[go: up one dir, main page]

Academia.eduAcademia.edu
Opfer 10  Die Untersuchungsresultate werden besprochen und mögliche Konsequenzen daraus reflektiert. Beispiele wie Virginia Woolf und Franz Biberkopf werden als Opfererfahrung exemplarisch dargestellt. Die Opferrolle und die Opfer- definition werden als soziale Reaktion in der gegebenen Gefühlsenge ­verstanden. Das Substantiv „Opfer“ ist abgeleitet vom Verb „opfern“, lat. operari, „Almosen geben“, und lat. offerre, „darbringen“. Wir sprechen von sich „aufopfern für eine Sache oder für andere Menschen“. In der jüdischen Glaubensgeschichte haben wir die Opferung von Gaben an Jahu. Aus einer Gabe an Gott entstand eine Auseinandersetzung zwischen Abel und Kain, der sicher etwas jähzorngeladen war. Ein Opfer wird abgelehnt, das andere wird angenommen. Wenn wir hier von Opferndes Jähzorns sprechen, so sind das Personen, die als Kinder unter einem Vater oder unter einer Mutter mit Jähzorn zu leiden hatten oder, was seltener ist, unter einem Bruder oder einer Schwester. Einige von uns leiden unter einem Ehepartner oder einer Freundin, die zu diesen Temperamentsaus- brüchen neigen. Von den 575 Personen, die wir auf der Straße oder am Telefon befragt haben, haben 117 Personen zugestimmt, dass sie Opfer eines jähzornigen Elternteils waren. In der Straßenbefragung allein haben 21,8 % (105 von 481 Personen) der Frage zugestimmt, wobei wir von 70 Personen (30 Männern, 40 Frauen) zusätzliche freie Antworten zum familiären Jähzorn erhalten haben, die wir in Tab. 10.1 nach Geschlechtern und den Altersgruppen aufgeteilt haben. Bei den 30 Männern sind es 70 %, die unter einem jähzornigen Vater, und 23 %, die unter einer jähzornigen Mutter litten. Bei den 40 Frauen litten 60 % unter ihren Vätern und 10 % unter ihren Müttern. Insgesamt hatten 64 % der Opfer unter dem Jähzorn des Vaters und nur 15 % unter dem der Mutter zu leiden. Weiters leiden 2,5 % der Frauen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 131 T. Itten, Jähzorn, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61884-4_10 132 10 Opfer Tab. 10.1  Täter und Umstände familiären Jähzorns Opfer und Anzahl der folgenden Antwort zu Täter oder Umstand Insgesamt Alters- gruppe Vater Mutter Ehe- Bruder Alkohol Allein auf- Diverses partner gewachsen Männer < 20 2 2 20–29 2 2 4 30–39 5 2 8 40–49 9 1 1 10 50–59 1 1 60–69 4 1 5 ≥ 70 Frauen < 20 4 4 20–29 3 1 1 1 6 30–39 2 3 1 1 7 40–49 4 2 1 1 1 9 50–59 5 1 1 7 60–69 4 1 5 ≥ 70 2 2 Insgesamt 45 11 5 3 2 1 3 70 unter dem Jähzorn ihres Ehemannes, während in dieser Umfrage kein Mann unter einer jähzornigen Ehefrau litt. 5 % der Frauen sind Opfer von jähzornigen Brüdern (keine Frauen oder Männer gaben an, Opfer von jähzornigen Schwestern zu sein) und 5 % sehen den Alkohol im Spiel. Niemand hatte Caroline Mathilde von Dänemark gesagt, dass Christian VII. unter einer Geisteskrankheit litt, die sich in Schüben von Jähzorn, Brutalität und exzessiven Ausschweifungen äußerte. So wurde sie ein klassisches Opfer eines jähzornigen Herrschers. 73 % aller Jähzornigen haben unsere Frage, wie ihre Mitmenschen unter ihrem Jähzorn litten, beantwortet (Tab. 10.2), was ich gut finde. Damit zeigen sie ihre Einsicht und das zwischenzeitliche Wissen, nicht nur dass, sondern auch auf welche Weise ihre Mitmenschen unter ihrem Jähzorn leiden. 10 Opfer 133 Tab. 10.2  Tätersicht des Leidens der Mitmenschen Leid der Mitmenschen Anzahl (%) der Antworten von Tätern Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Unverständnis 34 (40) Verbale Verletzungen 13 (15) Körperliche Gewalt 6 (7) Diverses 15 (17) Keine Ahnung 4 (5) Kein Leid 14 (16) Insgesamt 86 (100) Trotz des empathischen Wissens kommt der nächste Anfall bestimmt. Wissen allein befreit und verändert noch nichts. Dieses sozialpsychologische Wissen muss als somatische Erfahrung integriert werden. Alfred Döblin (1878–1957) schildert in den Handlungen seines Romans Berlin Alexanderplatz (1972) etwas vom Leben in Berlin Mitte der 1920er Jahre. Franz Biber- kopf erschlägt in einem seiner Jähzornanfälle seine Geliebte Ida. Er verbüßt eine 4-jährige Haftstrafe im Gefängnis Tegel. Wieder frei, arbeitet er als Zementarbeiter. Er will ein sozial respektables und anständiges Leben führen. Später verdient er seinen Lebensunterhalt als Hausierer und Zeitungsverkäufer. Döblin vereint in diesem Roman alle wichtigen sozialpsychologischen Richtungen der Gesellschaft in der Weimarer Republik. Er spiegelt die verwirrenden Gefühle von zunehmender sozialer Zusammen- hangslosigkeit. Die so erlebte Situation der menschlichen Entfremdungen vom eigenen wahren Selbst zeigt Döblin anhand seiner Schilderung des mühsamen Großstadtlebens. Obschon Franz Biberkopf sich bemüht, ein aufrichtiges und ehrliches Leben zu führen, rutscht er durch dubiose Kollegen wie den Zuhälter und Verbrecher Reinhold und Otto Lüders, der die Witwe beraubt, welche vorher Biberkopf für seine Liebesdienste bezahlt hat, auf die schiefe Bahn. Beim Einbruch in ein Stofflager steht Biberkopf Schmiere, ohne es zu bemerken. Er wird von Reinhold zusammen mit seinem neuen Arbeitgeber hereingelegt. Auf der Flucht vor der Polizei, die die Gauner auf frischer Tat überrascht, werfen die Ganoven Biberkopf aus dem fahrenden Auto. Als Reinhold sich an Biber- kopfs hübscher Freundin, der Prostituierten Emilie, vergreift, setzt diese ihm so lange zu, bis er zugibt, Biberkopf aus dem Auto gestoßen zu haben. Erschrocken über sein eigenes Geständnis erwürgt er Emilie daraufhin. Die Polizei fahndet selbstverständlich zuerst nach ihrem Freund. Der rächt sich kurz vor seiner Festnahme, indem er Reinholds Haus am Alexanderplatz in Brand setzt. Franz Biberkopf landet in einer Nervenheilanstalt. Nach seiner Entlassung sagt er im Mordprozess gegen Reinhold aus. Der geht wegen seines jähzornigen Mordes an Emilie für 10 Jahre hinter Gitter. Biberkopf verdient fortan seinen Lebensunterhalt als Hilfs- pförtner in einer Fabrik. Jähzorn kann, muss aber nicht, in eine solche negative Lebens- spirale führen. 134 10 Opfer Opfer, die in die Psychotherapie kommen, suchen dort Trost und Befreiung von den sie weiterhin einengenden Gefühlen der stetigen Furcht, „es“, der Jähzorn, könnte wieder aus dem Vater oder der Mutter herausbrechen. Eine wichtige negative Seite dieses ausgelebten Zorns ist, dass so viele schöne, mit Liebe gepflegte Gegenstände, die in einer Wohnung das Heimatliche bedeuten, im Jähzorn – bei 4 von 100 Personen laut unserer Umfrage – zerstört werden. Meistens sind die Flugobjekte im Jähzorn Teller, Tassen, Messer, Essgabeln, Essen, Schalen, Pfannen, Gläser, Büchsen, Vasen, Heugabeln, Aschenbecher, Mobiltelefone, Kreiden, Spielzeuge, Legosteine, Schuhe, Hämmer und andere Werkzeuge, Stühle, Computer, Fernseher, Ständerlampen, Bücher, Steine, Langspielplatten, Schlüsselbund, HiFi-Boxen, Feuerzeuge und so weiter und so fort. Menschen werden im Jähzornanfall herumgeworfen, gestoßen, niedergedrückt, geschlagen, gewürgt, gestochen, erschossen. Die Verletzungen, die diese verschiedenen fliegenden Objekte verursachen, sind tief und oft markierend für das weitere Leben. Es gibt die Geschichte von einem Mann, der im Jähzorn seine Essgabel so heftig warf, dass die Gabel in der Backe des Gegenübers stecken blieb. Aber auch Aschenbecher und Mobiltelefon können Kopfverletzungen verursachen. 10.1 Virginia Woolf Roger Poole (1982), Professor für Englische Sprache an der Universität von Nottingham, versuchte in einer Studie aufzuzeigen, dass Virginia Woolf, geb. Stephen, nicht wahn- sinnig oder gar psychisch krank war. Sie litt ihr Leben lang an ihrer Erfahrung des sexuellen Missbrauchs durch ihre beiden Halbbrüder, Gerald (vom 6. bis zum 11. Lebensjahr) und George (von 11 bis 22) Duckworth. Darüber konnte sie nie wirk- lich mit ihrem späteren Mann, Leonard Woolf, oder ihren Freundinnen sprechen. Die traumatischen Erfahrungen und ihre Scham, darüber zu sprechen, ließen sie oft und in ganz bestimmten Beziehungs- und Existenzmomenten verzweifeln. Virginia wurde 16 Jahre lang inzestuös sexuell missbraucht. Ihr Leben war, wie sie es selbst aus- drückt, „ausgeschüttet“, bevor es wirklich beginnen konnte. Aus dieser Zeit verwundet fürs Leben, reagierte sie tief verängstigt, sobald eine Liebesbeziehung und Zuneigung körperlich wurde. Sie zog sich dann reflexartig in sich zurück, wirkte zugefroren in ihrer sie schützenden Panik. In ihrem Elternhaus lernte sie den Jähzorn ihrer Halb- brüder George und Gerald kennen. Sie lernte, ihren Gefühlen zu entsagen: Sie versuchte, nichts mehr in ihrem missbrauchten Körper zu fühlen. Sie kühlte sich ab und trennte sich so von ihren Gefühlen. Sie konnte daher mit ihrem Mann überhaupt nicht körper- lich kommunizieren. Sobald sie mit ihm in eine sexuelle Situation geriet, glitt Virginia in ihren inneren Schockzustand hinein. Der innere und äußere Lebensdruck war mehrmals in ihrem Leben so groß, dass sie ihn nicht mehr ertragen konnte. Sie reagierte mit einem vegetativen Nervenzusammenbruch. Selber nahm sie sich nie als verrückt oder wahn- sinnig wahr, wie ihr Mann und andere es taten. Ihre Gefühle waren in ihr eingepackt. Ihre Angst war: Wenn sie über ihre Gefühle redete, würde alles aus ihr herausfließen, wie das 10.1 Virginia Woolf 135 z­ urückgehaltene Wasser im Stausee, und es gäbe keine Möglichkeit des Anhaltens mehr. Vor solchen Gefühlsüberflutungen fürchtete sie sich sehr. Selten gelang es Virginia – und dann nur in der Gegenwart von schönen, talentierten Frauen –, etwas von ihrer sensiblen sinnlichen und erotischen Seite auszuleben. Ihre sexuelle Anästhesie wurde etwas auf- gelockert durch die Lebendigkeit einer anderen Frau, wie Vita Sackville-West oder Violet Dickinson. Ihr Mann, Leonard, hatte selber auch Schwierigkeiten mit seiner Sexuali- tät und Körperlichkeit. Schon nach der Hochzeitsreise im Jahr 1913 zeigte sich, dass er und Virginia sexuell nicht miteinander konnten. Beide realisierten erschrocken, dass sie sogar intellektuell unvereinbar und widersprüchlich waren. Ja, es kam noch schlimmer, Leonard wurde ihr gegenüber sogar intellektuell bösartig. Ihre selbst erarbeitete und mit gelehrten Freund(inn)en kultivierte Intelligenz, ihre leidenschaftlich geübte Schreibfähig- keit, ihre Kunst der genauen inneren und äußeren Beobachtung waren der Flügelanker im Sturm ihres Lebens. Darin vom eigenen Mann angegriffen zu werden, bedeutete für sie, dass Leonard ein zusätzlicher Teil ihres Lebensproblems wurde, das sie mit Bücher- schreiben zu lösen versuchte. Poole zeigt in seiner beachtlichen und sehr überzeugenden Studie, wie sich die wahre Virginia in ihren Romanen darstellt. Sie beschreibt und erklärt nicht nur, was sie sieht, fühlt und denkt durch ihre Figuren, sie zeigt zugleich auch auf, wie sie betrachtet, was sie sieht und erlebt. Ronald Laing – als philosophischer Psycho- loge – hat das selber immer wieder praktiziert. Leonard war, wie sein Freund Moore, ein extremer Rationalist. Beide fragten nach jeder Aussage des anderen: Was genau meinst du damit? Das Erste, was wir durch diese Lehre der Gefühlskontrolle, falls wir sie befolgen, verlieren, ist unsere Spontaneität. Wir mauern unser Selbst ein. Ihr Bruder Toby und ihre Schwester Vanessa hatten eine Technik entwickelt, um Virginia, schon als Kind, in einen hochroten Jähzorn zu treiben. Zwei gegen eine als Auslöser für einen Jähzornanfall. Ihre beiden Geschwister nannten Virginias jähzornige Reaktionen ihren Geißenwahnsinn. Beide machten das Leben für Virginia so frustrierend, dass sie, um einen Weg aus dieser Gefühlsenge zu finden, sich nur mit einem Jähzornanfall zu helfen wusste. Da waren ihre Gefühlsknöpfe, die sie festgeschnürt hatte, plötzlich für Momente frei. In ihrem Paarleben mit Leonard, der hinter ihrem Rücken seine Erfahrungen und Gedanken nicht nur mit den Ärzten, sondern auch mit ihrer Schwester Vanessa besprach, konnte Virginia, wenn es für sie wirklich emotional eng wurde, wieder in einen hoch- roten Jähzornanfall hineingeraten. Leonards Geist hält Tatsachen auseinander, trennt sie. Virginias Geist versucht, Tatsachen verschmelzend zu vereinen. Sie harmonisiert, was er trennt. Ein Hauptauslöser dafür war, wenn die geheim konsultierten Ärzte ein- stimmig mit ihrem Mann sagten, sie wisse ja gar nicht, was mit ihr nicht stimme. Virginia bemerkte diese falsche und hinter ihrem Rücken abgesprochene Front. Wenn sie diese aber ansprach und die Behandlungsempfehlungen ablehnte, wurde sie als krankhaft Paranoide abgestempelt. Sie, die in solchen Momenten immer wieder zu ihrem Mann sagte, dass sie ihn enttäusche, weil sie eine Versagerin sei. Was sie dabei nicht weiter erläutern konnte und verschwieg, war die Tatsache, dass sie sich als Ehefrau versagen sah, weil sie mit ihm keine sexuelle Beziehung haben konnte. Virginia schützte sich mit ihrer indirekten Kommunikation. Sie konnte sich Leonard als die, die sie war, wie sie 136 10 Opfer ihre Beziehung erlebte und fühlte, nur durch ihre Bücher mitteilen. Geheimnistuerei war ein Auslöser für den Jähzorn in Virginias Kindheit sowie in ihrem Erwachsenen- leben. Sie sprach diesen Auslöser Leonard gegenüber oft an. Doch der stritt geheime Absprachen mit ihrer Schwester oder den Ärzten ab. Das war für Virginia, die ihre Wahrheit in ihrem Innenleben, in ihren Beziehungen suchte und das Gefundene in ihrer geschriebenen Sprachkunst so zum Vorschein brachte wie keine Schriftstellerin vor ihr, einfach unerträglich. Leider, leider für Virginia und viele andere zum Jähzorn neigende Menschen vermochte und wagte sie nicht, Wahrheiten ihres Lebens auszusprechen. Wer als Kind so traumatisiert und emotional anästhesiert wurde, sieht die Gefühlswelt immer als Bedrohung und nicht mehr als lebbare Möglichkeit. Sie selber glaubte ihren gravierendsten Lebensfehler in ihrer sexuellen Passivität mit ihrem Halbbruder George zu erkennen. Sie sah sich im späteren Leben als ­Opfer-Täterin, die diese intime Nähe zu lange zugelassen habe. Indem sie diese von George aufgenötigten und aufgedrängten Intimitäten zugelassen habe, hätte sie ihre eigenen sexuellen Lebensfähigkeiten und Ein- fühlungsmöglichkeiten mit zerstört. Obschon sie mit Lytton Strachey, dem Sigmund- Freud-Übersetzer, befreundet war und die ersten Bücher Freuds in englischer Sprache im Verlag von Leonard Woolf erschienen, konnte sie sich nie zu einer Psychoanalyse ent- scheiden. Dann hätten sie und ihre Therapeutin festgestellt, wie sie wirklich ihre Welt erlebte und was sie daraus machte – im Licht ihrer vergangenen Tage. Die noch offenen Geschichten wären gehört und gesehen worden. In der Gegenwart ihrer Analytikerin hätte Virginia erlebt, wie es um sie bestellt war: nervös, angespannt, nicht im Hier und Jetzt lebend. Einmal dabei und frisch und offen gegenüber den leiblichen Gefühlen, wäre es für eine solch große Liebhaberin der Worte ein leichtes Spiel geworden, zusammen mit ihrer Analytikerin die unbewusste Sprache ihrer verwundeten Seele neu kennenzu- lernen. Vanessas Tochter, Angelica (geb. 1918), heiratete in jungen Jahren einen zurück- gewiesenen und fast 30 Jahre älteren Freund ihrer Mutter und zugleich Jugendliebhaber ihres Vaters, Duncan, David Garnett, der selber sehr zu Jähzorn neigte und sie und ihre 4 Kinder damit oft zerstörerisch quälte. Hier sehen wir eine transgenerationale Geschichte, die dazu noch sehr emotional inzestuös ist (Garnett 1995, S. 162). Die Sprache des Jähzorns zeigt, dass die erlebte Wirklichkeit zu stark ist, um emotional kontrolliert zu werden. Dann entstehen Momente des inneren aufsteigenden Zorns. Ich stoße mit meiner Nase an die geschlossene Glastür des eingesperrten Innen- lebens und spüre verzweifelt, wie ich ohne die äußere Zukunft lebe. Die nun in mir auf- brausende eigene Gegenwart wird so unerträglich, wie es die von mir erlebte emotional anästhesierte Vergangenheit schon ist. Was nun? Wie weiter? Den eigenen Körper spüren, als gelebtes Seiendes, durch den sich meine Gefühle äußern können und via Jähzorn auch müssen. Auslöser des Jähzorns könnten Warnlichter sein. Bevor es zum Jähzornausbruch kommt, erkennen, was und wo etwas in mir mit meinen gegenwärtigen Gefühlen geschieht. Dann beginnt eine auf lange Sicht wohltuende Konfirmation der eigenen Gefühle und seelischen Wahrnehmungen. Immer wieder kann es zu Konflikten zwischen 10.2 Der Alternative 137 Innen- und Außenwahrnehmungen kommen. Ich kann bestätigt oder nicht bestätigt werden in meinen Gefühlen. Wenn unsere Wahrnehmung dessen, wie wir unsere Innen- und Außenwelt erleben, sehen, spüren, nicht bestätigt wird, sondern im Gegenteil negiert wird, können wir in eine existenzielle Krise geraten. In der Geschichte von Virginia und Leonard Woolf kann man erkennen, dass die Psychiatrie zwischen 1913 und 1941 gar nicht daran interessiert war, die eigene Sicht und die Sichtweise der sogenannten Patienten kennenzulernen. 10.2 Der Alternative Er ist Opfer eines jähzornigen Vaters. Unter Jähzorn versteht er unvorhersehbare Brüll- attacken, mit Schlägen und Drohungen verbundene Gewaltausbrüche. Der Auslöser für diese von Brüllen und Schlagen begleiteten Jähzornanfälle war für ihn als Kind nicht spürbar. Warum kam Vaters Jähzorn in seiner Kindheitsfamilie immer wieder vor? „Erstens das Wissen, dass ich als Kind schwächer war und mich rein körperlich nicht wehren konnte; entsprechend war ich keinen Jähzornattacken mehr ausgesetzt, als ich hinsichtlich der körperlichen Stärke meinem Vater ebenbürtig war. Zweitens das ent- würdigende Verständnis des in der (Schwarze- Pädagogik-)Schreber-Stadt Leipzig aufgewachsenen Vaters, der während des Faschismus seine Pubertät durchlebt hatte, von der kindlichen Psyche: Das Kind kommt wie ein unbeschriebenes Blatt zur Welt, der Charakter muss anerzogen werden. „Von emotionaler Vererbung würde ich nicht sprechen, eher von sozialisationsbedingtem Erlernen“, bemerkt der Sohn später. Den Verlauf eines Anfalls erlebte er „wie ein plötzlich hereinbrechendes Donnerwetter. Ich konzentrierte mich dann auf seine lächerlich bebenden Nasenflügel und wartete geduldig, bis wieder reine Luft herrschte.“ Mit seinem Schweigen, seinem Flüchten, dem Anlügen seiner Eltern, indem er sich in eine innere und äußere Emigration begab und sich mit seinem Bruder über seinen Vater lustig machte, gelang es ihm, die vom väter- lichen Jähzorn verursachten eigenen Schmerzen zu mildern. Er kennt als Opfer nur die negative Seite von Jähzorn. „Durch das verinnerlichte Gefühl, ständig der Gewaltbereit- schaft des Vaters ausgesetzt zu sein, ist es aus mit einem Gefühl der Unbeschwertheit, Gelassenheit und der Entwicklung von innerer Sicherheit und Stärke.“ Was sieht er als den Sinn von Jähzorn? „Machtausübung, möglicherweise zur Übertünchung einer selbst wahrgenommenen Situation, eigentlich im Unrecht zu sein bzw. keine guten Argumente zu haben.“ Wird er selber auch jähzornig? „Eher nein. Möchte mich jedoch nicht frei- sprechen, auch mal Wutausbrüche zu haben.“ Für ihn als Opfer war es sehr schwer zu lernen, eigene Wut und Zorngefühle auszudrücken. Als er es sich erlaubte, war er stolz, auch einmal herumzubrüllen und drohen zu können. „Dazu musste ich aber erst 30 Jahre alt werden. Ich rede hier allerdings von Wutausbrüchen.“ In solchen Situationen sieht er sich aber durchaus selber, „wie ich wütend bin“. Doch im Unterschied zu seinem Vater sind diese Gefühlsäußerungen in keiner Art und Weise mit verbalen oder ­körperlichen 138 10 Opfer Gewaltandrohungen verbunden. Seine Mitbewohnerinnen reagierten dennoch ver- schreckt und teilweise mit emotionaler Abwendung. Ein Opfer von Jähzorn wird in seinen eigenen Gefühlen verwirrt und muss sich als Kind selber sehr unter eigener Gefühlskontrolle halten. Die wahren Gefühle dürfen nicht ausgelebt oder gezeigt werden. Das bremst und hemmt die eigene Lebendigkeit. Bei vielen Menschen, die unter solchen Umständen aufwachsen, führt der Lebensweg in eine Psychotherapie. Einige finden sich in psychiatrischen Kliniken wieder. Da können sie, falls richtig begleitet, ihre innere Zerrissenheit ausleben, zeigen, wie und was in ihnen vorgeht, und sich heilen lassen. Ganz zu werden, ist der Wunsch jedes Patienten und jeder Patientin, die zu mir in die Psychotherapie kommen. Die Frage, was es bedeutet, Opfer von jähzornigen Eltern, Partner(inne)n und Geschwistern zu sein, wird beantwortet. Die Opferidentität als leidvolle Tatsache und als Schutz wird dargestellt. Die Befreiung aus der Opferhaltung und Opfer- position wird durch die eigene Abgrenzung den Täter(inne)n gegenüber und das Ziehen eigener Konsequenzen ermöglicht. Ich muss nicht da sein, wo die Faust hinkommt. Standhalten, Flüchten oder Verlassen sind 3 berechtigte und hilfreiche Möglichkeiten für Opfer, ihr Verhaltensmuster zu verändern. Literatur Döblin A (1972) Berlin Alexanderplatz. Dtv, München Garnett A (1995) Deceived with kindness. Pimlico, London Poole R (1982) The unknown Virginia Woolf. Humanities Press, Atlantic Highlands