. Die Wissensmaschine „Buch/Bibliothek“ sei wenig zukunftsgeeignet,
ihre Grenzen müssen gesprengt werden, so lautete sein Mantra. In diese Richtung
argumentierte schließlich der Traité de Documentation, obwohl wie gesagt eine
technologische Alternative zur analogen Informationsverarbeitung nicht ernsthaft zur
64
Wilhelm Ostwald: Das Gehirn der Welt, München 1912; Otto Neurath: International Picture Language,
London 1936 – Zur Diskussion vgl. W. Boyd Rayward (ed.): European Modernism and the Information Society.
Informing the Present, Understanding the Past, Ashgate 2008.
65
„l‘Hyper-Documentation“ – Otlet, Traité, a.a.O., S.429.
66
Otlet, Traité, a.a.O., S.388f.
67
Vgl. W.Boyd Rayward: „Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868-1944) and Hypertext“, in: Journal of the
American Society for Information Science, Nr.45, 1994, 235-250
Verfügung stand. Daher gab es bei Otlet stets noch die Vorstellung eines physischen
Zentrums der Weltinformation, das Centre mondial, zu dem Informationssuchende weltweit
per Ton-, Bild- und Textübertragung in Kontakt treten können sollten. Die Gefahr einer
Totalisierung des Wissens, die im Fahrwasser einer Hegelschen Auffassung des
Enzyklopädischen liegt, ist hier ebenso ein Problem wie die positivistische
Wissenschaftshaltung verbunden mit der Emphase auf Weltverbesserung. Sind denn
sozialpolitische Probleme durch Technologien des Wissens und der Kommunikation wirklich
lösbar? Wirkt der Zugang zu Informationen per se schon friedensstiftend? Immer wieder
taucht diese Idee auf, bei Otlet wie auch bei seinen Zeitgenossen. Die mit wissenschaftlicher
Rationalität gestaltete Enzyklopädie soll politische Konflikte auflösen und sozial integrierend
wirken. 68
Ein fraglos überspanntes Projekt. Neue Medien- und Kommunikationstechnologien beleben
gleichwohl immer wieder die Aspirationen in diese Richtung. Mit ähnlichem Messianismus –
„to organize the world’s information and make it universally accessible and useful“ – definiert
heute noch das Suchmaschinenunternehmen Google sein übergeordnetes Ziel.69 Spätestens
wenn die Digitaltechnik die Informationselemente in einer globalen Medienkultur disponibel
werden läßt, wird klar, dass die Form eines Dokuments ihrer Funktion im Wissensuniversum
untergeordnet sein würde. So kann die Dokumentationsaufgabe – in völliger Entgegensetzung
zum starren positivistischen Konzept der archivarischen Erfassung und enzyklopädischen
Ordnung – zu einer Transformationsleistung werden, die das Wissen dynamisiert und nicht
festschreibt. Die Dokumentation stellt die Achsen zur Verfügung, auf denen zusätzlich zur
traditionellen Überlieferung die Elemente des Wissens zweckdienlich verschoben und
raumzeitlich gestreut verfügbar gemacht werden können, was eine neue Dimension der
Wissensordnung schafft: damit würde letztlich das Gewicht mehr auf die Relation zwischen
den Informationslementen gelegt und nicht auf die Informationen selbst, die nach der Logik
von Datenbanken ihren Status ständig ändern, weil dieser abfrageabhängig geworden ist.
Ein mechanisch-analoges System wie die Bibliothek oder auch Otlets Mundaneum wird ab
genau dem Punkt dysfunktional, ab dem der Aufwand zur Verwaltung des ständig
wachsenden Datenbestandes die vorhandenen Kapazitäten übersteigt. Die Logik der
Datenbank hingegen ist eine radikal andere, denn die Bewältigung wachsender Datenmengen
ist im Digitalzeitalter nicht mehr das Problem. Das Wissen automatisch zu organisieren heißt
auch, es auf neuer Grundlage zu bewerten. Mit Elektronik und Digitalisierung entstehen
Technologien, in die menschliche Logik implementiert wurde. Die Apparate – Computer,
Server und Netzwerke – erscheinen uns in quasi verselbständigter Form. Sie vollführen
heutzutage mittels Software-Agents bereits automatisch kleinere Aktionen und treffen
Entscheidungen mittels eines Inferenz-Layers, der sie Aussagen, Verweise oder
Empfehlungen aus einer bestehenden Wissensbasis ableiten lässt, die auf statistischer
Grundlage erstellt wurde.70 Kommen mehr Daten in eine elektronische Datenbank, wird deren
Abfragequalität automatisch mitwachsen; wenn der Gebrauch die Datenbasis selbst
anwachsen lässt, dann steigt die Qualität der Suchergebnisse. Das ist gegenwärtig mit ein
Grund für den Erfolg von Google.
68
Otto Neurath: Unified Science as Encyclopedic Integration, in: International Encyclopedia of Unified Science,
Vol. 1.1, Chicago 1938 – Vgl. auch Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer
Empirismus, hrsg. von Rainer Hegselmann, Frankfurt am Main 1979.
69
www.google.com/corporate
70 „Statistische Inferenz“ bedeutet automatisiertes Schlussfolgern und Lernen aus Daten. Ein Beispiel wäre die
automatisierte Verwaltung von Nutzerzugriffen auf Webseiten, aus denen sich ohne menschliches Zutun
bestimmte Aussagen und Bewertungen generieren lassen. Zur Veranschaulichung vgl. die in diesem Sinn
automatisierte Empfehlung bei Amazon: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“ oder
„Welche anderen Artikel kaufen Kunden, nachdem sie diesen Artikel angesehen haben?“
Als der Informatiker Larry Page in den 1990er-Jahren den Algorithmus für Google
entwickelte, dachte er sozusagen auch noch in den Bahnen der Buchkultur. In der
akademischen Welt wächst bekanntlich die Bedeutung eines Textes, je mehr dieser in Texten
von Kollegen des Autors zitiert wird. Die Übertragung der Prinzipien akademischer
Zitierweise ins World Wide Web erklärt (ansatzweise) das Prinzip von Google mit seiner
Entwicklung eines entsprechenden Algorithmus für die Rangreihung von Webseiten in
Suchmaschinenergebnissen – je mehr eine Webseite von anderen verlinkt wird, desto weiter
vorn in der Ergebnisliste wird sie bei einer Suchanfrage gereiht. Diese Wertung erfolgt durch
eine mathematische Analyse innerhalb einer Datenbank, welche die Links von Webseiten
enthält. So funktioniert Google: seine auf unzählige Server weltweit verteilte Datenbank
bildet inzwischen ein künstliches Gedächtnis, es entspricht etwa jener Vorstellung vom
Cerveau mechanique, von dem Paul Otlet phantasiert hat.
Übrigens, die Realisierung von Otlets Mundaneum als Weltmuseum – für die er namhafte
Künstler und Architekten wie Hendrik Christian Anderson71 und Le Corbusier (siehe dazu
unten die Ausführungen Wouter Van Ackers) zu gewinnen suchte – war gar nicht so naiv wie
es nachträglich scheinen mag. Wissen braucht Orte, an denen es gesammelt und verwaltet
wird. In Zeiten der vermeintlichen Ortlosigkeit des Internets wird leicht vergessen, dass auch
Google auf seine Hardware-Architektur und auf Computercluster in weltweit betriebenen
Rechenzentren angewiesen ist.
Abbildung 10 – Otlet (Mitte) und Mitarbeiterinnen mit einem Modell des Mundaneum im Palais du
Cinquentenaire, ca. 1910 (Quelle © Mundaneum Mons, Belgien)
Stand einst einem wachsenden Dokumentenbestand die Erfordernis eines wachsenden
Indizierungsaufwandes entgegen, so wächst im Zeitalter der elektronisch-mathematischen
Verwaltung von Relationen die Qualität einer Suchmaschine im Digitalzeitalter. Dass
inzwischen jede Google-Suche – sie findet genau genommen nicht „im Internet“ statt, sondern
im Cache-Memory von Googles Servern und ihren Datenbanken – von den Millisekunden
profitiert, die damit eingebracht werden können, trägt zum Erfolgsgeheimnis bei. Und je
weniger wir auf unser Gedächtnis vertrauen und je stärker wir uns an die Auffindbarkeit aller
Inhalte durch ein intelligentes Searchtool gewöhnen, desto schlauer wird dieses World Brain,
das wir ständig füttern während wir es benutzen.72
Das Unternehmen Google Books strebt eine umfassende Volltextsuche aller
Printpublikationen an, sowohl von Verlagen als auch von Bibliotheksbeständen. Dessen
Buchdigitalisierung begann 2004 und laut Presseberichten soll es möglich sein, dass bis 2020
alle weltweit vorhandenen Bücher (laut Schätzung sollen das ca. 130 Millionen Bücher sein)
in digitaler Form vorliegen. Allein, der Rechtsstreit mit Verlagsverbänden und
Interessenvertretungen von Autoren scheint endlos und so bleibt aufgrund der juristischen
Grauzone weiterhin fraglich, ob und vor allem wann eine freie Online-Verfügbarkeit der
Publikationen tatsächlich uneingeschränkt möglich sein wird. Trotzdem, Otlet wäre wohl
verblüfft zu erfahren, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Bücher gibt, die man an ihren
Standorten, den Bibliotheken (oder eben virtuell, als gescannte Textseiten) konsultieren muss,
während uns doch längst eine alternative Kulturtechnik zur Verfügung steht. Er beabsichtigte,
das publizierte Weltwissen überschaubar zu machen. Die Hyper-Dokumentation diente
schließlich dem Zweck, einen raschen Überblick über komplexe Wissensgebiete zu
71
Hendrik Christian Andersen, Ernest Hébrard, et al.: Creation of a World Centre of Communication. Paris:
1913.
72
Nicholas Carr: The Shallows. What the Internet is Doing to Our Brains, New York 2010, Kap. 7.
ermöglichen und die gewünschten Informationen auf jede technisch mögliche Art und Weise
zu prozessieren. Die dokumentarische Arbeit würde zu einem Atlas der Weltinformation
anwachsen, zur Encyclopedia Universalis Mundaneum, die das Wissen der entstehenden
Weltgesellschaft repräsentiert.73
Seiner Idee, dass Texte aus Büchern über Telekommunikationsnetze zu den Leser kommen
(und nicht umgekehrt), entsprach die technische Realität seiner Zeit noch nicht ganz. Sie war
aber denkbar und schien technisch machbar, und das ist entscheidend. Paul Otlet bleibt ein
interessanter Visionär, weil er die Logik einer alternativen Kulturtechnik antizipiert hat,
während die mediale Technik selbst gar nichts bewirkt hat. Sie ist und bleibt eine
Ermöglichungsbedingung, die von vielen anderen Faktoren abhängt – in den Worten eines
anderen Visionäres der globalen Medienkultur: es ist jetzt nicht mehr die Technik, die unsere
Möglichkeiten in der Kommunikation beschränkt, die Hindernisse sind allein wirtschaftlicher,
rechtlicher und politischer Natur. 74
73
Paul Otlet: Monde. Essai d'universalisme: connaissance du monde, sentiment du monde, action organisée et
plan du monde, Brüssel 1935.
74
„We have now reached the stage when virtually anything we want to do in the field of communciations is
possible: the constraints are no longer technical, but economic, legal or political.“ (Rede zum UNWeltkommunikationstag 1983) – Arthur C. Clarke: How the World was One. Beyond the Global Village, London
1992, S.213.