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T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien www.bonjour-geschichte.de „Weltfremdheit feiert Orgien“?! Der Sittlichkeitsskandal Machan-Kolomak 1927 in der Presse Theresa Hertrich, Jasmin Sommer & Nils Stefen Info heresa Hertrich, Jasmin Sommer und Nils Stefen studieren im Masterstudiengang Geschichte an der Universität Bremen. Dieser Artikel wurde im Rahmen eines Projekts aus der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ veröfentlicht: Schöck-Quinteros, Eva / Dauks, Siegrid: „Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ Der Fall Kolomak in Bremen 1927 (Aus den Akten auf die Bühne, 3), Bremen 2010, S. 143–184. Haben Sie Fragen oder Anregungen an die AutorInnen? Sie erreichen sie per E-Mail: hertrich@uni-bremen.de, jasommer@uni-bremen.de, nils.stefen@unibremen.de. Dieser Artikel ist auf der Internetseite des Projekts http://www. bonjour-geschichte.de veröfentlicht. Außerdem ist er dauerhat über eine URN im Online-Angebot der Deutschen Nationalbibliothek abrubar: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00102233-13 Zusammenfassung 1927 rückte ein Sittlichkeitsskandal Bremen in das Licht der reichsweiten Öfentlichkeit. Im Fall Kolomak wurde vor dem Bremer Landgericht die Geschichte der 1924 verstorbenen Lisbeth und ihrer wegen Kuppelei verurteilten Mutter Elisabeth Kolomak verhandelt. In regionalen sowie überregionalen Zeitungen und Zeitschriten wurde intensiv über den Prozess berichtet. Die „Stars“ der Gerichtsberichterstattung kamen in die Hansestadt und schrieben kontrovers über die gesellschatliche Doppelmoral, die Krise der Justiz und die (Zwangs)Behandlung von Frauen, die der Prostitution verdächtigt wurden. Neben den eigentlichen Ereignissen wurde hierbei exemplarisch die durch Krieg und Inlation veränderte Moral zwischen den Geschlechtern verhandelt. In Bremen selbst kam es zu einer „Presseschlacht“ um die Glaubwürdigkeit der Bremer Behörden. Der Artikel befasst sich mit den unterschiedlichen Darstellungen und Wertungen des Falles und gibt damit einen Einblick in die moralischen Debatten sowie die Arbeitsweise der Presse in der Weimarer Republik. Abstract In 1927 a Bremen ethical scandal appears in public throughout the whole German Reich. In the “Kolomak case” the regional court dealt with the story of 1924 deceased Lisbeth and her mother Elisabeth Kolomak, who was sentenced due to procuring. Local and national newspapers and magazines reported in-depth about the court proceedings. he “stars” of German crime reportage came to the Hanseatic City and wrote about societal double standards, judiciary depression and the (compulsory) treatment of women suspected of prostitution. he newspapers in Bremen fought against each other and discussed the reliability of the municipal authorities. his article explains the diferent ways of representing and assessing the case and gives an insight into the journalistic mode of practice in the 1920s. bonjour.Geschichte 1 (2011) 1 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien 1927 rückte ein Sittlichkeitsskandal die Hansestadt Bremen ins Rampenlicht der reichsweiten Öfentlichkeit. Während in anderen Städten spektakuläre Mord- oder politische Strafprozesse für Aufsehen sorgten, wurde im Fall Kolomak vor dem Landgericht Bremen die durch Krieg und Inlationszeit veränderte Moral zwischen den Geschlechtern verhandelt. Am Anfang der Geschichte stand eine literarische Sensation, ein Bestseller der 1920er Jahre. Im Dezember 1926 erschien im katholischen Verlag Herder unter dem Titel „Vom Leben getötet“ das anonyme Tagebuch eines 16-jährigen Mädchens, das massive Vorwürfe gegen die (Zwangs)behandlung geschlechtskranker junger Mädchen und Frauen enthielt. Es deckte nach Meinung vieler KritikerInnen auf, welchen Gefahren junge lebenslustige Mädchen in der Großstadt ausgesetzt waren und wie sie auf die vermeintlich schiefe Bahn geraten konnten. Bremen wurde als Ort des Geschehens und Lisbeth Kolomak als Verfasserin identiiziert. Zwischen der Veröfentlichung des Tagebuchs und der überraschenden Verhatung der Mutter wegen Kuppelei vergingen nur wenige Wochen. In der Untersuchungshat gestand Elisabeth Kolomak schließlich, dass sie selbst das Tagebuch verfasst habe. Die Bürgerschat diskutierte insgesamt über acht Stunden leidenschatlich über Sitte und Moral am Beispiel der Lebensweise von Mutter und Tochter Kolomak. Am 15. Juni 1927 eröfnete das Schöfengericht den dreitägigen Prozess wegen Kuppelei gegen die „Schustersfrau“ Elisabeth Kolomak, welcher mit einer Gesamtverurteilung zu acht Monaten Hat endete. Für die Berufungsverhandlung wurde Justizrat Johannes Werthauer, einer der renommiertesten Strafverteidiger Berlins von der Deutschen Liga für Menschenrechte, hinzugezogen. Das Delikt der Kuppelei und dieser große Aufwand der Justiz – das passte für viele zeitgenössische BeobachterInnen nicht zusammen. Je entschlossener der Bremer Senat seinen Ruf gegen die Vorwürfe Elisabeth Kolomaks glaubte verteidigen zu müssen, desto lebhater wurde die Reaktion in den Medien. Das Tagebuch „Vom Leben getötet“ und der Prozess gegen Elisabeth Kolomak stießen auf eine außergewöhnlich große Resonanz in der Presse. Neben Vertretern der Pressedienste reisten Berichterstatter vieler großer Zeitungen in die Hansestadt, um vor Ort zu recherchieren. Das Spektrum reichte von den Lokalzeitungen über literarische und gesellschatskritische Organe wie der Literarischen Welt, der Neuen Bücherschau und der Weltbühne bis zu traditionsreichen Tageszeitungen, wie dem Berliner Tageblatt, der Vossischen Zeitung und der Frankfurter Zeitung. Die Berliner Boulevardpresse wie die Welt am Abend und das 8 Uhr-Abendblatt berichtete ausführlich. Außerdem erschienen Beiträge in wissenschatliche Zeitschriten, Frauenzeitschriten und Illustrierten. Am Beispiel des Kolomak-Prozesses wurden für eine breite Leserschat hetig umstrittene gesellschatliche Fragen diskutiert: Sittlichkeit und Moral in der Beziehung zwischen den Geschlechtern, Erziehung und Lebensweise von jungen Mädchen und die richtige Behandlung von Geschlechtskrankheiten ebenso wie das Problem von Wahrheit und Fälschung literarischer Zeugnisse oder die Vorgehensweise der Justiz. Die liberale Presse wertete den Prozess gegen Elisabeth Kolomak als anachronistisch: Die Anklage wegen Kuppelei und das Vorgehen der Behörden gegen diese Frau aus einfachen Verhältnissen galten als unzeitgemäß, übertrieben und lächerlich. Demgegenüber verteidigten konservative Blätter die überkommenen wilhelminischen Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen sowie die Einhaltung bestehender Gesetze. Monatelang stand Bremen unter öfentlicher Beobachtung – zunächst wegen der im Tagebuch formulierten Anklage gegen das Polizei- und Gesundheitssystem, dann wegen der langen Untersuchungshat von Elisabeth Kolomak und schließlich aufgrund des Prozesses selbst. bonjour.Geschichte 1 (2011) 2 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Doch was war an dem Verfahren gegen Elisabeth Kolomak so interessant für die Presse? Warum bemühten sich zahlreiche Vertreter der überregionalen Presse nach Bremen? Ging es in der Berichterstattung um die Person Elisabeth Kolomak oder wurde sie auch instrumentalisiert und der „Fall Kolomak“ zu einem Symptom des politisch-gesellschatlichen Umbruchs stilisiert? Zuerst wird ein knapper Überblick über die Presselandschat in den 1920er Jahren gegeben. (Abschnitt 1). Anschließend werden die kontroverse Debatte in den Bremer Nachrichten und der Bremer Volkszeitung (Abschn. 2) sowie die überregionalen Reportagen (Abschn. 3) noch vor Beginn des Prozesses nachgezeichnet. Nach einer Einführung in das Genre der Gerichtsreportage und das Verhältnis von Presse und Justiz in der Weimarer Republik (Abschn. 4) werden die Bremer Presse (Abschn. 5), die Berichterstattung der bedeutenden Berliner Gerichtsreporter Gabriele Tergit und Sling (Abschn. 6), die Gesellschats- und Justizkritik in der Weltbühne (Abschn. 7) und die Boulevardpresse (Abschn. 8) vorgestellt. Zwischen Poliik und Unterhaltung – Die Presse der Zwanziger Jahre Die 1920er Jahre waren das Jahrzehnt der Zeitungen. Neben Zeitschriten, Plakaten und Handzetteln waren sie das zentrale Kommunikationsmedium. Sie bestimmten das Alltagsbild insbesondere in den Großstädten: Menschen aller gesellschatlichen Schichten lasen in Lokalen, auf der Straße sowie in den öfentlichen Verkehrsmitteln und diskutierten die aktuellen Nachrichten. Weit über 3.000 Zeitungen waren reichsweit erhältlich. Täglich wurden etwa 20 Millionen Exemplare verkaut und häuig von mehreren Personen gelesen.1 Die stetige Erhöhung der Aulagen und die damit einhergehende massive Senkung der Zeitungspreise seit dem Kaiserreich ermöglichten es allen Bevölkerungsschichten, den politischen und gesellschatlichen Diskurs zu verfolgen und im eigenen Umfeld zu besprechen.2 Politische, ot parteinahe Zeitungen prägten die Presselandschat der Weimarer Republik. Zugleich entwickelten sich auch neue Formen wie die Boulevardzeitung. Mit der Erweiterung der hemen und der veränderten Art der Berichterstattung erreichten die Zeitungen neue Leserkreise mit anderen, speziischen Ansprüchen. Die Leser wollten nicht nur informiert, sondern auch unterhalten werden. Das Interesse am Ungewöhnlichen im Alltag wuchs: Bisher Geheimes oder Privates wurde zum Gegenstand der öfentlichen Wahrnehmung.3 Nicht nur der Politiker in seinem Amt war interessant, sondern auch der Mensch dahinter. Über Strataten und Schicksale, Leistungen und Fehltritte schrieben die Redakteure der großen Zeitungen. In kurzer Zeit entstand ein neues Genre: die Sensationspresse. Die Bevölkerung in Großstädten wie Berlin verlangte nach Sensation und seriöser Information - und besonders die Boulevardpresse lieferte diese Mischung.4 Zu einer „Entpolitisierung“ in der Berichterstattung dieser Zeitungen kam es jedoch nicht. Die Presse war und blieb das Organ politischer Meinungen. Aber es kam zu einer „Verschiebung, Ausdiferenzierung und Ausdehnung der politischen 1 Fulda, Bernhard: Press and Politics in the Weimar Republic, Oxford 2009, S. 2-6. 2 Bösch, Frank: Katalysator der Demokratisierung? Presse, Politik und Gesellschat vor 1914, in: Bösch, Frank, Frei, Norbert (Hgg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 25-47, hier: S. 27. 3 Requarte, Jörg: Öfentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschat 25 (1999), H. 1, S. 5-32, hier: S. 19. 4 Fulda, Bernhard: Die Politik der „Unpolitischen“. Boulevard- und Massenpresse in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Bösch, Frank, Frei, Norbert (Hgg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 48-72, hier: S. 51-52. bonjour.Geschichte 1 (2011) 3 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien hemenfelder“.5 Das bisherige hemenspektrum wurde ergänzt. So entstand ein komplexes Wechselverhältnis zwischen Politik, Presse und Leserschat, in dem die Zeitungen ihren Platz zwischen den Polen Unterhaltung und Politik suchten und zugleich ihre Grenzen testeten. Der einlussreiche deutschnationale Medienunternehmer und Politiker Alfred Hugenberg erklärte 1930 in einer Rede vor seiner Partei: „Sie kaufen es [sc. das Blatt] – wegen der Sensation, die darin steht – und nehmen die Politik, die dazwischen steht, mit in sich auf.“6 Damit vertrat Hugenberg die Einschätzung der meisten Verleger. Mit einer Mischung aus Verbrechen, Katastrophen, Sportberichterstattung und Fortsetzungsroman zogen die Zeitungsmacher neue Leser an und verkauten ihnen zugleich die eigene politische Meinung. Denn die Presse diente nach zeitgenössischer Aufassung in erster Linie der Fortsetzung des politischen Kampfes mit publizistischen Mitteln.7 Zu diesen Mitteln gehörte auch die bewusst subjektive Interpretation der Ereignisse und Meinungen. Gerhard Schultze-Pfaelzer, Redakteur der im konservativen Scherl-Verlag erscheinenden Zeitung Der Tag, resümierte: „Man sollte den Ausdruck ‚Lüge‘, der ein moralisches Urteil einschließt, im politisch-propagandistischen Leben mit größter Vorsicht anwenden. Wenn der politische Zweck ein ehrlicher und guter ist, muß man die Verzerrung eines Tatsachenbestandes zum Werbezweck in Kauf nehmen.“8 Die bei den Lesern beliebten Illustrationen – und mehr noch das Format der Illustrierten selbst – unterstützten die Konstruktion einer Meinung durch die Redakteure und deren Wahrnehmung in der Öfentlichkeit.9 Einige Zeitgenossen wie auch Vertreter der späteren historischen Forschung sahen in der Erhöhung scheinbar unpolitischer Unterhaltungsanteile und der vermehrten Werbung in den Zeitungen ein Hemmnis für den Demokratisierungsprozess in Deutschland. Erschwerend wirkte die starke Pressekonzentration in der Hand weniger Verlagshäuser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinn weist der Historiker Hans-Ulrich Wehler auf den Einluss der mit den Boulevardzeitungen eng verwandten, überparteilichen und anzeigenlastigen Generalanzeiger hin: „Die unter der Devise der politischen Neutralität daherkommenden Generalanzeiger, die mit ihrem Alltagskonservatismus nackte kommerzielle Interessen möglichst ungestört verfolgen wollten, haben eine ungleich einlussreichere Macht zugunsten des Status Quo ausgeübt als das die Presse der Rechtsparteien je tat.“10 Dagegen weisen aktuelle Studien aus der Kommunikationsforschung auch darauf hin, dass das Angebot der Massenpresse eine Demokratisierung fördern konnte.11 Der Leser wurde nicht nur durch die Presse beeinlusst, sondern gestaltet diese selbst mit12: Er suchte sich seine Zeitung aus. Wenn der Standpunkt der Zeitung nicht geiel, wurde eine andere bezogen. Die Zeitungen waren folglich von ihrer Leserschat abhängig und mussten deren Interessen in Form eines diferenzierten Meinungsspektrums befriedigen. Kurt Tucholsky beschrieb diesen Einluss der Leser auf die Zeitungen 1927 pointiert: „Merke: Die normale Zeitung steht unter der strengsten Zensur, die es überhaupt gibt: unter der eignen. Die läßt kei5 Bösch, Katalysator der Demokratisierung, S. 34. 6 Alfred Hugenberg am 30. April 1930 vor dem Evangelischen Reichsauschuss der DNVP, zitiert nach Fulda, Politik der „Unpolitischen“, S. 54. 7 Fulda, Politik der „Unpolitischen“, S. 49. 8 Schultze-Pfaelzer, Gerhard: Moderne propagandistische Politik, in: Deutsche Presse, Nr. 22/23 (1927), S. 293. 9 Fulda, Politik der „Unpolitischen“, S. 64. 10 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschatsgeschichte. Bd. 3: Von der Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1848-1814, München 1995, S. 1244. 11 Bösch, Katalysator der Demokratisierung, S. 27. 12 Fulda, Politik der „Unpolitischen“, S. 71. bonjour.Geschichte 1 (2011) 4 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien ne scharf charakterisierten Figuren im Roman zu, keine lebensechte Situation in der Erzählung, an der etwa ein bestimmter Stand schuld ist – der protestiert unentwegt, denn für vier Mark fünfzig Abonnementsgebühr ist jeder Spießer ein Held. Der drückt Niveau, Verlag und Redakteure und redigiert wacker mit. Der hält sich seine Zeitung wie einen Hund an der Leine.“13 Ohne Tagebuch keine Sensaion – Der Autakt der Berichterstatung in den Bremer Zeitungen Die Berichterstattung über den Fall Machan-Kolomak begann in Bremen im Januar 1927 nach der Veröfentlichung des im Verlag Herder Ende November erschienenen Tagebuchs „Vom Leben getötet“. Fast alle Bremer Zeitungen vom Kirchenblatt bis zur Arbeiterzeitung schrieben über den Fall. Am ausführlichsten kommentierten ihn die Bremer Nachrichten und die Bremer Volkszeitung; auf ihre Berichterstattung wird deshalb hier genauer eingegangen.14 Die Bremer Nachrichten (BN), das älteste Lokalblatt der Hansestadt, waren bürgerlich-konservativ, die Bremer Volkszeitung (BVZ) war das Organ der Sozialdemokratie. Während die regierungsnahen BN Elisabeth Kolomak von Beginn an der Kuppelei bezichtigten, setzte sich die BVZ für sie ein. Das Aufällige an der Berichterstattung waren die zugespitzten personalisierten Vorwürfe, mit denen die Redakteure Georg Kunoth (BN) und Alfred Faust (BVZ) sich gegenseitig beschuldigten, nicht die Wahrheit zu schreiben. In diesem „Pressekrieg“ traten wesentliche Fakten ot in den Hintergrund. Am 7. Januar 1927 erschien in der BVZ der erste Beitrag über das Tagebuch. Alfred Faust, zugleich auch Bürgerschatsabgeordneter der SPD, beschrieb das aus seiner Sicht unangemessene Verhalten der bremischen Polizei gegenüber Lisbeth Kolomak, der (vermeintlichen) Verfasserin des Tagebuchs. Die Geschichte des 1924 in Bremen verstorbenen Mädchens schilderte er detailliert und machte deutlich, dass er von der Echtheit des Tagebuches überzeugt war. Er forderte, das Buch als Warnung für die gefährdete Jugend anzusehen. Am 12. Januar 1927 publizierte die BVZ einen Brief, den Elisabeth Kolomak an Faust gesandt hatte; in diesem drückte sie ihre Trauer um ihr totes Kind aus. Sie beteuerte, dass sie das Buch zunächst nicht hatte veröfentlichen wollen – jetzt hofe sie, dass es anderen Jugendlichen eine Hilfe sei. Für die BVZ war dieser Brief der Beweis der Unschuld Elisabeth Kolomaks.15 Die BN bezweifelten bereits im ersten Artikel vom 8. Januar 1927, der gleichzeitig die erste amtliche Mitteilung der Polizei zum Fall Kolomak beinhaltete, die „romanhat klingenden Tagebuchaufzeichnungen des Mädchens“.16 Bei ihren Recherchen stießen die BN auf Grete Ziener, die dramatisch schilderte, wie ihre ehemalige Nachbarin und Freundin Elisabeth Kolomak das Buch selbst geschrieben habe. Am 19. Januar veröfentlichten die BN auf zwei Zeitungsseiten die Erzählung von Grete Abt (so lautete ihr Name in dem Tagebuch) unter dem Titel: „Ein Riesenschwindel mit dem Tagebuch von Margarethe Machan. ‚Vom Leben getötet’ – Bekenntnisse eines Kindes – Der Wahrheit die Ehre!“ 13 Wrobel, Ignatz (= Kurt Tucholsky): Für wen sind eigentlich die Zeitungen da?, in: Weltbühne (24.5.1927). 14 Vgl. Blome, Astrid: Die Bremer Nachrichten. Das älteste Lokalblatt der Stadt, in: Dies., Böning, Holger (Hgg.): Täglich neu! 400 Jahre Zeitungen in Bremen und Nordwestdeutschland, Bremen 2005, S. 51-56 sowie zur Geschichte der Bremer Volkszeitung Böning, Holger: Die Stimme der Arbeiterbewegung - Von der Bremer Freien Zeitung zur Bremer Bürger-Zeitung, in: ebd, S. 90-92. 15 Nochmals der Fall Margarethe. Die Erklärung der Polizei und die Aufzeichnungen der Margarethe, in: BVZ (12.1.1927). 16 Ein Buch, betitelt „Vom Leben getötet“, in: BN (8.1.1927). bonjour.Geschichte 1 (2011) 5 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Bald darauf erhielt Alfred Faust einen zweiten Brief von Elisabeth Kolomak, in dem sie einräumte, das Tagebuch selbst angefertigt zu haben.17 Auch nach diesem Geständnis kritisierte die BVZ die Arbeitsweise der bremischen Behörden unverändert weiter; Faust empfahl das Buch unabhängig von der Frage, wer es verfasst habe, als Vorbeugung für einen Wiederholungsfall und nutzte es als Anlass, die Verbesserung des bremischen Sozial- und Justizsystems zu fordern. Nach seiner Meinung waren dem Konkurrenzblatt durch das Geständnis endgültig „sämtliche Trümpfe aus der Hand geschlagen worden“, weshalb sie nur noch „schimpfen, heulmeiern und bellen“ könnten und sich dabei auch noch so „ungeschickt“ verhielten, „daß alle Welt ihre Verlegenheit erkennt und sie ihnen auch gönnt.“18 In ihren Aussagen folgten die BN stets den Polizeiberichten, ohne ein einziges Mal die andere Seite in Erwägung zu ziehen. Die BVZ blieb dagegen der Fürsprecher von Elisabeth Kolomak und fragte nach deren Motiven. Faust würdigte nach wie vor ihre schritstellerischen Fähigkeiten und bezeichnete sie als „geniale Künstlerin“19. In den BN wurde Elisabeth Kolomak als eigenständige Person dagegen kaum beachtet. Das bürgerliche Blatt beschätigte sich vielmehr damit, die Kritik an den Bremer Behörden zurückzuweisen. Sowohl die BN als auch die BVZ nutzten die Artikel zum Fall Machan-Kolomak zudem, um andere Probleme in Bremen und Rivalitäten zwischen den bürgerlich-konservativen Parteien im Senat und der sozialdemokratischen Opposition zu thematisieren. Die gegenseitigen Angrife führten soweit, dass Georg Kunoth unter dem Pseudonym Carl Erbs-Wurst am 26. Januar 1927 einen iktiven Bericht über eine auf das Jahr 1937 datierte Polizei-Ausstellung veröfentlichte. Unter dem Titel „Von der Lächerlichkeit getötet“ verspottete er Alfred Faust und das Tagebuch: „Durch den Fall Faust-Machan wurde im Januar 1927 von Alfred Faust, dem sozialistischen Gedankenleser und Kulturkannibalen aus dem Negerdorf am bremischen Torkanal, ein ganz neues literarisches Weltproblem für die Partei geschafen.“20 Nachdem die überregionale Presse aning, über den Fall zu berichten, sahen es die BN als ihre oberste, erste Plicht an, den Ruf Bremens zu verteidigen. In diesem Sinne forderten sie ihre Leser dazu auf, überall die Fälschung des Tagebuches zu verkünden.21 „Was ist’s mit dem ‚Fall Machan‘?“22 Die überregionale Berichterstatung vor Prozessbeginn Als wenige Wochen nach Veröfentlichung des Tagebuches bekannt wurde, dass Elisabeth Kolomak die Verfasserin des Buches sei und sie Ende Januar wegen Verdacht der Kuppelei verhatet wurde, war das Interesse der überregionalen Presse an diesem 17 Vgl.: Tragödie einer Mutterliebe. Frau Machan bekennt sich als die Verfasserin des Tagebuches ihrer Tochter Margarethe – Motive und Wirkungen, in: BVZ (21.1.1927). 18 Die Afäre Machan und der schimpfende Generalanzeiger, in: BVZ (22.1.1927). 19 Tragödie einer Mutterliebe, in: BVZ (21.1.1927). 20 „Von der Lächerlichkeit getötet“. Humoristisches von der Bremischen Polizei-Ausstellung 1937, in: BN (26.1.1927). Das Zitat bezieht sich auf die „satirischen Montagsartikel“, in denen Alfred Faust unter dem Titel „Rund um den Fangturm“ als „Mephisto“ über die Ereignisse des Tages in „Bremen am Torkanal“ schrieb. Siehe hierzu: Roselius, Kurt: s.v. Alfred Joseph Faust, in: Bremische Biographie 1912-1962, 1969, S. 143-144. Am 10. Januar 1927 ging Alfred Faust auf die schlechten Zustände bei der bremischen Polizei ein. Siehe hierzu: Rund um den Fangturm, in: BVZ (10.1.1927). 21 Die Tagebuchfälschung erwiesen. Das „Berliner Tageblatt“ gibt seinen bisherigen Standpunkt auf, in: BN (9.2.1927). 22 Tergit, Gabriele: Der Fall Machan-Kolomak. Das Mädchen, seine Umgebung und sein „Fall“, in: Berliner Tageblatt (16.2.1927). Viele Journalisten benutzten die Namen Kolomak und Machan ebenso wie Grete und Lisbeth synonym und wechselten mitunter auch innerhalb eines Artikels mehrfach zwischen den Namen. bonjour.Geschichte 1 (2011) 6 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Fall geweckt. Als Erste dürte Gabriele Tergit als Sonderkorrespondentin des Berliner Tageblatts nach Bremen gereist sein, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschafen. In ihrem umfangeichen Artikel nannte sie einleitend zwei Kriterien, die in diesem Fall eine Rolle spielten: Das ethische Interesse an „abzustellenden sozialen Schäden“ und das „ästhetisch-literarische Interesse an dem Kunstwerk [Tagebuch], an der genialen Fälschung“ und diese seien nun „verilzt mit der Erregung über einen Kriminalfall.“23 Nach einer knappen Inhaltsangabe des Tagebuchs, der Darstellung der Reaktion der Polizei und dem Geständnis der Mutter, belegt durch den Abdruck des Briefes von Elisabeth Kolomak an Alfred Faust, versuchte Tergit, Fakten und Fiktion zu trennen. Sie überprüte, welche Schilderungen des Tagebuches der Wahrheit entsprächen und welche vermutlich erfunden waren. Mit Originalauszügen aus dem Tagebuch und aus einem Brief von Elisabeth Kolomak belegte sie die unterschiedlichen Schriten. Als „literarische Schrit“ bezeichnete Tergit die Schrit des Tagebuchs; sie beschrieb den Prozess der Schritveränderung im Verlauf des Tagebuches als einen „ans Mystische grenzende[n] Vorgang, der sich vielleicht rational dadurch erklärt, daß die Frau sich sozusagen in die Schrit ihres Kindes einschrieb.“ Tergit recherchierte für ihre Milieustudie aufwendig im Umfeld der Familie. Sie führte Gespräche mit Freunden, Lehrern, dem Pfarrer und Untermietern der Familie und natürlich mit Elisabeth und Josef Kolomak selbst. Vergleichbar mit einer heutigen „Homestory“, gab sie dem Leser eine genaue Schilderung des Hauses der Familie Kolomak: „Das Buch schildert das Heim als Idyll, und so zeigt es sich auch dem, der unbefangen eintritt. Die Ludwig Richtersche Holzschnittwelt.“24 Die Journalistin brachte dem Leser Lisbeth Kolomak nahe, indem sie ein Klassenfoto beschrieb: „Auf einem Klassenbild aus der Schule strahlt das heitere, schöne, lebendige, interessierte Gesicht der Dreizehnjährigen unter dreißig Kindern heraus, die alle noch ein bißchen dümmlich und dumpf ausschauen, der verkörperte Übermut, ‚hungrig‘, wie die Mutter schreibt, ‚nach Sonne und Leben‘.“25 Und sie verortete das Mädchen, seine Lebensweise in die Zeit der Inlation: „War es nicht eine wilde Zeit, das Jahr 1923/24, wo mit dem Wertmesser, dem Geld, auch alle sittlichen Begrife in den aufgetanen Abgrund folgen, da der Tanz um den Dollar, das carpe diem, gefestigtere hinabzog als ein Sechzehnjähriges.“ In diesem ersten Beitrag von Gabriele Tergit klang bereits ihre Kritik an der Doppelmoral der Gesellschat an, die einem Ideal verhatet sei, welches sich längst aufgelöst und gewandelt habe. Die Berliner Journalistin stellte Elisabeth Kolomak als eine Frau dar, die um den Wandel der Moral wusste, aber nicht wahrhaben wollte, dass diese neue Haltung auch auf ihre Tochter zutraf: „Ihr Wunschtraum ist die längst durchlöcherte Ethik des Christentums, die gleichzeitig die bürgerliche Ethik ist.“ Tergit beendete ihren Artikel mit der Forderung: „Für Minderjährige und polizeilich erstmals Erfasste keine Sittenpolizei, sondern Plegeämter!“ Im letzten Satz attackierte sie das Bürgertum und dessen scheinheilige Moral: „Alle Fürsorge wird sein, wie ein Tropfen auf den heißen Stein, so lange die Ehrbarkeit des bürgerlichen Hauses beruht auf dem Opfer der jungen Kinder aus dem Volke.“ Einen Tag später charakterisierte Heinz Pol für die Literarische Welt den Fall wie folgt: „Dramatisch? Er [der Fall] ist eigentlich nur grotesk.“26 Pol kannte sich in Bremen 23 Ebd. Auch die folgenden Zitate sind aus diesem Artikel. 24 Ludwig Richter (geb.28.9.1803/gest. 19.6.1884) war ein deutscher Maler und Graiker, der vor allem durch seine Holzschnitte von spätromantischen Landschaten und Heimatmotiven im Biedermeier-Stil bekannt wurde. 25 Tergit, Gabriele: Der Fall Machan-Kolomak. Das Mädchen, seine Umgebung und sein „Fall“, in: Berliner Tageblatt (16.2.1927). Folgendes Zitat im Text ebd. 26 Pol, Heinz: Der Bremer Skandal, in: Die Literarische Welt (18.2.1927). Folgende Zitate im Text ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 7 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien aus, da er auch für die Vossische Zeitung aus der Hansestadt berichtete. Für ihn stand nicht im Vordergrund, wer das Tagebuch geschrieben hatte, vielmehr hinterfragte er den Umgang der bremischen Behörden mit Elisabeth Kolomak, speziell die fragwürdige Vorgehensweise der bremischen Polizei. Pol wies darauf hin, dass die Polizei Aussagen von einer Prostituierten und ihrem Zuhälter nutze, um damit Beweise für die Schuld Elisabeth Kolomaks zu sammeln. Aussagen von Personen also, die die Polizei unter anderen Umständen als vollkommen unglaubwürdig abgewiesen hätte. Mit feiner Ironie konstatierte er: „Dem Bremer Senat liest man dann triumphierend diese Berichte vor, nennt aber – man hält doch etwas auf sich – das Straßenmädchen keusch ‚Hausmädchen’ und den Zuhälter ‚Chaufeur’. Das sind doch ganz annehmbare Berufe für Kronzeugen, nicht wahr?“ Präzise ergänzte Pol die Kritik an der Arbeitsweise der Behörden mit der Frage nach dem Warum; der Frage nach den Motiven der Bremer Polizei für diese derartig intensive Beschätigung mit dem Tagebuch und der damit verbundenen Verfasserschat und dem Verdacht der Kuppelei: Pol sprach von einem Polizeiskandal, da die Polizei keine Fehler zugeben könne und die Anklägerin zur Verbrecherin stempele. Sowohl für Gabriele Tergit als auch für Heinz Pol waren das Tagebuch und die öfentliche Diskussion um dessen Urheberschat sowie die Verhatung Elisabeth Kolomaks Ausgangspunkt ihrer Berichterstattung. Während Tergit in ihrer Milieustudie genau die Verhältnisse und die Lebenswelt der Familie Kolomak charakterisierte, konzentrierte sich Pol auf eine Kritik an den Bremer Behörden. „Da oben steht Jusiia.“ – Jusiz und Presse in der Weimarer Republik „Der preußische Richterstand war vor dem Kriege reaktionär. Im Kriege hatte er keinen Anlaß, sich zu wandeln, und nach dem Kriege vollzog sich etwas Seltsames mit ihm. Der deutsche Richter war, von seinen demokratischen Ausnahmen abgesehen, über den Ausgang des Krieges und vor allem über das, was man hierzulande Revolution nennt, verärgert. Er hatte vier Jahre lang als Oizier im Felde gestanden, er hatte jahrzehntelang das absolute monarchistische System theoretisch und praktisch zu verteidigen gewußt und mußte nun erleben, dass eine ihm fremde und feindliche Richtung die Bestimmung der politischen Geschicke wenigstens dem Namen nach in die Hand bekam. Die Gefahr rückte ihm unmittelbar auf den Leib: Wer wurde nun Justizminister? ‚Am Ende irjend‘n jüdischer Rechtsanwalt! ‘ […] Der Richterstand und die Staatsanwaltschat schlossen sich der übrigen deutschen Verwaltungspraxis an. Sie sabotierten die Republik.“27 Reaktionär, rückständig und gegen die Republik gewandt – so charakterisierte Kurt Tucholsky 1920 die deutschen Richter. Eine Beobachtung, die auch viele Zeitgenossen Tucholskys teilten, und die in den Jahren der Weimarer Republik ein zunehmend wichtiges hema in der politischen Berichterstattung wurde. Journalisten und Intellektuelle beklagten, dass die Revolution von 1918/19 die politischen Verhältnisse im Deutschen Reich verändert hatte, aber an der Justiz fast spurlos vorbei gegangen war. Richter und Staatsanwälte waren Beamte, die häuig seit dem Kaiserreich ihre Ämter bekleideten und immer noch in wilhelminischer Tradition Recht sprachen. Tucholsky, selbst promovierter Jurist radikal-demokratischer Couleur, schrieb in den 1920er Jahren zahlreiche Artikel über die „Krise der Justiz“ und brandmarkte die Weltfremdheit und Rückständigkeit 27 Wrobel, Ignaz (=Kurt Tucholsky): Richter, in: Freiheit (1.6.1920). bonjour.Geschichte 1 (2011) 8 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien der deutschen Richter, ihre Republikfeindlichkeit und mangelnde Objektivität.28 Eine Ursache für diesen Zustand sah er in der „preußischen“ Sozialisation der Richter: „Da oben steht Justitia. Starr hält sie die Waage in der Hand, ihr Schwert glitzert in der Sonne, und eine ehemals weiß gewesene Binde ist ihr stramm um den Kopf gebunden. Tritt näher heran. Tipp die Figur mit dem Finger an, schlage mit dem Knöchel dagegen: sie ist hohl. Befühle das Schwert: es ist bronzierte Pappe. Die Waage fällt klirrend zu Boden, die ehemals weiß gewesene Binde löst sich, da glänzt ein Monokel auf, gerötete Schmisse durchziehen eine feiste Backe, und vor deinen erstaunten Augen taucht ein dir so bekanntes Antlitz auf, eines, das du hundertmal im Kasino und in den Landratsstuben gesehen hast: das preußische Gesicht.“29 Der Politikwissenschatler Ernst Fraenkel analysierte die Gedankenwelt der Richter und hob besonders die Folgen der Inlationszeit hervor: „Haßerfüllten Auges sahen die Beamten auf die hohen Löhne der Arbeiter. Daß der Reallohn der Arbeiterschat sank, übersah man: der Mittelstand empfand jedoch, daß die Spanne zwischen ihm und dem Proletariat sich immer mehr verkürzte. […] Da fraß sich in sein Unterbewußtsein gegen das Proletariat eine Stimmung ein, die jede niedergehende Klasse gegen eine aufsteigende Schicht haben wird: Ressentiment.“30 Und weiter: „Der Richterstand fühlte sich gedemütigt, und je mehr er ökonomisch niederging, desto größeren Wert legte er auf die gesellschatlichen Beziehungen zu den sozial hochstehenden Kreisen.“31 Die Richter fühlten sich „zwangsproletarisiert“ und waren zugleich gefangen in den eigenen Wertvorstellungen und Anschauungen.32 Die soziale Herkunt, die in Teilen repressive Ausbildung und das von Fraenkel geschilderte „Ressentiment“ gegen das Proletariat führten zu einer engen Verlechtung mit dem reaktionären Bürgertum und – in der Folge – zu der Art und Weise, wie in den 1920er Jahren Recht gesprochen wurde. Moritz Goldstein, Redakteur der linksliberalen Vossischen Zeitung beschrieb 1923 die Einstellung der Richter und den Alltag im Gericht: Der „Justizmaschine“ gehe es nur um die Schuldfrage und nicht um das Schicksal der Personen selbst: „Der Werkeltag der Justiz ist der nüchterne Betrieb einer Maschine, die Urteile fabriziert.“33 Die linke und liberale Presse sah ihre Aufgabe darin, den Staat zu kontrollieren und zugleich den Leser zu bilden. Oder um es pointiert mit Moritz Goldsteins Worten auszudrücken: „Erst die Presse stellt eine kontrollierende Öfentlichkeit dar.“34 Aus diesem Selbstverständnis heraus stellten Journalisten die Fragen, die das Gericht meist nicht stellte: Woher stammen die Angeklagten? In welcher sozialen Lage beinden sie sich? Wie ist es um ihre Psyche bestellt? Sind die Gesetze, die im Prozess zur Anwendung kommen, noch zeitgemäß? Die Richter empfanden eine solche kritische Berichterstattung meist als Provokation, so dass das Verhältnis zwischen Justiz und Presse ot angespannt war. Kritische Reporter waren der Gefahr ausgesetzt, sich vor Gericht wegen Beleidigung verantworten zu müssen.35 Die Richter zogen sich in eine Abwehrhaltung 28 Besonders pointiert in Grotius, Hugo (= Kurt Tuckolsky): Die Justiz (Weltfremdheit und Rückständigkeit), in: Weltbühne (27.1.1921). 29 Wrobel, Ignaz (=Kurt Tucholsky): Richter, in: Freiheit (1.6.1920). 30 Fraenkel, Ernst: Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32, Darmstadt 1968, S. 12. 31 Ebd. S. 15 32 Vgl. Lang, Dieter: Staat, Recht und Justiz im Kommentar der Zeitschrit Die Weltbühne, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 132 und Ubbens, Irmtraud: Sein Kampf für Recht, Freiheit und Anstand war notorisch. Moritz Goldstein – „Inquit“. Journalist und Gerichtsberichterstatter an der Berliner „Vossischen Zeitung“, Bremen 2009, S. 198. 33 Goldstein, Moritz: Vom Tagewerk der Justiz. Der Apparat, in: Vossische Zeitung (11.2.1923). 34 Inquit (= Moritz Goldstein): Brauchen wir Gerichtskritiker?, in: Vossische Zeitung (11.9.1928). 35 Zu Verurteilungen von Journalisten kam es in den ersten Jahren der Republik jedoch nur selten. Vgl. Ubbens, Goldstein, S. 181-182. bonjour.Geschichte 1 (2011) 9 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien zurück und verfolgten penibel die Berichterstattung durch die Journalisten. Der Gerichtsreporter der Vossischen Zeitung, Sling (Pseud. für Paul Schlesinger), stellte 1926 fest, „dass die Gastfreundschat, die wir Journalisten von seiten des Gerichts genossen nicht immer die anheimelndste war. Die Journalisten rangierten, wenigstens in früheren Jahren, für die Herren Richter […] ich möchte sagen: im besten Falle etwas hinter den Angeklagten. Auch heute noch sind Reste dieser alten Anschauungen vorhanden.“36 Die Gerichtsreportagen waren keine Erindung der Zwanziger Jahre. Bereits seit Beginn des Kaiserreichs wurden Prozessberichte in der Tagespresse veröfentlicht. In der Weimarer Republik änderte sich die Form dieser Gattung: Die Texte wollten nicht mehr nur informieren und bilden, sonder auch unterhalten. Sie wurden feuilletonistischer. Die Gerichtsreportage stoße, so resümierte Wolfgang Flad, Staatsanwalt in Karlsruhe, anschaulich, „von der letzten Seite der Zeitung […] in den politischen Teil vor und macht sich dort unter großer Schlagzeile breit. Gleichzeitig lässt man ihrer Formgebung größere Plege zukommen, und sie nimmt teil an der erstaunlichen Stilentwicklung des Feuilletons.“37 Schnell wurde sie zu einem etablierten Genre, das Alltagerfahrungen der Menschen in beinahe literarischer Form verarbeitete. Politik und Wirtschat, Gesellschatsordnung und Sittlichkeit – Das hemenspektrum der Gerichtsreportagen war vielfältig. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein bekannter Politiker oder ein unbekannter Arbeiter vor Gericht stand, solange die Geschichte des Angeklagten für ein „Problem“ in der Gesellschat stand. Der einzelne Prozess hatte meist nur beispielhaten Charakter. Die Darstellung einer Person diente auch der Emotionalisierung der Leserschat.38 Die Berichterstattung wollte, um die Leser an die Zeitung und deren Meinung zu binden, zum Mitfühlen und zur kritischen Relexion anregen: Wie konnte es zu diesem Verbrechen kommen? Was ist in diesem Land falsch gelaufen? Die (Boulevard-)Presse befriedigte darüber hinaus die Sensationslüsternheit und ermöglichte die voyeuristische Betrachtung menschlicher Abgründe.39 Die angeklagten Männer und Frauen wurden in der liberalen Presse zu Opfern der Verhältnisse ihrer Zeit stilisiert und der Gerichtssaal zur öfentlichen Bühne umfunktioniert, auf der Probleme der Gegenwart verhandelt wurden. Ein besonderes Beispiel für die Medienwirksamkeit von Prozessen ist der „Magdeburger Justizskandal“ im Sommer 1926. Nach einem Raubmord ermittelte der Landgerichtsrat Johannes Kölling höchst einseitig gegen den jüdischen Industriellen Rudolf Haas, obwohl gegen den Täter aus dem rechtsradikalen Milieu schon eindeutige Beweise vorlagen und dieser die Tat auch gestanden hatte.40 Reichsweit wurde in Presse und Politik kontrovers über diesen Fall diskutiert. Dieser Skandal verschärte die „Vertrauenskrise der Justiz“. In der Weltbühne wurde er zum Autakt einer Kampagne gegen die deutschen Richter und deren Rechtssprechung. Im „Kampf um die Republikanisierung der Rechtsplege“41 schrieb Tucholsky im Frühjahr 1927 drei Artikel über „Deutsche Richter“. Der Herausgeber der Weltbühne stellte ihnen ein vernichtendes Urteil aus, forderte die Zerschlagung des bisherigen 36 Schlesinger, Paul: Gerichtsberichterstattung, in: Deutsche Presse (26.11.1926). 37 Flad, Wolfgang: Gerichtsberichterstattung, in: Deutsche Presse (14.11.1931). 38 Siemens, Daniel: Die Gerichtsreportage der Zwischenkriegszeit in Berlin und Chicago, in: Bösch, Frank, Borutta, Manuel (Hgg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt, New York 2006, S. 142171, hier: S. 144f. 39 Siemens, Daniel: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933, Stuttgart 2007. 40 Ebd. S. 117. 41 Kuhn, Robert: Die Vertrauenskrise der Justiz (1926-28), Köln 1983, S. 40. bonjour.Geschichte 1 (2011) 10 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Justizsystems und einen völligen Neuaubau der Rechtsprechung: „Also ist diese Justiz, von einer Klasse über unterjochte Klassen ausgeübt, nicht durch gutes Zureden langsam zu verbessern, nicht durch Flickwerk sachte zu korrigieren. Gegen diese Richter, die den Proletarier bisher leider nur als Objekt ihrer Tätigkeit kennen gelernt haben, gibt es nur ein einziges Mittel: Die Zerschlagung dieser Justiz durch einen siegreich beendeten Klassenkampf.“42 Die ungleiche Behandlung der Angeklagten durch die Gerichte wurde mit sogenannten Justiztabellen verdeutlicht: Gegenüberstellungen von Delikten und Urteilen zeigten die ofenkundige Benachteiligung von meist politisch linken Arbeitern. Pressereaktionen wie diese waren keine Ausnahme, auch wenn die Weltbühne ein herausragendes Beispiel ist. Zwischen Herbst 1926 und Herbst 1928 erreichte die Diskussion um Reformen von Justiz und Strafrecht einen Höhepunkt. Genau in diesen Zeitraum iel auch der Prozess gegen Elisabeth Kolomak. Poliischer Meinungskampf stat seriöser Berichterstatung? – Der Prozess in den Bremer Nachrichten und der Bremer Volkszeitung Über den Prozess gegen Elisabeth Kolomak vor dem Landgericht Bremen berichteten die Bremer Nachrichten und die Bremer Volkszeitung ausführlich. Während die BVZ meldete, dass der Schwurgerichtssaal am ersten Prozesstag in wenigen Minuten von Besuchern überfüllt gewesen sei, schrieben die BN, sie hätten durch die Auklärung des Schwindels um das Tagebuch große Ernüchterung herbeigeführt, was sich an dem sehr geringen Publikumsandrang im Gerichtssaal zeige.43 Lediglich die „linke Presse“ verspüre noch Sensationslust an dem angeblichen „Racheprozess“. Am zweiten Tag des Prozesses übte die BVZ erneut Kritik an den politischen Verhältnissen in Bremen: „Unsere hanseatische Vetterle-Republik muß endlich erfahren, daß die Dinge des öffentlichen Lebens nicht nur im Ratskeller oder im Essighaus, im Schütting oder in der Börse ‚gedeichselt’ werden, wie es den Herren ‚Logenbrüdern’ beliebt und frommt, sondern, daß im Zeitalter der Demokratie auch die öfentliche Meinung und die Presse ein Gewicht haben, das nicht übersehen werden darf.“44 Trotz detaillierter Schilderung des Prozessverlaufs vermitteln die Berichte von BVZ und BN, dass es in erster Linie gar nicht darum ging, sachlich über den Prozess zu schreiben, sondern den im Januar 1927 angefangenen politischen Meinungskampf am Fall Kolomak weiterzuführen. Während Georg Kunoth hinter der Anklage gegen Elisabeth Kolomak stand, stellte Alfred Faust die Angeklagte als Opfer dar. Faust betonte auch immer wieder, wie absurd der Prozess gegen Elisabeth Kolomak aus seiner Sicht war: „Jede Mutter, die eine Tochter hat, die spazieren geht, ohne die Eltern, die gern tanzt und Kafeehäuser besucht, und die bemerkt, daß es auch Männer auf der Welt gibt, muß von Staats wegen ein Sack Flöhe verordnet werden, damit sie lernt, auf ihre Töchter ebenso aufzupassen wie auf jeglichen Floh!“45 Beide Redakteure setzten sich nicht ausführlich mit Persönlichkeit und Charakter der Angeklagten auseinander. Nur in den BN wurde die äußere Erscheinung von Elisabeth Kolomak geschildert: „Die Angeklagte erschien in der Bank, eine untersetzte, gesund aussehende, einfache Frau mit nicht unsympathischen Gesichtszügen, ohne Hut, mit 42 Wrobel, Ignatz (= Kurt Tucholsky): Deutsche Richter I., in: Weltbühne (12.4.1927). 43 Der Machan-Kolomak-Prozeß. Unter Ausschluß der Oefentlichkeit, in: BVZ (15.6.1927); Der Kuppelei-Prozeß gegen Frau Kolomak, in: BN (16.6.1927). 44 Der Machan-Kolomak-Prozeß. Unter Ausschluß der Oefentlichkeit, in: BVZ (15.6.1927); Der Kuppelei-Prozeß gegen Frau Kolomak, in: BN (16.6.1927). 45 Der Machan-Kolomak-Prozeß. Will der Staatsanwalt die skandalöse Anklage nicht zurückziehen?, in: BVZ (16.6.1927) (Hervorh. im Orig.). bonjour.Geschichte 1 (2011) 11 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien glattem dunkelblonden Haar und großem Haarknoten, in dunkeln [sic!] Sommermantel gekleidet.“46 Nach dem Prozess thematisierte Faust die Doppelmoral am Beispiel der Helenenstraße und bezeichnete den Bremer Staat als „Massenkuppler“; außerdem rief er alle „Besucherinnen sämtlicher Großstadtlokale“ dazu auf, gegen die Verurteilung Elisabeth Kolomaks zu protestieren.47 Im Dezember 1927 fand das Berufungsverfahren im Kolomak-Prozess statt. Die BVZ kritisierte erneut die Justiz, indem sie ihr unterstellte, sie habe wohl nicht ohne Absicht Landgerichtsdirektor Dr. Wilhelm Töwe für das Verfahren ausgewählt; denn es sei bekannt, dass dieser der „schärfste und rücksichtsloseste Richter Bremens“ sei, der nie einen Freispruch erteile.48 Elisabeth Kolomak wurde überhaupt nicht erwähnt. Den Sozialdemokraten ging es vor allem darum, das Justizsystem anzuprangern und in der Öfentlichkeit auf die in ihrer Sicht ungerechten Vorgänge hinzuweisen. In den BN wurde die Einschätzung vertreten, dass man vor dem Berufungsverfahren vom Ende des Sensationsfalles Kolomak ausgegangen sei: „Man hätte denken sollen, daß das Interesse an der Afäre Kolomak und allem was damit zusammenhängt, allmählich erloschen wäre, daß endlich das politische Feuerwerk zu Ende gebrannt und die Kuppeleiangelegenheit der Frau Kolomak rein kriminalistisch, rein strafrechtlich aufgefaßt würde, als ein gewöhnlicher Kuppelei-Prozeß und nicht anders.“49 In der Berichterstattung über das Berufungsverfahren fehlten in beiden Zeitungen die gegenseitigen persönlich-politischen Angrife. Neben dem Tode Georg Kunoths im September 1927 könnte vor allem das Ergebnis der Wahlen zur Bürgerschat im November 1927 ein Grund für die gemäßigte Tonart gewesen sein: Die Sozialdemokratie war wieder im Senat vertreten.50 1928 wurde die Auseinandersetzung zwischen den BN und der BVZ wieder schärfer. Die BVZ gab am 27. Januar 1928 die Flucht Gertrud Wolfs (nun Gertrud Beetz), der damaligen Freundin Lisbeth Kolomaks und Hauptbelastungszeugin im Prozess gegen die Mutter, nach Holland bekannt und konstatierte, jetzt müsse die gesamte Anklage gegen Elisabeth Kolomak zusammenbrechen.51 Einen Tag später berichteten die BN, Gertrud Beetz sei nach Köln gezogen, da ihr Ehemann dort eine feste Anstellung erhalten habe. Das bürgerliche Blatt nutzte die Gelegenheit für einen weiteren Seitenhieb auf die BVZ: „Das sozialdemokratische Organ in Bremen, das sich mit seiner blinden Begeisterung für den Fall Kolomak und geradezu schwärmerischen Verehrung der wegen 46 Jede Mutter eine Kupplerin-?! Das Fehlurteil im Kolomak-Prozeß: 8 Monate Gefängnis für die angeklagte Anklägerin. – Ein Prozeß mit zwei Staatsanwälten und unzähligen Lücken. – Protest und Revision, in: BVZ (18.6.1927). 47 Der Kuppelei-Prozeß gegen Frau Kolomak, in: BN (16.6.1927). 48 Jede Mutter eine Kupplerin-?!, in: BVZ (18.6.1927); Der Bremer Staat als Massenkuppler. Moral-Heuchelei im Machan-Kolomak-Prozeß – Staatlich konzessionierte Bordellstraße im ehrpusseligen Bremen, in: BVZ (20.6.1927). 1878 schloss die Stadt Bremen mit dem Bauunternehmer Carl Philipp Weiland einen Vertrag, der festlegte, dass in der Helenenstraße nur noch Prostituierte untergebracht werden sollten. Die Straße hatte nur einen Zugang über die Straße Vor dem Steintor. Nachdem die „Kasernierung“ der Prostituierten 1927 aufgehoben worden war, wurde die Helenenstraße in Frankenstraße umbenannt. Die Nationalsozialisten führten die Kasernierung wieder ein und die Straße erhielt ihren ursprünglichen Namen zurück. Siehe hierzu: Schwarzwälder, Herbert: Das Große Bremen-Lexikon, Bremen 2002, S. 312-313 und ausführlich: Quast, Sebastian, Wittig, Marta: Die Helenenstraße – Der Staat als Kuppler?, in: Schöck-Quinteros, Eva, Dauks, Sigrid (Hg.): „Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ Der Fall Kolomak in Bremen 1927 (Aus den Akten auf die Bühne, 3), Bremen 2010, S. 321-331. 49 „Vom Leben getötet“. Der Kolomak-Prozeß vertagt, in: BN (17.12.1927). 50 Die Sozialdemokratie erhielt im Staat Bremen 40,4 % der Wählerstimmen. In der Stadt Bremen erzielte sie 39,86 %. Siehe hierzu: Andersen, Arne: „Lieber im Feuer der Revolution sterben, als auf dem Misthaufen der Demokratie verrecken!“ Die KPD in Bremen von 1928-1933. Ein Beitrag zur Bremer Sozialgeschichte, München 1987, S. 64. 51 Zusammenbruch der Kolomak-Anklage, in: BVZ (27.1.1928). bonjour.Geschichte 1 (2011) 12 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Kuppelei angeklagten Buchfälscherin Frau Kolomak schon so unsäglich blamiert hat, ist damit noch nicht zufrieden und stellt sich mit einem neuen blamablen Reinfall breit vor die Öfentlichkeit.“52 Der Grund für die erneuten Angrife auf die BVZ war vermutlich, dass diese immer noch von der Unschuld Elisabeth Kolomaks ausging und auf einen Freispruch hote, während sich die BN mit dem Urteil zufrieden gegeben hatten und um des Rufes Bremens willen froh wären, wenn dieser Fall endlich aus der Presse verschwinden würde. Im Mai 1928 wurde das Verfahren gegen Elisabeth Kolomak aufgrund der Bremischen Amnestieverordnung eingestellt, da das Gericht zu dem Schluss gekommen war, die Verurteilte habe ihre Stratat aus Not begangen.53 Die BVZ ging noch einmal auf das Problem ein, um das es im Wesentlichen bei der Berichterstattung gegangen sei: „Dieser Beschluß beendet den sogenannten ‚Fall Kolomak’ der seit anderthalb Jahren die Sensationsafäre ist, die auch in der auswärtigen Presse den nachhaltigen Widerhall fand und eine Flut von Artikeln und Abhandlungen veranlaßte, die allein schon bewiesen, daß das Interesse an diesem vielseitigen und eine Serie von sozialen Problemen aufreißenden Fall mehr als ein sensationelles war.“54 In der Prozessberichterstattung ging die BVZ ebenso wie die BN nur wenig auf die Person Elisabeth Kolomak ein, so dass sich die Leser kaum ein eigenes Bild über die Angeklagte machen konnten, sondern sich nur der Position der jeweiligen Zeitung anschließen konnten. Während die BVZ den Bremer Staat vehement attackierte, versuchten die BN den Ruf des Staates zu verteidigen und stritten alle Verleumdungen des Konkurrenzblattes ab. „Frau Kolomak ist und bleibt ein Rätsel“ - Zur Prozessberichterstatung von Gabriele Tergit und Sling Zahlreiche Gerichtsreporter aus dem ganzen Land reisten zum Kolomak-Prozess nach Bremen, auch die beiden berühmtesten aus Berlin: Neben Sling (d.i. Paul Schlesinger), der Heinz Pol ablöste und für die Vossische Zeitung berichtete, kam auch Gabriele Tergit wieder nach Bremen. „Jahrgang 1907 steht vor Gericht, der Jahrgang der Lisbeth Kolomak“ – Mit dieser viel zitierten Aussage gab Tergit in ihrem ersten Artikel zum Prozessbeginn der Generation der Tochter einen Namen.55 Sie thematisierte den Generationenkonlikt besonders deutlich und beschrieb die Schwierigkeiten, vor denen die Eltern dieser Jugendlichen standen. So verknüpte sie Prozess, Erziehungsfragen und Konlikte zwischen Eltern und Kindern: „Der Staatsanwalt wollte die Öfentlichkeit ausschließen, aber es half nichts. Der Staatsanwalt versuchte das Leben zu ändern, aber es half uns allen nichts. Altes Eisen sind wir alle gegenüber der Generation, die 17-jährig war 1923. Und Eltern gegenüber, die nicht wissen, was tun, die da denken an verlorene, ungenossene, eigene Jugend und es diesem Süßen, Schwellenden gönnen, lustig zu sein; die nicht prügeln und hinauswerfen, sondern lieben und verstehen wollen.“ Diese neue Generation tat sich nicht schwer mit einer freieren Aufassung der Sexualmoral, wohl aber in der Rede über diese. Tergit analysiert eine Unfähigkeit, die neue Moral auch in eine neue Sprache zu kleiden und die Grenze des Sagbaren zu verschieben. Sie zitiert einen Freund der Lisbeth Kolomak, der mit ihr intim befreundet war: „Sie lieben und be52 53 54 55 Neue Kolomak-Ente in der Bremer Volkszeitung, in: BN (28.1.1928). Vgl.: Das Verfahren gegen Frau Kolomak eingestellt, in: BN (26.5.1928). Ende der Kolomak-Afäre. Das Verfahren eingestellt – Die Kosten trägt die Staatskasse, in: BVZ (26.5.1928). Tergit, Gabriele: Jahrgang 1907, in: Berliner Tageblatt (16.6.1927). Folgende Zitate im Text ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 13 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien kennen, und nun stellt sich heraus, daß die Sprache zurückgeblieben ist hinter neuen Begrifen. Der eine will sagen, daß die Mutter nichts wußte von ihrer, nun ja, wie drückt man es aus, von ihrer illegitimen Beziehung. Und hillos sagt er: ‚Die Mutter hat nicht gewußt, daß ihre Tochter schlecht war, das heißt, Herr Richter, damit sie mich nicht falsch verstehen, für meine Überzeugung war sie nicht schlecht.‘“ Nach Tergit teilte Elisabeth Kolomak die Rat -und Hillosigkeit gegenüber dem Verhalten ihrer Tochter mit anderen Eltern von Kindern aus dem „Jahrgang 1907“. Dieser Konlikt machte es ihr auch schwer, vor Gericht überzeugend zu bestehen: „Keuschheitsforderung, bislang Grundlage aller Erziehung, zersprengt eine wilde Zeit, Eltern stehen hillos daneben. Sind nicht Strafer, sondern Freunde. Strafer, nicht Freunde zu sein, fordert das Gericht von ihnen, betrachtet als Entlastung der Kolomaks die Mitteilung eines Zeugen, daß Lisbeth gezüchtigt wurde.“ Wie beim Berliner Tageblatt üblich, schrieb sie sowohl in der Morgen- wie auch in der Abendausgabe detailliert über den Prozess. Über lange Passagen hinweg zitierte sie Zeugenaussagen in wörtlicher Rede und beschrieb ihren persönlichen Eindruck vom Autreten der Zeugen. In ihrem Resümee über Prozess und Urteilverkündung zog Tergit noch einmal Bilanz: „Vor dem Urteil erheben sich viele Fragen. Frau Kolomak ist und bleibt ein Rätsel.“56 Man merkt deutlich, dass sie sich nach wie vor kein überzeugendes Bild von Elisabeth Kolomak machen konnte. Sie stellte viele Fragen, deren Beantwortung sie dem Leser überließ. Die Metapher der durchlöcherten Ethik wird auch in diesem Artikel wieder erwähnt. „Frau Kolomak ist bestimmt von einer persönlich freieren Aufassung. Aber wo beginnt heute das Sittliche? Und so legte sie sich auf die strengste Forderung fest. Unehelicher Verkehr überhaupt ist strabar. Also sagt Mutter Kolomak: ‚Ich habe gar nichts gewußt.‘ So fordert es das Bürgertum, so will es der Nachbar, so erscheint es auch Frau Kolomak als das einzige, was man öfentlich sagen darf. Daß diese Ethik überall durchlöchert wird, daß sie dies wußte, dazu bekannte sie sich nicht.“ Nach dem Prozess stellte Tergit „brennend für uns alle die Frage: Was gedenken nunmehr die Staatsanwälte deutscher Großstädte zu tun?“ Sling, der genreprägende Gerichtsreporter seiner Zeit, eröfnete seine Berichterstattung mit dem Artikel „Der Ausschluß der Lächerlichkeit“, in dem er sich in der ihm eigenen Art mit Wortwitz und Ironie pointiert mit dem Antrag des Staatsanwaltes auseinander setzte, der gleich zu Beginn des Prozesses die gesamte Öfentlichkeit ausschließen wollte: „Die Presse ließ man schließlich zu und sie mußte in den ersten sechs Stunden des Prozesses erkennen: der Ausschluß könnte höchstens begründet werden aus der Gefährdung des öfentlichen Ernstes. Die ersten Stunden der Beweisaufnahme führten zu einer sich steigernden Heiterkeit unter den anwesenden Journalisten, so daß der Vorsitzende glaubte, mit dem völligen Ausschluß der Oefentlichkeit drohen zu müßen. Daß er hierbei in der Form seinem Temperament noch weniger Zügel anlegte als die Pressevertreter in ihrer stark gereizten Lachlut, sei nicht verschwiegen. Aber man kann sagen: Wenn die Presse von diesem Prozeß ferngehalten wird – so ist es für die Oefentlichkeit kein Unglück. Dann fällt – wenn Mitte und Ende dem Anfang entsprechen – eben der Vorhang über eine der lächerlichsten Angelegenheiten, die je durch Polizei und Justiz heraubeschworen wurden.“57 An diesem Zitat wird die herrschende Spannung zwischen Justiz und Presse im Kolomak-Prozess ofenkundig. Sling bezog eindeutig Stellung gegenüber der Justiz und 56 Tergit, Gabriele: Nach dem Urteil im Prozeß Kolomak, in: Berliner Tageblatt (19.6.1927). Folgende Zitate im Text, ebd. 57 Sling: Der Ausschluß der Lächerlichkeit, in: Vossische Zeitung (16.6.1927). Folgende Zitate im Text, ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 14 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien er vertrat die Presse als deren Sprecher gegenüber dem Gericht. Den Vorschlag des Verteidigers Hertel, Bremer Friseure zu Schminkgewohnheiten bürgerlicher Mädchen anzuhören, kommentierte Sling mit einem lakonischen: „Und man soll ernst bleiben!“ Dieser Satz zog sich durch den ganzen Artikel und begleitete die Zeugenaussagen dieses ersten Prozesstages. Mit dem einfachen Stilmittel der Wiederholung markierte Sling die Lächerlichkeit des Prozesses. Auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit Elisabeth Kolomaks, die während des gesamten Prozesses kontrovers diskutiert wurde, spielte für Sling nur eine sekundäre Rolle. Im weiteren Prozessverlauf nahm er vorerst wieder die Rolle des objektiven Beobachters ein, der sachlich über Zeugenaussagen und deren Inhalt informierte. Er kritisierte das Verhalten von Elisabeth Kolomak, die scheinbar um den Lebenswandel ihrer Tochter wusste, dies aber nicht zugeben wollte. Die Frage nach dem „Warum?“ dieser „Taktik“ stellte sich für Sling ofensichtlich nicht. In diesem Punkt vertrat Tergit eine klarere Position. So hieß es bei Sling dann auch nur: „Und doch wäre auch in diesem Falle vieles zu vereinfachen, hätte sich die Angeklagte von Anfang an entschließen können, ihr Wissen um den Verkehr des Mädchens zuzugeben. Die Verteidigung dieser Frau ist deshalb so unglücklich, weil sie ein merkwürdiges Kompromiß zwischen einer persönlich freieren Lebensaufassung und bürgerlicher Moral darstellt. Sie konnte das Treiben ihrer Tochter nicht hindern, aber verteidigt deren bürgerliche Ehre bis zum letzten Augenblick.“58 Unter dem Titel „Totentanz in Bremen“ berichtete Sling über den Antrag des Staatsanwaltes, Elisabeth Kolomak zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus wegen Kuppelei zu verurteilen. Er nutzte diesen Artikel für ein Resümee der vorangegangenen Prozesstage: „Man seufzt: Kinder von heute. Man darf hinzuseufzen, auch die Eltern sind inzwischen sexuell aufgeklärt.“59 Sling stellte wie Tergit den Zusammenhang zur Inlationszeit her :„Diese kleine Bürgerin, die niemals das Treiben der bunten Welt gesehen hat und die auf ein paar hergewehte Dollarnoten wie auf eine göttliche Sendung blickte, wie wir es alle, alle, alle getan haben.“ Der Versuch Bremens, durch das Verfahren gegen Elisabeth Kolomak seinen Ruf zu verteidigen, wurde von Sling als gescheitert betrachtet: „Was will die gute Stadt Bremen? Ihre Reputation retten? Als ob sie das nötig hätte! Schat sie deswegen die Prostitution in ihren Mauern ab? Kann sie nicht! […] Werden nun alle Mütter verhatet, die es noch nicht über sich brachten, ihr Kind auf die Straße zu setzen? Und das ist es, was den Totentanz um Lisbeth Kolomak zum Gegenteil einer Ehrenrettung für die Behörde macht.“ Sling schloss diesen Artikel mit den fast schon zynischen Worten: „Und bürgerlich wollen wir bleiben, denn um die Bürgerlichkeit tanzen wir. Wir alle, vom ersten Staatsanwalt bis zur letzten Bardame, und wir haben vielleicht sogar recht, weil es momentan und vermutlich für längere Zeit noch das sicherste ist.“ Elisabeth Kolomak könne sich unter den gegebenen Umständen nicht anders verhalten. Sie glaube das Gericht nur mit dem „Tanz um die Bürgerlichkeit“ von ihrer Unschuld überzeugen zu können, indem sie sich der bürgerlichen Moral anbiedere und ihre persönliche, freiere Lebenseinstellung verleugne. Gabriele Tergit und Sling vermittelten ihren Lesern, dass ein Wandel von Sitte und Moral stattgefunden habe. Weder Tergit noch Sling konnten sich ein einheitliches Bild über Elisabeth Kolomak machen und waren sich bis zum Schluss unsicher, wie sie die Angeklagte einordnen sollten. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Elisabeth Kolomak 58 Sling: Wie steht der Prozeß Kolomak?, in: Vossische Zeitung (17.6.1927). 59 Sling: Totentanz in Bremen, in: Vossische Zeitung (18.6.1927). Folgende Zitate im Text, ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 15 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien tauchte immer wieder in ihren Berichten auf. Darüber hinaus wurde die Doppelmoral der Gesellschat wiederholt von beiden thematisiert und kritisch relektiert. Die Gesellschatskritik von Tergit ging vor allem auf die veränderte Sexualmoral der Jugend ein; deren Lebenswelt sie selbst mit 31 Jahren näher stand als Sling mit 50 Jahren. Bei Sling stand die Kritik an der Bremer Justiz im Mittelpunkt. „Rigorismus toter Buchstaben gegen die Natur“ – Albert Kosswitz und Carl von Ossietzky kommenieren für Die Weltbühne Mit knapp 15.000 Exemplaren war die Aulage der politischen Wochenzeitschrit Die Weltbühne im Vergleich zu den großen Tageszeitungen gering, jedoch war das Wochenblatt in linksintellektuellen Kreisen von herausragender Bedeutung. Die redaktionelle Leitung hatte in der ersten Jahreshälte 1927 noch Kurt Tucholsky inne. Wenige Monate später sollte Carl von Ossietzky die Leitung der Weltbühne übernehmen. Gleich zwei Artikel aus ganz unterschiedlichen Perspektiven widmeten sich dem Fall Kolomak: Während für Albert Kosswitz der Prozess vor allem Anlass zur Kritik an den überkommenen wilhelminischen Moralvorstellungen bot60, stand für Carl von Ossietzky die Vertrauenskrise der Justiz im Fokus seiner Ausführungen.61 Kosswitz zeichnete das Bild einer selbstbestimmten, ungezwungenen Jugend: „Denn der ‚Jahrgang 1907‘, wie die begabte Tergit ihn genannt hat, möchte am liebsten deine sorgsam geplegten Illusionen zerlachen und sich ganz nackt den Freuden der Wollust widmen.“ Außerdem hob er die neue „Selbstachtung“ der Frau hervor. Die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit der Frau präge „die grundsätzliche, grundstürzende Veränderung im Verhältnis der Geschlechter.“ Frauen wie Lisbeth Kolomak organisierten ihr Leben selbst und entlohen der omnipotenten Kontrolle des Mannes. Frauen und Männer träfen gleichberechtigt Entscheidungen. Doch auch die Männer entsprachen bei Kosswitz nicht den bekannten Stereotypen: Der frühere Liebhaber Lisbeths, der mit „Tränen in den Augen […] gezwungen war, sich am Zeugenstand vergangener schöner Stunden zu erinnern“, hatte vor dem Gericht „nur mit Liebe von ihr gesprochen“. Gefühle bestimmten das beschriebene Geschehen und Kosswitz warf dem Gericht Blindheit gegenüber dem Schicksal der beteiligten Personen vor: „– aber fühlt nicht der kluge Staatsanwalt, fühlen nicht die Senatoren der patrizischen Stadtrepublik die Revolution in den feuchten Augen jener Jünglinge?“ Für die „Revolution“ der Geschlechterrollen in der demokratischen Gesellschat der 1920er Jahre seien die konservativen Männer der Justiz blind. Albert Kosswitz kommentierte damit auch die Weltfremdheit der Richter, die sich gegen die Entwicklung der Gesellschat stellten und per se alles „Neue“ – die „Neue Frau“, die neue Moral, die neue Staatsform – in Frage stellten. Auf dem Höhepunkt der medialen „Vertrauenskrise der Justiz“ verfasste Carl von Ossietzky, der in jungen Jahren selbst im Justizdienst tätig gewesen war, eine literarische Kritik an der Justiz am Beispiel Bremens. Mit einer Anspielung auf Shakespeares Drama über die staatliche Regulation von Moral und Sitten überschrieb er seinen Artikel mit „Maß für Maß in Bremen“: „Der Zufall will, daß zur selben Zeit auch in Bremen ein altmodisches Kupplerstück neueinstudiert herauskommt, leider nicht im Stadttheater, sondern vor einer Strakammer, und als Darsteller erscheinen nicht Herren mit Mühlsteinkragen und Wollperücken und Damen in Reifröcken, sondern Bürger 60 Kosswitz, Albert: Die Lisbeths wissen es..., in: Weltbühne (9.4.1927). Die folgenden Zitate ebd. 61 Ossietzky, Carl von: Maß für Maß in Bremen, in: Weltbühne (21.6.1927). Die folgenden Zitate ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 16 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien und Bürgerinnen unsrer hellen Gegenwart. Aber das hema ist wie bei Shakespeare: Rigorismus toter Buchstaben gegen die Natur.“ Der Fall Kolomak wurde in seinen Augen zu einer theatralischen Inszenierung der Bremer Justiz. Ossietzky vermutete, dass nicht der Tatbestand der Kuppelei, sondern die Vorgeschichte für das Verhalten der Behörden entscheidend gewesen sei: „Wahrscheinlich hätte Frau Kolomak drei Töchter ungehindert verkuppeln können, wenn sie nicht die Todsünde begangen hätte, eine Behörde zu ängstigen. […] Keine Behörde vergisst eine Beängstigung.“ Auch nach Ossietzky handelte es sich bei dem Verfahren gegen Elisabeth Kolomak um keinen regulären Strafprozess, sondern um eine Präsentation der Macht. Gegen die Vorwürfe, die Mutter in dem Tagebuch öfentlich erhoben hatte, wollte man sich zur Wehr setzen, weil sie den „guten Ruf “ Bremens – besonders der Bremer Polizei – diskreditierten. Die Bremer Justiz handelte nach dem einfachen Grundsatz: Angrif ist die beste Verteidigung. Wie Sling betonte Ossietzky, dass die Position der Pressevertreter nicht einfach gewesen sei: „Die bremer Strakammer aber beginnt ein umständliches Interrogatorium, dessen Unmöglichkeit überall außerhalb dieses Saales schallende Heiterkeit hervorgerufen hätte. Hier wird ein kleines Gelächter am Pressetisch schnell durch eine scharfe Rüge erstickt.“ Doch nicht nur die Hansestadt stand im Zentrum der Kritik Ossietzkys, sondern allgemein die Rückständigkeit und Lebensferne der Rechtsprechung: „Das Gericht will einen Schulderweis bringen und übersieht darüber die Wirklichkeit. Es weiß nicht, wie die Menschen aus der Schicht der angeklagten Frau leben. Es weiß nichts von der eignen Moralität dieser Schicht.“ Die Sittengesetze auf der Grundlage wilhelminischer Vorstellungen seien nicht Teil der Lebensrealität jener Schicht: „Das Gericht unterstellt bremer Proletariermädel kategorischen Imperativen, die sich eher für Heroinen verstaubter Jambendramen eignen als für lebende Menschen. Das Gericht fällt Werturteile über das Liebesleben von Arbeitertöchtern, aber es weiß nichts von dem dumpfen proletarischen Stadtmilieu, nichts von der warmen Sehnsucht junger Dinger herauszukommen: immer am Rand der Prostitution, manchmal einen Schritt darüber. Das Gericht kennt nur ein imaginäres Sittengesetz und heischt ein Sühneopfer für dessen Verletzung.“ Der Bremer Richter Wedemeier wurde für Ossietzky zur Chifre für das reaktionäre Bürgertum, das im neuen, demokratischen Deutschland keinen Platz gefunden hatte. Versailler Vertrag und die „Amerikanisierung“ der europäischen Politik und Lebensweise brachten die Richter dazu, sich gegen „die Zeit“ zu stellen: „Doch es hieße das hema viel zu eng abstecken, wollte man die Art dieser Richter einfach mit politischer Voreingenommenheit deuten. Sie sind ja nicht gegen die Republik, Demokratie oder Sozialismus. Sie sind gegen die Zeit. Sie sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen ebenso wie gegen den ‚Potemkin’ oder gegen George Grosz. Denn sie sind gegen die Zeit. Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon viel sicherer tanzen.“ Ossietzky stellte das Landgericht Bremen pars pro toto an den Pranger; der Prozess diente als Auslöser für seine generelle Kritik an der Justiz. Abschließend verwies er – wie Kurt Tucholsky – darauf, dass sich dieses Justizsystem nicht reformieren ließe, sondern dass ein neues entstehen müsse. Prägnant und unmissverständlich forderte er bonjour.Geschichte 1 (2011) 17 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien daher: „Wir wollen ein Recht schafen aus unsrer Zeit, aus unsrem Kopf, aus unsrem Blut.“ „Frau Kolomaks Kampf“ – Die Berliner Boulevardpresse berichtet Auf der Suche nach Sensationen und einem Skandal reisten auch Vertreter der vier großen Berliner Boulevardzeitungen nach Bremen: die Welt am Abend, das 8 UhrAbendblatt, die Berliner Zeitung am Mittag (B.Z.) und die Berliner Nachtausgabe. Mit den dazugehörigen Verlagshäusern Münzenberg, Mosse, Ullstein und Hugenberg war zugleich ein breites politisches Spektrum von kommunistisch über liberal bis hin zu deutschnational gegeben. Doch wurde dieses politische Spektrum auch in der Berichterstattung deutlich? Worüber berichtete die Boulevardpresse? Gab es Unterschiede zur politischen Presse, zu den Kommentaren von Sling, Carl von Ossietzky und Gabriele Tergit? Deutlich wird schon auf den ersten Blick: In den Boulevardzeitungen wurde nicht für eine intellektuelle Leserschat geschrieben, wie beispielsweise in der Weltbühne. Kurze klare Sätze und unzweideutige Formulierungen erleichterten das Verständnis. Nicht elegant formulierte feuilletonistische Gerichtsreportagen, sondern dramatische, reißerische Überschriten und Illustrationen sollten das Interesse der Leser wecken: „Bei der ‚Kupplerin‘ von Bremen“62, „Das qualvolle Sterben der Elisabeth Kolomak. Fall Machan vor Gericht“63, „Frau Kolomaks Kampf “64. Der 28-jährige Eric Godal, einer der Pioniere der deutschen Pressezeichnung, verfolgte den Prozess, um für mehrere Zeitungen Illustrationen der beteiligten Personen anzufertigen und den Lesern einen eindrücklichen Einblick in das Geschehen vor Gericht zu bieten. In den Boulevardzeitungen wurden die Artikel meist ohne Angabe des Verfassers abgedruckt. Lediglich der Bühnenschritsteller und heaterkritiker Max Hochdorf, Redakteur des 8 Uhr-Abendblatts zeichnete seine Berichte mit MH. Der Inhalt sowie der Stil der Boulevardartikel ermöglichen meist keine Zuordnung zu einem politischen Lager; die Artikel scheinen in vielerlei Hinsicht austauschbar zu sein. Alle Berichterstatter betten den Prozess in den Kontext der Geschichte des Tagebuchs ein. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass „Vom Leben getötet“ und der Name Machan auch in der proletarischen Leserschat bekannt waren. Auf dieser Geschichte aubauend, berichteten die Boulevardzeitungen dann stichpunktartig über das Geschehen im Gerichtssaal – meist ohne eine generelle Justizkritik, wie sie bei den politischen Zeitungen zu inden war. Im Unterschied zu den Gerichtsreportagen von Tergit oder Sling hatten die Artikel in der Boulevardpresse mehr den Charakter eines Tatsachenberichts als den eines politisch-gesellschatlichen Kommentars. Besonderen Wert legten die Boulevardzeitungen auf die Angeklagte Elisabeth Kolomak. Aussehen und Persönlichkeit wurden in fast allen Artikeln skizziert. So berichtete die B.Z. am Mittag bereits im April 1927 über einem Besuch im Hause Kolomak: „Frau Kolomak kommt von der Küche herüber. Aeußerlich ganz das Gegenteil ihres Mannes: Blond, echt deutscher Typ, schaut mit großen, hellen Kinderaugen in diese Welt. […] Eine hohe, freie Stirn, ein feingeschnittener, aber herber Mund geben dieser Frau etwas ungemein Anziehendes.“65 Ähnlich beschrieb auch der Reporter der kommunistischen Welt am Abend die Schustersfrau: „Sie ist kaum mittelgroß, schlank 62 63 64 65 Bei der „Kupplerin von Bremen“, in: B.Z. am Mittag (19.4.1927). Das qualvolle Sterben der Elisabeth Kolomak. Fall Machan vor Gericht, in: 8 Uhr-Abendblatt (16.6.1927). Frau Kolomaks Kampf, in: Welt am Abend (17.6.1927). Ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 18 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien und trägt das dunkelblonde Haar zu einem einfachen Knoten. Frau Kolomak macht einen sehr intelligenten Eindruck.“66 Sie erfüllte nicht die gängigen Klischees einer Arbeiterin, sondern vermittelte den Eindruck – und hierüber bestand zeitungsübergreifend ein großer Konsens – intelligent zu sein. Auch die deutschnationale Berliner Nachtausgabe kommentierte das Autreten der Angeklagten am ersten Prozesstag: „Frau Kolomak macht einen sehr intelligenten Eindruck und mustert neugierig die große Schar der gegen sie aufgebotenen Belastungszeugen.“67 Im 8 Uhr-Abendblatt wurde Elisabeth Kolomak als „ Kleinbürgerin, nicht ungewandt im Umgang mit den Richtern“ bezeichnet.68 Die Presse erstellte ein Persönlichkeitsproil der Angeklagten, das vor allem der Emotionalisierung dienen sollte. Der Leserschat wurde das Bild einer Person und nicht eines Falles präsentiert; sie erhielt Einblick in ein persönliches Schicksal, konnte mitfühlen und sich ein persönliches Urteil bilden. Kurz: Die Presse suggerierte Anteilnahme. Die Geschichte des Prozesses begann in allen Zeitungen mit dem Leben und tragischen Sterben von Lisbeth. Die Berichterstatter vermieden es jedoch, den Bremer Behörden eine direkte Schuld am Tod Lisbeths zu geben. Es wurde lediglich die Meinung der Eltern wiedergegeben, beispielsweise im 8 Uhr-Abendblatt: „Die Eltern des Kindes, die Bremer Schustersleute, verteidigen aber die Ansicht, daß das Kind das Opfer eines verfehlten polizeilichen Systems und einer leichtfertigen ärztlichen Behandlung geworden sei.“69 Lediglich Max Hochdorf äußerte eine eigene Meinung zum Geschehen. In seinen Artikeln für das 8 Uhr-Abendblatt verwies er sowohl auf die provinzielle Prozessführung, als auch auf die überregionale Bedeutung der verhandelten Fragen zu Sittlichkeit und Erziehung: „Die Zeugen zur Klärung der Kuppel-Anklage marschieren auf. Es erwacht ein Krähwinkel. Nachbarsleute berichten über kleine Klatschgeschichten, die sich in ihrem Stadtquartier ereignet haben. Es lohnt sich kaum, die ganzen Prozeßkrähwinkeleien, die tagtäglich hundertmal in Deutschlands Städten und Nestern passieren, noch weiter zu erörtern.“70 Hochdorf wertete den Prozessautakt als Bremensie: Ein Mikrokosmos aus Bekanntschaten und Beziehungen, aus Zuneigung und Abneigung wurde für ihn deutlich. In seinem Bericht über den ersten Prozesstag betonte der Journalist jedoch, dass das grundlegend verschiedene Verständnis von Sittlichkeit und Moral Teil des Alltags in vielen Großstädten sei: „Alles, was da erzählt wird für und gegen die der Kuppelei angeklagten Schustersfrau liefert Pünktlein und Farbe zu einem bremischen Sittenbild. Das Bild ist ziemlich dunkel, doch kaum dunkler als in anderen Großstädten auch, und es hat höchstens Lokalatmosphäre.“71 Trotz der „Lokalatmosphäre“ wurde der Prozess als Politikum gewertet. Die Gründe dafür sah Hochdorf in der Person des Anwaltes Dr. Carl Hertel, der zugleich als Zentrumsabgeordneter in der Bremischen Bürgerschat saß, sowie in der Beteiligung der katholischen Kirche in Person der Mater Ignatia Breme, die die Veröfentlichung des Tagebuchs initiiert hatte.72 Auch am ersten Prozesstag benannte Hochdorf die Tragweite des Kolomak-Prozesses: „Man vergißt vollkommen, wenn man den Verhandlungen 66 67 68 69 70 Der Prozeß gegen Frau Kolomak, in: Welt am Abend (15.6.1927). Frau Kolomak vor dem Bremer Gericht, in: Berliner Nachtausgabe (15.6.27). Das qualvolle Sterben der Elisabeth Kolomak, in: 8 Uhr-Abendblatt (14.6.1927). Ebd. Hochdorf, Max: Die Leiden der Lisbeth Kolomak. „Vom Leben getötet“ – von der Mutter verkuppelt?, in: 8 UhrAbendblatt (15.6.1927). 71 Hochdorf, Max: Dem Kolomak-Gericht ist die Presse unbequem, in: 8 Uhr-Abendblatt (16.6.1927). 72 Hochdorf, Max: Das qualvolle Sterben der Elisabeth Kolomak. Fall Machan vor Gericht, in: 8 Uhr-Abendblatt (14.6.1927). bonjour.Geschichte 1 (2011) 19 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien folgt, daß die Angelegenheit eigentlich ganz Deutschland in Aufruhr brachte, denn die Richter und Ankläger wollen den Prozeß seiner Sensation entrauben, die er durch die öfentliche Diskussion gewann. Es soll nur die ganz unbedeutende Kuppeläfäre übrig bleiben, die nach Willen des Anklägers hinter verschlossenen Türen zu verhandeln ist, damit die öfentliche Moral der Stadt nicht gefährdet wird. So werden die nicht mit Zuhörerkarten beglückten Honoratioren Bremens fortgeschickt.“73 Dass die Bremer Justiz an möglichst wenig Publizität über den Prozess interessiert war, wurde besonders am mehrfach erwähnten „Ausschluss der Öfentlichkeit“ deutlich. Die Presse wurde durch das Gericht an ihre Plicht zur Objektivität erinnert, wie der Redakteur der Welt am Abend am 16. Juni berichtete: „Zu Beginn der heutigen Verhandlung erbat der Erste Staatsanwalt Dr. Dechsler das Wort und führte aus: Ich bitte, die Pressevertreter zu einer objektiven Berichterstattung zu verplichten, da sonst Zeugen einseitig beeinlußt werden könnten.“ Und weiter: „Der Vorsitzende glaubte darauhin die anwesenden Pressevertreter in einem wenig angemessenen schrofen und nichtachtenden Ton auf ihre ‚Plicht zur Objektivität‘ hinweisen zu müssen.“74 Das angespannte Verhältnis zwischen Justiz und Presse begleitete das Verfahren. Gericht und Senat befürchteten, dass die Journalisten den Prozess skandalisieren würden – was letztlich ja auch der Fall war. Trotz aller Bemühungen der Bremer Justiz und des Senats, den „Fall Machan-Kolomak“ auf eine Anklage wegen Kuppelei zu reduzieren und die Resonanz in der Öfentlichkeit einzudämmen, wurde die Berichterstattung zu einem Medienphänomen, das nicht nur die Angeklagte, sondern auch die Ankläger einer kritischen Prüfung unterzog. Das Urteil gegen Elisabeth Kolomak wurde für die Boulevardpresse zum Gradmesser der „Weltfremdheit“ des Bremer Gerichts. Alle Boulevardzeitungen kommentierten das Urteil ausführlich. Eine Ausnahme bildete die rechte Berliner Nachtausgabe, die sich auf eine kurze Notiz beschränkte.75 Bereits nach dem zweiten Prozesstag hatte sie die Berichterstattung eingeschränkt, nachdem ein „Dr. W.“ festgestellt hatte: „Doch man glaubt der Angeklagten, die im übrigen keineswegs einen niedergeschlagenen Eindruck macht, nicht. […] Mitunter kommt sie mit kleinen Finessen, um sich zu entlasten, sucht abzulenken; doch kann sie damit die sich immer mehr verdichtenden Verdachtsmomente nicht entkräten.“76 Als einziges Blatt schenkte sie Elisabeth Kolomaks Aussagen keinerlei Glauben. Konträr dazu fällt die Einschätzung zur Glaubwürdigkeit Elisabeth Kolomaks sowie des Prozesses insgesamt bei der kommunistischen Welt am Abend aus. Dort heißt es: „Lediglich auf diese zweifelhaten Aussagen gestützt, erfolgte die Verurteilung der Frau Kolomak. Das letzte Wort über diesen Prozeß […] ist noch nicht gesprochen.“ Und weiter: Das Urteil „ist ein Ergebnis der ganzen Atmosphäre, die in dieser deutschen Mittelstadt herrscht, ein Ergebnis auch zugleich jenes Rechtfertigungskampfes, den die Polizei im Falle Machan zu führen sich verplichtet hielt. Die Behörden sollten und mußten, so war es der Wille der dortigen Autoritäten, reingewaschen werden und so verurteilte man Frau Kolomak.“77 Während die Welt am Abend tendenziell auf Seiten der Angeklagten stand und die Berliner Nachtausgabe der Beurteilung der Ankläger folgte, ordnete sich das 8 UhrAbendblatt dazwischen ein: „Nun, die Begründung des Urteils ist menschlicher 73 74 75 76 Hochdorf, Max: Die Leiden der Lisbeth Kolomak, in: 8 Uhr-Abendblatt (15.6.1927). Frau Kolomak wird belastet, in: Welt am Abend (16.6.1927). B.S.: Frau Kolomak legt Berufung ein, in: Berliner Nachtausgabe (18.6.1927). W.: Frau Kolomak immer stärker belastet. Die Verdachtsmomente verdichten sich, in: Berliner Nachtausgabe (16.6.1927). 77 Das Urteil gegen Frau Kolomak, in: Welt am Abend (18.6.1927). bonjour.Geschichte 1 (2011) 20 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien ausgefallen, als man nach der knilichen Beredsamkeit des Staatsanwaltes erwartet hatte. Aber das Gesetz verlangt, daß die Mutter, die beide Augen über dem Leichtsinn der Tochter schließt, und womöglich noch Nutzen aus diesem Blindekuhspiel zieht, bestrat werde. […] [So] bleibt doch die Wahrheit unerschüttert, daß Frau Kolomak, die Bremer Schustersfrau, allzu nachgiebig und unter Umständen auch zu ausgehungert nach einigen Dollarlappen gewesen ist.“78 Betrachtet man das gesamte Spektrum der Boulevardpresse, so lässt sich die Frage nach der Schuld Elisabeth Kolomaks kaum beantworten. Durchaus unzufrieden, aber wohl im Sinne aller Journalisten schloss die Welt am Abend ihre Berichterstattung mit den Worten: „Wie dem auch sein möge, die Hintergründe des Falles Kolomak wurden nicht gelichtet.“79 „Welfremdheit feiert Orgien“ – Ein Resümee „Da liegt nun diese so besonders schöne, vornehme, kluge, tüchtige Stadt Bremen, erfüllt von dem reizvollsten deutschen Menschenschlage in sommerlicher Heiterkeit und macht so einen Prozeß. Wird man hier von einer der zahllosen Radfahrerinnen überfahren, so hat man die Genugtuung, seinen Genickbruch einem besonders anmutigen Wesen zu verdanken.“80 Ratlosigkeit und Unverständnis kennzeichnet Slings Resümee am 18. Juni 1927: Er stellte den Prozess gegen Elisabeth Kolomak und das Urteil in Frage. Ebenso wie die anderen Berichterstatter zeigte er drei Elemente des Verfahrens auf: das rigide Vorgehen gegen eine sich verändernde Sittlichkeit, das durch die herrschende Doppelmoral erzwungene Verhalten Elisabeth Kolomaks vor Gericht und das Handeln von Behörden und Justiz vor und während des Prozesses, das als Ausgangspunkt für eine generelle Kritik an den deutschen Richtern diente. Die unterschiedlichen Moralvorstellungen der Journalisten spiegeln sich in den Berichten wider: Deutlich zeigte sich in der konservativen Berichterstattung eine antiamerikanische Haltung, wie sie auch das Landgericht Bremen vertrat: Die Neuerungen, die Deutschland von Amerika aus erreichten – sei es das Schminken, die Kleidung und oder das Sozialverhalten –, wurden von vornherein abgelehnt, da man einen „Sittenverfall“ fürchtete. Die linke und demokratische Presse sah in dieser Position die „Weltfremdheit“ und „Rückständigkeit“ des Gerichts; ein kramphates Festklammern an einem überholten wilhelminischen Moralkodex. Elisabeth Kolomak wurde in den Gerichtsreportagen als Opfer ihrer Zeit stilisiert. Als Frau aus kleinbürgerlich-proletarischem Milieu hatte sie die bürgerlichen Moralvorstellungen nicht selbst gelebt. In dem Wissen, dass die Richter für ihre Lebensweise kein Verständnis aubringen würden, fühlte sich Elisabeth Kolomak gezwungen, selbst aus der bürgerlichen Perspektive zu argumentieren. Diese Doppelmoral, die in den Tagen vor Gericht zu gelegentlichen Widersprüchen geführt hatte, diente der konservativen Presse, wie beispielsweise der Berliner Nachtausgabe, als Beweis für Elisabeth Kolomaks Unglaubwürdigkeit. Die übrigen Zeitungen sahen darin vielmehr den großen Druck, den das Gericht – und dahinter die Gesellschat – der Angeklagten aubürdete, weil diese sich in zwei Lebenswelten bewegen musste, um sich verteidigen zu können. Dass der Prozess von den Bremer Behörden nur initiiert wurde, um die im Tagebuch formulierten Vorwürfe zu widerlegen, wurde vor allem von den demokratischen 78 Hochdorf, Max: Die Sünde der Frau Kolomak, in: 8 Uhr-Abendblatt (18.6.1927). 79 Das Urteil gegen Frau Kolomak, in: Welt am Abend (18.6.1927). 80 Sling: Totentanz in Bremen, in: Vossische Zeitung (18.6.1927). bonjour.Geschichte 1 (2011) 21 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Zeitungen betont. Die konservative Presse hielt sich diesbezüglich zwar bedeckter, war jedoch zugleich ebenso verwundert über die Größe des Prozesses im Verhältnis zu dem vergleichsweise unbedeutenden Anklagegrund der Kuppelei. In der Presse wurde der Fall Kolomak schnell zu einem kontrovers diskutierten Skandal, der Teil der zeitgenössischen Diskussionen um Sittlichkeit, Prostitution, Kuppelei und den strafrechtlichen Umgang damit war. Am Fall Kolomak konnten soziale wie juristische „Probleme“ in Deutschland erörtert werden. Carl von Ossietzky resümierte: „Dieser Prozess erschüttert nicht durch sein Material von Schuld und Unschuld, sondern durch die Aufdeckung von sozialen Tatsachen, die stärker sind als menschliche Charaktere.“81 Im Gegensatz zur überregionalen Presse wurde in den Bremer Zeitungen selten verallgemeinert: Die Bremer Nachrichten und die Bremer Volkszeitung nutzen den publizistischen Raum, um ihre Meinungen zum bremischen Sozial- und Justizsystem zu präsentieren. Die jeweiligen Chefredakteure Georg Kunoth und Alfred Faust führten dabei einen „Pressekrieg“ gegeneinander, bei dem das eigentliche hema letztlich in den Hintergrund rückte. Das angespannte Verhältnis zwischen den beiden politischen Lagern trat ofen hervor und die Redakteure nutzten ihre Artikel, um grundlegende Probleme in der Hansestadt zu benennen. Dem gegenüber war die Berichterstattung in der Boulevardpresse weniger auf eine polemisch scharfe Argumentation angelegt. Vielmehr wurden die prozessbegleitenden Artikel zu einer Art Tatsachenbericht, der kaum kommentiert wurde, für die Leser aber durch bildreiche Überschriten und eigens angefertigte Illustrationen aubereitet wurde. Die politische Position dieser Zeitungen lässt sich erst in einem Vergleich der Artikel zum Urteil erkennen: Während hier – ebenso wie in der politischen Presse – die linken und demokratischen Zeitungen das Urteil ablehnten und für unangebracht hielten, äußerten sich die konservativen Berichterstatter kaum und reduzierten ihren Bericht auf eine kurze Notiz. Da diese Zeitungen Zweifel an der Glaubwürdigkeit Elisabeth Kolomaks hatten, hielten sie auch das Urteil für angemessen. Eine Besonderheit in der Berichterstattung der demokratischen Zeitungen war die deutliche Justizkritik. Der Bremer Richter wurde zur Chifre für die wilhelminischreaktionäre Haltung aller deutschen Richter. Auf dem Höhepunkt der „Vertrauenkrise der Justiz“ war der Fall Kolomak ein Paradebeispiel, an dem sich beispielsweise für Sling und Carl von Ossietzky das veraltete Justizsystem zeigte. Die Berichterstattung zum Fall Kolomak ist weniger als Verteidigung für eine Frau aus einfachen Verhältnissen zu verstehen, sondern vielmehr als Aufruf zu einem Neuanfang in der deutschen Justiz. Betrachtet man die gesamte Berichterstattung rund um den Prozess im Juni 1927, so wird deutlich, dass es den Bremer Behörden nicht gelungen war, ihr Ziel zu verwirklichen. Trotz der Bemühungen, die Verhandlung als beliebigen Kuppelei-Prozess darzustellen und trotz des Ausschlusses der Öfentlichkeit aus der Verhandlung, wurde der Fall Kolomak zu einem Skandal in der reichsweiten Presse. Je mehr die Behörden versuchten, den Fall kleinzureden, desto genauer sahen die Berichterstatter hin, desto kritischer hinterfragten sie das Geschehen in der Hansestadt. War bereits die Anklage Elisabeth Kolomaks wegen schwerer Kuppelei für die demokratische Presse empörend, so war es mehr noch der Prozess selbst und das Urteil. Carl von Ossietzky sah in dem Bremer Prozess schließlich den Inbegrif der Rückständigkeit deutscher Richter, der Angst vor der Amerikanisierung und das Klammern an wilhelminischen Zeiten: „Weltfremdheit feiert Orgien. […] Auch im Schminktöpfchen und Lippenstit der Mädel steckt ein Stück Landesverrat. In dieser Verwerfung ‚amerikanischer Sitten‘ tanzen unter der 81 Ossietzky, Carl von: Maß für Maß in Bremen, in: Weltbühne (21.6.1927). bonjour.Geschichte 1 (2011) 22 T. Hertrich, J. Sommer & N. Stefen: Welfremdheit feiert Orgien Schwelle des Bewußtseins Wilsons vierzehn Punkte, rasseln die Ketten von Versailles, und aus ungelütetem Gefühlsplunder stäuben schwarz-weiß-rote Zikaden.“82 82 Ebd. bonjour.Geschichte 1 (2011) 23